Das Problem moralischen Wissens: Ethischer Relationalismus in Anschluss an Hegel 9783839440032

Ethical relationalism - following Hegel, a modern ethical theory can be phrased that leaves the central issues of moral

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German Pages 334 Year 2017

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Table of contents :
Editorial
Inhalt
Vorwort
1. Einleitung: Zwei Dogmen der Moralphilosophie
2. Wissen, Wahrheit und Rechtfertigung
3. Sprechen, Wahrnehmen und Handeln
4. Mit Begriffen leben und in Lebensformen lernen
5. Fazit: Der Ethische Relationalismus als Forschungsperspektive
6. Siglenverzeichnis
7. Literaturverzeichnis
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Das Problem moralischen Wissens: Ethischer Relationalismus in Anschluss an Hegel
 9783839440032

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Florian Heusinger von Waldegge Das Problem moralischen Wissens

Edition panta rei |

Editorial In Umbruchzeiten und Zeiten beschleunigten Wandels ist die Philosophie in besonderer Weise herausgefordert, Veränderungen unserer theoretischen und praktischen Weltbezüge zu artikulieren. Denn Begriffe, Kategorien und Topoi, unter denen Weltbezüge stehen und unter denen wir unser Denken und Handeln ausrichten, erweisen sich im Zuge jener Dynamik regelmäßig als einseitig, kontingent, dogmatisch oder leer. Dialektisches Denken richtet sich von alters her auf diejenige Gegensätzlichkeit, die die Beschränktheiten des Denkens und Handelns aus sich heraus hervorbringt, und zwar mit Blick auf die Einlösbarkeit seiner Ansprüche angesichts des Andersseins, Anderssein-Könnens oder Anderssein-Sollens der je verhandelten Sache. Dialektik versteht sich als Reflexion der Reflexionstätigkeit und folgt somit den Entwicklungen des jeweils gegenwärtigen Denkens in kritischer Absicht. Geweckt wird sie nicht aus der Denktätigkeit selbst, sondern durch das Widerfahrnis des Scheiterns derjenigen Vollzüge, die sich unter jenem Denken zu begreifen suchen. Ihr Fundament ist mithin dasjenige an der Praxis, was sich als Scheitern darstellt. Dieses ist allererst gedanklich neu zu begreifen in Ansehung der Beschränktheit seiner bisherigen begrifflichen Erfassung. Vor diesem Hintergrund ist für dialektisches Denken der Dialog mit anderen philosophischen Strömungen unverzichtbar. Denn Beschränkungen werden erst im Aufweis von Verschiedenheit als Unterschiede bestimmbar und als Widersprüche reflektierbar. Und ferner wird ein Anderssein-Können niemals aus der Warte einer selbstermächtigten Reflexion, sondern nur im partiellen Vorführen ersichtlich, über dessen Signifikanz nicht die dialektische Theorie bestimmt, sondern die Auseinandersetzung der Subjekte. Wissenschaftlicher Beirat: Christoph Halbig, Christoph Hubig, Angelica Nuzzo, Volker Schürmann, Pirmin Stekeler-Weithofer, Michael Weingarten und Jörg Zimmer.

Florian Heusinger von Waldegge, geb. 1983, arbeitet im interdisziplinären Forschungsprojekt »Internet und seelische Gesundheit« am Internationalen Zentrum für Ethik in den Wissenschaften (IZEW) der Universität Tübingen. Seine Arbeitsund Interessenschwerpunkte liegen in den Bereichen der Metaethik, der anwendungsbezogenen Ethik, der Technik- und Sozialphilosophie sowie der Politischen Theorie und -Ideengeschichte.

Florian Heusinger von Waldegge

Das Problem moralischen Wissens Ethischer Relationalismus in Anschluss an Hegel

Für Carmen und Luis

Dissertation, TU Darmstadt D 17

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Wahre Gedanken und wissenschaftliche Einsicht ist nur in der Arbeit des Begriffs zu gewinnen. G.W.F. H egel

Inhalt Vorwort  | 9 1. Einleitung: Zwei Dogmen der Moralphilosophie  | 11 2. Wissen, Wahrheit und Rechtfertigung  | 25

2.1 Leitdifferenzen der gegenwärtigen Forschung  | 25 2.1.1 W  ahrheit und Rechtfertigung: Der Ethische Realismus und das Problem der Natur  | 28 2.1.2 W  ahrheit als Rechtfertigung: Der Ethische Objektivismus und das Problem der Autonomie  | 46 2.1.3 Die Erneuerung der Moralphilosophie  | 59 2.2 Rationale und irrationale Rationalitätsvorstellungen  | 65 2.2.1 Der Positivismus  | 68 2.2.2 Der Relativismus  | 73 2.3 Ein inkonsequenter Paradigmenwechsel  | 85 2.3.1 Einige Werte sind objektiv  | 86 2.3.2 Die Dichotomie löst sich auf  | 89 2.3.3 Die Rückkehr des Wahrheitsproblems  | 95 2.3.4 Putnams Problem: Sadismus und sprachliche Inkompetenz  | 98 2.4 Zusammenfassung: Rationale Nazis und böse Superwissenschaftler  | 103

3. Sprechen, Wahrnehmen und Handeln  | 111

3.1 Wittgenstein über das Erlernen einer Sprache ...  | 111 3.2 ... und über Regelfolgen  | 116 3.3 Zur Problemrelevanz  | 127 3.3.1 Nochmal: Gegen den Nonkognitivismus  | 127 3.3.2 Sprache und Lebensform  | 131 3.3.3 Von Wittgenstein zu Hegel  | 135 3.4 W  arum Hegel kein »erledigter Pseudo-Wittgensteinianer« ist  | 136 3.4.1 Die Figur des »übergreifenden Allgemeinen«  | 143 3.4.2 Dem eigenen Begriff (nicht) entsprechen  | 152 3.4.3 Von der Abbild- zur Spiegelbildtheorie der Bedeutung  | 159

3.5 Schlussfolgerungen  | 168 3.5.1 Lebensformen als Ensembles von Praktiken  | 169 3.5.2 Werte sind implizite, begriffliche Handlungsregeln  | 174 3.5.3 Weder real noch relativ: Werte sind relational  | 183 3.6 Zusammenfassung: Praktiken, Werte und der Begriff des Wissens  | 188 4. Mit Begriffen leben und in Lebensformen lernen  | 197

4.1 Wissen als Akt und als Fähigkeit  | 197 4.1.1 Kurzer Exkurs über drei pädagogische Grundbegriffe  | 201 4.1.2 W  ie man Hegel besser nicht liest: Vom Paradox der Autonomie zum pädagogischen Problem und zurück  | 208 4.1.3 E  ine historische Vergegenwärtigung in hermeneutischer Absicht  | 217 4.1.4 H  errschaft und Knechtschaft: Hegels aristotelische Kritik an der (nicht nur) neuzeitlichen Vermögenspsychologie  | 229 4.1.5 Modi des Wissens: Selbständigkeit und Selbstbewusstsein  | 240 4.2 Von der zweiten Natur zum Habitus  | 244 4.2.1 Das Verwirklichen der Habitus in der Tragödie  | 247 4.2.2 Leib gewordene Geschichte: Habitus und Lebensform  | 258 4.2.3 Ü ber das Ende und die Moral von der Geschicht’: Rationale Nazis gibt es nicht!  | 276

5. Fazit: Der Ethische Relationalismus als Forschungsperspektive  | 295 6. Siglenverzeichnis  | 309 7. Literaturverzeichnis  | 313

Vorwort

Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um meine Dissertation, mit der ich am 21. Dezember 2016 am Fachbereich Gesellschafts- und Geschichtswissenschaften der TU Darmstadt promoviert wurde. Mein Dank gilt insbesondere meinen Betreuern Prof. Dr. Christoph Hubig und Prof. Dr. Michael Weingarten. Sie haben die Entstehung dieser Arbeit mit vielen Anregungen, hilfreichen Diskussionen und konstruktiver Kritik von Anfang an begleitet. Ich danke ebenfalls Prof. Dr. Gerhard Gamm für die Übernahme des Gutachtens. Von Dezember 2012 bis April 2016 war ich Stipendiat in der Graduiertenförderung der Friedrich-Ebert-Stiftung und möchte mich an dieser Stelle herzlich für die finanzielle, besonders aber für die ideelle Förderung bedanken. Der intensive Austausch mit anderen Stipendiat*innen über fachliche Grenzen hinaus und die vielen Möglichkeiten zur Partizipation und Mitgestaltung waren für mich eine große Quelle der Inspiration und sind es noch heute. Darüber hinaus möchte ich mich bei Marco Berndt und Lukas Hoffmann für das Korrekturlesen bedanken sowie bei Lisa Weiss für ihren unermüdlichen Einsatz beim Erstellen der Druckvorlage. Jan Müller, Claus Baumann, Kaja Tulatz, Tobias Störzinger, Ruwen Stricker, Sascha Borsdorf und den Teilnehmer*innen des Promotionskolloquiums von Prof. Dr. Christoph Hubig danke ich für die vielen hilfreichen Anmerkungen und Diskussionen. Ferner möchte ich mich noch bei meiner Familie und besonders bei meinen Eltern Helge und Sabine Heusinger von Waldegge bedanken, die mich während des Studiums und der Promotion immer unterstützt haben. Mein größter Dank gilt aber meiner Frau Carmen Heusinger von Waldegge für ihr journalistisches Gespür beim Korrekturlesen, für ihre Geduld in den harten Arbeitsphasen, für ihre motivierende Unterstützung während und für die gemeinsame Zeit neben der Promotion. Ihr und unserem Sohn Luis Marlon ist dieses Buch in Liebe gewidmet.

Stuttgart, Mai 2017

1. E  inleitung: Zwei Dogmen der Moralphilosophie It is a familiar and significant saying that a problem well put is half-solved. J ohn D ewey

Philosophische Probleme bestehen – nicht immer aber manchmal – darin, dass wir zwei gut begründete Überzeugungen haben, an denen wir zwar gerne festhalten würden, die sich aber gleichzeitig auszuschließen scheinen. So ist es auch in der Moralphilosophie, die nach der Objektivität und Begründbarkeit von Normen und Wertüberzeugungen fragt. Denn obwohl wir uns darüber bewusst sind, dass wir diese immer aus kulturellen Gegebenheiten und sozialen Milieus heraus gewinnen und formulieren, erheben wir mit ihnen in vielen Fällen Anspruch auf Allgemeingültigkeit. So gibt es noch heute Sklaverei, Gesellschaften, die Witwenverbrennung tolerieren, die Homosexuelle diskriminieren und die zulassen, dass Kinder zur Arbeit gezwungen oder dass junge Mädchen an der Klitoris verstümmelt werden. Aber in keinem dieser Fälle sind wir der Überzeugung, dass das alles schon in Ordnung sei, weil es den Wertvorstellungen und Normen anderer Kulturen entspricht. Schließlich sind es nicht die Sklaven, die die Sklaverei zum kulturellen Wert erheben, nicht die Witwen, die sich gerne verbrennen lassen, und nicht die Mädchen, die ihre Verstümmelung als historische Errungenschaft begrüßen. Vielmehr scheinen die politischen und sozialen Eliten, die Brahmanen, Mullahs oder Priester, diese Praktiken im Namen ihrer Kultur oder ihrer Gewohnheit zu verteidigen (vgl. Blackburn 2001, 27). Es geht in solchen Fällen aber nicht einfach um Wertkonflikte zwischen unserer Kultur und anderen Kulturen, sondern allgemein um Wertkonflikte, wie sie zwischen und innerhalb menschlicher Gemeinschaften auftreten – ganz gleich, ob es sich um Kulturen, Subkulturen, soziale Milieus oder politische Klassen handelt. Zwei philosophische Probleme müssen dabei unterschieden werden: Erstens wissen wir auch innerhalb von bestimmten Kulturen oder sozialen Milieus manchmal nicht, welche Normen und Wertüberzeugungen die richtigen und welche die

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Das Problem moralischen Wissens

falschen sind: Wann (wenn überhaupt) sind etwa Kriegseinsätze gerechtfertigt? Wie soll mit Präimplantationsdiagnostik umgegangen werden und wie mit embryonaler Stammzellenforschung? Zweitens wissen wir zwar oft, welches die richtigen und welches die falschen Überzeugungen sind. Dann aber wissen wir meistens nicht, was es bedeutet, so etwas zu wissen. Vielleicht glauben wir ja nur, dass es sich bei unseren Überzeugungen um objektiv gültiges Wissen handelt, in Wirklichkeit täuschen wir uns aber und es handelt sich eigentlich um schwächere Formen des Fürwahrhaltens (etwa Glauben oder Meinen). Gibt es also objektive Kriterien dafür, dass etwa Witwenverbrennung schlecht ist, oder glauben wir das nur zu wissen, weil wir das so gelernt haben – ebenso wie die Befürworter*innen der Witwenverbrennung gelernt haben, diese gut zu finden? Es handelt sich bei der Frage nach der Objektivität und Begründbarkeit von Normen und Wertüberzeugungen also nicht um eines dieser abstrakten wissenschaftlichen Probleme, die das Alltagsleben kaum berühren und die man interessant finden kann oder auch nicht. Vielmehr muss jeder reflektierende Mensch dazu eine Meinung haben (auch wenn diese im Alltag nicht immer explizit oder konsistent formuliert wird).1 Um diese Fragen zu beantworten, hat es sich innerhalb der akademischen Philosophie eingebürgert, zwischen der anwendungsbezogenen Ethik, der normativen Ethik und der Metaethik zu unterscheiden. Damit zusammenhängend wird oft davon ausgegangen, dass die anwendungsbezogene Ethik und die normative Ethik eine Art Orientierungswissen bereitstellen, welches in der Vorgabe »fixierter Ziele und eindeutiger Handlungsanweisungen« (Mohr 2008, 230) besteht, um den (objektiv) richtigen Umgang mit Wertkonflikten zu verbürgen. Vor allem die normative Ethik hätte demzufolge die theoretische Fundierung und Bereitstellung allgemeiner und abstrakter Argumentationsformen und Prinzipien zur Aufgabe, deren Anwendung der breiten Masse obliegt (vgl. Putnam 2000, 235). Davon abzugrenzen wäre dann das Verfügungswissen über moralische Orientierungsinstanzen, welches die empirischen Sozial- und Kulturwissenschaften erforschen und das auch »Verbrecher und Lumpen« haben können (vgl. Luckner 2005, 24 ff.).2 Die Metaethik hingegen würde diese Wissensansprüche untersuchen, indem sie die Begriffe und Argumente der normativen Ethik und der anwendungsbezogenen Ethik reflektiert und damit zusammenhängend

1 | Viele Menschen tendieren dazu, hinsichtlich von Normen und Werten eine relativistische Position einzunehmen – ganz besonders in Bezug auf die Meinung Anderer. Geht es hingegen um Inhalte die ihnen selbst viel bedeuten, verteidigen sie die Objektivität ihrer Normen und Werte mit der größten Vehemenz. Auf dieses Problem werde ich noch zu sprechen kommen. 2 | Die Unterscheidung zwischen Orientierungswissen und Verfügungs­w issen geht auf Jürgen Mittelstraß zurück (vgl. ders. 1982; 2001).

1. Einleitung: Zwei Dogmen der Moralphilosophie

sowohl die ontologische Frage nach der Realität von Werten (»Existieren Werte (teilweise oder vollständig) unabhängig von Subjektivitätsleistungen in der Welt?«) als auch die epistemologische Frage nach der Objektivität von Werten und Wertüberzeugungen (»Sind Werte bzw. Wertüberzeugungen intersubjektiv erkennbar bzw. begründbar?«) stellt. Demzufolge fragt sie nach der Möglichkeit moralischen Wissens, auch wenn der Wissensbegriff innerhalb der Forschungsdiskussion bestenfalls eine untergeordnete Rolle spielt und in Anbetracht der unübersichtlichen Diskussionslage nur schwer zu lokalisieren ist. Das mag daran liegen, dass der Ausdruck in diesem Zusammenhang zumindest prima facie etwas »schief« erscheint, da er sich hier nicht auf empirische Tatsachen bezieht, sondern auf die Verbindlichkeiten von Handlungen (vgl. Habermas 1999a, 273). Die Metaethik, so wird oft angenommen, analysiert und reflektiert eben keine deskriptiven (beschreibenden) Urteile, sondern die »Sprache der Moral« und damit moralische bzw. evaluative (bewertende) und normative (vorschreibende) Aussagen und Überzeugungen.3 Die gegenwärtige Forschung steht mit solchen Einteilungen augenscheinlich noch stark unter dem Einfluss der moralphilosophischen Debatte aus der Mitte des 20. Jahrhunderts, die vom Nonkognitivismus beherrscht wurde. Die damalige Mainstream-Philosophie war der Ansicht, dass Fragen der Ethik keiner streng wissenschaftlichen Behandlung zugänglich und evaluative und normative Aussagen nicht wahrheitsfähig seien, da sie lediglich Wünsche, Gefühle oder Einstellungen ausdrückten. Diese vermeintliche Sinnlosigkeit moralischer Urteile hat eine gewisse Anfangsplausibilität vor dem Hintergrund eines rein positivistischen Wirklichkeitsverständnisses: Demnach sind Aussagen entweder wahr, weil sie analytisch, d.h. begrifflich wahr sind (»Alle Junggesellen sind unverheiratet«) oder weil sie empirisch wahr sind (»Herbert ist ein Junggeselle«). Da moralische Urteile in keine dieser Kategorien passen, so die Annahme, kann es auch kein genuin moralisches Wissen geben. Obwohl die Entwicklung des Nonkognitivismus unmittelbar an den linguistic turn und den Logischen Positivismus anschließt, reichen seine Wurzeln bis zu David Hume zurück, der in seinem Werk A Treatise of Human Nature auf die besondere argumentative Schwierigkeit hingewiesen hat, die dadurch entstehe, dass empirische und normative Urteile weder in einem analytischen noch in einem logischen Verhältnis zueinander stehen. Demnach beziehen sich normative Urteile zwar auf empirische Tatsachen, doch können sie

3 | Obwohl diese Arbeit auch das gegenwärtige Verständnis von Ethik und Moralphilosophie betrifft und mitunter kritisiert, kann hier auf das Verhältnis von anwendungsbezogener Ethik, normativer Ethik und Metaethik nicht weiter eingegangen werden. Zur problematischen Auffassung der Metaethik innerhalb der analytischen Moralphilosophie vgl. Albert 1971/1961 und Lenk 1971/1967.

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Das Problem moralischen Wissens

wiederum nur durch normative Urteile gerechtfertigt werden – ansonsten sei die Argumentation fehlerhaft: »In every system of morality, which I have hitherto met with, I have always re­ mark’d, that the author proceeds for some time in the ordinary ways of reasoning, and establishes the being of a God, or makes observations concerning human affairs; when of a sudden I am surpriz’d to find, that instead of the usual copulations of propositions, is, and is not, I meet with no proposition that is not connected with an ought, or an ought not. This change is imperceptible; but is, however, of the last consequence. For as this ought, or ought not, expresses some new relation or affirmation, ’tis necessary that it shou’d be observ’d and explain’d; and at the same time that a reason shou’d be given; for what seems altogether inconceivable, how this new relation can be a deduction from others, which are entirely different from it. But as authors do not commonly use this precaution, I shall presume to recommend it to the readers; and am perswaded, that this small attention wou’d subvert all the vulgar systems of morality, and let us see, that the distinction of vice and virtue is not founded merely on the relations of objects, nor is perceiv’d by reason.« (Hume 2009/1738, 302)

Das bekannte humesche Gesetz liegt sowohl dem Emotivismus von Alfred Jules Ayer (1970/1936) und Charles L. Stevenson (1974/1937) wie auch dem Präskriptivismus von Richard M. Hare (1983/1952) zugrunde. Diese wiederum beeinflussten die Irrtumstheorie John L. Mackies (1990/1977) oder den Quasi-Realismus Simon Blackburns (1998). Der Grundgedanke ist dabei immer derselbe: Zu jedem (aufrichtigen) moralischen Urteil gehört ein Gefühl, eine (Wert-)Einstellung oder eine Absicht, die über eine bloße Tatsachenfeststellung hinausgeht. Zwar nehmen Nonkognitivist*innen zur Kenntnis, dass unsere Sprache viele Ausdrücke kennt, die sowohl in praktischen als auch in theoretischen Urteilen und Argumentationen vorkommen und damit sowohl zum Beschreiben als auch zum Bewerten geeignet sind (etwa die Begriffe Tapferkeit oder Gerechtigkeit). Allerdings erklären sie, dass allein der deskriptive Gehalt eines solchen Ausdrucks für die moralische Bewertung nicht hinreichend ist. Die Gefühle und Einstellungen der Sprecher*innen müssten dazukommen, damit wir es mit einer Bewertung zu tun haben (vgl. Foot 2001, 7). Auf dieser Annahme beruht die in der Moralphilosophie weit verbreitete Unterscheidung zwischen einem deskriptivem und einem evaluativem Vokabular und damit zwischen Tatsachen und Werten: Aussagen über Tatsachen sind demnach behauptbar, wenn ihre Wahrheitsbedingungen erfüllt sind, moralische Urteile sind dagegen an die subjektive Verfassung der Sprecher*innen gebunden (vgl. ebd., 8). Auch wenn der Nonkognitivismus zunächst auf theoretischer Ebene noch einigermaßen plausibel erscheinen mag: Er verliert schnell seine Anfangsplausibilität, wenn man sich ganz konkrete moralische Urteile oder praktische Argumentations­formen anschaut.

1. Einleitung: Zwei Dogmen der Moralphilosophie

So dürften nur die wenigsten von uns das Gefühl haben, dass die Zustimmung oder Ablehnung zu den oben genannten Beispielen der Sklaverei, Witwenverbrennung, Kinderarbeit oder Genitalverstümmelung reine Gefühls­sache sei. Die Moralphilosoph*innen in der Mitte des 20. Jahrhunderts waren aber keineswegs einem Anfall kollektiver Verrücktheit erlegen. Sie wollten vielmehr Humes ohne Zweifel sehr wichtiger Forderung nach Praxisbezug gerecht werden (vgl. ebd., 9). Allerdings, so wird noch genauer zu zeigen sein, taten sie das (und tun es zum Teil noch heute) in der falschen Art und Weise. Deshalb wurden ihre Thesen in den 1970er und 1980er-Jahren zunehmend in Zweifel gezogen, sodass in der modernen Forschung vorwiegend am Kognitivismus festgehalten wird: Demnach sind Werturteile ebenso wahrheitsfähig wie Tatsachenaussagen. Und trotzdem wird zumeist noch die nonkognitivistische These beibehalten, dass sich beide wesentlich voneinander unterscheiden. Ganz in diesem Sinne unterteilen Philosoph*innen auch heute noch ihre eigene Disziplin in die theoretische und die praktische Philosophie. Das liegt daran, dass sie gewohnt sind, zwischen theoretischen und praktischen Argumentationen bzw. zwischen theoretischen und praktischen Urteilen und zwischen theoretischem und praktischem Wissen zu differenzieren. Der Unterschied wird meistens so erklärt: Theoretische Urteile stellen fest, was der Fall ist, praktische Urteile bewerten, was der Fall ist oder fordern, was der Fall sein sollte. Theoretische Urteile können daher hinreichende Gründe für theoretische Argumentationen und theoretisches Wissen über die Welt liefern. Sie reichen allerdings nicht dazu aus, um praktische Argumentationen oder praktisches Wissen zu begründen (vgl. Lueken 2013, 101). Dagegen ist es ein Ziel dieser Arbeit zu zeigen, dass die dominierenden Theorietypen der metaethischen Forschung problematisch sind, weil sie an genau dieser Demarkation von theoretischem und praktischem Wissen festhalten: Indem sie konstitutionstheoretisch argumentieren, gehen sie von wertfreien Erkenntnisquellen und Rationalitätsstandards aus und können keine adäquate Theorie moralischen Wissens bereitstellen.4 Wie noch genauer zu zeigen sein wird, scheitern sie dabei jedoch an zwei Dogmen, also an zwei unhinterfragten, aber problematischen Voraussetzungen: Das erste Dogma besteht darin, dass diese dominierenden metaethischen Theorietypen am propositionalen Wissensbegriff festhalten, wonach der Be-

4 | Ich übernehme die begriffliche Differenzierung zwischen konstitutionstheoretischen und rekonstruktionstheoretischen Argumenten von Michael Weingarten: »Konstitutionstheoretisch wird entweder ontologisch nach dem Wesen oder transzendentalphilosophisch nach der Bedingung der ›Möglichkeit von ...‹ gefragt; rekonstruktionstheoretisch werden begriffliche Verhältnisse auf ihre Stimmigkeit und ihren methodischen geordneten Aufbau hinterfragt.« (Ders. 2003, 34; Fn. 59)

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Das Problem moralischen Wissens

griff des Wissens als »wahre und gerechtfertigte Überzeugung« (»justified true belief«) definiert wird:5 Demnach weiß jemand dann (und nur dann), dass p, wenn er oder sie i.) überzeugt ist, dass p, ii.) p wahr ist und iii.) die Überzeugung von p angemessen begründet oder gerechtfertigt ist. Alle drei Bedingungen müssen gemäß dieses Paradigmas erfüllt sein, um einer Person Wissen zuschreiben zu können. Die erste Bedingung besteht darin, dass es Wissen nur dann geben kann, wenn eine Stellungnahme zur Welt vorliegt. Die zweite Bedingung drückt dagegen (und im Unterschied zu den Begriffen Glauben oder Meinen) den faktiven Sinn des Wissensbegriffs aus: Man kann nichts wissen, was nicht tatsächlich der Fall ist. Wenn jemand etwa weiß, dass es regnet, impliziert dies auch, dass es regnet. Das ist jedoch nicht der Fall, wenn jemand nur glaubt, dass es regnet. Während es also logisch möglich ist, Aussagen die falsch sind zu glauben oder zu meinen, ist es logisch unmöglich, etwas Falsches zu wissen (vgl. Kern 2006, 34 ff.). Die dritte Bedingung besteht darin, dass die Zuschreibung von Wissen nach einer Begründung oder Rechtfertigung verlangt. Denn wenn jemand einfach durch Glück oder Zufall eine wahre Überzeugung äußert, ist das intuitiv kein Wissen (vgl. Bieri 1994, 80). Das betrifft nicht nur Wahrsager*innen, die zufälligerweise mal recht haben (vgl. Ernst 2010, 69) und Lottospieler*innen, die ihre Zahlen richtig raten, sondern auch das auswendig gelernte Nachplappern von Gründen oder Überzeugungen. Wenn also der Wissensbegriff nicht auf den faktiven Sinn einer wahren Überzeugung reduziert werden kann, dann muss die dazugehörige Rechtfertigung oder Erklärung der entsprechenden Überzeugung mit ihrer Falschheit unvereinbar sein. Oder anders formuliert: Jemand, der etwas weiß und nicht bloß glaubt, kann nicht irgendeine Rechtfertigung für seine Überzeugung geben, sondern nur eine solche, die die Wahrheit seiner Überzeugung garantiert (vgl. Kern 2006 42 f.; dies.

5 | Diese sogenannte Standardanalyse des Wissensbegriffs geht philosophiegeschichtlich auf die Auseinandersetzung mit Platons Dialog Theätet zurück, in dem auf die Frage nach einer angemessenen Definition die drei Vorschläge »Wahrnehmung« (Theaet., 151e-187a), »zutreffende Meinung« (ebd., 187b-201c) und »zutreffende Meinung mit Erklärung« (ebd., 201d-210a) erörtert werden. Ganz im Sinne Platons beansprucht diese Standardanalyse, unserem alltäglichen und intuitiven Wissensverständnis gerecht zu werden, indem der Begriff des Wissens von schwachen Formen des Fürwahrhaltens (Glauben oder Meinen) abgegrenzt wird. Seitdem beschäftigt sich die Philosophie hauptsächlich mit diesem propositionalen Wissensbegriff (als »knowing that«, etwa: »Ich weiß, dass Paris eine große Stadt ist«). Davon zu unterscheiden ist die Fähigkeitskonzeption von Wissen (als »knowing how«, etwa: »Ich weiß, wie man Auto fährt«), die wir ebenfalls im Alltag antreffen (vgl. Willaschek/Matthiessen 2010, 3022).

1. Einleitung: Zwei Dogmen der Moralphilosophie

2007, 246). Nur wer eine plausible Antwort darauf hat, warum seine Überzeugung p wahr ist, kann auch wissen, dass p. Ein Standardeinwand gegen diese Standardanalyse des Wissensbegriffs besteht im Agrippa-Trilemma:6 Demnach können wir bei dem Versuch, unsere Wissensansprüche zu rechtfertigen, lediglich zwischen drei Möglichkeiten des Scheiterns wählen. Denn wann immer eine beliebige Überzeugung oder ein beliebiger Wissensanspruch gerechtfertigt werden soll, wird eine andere Überzeugung benötigt, die als Grund oder Rechtfertigung fungieren kann. Damit aber eine Überzeugung A als wahrheitsgarantierender Grund für die Überzeugung B fungieren kann, müssen wir wiederum eine Überzeugung C als wahrheitsgarantierenden Grund dafür haben, weshalb die Überzeugung B die Überzeugung A wahrheitsgarantierend rechtfertigen kann. M.a.W.: Jede Überzeugung, die wir als Grund für Wissen anführen, muss ihrerseits etwas sein, das wir wissen. Wenn das so ist, gibt es aber in der Tat nur die drei folgenden Möglichkeiten des Scheiterns: 1. Die Begründung kann nicht wahrheitsgarantierend sein, da sie in einen infiniten Regress gerät (»Ich weiß, dass p, weil ich weiß, dass q, weil ich weiß, dass r ...«). 2. Die Begründung kann nicht wahrheitsgarantierend sein, weil sie dogmatisch (also unbegründet) abbricht (»Ich weiß, dass p, weil ich weiß, dass q«). 3. Die Begründung kann nicht wahrheitsgarantierend sein, da sie zirkulär wird (»Ich weiß, dass p, weil ich weiß, dass q, weil ich weiß, dass p«). Über die Reichweite einer solchen Skepsis kann an dieser Stelle nicht weiter gehandelt werden. Es sollte jedoch klar sein, dass sie nicht dazu taugt unser komplettes Wissen in Frage zu stellen (»Geht eine Skeptiker*in auf der Autobahn spazieren ...«). In unseren alltäglichen Gesprächen brechen wir unsere Argumentationen eher aus pragmatischen anstatt aus dogmatischen Gründen ab, und trotzdem sind wir in einer Vielzahl von Situationen bereit, uns Wissen

6 | Ein weiterer Standardeinwand ist das Gettier-Problem, das für diese Arbeit jedoch weniger relevant ist: Es zeigt, dass auch wahre und gerechtfertigte Überzeugungen nicht hinreichend sind, um Wissen zuschreiben zu können (vgl. Gettier 1963). Aufgrund der agrippinischen Skepsis und des Gettier-Problems wird innerhalb der Erkenntnistheorie kontrovers um den Wissensbegriff gestritten. Dabei reichen die aktuellen Vorschläge von einer Analyse der Mehrdeutigkeit des Wissensbegriffs (vgl. Ernst 2002), über die Ablehnung des propositionalen Wissensbegriffs (vgl. Kern 2006), bis hin zu seiner Abschaffung aufgrund seiner vermeintlichen Inkohärenz und Irrelevanz (vgl. Beckermann 2001).

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Das Problem moralischen Wissens

zuzuschreiben. Das Argument zeigt aber sehr gut, dass etwas mit der Definition des Wissensbegriffs bzw. mit der Kategorie wahrheitsgarantierender Gründe nicht in Ordnung sein kann. Denn worin sollte der formale Unterschied zwischen pragmatischen und dogmatischen Argumentationsabbrüchen bestehen? Von diesem problematischen Wissensbegriff wird noch zu zeigen sein, dass er auch den Blick auf adäquate Lösungsstrategien innerhalb der Metaethik verstellt. Denn wenn die Problemstellung (explizit oder implizit) über die Begriffe Wahrheit und Rechtfertigung modelliert wird, werden die Fragen nach der Ontologie und Epistemologie von Werten und Wertüberzeugungen als Suche nach endgültigen Rechtfertigungen und letztbegründeten Antworten missverstanden.7 Dabei scheint es ohnehin einigermaßen kurios, dass sich die dominierenden metaethischen Theorietypen an einem Wissensbegriff orientieren, der üblicherweise im Kontext der Theoretischen Philosophie diskutiert wird, um deskriptive Urteile bzw. theoretisches Wissen zu thematisieren. Damit sind wir beim zweiten Dogma der Moralphilosophie, das in der Dichotomie von Fakten und Werten bzw. in der Dichotomie von Sein und Sollen besteht. Demnach existieren Fakten in der Welt unabhängig von Normen und Werten in den Köpfen der Menschen. Es wurde bereits auf Humes Gesetz hingewiesen, wonach normative Urteile nicht durch Tatsachenaussagen gerechtfertigt werden können, da es dazu weiterer normativer oder evaluativer Urteile bedürfe. In der Philosophie hat es sich hierbei auch eingebürgert vom Sein-Sollen-Fehlschluss zu reden – und es hat sich (leider) ebenfalls eingebürgert, vom naturalistischen

7 | Dieses Paradigma der modernen abendländischen Moralphilosophie hat, wenn man es positiv formulieren möchte, einen »höheren Anspruch wissenschaftlicher Begründung« (Siep 2004, 100) für ethische Normen, als vorneuzeitliche und außereuropäische Ethikformen (vgl. Tugendhat 1993, 78, 86). Der Dialog mit dem (in Europa so bezeichneten) klassischen Konfuzianismus bietet ein gutes Fallbeispiel für eine Denktradition, die die Moral auf eine andere Art und Weise thematisiert als wir. Denn dort steht das Denken des »Dao« im Vordergrund. Konfuzius fragt jedoch weder nach dem Wesen des »Dao«, noch gibt er irgendeine Definition oder formuliert eine Theorie. Übersetzen kann man den Begriff jedoch mit »Weg«, »harmonische Ordnung« oder »Zusammenhang des Gesamtgeschehens«. Da die chinesische Sprache keinen Begriff des Seins kennt, der prädikativ als Vollverb oder Kopula benutzt wird, orientiert sich das chinesische Denken weder an Fragen wie »Was ist x?« (etwa »Was ist das Gute?«) noch am gerade erläuterten Paradigma moralischen Wissens. Konfuzius fragt dementsprechend nicht nach dem Wesen des Menschen als ζῷον πολιτικόν oder animal rationale, sondern nach dem Weg des Menschen und der Mitmenschlichkeit (vgl. Schmidt 2005, 132 f., 138 ff., 224 ff.).

1. Einleitung: Zwei Dogmen der Moralphilosophie

Fehlschluss zu sprechen.8 So heißt es etwa in Holm Tetens Buch Philosophisches Argumentieren: »Vom Standpunkt der Logik ist es nun bis auf wenige irrelevante Sonderfälle nicht möglich, logisch schlüssig auf eine normative Aussage zu schließen, wenn nicht unter den Prämissen mindestens eine normative Aussage vorkommt. Vom Standpunkt der Logik ist es also ein Fehlschluss, wenn man von deskriptiven Aussagen ohne typisch normatives Vokabular auf eine normative Aussage schließen will. Aus dieser Sicht begeht jemand einen Fehlschluss, der aus dem, was in der Welt der Fall ist, glaubt, direkt herleiten zu können, was in der Welt der Fall sein soll. Es ist der Sein-Sollen-Fehlschluss oder der naturalistische Fehlschluss.« (Tetens 2004, 142)

Wie Geert-Lueke Lueken etwas ironisch betont, führt Tetens hier lehrbuchhaft vor, dass der Sein-Sollen-Fehlschluss schon deshalb ein Fehlschluss ist, weil er nicht schlüssig ist. Warum es nur »wenige irrelevante Sonderfälle« gibt, in welchem Sinn es sich dabei um Sonderfälle handelt und warum gerade diese Fälle irrelevant sind, beantwortet Tetens nicht (vgl. Lueken 2013, 111). Ein paradigmatisches Beispiel für diese vermeintlichen Sonderfälle gibt etwa John Searle in seinem berühmten Aufsatz How to derive »ought« from »is« (vgl. ders. 1988/1964, 102): 1. Jones uttered the words »I hereby promise to pay you, Smith, five dollars«. 2. Jones promised to pay Smith five dollars. 3. Jones placed himself under (undertook) an obligation to pay Smith five dollars. 4. Jones is under an obligation to pay Smith five dollars. 5. Jones ought to pay Smith five dollars. Searle will zeigen, dass bei den einzelnen Begründungsschritten keine Wert-

8 | Bei der deutschen Begriffsbildung »naturalistischer Fehlschluss« handelt es sich um die problematische Übersetzung des englischen Begriffs »naturalistic fallacy«, den George Edward Moore in die philosophische Diskussion eingebracht hat (vgl. ders. 2004/1903; Kap. 2.1.1). Gemeint ist damit jedoch nicht ein falscher Schluss, sondern ein Irrtum bzw. ein definitorischer Fehler. Die Rede von einem naturalistischen Fehlschluss ist schon deshalb sehr unglücklich, weil sich die begriffliche Differenzierung natürlich/nicht-natürlich auf den Gegenstandsbereich von Begriffen bezieht, während Schlüsse das Verhältnis von Aussagen oder Sätzen betreffen. Obwohl Humes Gesetz und der naturalistische Irrtum Moores nicht miteinander verwechselt werden dürfen, hängen beide eng miteinander zusammen (vgl. Frankena 1988/1939).

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Das Problem moralischen Wissens

aussagen oder moralische Prinzipien in Anspruch genommen werden, sondern lediglich die grammatischen und institutionellen Regeln für den Vollzug des Sprechaktes des Versprechens konstitutiv sind. Interessant an dem Argument sind jedoch weniger die sprechakttheoretischen Implikationen, als vielmehr seine Interpreta­tion von Äußerungen wie »Versprechen muss man halten«. Denn er scheint den Ausdruck weniger als normatives, sondern eher als deskriptives Urteil zu deuten, wie »In England fährt man links« (vgl. Lueken 2013, 123).9 Ähnliche Interpreta­tionsschwierigkeiten ergeben sich im Fall von »Autoritätsargumenten mit Zitattilgung«, in denen eine zitierende Prämisse und eine autoritäre Prämisse durch Zitattilgung zu einer normativen Konklusion führen (vgl. ebd., 111 f.): 1. Der Papst sagt: »Die Verwendung von Kondomen ist (moralisch) verboten«. 2. Alles, was der Papst sagt, ist wahr. 3. Deshalb: Die Verwendung von Kondomen ist (moralisch) verboten. Ähnlich wie in Searles Fall hängt auch das Gelingen dieser Argumentation davon ab, ob Sätze wie »Alles was der Papst sagt, ist wahr« oder »Tante Erna hat immer Recht« als Beschreibungen oder als Bewertungen interpretiert werden. Im ersten Fall liegt ein Gegenbeispiel zum Sein-Sollen-Fehlschluss vor, im zweiten nicht (vgl. Lueken 2013, 112). Diese beiden Beispiele zeigen sehr gut, dass eine eindeutige Unterteilung von Sein und Sollen bzw. zwischen Tatsachenaussagen und Wertaussagen, die die Befürworter*innen der Dichotomie voraussetzen müssen, nicht immer möglich ist und in unserer alltäglichen Sprache und Argumentation auch nicht immer stattfindet. Und trotzdem wird meistens angenommen, dass sich beide Urteils- und Argumentationsformen wesentlich voneinander unterscheiden. Im Sinne dieser Trennung zwischen praktischen und theoretischen Urteilen und Argumentationen und zwischen praktischem und theoretischem Wissen werden die in der Metaethik üblichen begrifflichen Differenzierungen zwischen Tatsachen und Werten, Sein und Sollen oder deskriptiv und normativ

9 | John L. Mackie hat das Beispiel von Searle aufgegriffen und darauf aufmerksam gemacht, dass hier einfach zwei Redeweisen miteinander vermischt werden: So kann man die Prämissen einmal in dem Sinne deuten, dass die Institution des Versprechens von außen beschrieben wird. Dann allerdings wäre die Konklusion ebenfalls eine Beschreibung, und das humesche Gesetz würde nicht bestritten. Oder man deutet die Konklusion als normative Äußerung innerhalb der Institution. Dann allerdings würde sich die Schlussfolgerung aufgrund der Berufung auf die Regeln dieser Institution ergeben, sodass der Geist des humeschen Gesetzes erneut nicht in Frage gestellt wird (vgl. Mackie 1990/1977, 64 ff.). Wichtig dabei ist, dass zunächst überhaupt nicht klar ist, ob es sich jeweils um deskriptive oder normative Aussagen handelt.

1. Einleitung: Zwei Dogmen der Moralphilosophie

oft als Dichoto­mien betrachtet und hinsichtlich der Problemstellung als exklusiv und erschöpfend aufgefasst. Dabei scheint es sich bei solchen Entgegensetzungen vielmehr um theoretische Konstruktionen, als um Ergebnisse der Reflexion unserer alltäglichen Argumentationspraxis zu handeln (vgl. ebd., 102). Wir sehen also, dass sowohl der propositionale Wissensbegriff als auch eine eindeutige Unterscheidung zwischen theoretischem und praktischem Wissen schon prima facie problematisch sind. Und trotzdem orientieren sich nicht nur die meisten, sondern wie im Folgenden noch zu zeigen sein wird, einige der wichtigsten und wirkmächtigsten philosophischen Theorien explizit oder implizit an diesen Paradigmen. Innerhalb dieser Arbeit soll dagegen gezeigt werden, dass eine sortale Einteilung von zwei verschiedenen Wissenstypen, theoretisches Wissen auf der einen und praktisches bzw. moralisches Wissen auf der anderen Seite, nicht haltbar ist. Vielmehr ist diese begriffliche Differenzierung zwischen theoretischem und praktischem Wissen bzw. zwischen empirischem und moralischem Wissen als aspektuale Unterscheidung von Wissensmodi an den Vollzügen des Sprechens, Wahrnehmens und Handelns zu begreifen. Wie genau diese zunächst kryptisch anmutende Formulierung zu verstehen ist, wird im Folgenden noch genau geklärt werden. Denn auf diese Weise kann den etablierten Positionen innerhalb der metaethischen Forschungslandschaft ein alternatives Theorieangebot an die Seite gestellt werden. Es soll zeigen, dass und warum es objektive Normen und Wertüberzeugungen in einer spezifischen Hinsicht gibt und was es bedeutet, von ihnen zu wissen. Zu Beginn der Untersuchung werden die beiden wichtigsten Theorietypen der gegenwärtigen metaethischen Forschung vorgestellt und ihre Probleme aufgezeigt. Es handelt sich dabei um den Ethischen Realismus und den Ethischen Objektivismus. Eine theoretische Alternative scheint zunächst der Neopragmatismus bzw. der Interne Realismus Hilary Putnams zu sein. Im Kontext dieser Position kann erstens verdeutlicht werden, dass eine adäquate metaethische Theorie im kognitivistischen Theorienspektrum zu verorten ist und dass der (noch weiter zu differenzierende) Relativismus keine gangbare Alternative darstellt. Darüber hinaus kann zweitens gezeigt werden, dass und warum es sich bei dem propositionalen Wissensbegriff und der dichotomischen Entgegensetzungen von Fakten und Werten um Dogmen der Moralphilosophie handelt und wie diese miteinander zusammenhängen. Drittens bietet der Interne Realismus, obwohl er die Dogmen der Moralphilosophie nicht überwinden kann, eine interessante Forschungsperspektive. Diese wird anschließend vor dem Hintergrund der Spätphilosophie Wittgensteins und der metaethischen Position John McDowells, maßgeblich aber unter Rückgriff auf die Philosophie Hegels, weiter entwickelt. Dass ausgerechnet Hegel als Ansprechpartner für die Problemstellungen dieser Arbeit dienen kann, muss nicht wundern. Denn während sein vermeintlicher Idealismus mit so kryptisch anmutenden Sätzen wie »Das Sein, das unbestimmte Unmittelbare ist in der Tat Nichts und nicht mehr noch weniger als nichts«

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Das Problem moralischen Wissens

(TW 5, 83) lange als Inbegriff geistiger Umnachtung galt, lässt sich seit einigen Jahren und Jahrzehnten eine Renaissance der hegelschen Philosophie beobachten.10 Dabei wird mit teilweise beachtlichem Erfolg versucht, Hegel nicht nur philosophiehistorisch zu lesen, sondern seine Argumente und Theorien auch zur Lösung moderner Probleme heranzuziehen. Vorreiter dieser Bewegung ist der Neo-Hegelianismus aus Pittsburgh um Robert Brandom und John McDowell, ihre Wurzeln reichen jedoch bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts zurück. Es wird noch genauer zu zeigen sein, dass W.V.O. Quine mit seinem Angriff auf die »Zwei Dogmen des Empirismus« (vgl. ders. 1951) und Wilfried Sellars mit seiner Kritik am »Mythos des Gegebenen« (vgl. ders. 1997/1956), den Aufstieg des Neopragmatismus einleiteten. Mit ihrer Kritik am positivistischen Erkenntnis- und Wissenschaftsverständnis bereiteten sie aber gleichzeitig den Boden für die Wiederkehr Hegels.11 Und so ist es kein Zufall, dass dessen Philosophie heute oft mit dem (Neo-)Pragmatismus im Allgemeinen und einer pragmatischen Ethikbegründung im Besonderen in Verbindung gebracht wird – wobei jedoch meistens übersehen wird, dass Hegel einige entscheidende Schritte über den Neopragmatismus hinausgeht.12 Das wiederum liegt, so meine ich jedenfalls, daran, dass einige seiner zentralen Argumente noch immer nicht hinreichend zur Kenntnis genommen werden – und eben hieraus resultiert die Forschungsperspektive dieser Arbeit. Denn moderne philosophische Theorien benötigen mitunter detaillierter Interpretationen von anschlussfähigen Klassikern der Philosophiegeschichte. Dabei ist es, wie der Hegelforscher Manfred Riedel einmal ganz ähnlich gesagt hat, eine hermeneutische Tugend einen Autoren so zu lesen, wie er sich wahrscheinlich selber gerne verstanden hätte (vgl. ders. 1969, 9). Eine andere ist es ihn so zu lesen, dass seine Philosophie für gegenwärtige Probleme anschlussfähig ist. Ziel dieser Arbeit ist es, beide Tugenden miteinander zu vereinen. Denn Hegel wollte mit seinem philosophischen System aus heutiger Perspektive mit Sicherheit zu viel, und trotzdem hält es Antworten auf einige der philosophischen Fragen der Gegenwart bereit (vgl. Hösle 2005, 142). Und

10 | Es wird im Folgenden v.a. für diejenigen Leser*innen, die sich noch nicht eingehend mit Hegels Philosophie beschäftigt haben, genauer zu zeigen sein, dass solche Formulierungen nur auf den ersten Blick etwas verrückt erscheinen. Wenn man sich die Mühe macht, Hegels Argumente genau nachzuvollziehen und seine Begriffe in eine moderne Sprache zu übersetzen, stellen sie sich meistens als ziemlich klug heraus. Zwar mag manches an seiner Philosophie veraltet sein, vieles ist jedoch anschlussfähig und nichts völlig absurd. 11 | Zur Wiederkehr des Hegelianismus und seinem ambivalenten Verhältnis zur analytischen Philosophie vgl. Welsch 2005. 12 | Zu Hegels pragmatischer Ethikbegründung vgl. Quante 2012/2005.

1. Einleitung: Zwei Dogmen der Moralphilosophie

die für diese Arbeit relevanten Antworten liegen, wie wir noch sehen werden, in seiner Begriffs- und Bildungstheorie.13 Allerdings erlaubt erst eine detaillierte Interpretation einiger ausgewählter Begriffe und Argumente Hegels, die mitunter über die gegenwärtig üblichen Lesarten hinausgeht, eine adäquate moderne Theorie zu formulieren, die nicht nur die Dogmen des Empirismus, sondern auch die der Moralphilosophie hinter sich lässt. Aus diesem Grund versteht sich das vorliegende Buch auch als Beitrag zur Hegelforschung. Die moderne Position, die sich in Anschluss an Hegel für die gegenwärtige moralphilosophische Debatte gewinnen lässt, möchte ich den Ethischen Relationalismus nennen.

13 | Vittorio Hösle hat bereits darauf hingewiesen, dass Hegels Theorie der Begriffsbildung in den gegenwärtig wohl prominentesten Hegelrezeptionen von Robert Brandom und John McDowell vollständig übersehen wird, sodass Begriffe bei ihnen etwas Gegebenes bleiben (vgl. ders. 2005). Soweit ich die Forschungslage überblicke, wird im Kontext dieser Arbeit zum ersten mal versucht, diesen Theorieteil Hegels für ein systematisches Problem zu erschließen.

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2. W  issen, Wahrheit und Rechtfertigung Von allen Gegensätzen, die die Sozialwissen­ schaften künstlich spalten, ist der grundlegendste und verderblichste der zwischen Subjektivismus und Objektivismus. P ierre B ourdieu

2.1 Leitdifferenzen

der gegenwärtigen

Forschung

Die grundlegende These dieser Arbeit besteht also darin, dass sich einige der wichtigsten und wirkmächtigsten Theorien der Moralphilosophie explizit oder implizit an den Paradigmen des propositionalen Wissensbegriffs und der strikten Unterteilung zwischen theoretischem und praktischem Wissen orientieren. Wird also erst die »Idee einer richtigen moralischen Antwort« (Schaber 1997, 35), mithin eine kognitivistische Position vertreten, stellt sich im Kontext der bestehenden Paradigmen sogleich die Frage, wie die Begriffe Wahrheit und Rechtfertigung zu verstehen sind. Dem kognitivistischen Theorienspektrum lassen sich dabei prinzipiell zwei Antworten entnehmen: Entweder sind moralische Urteile genau dann wahr, wenn sie den moralischen Tatsachen bzw. objektiven Werten entsprechen. Oder sie sind genau dann wahr, wenn sie das Resultat korrekter Begründungsverfahren bzw. objektiver Rechtfertigungen sind. Für diese metaethischen Leitdifferenzen hat sich innerhalb der Forschung noch keine einheitliche Terminologie durchgesetzt. In Anschluss an Christoph Halbig werde ich im ersten Fall vom Ethischen Realismus und im zweiten Fall vom Ethischen Objektivismus sprechen (vgl. ders. 2004a, 284 ff.; 2008, 19).1

1 | Halbig trifft diese begriffliche Differenzierung in Anschluss an Michael Quante und Bernard Williams und in Auseinandersetzung mit der Terminologie Christine Korsgaards (vgl. Halbig 2004a, 289 f.). Manchmal wird der Realismus aber auch dem Nonkognitivismus gegenübergestellt, sodass beide

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Das Problem moralischen Wissens

Über folgende Minimalbegriffe beider Positionen besteht, unabhängig von ihrer jeweiligen Bezeichnung, innerhalb der Forschung weitestgehender Konsens: 1. Der Ethische Realismus behauptet, dass es moralische Tatsachen und Eigenschaften gibt, die unsere moralischen Urteile wahr oder falsch machen. Ob eine moralische Eigenschaft einer Handlung oder Überzeugung zukommt, hängt von dieser Handlung oder Überzeugung ab, unabhängig vom Vokabular oder der konkreten Rechtfertigungspraxis einzelner Moralakteure. Das Urteil »Rassismus ist moralisch verwerflich« drückt damit etwas aus, was der Fall ist, weil es eine moralische Tatsache korrekt repräsentiert. In diesem Sinne sind diejenigen Entitäten, die die Wahrheitsbedingungen für moralische Urteile bilden, vollständig unabhängig von subjektiven Einstellungen oder Leistungen (etwa Wünschen, Interessen oder Neigungen) der Moralakteure. Diese Unabhängigkeit von subjektiven Einstellungen und Leistungen macht den Ethischen Realismus für viele suspekt. Damit ist aber nicht gemeint, dass moralische Tatsachen ohne moralische Subjekte existieren würden. Vielmehr bedeutet es, dass die Bewertung von Handlungen und Situationen auf objektiven Erkenntnisquellen beruht und nicht auf kontingenten Gründen des Fürwahrhaltens. Moralische Realisten*innen sprechen Werte und moralische Tatsachen somit als Gegenstände der Erkenntnis an, durch die moralische Überzeugungen gerechtfertigt werden

hier behandelten Ansätze als Realismen bezeichnet werden (so etwa bei Wolf/Schaber 1998, 130 ff.). Allerdings wäre dies im Kontext der hier zu entwickelnden Problematisierung nicht differenziert genug. Auch wird anstatt vom Ethischen Objektivismus manchmal auch vom Antirealismus gesprochen (vgl. Scarano 2001; Czaniera 2004, 348 ff.). Der Begriff Antirealismus könnte jedoch fälschlicherweise suggerieren, dass es sich um eine nonkognitivistische Position (als Gegenposition zum Realismus) handelt. Trotzdem ist der Begriff Objektivismus zunächst alles andere als eindeutig: So lässt sich einerseits von »objektiver Wahrheit« sprechen, womit die Opposition zum Relativismus ausgedrückt wird (vgl. Kap. 2.2.2). Andererseits wird innerhalb der Forschung auch von »objektiven Werten« und »objektiven moralischen Tatsachen« geredet. Dafür soll hier jedoch, wie bereits gesagt, der Begriff des Realismus reserviert werden, da dadurch eine von Moralakteuren weitestgehend unabhängige moralische Realität intendiert wird. Der Begriff des Objektivismus wird deshalb hier ganz explizit auf die Möglichkeit objektiver Begründungsverfahren bezogen.

2. Wissen, Wahrheit und Rechtfertigung

können. Damit legen sie sich explizit oder implizit darauf fest, moralisches Wissen als »wahre und gerechtfertigte Wertüberzeugung« zu verstehen.2 2. Der Ethische Objektivismus behauptet, dass es objektive Normen und Wertüberzeugungen gibt, die unsere moralischen Urteile durch bestimmte Begründungsverfahren wahr oder falsch machen. Das Urteil »Rassismus ist moralisch verwerflich« ist damit aufgrund der Strukturen praktischer Rationalität der Moralakteure wahr. In diesem Sinne sind die Wahrheitsbedingungen moralischer Urteile vollständig von subjektiven Einstellungen oder Leistungen der Moralakteure abhängig, insofern sie durch eine korrekte Rechtfertigungspraxis aufgrund der praktischen Rationalität der Moralakteure konstituiert werden (etwa durch Vernunft oder Deliberation). Damit führen Ethische Objektivist*innen den Begriff der Wahrheit, unter näher zu spezifizierenden Bedingungen der praktischen Rationalität, auf den Begriff der Rechtfertigung zurück und verstehen moralisches Wissen als »objektiv gerechtfertigte Wertüberzeugung«. Im Folgenden werden exemplarisch moralphilosophische Theorietypen und ihre Probleme vorgestellt, die diesen Leitdifferenzen entsprechen. Aufgrund der unübersichtlichen Masse an Forschungsliteratur können hier nur einige wenige Theorien und Problemdiskussionen herausgegriffen werden. Die Auswahl orientiert sich dabei erstens an der Zuordnung zu den entsprechenden Leitdifferenzen. Das bedeutet, dass die vorgestellten Theorien und Überlegungen durch ihre wissenschaftliche Prominenz und Wirkungsgeschichte sowohl den Ethischen Realismus, als auch den Ethischen Objektivismus idealtypisch repräsentieren bzw. idealtypische Probleme dieser Theorietypen aufwerfen. Zweitens orientieren sie sich damit zusammenhängend am weiteren Argumentationsverlauf dieser Arbeit. Das wiederum bedeutet, dass über ihre Diskussion zentrale Begriffe und Probleme eingeführt werden, die im weiteren Argumentationsgang noch eine wichtige Rolle spielen. So wird etwa der Ethische Realismus über die Debatte um den sogenannten Naturalismus vorgestellt. Wichtige Argumente in diesem Zusammenhang stammen von den bereits erwähnten Philosophen John L. Mackie und George Edward Moore. Die in der Forschung zentrale Leitunterscheidungen zwischen Naturalismus und Nonnaturalismus sowie die theoretisch zentralen Begriffspaare natürlich/nicht-natürlich und analytischer/synthetischer Naturalismus werden

2 | Von dieser starken Variante des Ethischen Realismus lässt sich noch ein schwacher Realismus unterscheiden. Dieser behauptet, dass diejenigen Entitäten, die die Wahrheitsbedingungen moralischer Urteile bilden, nicht vollständig von subjektiven Einstellungen oder Leistungen der Moralakteure abhängig sind (vgl. Halbig 2004a, 293; Kap. 2.1.1).

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Das Problem moralischen Wissens

dabei über einschlägige Positionen eingeführt. Dabei kann der Naturalismus der sogenannten Cornell-Schule nur skizzenhaft und im Hinblick auf die weitere Argumentation problematisiert werden, um einigen wichtigen Pointen dieser Arbeit nicht vorzugreifen. Der Nonnaturalismus John McDowells muss hier dagegen ausführlicher behandelt werden, obwohl er den Ethischen Realismus gerade nicht idealtypisch repräsentiert. Aber eben deshalb handelt es sich um eine der prominentesten und elaboriertesten Positionen der gegenwärtigen Metaethik, die allerdings einige der idealtypischen Probleme des Ethischen Realismus aufwirft. Zudem werden sich einige Aspekte dieser Theorie im weiteren Verlauf dieser Arbeit als äußerst anschlussfähig erweisen. Der Ethische Objektivismus dagegen wird anhand der Moralphilosophie Kants vorgestellt, da er als Vordenker dieser Richtung gesehen werden kann. Dabei wird auch auf die Kant-Interpretation von Christine Korsgaard und auf Reformulierungen der kantischen Position eingegangen, wie sie sich in der Diskursethik finden. Im Mittelpunkt steht dabei der Begriff der Autonomie, der für diese Arbeit ebenfalls noch wichtig werden wird. 2.1.1 W  ahrheit und Rechtfertigung: Der Ethische Realismus und das Problem der Natur Die Grundidee des Ethischen Realismus besteht in der Annahme, dass es moralische Tatsachen und Eigenschaften gibt, die unabhängig von soziokulturellen Einflüssen und begrifflichen Schemata existieren. Eine moralische Überzeugung ist genau dann wahr, wenn sie eine moralische Tatsache repräsentiert bzw. mit ihr übereinstimmt. Das Problem dieser Position besteht entsprechend darin zu klären, was genau moralische Tatsachen sind und inwiefern sich Moralakteure erkennend zu ihnen verhalten können. Denn indem der Ethische Realismus eine Übereinstimmung von moralischer Tatsache und moralischem Urteil fordert, wird eine moralische Wahrheit unabhängig der jeweils kulturell bedingten Rechtfertigungspraxis behauptet und ein Korrespondenzbegriff der Wahrheit nahegelegt. Durch näher zu spezifizierende Erkenntnisquellen müssten dabei alle Moralakteure unter ebenfalls näher zu spezifizierenden normalen epistemischen Bedingungen, d.h. unabhängig von soziokulturellen Einflüssen, dieselben moralischen Tatsachen in den Blick nehmen können. Der Begriff moralischen Wissens wird damit als »wahre und gerechtfertigte Wertüberzeugung« verstanden. Innerhalb der abendländischen Philosophiegeschichte wurden und werden bis heute viele verschiedene Versionen der Korrespondenztheorie der Wahrheit vertreten, denn die Idee eines direkten Vergleichs von empirischen Tatsachen mit deskriptiven oder naturwissenschaftlichen Aussagen scheint zunächst sehr intuitiv und plausibel zu sein. Der Vergleich von moralischen Tatsachen mit moralischen Aussagen scheint dagegen schwieriger verständlich. Deshalb sind es im Kern diese Annahmen von moralischen Tatsachen und moralischen Erkenntnis-

2. Wissen, Wahrheit und Rechtfertigung

quellen, die John L. Mackie in seiner berühmten Formulierung so »merkwürdig« fand: Mit dem Argument aus der Absonderlichkeit (»argument from queerness«) beansprucht er zu zeigen, dass es keine objektiven Werte geben kann, da sich weder das Verhältnis von moralischen Eigenschaften zu natürlichen Eigenschaften befriedigend klären ließe noch inwiefern subjektunabhängige Werte zum Handeln motivieren könnten. Neben diesem ontologischen Problem wäre auch die epistemologische Frage zu klären, wie wir objektive Werte erkennen können, ohne einen speziellen »moralischen Sinn« zu postulieren. Da sich bestehende und nicht bestehende Konvergenzen moralischer Urteile vollständig durch gemeinsame oder unterschiedlich Lebensformen erklären lassen, so Mackies Argument aus der Relativität (»argument from relativity«), seien wir auf die Annahme objektiver Werte nicht angewiesen (vgl. ders. 1990/1977, 36 ff.). Damit disqualifiziert er zunächst Theorien, die in der Tradition des englischen Intuitionismus und der deutschen Wertphänomenologie stehen und von starken ontologischen und epistemologischen Voraussetzungen ausgehen.3 Trotzdem erfreut sich der Ethische Realismus heute wieder großer Beliebtheit, denn in seinem Theorienspektrum lassen sich zwei unterschiedliche und zunächst sehr plausible Strategien unterscheiden, um Mackies Einwände zu entkräften. Man redet dabei auch vom starken und schwachen Ethischen Realismus (vgl. Halbig 2004a) oder vom Naturalismus und Nonnaturalismus (vgl. Tarkian 2004, 319 ff.).4 Diese beiden großen oppositionellen Lager unter den zeitgenössischen Realist*innen zeichnen sich durch eine unterschiedliche moralische Ontologie und Epistemologie aus. Das naturalistische Lager versucht dabei die Begriffe moralischer Tatsachen und moralischer Eigenschaften semantisch zu entschärfen, indem sie als natürliche bzw. empirische Tatsachen und Eigenschaften und damit als Gegenstände der Naturwissenschaften und empirischen Sozialwissenschaften gedeutet werden. Diese Herangehensweise wird durch eine komparative Fragestellung dominiert: In welchem Verhältnis steht der moralische Erkenntnisprozess zum wissenschaftlichen Erkenntnisprozess? Um moralische Tatsachen zu eruieren, werden dabei empirische Theorien mit Theorien der

3 | Während Max Scheler (1966/1913 ff.) und Nicolai Hartmann (1926) von eigenen Wertsphären ausgehen, konzipiert George Edward Moore (2004/1903) eine empiristische Ethik, in der er die intuitive Erkenntnis mit dem Utilitarismus kombiniert. Theoretisch zentral und im Folgenden besonders relevant ist dabei seine Unterscheidung zwischen natürlichen und nicht-natürlichen Eigenschaften, die auch Mackie aufgreift. 4 | In der gegenwärtigen Forschungslandschaft korrespondieren jeweils der starke Ethische Realismus und der Naturalismus sowie der schwache Ethische Realismus und der Nonnaturalismus weitestgehend. Zu den Gründen s.u.

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Das Problem moralischen Wissens

Moral verbunden. Damit zusammenhängend wird nicht nur der wissenschaftstheoretische Realismus verteidigt (d.i. im weitesten Sinne die Annahme, dass die Natur unabhängig von unseren Begriffen und Theorien, die sie beschreiben, existiert). Dem Erkenntnissubjekt wird auch eine perzeptive Rolle im Erkenntnisprozess zugewiesen (vgl. ebd., 305 ff., 319 ff.). Das nonnaturalistische Lager lehnt dagegen eine komparative Herangehensweise ab und interpretiert moralische Tatsachen und moralische Eigenschaften als Tatsachen und Eigenschaften sui generis. Dabei deutet es moralische Tatsachen und moralische Erkenntnis vor dem Hintergrund der Phänomenologie der sprachlich vermittelten Werterfahrung und der moralischen Praxis (vgl. ebd., 306 f., 321). Der zentrale Untschied besteht darin, dass im Sinne des Ethischen Naturalismus diejenigen Entitäten, die die Wahrheitsbedingungen moralischer Urteile bilden, vollständig von subjektiven Leistungen unabhängig sind, während sie im Ethischen Nonnaturalismus nur teilweise bzw. nicht vollständig von subjektiven Leistungen abhängig sind (vgl. Halbig 2004a, 292 f.). Was das genau bedeutet, wird nun im Folgenden zu klären sein. Wir beginnen mit dem Ethischen Naturalismus, der in der Bringschuld steht zu erklären, in welcher Beziehung unser moralisches Vokabular zu den jeweiligen natürlichen oder empirischen Tatsachen und Eigenschaften steht bzw. wie das Prädikat »moralisch gut« definiert werden kann. Dabei werden wiederum zwei Positionen unterschieden: Der analytische Naturalismus und der synthetische Naturalismus.5 Analytische Naturalist*innen behaupten, dass moralische Prädikate dasselbe bedeuten wie naturalistische Prädikate. Das wiederum heißt, dass Prädikate wie »moralisch gut«, »moralisch richtig« oder »moralisch geboten« über das (vermeintlich) rein deskriptive Vokabular der Psychologie, der empirischen Soziologie oder der Soziobiologie definiert werden. Zum naturalistischen Vokabular gehören dabei Prädikate wie »produziert mehr lustvolle Erfahrungen als jede alternative Handlung«, »erfüllt die Präferenzen aller Betroffenen in optimaler Weise«, »trägt langfristig zur sozialen Kohäsion, zur Zufriedenheit Aller und zum sozialen Gleichgewicht bei«, »vermindert die Ungleichheiten in der Güterausstattung der Mitglieder der Gesellschaft«, »gewährleistet langfristig die Aufrechterhaltung der Bedingungen, die für kooperatives Handeln notwendig sind«, »fördert das Überleben der menschlichen Spezies«, usw. (vgl. Tarkian 2004, 312 f.). Die definierenden Prädikate können komplex sein. Wichtig ist, dass die mora-

5 | Üblicherweise wird nicht nur zwischen dem analytischen und synthetischen Naturalismus, sondern auch zwischen dem reduktiven und nonreduktiven Naturalismus unterschieden. Eine solche weitere Differenzierung würde allerdings den Rahmen einer exemplarischen Darstellung paradigmatischer Positionen sprengen (vgl. dazu aber Tarkian 2004, 308 ff.).

2. Wissen, Wahrheit und Rechtfertigung

lischen Prädikate dasselbe bedeuten und damit dasselbe bezeichnen, wie die entsprechenden naturalistischen Prädikate, die natürliche Eigenschaften beschreiben. Wie George Edward Moore mit dem Argument der offenen Frage zu zeigen beansprucht, ist dies jedoch nicht möglich. Er erläutert dies an einem Beispiel: Die Eigenschaft »gut« kann etwa nicht als das, »wonach alle trachten« definiert werden. Denn es ist sinnvoll zu fragen: »Alle trachten nach Lust, aber ist Lust auch gut?« Wenn aber »gut« und »alle trachten nach Lust« dasselbe bedeuten würde, wäre die Aussage »Das, wonach alle trachten ist gut« eine Tautologie und übersetzbar mit: »Das, wonach alle trachten ist das, wonach alle trachten« (vgl. Moore 2004/1903, 15 ff.; Wolf/Schaber 1998, 100). Moore schließt daraus, dass »gut«, ähnlich wie »gelb«, eine einfache und undefinierbare Eigenschaft ist (vgl. ders. 2004/1903, 7). Aber im Gegensatz zu »gelb« handle es sich nicht um eine natürliche Eigenschaft, sondern um einen Eigenschaft sui generis. Ein naturalistischer Irrtum besteht laut Moore genau dann, wenn die Eigenschaft »gut« a) definiert wird, b) mit einer Eigenschaft gleichgesetzt wird, auf die wir uns mit einem anderen Ausdruck beziehen könnten oder c) wenn man annimmt, es handle sich um eine natürliche Eigenschaft oder sei auf diese reduzierbar (vgl. Schaber 2006, 454). Allerdings ist auch Moores Einteilung von natürlichen und nicht-natürlichen Eigenschaften keineswegs eindeutig. Er schreibt dazu: »By ›nature,‹ [sic!] then, I do mean and have meant that which is the subjectmatter of the natural sciences and also of psychology. It may be said to include all that has existed, does exist, or will exist in time. [...] Which among the properties of natural objects are natural properties and which are not? For I do not deny that good is a property of certain natural objects: certain of them, I think, are good; and yet I have said that ›good‹ itself is not a natural property. Well, my test for these too also concerns their existence in time. Can we imagine ›good‹ as existing by itself in time, and not merely as a property of some natural object?« (Moore 2004/1903, 40 f.)

Dieser Unterscheidung zufolge wäre allerdings fraglich, warum man nicht alle Eigenschaften als nicht-natürliche Eigenschaften betrachten sollte, da sich die Existenz objektunabhängiger Eigenschaften nur schwerlich vorstellen lässt (vgl. Schaber 2006, 455). Vor diesem Hintergrund hat Hilary Putnam darauf hingewiesen, dass Moore bei seinem Argument der offenen Frage implizit davon ausgeht, dass es sich bei der Aussage »gut ist das, wonach alle trachten« um ein analytisches Urteil handelt, weshalb die Aussage »x ist nicht gut, obwohl alle danach trachten« in sich selbst widersprüchlich (und nicht bloß falsch) ist. Indem Moore jedoch eine synthetische Identität von Eigenschaften leugnet, so Putnam, muss er erstens anerkannte wissenschaftliche Entdeckungen leugnen und kann zweitens die Unterscheidung zwischen natürlichen und nicht-natürlichen Eigenschaften nicht mehr aufrecht erhalten. Putnam verdeutlicht dies anhand der

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Das Problem moralischen Wissens

wissenschaftlichen Entdeckung, dass die physikalische Größe der Temperatur dieselbe Größe ist, wie die »mittlere kinetische Energie der Moleküle«. In Anschluss an Putnam (MoM) und Saul Kripke (1990/1972) lassen sich solche Aussagen als epistemisch kontingente, aber notwendige Wahrheiten deuten. Moore hingegen müsste eingestehen, dass »Temperatur« und »mittlere kinetische Energie der Moleküle« nicht identisch seien. Denn die Aussage »x hat die Temperatur T, doch x hat nicht die mittlere kinetische Energie der Moleküle E« (wobei E der Wert der kinetischen Energie ist, der der Temperatur T entspricht), ist nicht in sich selbst widersprüchlich, sondern von empirischen Untersuchungen abhängig. Und da aus diesem Grund offene Fragen (hinsichtlich der Identität) denkbar bzw. sinnvoll sind (zumindest solange diese Identität nicht empirisch erforscht ist), müsste es sich bei der Eigenschaft der Temperatur im Sinne Moores um eine nicht-natürliche Eigenschaft handeln (vgl. RTH, 206 f.; Schaber 2006, 455). »In fact, Moore conflated properties and concepts. There is a notion of property in which the fact that two concepts are different (say ›temperature‹ and ›mean molecular kinetic energy‹) does not at all settle the question whether the corresponding properties are different. [...] The concept ›good‹ may not be synonymous with any physicalistic concept [...], but it does not follow, that being good is not the same property of being P, for some suitable physicalistic [...] P. In general, an ostensively learned term for a property (e.g. ›has high temperature‹) is not synonymous with a theoretical definition of that property; it takes empirical and theoretical research, not linguistic analysis, to find out what temperature is (and, some philosopher might suggest, what goodness is), not just reflection on meanings.« (RTH, 207)

Wenn also Putnam und Kripke recht haben, lässt sich die Identität von Eigenschaften nicht nur mittels analytischer, sondern auch mittels synthetischer Aussagen behaupten, die notwendige, aber empirische Wahrheiten ausdrücken (vgl. Tarkian 2004, 315). So bezeichnet etwa der Begriff Wasser die durchsichtige und erfrischende Flüssigkeit, die in Flüssen und Seen vorkommt und als Regen vom Himmel fällt, während Gold eine kostbare, harte, gelb schimmernde Substanz bezeichnet, um derentwillen getötet wird. Damals wie heute referieren wir mit diesen Begriffen auf dieselben Substanzen, und das obwohl man Wasser für ein Element hielt und obwohl man versuchte, Gold auf obskure Weise herzustellen. Aber erst heute wissen wir durch empirische Untersuchungen, dass Wasser notwendigerweise H2O, und Gold notwendigerweise das Element mit der Ordnungszahl 79 ist. Laut der kausalen Theorie der Referenz können zwei Ausdrücke also dasselbe bezeichnen, ohne synonym zu sein (vgl. ebd., 314 ff.). In eben diesem Sinne haben etwa Richard Boyd (1988) und David Brink (1989) aus der sogenannten Cornell-Schule in prominenter Weise versucht, das Verhältnis moralischer und natürlicher Tatsachen und Eigenschaften als synthetische Identitätsbeziehungen zu verstehen. Auf die Details ihrer Theorien und die kausale Theorie

2. Wissen, Wahrheit und Rechtfertigung

der Referenz kann hier nicht näher eingegangen werden. Allerdings scheint letztere zu einer Spannung mit dem Ethischen Realismus zu führen. Denn wenn moralische Ausdrücke auf diejenigen natürlichen Eigenschaften referieren, die ihren Gebrauch kausal regulieren, würden verschiedene Sprecher*innen, deren Gebrauch eines moralischen Ausdrucks M durch unterschiedliche natürliche Eigenschaften kausal reguliert wird, nicht über dieselbe Eigenschaft sprechen. Demnach könnten sie auch keine genuin moralischen Konflikte über die moralische Beurteilung bzw. das M-Seins eines Gegenstandes haben (vgl. Tarkian 2004, 318). Im weiteren Verlauf der Arbeit wird zu zeigen sein, dass weder die kausale Theorie der Referenz noch der wissenschaftstheoretische Realismus unproblematische Positionen sind, sodass sich auch der synthetische Naturalismus als mindestens ebenso problematisch erweist. Die komplexe und vielschichtige Diskussion kann und soll hier jedoch nicht vorweggenommen werden.6 Stattdessen muss noch auf das Problem der Handlungsmotivation hingewiesen werden. Denn es lassen sich im Lager des Ethischen Naturalismus mit dem Internalismus und dem Externalismus zwei weitere Positionen unterscheiden. Die zentrale These des Internalismus lautet dabei: Wer das moralische Urteil »Es ist gut, x zu tun« als wahr anerkennt, ist notwendigerweise dazu motiviert, x zu tun. Jemand, der zustimmt, ohne motiviert zu sein, ist entweder unehrlich oder hat das Urteil nicht verstanden. In komplementärer Entgegensetzung besagt die zentrale These des Externalismus: Man kann moralischen Urteilen wie »Es ist gut, x zu tun« aufrichtigzustimmen, ohne zum Handeln motiviert zu sein. Zwischen moralischen Überzeugungen und Handlungsmotivationen besteht demzufolge nur ein kontingenter Zusammenhang (vgl. Wolf/Schaber 1998, 141 ff.). Internalist*innen haben dabei allerdings das Problem, gegen Mackies Einwand erklären zu müssen, wie moralisches Erkennen gleichzeitig handlungsleitend sein kann. Schließlich entstünde dadurch nicht nur eine Disanalogie zwischen Ethik und (realistisch interpretierter) Wissenschaft, sondern auch eine Ambivalenz im Erkenntnisprozess moralischer Güter. Denn diese würden folglich durch menschliche Bedürfnisse und Neigungen (beim Internalisten Richard Boyd ist das etwa die Sympathie) nicht nur erkannt, sondern auch konstituiert werden (vgl. Czaniera 2004, 365 f.). Eben dadurch tendiert dieser Ansatz jedoch zur Zirkularität:7 »Diese prinzipielle Konstituiertheit des Erkannten durch etwas, das gleichzeitig zum Instrumentarium des Erkennens gehört, stellt aber eine Inko­härenz relativ zum Realismus dar: Das was mir durch Sympathie als Erkenntnis vermittelt

6 | Vgl. zur Kritik an der kausalen Theorie der Referenz für moralische Ausdrücke Horgan/Timmons 1991; 1992 und zur Diskussion Geirsson 2005. 7 | Vgl. dazu genauer auch Czaniera 2001, 161 ff.

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Das Problem moralischen Wissens wird, ist nicht unabhängig von meinen moralischen Einstellungen, denn diese beeinflussen die Auswahl dessen, was ich für befördernswert halte, wenn mir jemand sympathisch ist.« (Czaniera 2004, 366)

Der Externalismus hat dieses Problem nicht. Hier erweist sich Mackies Einwand, dass moralische Tatsachen merkwürdige Tatsachen eigener Art sein müssten, als gegenstandslos. Inwiefern zwischen moralischen Überzeugungen und Handlungsmotivationen ein kontingenter Zusammenhang besteht, erläutert etwa David Brink durch die Figur des Amoralisten (vgl. ders. 1989, 46 ff.). Denn dieser ist moralischen Überlegungen gegenüber nicht indifferent, aber auch nicht notwendigerweise zum Handeln motiviert. Für Internalist*innen ist eine solche Person undenkbar, für den Externalisten Brink besteht die Möglichkeit des Amoralisten im Faktum, dass wir ihn uns vorstellen können (vgl. ebd., 48; Wolf/Schaber 1998, 143). Allerdings kann er als Beispiele nur gewisse Soziopathen (»certain sociopaths«) anbieten (vgl. ders. 1989, 46). Und ob man für die grundsätzliche Bestimmung des epistemischen Status von moralischen Urteilen eine Gruppe von Menschen als Beispiel anführen kann, die bereits als pathologisch charakterisiert und damit als nicht-repräsentativ gekennzeichnet wurde, scheint mehr als fraglich (vgl. Czaniera 2001, 164). Daneben ist unter externalistischen Vorzeichen schlecht zu verstehen, inwiefern moralische Urteile von hypothetischen Imperativen und Geschmacksurteilen abgegrenzt werden können (vgl. ebd., 163 ff.). Auch dies scheint wiederum kaum mit dem Ethischen Realismus vereinbar zu sein.8 Da der Naturalismus ernsthaften Schwierigkeiten ausgesetzt ist, sind in den letzten Jahren nonnaturalistische Theorietypen wieder mehr in Mode ge-

8 | Innerhalb der deutschsprachigen Forschungslandschaft wurde das Problem eines adäquaten Verständnisses des Realismus zwischen Internalismus und Externalismus in jüngerer Zeit im Kontext der Ernst-Halbig-Debatte aufgegriffen, ohne es jedoch plausibel zu lösen: Christoph Halbigs »moderater Externalismus« (vgl. ders. 2007) klärt weder die Annahme eines normativen Bereichs der Wirklichkeit, welcher mit Mackie durchaus merkwürdig erscheint noch die Frage nach der Quelle moralischer Erkenntnis (zur Kritik vgl. Ernst 2009a). Gerhard Ernst hingegen beansprucht zu zeigen, dass die Moral in derselben Art und Weise objektiv ist, wie die Wissenschaft (vgl. ders. 2008). Mit Halbig wäre jedoch zu fragen, ob er das »Rätsel der Moral« lösen kann, indem er es einfach auf eine rationalitätstheoretische Ebene verschiebt: Fraglich ist nicht nur, ob der Ausdruck »wissenschaftlich« salva veritate durch den Ausdruck »moralisch« ersetzt werden kann, sondern auch ob Anomalien der Wissenschaft mit Anomalien der Moral gleichgesetzt werden können (vgl. Halbig 2009a; Ernst 2008, 188 f., 217 ff.).

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kommen. Allerdings grenzen sich seine Vertreter*innen als schwache Ethische Realist*innen von den problematischen Thesen des englischen Intuitionismus und der deutschen Wertphänomenologie deutlich ab. Der gegenwärtig wohl prominenteste Vertreter einer solchen Position ist John McDowell, dessen Ansatz nun auch mit Blick auf den weiteren Argumentationsverlauf dieser Arbeit etwas ausführlicher dargestellt werden muss. Zwar wird seine »Sensibilitätstheorie der Moral« üblicherweise dem Nonnaturalismus zugerechnet (vgl. Wolf/Schaber 1998, 134 ff.; Tarkian 2004, 321), manchmal wird aber auch von einem »schwachen Naturalismus« (Honneth 2001, 373) oder von einer »naturphilosophisch begründeten Wertethik« (Habermas 1999b, 2; Fn. 7) gesprochen. Diese Zuordnungsschwierigkeiten gründen v.a. in McDowells Auseinandersetzung mit dem Begriff der Natur. Denn indem er einen »unverblümten Naturalismus« (»bald naturalism«) zugunsten eines »aristotelischen Naturalismus« zurückweist, widersetzt er sich zumindest tendenziell den in der Metaethik üblichen Klassifikationen. Damit zusammenhängend wendet er sich gegen die Spannung zwischen einem »logischen Raum der Natur«, dessen Gegenstände durch die Naturwissenschaften beschrieben werden können, und einem »logischen Raum der Gründe«, dessen Gegenstände in einer normativen Beziehung zueinander stehen (vgl. GW, 14 f.). Anders als der unverblümte Naturalismus behauptet, so McDowell, handelt es sich beim logischen Raum der Gründe – in den auch moralische Tatsachen und Werte fallen – um eine Struktur sui generis. Denn die normativen Beziehungen, die diesen Raum konstituieren, seien nicht aus demjenigen begrifflichen Material rekonstruierbar, das auch zur Beschreibung der Natur verwendet wird. Die Unterscheidung dieser Räume müsse jedoch nicht mit einer Aufspaltung von Natürlichem und Normativem einhergehen (vgl. ebd., 18 ff., 98; Wunsch 2008, 308).9 Sie sei vielmehr das Ergebnis einer Dualität von Geist und Welt bzw. von einer szientistisch verstandenen Natur einerseits und der Trennung von Sinnlichkeit und Verstand im erkennenden Subjekt andererseits, die sich als philosophische Sackgasse herausgestellt habe (vgl. MW, 108).10 McDowell versucht nun, einen Ausweg aus dieser Sack-

9 | Die Metaphorik eines »Raums der Gründe« übernimmt McDowell von Wilfried Sellars. Dessen Angriff auf den »Mythos des Gegebenen« dient ihm in Mind and World als argumentativer Ausgangspunkt, um anschließend in einem komplexen Zusammenspiel von aristotelischen, kantianischen, hegelianischen und wittgensteiniaschen Motiven die Frage zu beantworten, wie unsere Gedanken begriffliche Inhalte besitzen können, die gleichzeitig objektive Geltung beanspruchen (vgl. Denejkine 2000, 939 f.). 10 | Als »szientistisch« bezeichnet McDowell ein Naturverständnis, das insofern »entzaubert« (Max Weber) ist, als es frei von Bedeutungen, Zwecken und Normen ist (vgl. MW, 70 ff.).

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gasse zu finden, indem er empirisches Wissen – in Anschluss an Kant – als Zusammenarbeit von Sinnlichkeit und Verstand konzeptualisiert (vgl. ebd., 46). »The original Kantian thought was that empirical knowledge results from a cooperation between receptivity and spontaneity. (Here ›spontaneity‹ can be simply a label for the involvement of conceptual capacities.) [...] In the view I am urging, the conceptual contents that sit closest to the impact of external reality on one’s sensibility are not already, qua conceptual, some distance away from that impact. They are not the results of a first step within the space of reasons, a step that would be retraced by the last step in laying out justifications, as the activity is conceived within the dualism of scheme and Given. This supposed first step would be a move from an impression, conceived as the bare reception of a bit of the Given, to a judgement justified by the impression. But it is not like that: the conceptual contents that are most basic in this sense are already possessed by impressions themselves, impingements by the world on our sensibility.« (MW, 9 f.)11

McDowell sieht die klassische Erkenntnistheorie in dem Dilemma, dass die Wahrnehmungsfähigkeit einerseits als natürliche Fähigkeit des Menschen vorgestellt wird, die Gegenstände der Wahrnehmung andererseits nur durch Begriffe verständlich gemacht werden können, sodass eine Kluft zwischen (natürlicher) Wahrnehmung und (rationalem) Urteilen entsteht, die zu theoretischen Folgeproblemen führt. Er selbst beansprucht dagegen zu zeigen, dass die (theoretisch korrekte) Trennung zwischen dem Raum der Gründe und dem Raum der Naturgesetze nicht länger mit der Trennung zwischen Natur und Nicht-Natur gleichgesetzt werden darf. Vielmehr sind natürliche Tatsachen im Sinne McDowells begrifflich strukturiert, ebenso wie unsere begrifflichen Fähigkeiten in einem spezifischen Sinne natürlich sind (vgl. Stahl 2014, 138 f.). Deshalb bezeichnet

11 | McDowell bezieht sich mit seinem Hinweis auf die Kooperation von Sinnlichkeit und Verstand auf die einschlägige Textstelle bei Kant: »Wollen wir die Rezeptivität unseres Gemüts, Vorstellungen zu empfangen, so fern es auf irgend eine Weise affiziert wird, Sinnlichkeit nennen; so ist dagegen das Vermögen, Vorstellungen selbst hervorzubringen, oder die Spontaneität des Erkenntnisses, der Verstand. Unsre [sic!] Natur bringt es so mit sich, daß die Anschauung niemals anders als sinnlich sein kann, d.i. nur die Art enthält, wie wir von Gegenständen affiziert werden. Dagegen ist das Vermögen, den Gegenstand sinnlicher Anschauung zu denken, der Verstand. Keine dieser Eigenschaften ist der anderen vorzuziehen. Ohne Sinnlichkeit würde uns kein Gegenstand gegeben, und ohne Verstand keiner gedacht werden. Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.« (KrV, B 75/A 51; vgl. MW, 4; Fn. 3)

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er sie in Anschluss an Aristoteles auch als »zweite Natur«. McDowell sagt zwar zunächst, dass der Begriff der zweiten Natur bei Aristoteles »all but explicit« sei und verweist ganz allgemein auf das zweite Buch der Nikomachischen Ethik (vgl. MW, 84).12 Er versucht ihn jedoch für die metaethische Debatte wiederzubeleben, da ein aristotelischer Naturalismus der fragwürdigen philosophischen Reaktion auf den Aufstieg der Naturwissenschaften im 19. Jahrhundert – nach der zur Realität nichts als die naturwissenschaftlich erschließbare Welt gehört – nicht erlegen sein könne (vgl. TSN, 174). Dabei lassen sich insgesamt vier Aspekte hervorheben, die die aristotelische Ethik für seine Überlegungen anschlussfähig machen (vgl. MW, 83 f.; Wunsch 2008, 310 f.): i.) Ethische Forderungen sind insofern autonom, als sie keiner Rechtfertigung durch außer-ethische Umstände bedürfen. ii.) Sie sind in dem Sinn real, als sie unabhängig davon bestehen, ob wir für sie empfänglich sind oder nicht. iii.) Ethische Forderungen befinden sich grundsätzlich in der »Reichweite« der Menschen, insofern keine merkwürdigen Entitäten oder ein spezieller moralischer Sinn attestiert werden muss. iv.) Die Erkenntnis und die Empfänglichkeit für ethische Forderungen gehören nicht zur biologischen Grundausstattung, sondern werden im normativen Prozess des Erwachsenwerdens erst erworben. McDowell versteht moralisches Wissen nun als Ausübung der Spontaneität – als begriffliche Fähigkeit – die unsere sinnlichen Wahrnehmungen durchdringt: »Exercises of spontaneity belong to our mode of living. And our mode of living is our way of actualizing ourselves as animals.« (MW, 78) Demnach teilen wir zwar die Wahrnehmung mit Wesen, die nicht über die Fähigkeit zum aktiven und selbstkritischen Nachdenken verfügen, doch erlaubt uns erst das Vermögen der Spontaneität, die Umwelt in der Art und Weise, wie sie begriffen wird, und damit als objektive Realität wahrzunehmen – und nicht nur als Abfolge von Problemen und Gelegenheiten (vgl. ebd., 69 f., 116). Der Begriff moralischen Wissens wird von McDowell nun anhand des Begriffs der ethischen Tugend erläutert. Gleichzeitig verwirft er die weit verbreitete Auffassung, dass das Hauptthema der Ethik die Begründung von Handlungsprinzipien sei:

12 | Dort diskutiert Aristoteles gleich zu Anfang die Frage, ob die sittlichen Tugenden von Natur aus oder durch Gewöhnung entstehen. Dabei kommt er zu der Antwort, dass sie dem Menschen weder von Natur noch gegen die Natur zuteil werden. Vielmehr liege es in seiner Natur, sie durch Einübung zu erwerben (vgl. EN II 1, 1103a14 ff.; Kap. 4.2.1; vgl. zu McDowells Aristotelesrezeption auch Rapp 2014, 158 ff.).

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Das Problem moralischen Wissens »My aim is to sketch the outlines of a different view, to be found in the philoso­ phical tradition that flowers in Aristotle’s Ethics. According to this different view, although the point of engaging in ethical reflection still lies in the interest of the question ›How should one live?‹, that question is necessarily approached via the notion of a virtous person. A conception of right conduct is grasped, as it were, from the inside out.« (VR, 50)

Damit nimmt die Tugend eine Mittelstellung zwischen dem habitualisierten Zustand des menschlichen Charakters und der rationalen Deliberation oder sittlichen Einsicht ein (vgl. Honneth 2001, 381). Als sittliche Einsicht (»practical wisdom«) erlaubt sie uns die kritische Selbstprüfung unserer moralischen Überzeugungen, wenn auch nicht die Konstitution moralischer Prinzipien (vgl. MW, 81). Als habitualisierter Zustand muss sie erlernt werden (vgl. ebd., 84). Diese Gleichsetzung von moralischem Wissen und Tugend begründet McDowell dadurch, dass eine moralische Forderung in jeder relevanten Situation einen Grund zum Handeln geben muss. In einer bestimmten Situation zufälligerweise so zu handeln, wie ein moralischer Mensch gehandelt hätte (etwa indem man freundlich ist, um seinem Ruf nicht zu schaden), ist ebenso wenig hinreichend um moralisches Wissen zuzuschreiben, wie das auswendig gelernte Nachsprechen von Gründen (vgl. VR, 52). Er expliziert dies anhand von Wittgensteins Erläuterungen über das Regelfolgen:13 Nur weil jemand eine Zahlenreihe richtig aufsagt, bedeutet dies nicht notwendigerweise, dass er die dazugehörige mathematische Operation auch wirklich beherrscht. Denn die mechanische Anwendung von Regeln und Prinzipien sagt nichts über das Verstehen dieser Regeln und Prinzipien aus (vgl. ebd., 58 f.). Erst eine zuverlässige Sensitivität für moralische Forderungen begründet Wissen: »A kind person knows what it is like to be confronted with a requirement of kindness. The sensitivity is, we might say, a sort of perceptual capacity.« (Ebd., 51) Bei den einzelnen Tugenden handelt es sich im Sinne McDowells nicht um eine Menge voneinander unabhängiger Sensitivitätsformen, sondern um die Kennzeichnungen verschiedener Äußerungen der Sensitivität (vgl. ebd., 53). Diese Gewohnheiten des Denkens oder Äußerungen der Sensitivität würden es uns erlauben, die moralische Realität in den Blick zu nehmen: »The ethical is a domain of rational requirements, which are there in any case, whether or not we are responsive to them. We are alerted to these demands by acquiring appropriate conceptual capacities. When a decent upbringing initiates us into the relevant way of thinking, our eyes are opened to the very existence of this tract of the space of reasons.« (MW, 82)

13 | Auf das Problem des Regelfolgens werde ich in Kap. 3.2 noch explizit zu sprechen kommen.

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Durch diesen Erwerb der zweiten Natur oder des λόγος hat man, laut McDowell, sowohl gelernt bestimmte Handlungsweisen erfreulich zu finden und einen bestimmten Bereich von Gründen anzuerkennen als auch das begriffliche Equipment erworben, um diese Gründe und Handlungen zu kennzeichnen: »In acquiring one’s second nature – that is, in acquiring logos – one learned to take a distinctive pleasure in acting in certain ways, and one acquired conceptual equipment suited to characterize a distinctive worthwhileness one learned to see in such actions, that is, a distinctive range of reasons one learned to see for acting in those ways.« (TSN, 188)

Der Tugendhafte könne somit die wirklichen Handlungsgründe erkennen (vgl. TSN, 188 f.) bzw. die anderen Gründe »zum Schweigen« bringen (vgl. RE, 17). Den Erwerb dieser zweiten Natur bezeichnet McDowell wiederum mit dem deutschen Begriff der Bildung: »Moulding ethical character, which includes imposing a specific shape on the practical intellect, is a particular case of a general phenomenon: initiation into conceptual capacities, which include responsiveness to other rational demands besides those of ethics. Such initiation is a normal part of what it is for a human being to come to maturity [...]. If we generalize the way Aristotle conceives the moulding of ethical character, we arrive at the notion of having one’s eyes opened to reasons at large by acquiring a second nature. I cannot think of a good short English expression for this, but it is what figures in German philosophy as Bildung.« (MW, 84)

Dem Erlernen der Sprache räumt McDowell dabei einen Ehrenplatz (»pride of place«) ein, denn dadurch würde der Mensch in etwas eingeführt, das für den Raum der Gründe konstitutiv sei, »noch ehe er die Bühne betritt« (GW, 152; vgl. MW, 125). Gleichzeitig betont er, dass sich Aristoteles etwas »unsensibel« für das Problem moralischer Konkurrenzauffassungen zeigt (vgl. ebd., 81; TSN, 188 f.), weshalb es problematisch sei, nahtlos an dessen Überlegungen anzuschließen. Denn für Aristoteles ist Ethik noch Lehre vom Ethos »als der in Sitte, Brauch und Herkommen entwickelten Verfassung des individuellen Lebens in Haus und Polis« (Ritter 2003/1966, 296). Er fragt dementsprechend nicht nach genuin moralischem Wissen, sondern nach der Verfasstheit sittlichen Handelns nach Maßstäben der φρόνησις, als »implizites und durch Erfahrung erworbenes Wissen, wie man das Gute [...] in eine Handlung umsetzt« (Luckner 2008, 13). Aus diesem Grund versucht McDowell anschließend, den besonderen Status moralischer Tatsachen mit dem Hinweis auf den Kategorischen Imperativ zu klären. Denn eine aristotelische Theorie praktischer Gründe sei insofern mit der Auffassung Kants vereinbar, als dass »die [richtig erkannte; FHvW] Moral

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im Widerstreit der Perspektiven einen Geltungsvorrang besitzt, weil sie kategorische Pflichten nach sich zieht« (Honneth 2001, 391; vgl. MR). Wie bereits erwähnt, warnt McDowell jedoch davor, zwischen den falschen Alternativen einer psychologistischen und einer von Affekten freien Quelle der Motivation wählen zu wollen (vgl. MER, 111). Vielmehr würden wir im Zuge der ethischen Reflexion bzw. der moralischen Wahrnehmung ein Vertrauen in Werte gewinnen, sodass es sich bei den richtig erkannten Handlungsgründen notwendigerweise um interne Gründe handelt (vgl. ebd., 109). Allerdings können dieselben Gründe einen externen Status haben, wenn sie noch nicht erkannt sind und die bisherigen situativen und kontingenten Beweggründe transzendieren, wie Axel Honneth erläutert: »Weil [das] sinnliche Vermögen aber aufgrund des Charakters der ›zweiten‹ Natur mit den entsprechenden Motivationen intern verknüpft ist, bedarf es nicht noch der Humeschen Annahme des Vorliegens eines subjektiven Wunsches, um aus dem wahrgenommenen Sachverhalt einen handlungswirksamen ›Grund‹ zu machen; vielmehr reicht die Wahrnehmung einer moralischen Tatsache aus, um uns rational zu der angemessenen Handlung zu bewegen.« (Honneth 2001, 390)

Auf diese Weise unterläuft McDowell den üblichen Dualismus zwischen Internalismus und Externalismus, der sich schon für naturalistische Theorien als problematisch herausgestellt hatte. Die Möglichkeit moralischen Wissens und objektiver Werte erläutert er anschließend anhand der berühmten Analogie von Farben und Werten. Dabei wird oft übersehen, dass die Analogie auf die von John Mackie aufgegriffene Unterscheidung John Lockes zwischen primären und sekundären Qualitäten anspielt, aber nur vor dem Hintergrund eines (im Gegensatz zu Mackie) modifizierten Objektivitätsverständnisses und eines (im Gegensatz zu Locke) modifizierten Verständnisses von sekundären Qualitäten funktioniert. Denn Mackies Kritik an einer Phänomenologie der Werterfahrung basiert u.a. auf der impliziten These, dass alles, was zur Welt gehört, objektiv ist: »The notion of objectivity that I think Mackie has in mind is one that would be explained by contrast with a suitable notion of subjectivity. A subjective property, in the relevant sense, is one such that no adequate conception of what it is for a thing to possess it is available except in terms of how the thing would, in suitable circumstances, affect a subject – a sentient being. (Think of affective properties like amusingness, or sensory secondary qualities like colours, according to a familiar conception in which what it is to be, say, red is not adequately conceived independently ot the idea of looking red; this would preclude identifying the property of being red with a categorical ground for something’s disposition to look red in suitable circumstances.) What is objective, in the relevant sense, is what is not subjective. Thus Mackie’s implied doctrine that whatever is part of the fabric of the world is objective, if

2. Wissen, Wahrheit und Rechtfertigung it is interpreted in this way, amounts to the doctrine that the world is fully describable in terms of properties that can be understood without essential reference to their effects on sentient beings. (Categorical grounds for affective or secondary properties can be part of the fabric of the world, on this view, even though the subjective properties they sustain cannot.)« (AV, 113 f.)

Wenn es nun gelingt, so McDowell, Mackies Begriff der Objektivität aufzugeben, können Werte zur Welt gehören. Er selbst schlägt deshalb vor, (moralisches) Wissen in Abhängigkeit einer generellen Wertwahrnehmung, aber unabhängig von einzelnen Vollzügen der Wertwahrnehmung zu konzipieren (vgl. AV, 129; Fn. 22). Um dies zu tun, bedarf es jedoch eines besseren Verständnisses von sekundären Qualitäten. Denn nach der klassischen Auffassung John Lockes sind primäre Qualitäten die realen Eigenschaften, die einer Entität unabhängig der wahrnehmenden Subjekte zukommen. Dazu gehören etwa Gestalt, Größe, Gewicht etc. Sekundäre Qualitäten sind dagegen Dispositionen, die abhängig von den Beobachter*innen Sinneseindrücke erzeugen, so etwa Farben, Gerüche, Geräusche o.ä. (vgl. ders. 2008/1689, 75 ff.). So können Dinge in der Welt, in Abhängigkeit von einem bestimmten Sinnesapparat, rot erscheinen, wenngleich sie nicht rot sind. McDowell macht dagegen geltend, dass auch sekundäre Qualitäten zum Inventar der Welt gehören, da sie, genau wie primäre Qualitäten, der Wahrnehmung qua zweiter Natur offen stehen: »An object’s being such as to look red is independent of its actually looking red to anyone on any particular occasion; so, notwithstanding the conceptual connection between being red and being experienced as red, an experience of something as red can count as a case of being presented with a property that is there anyway – there independently of the experience itself. And there is no evident ground for accusing the appearance of being misleading. What would one expect it to be like to experience the thing in question (in the right circumstances) as looking, precisely, red?« (VSQ, 134)

Erst vor diesem explanatorischen Hintergrund kann die Analogie den moralischen Realist*innen helfen. Ansonsten würde sie eher den Ethischen Objektivismus stützen (vgl. Schaber 1997, 146).14 So jedoch kann McDowell gegenüber Mackie geltend machen, wieso etwas da ist, was dennoch in einer internen Beziehung zum Empfindungsvermögen bzw. zur zweiten Natur stehen kann: »Values are not brutely there – not there independently of our sensibility – any more than colours are: thought, as with colours, this does not prevent us from

14 | Im Kontext dieser klassischen Argumentationslinie kritisiert Peter Schaber diese Aufwertung sekundärer Qualitäten. Wäre, so die Argumentation,

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Das Problem moralischen Wissens supposing that they are there independently of any particular apparent experience of them.« (VSQ, 146)

Werte (und somit Handlungsgründe) existieren demnach ebenso wenig wie Farben unabhängig von unserem Wahrnehmungsvermögen. Sehr wohl aber existieren sie unabhängig von jedem einzelnen Akt der Wahrnehmung. Auf diese Weise gelingt es McDowell zunächst, Mackies Argument aus der Absonderlichkeit zu entkräften. Allerdings ist auch dieser schwache Realismus mit schwerwiegenden Problemen konfrontiert. Dabei lassen sich m.E. drei intern miteinander verknüpfte Hauptschwierigkeiten identifizieren: Die erste Hauptschwierigkeit besteht in McDowells Foothold-These bzw. im Verhältnis von erster und zweiter Natur. Denn um sowohl eine abwegige Epistemologie als auch einen unplausiblen Naturalismus zu umgehen, will er der menschlichen Vernunft ein »Standbein« im Reich der Naturgesetze zugestehen: »Second nature could not float free of potentialities that belong to a normal human organism. This gives human reason enough of a foothold in the realm of law to satisfy any proper respect for modern natural science.« (MW, 84) Wenn nun aber die erste Natur vollständig unter Naturgesetzen steht, müsste dies auch für die begrifflichen Fähigkeiten der zweiten Natur gelten, die sich aus den Potentialen der ersten Natur entwickeln lassen, sodass es sich nicht mehr um einen Bereich sui generis handeln könnte. Wird dagegen angenommen, dass die erste Natur nur teilweise unter Naturgesetzen steht, könnten die Potentiale zur Entwicklung der zweiten Natur in demjenigen Teil der ersten Natur verortet werden, der nicht unter Naturgesetzen steht. Dann allerdings würde die Lücke zwischen erster und zweiter Natur lediglich in den Bereich der ersten Natur verlegt werden, sodass McDowell nicht mehr sagen könnte, was der menschlichen Rationalität

der Realitätsgehalt von sekundären Qualitäten mit dem primärer Qualitäten vergleichbar, müssten auch verschiedene Erkenntnisperspektiven gleichberechtigt sein, sodass eine einheitliche Weltsicht nicht mehr möglich wäre. Die Aussagen »x ist rot« und »x ist nicht rot« wären, je nach Perspektive, beide wahr. Ebenso würde es aber hinsichtlich von Werten keine Möglichkeit geben, sich zu täuschen (vgl. ders. 1997, 150 ff.). Schaber thematisiert in diesem Zusammenhang allerdings weder McDowells Konzeption der zweiten Natur, noch seinen Objektivitätsbegriff. Zur Kritik an der Analogie von Farben und Werten vgl. ebenfalls Halbig 2007, 250 ff. Auf die Details der Analogie und ihrer Kritik kann hier nicht weiter eingegangen werden. Zur ausführlichen Diskussion sekundärer Qualitäten und Mackies Wahrnehmungstheorie in Anschluss an Locke vgl. VSQ. Es sei aber noch darauf hingewiesen, dass McDowell diese Analogie lediglich zu Explikationszwecken benutzt. Ihre Schwächen sind ihm dabei durchaus bewusst (vgl. ebd., 146 f.).

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ein Standbein in der Natur verleiht (vgl. Gubeljic/Link et al. 2000, 46; MW, 85). Konfrontiert mit dieser Kritik hat McDowell die Foothold-These bereits zurückgenommen (vgl. ders. 2000, 97 ff.). Die zweite Hauptschwierigkeit besteht in der Ambivalenz von Praxis und Repräsentation bzw. in der Ambivalenz von Spontaneität und Rezeptivität. Demnach wäre zu fragen, ob McDowells Konzeption moralischen Wissens eher in einem repräsentationalistischen oder in einem pragmatischen Sinn gedeutet werden muss. Nach dem Repräsentationsparadigma würde moralisches Wissen als (passive) Aufnahme von rationalen Forderungen verstanden, die, vermittelt durch die Sinne, im Geist abgebildet werden. Gemäß dem pragmatischen Modell müsste moralisches Wissen dagegen in einer (aktiven) Aktualisierung einer begrifflichen Fähigkeit bestehen. Um seine Konzeption moralischen Wissens plausibel zu machen, greift McDowell dabei, wie bereits erwähnt, den Begriff der Spontaneität aus der Philosophiegeschichte auf: »For a perceiver with capacities of spontaneity, the environment is more than a sucession of problems and opportunities; it is the bit of objective reality that is within her perceptual and practical reach. It is that for her because she can conceive it in ways that display it as that.« (MW, 116)

Der Begriff der Spontaneität bezeichnet üblicherweise (und im Gegensatz zum Begriff der Rezeptivität) ein selbständiges, begriffliches Vermögen. McDowell erläutert aber nicht hinreichend, in welchem Verhältnis diese Spontaneität zum Wahrnehmen oder Erkennen (das er hier mit dem eher passiv konnotierten Begriff »perceive« bezeichnet) oder zum Begreifen (das er hier mit dem eher aktivisch konnotierten Verb »conceive« beschreibt) steht. Aus diesem Grund wird auch nicht immer eindeutig ersichtlich, ob McDowell moralisches Wissen eher als propositionales Wissen oder als Aktualisierung einer begrifflichen Fähigkeit begreift.15 Die dritte Hauptschwierigkeit betrifft das Erlernen der Spontaneität das er in das Zentrum seiner Theorie rückt, ohne es jedoch weiter auszuführen. Denn eben weil das Verhältnis von Spontaneität und Rezeptivität (bzw. das Verhältnis von Repräsentation und Praxis) nicht abschließend geklärt ist, kann McDowell auch das Erlernen von denjenigen begrifflichen Kompetenzen nicht erklären, die für seine Theorie so zentral sind:

15 | Auch Axel Honneth sieht diese Ambivalenz von Praxis und Repräsentation als zwei Positionen, zwischen denen McDowell »die Schwebe« halten will (vgl. ders. 2001, 386 ff.; zu den beiden Lesarten vgl. auch Denejkine 2000). Allerdings bezieht Honneth den Praxisbegriff auf die Auseinandersetzung der Moralakteure mit Widerständen. Meines Erachtens ist das zwar nicht völlig

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Das Problem moralischen Wissens »The ethical is the domain of rational requirements, which are there in any case, whether or not we are responsive to them. We are alerted to these demands by acquiring appropriate conceptual capacities. When a decent upbringing initiates us into the relevant way of thinking, our eyes are opened to the very existence of this tract of the space of reasons.« (MW, 82)

Die Metaphorik des Sehens ist nicht zufällig gewählt, da sie auf eine begrifflich vermittelte Wahrnehmung von ethischen Sachverhalten abzielt (vgl. Honneth 2001, 385). Unklar bleibt dabei jedoch, wie diese begriffliche Wahrnehmungsfähigkeit gleichzeitig erlernt und wahrheitsgarantierend sein kann. Es ist erstaunlich, dass dieses zentrale Problem von McDowell fast nicht angesprochen wird. Wie bereits erwähnt, weist er in Ermangelung eines besseren englischen Begriffs auf den deutschsprachigen Begriff der Bildung hin – jedoch ohne diesen weiter auszuführen. Ansonsten bezeichnet er den Erwerb des λόγος oder der zweiten Natur mit den englischen Verben »to learn« (TSN, 188) und »to initiate« oder den Ausdrücken »shaping the intellect« und »ethical upbringing« (vgl. MW, 81, 85). Deshalb wird in der deutschsprachigen Übersetzung eher von »Erziehung« (GW, 109) und in Interpretationen von »Sozialisation« gesprochen (vgl. Honneth 2001, 385). McDowell erklärt jedoch nicht, warum er selbst Begriffe wie »education« oder »socialization« meidet und den etwas anders konnotierten Begriff der Bildung aus der deutschsprachigen Philosophie-Tradition aufgreift. Da er den Begriff des Lernens jedoch nicht weiter ausführt und Wertmaßstäbe

falsch, es handelt sich aber auch nicht um eine textnahe Rekonstruktion, da McDowell selbst nie von Widerständen spricht. Wie ich meine, besteht das eigentliche Interpretationsproblem eher darin, dass sich McDowell nicht eindeutig zum Verhältnis von Spontaneität und Rezeptivität äußert. So sagt er einerseits, dass die Erfahrung passiv ist und dass bei der Erfahrung begriffliche Fähigkeiten in der Rezeptivität in Anspruch genommen werden (und nicht auf einen Input der Rezeptivität angewandt werden; vgl. MW, 10 f.). Dann heißt es aber, dass begriffliche Fähigkeiten in der Erfahrung eine »passive Rolle spielen« (vgl. ebd., 12) bzw. »passiv am Werk« sind (vgl. ebd., 29) und dass diese passive Erfahrung »tätige Rezeptivität« ist (vgl. ebd., 28). Zu klären wäre dann aber, wie genau Rezeptivität tätig sein kann bzw. wie sich begriffliche Fähigkeiten passiv aktualisieren können. Das Problem scheint näher darin zu bestehen, dass McDowell einerseits von einer Kooperation von Sinnlichkeit und Verstand ausgeht (sodass es sich um zwei verschiedene Vermögen handelt), dann aber auch eine unauflösliche Verbindung zwischen ihnen postuliert (in dem Sinne, dass diese Vermögen im Erkenntnisprozess nicht erst aufeinander bezogen werden müssen; vgl. ebd., 40 f., 9 f.). Ich werde auf dieses Problem später zurückkommen.

2. Wissen, Wahrheit und Rechtfertigung

offensichtlich nur im Kontext der jeweils eigenen Kultur erlernt werden können, wird seine Argumentation zirkulär: Denn wenn die unterschiedlich erlernte moralische Wahrnehmung erst Anlass der Wahrheitssuche ist, kann sie schlechterdings gleichzeitig als Lösung fungieren (vgl. ebd., 397). McDowells Konzept der Wahrnehmung fehlt es demnach schlichtweg an einer robusten Wertphänomenologie, denn: »Wir wissen, wie es ist, etwas als schreiend gelb im Gegensatz zu einem matten Rosa zu erleben, wie aber fühlt sich eine Reichensteuer an, die wir dann geneigt sind, als gerecht oder ungerecht zu bewerten?« (Halbig 2008, 24) McDowell versucht also, einige der typischen Schwierigkeiten des Naturalismus zu unterlaufen. Das zeigt sich etwa an der Unterscheidung eines Raumes der Gründe und eines Raumes der Natur, die nicht mit der Unterscheidung zwischen natürlich und nicht-natürlich zusammenfällt oder an der Unterscheidung eines internalistischen und externalistischen Status von Wertüberzeugungen. Allerdings ergeben sich auch in seinem Ansatz ähnliche Schwierigkeiten wie im Naturalismus: Ebenso wie dort scheint der Verweis auf bestimmte Motivations- und Erkenntnisquellen zur Lösung moralischer Dissensen zunächst in einen argumentativen Zirkel zu führen. Denn da diese Motivations- und Erkenntnisquellen (ob bei Richard Boyd die Sympathie oder bei John McDowell die begrifflich vermittelte Wahrnehmung) im Kontext verschiedener Kulturen und Wertüberzeugungen gelernt werden müssen, sind sie nicht wertfrei und geben erst den Anlass für moralische Konflikte. Während sich also für Naturalisten wie David Brink und Richard Boyd schon die Unterscheidung und das jeweilige Verhältnis von natürlichen und nicht-natürlichen Tatsachen und Eigenschaften als problematisch erweist, gerät McDowell mit der Unterscheidung von erster und zweiter Natur in ähnliche Schwierigkeiten. Im Kontext beider Ansätze ist es daher schwierig, einen adäquaten Wissensbegriff zu eruieren. Fassen wir also zusammen: Als starke Ethische Realisten behaupten die Naturalisten Richard Boyd und David Brink, dass es moralische Tatsachen und Eigenschaften vollständig unabhängig von unserem Vokabular und unserer Rechtfertigungspraxis gibt. Damit konzeptualisieren sie den Begriff moralischen Wissens als »wahre und gerechtfertigte Wertüberzeugung«. Allerdings können sie nicht erklären, in welchem Verhältnis natürliche Tatsachen mit dem jeweiligen evaluativen Vokabular und der normativen Rechtfertigungspraxis stehen. Demgegenüber behauptet der schwache Realist und Nonnaturalist (bzw. aristotelische Naturalist) John McDowell, dass moralische Tatsachen und Eigenschaften teilweise unabhängig von unserem Vokabular und unserer Rechtfertigungspraxis bestehen. Allerdings ist hier nicht ganz klar, wie dieses Verhältnis von Sprache und Rechtfertigungspraxis zu den entsprechenden moralischen Tatsachen und Eigenschaften zu deuten ist. Man kann McDowell so verstehen, dass der argumentative Schwerpunkt auf der perzeptiven Wahrnehmung beruht. Dann würde er ebenfalls einen propositionalen Wissensbegriff vertreten. Man kann ihn aber auch so lesen, dass der argumentative Schwerpunkt auf der Praxis des

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Wahrnehmens oder Begreifens beruht. Dann würde er einen propositionalen Wissensbegriff eher ablehnen. Ich werde in Kap. 4.1 auf diese beiden Lesarten zurückkommen. Fest steht zunächst, dass einige der elaboriertesten Theorien des Ethischen Realismus vor scheinbar grundsätzlichen Schwierigkeiten stehen, die das Verhältnis von Wahrheit und Rechtfertigung betreffen. Aus diesem Grund werden nun prominente Positionen vorgestellt, die dieses Problem umgehen wollen, indem sie den Begriff der Wahrheit unter bestimmten Bedingungen auf den Begriff der Rechtfertigung zurückführen. 2.1.2 W  ahrheit als Rechtfertigung: Der Ethische Objektivismus und das Problem der Autonomie Die Grundthese des Ethischen Objektivismus besteht in der Annahme, dass es objektiv begründbare moralische Überzeugungen gibt, weil sie durch die Strukturen praktischer Rationalität konstituiert werden. Indem Objektivist*innen unter näher zu spezifizierenden Bedingungen das Prädikat »ist (moralisch) wahr« auf das Prädikat »ist (moralisch) gerechtfertigt« zurückführen, gehen sie keinerlei ontologische Verpflichtungen ein, die als merkwürdig empfunden werden könnten. Die entsprechenden Konzeptionen praktischer Rationalität sollen gleichzeitig das Spannungsfeld zwischen individuellen Wertüberzeugungen (die in soziokulturellen Kontexten bestehen und vom Individuum ohnehin gewollt werden) und objektiv gültigen Wertüberzeugungen (die nicht notwendigerweise von jeder Moralakteur*in eingesehen werden) überwinden. Wie bereits oben erwähnt, wird hier mit der Theorie Kants zunächst eine Position skizziert, die durch ihre transzendentale Argumentationsstrategie die Bedingungen einer objektiven Rechtfertigungspraxis zu eruieren sucht und sich eindeutig dem Ethischen Objektivismus zuordnen lässt, indem sie sich in ihrem metaethischen Theorieteil unmissverständlich zu einer kognitivistischen und nicht-relativistischen Moralphilosophie bekennt.16 Dementsprechend fragt Kant nach der Letztbegründung von evaluativen und normativen Urteilen bzw. nach Normen, die durch keine andere Überlegung relativierbar sind. In diesem Zusammenhang beansprucht er zu zeigen, dass nur diejenigen Überzeugungen, die dem »Faktum der Vernunft« und damit ihrer eigenen Möglichkeitsbedingung nicht widersprechen, objektiv gültig und damit moralisch sein können. Dem Problem der Objektivität der Moral stellt er sich dabei innerhalb einer »reinen Moralphilosophie« (Metaphysik der Sitten), deren »Grundlegung« die Aufsuchung und Festsetzung des obersten Prinzips der Moralität enthält. In diesem Sinne

16 | So wird z.B. auch der Utilitarismus gemeinhin zum Objektivismus gezählt. Denn indem sich evaluative und normative Aussagen in Aussagen über

2. Wissen, Wahrheit und Rechtfertigung

können moralische Normen weder direkt noch indirekt durch empirische Sätze begründet werden. Kants Konzept der Universalität praktischer Geltungen zielt dabei auf ein Moralverständnis, in dem die Rechtfertigung moralischer Urteile nicht auf partikuläre oder relative Werte beschränkt bleibt, d.h. ihre Geltung wird nicht aus Wertungen einzelner Personen, Kulturen oder Traditionen abgeleitet. Normen und Wertüberzeugungen sind nur dann moralisch gerechtfertigt, wenn sie unbedingte Geltung beanspruchen: »Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille. Verstand, Witz, Urteilskraft und wie die Talente des Geistes sonst heißen mögen, oder Mut, Entschlossenheit, Beharrlichkeit im Vorsatze als Eigenschaften des Temperaments sind ohne Zweifel in mancher Absicht gut und wünschenswert; aber sie können auch äußerst böse und schädlich werden, wenn der Wille, der von diesen Naturgaben Gebrauch machen soll und dessen eigentümliche Beschaffenheit darum Charakter heißt, nicht gut ist. Mit den Glücksgaben ist es eben so bewandt. Macht, Reichtum, Ehre, selbst Gesundheit und das ganze Wohlbefinden und Zufriedenheit mit seinem Zustande unter dem Namen der Glückseligkeit machen Mut und hiedurch öfters auch Übermut, wo nicht ein guter Wille da ist, der den Einfluß derselben aufs Gemüt und hiermit auch das ganze Prinzip zu handeln berichtige und allgemein-zweckmäßig mache [...].« (GMS, 18)

Die Pointe der Argumentation zu Anfang der Grundlegung der Metaphysik der Sitten ist, dass erst der Wille Werte und Wertüberzeugungen konstituiert. Das

subjektive Präferenzen und Interessen übersetzen lassen, so die Annahme, können sie gut begründet und damit wahr sein (vgl. Kutschera 1982, 107). Es ist allerdings nur möglich den Utilitarismus als Ethischen Objektivismus zu interpretieren, wenn das Verfahren der Generalisierung als konstitutiv für die richtige Antwort auf moralische Fragen verstanden wird. Wird hingegen das Entscheidungsverfahren als Mittel verstanden, um die moralische Realität in den Blick zu nehmen, handelt es sich um eine realistische Position (vgl. Halbig 2008, 19). Außerdem ist es möglich, den Utilitarismus mit dem Relativismus zu kombinieren, etwa wenn man annimmt, dass durch das Verfahren der Generalisierung der wahrscheinlichen und intendierten Handlungsfolgen die Werte einer bestimmten Kultur erkannt bzw. eruiert werden. Auch dann würde es sich nicht mehr um einen Ethischen Objektivismus handeln. In Michael Quantes Terminologie wird der Utilitarismus dagegen zum Subjektivismus gezählt, um den Begriff Objektivismus für letztbegründende Ethiken zu reservieren (vgl. ders. 2003, 54 ff., 74 ff.). Ich halte die hier getroffene Differenzierung durch die eindeutige Abgrenzung zum Ethischen Realismus jedoch für praktikabler.

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gilt sowohl für das unbedingt (moralisch) Gute wie auch für alle weiteren bedingten Güter (Talente und Glücksgaben). Dementsprechend fragt Kant nach der Möglichkeitsbedingung intersubjektiver Rechtfertigungen von Normen und Wertüberzeugungen. Diese entdeckt er im Kategorischen Imperativ als der Bedingung der Möglichkeit der Autonomie: Das Sittengesetz eruiert dabei, welche Handlungsregeln (unter denen das jeweils konkrete Handeln modelliert wird) unabhängig von den konkreten Lebensumständen einzelner Personen, unbedingt und autonom, anerkannt werden müssen (auch wenn diese Regeln aus bestimmten Lebenssituationen heraus faktisch nicht immer anerkannt werden). Da der Kategorische Imperativ nicht nach der Bewertung von Handlungen und Situationen, sondern von Handlungs- und Situationstypen fragt, geschieht das Verfahren der Verallgemeinerung hier im Modus der Universalisierung, im Gegensatz zur Generalisierung konsequentialistischer bzw. teleologischer Moraltheorien.17 Kant kritisiert an ihnen, dass die Bewertung von konkreten Handlungen und Handlungsfolgen heteronom, durch Lebensumstände und soziokulturelle Einflüsse bedingt, und damit immer relativ bleiben muss. Sein eigener Lösungsvorschlag besteht darin, einen begrifflichen Dualismus zwischen dem subjektiven Sinn des Guten und dem objektiven Sinn des Guten einzuführen: »Im Reich der Zwecke hat alles entweder einen Preis oder eine Würde.« (GMS, 68) Unter »Würde« versteht Kant dabei einen unbedingten und objektiven Wert als Zweck-ansich. »Preis« meint dagegen einen bedingten und relativen Wert als Mittel-zumZweck – entweder hinsichtlich der Befriedigung menschlicher Neigungen und

17 | Der Kategorische Imperativ prüft dementsprechend, ob sich subjektive Handlungsregeln (d.h. Maximen oder bedingte Nötigungen, wie: »Immer wenn ich in der Situation S bin, will ich die Handlung H tun«) widerspruchsfrei als Gesetze (unbedingte Nötigungen) denken und wollen lassen. Damit wird eben auch geprüft, wie sich gewisse Maximen zu unserem Vernunftinteresse verhalten, denn ein vernünftiges Miteinander ist im Sinne Kants das, was wir als vernünftige Sinneswesen eigentlich wollen. Hier gehen viele Interpretationen fehl, da sie Kants Argumentation und v.a. seiner Begrifflichkeit nicht genau genug folgen: Den Kategorischen Imperativ ernst nehmen bedeutet, die vermeintlichen Widersprüche bei der Universalisierung zu rekonstruieren, etwa den Widerspruch der Maxime mit dem »reinen Willen« zum Gesetz im Falle unvollkommener (Unterlassungs-)Pflichten bzw. den Widerspruch der Maxime mit dem Denken des Gesetzes bei vollkommenen (Unterlassungs-) Pflichten. Einigen Interpret*innen scheint dabei nicht immer klar zu sein, ob Kant Maximen gebietet, verbietet, erlaubt oder freistellt. Das Missverständnis liegt näher darin, dass Gebot und Verbot in konträrem Gegensatz zueinander stehen, viele Interpret*innen aber intuitiv nach einem kontradiktorischen Gegensatz suchen und somit in einem Verbotskriterium zugleich eines für

2. Wissen, Wahrheit und Rechtfertigung

Bedürfnisse (als Marktpreis), oder hinsichtlich der Befriedigung des (kulturell bedingten) Wohlgefallen und Gemüts (als Affektionspreis). Dementsprechend gibt es im Sinne Kants keine objektiven Werte, außer (einiger) Maximen des Willens und (aller) Personen: »[S]ollte etwas schlechthin (und in aller Absicht ohne weitere Bedingungen) gut oder böse sein oder dafür gehalten werden, so würde es nur die Handlungsart, die Maxime des Willens und mithin die handelnde Person selbst als guter oder böser Mensch, nicht aber eine Sache sein, die so genannt werden könnte.« (KpV, 177)

Da für Kant nichts im unbedingten und a fortiori moralischen Sinne gut ist, was nicht aus dem Sittengesetz abgeleitet wird, behauptet er die epistemische Priorität eines apriorisch-formalen Prinzips vor den Werterfahrungen der Lebenswelt. In der Forschung wird deshalb auch vom »Primat des Richtigen vor dem Guten« gesprochen (vgl. Trampota 2003, 113 ff.). Einige der zentralen Einwände dagegen hat Hegel vorgebracht. Diese betreffen a.) das abstrakte Sollen bzw. die Frage, warum moralische Einsicht handlungsleitend sein sollte (vgl. TW 2, 444); b.) den abstrakten Universalismus reiner Pflichten bzw. die Vergessenheit empirischer Umstände (vgl. TW 3, 448); und c.) den Formalismus, dass der Kategorische Imperativ ein analytischer Satz sei (vgl. TW 2, 460).18 Ich werde auf diese Kritikpunkte weiter unten zurückkommen. Kant würde ihnen aber zunächst mit dem Hinweis auf den Akt der Selbstanerkennung der Autonomie widersprechen: Der Kategorische Imperativ drückt nicht einfach aus, wann Handeln im emphatischen Sinne Handeln ist (»Handle so, dass du wirklich handelst und nicht fremd-

Erlaubnisse sehen. So spricht etwa Dieter Birnbacher von einer »Erlaubnis zu Töten«, die widerspruchsfrei gewollt werden kann (vgl. ders. 2007, 152). Diese Möglichkeit wird aufgrund einiger Formulierungen des Kategorischen Imperativs zumindest nicht ausgeschlossen (»[H]andle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetze werden sollte« (GMS, 51); »Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne« (KpV, 140); »[H]andle nach einer Maxime, welche als ein allgemeines Gesetz gelten kann« [MdS, 331]). Die allgemeine Formel in der Grundlegung der Metaphysik der Sitten – »[H]andle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde« (GMS, 51) – impliziert jedoch durch das »nur« eine Negation: »Handle nicht nach der Maxime, durch die du nicht zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde« (Wildt 1982, 61), sodass Kants Ethik Ausdrücke wie gewünscht, gedurft oder erlaubt für moralisch irrelevant hält (vgl. MdS, 329). 18 | Vgl. dazu genauer Habermas 2009/1986.

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bestimmt agierst«), sondern verweist darauf, dass der imperativistische Charakter im Akt der Selbstanerkennung der Autonomie besteht. Und eben dies macht ihn zu einem synthetischen Satz (vgl. Hubig 2007a, 89). Mit der bereits erwähnten Unterscheidung zwischen Autonomie und Heteronomie gelangen wir damit zum Kristallisationspunkt der kantischen Argumentationslinie: Denn Kant versteht unter Autonomie die »Eigenschaft des Willens, sich selbst ein Gesetz zu sein« (GMS, 81).19 Auf diese Weise beansprucht er, eine positive Bestimmung von Freiheit zu geben: Die negative Bestimmung der Freiheit als »Unabhängigkeit [...] durch sinnliche Antriebe« (MdS, 318) wird dardurch, dass der Wille sich selbst das Gesetz ist, positiv realisiert (vgl. Menke 2013, 302). Die Attraktivität des kantischen Autonomiegedankens liegt dabei in seinem Potential, Freiheit und Gesetz nicht als Gegensätze, sondern als sich bedingende Konzepte zu betrachten: Autonomie ist Freiheit in Gesetzen. Damit wird die Frage nach individueller Freiheit von Personen und allgemeiner Verbindlichkeit von Normen verknüpft und die philosophische Problemdiskussion inhaltlich neu strukturiert (vgl. Khurana 2011, 7). Indem also Autonomie notwendigerweise jedem Vernunftsubjekt zukommt, werden einige Normen und Wertüberzeugungen der sozialen und kulturellen Relativität enthoben (vgl. Wildt 1982, 179). Das bedeutet, dass sie qua Autonomie allgemein verbindlich sind, auch wenn sie kontingenterweise nicht von jedem Subjekt anerkannt werden. Kant drückt jedoch das Verhältnis von Wille und Gesetz mitunter so aus, dass sich der Wille ein Gesetz gibt: »Der Wille wird also nicht lediglich dem Gesetze unterworfen, sondern so unterworfen, daß er auch als selbstgesetzgebend und eben um deswillen allererst dem Gesetze (davon er selbst sich als Urheber betrachten kann) unterworfen angesehen werden muß.« (GMS, 64)

Diese Formulierung hat viele Interpret*innen dazu veranlasst, auf den paradoxalen Charakter des legislatorischen Autonomiebegriffs hinzuweisen. Denn wenn Autonomie als Selbstgesetzgebung verstanden wird, müsste sich der Wille das Gesetz entweder willkürlich oder aus vorweg gegebenen und damit aus heteronomen Gründen gegeben haben, sodass die Bedingung der Möglichkeit der Autonomie zur Bedingung ihrer Unmöglichkeit würde (vgl. Khurana 2011, 11 f.). In der Forschung wird deswegen auch in Anschluss an die Untersuchungen von Robert Pippin und Terry Pinkard von einem »Kantischen Paradox« oder vom »Paradox der Autonomie« gesprochen.20 Trotz dieser missverständlichen Formu-

19 | Damit wiederholt er Rousseaus Autonomieformel aus dem Gesellschaftsvertrag, nach der der Antrieb des reinen Begehrens Sklaverei, der Gehorsam gegen das selbst gegebene Gesetz jedoch Freiheit ist (vgl. ders. 2011/1762, 23). 20 | So heißt es bei Pinkard: »If the will imposes such a ›law‹ on itself, then

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lierung ist es wichtig zu bemerken, dass Kant eine positive Freiheit, die nicht unwandelbaren Gesetzen untersteht, für ein Unding hält (vgl. GMS, 81; Rödl 2011a, 157 f.). Das wiederum zeigt, dass seine Formulierung der Selbstgesetzgebung zwar problematisch ist, er jedoch hier etwas anderes meinen muss. Aus diesem Grund legen auch moderne Kant-Interpret*innen eine nicht-paradoxale Lesart nahe. So etwa Christine Korsgaard: »But because the will is free, no law or principle can be imposed on it from outside. Kant concludes that the will must be autonomous: that is, it must have its own law or principle. And here again we arrive at the problem. For where is this law to come from? If it is imposed on the will from outside then the will is not free. So the will must make the law for itself. But until the will has a law or principle, there is nothing from which it can derive a reason. So how can it have any reason for making one law rather than another? Well, here is Kant’s answer. The categorical imperative, as represented by the Formula of Universal Law, tells us to act only on a maxim which we could will to be a law. And this, according to Kant, is the law of a free will. [...] [T]he will must have a law, but because the will is free, it must be its own law. And nothing determines what the law must be. All that it has to be is a law.« (Korsgaard 1996, 98) 21

Autonom zu sein, würde dementsprechend nicht bedeuten, dass sich das Subjekt ein Gesetz gibt, sondern dass es dem Gesetz folgt, das es ausmacht. Eine solche Lesart wird durch eine andere Textstelle in der Grundlegung der Metaphysik der Sitten gestützt: »Man sah den Menschen durch seine Pflicht an Gesetze gebunden, man ließ es

it must do so for a reason (or else be lawless); a lawless will, however, cannot be regarded as a free will; hence, the will must impose this law on itself for a reason that cannot itself be self-imposed (since it is required to impose any other reasons). The ›paradox‹ is that we seem to be both required not to have an antecedent reason for the legislation of any basic maxim and to have such a reason.« (Ders. 2002, 226) Und Pippin schreibt: »In Kant’s case the paradox is even deeper. The idea of a subject, prior to there being a binding law, authoring one and then subjecting itself to it is extremly hard to imagine. It always seems that such a subject could not be imagined doing so unless he were already subject to some sort of law, a law that decreed he ought so to subject himself, making the paradox of this notion of ›self-subjection‹ all the clearer.« (Ders. 2000, 192) 21 | Ebenso wie Kants Formulierung des Autonomiegedankens ist jedoch auch Korsgaards Interpretation desselben nicht immer eindeutig. So legt sie

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Das Problem moralischen Wissens sich aber nicht einfallen, daß er nur seiner eigenen und dennoch allgemeinen Gesetzgebung unterworfen sei, und daß er nur verbunden sei, seinem eigenen, dem Naturzwecke nach aber allgemein gesetzgebenden, Willen gemäß zu handeln.« (GMS, 65)

Kant würde Autonomie damit nicht mehr als Selbstgesetzgebung im eigentlichen Sinn, sondern als Selbstverwirklichung verstehen. Seine Rede von der Selbstgesetzgebung müsste dann so rekonstruiert werden, dass das Selbst seinen Antrieben die Form des Gesetzes gibt. Damit würde mehr der antike Sinn von Autonomie ausgedrückt werden: αύτός heißt »eigen«, im Sinne von »zu eigen haben«. Diese terminologische Verschiebung von der »Selbstgesetzgebung« zur »eigenen Gesetzgebung« kann also als Bruch mit dem paradoxalen Verständnis von Autonomie gelesen werden (vgl. Menke 2011, 152 ff.). Denn dass das Gesetz das eigene ist, bezeichnet in diesem Sinne nicht seinen Ursprung, sondern seine logische Form: Das Gesetz, durch das man frei ist, ist ein Gesetz besonderer Art (vgl. Rödl 2011a, 158 f.). Doch auch wenn das Problem der Autonomie auf diese Weise noch elegant gelöst werden kann, ergeben sich zwei weitere Probleme aus der kantischen Argumentation. Denn erstens macht er geltend, dass nur durch die Achtung für das Gesetz, rechtfertigende Gründe auch Motive zum Handeln geben (vgl. Höffe 2012, 157 f.; GMS, 27). Dass es ein »durch Motive abgestütztes und nicht erzwungenes ›Ich will‹« (Tugendhat 1993, 96) gibt, ist für Kant nicht zu bezweifeln. Die Möglichkeit, diese Motivation zu erklären, ohne dabei auf empirische Interessen zurückzugreifen, muss er jedoch im Rahmen seiner Theorie zurückweisen: »Wie nun aber reine Vernunft, ohne andere Triebfedern, die irgendwoher sonst genommen sein mögen, für sich selbst praktisch sein, d.i. wie das bloße Prinzip der Allgemeingültigkeit aller ihrer Maximen als Gesetze (welches freilich die Form einer reinen praktischen Vernunft sein würde), ohne alle Materie (Gegenstand) des Willens, woran man zum voraus irgendein Interesse nehmen dürfe, für sich selbst eine Triebfeder abgeben, und ein Interesse, welches rein moralisch heißen würde, bewirken, oder mit anderen Worten: wie reine Vernunft praktisch sein könne, das zu erklären, dazu ist alle menschliche Vernunft gänzlich unvermögend, und alle Mühe und Arbeit, hiervon Erklärung zu suchen, ist verloren.« (GMS, 99)

in derselben Textstelle wiederum die klassisch-legislatorische Lesart nahe: »The categorical imperative merely tells us to choose a law [Hervorhebung durch mich; FHvW]. Its only constraint on our choice is that it has the form of a law. And nothing determines what the law must be. All it has to be is a law. Therefore the categorical imperative is the law of a free will.« (Korsgaard 1996, 98) Zu dieser Kritik vgl. Endres 2003, 188 f.

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In Anschluss an dieses Rätsel der Motivation, das als blinder Fleck in der kantischen Theoriebildung gesehen werden kann, ist zweitens fraglich, ob auch a priori gesagt werden kann, worin autonome (und damit objektiv gerechtfertigte) Handlungen und Überzeugungen bestehen. Wie bereits oben angedeutet, hat Hegel eben dies bezweifelt. Zwar hebt er den kantischen Autonomiegedanken hervor, behauptet aber gleichzeitig, dass der Kategorische Imperativ »leer« sei, da sich Widersprüche nur vor dem Hintergrund einer bereits bestehenden Wertebasis rekonstruieren lassen. Um dies zu zeigen, nimmt er Kants Beispiel des Betrugs bzw. des Ableugnens fremden Eigentums auf: »Daß kein Eigentum stattfindet, enthält für sich ebensowenig einen Widerspruch, als daß dieses oder jenes einzelne Volk, Familie usf. nicht existiere oder daß überhaupt keine Menschen leben.« (TW 7, § 135) Das Sittengesetz sei dementsprechend nichts als die »analytische Einheit« bzw. eine Tautologie, wie etwa »Eigentum, weil Eigentum ist, muß Eigentum sein« (TW 2, 460 ff.). Kant behauptet aber in dem von Hegel aufgegriffenen Depositum-Beispiel nicht, dass die unbedingte Nötigung, fremdes Eigentum abzuleugnen, in sich widersprüchlich ist, sondern dass die Universalisierung dieser Maxime die Bedingungen ihrer eigenen Formulierungen untergraben würde, sodass sie nicht gedacht werden kann (vgl. KpV, 136 f.).22 Hegel verkennt die Pointe, dass es das Gesetz aufgrund eines begrifflichen Widerspruchs nicht geben kann: Der Rechtsbegriff des Depositums impliziert die Verpflichtung zur Rückgabe, seine Verleugnung dagegen würde bedeuten, eine fremde Sache zu verwahren und zugleich als fremd zu leugnen. Diese Widersprüchlichkeit mag in einzelnen Fällen praktiziert werden. Das Gesetz, etwas als fremdes Eigentum und nicht als fremdes Eigentum anzuerkennen, ist jedoch nicht denkbar, da es dann den Begriff des Depositums nicht geben könnte und damit ebenso wenig die Maxime, es abzuleugnen (vgl. Höffe 2012, 115 ff.). Hegel ist hier anscheinend einer missverständlichen Formulierung aufgesessen: Die

22 | Dass Hegel die vermeintliche Widersprüchlichkeit der Universalisierung angreift, belegt folgende Textstelle aus der Phänomenologie des Geistes: »Es ist die Frage, soll es an und für sich Gesetz sein, daß Eigentum sei: an und für sich, nicht aus Nützlichkeit für andere Zwecke; die sittliche Wesenheit besteht eben darin, daß das Gesetz nur sich selbst gleiche und durch diese Gleichheit mit sich, also in seinem eigenen Wesen gegründet, nicht ein bedingtes sei. Das Eigentum an und für sich widerspricht sich nicht; es ist eine isolierte oder nur sich selbst gleich gesetzte Bestimmtheit. Nichteigentum, Herrenlosigkeit der Dinge oder Gütergemeinschaft widerspricht sich gerade ebensowenig. Daß etwas niemand gehört oder dem nächsten Besten, der sich in Besitz setzt, oder allen zusammen und jedem nach seinem Bedürfnisse oder zu gleichen Teilen, ist eine einfache Bestimmtheit, ein formaler Gedanke, wie sein Gegenteil, das Eigentum.« (TW 3, 317)

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Unmöglichkeit der Verallgemeinerung besteht nicht in der Verallgemeinerung der Maxime selbst, sondern in der Verallgemeinerung der durch die Maxime intendierten Praxis. Genauer: Die Verallgemeinerung der Praxis wird durch den gleichzeitigen Ausschluss der Bedingung der Maxime verunmöglicht. Aber das wird in den verschiedenen Formulierungen des Kategorischen Imperativs nicht eindeutig herausgestellt (vgl. Wildt 1982, 60). Hegel scheint Kant eben so zu verstehen, als ob die logische Unmöglichkeit allein in der Verallgemeinerung besteht. Dann wäre der Kategorische Imperativ in der Tat leer, aber das ist (zumindest hier) nicht der Fall. Trotzdem verweist diese Diskussion auf ein sehr wichtiges Problem. So scheint die Formulierung der Maxime im Kategorischen Imperativ mitunter zu Interpretationsschwierigkeiten zu führen, wie etwa Franz Brentanos Beispiel der Ablehnung passiver Bestechung zeigt (vgl. ders. 2011/1874, 61; En. 14): Denn wenn es ein Gesetz ist, dass alle Moralakteure Bestechungsversuche zurückweisen, dann gibt es keine Bestechung mehr und folglich auch nicht mehr die Möglichkeit Bestechungsversuche zurückzuweisen. Die Universalisierung der Maxime »Ich will es unterlassen, mich bestechen zu lassen« widerspricht den Bedingungen ihrer Formulierung und wäre damit moralisch falsch. Das Problem dabei ist, dass der Sinn der Maxime nicht durch den Akt des Unterlassens, sondern durch den Zweck des Unterlassens konstituiert wird. Die Zielsetzung müsste also in der Maxime mitformuliert werden, etwa: »Immer wenn ich durch eine Unterlassung der Handlung H den intendierten Zweck Z am besten erreichen kann, will ich H unterlassen.« Dasselbe gilt für positive Beispiele, etwa Unrecht zu verhindern, da, wenn alle es täten, es kein Unrecht mehr gäbe, das verhindert werden könnte und die Maxime somit die Bedingung ihrer Formulierung eliminiert. Universalisierbar ist die Maxime anscheinend nur dann, wenn der Zweck mitformuliert wird: »Immer wenn ich durch Handlung H zur Verhinderung von Unrecht beitragen kann, so will ich H tun«. Aber auch wenn der Zweck in der Maxime mitformuliert wird, gibt es offene Fälle, wie das Beispiel der Wahlabstinenz zeigt: Wenn es sich jemand etwa zur Maxime macht, nicht wählen zu gehen, um die Demokratie zu zerstören, so hängt die Universalisierbarkeit bzw. die Rekonstruktion des Widerspruchs von der Moralität des Ziels ab (vgl. Wildt 1982, 63 f.).23 Der Kategorische Imperativ ist also nicht leer in dem Sinne, dass Widersprüche nicht rekonstruierbar wären. Das Problem liegt in der Formulierung der Maximen, die mitunter bestimmte Wertvorentscheidungen abnötigen, da sie sonst zu kontraintuitiven Ergebnissen führen. Dementsprechend scheint Hegels These, jedenfalls wenn man sie wohlwollend liest, doch noch zuzutreffen:

23 | Ähnliche Schwierigkeiten bei der Rekonstruktion von Widersprüchen ergeben sich im Gegensatz zum Kriterium des Denken-Könnens auch durch das

2. Wissen, Wahrheit und Rechtfertigung »[D]er Satz: Betrachte ob deine Maxime könne als ein allgemeiner Grundsatz aufgestellt werden, wäre sehr gut, wenn wir schon Prinzipien über das hätten, was zu tun sei. Indem wir nämlich von einem Prinzip verlangen, es solle auch Bestimmungen einer allgemeinen Gesetzgebung sein können, so setzt eine solche einen Inhalt schon voraus, und wäre dieser da, so müßte die Anwendung leicht werden. Hier aber ist der Grundsatz selbst noch nicht vorhanden, und das Kriterium, daß kein Widerspruch sein sollte, erzeugt nichts, da, wo nichts ist, auch kein Widerspruch sein kann.« (TW 7, § 135 Z)

Damit können wir die bisherigen Ausführungen zusammenfassen: Im Sinne Kants gibt es keine objektiven Werte als Gegenstände der Erkenntnis, doch muss Personen ein objektiver Wert bzw. eine Würde zugesprochen werden. Ferner konstatiert er objektiv gültige Maximen, sofern sie sich, als unbedingte Normen (Gesetze) formuliert, denken und wollen lassen. Kant operiert zwar nicht mit den Begriffen Wahrheit und Rechtfertigung, jedoch lässt sich ein entsprechender Begriff moralischen Wissens aus seinem transzendentalphilosophischen Ansatz als »autonom (und dadurch objektiv) gerechtfertigte Wertüberzeugung« rekonstruieren.24 Dadurch wird der Begriff der Wahrheit unter der Bedingung der Autonomie auf den Begriff der Rechtfertigung zurückgeführt. Neben dem Rätsel der Motivation hatten wir jedoch gesehen, dass die Rekonstruktion von Widersprüchen mitunter problematisch erscheint, sodass nicht immer gesagt werden kann, worin genau objektiv gerechtfertigte Handlungen bestehen. Sowohl die Formulierung von Maximen, als auch das Kriterium des Wollen-Könnens scheinen interpretationsbedürftig zu sein und damit Wertvorentscheidungen nötig zu machen.

schwächere Kriterium des Wollen-Könnens bzw. durch die Frage, ob die Verallgemeinerung einer Maxime dem »reinen Willen« widerspricht. Maximen wie »Wenn du allein im dunklen bist, pfeife!«, scheinen etwa ohne Probleme verallgemeinerbar zu sein (vgl. Frankena 1972/1963, 52). Die Vorstellung, dass es ein allgemeines Gesetz ist, nach dem alle vernünftigen Sinneswesen im Dunklen pfeifen müssen, scheint zwar völlig abstrus, die Rekonstruktion eines Widerspruchs jedoch fraglich. Solch etwas albern anmutende Einwände kann man jedoch nur entschärfen, wenn man den Kategorischen Imperativ als Kriterium für Verbote und Erlaubnisse liest, was allerdings wieder zu theoretischen Folgeproblemen führt (s.o. Fn. 17). Eine umfassende Analyse der Potentiale und Probleme des Kategorischen Imperativs kann an dieser Stelle allerdings nicht geleistet werden. Es sei deshalb stellvertretend auf die ausführliche Problemdiskussion bei Andreas Wildt verwiesen (vgl. ders. 1982, 44 ff.). 24 | Dabei ist eine unmittelbare Gleichsetzung von Normen und Wertüberzeugungen, wie sie hier nahegelegt wird, streng genommen nicht ganz korrekt,

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Obwohl sich der Ethische Objektivismus nicht in der kantischen Theoriebildung erschöpft, bleibt Kant doch eine Art Galionsfigur. Eine prominente Reformulierung dieser transzendentalen Argumentationsstrategie modernerer Provenienz findet sich in der Diskursethik, wobei dort allerdings nicht logische, sondern performative Widersprüche rekonstruiert werden. Zwar kann die Diskursethik hier nicht in der umfangreichen Art und Weise behandelt werden, wie es ihr eigentlich gebührt, doch ist es hinsichtlich des Argumentationsziels dieser Arbeit wichtig zu sehen, dass es noch eine neo-kantianische Variante gibt, um den Begriff der Wahrheit auf den Begriff der Rechtfertigung zurückzuführen. Aus diesem Grund seien ihre Grundgedanken hier noch abschließend und in aller gebotenen Kürze skizziert:25 Die Diskursethik geht zunächst einmal von der These des sozialen Charakters der Begründungs- und Rechtfertigungspraxis aus. Damit wird die problematische, weil monologische, Begründungsbasis Kants durch den öffentlichen Diskurs und die allgemeinen Voraussetzungen der Argumentation ersetzt (vgl. Habermas 2009/1986, 128 f.): Jedweder Wahrheitsanspruch impliziert demnach einen Anspruch auf rationale, d.h. begründete oder gerechtfertigte, Zustimmung aller potentiellen Dialogpartner*innen. Allerdings kann nicht jeder durch Gründe gestützte Konsens mit einem wahren Konsens gleichgesetzt werden, denn das würde relativistische Konsequenzen nach sich ziehen.26 Und genau aus diesem Grund haben sowohl Karl-Otto Apel als auch Jürgen Habermas in verschiedener Weise versucht, Bedingungen anzugeben, unter denen ein Konsens auch wahr genannt werden kann (vgl. Wellmer 2004, 229). Apel formuliert das so: »Wer argumentiert, der anerkennt implizit alle möglichen Ansprüche aller Mitglieder der Kommunikationsgemeinschaft, die durch vernünftige Argumente gerechtfertigt werden können (sonst würde der Anspruch der Argumentation sich selbst thematisch beschränken), und er verpflichtet sich zugleich, alle eigenen Ansprüche an Andere durch Argumente zu rechtfertigen. [...] Darüber hinaus sind die Mitglieder der Kommunikationsgemeinschaft (und das heißt implizit: alle denkenden Wesen) m.E. auch verpflichtet, alle virtuellen Ansprüche aller virtuellen Mitglieder zu berücksichtigen – u.d.h. alle menschlichen ›Bedürfnisse‹, sofern sie Ansprüche an

aber im Sinne Kants impliziert die objektive Gültigkeit einer Norm (etwa das Verbot zu lügen) auch eine entsprechende Wertüberzeugung: Lügen ist moralisch (bzw. kategorisch) schlecht, auch wenn es aus pragmatischen Gründen manchmal (bzw. hypothetisch) gut erscheinen mag. 25 | Für eine ausführliche Auseinandersetzung siehe Gottschalk-Mazouz 2000, Wellmer 1986, Kuhlmann 1985 und Baumgartner 1979. 26 | Dass man diese besser nicht in Kauf nimmt, wird noch in Kap. 2.2.2 gezeigt werden.

2. Wissen, Wahrheit und Rechtfertigung die Mitmenschen stellen könnten. Menschliche ›Bedürfnisse‹ sind als interpersonal kommunizierbare ›Ansprüche‹ ethisch relevant; sie sind anzuerkennen, sofern sie durch Argumente interpersonal gerechtfertigt werden können. [...] Damit scheint das Grundprinzip einer Ethik der Kommunikation angedeutet zu sein, das zugleich die [...] Grundlage einer Ethik der demokratischen Willensbildung durch Übereinkunft (›Konvention‹) darstellt. Die angedeutete Grundnorm gewinnt ihre Verbindlichkeit nicht etwa erst durch die faktische Anerkennung derer, die eine Übereinkunft treffen (›Vertragsmodell‹), sondern sie verpflichtet alle, die durch den Sozialisationsprozeß ›kommunikative Kompetenz‹ erworben haben, in jeder Angelegenheit, welche die Interessen (die virtuellen Ansprüche) Anderer berührt, eine Übereinkunft zwecks solidarischer Willensbildung anzustreben; und nur diese Grundnorm – und nicht etwa das Faktum einer bestimmten Übereinkunft – sichert den einzelnen normgerechten Übereinkünften moralische Verbindlichkeit.« (Apel 1973, 424 ff.)

Aus dieser »Grundnorm«, so Apel, lassen sich auch zwei »grundlegende regulative Prinzipien für die langfristige moralische Handlungsstrategie jedes Menschenableiten« (ders. 1973, 431): Die Überlebensstrategie für die »reale Kommunikationsgemeinschaft« und die Emanzipationsstrategie für die (nie vollständig verwirklichte) »ideale Kommunikationsgemeinschaft«, welche »prinzipiell imstande sein würde, den Sinn ihrer Argumente adäquat zu verstehen und ihre Wahrheit definitiv zu beurteilen« (ebd., 429). Ich kann hier nicht weiter auf die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der transzendentalpragmatischen Variante der Diskursethik von Apel und der universalpragmatischen Variante von Habermas eingehen. Bekanntermaßen lehnt Habermas im Gegensatz zu Apel eine Letztbegründung ethischer Normen ab, beansprucht aber dennoch eine reflexive Begründung von Diskursregeln zu geben (vgl. ders. 1983, 96 ff.). Wichtig ist hier zunächst nur, dass Apel und Habermas die Objektivität von Normen und Wertüberzeugungen im Kontext einer i.) Konsenstheorie der Wahrheit suchen, wobei dieser Konsens im Rahmen einer ii.) antizipiert-idealen Sprechsituation (Habermas) bzw. Kommunikationsgemeinschaft (Apel) und iii.) durch die Rekonstruktion von performativen Widersprüchen eruiert wird. Damit verstehen sie moralisches Wissen als »diskursiven Konsens unter idealen Bedingungen« bzw. führen den Begriff der Wahrheit auf den Begriff der »Rechtfertigung unter idealen Bedingungen« zurück (vgl. Wellmer 2004, 223).27 In der Forschungsliteratur wurden alle drei Kriterien der Diskursethik bereits ausführlich diskutiert. Ich möchte hier nur kurz eine der möglichen Angriffslinien skizzieren, die sich gut in die hiesige Argumentation einfügt:

27 | Genau genommen unterscheidet Habermas zwischen der »Richtigkeit« moralischer Urteile und Normen und der »Wahrheit« deskriptiver Urteile (vgl. ders. 1999a).

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Derjenige Diskurs, den Diskursethiker*innen im Auge haben, wird über starke Eintrittsvoraussetzungen definiert. Dazu zählen etwa Unparteilichkeit, Egalität, reziproke Anerkennung oder kurz die Konstituenten von Autonomie (vgl. Hubig 1995, 180). Aber auch hier gilt wieder: Die implizite Forderung, dass eine gelingende Praxis eine autonome Praxis ist, verlangt i.) die Anerkennung von Autonomie (vgl. ebd., 181) und darüber hinaus ii.) eine eindeutige Interpretation von Autonomie. Der erste Punkt ist problematisch, da sich Widersprüche erst durch die faktische Anerkennung von Regeln und Geltungsansprüchen rekonstruieren lassen – und das muss im Falle rein strategischen Handelns nicht unterstellt werden. Ein gutes Beispiel dafür ist etwa die Ausnutzung des demokratischen Diskurses von rechten Parteien, um auf lange Sicht totalitäre Verhältnisse zu installieren. Denn die Prinzipien der Demokratie werden dadurch nicht verletzt, sondern lediglich strategisch gedeutet (vgl. ebd., 181 f.). Aber auch im Fall von nicht-strategischem Handeln erscheint die Rekonstruktion von Widersprüchen problematisch. Denn auch wenn alle Beteiligten prima facie die gleichen Redechancen hätten, keine Argumente unterdrückt würden und keine Themen ausgeschlossen wären, gäbe es gemäß dem zweiten Punkt noch immer keine formalen Kriterien dafür, dass kein performativer Widerspruch vorliegt. In diesem Sinne kritisiert auch Albrecht Wellmer, dass der Begriff einer idealen Sprechsituation nicht eindeutig ist: »Wir könnten uns niemals sicher sein, ob wir uns in einer solchen Situation befinden; d.h. wir könnten zwar glauben, uns in einer solchen Situation zu befinden, aber nachträglich entdecken, daß die Situation hierarchisch oder durch Machtbeziehungen strukturiert war, daß jemand sich nicht traute, ein bestimmtes Argument vorzubringen, oder daß ihm das Argument nicht einfiel. Mit Bezug auf die ideale Sprechsituation wiederholt sich somit nur nochmal das Wahrheitsproblem: Auch wenn wir mit Gründen glauben, wir seien in einer solchen ›herrschaftsfreien‹ – das Lieblingswort des frühen Habermas – Situation, könnten sich unsere Überzeugungen im Prinzip doch immer nachträglich als falsch herausstellen [...]. Die Differenz zwischen Wahrheit und Rechtfertigung wird gewissermaßen nur nochmal iteriert.« (Wellmer 2004, 229 f.)

Indem es ihr also nicht gelingt, eindeutige Kriterien bereitzustellen, um performative Widersprüche zu rekonstruieren, leidet die Diskursethik an ähnlichen Problemen wie die Ethik Kants. Denn die faktische Anerkennung von Regeln oder Maximen macht Interpretationen und damit Wertvorentscheidungen über diese Regeln oder Maximen vonnöten.28 Der Begriff der Wahrheit lässt sich da-

28 | Insofern scheinen zumindest einige Einwände Hegels gegen Kant sehr wohl auch auf die Diskursethik zuzutreffen (gegen Habermas 2009/1986).

2. Wissen, Wahrheit und Rechtfertigung

mit nicht einfach auf den Begriff der »Rechtfertigung unter der Bedingung der Autonomie« oder den Begriff »Rechtfertigung unter idealen Bedingungen« zurückführen. Und ebenso verhält es sich mit dem Begriff moralischen Wissens. 2.1.3 Die Erneuerung der Moralphilosophie Anhand ausgewählter Beispiele wurde bisher gezeigt, dass einige der prominentesten und elaboriertesten Ansätze im gegenwärtigen metaethischen Theorienspektrum explizit oder implizit einen propositionalen Wissensbegriff zugrunde- oder zumindest nahelegen. Dabei scheint nicht nur die Unterscheidung zwischen natürlichen und nicht-natürlichen Tatsachen und Eigenschaften und damit zwischen deskriptivem und evaluativem Vokabular und theoretischem und praktischem Wissen problematisch, sondern damit zusammenhängend auch die Annahme von Motivations- und Erkenntnisquellen bzw. Rationalitätsstandards, die unabhängig von soziokulturellen Umständen funktionieren. Denn Ethische Realist*innen müssen u.a. von näher zu spezifizierenden Erkenntnis- und Motivationsquellen (etwa die der Wahrnehmung oder der Sympathie) ausgehen, um moralische Tatsachen in den Blick zu nehmen und entsprechendes Handeln zu erklären. Da diese Erkenntnis- und Motivationsquellen jedoch erst in verschiedenen soziokulturellen Kontexten gelernt werden können, wäre zu klären, wie sie moralische Tatsachen unabhängig solcher soziokulturellen Einflüsse erkennen und damit moralische Überzeugungen rechtfertigen können bzw. wie sie zum Handeln motivieren können, ohne für die entsprechenden moralischen Tatsachen konstitutiv zu sein. Aus diesem Grund ist es auch problematisch, moralisches Wissen als »wahre und gerechtfertigte Wertüberzeugung« zu verstehen. Ein ähnliches Problem ergibt sich für Ethische Objektivist*innen. Sie sind zwar nicht auf ontologische Voraussetzungen angewiesen, die, um es mit Mackie zu sagen, als »merkwürdig« empfunden werden könnten, doch gehen sie implizit von wertfreien Rationalitätsstandards aus. Denn moralisches Wissen verstehen sie als einen bestimmten Akt des Rechtfertigens (»autonome Rechtfertigung« bzw. »Rechtfertigung unter idealen Bedingungen«). Dabei ist es fast ebenso problematisch, den Begriff der Wahrheit und damit den Begriff des moralischen Wissens auf den Begriff der Rechtfertigung zurückzuführen. Denn dies müsste einen objektiven Standpunkt der Interpretation voraussetzen, der zeigt, welche Rechtfertigungen autonom sind oder unter idealen Bedingungen stattfinden. Es muss nochmal ausdrücklich betont werden, dass die hier vorgestellte Kritik an ausgewählten Theorien keine Totschlagargumente gegen jede einzelne Theorie aus dem gegenwärtigen metaethischen Theorienspektrum bietet. Sie beansprucht aber, eine problematische Tendenz in der Theoriebildung herauszustellen: Die Annahme von Erkenntnisquellen und Rationalitätsstandards, die moralische Tatsachen entdecken oder konstituieren, scheint deshalb problema-

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tisch, da diese Erkenntnisquellen und Rationalitätsstandards nichts ahistorisches oder akulturelles sein können. So sie existieren, sind sie Teile von soziokulturellen Gegebenheiten, in denen Werte gelernt und tradiert werden. Die Annahme einer wertfreien Werterkenntnis scheint damit ebenso problematisch wie die von wertfreien Methoden zur Wahl moralischer Überzeugungen. Beide Ansätze tendieren auf ihre Art und Weise zur Zirkularität. Denn indem sie Werte oder moralische Tatsachen erkennen oder konstituieren wollen, setzen sie immer schon Werte und Wertüberzeugungen voraus. Aufgrund dieser und ähnlicher Schwierigkeiten der großen philosophischen Strömungen des 20. Jahrhunderts, namentlich der sprachanalytischen Philosophie und der klassischen kontinentaleuropäischen Philosophie, lässt sich in den letzten Jahren innerhalb der internationalen Forschungslandschaft eine Renaissance des Pragmatismus beobachten.29 Dabei handelt es sich um den Versuch, einige grundlegende Einsichten des klassischen Pragmatismus (der v.a. mit den Namen Charles S. Peirce, William James und John Dewey verbunden ist) vor dem Hintergrund des linguistic turn neu zu formulieren. In diesem Sinne werden gegenwärtig unter dem Label »Neopragmatismus« philosophische Ansichten zusammengefasst, die erstens die Überzeugung teilen, dass es keine empirischen und keine praktischen Tatsachen und kein Wissen unabhängig von kulturell geprägten Begriffssystemen und Werten gibt, und die zweitens von einem »Vorrang der Praxis« ausgehen – was auch immer darunter vorerst zu verstehen ist. Während der Logische Empirismus den klassischen Pragmatismus in den 1920er-Jahren zunächst verdrängte, ist es gerade diese Kritik an einem positivistischen Erkenntnis- und Wissenschaftsverständnis, welche die Attraktivität des Pragmatismus gegenwärtig wieder zurück ins Bewusstsein der Philosophie holt. Richtungsweisende Argumente stammen dabei von W.V.O. Quine und Wilfried Sellars: Weder die für den Positivismus maßgebliche Unterscheidung zwischen analytischen und synthetischen Urteilen noch der erkenntnistheoretische Reduktionismus auf eine Beobachtungsbasis hielten Quines Angriff auf die Verifikationstheorie der Bedeutung stand (vgl. ders. 1951). Und auch Sellars Kritik am »Mythos des Gegebenen« (»myth of the given«) weist einen Reduktionismus auf Sinnesdaten als »Fundament der Erkenntnis« scharf zurück (vgl. ders. 1997/1956; Kertscher 2008, 62 ff.). Die Debatte der letzten dreißig Jahre wurde dabei maßgeblich von den amerikanischen Philosophen Hilary Putnam und Richard Rorty geprägt. Beide galten zunächst als Hoffnungsträger der positivistischen analytischen Philosophie und wandten sich im Laufe der Zeit dem klassischen Pragmatismus mit dem Anspruch zu, ihn von metaphysischen Restbeständen zu befreien. Und beide un-

29 | Vgl. dazu etwa Sandbothe 2000.

2. Wissen, Wahrheit und Rechtfertigung

ternehmen eine Kritik der Philosophie30 bzw. werben für eine Erneuerung der Philosophie31 und damit auch für eine Erneuerung der Moralphilosophie. Denn mit John Dewey – der als Kritiker dichotomischer Grenzziehungen maßgeblichen Einfluss auf beide hatte – teilen sie den Befund, dass die Philosophie in ihrem Festhalten an traditionellen Problemen eine außerordentlich konservative Wissenschaft ist (vgl. ders. 1980/1917, 3 ff.).32 Was sowohl Rorty als auch Putnam für diese Arbeit interessant macht, ist, dass beide Alternativen zu den hier vorgestellten Theorietypen vorschlagen, indem sie erstens einige der oben skizzieren Dichotomien (natürlich/nicht-natürlich, Fakten/Werte, normativ/deskriptiv, praktisches Wissen/theoretisches Wissen) problematisieren und zweitens mit ihrer Kritik und ihren Gegenvorschlägen beim Verhältnis von Wahrheit und Rechtfertigung ansetzen. Der radikalere von beiden ist Richard Rorty, der unterstellt, dass die traditionelle Philosophie von einem bestimmten Bild gefangen gehalten wird: Demnach würde das Bewusstsein als großer Spiegel vorgestellt, der verschiedene mehr oder weniger akkurate Darstellungen der Welt enthält. Allerdings würden nicht Sätze, sondern Bilder, nicht Aussagen, sondern Metaphern unsere philosophischen Überzeugungen dominieren (vgl. ders. 1979, 12). Aus diesem Grund kritisiert Rorty das Projekt einer »systematischen Philosophie«, die versucht, Wissen und Erkenntnis zu begründen, da sie nur ein Typ von Philosophie sei. Ihr stellt er die »erbauende« oder »bildende Philosophie« gegenüber, welche eine Philosophie ohne Spiegel sei (vgl. ebd., 366, 295 ff.): »From the educational, as opposed to the epistemological or the technological, point of view, the way things are said is more important than the possession of truth. Since ›education‹ sounds a bit too flat, and Bildung a bit too foreign, I shall use ›edification‹ to stand for this project of finding new, better, more interesting, more fruitful ways of speaking. The attempt to edify (ourselfes or others) may consist in the hermeneutic activity of making connections between our own culture and some exotic culture or historical period, or between our own discipline and another discipline [...].« (Rorty 1979, 359 f.) 33

30 | So der Untertitel der deutschen Ausgabe von Rortys Hauptwerk Philosophy and the Mirror of Nature (vgl. ders. 1981). 31 | Vgl. die Essaysammlung Renewing Philosophy (RPh), in welcher Putnam eine Diagnose der Gegenwartsphilosophie unternimmt. 32 | Zur (problematischen) Dewey-Interpretation von Rorty und Putnam vgl. Hildebrand 2003 sowie darauf aufbauend Kertscher 2008. 33 | Mit dem Begriff der Bildung bezieht sich Rorty auf Hans-Georg Gadamer (vgl. Rorty 1979, 358 f.). Obwohl er es ablehnt, den Begriff einfach zu übernehmen, wird der von ihm bevorzugte Ausdruck »edification« in der deutschen

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Im Sinne dieser bildenden Philosophie hält es Rorty für absurd, in dem in der gegenwärtigen Wissenschaft oder in gegenwärtigen moralischen Diskursen verwendeten Vokabular mehr als bloß eine Beschreibungsweise neben anderen zu sehen (vgl. ders. 1979, 361). Es handle sich eben um eine philosophische Fiktion, die vom erzieherischen Standpunkt aus eine Katastrophe sei, dass uns ein wertfreies Vokabular auf der Zunge liegt, mit dem wir die Welt objektiv beschreiben können. Diese Fiktion führe aber zu der Illusion, dass wir uns in Wissende und Wählende aufspalten müssen (vgl. ebd., 364). Bildende Philosoph*innen würden dagegen Wissensansprüche und den Versuch der Erkenntnis durch die Praxis des Gesprächs ersetzen: »We might just be saying something – participating in a conversation rather than contributing to an inquiry.« (Ebd., 371) Sie haben laut Rorty jedoch nicht den Anspruch, alte Probleme besser lösen zu können, sondern den, neue Fragen und Terminologien vorzuschlagen. Da es in verschiedenen Sprachspielen verschiedene Kriterien der Argumentation gibt, müsse die bildende Philosophie jedoch ohne Argumente auskommen (vgl. ders. 1989, 30 f.): »Great systematic philosophers are constructive and offer arguments. Great edifying philosophers are reactive and offer satires, parodies, aphorisms. [...] Great systematic philosophers, like great scientists, build for eternity. Great edifying philosophers destroy for the sake of their own generation. Systematic philosophers want to put their subject on the secure path of science. Edifying philosophers want to keep space open for the sense of wonder wich poets can sometimes cause [...].« (Rorty 1979, 369 f.)

Da sich Rorty dagegen wehrt, in unseren Rechtfertigungspraktiken mehr zu sehen, als eben solche Praktiken, setzt er moralisches und empirisches Wissen mit denjenigen Überzeugungen gleich, die in einer sozialen und kulturellen Gemeinschaft als rational akzeptiert werden (vgl. ders. 1979, 390; Habermas 1999c, 238 f.). In diesem Sinne behauptet er, dass es in unserer diskursiven Praxis und in der wissenschaftlichen Forschung auf Rechtfertigungen ankommt und nicht auf Wahrheit. Der Begriff der Wahrheit hat demnach bestenfalls noch die praktische Funktion des Bekräftigens oder Bestreitens von Behauptungen (vgl. Wellmer 2004, 222, 240 ff.), ebenso wie der Ausdruck »entspricht der Wahrheit« bei Rorty nur noch als Kompliment zu verstehen ist (vgl. ders. 1979, 372). Aus diesem Grund fordert er, unseren (unberechtigten) Wunsch nach Wahrheit durch den Wunsch nach Solidarität ersetzen (vgl. ders. 1995). Der Preis, den Rorty für seine

Übersetzung mit »Bildung« und nicht mit »Erbauung wiedergegeben (vgl. ders. 1981, 390). Da in der deutschen Sprache der Begriff »Erbauung« etwas fremdartig klingen würde, wird Rortys Projekt einer »edifying philosophy« im Folgenden ebenfalls als »bildende Philosophie« übersetzt.

2. Wissen, Wahrheit und Rechtfertigung

Position bezahlt, ist jedoch hoch: So wird ihm vorgeworfen, eine relativistische und damit unplausible und inkohärente Position zu vertreten.34 Ob es ihm letzten Endes gelingt, eine haltbare Position zu entwickeln, muss an anderer Stelle geklärt werden. Es wird jedoch in Kap. 2.2.2 zu zeigen sein, dass eine solch radikale und relativistische Alternative zu den bestehenden philosophischen Ansätzen mit einigen Schwierigkeiten konfrontiert ist. Obwohl hier nicht näher auf Rortys Philosophie eingegangen werden kann, bildet seine Unterscheidung zwischen systematischer und bildender Philosophie einen wichtigen Ansatzpunkt für diese Arbeit. Allerdings werde ich im Gegensatz zu Rorty im weiteren Verlauf der Argumentation für eine bildende Philosophie mit Spiegel werben. Denn um den Begriff des Wissens angemessen zu verstehen, so die These, muss nicht nur der Begriff der Bildung, sondern auch die Spiegelmetaphorik angemessen interpretiert werden. Rortys persönlicher Freund und philosophischer Opponent Hilary Putnam wird uns dabei helfen, auf den richtigen Weg zu gelangen. Denn Putnam ist der gemäßigtere, aber fast ebenso unorthodox denkende Vertreter des Neopragmatismus. Mit Rorty stimmt er überein, dass das Prädikat »ist wahr« keinen Ort in unserer Redepraxis haben könnte, wenn es nicht mit der Praxis des Begründens und Rechtfertigens verknüpft wäre. Dies bezeichnet den internen Zusammenhang von Wahrheit und Rechtfertigung. Gegen Rorty macht er allerdings geltend, dass es zu unserem unhintergehbaren Verständnis des Wahrheitsbegriffs gehört, dass sich auch gut begründete Überzeugungen als falsch herausstellen können. Das wiederum bezeichnet die Differenz von Wahrheit und Rechtfertigung (vgl. Wellmer 2004, 221 f.). Würde man diese Differenz eliminieren, so wie es bei Rorty der Fall ist, wäre Wahrheit gleichbedeutend mit dem, was nach den jeweiligen historischen und kulturellen Standards der Rechtfertigung eine Person oder Personengruppe für wahr zu halten berechtigt sind. Allerdings wurden in der vertikalen Dimension der historischen Zeit und werden in der horizontalen Dimension der verschiedenen Kulturen und Kontexte viele miteinander unvereinbare Überzeugungen mit guten Gründen für wahr gehalten. Und gleichzeitig sind wir davon überzeugt, vergangene Irrtümer korrigieren und über die Wahrheit verschiedener Überzeugungen streiten zu können (vgl. ebd., 223 f.). Und das, so wird noch genauer zu zeigen sein, macht den Relativismus zu einer schwer verständlichen Position. Würde man andererseits den internen Zusammenhang von Wahrheit und Rechtfertigung eliminieren, würde dies zum Metaphysischen Realismus führen, den Putnam wie folgt skizziert: »On this perspective, the world consists of some fixed totality of mindindependent objects. There is exactly one true and complete description of ›the way the

34 | Zur Relativismusdebatte bei Putnam und Rorty vgl. RHF, 18 ff. und Rorty 1993; vgl. dazu ebenfalls Welsch 2000 und Habermas 1999c, 266 ff.

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Das Problem moralischen Wissens world is‹. Truth involves some sort of correspondence relation between words or though-signs and external things and sets of things. I shall call this perspective the externalist perspective, because its favorite point of view is a God’s Eye point of view.« (RTH, 49)

Entsprechend kennzeichnen den Wahrheitsbegriff des Metaphysischen Realismus vier Merkmale: i.) Korrespondenz (Wahrheit als Übereinstimmung von Satz und Tatsache beziehungsweise von Theorie und Realität); ii.) Unabhängigkeit (die Wahrheit ist unabhängig von dem, was wir durch wissenschaftliche Forschung faktisch herausfinden oder potentiell herausfinden könnten); iii.) Bivalenz (jeder Satz ist entweder wahr oder falsch) und iv.) Einzigkeit (es kann höchstens eine wahre und vollständige Beschreibung der Realität geben; vgl. Burri 1994, 120). Um einen solchen Wahrheitsbegriff zu vertreten müsste man allerdings einen archimedischen Standpunkt voraussetzen, von dem aus die (empirische) Wahrheit unabhängig unserer sprachlichen und wissenschaftlichen Voraussetzungen und unserer Praktiken des Rechtfertigens in den Blick genommen werden kann – was, wie wir noch genauer sehen werden, für die Moralphilosophie nonkognitivistische oder bestenfalls relativistische Konsequenzen hätte. Putnam findet beide dieser Alternativen unbefriedigend. Aus diesem Grund versucht er, den Wahrheitsbegriff sowohl in empirischer als auch in moralischer Hinsicht so zu bestimmen, dass der interne Bezug zur Praxis des Begründens und Rechtfertigens erhalten bleibt, ohne jedoch beide gleichzusetzen. Der Grundgedanke ist dabei derselbe, wie in der oben bereits skizzierten Diskursethik: Wenn Wahrheit mit Rechtfertigung verbunden ist, aber nicht dasselbe bedeuten kann wie Rechtfertigung, dann müssen zusätzliche Bedingungen angegeben werden, unter denen gerechtfertigte Überzeugungen notwendigerweise wahr wären (vgl. Wellmer 2004, 223). Putnam vertritt jedoch keinen Ethischen Objektivismus, denn er will zeigen, wie Tatsachen und Werte und theoretisches und praktisches Wissen zusammenhängen. Aus diesem Grund wirbt er für einen Internen Realismus, der auf externe Standpunkte bewusst verzichtet: »The perspective I shall defend has no unambigious name. It is a late arrival in the history of philosophy, and even today it keeps being confused with other points of view of a quite different sort. I shall refer to it as the internalist perspective, because it is characteristic of this view to hold that what objects does the world consist of? is a question that it only makes sense to ask within a theory of description. Many ›internalist‹ philosophers, though not all, hold further that there is more than one ›true‹ theory or description of the world. ›Truth‹ in an internalist view, is some sort of (idealized) rational acceptability – some sort of ideal coherence of our beliefs with each other and with our experiences as those experiences are themselves represented in our belief system – and not correspondence with mindindependent or discourse-independent ›states of affairs‹. There is no God’s Eye

2. Wissen, Wahrheit und Rechtfertigung point of view that we can know or usefully imagine; there are only various points of view of actual persons reflecting various interests and purposes that their descriptions and theories subserve.« (RTH, 49 f.)

Es wird im Folgenden zu zeigen sein, dass Putnam mit seiner Definition des Wahrheitsbegriffs keine gangbare Alternative zum Relativismus und zum Metaphysischen Realismus formulieren kann. Und trotzdem lohnt es sich, seine Argumente detailliert zu rekonstruieren. Der zu erwartende Ertrag liegt dabei zum einen darin, dass in Anschluss an Putnams Überlegungen gezeigt werden kann, warum es sich sowohl beim propositionalen Wissensbegriff als auch bei der Unterscheidung von theoretischem und praktischem Wissen um Dogmen der Moralphilosophie handelt, die eine adäquate Theoriebildung hinter sich lassen muss. Und zum anderen kann vor dem Hintergrund einer Problemdiagnose des Internen Realismus nach besseren Alternativen gefragt werden. Im Zusammenhang mit diesen beiden Hauptgründen, die für eine ausführliche Beschäftigung mit Putnam sprechen, werden zusätzlich noch schlagkräftige Argumente gegen den (ethischen) Relativismus und gegen den Logischen Positivismus mit seiner Nähe zum Nonkognitivismus geliefert.35

2.2 Rationale und irrationale Rationalitätsvorstellungen Bevor wir uns ausführlich mit Putnams Argumenten auseinandersetzen, muss noch vorbereitend etwas zur theoretischen und philosophiegeschichtlichen Einordnung gesagt werden. Schließlich wurde er hier als Neopragmatiker und als Interner Realist vorgestellt. Das Problem liegt darin, dass Putnam seine Position im Laufe der Jahre zum Teil radikal, zum Teil aber auch nur unwesentlich geändert hat: In den frühen 1960er-Jahren ist er noch ein bedeutender Protagonist der analytischen Philosophie und vertritt nach eigener Aussage selbst den Metaphysischen Realismus.36 In den späten 1970er-Jahren kommt es dann zu einer philosophischen Neuorientierung, indem er sich dem klassischen Pragmatismus zuwendet und den Internen Realismus entwickelt. Trotzdem verwahrt sich Putnam hier noch gegen eine Etikettierung seiner »internalistischen Perspektive«

35 | Ich spreche hier zunächst ganz allgemein von dem Relativismus bzw. vom ethischen Relativismus, da innerhalb der (meta-)ethischen Diskussion mehrere Relativismen zu unterscheiden sind. Ich werde aber den Begriff des Relativismus in Kap. 2.2.2 weiter differenzieren. 36 | Es ist allerdings fraglich, ob diese Selbsteinschätzung zutreffend ist (vgl. dazu Burri 1994, 122).

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als Pragmatismus, denn der Begriff habe Nebenbedeutungen, die aufgrund ihrer sonstigen historischen Anwendungen nicht akzeptabel seien (vgl. RTH, 50). Eine explizite Hinwendung zum Pragmatismus folgt erst Mitte der 1980er-Jahre. Seitdem bezeichnet er auch den Internen Realismus als Pragmatischen Realismus (vgl. RR, 114). Später vertritt er eine Position, die er den Direkten Realismus nennt. Dabei weist Putnam den Metaphysischen Realismus nach wie vor zurück, auch wenn er seine Position und Argumentationsstrategie in Auseinandersetzung mit Dewey, James und dem späten Wittgenstein leicht geändert hat.37 In der Darstellung der Argumente Putnams werde ich mich v.a. an Reason, Truth and History orientieren. Denn es handelt sich dabei um das Werk, in welchem Putnam seinen Internen Realismus am detailliertesten und elaboriertesten ausgearbeitet hat. Daneben greife ich auch auf Realism with a Human Face zurück. Spätere Werke benutze ich nur zu Explikationszwecken, soweit sie mit den Thesen des Internen Realismus vereinbar sind. So arbeitet Putnam etwa in Words and Life diejenigen Grundüberzeugungen des klassischen Pragmatismus pointiert heraus, die er schon im Kontext des Internen Realismus vertritt (vgl. Raters/Willaschek 2002, 12 f.): »What I find attractive in pragmatism is not a systematic theory in the usual sense at all. It is rather a certain group of theses, theses which can be and indeed were argued very differently and by very different philosophers with different concerns, and which became the basis of the philosophies of Peirce, and above all of James and Dewey. Cursorily summarized, those theses are (1) antiskepticism: pragmatists hold that doubt requires justification just as much as belief [...]; (2) fallibilism: pragmatists hold that there is never a metaphysical guarantee to be had that suchand-such a belief will never need revision (that one can be both fallibilistic and antiskeptical is perhaps the unique insight of American pragmatism); (3) the thesis that there is no fundamental dichotomy between ›facts‹ and ›values‹; and (4) the thesis that, in a certain sense, practice is primary in philosophy.« (WL, 152)

Die Thesen (3) und (4) drücken dabei denjenigen Paradigmenwechsel aus, der zu einer »Erneuerung der Philosophie« führt, insofern diese nicht länger nach festen Fundamenten des Wissens fragt, sondern an der gemeinsam gelingenden sozialen und epistemischen Praxis Maß nimmt. Die Thesen (1) und (2) besagen dagegen, dass sowohl empirisches als auch moralisches Wissen immer relativ zu historisch gewachsenen Wertschätzungen und Wissenskulturen bestehen, d.h., jede unserer Überzeugungen konstituiert sich innerhalb eines bereits bestehenden Systems von Überzeugungen, wodurch jede einzelne Überzeugung auch

37 | Zum Verhältnis Putnams zur Tradition des Pragmatismus vgl. Raters/Willaschek 2002; Bernstein 2002; Nagl 1998, 147 ff.

2. Wissen, Wahrheit und Rechtfertigung

prinzipiell fallibel ist. Das bedeutet jedoch weder, dass das ganze Überzeugungssystem (skeptisch) in Zweifel gezogen werden könnte, noch, dass der Relativismus, also die Ansicht, dass einzig ein Begriffs-, Werte- und Überzeugungssystem darüber entscheidet, in welchem Zusammenhang das Prädikat »wahr« (oder jeder beliebige andere) gebraucht wird, Wissensansprüche angemessen interpretieren könnte. Da Putnam seine Position in der Auseinandersetzung mit positivistischen und relativistischen Positionen argumentativ untermauert, werde ich zunächst auf die Thesen (1) und (2) eingehen. Dabei werden vorwiegend erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Vorüberlegungen behandelt. Die Plausibilität der Thesen (3) und (4) und die Konsequenzen für die Moralphilosophie werden daran anschließend thematisiert. Putnam, und damit beginnen wir die Untersuchung seiner Argumente, macht mit seiner internalistischen Position gegen den Metaphysischen Realismus geltend, dass es sich bei Sprachen und Begriffssystemen um Ensembles von ermöglichenden Bedingungen der Rechtfertigungspraxis und des Wissens handelt. Mit dieser transzendentalen Argumentationsweise stellt er sich in die Tradition der kritischen Philosophie. Gleichwohl versucht er, im Kontext dieses »linguistischen Kantianismus« über Kant hinauszugehen, um für ein nachmetaphysisches Verständnis des Realismus zu werben (vgl. Habermas 2002, 280, 284 f.). Damit wendet er sich sowohl gegen die Idee einer letztbegründeten Erkenntnis als auch gegen den Skeptizismus: »[E]lements of what we call ›language‹ or ›mind‹ penetrate so deeply into what we call ›reality‹ that the very project of representing ourselves as being ›mappers‹ of something ›language-indipendent‹ is fatally compromised from the very start.« (RHF, 28)

Und weiter: »If we find that we must take a certain point of view, use a certain ›conceptual system‹ [...], then we must not simultaneously advance the claim that it is not really ›the way things are in themselves‹.« (MFR, 70)

Sowohl die Skeptiker*in als auch ihre Opponent*in, die Metaphysische Realist*in, sind laut Putnam auf die inkohärente Annahme nicht-fallibler Wissensansprüche hereingefallen. Er interpretiert den Fallibilismus dabei in Anlehnung an Wilfried Sellars: Zwar ist es ohne Letztbegründung möglich, jede einzelne Behauptung einer Wissenskultur infrage zu stellen, nicht jedoch alle auf ein Mal (vgl. Bernstein 2002, 37 f.). Wie Richard Bernstein bemerkt, ist Putnams Auffassung des Skeptizismus dagegen stark von der Wittgensteinlektüre Stanley Cavells geprägt. Entsprechend begegnet er der Skeptiker*in nicht in seiner »klassischen Form«, sondern im »modernen Gewand« der kulturellen Relativist*in (vgl. Habermas

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2002, 282). Gleichzeitig setzt er sich mit philosophischen Positionen auseinander, die den Skeptizismus kritisieren, dabei jedoch seine »Formen« annehmen. Das betrifft sowohl den Positivismus als auch den Metaphysischen Realismus: »The positivist’s strategy can be described thus: to concede the correctness of almost everything the skeptic says (e.g., we don’t have any moral knowledge, we don’t know anything about other people except their behavior, we don’t know that there are any objects except our own sense-data and constructions therefore) in the hope of keeping back from the skeptic the claim of some minimal sort of ›scientific knowledge‹. In the case of metaphysical realism, it is true that we are alleged to know more than the skeptic [...], but this knowledge [...] is knowledge of a ›true world‹ which has little resemblance to our quotidian world of common sense objects and fellow passengers to the grave. In sum, both the ›skeptic‹ and his ›opponents‹ deny the primacy and reality (or better, the primacy of the reality) of the life world.« (Putnam 1993, vii f.)

Aus diesem Grund sieht Putnam die Aufgabe der Philosophie darin, an einem besseren Verständnis von Rationalität zu arbeiten: Um unsere Wissensansprüche in der Erkenntnis- und Wissenschaftsphilosophie, aber auch in der Ethik und Moralphilosophie angemessen deuten zu können, muss demnach sowohl die Skylla der ahistorischen und unveränderlichen Rationalität als auch die Charybdis der bloß relativen Rationalität umschifft werden. Deshalb werden im Folgenden zunächst die beiden defizitären Rationalitätsvorstellungen zusammen mit Putnams Kritik rekonstruiert. Darauf aufbauend kann der Interne Realismus als alternatives Theorieangebot in den Blick genommen werden. 2.2.1 Der Positivismus Der Logische Positivismus (mit seiner Nähe zum Nonkognitivismus) steht dabei stellvertretend für die erste von Putnam kritisierte Rationalitätsauffassung, da hier der Wahrheitsbegriff des Metaphysischen Realismus zugrunde liegt: Als Kriterium der Rationalität wird hier die Überprüfbarkeit sinnvoller Aussagen gemäß der Methoden der Mathematik, der Logik und der empirischen Wissenschaft angenommen. Alle übrigen Aussagen, die sich nicht auf diese Weise überprüfen lassen, seien »Scheinaussagen« oder unsinnige Aussagen (vgl. RTH, 105). Putnam hat in seinem Werk mehrere Argumente in verschiedenen Variationen und mit verschiedenen Beispielen gegen den Positivismus vorgebracht. Ich stelle hier nur die beiden wichtigsten vor, da sie auch für den weiteren Argumentationsverlauf relevant sind:38

38 | Kenner*innen der Philosophie Putnams werden jetzt möglicherweise das

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Erstens macht Putnam in Anspielung auf (den frühen) Ludwig Wittgenstein geltend, dass sich der Positivismus selbst widerlegt (vgl. ebd., 113). Denn innerhalb des Tractatus logico-philosophicus (der den Logischen Positivismus maßgeblich inspirierte), argumentiert Wittgenstein (sofern man überhaupt von einer Argumentation sprechen kann), dass Gegenstände und Sachverhalte in der Welt, im Satz durch Zeichen vertreten werden (vgl. TLP 2.1512, 4.0312). Alle nichtempirischen und nichtmathematischen bzw. nicht-logischen Sätze seien dagegen »unsinnige Scheinsätze« (ebd. 4.1272). Und in eben diesem Sinne seien auch die Fragen der Philosophie unsinnig (vgl. ebd. 4.003), sodass es auch keine Sätze der Ethik geben könne (vgl. ebd. 6.42, 6.421). Eine Erwiderung, so Putnam, liegt jedoch auf der Hand: »An obvious rejoinder was to say that the Logical Positivist criterion of significance was self-refuting: for the criterion itself is neither (a) ›analytic‹ (a term used by the positivists to account for logic and mathematics), nor (b) empirically testable. Strangely enough this criticism had very little impact on the logical positivists and did little to impede the growth of their movement. I believe that the neglect of this particular philosophical gambit was a great mistake; that the gambit is not only correct, but contains a deep lesson, and not just a lesson about Logical Positivism.« (RTH, 106)

Der Grund, warum diese Kritik so wenig Einfluss hatte, ist wahrscheinlich der, dass Positivist*innen wie der frühe Wittgenstein dieses Problem gesehen und entsprechend zugegeben haben, dass es sich bei ihren eigenen Sätzen und Kriterien eher um Vorschläge handelt, die in ihrem (positivistischen) Sinn weder wahr noch falsch sein können. Konsequenterweise hat auch Wittgenstein die Sätze des Tractatus selbst für »unsinnig« erklärt (im Sinne von »bedeutungslos« oder »nicht wahrheitsfähig« und nicht im Sinne von »blödsinnig« oder »offensicht-

berühmte Gehirne-im-Tank-Gedankenexperiment (vgl. RTH, 1 ff.) und das modelltheoretische Argument (vgl. ebd., 32 ff.) erwarten, da diese oft als Eckpfeiler von Putnams Spätphilosophie betrachtet werden (vgl. Ambrus 2002, 102). Allerdings ist das Gehirne-im-Tank-Argument, mit dem sich Putnam in der Tradition Descartes sowohl gegen den Skeptizismus als auch gegen den Metaphysischen Realismus und seine »magische Theorie der Bezugnahme« (VWG, 17) wendet, mehr als problematisch (zur Rekonstruktion und Kritik des Arguments vgl. Burri 1994, 122 ff. und Ambrus 2002, 99 ff.). Das modelltheoretische Argument dagegen ist nicht nur in seiner Gültigkeit umstritten, sondern es ist auch so abstrakt und voraussetzungsreich, dass auf eine Darstellung hier verzichtet wird. Zur Darstellung und zur Forschungsliteratur vgl. Ambrus 2002, 89 ff.

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lich falsch«), und seine Leser*innen aufgefordert, sie zu »überwinden«, um die Welt richtig zu sehen (vgl. TLP 6.54). Entsprechend sah er Philosophie nicht als Lehre, sondern als Tätigkeit mit einer erläuternden Funktion (vgl. Stegmüller 1989, 560). Putnam wendet jedoch ein, dass auch Positivist*innen für ihre Vorschläge argumentieren (vgl. RTH, 112). Die nicht verifizierbare Behauptung, alle sinnvollen Sätze müssten verifizierbar sein, stellt sich damit als inkonsistent heraus: »[A]rguing about the nature of rationality (the task of the philosophers par excellence) is an activity that presupposes a notion of rational justification wider than the positivist notion, indeed wider than institutionalized criterial rationality.« (RTH, 113) Zweitens argumentiert Putnam anhand mehrerer Beispiele mit dem Verweis auf die Begriffsrelativität gegen den Positivismus. Dabei spricht er auch von »conceptual relativity«, die er in aller Deutlichkeit vom Relativismus (»relativism«) abgrenzt: »Conceptual relativity sounds like ›relativism‹, but has none of the ›there is no truth to be found... ›true‹ is just a name for what a bunch of people can agree on‹ implications of ›relativism‹.« (MFR, 17 f.) Mit Begriffsrelativismus ist gemeint, dass die Feststellung von Tatsachen mitunter von der Beschreibungsweise einer bestimmten Sprache abhängt, innerhalb derer jedoch keine Beliebigkeit besteht.39 Denn ist erst eine Sprache oder ein Begriffssystem gewählt, so Putnam, können Tatsachen beschrieben werden, die die Sätze dieser Sprache oder dieses Begriffssystems wahr oder falsch machen (vgl. MFR, 40). Der Positivismus bzw. der Metaphysische Realismus scheitert dagegen daran, dass auch die grundlegendsten Begriffe wie Objekt oder Existenz keine eindeutig festgelegten Bedeutungen haben, sondern einer Vielzahl von Verwendungsweisen offenstehen (vgl. RPh, 120 ff.; Burri 1994, 129). So ist es etwa erst vor dem Hintergrund eines bestimmten Begriffssystems möglich, auf die Frage »Welche Objekte existieren wirklich?« eine (wahre) Antwort zu geben und diese zu rechtfertigen:40 Wenn ich etwa eine Person in einen Raum mit einem Stuhl, einem Tisch, einer Lampe und einem Notizblock führe, hängt die Antwort vom Begriff des Gegenstandes ab. Beispielsweise wäre fraglich, ob die beiden Personen im Raum und die Seiten des Notizblocks auch als Gegenstände zählen (vgl. RR, 109 ff.; Burri 1994, 121). Ähnlich verhält es sich in einer logischen Miniaturwelt mit den drei logischen Atomen x1, x2 und x3. Nach der konventionellen Logik gibt es hier drei Objekte. Eine beliebige Vertreter*in der Warschauer Schule, in deren formaler Sprache für jedes Paar von Objekten auch die mereolo-

39 | Diese Begriffsrelativität wird unter den Titeln »Sapir-Whorf-Hypothese« oder »Linguistic Relativity« auch innerhalb der empirischen Sprachwissenschaften diskutiert (vgl. Werlen 2002). 40 | Es wird im weiteren Verlauf der Arbeit noch zu zeigen sein, dass die Feststellung von Tatsachen nicht einfach nur von einem Begriffssystem, sondern

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gische Summe existiert, würde jedoch sieben Objekte zählen: x1, x2, x3, x1+x2, x1+x3, x2+x3 und x1+x2+x3 (vgl. RHF, 96 ff.; MFR, 17 ff., 32 ff.; Burri 1994, 129 ff.). Auf diese Weise lässt sich eine Vielzahl von Beispielen konstruieren. Das Argument wurde in ähnlicher Weise schon vor Putnam von einer Vielzahl anderer Philosoph*innen (v.a. im Kontext der Wissenschaftstheorie) geführt, es hat jedoch keinen offiziellen Namen. Ich nenne es daher im weiteren Verlauf das Argument aus der Begriffsrelativität. Putnam selbst wurde dabei offensichtlich maßgeblich von Nelson Goodmans »neuem Problem der Induktion« inspiriert.41 Ich möchte dieses »neue« Problem hier kurz skizzieren und vom »alten« Problem abgrenzen, da es Putnams Beispiele auf den Punkt bringt und m.E. die elaborierteste Form des Arguments aus der Begriffsrelativität darstellt: Bereits Mitte der 1950er-Jahre hatte Goodman darauf hingewiesen, dass wissenschaftliche Hypothesen und empirische Daten nicht in einer bloß logischen Beziehung zueinander stehen können, da es nicht möglich ist, alle Regelmäßigkeiten, die man in empirischen Befunden findet, im Kontext einer wissenschaftlichen Theorie konsistent in die Zukunft zu projizieren. Denn: »Regularities are where you find them, and you can find them anywhere.« (Goodman, 1983/1955, 82) Diese Feststellung begründet das sogenannte »neue Rätsel« der Induktion. Das »alte Rätsel« der Induktion besteht in der Frage, wie sich induktive Voraussagen rechtfertigen lassen bzw. warum wir eine Voraussage der anderen vorziehen sollten. Humes prominent gewordene Antwort besteht darin, dass die gewählte Voraussage nicht auf Denkakten beruht, sondern auf einer Regelmäßigkeit, die eine Gewohnheit geschaffen hat (vgl. ders. 2007/1748, 18 ff.). Eben diese Behauptung, dass es keine notwendige Verknüpfung zwischen Tatsachen gibt, findet Goodman zwar erfrischend subjektivistisch, aber nicht völlig befriedigend (vgl. ders. 1983/1955, 60 f.): Denn da Hume übersehen hat, dass nur einige Regelmäßigkeiten Gewohnheiten erzeugen, ersetzt Goodman im Rahmen seiner Untersuchung die Frage nach der Rechtfertigung (»Warum gibt ein positiver Einzelfall einer Hypothese einen Grund, weitere Fälle vorherzusagen?«) durch die Frage nach der Bestätigung (»Was ist ein positiver Einzelfall?« und »Welche Hypothesen werden durch positive Einzelfälle bestätigt?«). Das Rätsel besteht also in der Frage, wie es möglich ist, zwischen zufälligen und gesetzesartigen Regelmäßigkeiten zu unterscheiden: Dass ein Stück Kupfer den Strom leitet, erhöht die Glaubwürdigkeit von Aussagen, dass alles Kupfer den Strom leitet. Doch die Tatsache, dass ein bestimmter Mann ein dritter Sohn ist, erhöht nicht die Glaubwürdigkeit, dass alle Männer dritte Söhne sind. Nur eine gesetzesartige Aussage kann durch Einzelfälle bestätigt werden, zufällige Aussagen

auch von der Art und Weise, wie Begriffe verwendet werden, abhängt. Genau darauf will Putnam mit seinen Beispielen aber anscheinend auch hinaus. 41 | Zur Goodman-Rezeption Hilary Putnams vgl. Ambrus 2002, 117 ff.

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können dies nicht (vgl. ebd., 73). Goodman führt nun ein brillantes Argument an, um zu zeigen, dass es keine Regeln der induktiven Logik geben kann bzw. keine Regeln, um zwischen zufälligen und gesetzesartigen Regelmäßigkeiten zu unterscheiden: Nehmen wir an, dass alle Smaragde, die vor einem beliebigen Zeitpunkt t untersucht worden sind, grün seien. Zur Zeit t stützen alle unsere Beobachtungen die These, dass alle Smaragde grün sind (qua Schluss der Induktion). Jetzt führen wir das Prädikat »grot« ein: »Grot« sind alle Gegenstände, die vor dem Zeitpunkt t untersucht wurden und grün sind, und alle die nicht vor t untersucht wurden und rot sind. In dem Fall würde es zu widersprüchlichen Prognosen aufgrund derselben Datenmenge kommen: Alle Smaragde, die vor t untersucht werden, sind grün, was die Hypothese bestätigt, dass alle Smaragde (auch nach t) grün sind, und alle Smaragde sind »grot«, was die Hypothese rechtfertigt, dass alle Smaragde »grot« (d.h. nach t rot) sind. Man braucht, so Goodman, nur ein passendes Prädikat wählen, um jede beliebige Regelmäßigkeit zu bestätigen (vgl. ebd., 73 ff.). Mit dem Fantasie-Prädikat »grot« zeigt Goodman also, dass diejenigen Regelmäßigkeiten, die wir in einer Datenmenge feststellen, von der Sprache, die wir verwenden, abhängen können. Und dabei ist auch ein Vokabular denkbar, welches zu widersprüchlichen Voraussagen führt.42 Adäquate Kriterien zur Fortsetzung von Hypothesen, so Goodman, können deshalb nur diejenigen Prädikate geben, die in unserer Sprache besser verankert (»entrenched«) sind (vgl. ebd., 155). Regelmäßigkeiten, die in einer Datenmenge entdeckt werden, hängen somit von den benutzten Begriffen ab, sodass der Gebrauch der Sprache ein Maßstab für Fortsetzbarkeit von Prädikaten ist. Goodman weist auf diese Weise sowohl verifikationistische als auch falsifikationistische Bestätigungstheorien als defizitär zurück. Und in eben diesem Sinne kann auch Putnam geltend machen, dass der Positivismus (mit seiner verifikationistischen Bestätigungstheorie) bzw. der Metaphysische Realismus daran scheitert, dass die Feststellung von Tatsachen, ebenso wie das Aufstellen wissenschaftlicher Hypothesen, mitunter von den kulturell variablen Sprachen und Begriffssystemen abhängig ist.43 Hypothesen oder Tatsachenfeststellungen dürfen jedoch trotz des Begriffsrelativismus nicht relativistisch interpretiert werden, wie nun zu zeigen sein wird.

42 | Das Argument Goodmans lautet also genau genommen: Wenn es formale Regeln induktiver Logik gäbe, müssten sie das zu widersprüchlichen Voraussagen führende unsinnige Fantasie-Prädikat »grot« ausschalten können. »Grot« kann aber nicht ausgeschaltet werden, also gibt es keine formalen Regeln induktiver Logik. 43 | Putnam betont zwar immer wieder, dass das Feststellen von Tatsachen von Sprachen und Begriffssystemen abhängig ist, er führt jedoch auch Beispiele ins Feld, die nicht auf Begriffs-, sondern auf Interessenrelativität auf-

2. Wissen, Wahrheit und Rechtfertigung

2.2.2 Der Relativismus Bei der zweiten von Putnam kritisierten Rationalitätsauffassung handelt es sich um den Relativismus. Dabei spricht er in Reason, Truth and History meistens von dem Relativismus, ohne weitere begriffliche Differenzierungen vorzunehmen (vgl. RTH, 119 ff.). Im Wesentlichen geht es ihm dabei um Folgendes: Es gibt de facto verschiedene Wissenskulturen als Ensembles von Faktoren die die Möglichkeitsbedingung epistemischer Prozesse ausmachen und die im Kontext historischer Artefakte und Traditionen akkumuliert und verinnerlicht werden. Dazu gehören etwa (selektive) Wahrnehmungen, für relevant erachtete Erinnerungen, Akzeptanz von Regeln und Normen, Gebrauch von Instrumenten, Beobachtungs- und Experimentalpraxen, die Nutzung von Medien der Information und Kommunikation, Institutionen des Wissenserwerbs und der Wissensverbreitung oder gesellschaftlich nachgefragtes Expertenwissen (vgl. Sandkühler 2008, 142). Und obwohl die damit zusammenhängenden Sprachen, Begriffssysteme und Rationalitätsstandards erst die Möglichkeitsbedingung für Wissen, Wahrheit und Rechtfertigung bereitstellen, können Wissen, Wahrheit und Rechtfer-

bauen: So setzt er sich u.a. kritisch mit Hartry Fields Physikalismus auseinander, wonach es sich bei kausalen Relationen um objektive Gegebenheiten handelt (vgl. dazu Ambrus 2002, 83 ff.). Anhand eines skurrilen Beispiels zeigt Putnam, dass diese Annahme keineswegs so harmlos ist, wie sie zunächst scheint: Stellen wir uns vor, dass ein Professor eines Nachts splitterfasernackt im Mädchenschlafsaal gefunden wird. Folgende Erklärung wird für dieses schockierende Ereignis angeboten: Der Professor befand sich schon Sekunden vor Mitternacht splitterfasernackt im Mädchenschlafsaal. Da es ihm nur möglich gewesen wäre, den Ort vor Mitternacht zu verlassen, wenn er sich mit Lichtgeschwindigkeit bewegt hätte, sich aber selbst Professoren nicht mit Lichtgeschwindigkeit bewegen können, wurde er zur erwähnten Zeit dort gefunden (vgl. MMS, 42). Obwohl diese Erklärung den Ansprüchen des Hempel-Oppenheimschen Modells wissenschaftlicher Erklärung genüge leistet, könnte sie bestenfalls für einen schlechten Witz gehalten werden. Den Grund dafür sieht Putnam in der Interessenrelativität: Ob ein Vorgang oder ein Ereignis als Ursache in Betracht kommt, lässt sich nur vor dem Hintergrund der situationsgebundenen Erwartungen und Absichten der Beobachter*innen entscheiden. Ein rein physikalischer Kausalbegriff würde dagegen auf die abstruse Vorstellung hinauslaufen, alle beteiligten Wechselwirkungen bis zur quantenmechanischen Ebene objektiv erfasssen und gewichten zu können (vgl. Ambrus 2002, 86 f.). Leider klärt Putnam jedoch nie den Zusammenhang zwischen Begriffs- und Interessenrelativität. Ich werde in Kap. 3 unabhängig von Putnam auf dieses Problem zurückkommen.

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tigung nicht nur relativ zu diesen Wissenskulturen bestehen. Denn obwohl der Metaphysische Realismus scheitert, muss es aus logischen Gründen objektive und wahre Aussagen und Überzeugungen geben. Dass sich der extreme Relativismus (»total relativism«) widerlegt, so Putnam, ist dabei ein Gemeinplatz in der Philosophie. Denn man kann schlechterdings die Überzeugung vertreten, dass es nicht möglich ist eine Überzeugung zu vertreten, die sich vor anderen Überzeugungen auszeichnet (vgl. RTH, 119 f.). Wenn alles relativ ist, ist schließlich auch das Relative relativ.44 Und trotzdem lassen sich zumindest prima facie verschiedene Relativismen vertreten, die diesen einfachen Widerspruch nicht begehen. Aus diesem Grund argumentiert Putnam nicht nur gegen den Relativismus, sondern auch gegen den wissenschaftstheoretischen Relativismus im Stile Thomas Kuhns und Paul Feyerabends und den ethischen Relativismus (den er allerdings nicht weiter differenziert). Im Folgenden werden die Argumente zunächst einzeln dargestellt. Die für diese Untersuchung wichtigste Pointe besteht dabei in der Kritik am ethischen Relativismus, die jedoch eng mit der Kritik an den anderen Relativismen zusammenhängt. Das erste Argument wendet sich ganz allgemein gegen den Relativismus. Denn eine gewiefte Relativist*in, so Putnam, kann dich zwar nicht davon abhalten zu sagen, dass ihre Ansicht für dich nicht wahr ist, sie kann aber erwidern, dass wahr-für-dich für sie weniger bedeutet, als wahr-für-sie. In Anschluss an Platons Argument gegen den Relativisten Protagoras beansprucht Putnam nun zu zeigen, dass sich dieser Relativismus, ähnlich wie der Positivismus, selbst widerlegt. Denn Protagoras – ein Relativist vom Scheitel bis zur Sohle – vertritt die These, dass jede Aussage »x« bedeutet: »Ich denke, dass x«, sodass keine Aussage dieselbe Bedeutung hat, wie für jemand anderen (vgl. RTH, 120). Wenn Hilary Putnam z.B. sagt: »Schnee ist weiß«, meint er laut Protagoras eigentlich »Hilary Putnam denkt, dass Schnee weiß ist«. Und wenn Robert Nozick sagt »Schnee ist weiß« bedeutet es dementsprechend »Robert Nozick denkt, dass Schnee weiß ist«. Platons Gegenargument war es zu zeigen, dass es sich bei dieser Annahme um eine reductio ad absurdum handelt, da sich der Satz »Ich denke zu wissen, dass x« immer weiter iterieren lässt (»Ich denke, dass ich denke, dass x« etc.).45 Platon fand zwar kein schlagendes Argument gegen den Relativismus (schließlich ist die Iteration beliebig oft möglich, jedoch nicht notwendig), doch bemerkte er, so Putnam, dass unser Verständnis von Begriffen wie »Wahrheit-für-mich«, »Wahrheit-für-Putnam« oder »Wahrheit-für-Nozick« hier ins Wanken gerät (vgl. RTH, 120 f.). Im Privatsprachenargument Witt-

44 | Dabei zitiert Putnam Alan Garfinkels netten Einzeiler, mit dem dieser seine Studierenden nachahmte: »Ihr kommt vielleicht nicht daher, wo ich herkomme, aber ich weiß, daß der Relativismus für mich nicht wahr ist...« (VWG, 163) 45 | Vgl. Theaet., 170a-179b.

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gensteins sieht er eine Erweiterung dieser Angriffslinie und ein (vermeintlich) schlagendes Argument gegen den Relativismus. Denn in der berühmten Passage der Philosophischen Untersuchungen (vgl. PU 243-264) stellt Wittgenstein die Frage, ob eine Sprache denkbar ist, in der jemand mit Begriffen über die eigenen Empfindungen spricht, ohne dass diese von anderen Sprecher*innen verstanden werden können. Da er diese Möglichkeit verneint, handelt es sich im Eigentlichen um ein Anti-Privatsprachenargument. Denn das Problem einer hypothetisch angenommenen Privatsprache besteht laut Wittgenstein darin, dass es kein Kriterium dafür gibt, dass sich eine fiktive Sprecher*in richtig erinnert hat, wenn sie der Empfindung E das Zeichen »E« zuordnet. Sie hat damit nicht einmal einen Grund zu glauben, dass sie sich richtig erinnert: »›Nun, ich glaube, daß dies wieder die Empfindung E ist.‹ – Du glaubst es wohl zu glauben!« (Ebd. 260)46 Wittgenstein greift damit den methodologischen Solipsismus an, der ebenfalls eine Form des Relativismus sei. Demnach hätte Hilary Putnam seine Kenntnisse darüber, dass Schnee weiß ist, wodurch seine Erlebnisse verifiziert würden, und Robert Nozick hätte entsprechend seine Kenntnisse, wodurch seine Erlebnisse verifiziert würden usw. Allerdings, so Putnam, können weder die methodologische Solipsist*in im Besonderen noch die Relativist*in im Allgemeinen zwischen »recht haben« und »glauben, recht zu haben« unterscheiden. Dann aber bestünde auch kein Unterschied mehr zwischen »behaupten« oder »denken« einerseits und »Geräusche machen« oder »geistige Vorstellungsbilder erzeugen« andererseits, was geistigem Selbstmord gleichkäme (vgl. RTH, 121 f.). Man könnte nun die Unterscheidung von »recht haben« und »glauben, recht zu haben« aufrecht erhalten, wenn man sie über Konditionalsätze expliziert (»Hätte ich ... dann würde ich das und das glauben«). Wenn nun aber die Relativist*in Aussagen über das, was sie unter bestimmten Umständen glauben würde, in realistischer Weise interpretiert, so Putnam, dann hätte sie eine Klasse absoluter Wahrheiten anerkannt und aufgehört, Relativist*in zu sein (vgl. ebd., 122 f.). Kurz: Die Relativist*in übersieht Putnam zufolge ebenso wie die methodologische Solipsist*in, dass Objektivität eine Voraussetzung des Denkens ist: »Finally, if the relativist of today, like the ancient Protagoras, simply decides to bite the bullet and say there is no difference between ›I am right‹ and ›I think I am right‹ – that a distinction between being justified and thinking one is justified cannot be drawn in one’s own case – then what is speaking, on such a conception – beyond producing noises in the hope that one will have the feeling of being right? What is thinking – beyond producing images and sentence-analogues in the mind in the hope of having a subjective feeling of being right? The relativist must end by

46 | Zur ausführlichen Interpretation des Privatsprachenarguments vgl. Wellmer 2004, 85 ff.

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Das Problem moralischen Wissens denying that any thougt is about anything in either a realist or nonrealist sense; for he cannot distinguish between thinking one’s thought is about something and actually thinking about that thing. In short, what the relativist fails to see is that it is a presupposition of thought itself that some kind of objective ›rightness‹ exists.« (RTH, 123 f.)

Über die Schlagkraft des Arguments lässt sich sicherlich streiten. Schließlich behauptet Putnam, dass Wittgensteins Argument gegen den Solipsismus gleichzeitig ein Argument gegen den Relativismus ist (vgl. RTH, 122). Die Relativist*in kann aber bei der Unterscheidung von »recht haben« und »glauben, recht zu haben« auf ihre Kultur verweisen. Und eben darum ist sie – im Gegensatz zur methodologischen Solipsist*in – nicht auf Begriffe wie »Wahrheit-für-Putnam« oder »Wahrheit-für-Nozick« angewiesen. Putnams Problem scheint näher darin zu bestehen, dass er den Relativismus nicht weiter differenziert. Dies lässt sich an einem seiner eigenen Beispiele leicht zeigen: So betont er etwa, dass die Rationalitätsauffassungen von Kardinal Newman und Rudolf Carnap völlig verschieden waren. Hätten sie zur gleichen Zeit gelebt und wären sich begegnet, so Putnam weiter, hätten sie einander wohl nicht überzeugen können, da die Eigenschaften gerechtfertigtCarnap und gerechtfertigt Newman Überzeugungen nur vor dem Hintergrund bestimmter Rationalitätsstandards wahr machen (vgl. ebd., 136). Das Problem ist nur, dass Putnam nicht sagt, von was sie sich nicht hätten Überzeugen können. Denn so unterschiedlich viele Auffassungen eines Vertreters des Logischen Positivismus aus dem 20. Jahrhundert und eines Kardinals aus dem 19. Jahrundert auch sein mögen: Die Eigenschaften gerechtfertigtCarnap und gerechtfertigt Newman könnten doch nicht bei allen Überzeugungen unterschiedlich sein.47 Umgekehrt bedeutet dies aber auch: Hilary Putnam und Robert Nozick teilen zwar eine Sprache und damit bestimmte Rationalitätsstandards, doch können die Eigenschaften gerechtfertigtPutnam und gerechtfertigt Nozick nicht bei allen Überzeugungen die gleichen sein. Ich glaube deshalb, dass die Angriffslinie Platon-Wittgenstein-Putnam erweitert bzw. korrigiert werden muss. Dann lautet das Argument gegen den Relativismus so: Die konsistente Relativist*in behauptet nicht, dass alles relativ ist, sie stellt aber die (metastufige) Behauptung auf, dass objektstufige (d.h. empirische oder moralische) Wahrheiten und Rechtfertigungen relativ sind. Wenn sie nun der Unterscheidung zwischen »recht haben« und »glauben, recht zu haben« Bedeutung beimessen will, um sich selbst als sprechendes und denkendes Wesen

47 | Putnam sagt selbst, dass egal wie unterschiedlich unsere Erkenntnisvorstellungen und Rationalitätsstandards auch sein mögen: Selbst mit der groteskesten Kultur, die wir zu interpretieren im Stande sind, teilen wir noch immer einen riesigen Grundstock an Überzeugungen (vgl. RTH, 119).

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zu verstehen, dann muss sie auch angeben können, in welcher Kultur und in welchem Begriffssystem die Eigenschaft gerechtfertigtRelativist*in eine bestimmte Überzeugung wahr macht. Das aber setzt wiederum voraus, dass sie diejenigen Kulturen, Begriffssysteme und Rationalitätsstandards, auf die sie sich in ihrer Argumentation bezieht, eindeutig identifizieren und voneinander abgrenzen kann (denn sonst würde es sich um den oben beschriebenen extremen, aber inkohärenten Relativismus handeln). Und das wiederum würde denjenigen objektiven Standpunkt voraussetzen, den die Relativist*in so beharrlich leugnet. Ich weiß nicht, ob dieses Argument in der Forschung schon einmal vorgetragen wurde aber ich glaube, es wäre im Sinne Putnams.48 Wie wir gleich noch sehen werden, kann man jedoch in vielerlei Hinsicht Relativist*in sein und versuchen, solche Schwierigkeiten zu umgehen. Das wiederum führt zu Putnams zweiten Einwand gegen den Relativismus und dem wichtigen Argument gegen die Inkommensurabilität. Dabei setzt er sich mit den wissenschaftstheoretischen Positionen von Paul Feyerabend (2010/1975) und Thomas Kuhn (2012/1962) auseinander, um daran anschließend den Relativismus hinsichtlich moralischer Überzeugungen zu kritisieren. Im wissenschaftstheoretischen Anarchismus Feyerabends wie auch im Strukturalismus Kuhns werden wissenschaftliche Objektivität und Rationalität (zunächst ganz im Sinne Putnams) nicht mehr als etwas ahistorisches oder akulturelles gesehen. Feyerabend und Kuhn weisen im Gegenteil darauf hin, dass positivistische (bzw. genauer: sowohl verifikationistische als auch falsifikationistische) Ansätze innerhalb der Wissenschaftstheorie den nicht-kumulativ/kontinuierlichen Fortschritt der Wissenschaft nicht plausibel deuten können. Allerdings machen sie geltend, dass in unterschiedlichen historischen Epochen und unterschiedlichen (Wissens-)Kulturen verschiedene Paradigmen der Rationalität hervorgebracht werden, sodass wissenschaftliche Wahrheit und Objektivität nur relativ zu den jeweiligen Paradigmen bestehen.49 Putnam greift nun die These

48 | Ich habe das Problem hier so ausführlich geschildert, da wir im Laufe der Arbeit erneut darauf stoßen werden: Die Existenz von Kulturen, Subkulturen, sozialen Milieus o.ä. kann nicht im Sinne des Metaphysischen Realismus wertfrei festgestellt werden, sie kann aber auch nicht bloß relativ sein. Das Problem ist m.E. nur rekonstruktionstheoretisch zu lösen (vgl. Kap. 3.5.1 und 4.2.1). 49 | Kuhns Verhältnis zu Fortschritt und Objektivität der Wissenschaft ist dabei ambivalent, da sich zwei verschiedene Argumentationsstrategien aus seinem Werk herauslesen lassen (vgl. Chalmers 2007, 101 ff.): Zum einen behauptet er, dass erst die Paradigmen einer wissenschaftlichen Gemeinschaft (d.h. die Meinungen, Werte, Methoden, bzw. die konkreten Problemlösungen, die als Beispiele und Vorbilder von einer wissenschaftlichen Gemeinschaft

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der Inkommensurabilität als zentraler präsuppositionslogischer Voraussetzung des wissenschaftstheoretischen Relativismus an: »I want to say that this thesis, like the logical positivist thesis about meaning and verification, is a self-refuting thesis. [...] The incommensurability thesis is the thesis that terms used in another culture, say, the term ›temperature‹ as used by a seventeenth-century scientist, cannot be equated in meaning or reference with any terms or expressions we possess. As Kuhn puts it, scientists with different paradigms inhabit ›different worlds‹. ›Electron‹ as used around 1900 referred to objects in one ›world‹; as used today it refers to objects in quite a different ›world‹. [...] The rejoinder this time is that if this thesis were really true then we could not translate other languages – or even past stages of our own language – at all. And if we cannot interpret organisms’ noises at all, then we have no grounds for regarding them as thinkers, speakers, or even persons. In short, if Feyerabend (and Kuhn at his most incommensurable) were right, then members of other cultures, including seventeenth-century scientists, would be conceptualizable by us only as animals producing responses to stimuli (including noises that curiously resemble English or Italian). To tell us that Galileo had ›incommensurable‹ notions and then to go on to describe them at length is totally incoherent.« (RTH, 114 f.)

Den Grund, weshalb so viele Leute die Inkommensurabilitätsthese so spannend finden, sieht Putnam – abgesehen von der Anziehungskraft, die ungereimte Ideen häufig haben – darin, dass sie »Begriff« (»concept«) und »Auffassung« (»conception«) verwechseln. Denn nur weil Wissenschaftler aus dem 17. Jahrhundert oder irgendjemand anders eine andere Auffassung von beispielsweise dem Begriff der Temperatur haben, bedeutet dies nicht, dass es unmöglich ist, den Begriff korrekt zu übersetzen (vgl. RTH, 116 f.). Durch die Kritik sowohl an Feyerabends Galileo-Beispiel und dessen radikalen Konzept von Inkommensurabilität als auch an Kuhns »inkommensurablen Stimmungen« zeigt er, »daß die Bedeutungsverschiebungen, die Grundbegriffe beim Übergang von einer Theorie zur anderen erfahren, die Möglichkeit der Übersetzung von einer Theorie in die andere nicht ausschließen« (Habermas 2002, 287). Putnams Absicht ist es

geteilt werden) die Kriterien rationaler Akzeptierbarkeit an die Hand geben, und dass es keinen neutralen Algorithmus zur Wahl wissenschaftlicher Theorien gibt. Zum anderen wehrt er sich im Postscriptum der zweiten Auflage von The Structure of Scientific Revolutions explizit gegen den Vorwurf, die Objektivität und den Fortschritt der Wissenschaft leugnen zu wollen: Kriterien, um bessere von schlechteren Theorien zu unterscheiden, seien etwa Werte wie Einfachheit, Anwendungsbreite und Verträglichkeit mit anderen Spezialgebieten (vgl. Kuhn 2012/1962, 173 ff.).

2. Wissen, Wahrheit und Rechtfertigung

jedoch nicht nur, den wissenschaftstheoretischen Relativismus zurückzuweisen. Vielmehr beansprucht er mit diesem Beispiel zu zeigen, dass jede konsistente Relativist*in, die ihre Argumente auf der These der Inkommensurabilität aufbaut, Andere nicht als sprechende und denkende Wesen wahrnehmen könnte (vgl. RTH, 124). Das Theorem der Inkommensurabilität, so das Argument, ist letztlich nicht haltbar, da es erstens ein konstitutives Faktum menschlicher Erfahrung ist, die Überzeugungen und Wünsche Anderer sinnvoll interpretieren zu können, sodass auch Praktiken der Rechtfertigung die Grenzen einzelner (wissenschaftlicher) Paradigmen überschreiten können (vgl. ebd., 117; Habermas 2002, 287). Zweitens können Begriffe wie Rationalität und Rechtfertigung nicht nur Bestandteile bestimmter Paradigmen sein, da sie vom Begriff des Paradigmas selbst präsupponiert werden. Denn Theorien lassen sich auch unabhängig ihres Paradigmas thematisieren: »It is important to recognize, as Kuhn came to do, that rationality and justification are presupposed by the activity of criticizing and inventing paradigms and are not themselves defined by any single paradigm. [...] What Kuhn is doing is allowing selected exceptions to his own doctrine of incommensurability. What he is saying is that, whereas we cannot equate either the meaning or the reference of the word electron as used by Bohr in 1900 with the meaning or the reference of the word used by Bohr in 1934, even if Bohr himself kept the same word, nevertheless we can equate the meaning and reference of reasonableness and justification, or at least partially equate them [...]. The ›Principle of Charity‹, which, in all its various forms, is designed to allow us to say that some terms keep their meaning and reference the same, or roughly the same across a body of theory change, is implicitly accepted by Kuhn in the case of the notions of justification and rationality but not in the case of other notions. This leads to a pervasive incoherence in Kuhn’s thought. If there is a nonparadigmatic notion of justification, then it must be possible to say certain things about theories independently of the paradigms to which they belong.« (RHF, 125 f.)

Dieses Argument scheint ziemlich plausibel und wir werden gleich sehen, dass es auch für die Moralphilosophie von großer Wichtigkeit ist. Putnam selbst sieht einen engen Zusammenhang zwischen seinen beiden Argumenten: Während das Argument in der Tradition von Platon und Wittgenstein zeige, dass die konsistente Relativist*in sich selbst nicht als sprechendes und denkendes Wesen begreifen kann, zeige das Argument gegen die Inkommensurabilität, dass sie Andere nicht als sprechende und denkende Wesen auffassen kann (vgl. RTH, 124). Allerdings hatte ich vorgeschlagen, das erste Argument etwas umzuformulieren, um seine Plausibilität zu erhalten. Die reformulierte Argumentation gegen den Relativismus (was den wissenschaftstheoretischen Relativismus mit einschließt) lautet dementsprechend: Die konsistente Relativist*in müsste erstens verschiedene

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Paradigmen, (Wissens-)Kulturen, Begriffssysteme und Rationalitätsstandards objektiv voneinander abgrenzen können und sie müsste die Inkommensurabilität dieser Paradigmen, (Wissens-)Kulturen, Begriffssysteme und Rationalitätsstandards behaupten. Beide Auffassungen sind jedoch widersprüchlich. Das Argument gegen die Inkommensurabilität ist auch ein wichtiger Bestandteil von Putnams anschließender Kritik am ethischen Relativismus. Wie bereits angedeutet, hat er sich zwar (relativ) ausführlich mit der Relativismusproblematik auseinandergesetzt, allerdings ohne dabei besonders differenzierte Relativismusbegriffe zu verwenden. Das macht die Rekonstruktion seiner Argumente nicht immer einfach, denn da es keinen einheitlichen philosophischen Sprachgebrauch gibt und keine methodische Abgrenzung zwischen ethischem und nicht-ethischem Relativismus, wird der Begriff mit unterschiedlichen Bedeutungen konnotiert (vgl. Wolf/Schaber 1998, 22). Um Putnams Argumentation besser einordnen zu können, muss aus diesem Grund zunächst etwas Vorarbeit geleistet werden, indem der Begriff des ethischen Relativismus weiter differenziert wird: Üblicherweise wird innerhalb der Moralphilosophie zwischen dem deskriptiven Relativismus, dem normativen Relativismus und dem metaethischen Relativismus unterschieden. Der deskriptive Relativismus behauptet, dass Individuen und Kulturen unterschiedlichen Moralvorstellungen anhängen, die mitunter nicht kompatibel sind – was empirisch gesehen schwer zu leugnen sein dürfte. Sowohl der normative Relativismus als auch der metaethische Relativismus übernehmen die Differenzthese (dass es unterschiedliche Moralvorstellungen gibt, die mitunter nicht zu vereinbaren sind) und die Dependenzthese (dass Moralvorstellungen Produkte soziokultureller Einflüsse sind) des deskriptiven Relativismus.50 Der normative Relativismus behauptet darauf aufbauend, dass sich jede Person nach den moralischen Normen eines Bezugssystems (Gesellschaft, Kultur etc.) zu richten hat bzw. dass die Normen verschiedener Bezugssysteme toleriert werden müssen. Dabei muss jedoch weiter spezifiziert werden, welches Bezugssystem jeweils gemeint ist. Vor allem in der angloamerikanischen Forschungslandschaft wird deshalb zwischen »appraiser-relativism« (alle sollten moralische Urteile aufgrund der Standards ihrer jeweils eigenen Kultur fällen) und »agent-relativism« (alle sollten in moralischen Urteilen nach den Standards ihrer jeweils eigenen Kultur bewertet werden) unterschieden (vgl. Gowans 2015). Im Gegensatz dazu stellt der metaethische Relativismus keine Behauptungen darüber auf, was zu tun richtig oder falsch ist. Allerdings muss auch hier weiter differenziert werden: So lässt sich der metaethische Relativismus einmal als Begründungsrelativismus, dann aber auch als Begriffsrelativismus verstehen. Der Begründungsre-

50 | Zur Unterscheidung und dem Verhältnis des deskriptiven, normativen und metaethischen Relativismus vgl. Ernst 2009b.

2. Wissen, Wahrheit und Rechtfertigung

lativismus behauptet, dass es keine Wahrheiten, Fakten und Erkenntnisse unabhängig von bereits getroffenen Annahmen und Entscheidungen gibt bzw. dass es keine zwingenden Gründe zur Annahme einer einzigen richtigen Moral gibt (vgl. Wolf/Schaber 1998, 27 ff.). Damit kann er zunächst nicht nur den vorfindbaren Pluralismus moralischer Überzeugungen plausibel machen (er muss zumindest prima facie nicht annehmen, dass sich einige Kulturen in ihren Ansichten täuschen, während andere Recht haben – vielmehr könnten alle gleichermaßen richtig liegen). Darüber hinaus kann sowohl das epistemologische als auch das ontologische Problem des moralischen Realismus elegant gelöst werden. Moralische Tatsachen wären nichts Seltsames, da sie sich nicht von anderen ethnologischen, soziologischen, psychologischen oder historischen Gegebenheiten unterscheiden. Ferner können sie durch Erziehung und Sozialisation erkannt werden (vgl. Ernst 2009c, 183 f.). Der Begründungsrelativismus hat jedoch das Problem zu erklären, inwiefern verschiedene moralische Ansichten gleichermaßen wahr sein können, da es sich bei den Ausssagen »x ist moralisch gut« und »x ist nicht moralisch gut« um widersprüchliche Aussagen handelt. Deshalb wird zusätzlich oft der Begriffsrelativismus angenommen. Dabei handelt es sich um die Auffassung, »[...] daß es mehrere inkommensurable Sprachspiele gibt, die unabhängige, nicht ineinander übersetzbare Moralen bilden« (Wolf/Schaber 1998, 35). Moralische Überzeugungen gibt es demnach nur in verschiedenen moralischen Systemen, die sich nicht überschneiden und die verschiedene Rationalitätsauffassungen zugrunde legen (vgl. ebd.). Wir hatten jedoch oben gesehen, dass die These der Inkommensurabilität nicht haltbar ist. In diesem Sinne wird auch in der gegenwärtigen Forschung darauf hingewiesen, dass der ethische Relativismus nur beim Begründungsrelativismus und damit bei der Frage ansetzen kann, wie verschiedene anerkannte Werte untereinander zu gewichten seien. Denn sonst ließen sich moralische Meinungsverschiedenheiten nicht als solche verständlich machen (vgl. Halbig 2009b, 105 f.). Christoph Halbig erklärt das an einem Beispiel: »Dass Autonomie und Schutz menschlichen Lebens moralische Werte darstellen, ist ihnen [den Begründungsrelativist*innen; FHvW] zufolge unstrittig und bildet die Voraussetzung dafür, die Meinungsverschiedenheit darüber, welchem von ihnen etwa im Fall der moralischen Bewertung von Abtreibung der Vorrang gebührt, überhaupt als genuin moralische zu verstehen. Auf dieser Basis jedoch können die Urteile ›Die Abtreibung ist moralisch verwerflich‹ wie auch ›Die Abtreibung ist moralisch nicht verwerflich‹ gleichermaßen wahr sein, je nachdem, ob der Autonomie oder dem Lebensschutz der Vorzug gegeben wird.« (Halbig 2009b, 106)

Putnam zeigt allerdings anhand des Beispiels der Kulturanthropologie, dass auch ein Begründungsrelativismus ohne Begriffsrelativismus unhaltbar ist: »Anthropologists have been preaching cultural relativism to us as long as there

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Das Problem moralischen Wissens have been anthropologists. [...] When an athropologist preaches relativism to us, normally he cites practices and beliefs of an exotic tribe which initially strike us as irrational or repulsive or both, and proceeds to show that these actually promote welfare and social cohesion. In short, he shows (to the extent that the example is a reasonable one) that what is considered wrong or irrational in our society may actually be reasonable and right in different natural and social circumstances. [...] The anthropologist’s examples (when they are good ones) show that right and wrong, for example, are relative to circumstances. His argument against cultural imperialism amounts to this: other cultures are not objective better and worse than ours (because there is no such thing as objective better and worse, according to him); therefore they are just as good as ours; therefore it is wrong to destroy them.« (RTH, 161)

Es handelt sich bei diesem Beispiel um die Behauptung eines (metaethischen) Begründungsrelativismus mit einer normativen Schlussfolgerung: Da es keine objektiven Standards der Bewertung gibt (metaethische Teilaussage), sind alle Kulturen gleich gut und alle in ihrer Lebensweise zu achten (normative Teilaussage). Allerdings basiert die Schlussfolgerung (»alle Kulturen sind zu achten«) auf einer Zusatzprämisse (»alle sind gleich gut«), die es nicht geben kann: »[W]hat follows from the non-existence of objective values cannot be that everything is (in the required sense) ›just as good‹ as anything else, but rather that there is no such thing as ›just as good as‹. If values really were arbitrary, then why should we not destroy whatever cultures we please?« (RTH, 161 f.)

Die Annahme, dass verschiedene Überzeugungen unterschiedlicher Kulturen gleich gut sind, setzt also ebenso sehr objektive Rationalitätsstandards voraus wie die Überzeugung, dass einige Kulturen besser sind als andere. Mit diesem Argument gegen den Begründungsrelativismus entfällt der vermeintliche Vorteil des metaethischen Relativismus, sich nicht auf objektive Werte festlegen zu müssen. Denn würden die in diesem Beispiel etwas diskreditierten Kulturanthropologen*innen versuchen, ihren Relativismus in Rückgriff auf die Inkommensurabilitätsthese zu retten, könnten sie andere Moralakteure nicht als solche wahrnehmen. Obwohl Putnam den Relativismus als Rationalitätsauffassung kritisiert, will er jedoch nicht vollständig auf einen relativen Sinn von Rationalität verzichten. Er zeigt dies am Beispiel von Rationalitätsauffassungen aus der Religionsgeschichte. Dabei deutet das Problem politischer Legitimität schon an, dass moralische und empirische Rationalitätsvorstellungen nicht getrennt voneinander betrachtet werden können. Dieser relative Sinn von Rationalität, so Putnam, kann jedoch nicht der einzige Sinn sein, da es sonst sinnlos wäre, für irgendeine beliebige Auffassung rational argumentieren zu wollen:

2. Wissen, Wahrheit und Rechtfertigung »The Jews accepted Moses as lawgiver and prophet because his doctrine filled real religious, cultural, and national needs; that is not the same thing as being convinced by rational argument. Later, prophets anointed Jewish kings (after trying to dissuade the Jews from having kings at all); that hardly proves that later Christian kings are divinely appointed. Christianity, which shared the Jewish bible, became the religion of the Roman Empire – hardly because the population of the Emperor had rational proof that Christianity was true. Roman emperors were then anointed (as Jewish Kings had been); that hardly proves that they were divinely appointed. Finally, after the assumptions of Christianity had been accepted, one could give ›rational arguments‹ for the Divine Rights of Kings from those assumptions. But to express this by saying that in the late Roman Empire or the Middle Ages, ›belief in the Divine Right of Kings was perfectly rational‹ is to debase the notion of rationality.« (RTH, 158)

Der Relativismus behauptet, dass es verschiedene Rationalitätsvorstellungen und Begründungsweisen (realistisch betrachtet) gibt. Und in der Tat stößt genau hier unser Verständnis dieser Position an seine Grenzen. Deshalb, so Putnam, muss es neben einem historisch-kulturell bedingten Sinn von Rationalität noch einen objektiven Sinn geben, der es uns erst ermöglicht, rational über Rationalität zu reden (vgl. RTH, 162). Wenn aber der Relativismus offenkundig so problematisch ist, wieso ist er dann für viele Philosoph*innen und Nicht-Philosoph*innen so attraktiv? Putnam sieht den Grund dafür einerseits in der Befürchtung vieler Menschen, dass das Zugeständnis moralischer Objektivität dazu führen würde, dass jemand anderes (etwa die Regierung) ihnen ihre Vorstellung von Objektivität aufzwingt. Doch die Opposition gegen jede Form von Autoritarismus sollte nicht in den Relativismus führen. Denn wenn es »Verkehrtheit« nicht gäbe, dann wäre es auch nicht verkehrt, falls die Regierung oder jemand anderes moralische Vorschriften macht (vgl. ebd., 159). Andererseits führt er die Beliebtheit seines philosophischen Lieblingsgegners auf den Aufstieg der exakten Wissenschaften zurück. Denn viele Philosoph*innen sind sich darüber einig, dass Newton mehr wusste als Aristoteles, während es keine plausiblen Gründe dafür zu geben scheint, dass Shakespeare ein besserer Dichter war als Homer. An diese Intuition anknüpfend besteht etwa Max Webers prima facie sehr einleuchtendes Argument gegen die Objektivität von Werturteilen darin, so Putnam, dass es nicht möglich ist, ihre Wahrheit zur Zufriedenheit aller möglichen rationalen Personen nachzuweisen (vgl. ebd., 174 ff.). Das Problem ist nur, dass es sich bei Webers Argument um ein verkapptes Mehrheitsargument handelt, demzufolge sich eine breite Zustimmung zur positiven Wissenschaft aber keine in Bezug auf Werturteile verzeichnen lässt. Das ist jedoch so nicht ganz richtig: Denn die meisten wissenschaftlichen Theorien dürften überhaupt nicht viel Zustimmung ernten, da sie so voraussetzungsreich sind, dass sie selbst von Fachkollegen*innen kaum verstanden werden (vgl.

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Das Problem moralischen Wissens

ebd., 177). Zwar mag es einige sehr subjektive Werturteile geben (wie etwa Jones Vorliebe für Vanilleeis und Smiths Vorliebe für Schokoladeneis), doch auch diese Vorlieben sind nicht völlig subjektiv. Sie erwecken jedoch nicht den Anschein von Objektivität, weil sie nicht zu Meinungsverschiedenheiten führen (vgl. ebd. 152 f.).51 Im Falle moralischer Meinungsverschiedenheiten hat sich sogar gezeigt, dass niemand konsistent nach dem Relativismus leben kann. So bestritten etwa die Nazis, dass das mutwillige Töten aufgrund rassischer Zugehörigkeiten falsch ist, doch weder sie noch ihre Gegner*innen interpretierten dieses Urteil relativistisch. Und wer glaubt, dass die Gleichberechtigung Homosexueller durch das Gesetz untersagt werden sollte, steht in heftigem Widerspruch zu denjenigen, die glauben, dass Homosexuelle die gleichen Rechte genießen sollten (vgl. ebd., 151 ff.). Doch die Relativist*in kann dazu nur sagen: »Es ist alles absurd, aber du mußt dich entscheiden.« (VWG, 203) Fassen wir also zusammen: Indem Putnam das Rationalitäts- und Objektivitätsverständnis des Metaphysischen Realismus bzw. des Logischen Positivismus mit seiner Nähe zum Nonkognitivismus durch das Argument aus der Begriffsrelativität in Frage stellt, wird auch die Möglichkeit einer rationalen Beantwortung ethischer Fragen rehabilitiert: Es gibt keine wissenschaftliche Methode und keine Algorithmen zur Wahl wissenschaftlicher Theorien. Dementsprechend ist die Befürchtung, dass moralische Überzeugungen besonders problematisch seien, da sie nicht mit denselben Mitteln der exakten Wissenschaften gelöst werden

51 |  Dass auch bei vermeintlichen Geschmacksurteilen Mehrheitsverhältnisse nicht ausschlaggebend sein können, zeigt Putnam an Jeremy Benthams provozierender Feststellung »Vorurteil beiseite, Floh-Hüpfen ist so gut wie Poesie« (»Prejudice aside, the game of pushpin is of equal value with the arts and sciences of music and of poetry«): Nach Benthams Utilitarismus sind Künste, Wissenschaft, Musik oder Poesie nur deshalb wertvoller als das kindliche Spiel des Floh-Hüpfens, weil eine große Mehrheit an Menschen daraus (offenbar grundlos) einen größeren Nutzen zieht. Dagegen wendet Putnam zunächst ein, dass utilitaristische Grundbegriffe wie Befriedigung, Nutzen oder Wohlergehen keine Zwecke von Wesen sein können, die keine sonstigen Zwecke haben, da die entsprechenden Begriffe sonst sinnlos wären. Indem Bentham Werturteile als »willkürliche Vorurteile« abstempelt, suggeriert er ferner, dass die Befriedigung der Mehrheit der einzige Grund ist, der nicht willkürlich ist: Sie wird somit im Rahmen einer Wertvorentscheidung als »ontologisch legitim« angesehen, andere Gründe, die dafür sprechen, die Poesie dem Floh-Hüpfen vorzuziehen, wie etwa ein umfassenderes Empfindungsvermögen, das Spenden von Trost, das Erlernen eines erweiterten Repertoires an Metaphern und Modi des Ausdrucks oder die Möglichkeit zu kreativer und intellektueller Selbstverwirklichung, werden dagegen als »ontologisch illegitim« diskreditiert (vgl. RTH, 151 f., 214 f.).

2. Wissen, Wahrheit und Rechtfertigung

können, gegenstandslos. Trotzdem zeigen seine Argumente, dass sich weder in der Ethik noch in den exakten Wissenschaften Wissensansprüche vollständig relativieren lassen. Gleichzeitig weist Putnam jedoch auf ihre Fallibilität hin, da sich Rationalitätsvorstellungen historisch und kulturell unterscheiden und wandeln. Hier wird bereits die Spannung deutlich, mit der der Interne Realismus konfrontiert ist: Inwiefern sind Objektivität und Fallibilität miteinander vereinbar? Putnam sucht eine Lösung für das Problem, indem er sich gegen die weit verbreitete Dichotomie von Fakten und Werten wendet. Damit zusammenhängend will er zeigen, wie das Verhältnis von Wahrheit und Rechtfertigung angemessen verstanden werden kann, wenn beide Begriffe nicht einfach gleichgesetzt werden können.

2.3 Ein

inkonsequenter

Paradigmenwechsel

Wie wir gesehen hatten, macht Putnam darauf aufmerksam, dass Sprache und Realität auf undurchdringliche Weise miteinander verwoben sind. Da wir die Realität nicht anders als durch unsere Sprache und Begriffe erfassen können, ist die Vorstellung sinnlos, dass wir Sätze und Tatsachen miteinander vergleichen um festzustellen, ob sie miteinander korrespondieren oder zueinander passen (vgl. Habermas 2002, 283 f.). Die Einsicht, dass die Sprache erst den Zugang zur Realität ermöglicht, führt zu einem »Pragmatismus aus Kantischem Geist«. Denn Putnam nimmt Kants transzendentalen Gedanken in linguistischer Fassung auf, um ihm eine realistische Wendung zu geben (vgl. ebd., 280). Zwar lässt er für den Gedanken von einem Ding an sich keinen Platz, so Jürgen Habermas, doch hält er an der realistischen Grundannahme fest, dass sich alle sprach- und handlungsfähigen Subjekte auf ein und dieselbe Welt beziehen: »›[R]ealism‹ is understood simply as the idea that thought and language can represent parts of the world which are not parts of thought and language [...].« (WL, 299) Wie bereits in der Auseinandersetzung mit dem Logischen Positivismus bzw. Metaphysischen Realismus und dem Relativismus angedeutet wurde, schließen die Fragen der praktischen Philosophie nun nahtlos an die Untersuchungen zur theoretischen Philosophie an (vgl. Habermas 2002, 289). Das Hauptproblem einer adäquaten Theoriebildung sieht Putnam dabei in der bereits angesprochenen Dichotomie von Fakten und Werten, die er eine »kulturelle Institution« nennt (vgl. RTH, 127). Um einen adäquaten Begriff von Rationalität zu entwickeln, der nicht den Aporien des Metaphysischen Realismus und des Relativismus erliegt, geht er in zwei Schritten vor: Zunächst wendet er sich gegen die Dichotomie, indem er zeigt, dass die Unterscheidung von Tatsachenaussagen und Wertaussagen hoffnungslos verschwommen ist. Dabei behauptet Putnam i.), dass Tatsachenaussagen Werte voraussetzen, sodass einige Werte als Kriterien der rationalen Akzeptierbarkeit fungieren und objektiv sein müssen. Daneben macht er ii.) in

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Das Problem moralischen Wissens

Anschluss an Iris Murdoch, Bernard Williams und John McDowell geltend, dass es nicht (immer) möglich ist, zwischen evaluativen und deskriptiven Bedeutungskomponenten von Begriffen zu unterscheiden, sodass es ebenfalls nicht immer möglich ist, sich hinsichtlich von Fakten einig und hinsichtlich von Werten uneinig zu sein. Darauf aufbauend konzeptualisiert er iii.) den Wissensbegriff des Internen Realismus. Im Folgenden werden diese Argumentationsschritte der Reihe nach vorgestellt. Vor diesem Hintergrund kann nochmal deutlich gezeigt werden, warum es sich bei dem propositionalen Wissensbegriff und der Dichotomie von Fakten und Werten um Dogmen der Moralphilosophie handelt und wie sie miteinander zusammenhängen. 2.3.1 Einige Werte sind objektiv Putnams erstes Argument gegen die Dichotomie von Fakten und Werten besagt, dass einige Werte objektiv sein müssen, da sie die Kriterien rationaler Akzeptierbarkeit und damit die Bedingung der Möglichkeit der Erkenntnis sind. Somit müssen sie als Eigenschaften von Tatsachen und Theorien gedeutet werden – und nicht bloß als subjektive Ausdrücke von Gefühlen. Er zeigt dies anhand eines Gedankenexperiments, bei dem eine große Anzahl von Menschen ein in sich geschlossenes Überzeugungssystem haben, das dem unsrigen widerspricht (vgl. RTH, 130 ff.): Stellen wir uns vor, die Australier*innen hätten ein wissenschaftliches Weltbild, das mit unserem zwar fast identisch ist, insofern sie mit uns dieselben wissenschaftlichen Voraussagen und technischen Errungenschaften teilen. Daneben haben sie jedoch die Überzeugung, dass wir alle »Gehirne im Tank« sind und unsere Welt eine kollektive Halluzination ist, die von einem bösen Superwissenschaftler kontrolliert wird. Wir nehmen ferner an, die Australier*innen glauben an diese verrückte Vorstellung, weil sie alle Jünger des Gurus von Sidney sind. Immer wenn man von ihnen eine rationale Begründung für ihr seltsames Weltbild fordert, würden sie auf die Lehre des Gurus von Sidney verweisen. Und würde man sie fragen, woher der Guru von Sidney von der Täuschung weiß (wo sie doch so perfekt ist), würden sie antworten: »Der Guru von Sidney weiß es eben.« Das Problem besteht hier analog zum Relativismus: Wie ist es möglich, sich argumentativ mit den Australier*innen auseinanderzusetzen, ohne sich nur zu beschimpfen? Schließlich verstößt ihr Weltbild weder gegen unsere Wahrnehmung noch gegen anerkannte physikalische Gesetze. Wir müssten entsprechend auf bestimmte Rationalitätskriterien verweisen, wie etwa Inkohärenz (der Guru von Sidney hat schließlich gemäß seiner eigenen Überzeugung (nach der wir alle Gehirne im Tank sind) keine Möglichkeit zu wissen, dass seine Überzeugung (dass wir alle Gehirne im Tank sind) wahr ist), Komplettheit (die Theorie sagt nichts zum Verhältnis von Naturgesetzen innerhalb und außerhalb des Tanks) oder funktionale Einfachheit (da die Australier*innen Dinge außerhalb des Tanks postulieren, die für ihre Erfahrung keine Rolle spielen, würde ihre Theorie gegen Ockhams Rasiermesser verstoßen).

2. Wissen, Wahrheit und Rechtfertigung

Für Putnam bedeutet dies, dass die rationale Akzeptierbarkeit einer wissenschaftlichen Theorie von bestimmten Werten abhängt: »I’ve been arguing that if we take the values to which we appeal in our criticism of the Brain-in-a-Vatists, and add, of course, other values which are not at issue in this case, e.g. our desire for instrumental efficacy, which we presumably share with the Brain-in-a-Vatists, then we get a picture of science as presupposing a rich system of values. The fact is that, if we consider the ideal of rational acceptability which is revealed by looking at what theories scientists and ordinary people consider rational to accept, then we see that what we are trying to do in science is to construct a representation of the world which has the characteristics of being instrumentally efficacious, coherent, comprehensive, and functionally simple. But why? I would answer that the reason we want this sort of representation, and not the ›sick‹ sort of notional world possessed by the Australians, possessed by the Brain-in-a-Vatists, is that having this sort of representation system is part of our idea of human cognitive flourishing, and hence part of our idea of total human flourishing, of Eudaemonia.« (RTH, 133 f.)

Auf Putnams Hinweis auf den Begriff der εύδαιμονία und das »menschliche Gedeihen« werde ich etwas später nochmal zu sprechen kommen. Zunächst geht es hier darum, dass Begriffe wie gerechtfertigt, kohärent oder konsistent als epistemologische Werteigenschaften von Theorien fungieren und nicht als Eigenschaften, die wir wertschätzen. Denn ähnlich wie die moralischen Eigenschaften nett, ehrlich oder mutig verwenden wir sie als lobende Ausdrücke (»terms of praise«) oder als handlungsleitende Ausdrücke (»action guiding terms«; vgl. RHF, 138; RTH, 136): »[T]o describe a theory as ›coherent, simple and explanatory‹ is, in the right setting, to say that acceptance of the theory is justified; and not to say that acceptance of a statement is (completely) justified is to say that one ought to accept the statement or theory.« (RHF, 138)

Würde es sich lediglich um subjektive Einstellungen einiger Leute gegenüber Theorien handeln, müsste die rationale Akzeptierbarkeit oder Rechtfertigung objektiver sein, als die Kriterien von denen sie abhängen – und das wäre widersprüchlich, wie die Diskussion des Relativismus gezeigt hat. Nicht alle, aber zumindest diese Werte (und einige mehr), so Putnam, müssen objektiv sein. Denn die empirische Welt der Tatsachen hängt von unseren Theorien, und damit von unseren Werten ab, und umgekehrt (vgl. RTH, 134 f.).52 Wenn sich also die Wissenschaft (die ge-

52 | Neben den epistemologischen Werten zur Theoriewahl (Einfachheit,

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meinhin als Vorbild objektiver Erkenntnis gilt) von Wertorientierungen leiten lässt, ohne ihren Anspruch auf Objektivität zu verlieren, so das Argument, wieso sollten dann Werte in »anderen Sphären« als der Wissenschaft weniger objektiv sein? Zu Recht lässt sich in Anschluss an Putnam fragen, warum wir uns über das Menschenopfer der Azteken enthalten sollten, während wir ihren Mythos für falsch halten dürfen (vgl. Habermas 2002, 296). »Mathematics and physics, as well as ethics and history and politics, show our conceptual choices: the world is not going to impose one single language upon us, no matter what we choose to talk about.« (RHF, 171)

Und weiter: »There are ›ought-implying facts‹ in the realm of belief fixation; that is an excellent reason not to accept the view that there cannot be ›oughtimplying facts‹ anywhere.« (WL, 170)

Auf diese Weise befreit sich Putnam zunächst von einem szientistisch verengten Rationalitätsbegriff (vgl. Habermas 2002, 289). Denn der Metaphysische Realismus und der Relativismus sind keine schlichten Gegensätze. Vielmehr neigen wir laut Putnam dazu, in Bezug auf die Wissenschaft zu realistisch und in Bezug auf die Ethik zu relativistisch zu sein, und beide Tendenzen hängen miteinander zusammen: Denn erst weil wir etwa die Physik (oder eine hypothetische Physik der Zukunft) als eine wahre Beschreibung der Welt ansehen und nicht als eine rational akzeptierbare Beschreibung, die für bestimmte Zwecke und Probleme geeignet ist, neigen wir in Bereichen, die nicht der Physik (oder einer anderen empirischen Wissenschaft) zuzuordnen sind, zum Relativismus (vgl. RTH, 143). Durch den Hinweis auf die Wertgebundenheit der Wissenschaft wird der Gegensatz von empirischem und moralischem Wissen jedoch nur entdramatisiert (vgl. Habermas 2002, 294). Schließlich könnte man weiter argumentieren und behaupten, dass wissenschaftliche Werte eben keine moralischen Werte sind, sodass die Objektivität wissenschaftlicher Theorien mit der Objektivität ethischer Theorien nichts zu tun hat. Allerdings, so

Eleganz, instrumentelle Leistungsfähigkeit etc.) fließen darüber hinaus auch Wertvorentscheidungen in wissenschaftliche Untersuchungen ein, wie etwa die Modellierung der Problemstellung, die Auswahl und den Umgang mit Indikatoren für das Vorliegen von Sachverhalten, die Architektur von Simulationen und Szenarien etc. Aus diesem Grund ist die Wissenschaft nicht wertfrei, sondern wertneutral in dem Sinn, dass keine Einmischung, Fraktionsergreifung oder Begünstigung innerhalb des Systems stattfindet (vgl. Hubig 2007a, 61 ff.).

2. Wissen, Wahrheit und Rechtfertigung

Putnams zweites Argument, ist es nicht immer möglich, sich hinsichtlich von Tatsachenaussagen einig und hinsichtlich von Wertaussagen uneinig zu sein. 2.3.2 Die Dichotomie löst sich auf Um das zu zeigen, stützt er sich in Ausgang von Iris Murdoch (1970) auf die prominent gewordene Unterscheidung zwischen dichten ethischen Begriffen und dünnen ethischen Begriffen: »Murdoch was the first to emphasize that languages have two very different sorts of ethical concepts (Williams calls them ›thin‹ ethical concepts), such as ›good‹ and ›right‹, and more descriptive, less abstract concepts (Williams calls them ›thick‹ ethical concepts) such as, for example, cruel, pert, inconsiderate, chaste. Murdoch (and later, and in a more spelled-out way, McDowell) argued that there is no way of saying what the ›descriptive component‹ of the meaning of a word like cruel or inconsiderate is without using a word of the same kind.« (RHF, 166)

Der Argumentation Iris Murdochs, Bernard Williams und John McDowells folgend wendet sich Putnam gegen die weit verbreitete Auffassung in der analytischen Philosophie, dass man eindeutig zwischen einem deskriptiven und einem evaluativen Vokabular bzw. zwischen deskriptiven und evaluativen Bedeutungskomponenten eines Begriffs unterscheiden kann. Damit weist er die nicht nur unter Philosoph*innen weit verbreitete Auffassung zurück, dass es zwei Arten von Aussagen gibt (präskriptive und deskriptive), denen zwei getrennte Bereiche von Entitäten entsprechen (subjektive Werte »in unseren Köpfen« und objektive Fakten »in der Welt«). Gleichzeitig greift er auch die grundlegende These des Nonkognitivismus an, dass Beschreibungen nicht auf Bewertungen festlegen würden bzw. dass Kognitivität ein Privileg rein deskriptiver Aussagen wäre (vgl. Czaniera 2001, 194): »The attempt of non-cognitivists to split such words into a ›descriptive meaning component‹ and a ›prescriptive meaning component‹ founders on the impossibility of saying what the ›descriptive meaning‹ of, say, cruel is without using the word cruel itself, or a synonym.« (RHF, 166)

An einem Beispiel Putnams lässt sich dieses Argument gut verdeutlichen: Bei den Adjektiven »besonnen« und »unbesonnen« handelt es sich um dichte ethische Begriffe (»thick ethical concepts«), da man sie sowohl dazu gebrauchen kann, um jemanden zu bewerten, als auch dazu, jemanden zu beschreiben. Nonkognitivist*innen behaupten dabei, dass Beschreibung und Bewertung nicht miteinander zusammenhängen würden:

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Das Problem moralischen Wissens »Wenn eine Person x als besonnen bezeichnet wird, werden x bestimmte Eigenschaften zugesprochen. Man kann x aber auch als besonnen bezeichnen, um x damit in irgendeiner Weise zu empfehlen. In welchem Sinn fließen hier Kognitivität und Normativität zusammen? Wenn ich x als besonnen bezeichne, um x zu beschreiben, tue ich offenbar etwas anderes, als ihn zu empfehlen. Ich bewege mich also auf einer zwar kognitiven, aber rein deskriptiven Ebene. Nun kann ich die empfehlende Komponente hinzufügen. Füge ich damit der Beschreibung etwas hinzu? Offenbar nicht. In der Empfehlung charakterisiere ich x nicht weiter, sondern gebe meiner positiven Haltung zu Menschen Ausdruck, die die Eigenschaften haben, die eine Besonnenheits-Prädikation ihnen zuschreibt. Somit ist es zwar der Fall, daß Ausdrücke mit kognitivem Gehalt normativ verwendet werden können – über einen Verbund der Normativität mit diesem kognitiven Gehalt sagt das jedoch nichts. Wenn eine Besonnenheits-Prädikation normative Wirkung entfaltet, tut sie dies aufgrund bestimmter Präferenzen, die jemand für oder gegen Besonnenheit hegt, aber nicht allein aufgrund der Eigenschaften, die die Besonnenheits-Prädikation zuschreibt.« (Czaniera 2001, 214)

Im Sinne des Nonkognitivismus wäre das deskriptive Urteil »John ist besonnen« wahr oder falsch (je nach dem, was in der Welt der Fall ist), und das evaluative Urteil »John ist besonnen« (bei dem zur Beschreibung noch die Präferenz hinzukommt) wäre nicht wahrheitsfähig. Und zunächst einmal ist es auch ganz richtig, dass das Urteil »John ist besonnen« in verschiedenen Kontexten sowohl dazu gebraucht wird, um John zu loben, als auch, ihn zu beschreiben. Das bedeutet aber nicht, dass der Begriff der Besonnenheit keine Bewertung implizieren würde oder implizieren könnte. Nehmen wir die drei Urteile »John ist ein unbesonnener Mensch«, »John denkt nur an sich selbst« und »Für Geld würde John alles tun«. Wer auch immer diese prima facie deskriptiven Behauptungen aufstellt, wird sich auch auf das evaluative Urteil festlegen, dass John kein sonderlich guter Mensch ist. Bei der Verwendung eines Begriffs in Urteilen kann man zwar sehr wohl zwischen evaluativen und deskriptiven Kontexten Unterscheiden. Das ist aber keine Unterscheidung die sich allein anhand des Vokabulars ergibt (das Urteil »Für Geld würde John alles tun« enthält nicht einmal einen Wertausdruck; vgl. RTH, 138 f.).53 Entsprechend ist es auch nicht möglich,

53 | Beispielsweise, so Putnam, werden Teufel in der Hölle oft so vorgestellt, als würden sie den Ausdruck »gut« im negativen Sinn verwenden (»Er hat eine beklagenswerte Neigung zum moralisch Guten!«). Und in eben diesem Sinne könnte man die Berufung auf die Moral sogar ganz ablehnen: »Ich habe es nicht darauf abgesehen, ein guter Mensch zu sein.« (VWG, 276 f.) Warum es für eine Theorie der Moral kein Problem sein muss, wenn jemand es nicht gut findet, ein guter Mensch zu sein, werden wir in Kap. 3.5.2 klären.

2. Wissen, Wahrheit und Rechtfertigung

die Besonnenheits-Prädikation ganz ohne eine Bewertung zu gebrauchen. Zwar kann man »John ist besonnen« synonym durch »John trifft seine Entscheidungen wohlüberlegt« übersetzen, doch bleibt die positive Bewertung erhalten (»wohlüberlegt«). Es wäre völlig absurd, einem eindeutig positiv konnotierten Begriff eine negative Präferenz entgegenzubringen (»John ist besonnen, aber das ist eine schlechte Eigenschaft«). Erst durch den Gebrauch anderer Begriffe könnte man die Bewertung ändern, dann aber auch die Bedeutung (etwa: »John überlegt sehr lange, um seine Entscheidungen zu treffen«). Folglich ist eine Beschreibung immer auch eine Bewertung, sodass die Unterscheidung von deskriptiven und evaluativen Aussagen nicht mit der Unterscheidung zwischen Aussagen mit und ohne Wahrheitswert zusammenfallen kann. Ich werde auf dieses Argument gegen den Nonkognitivismus im Kontext von John McDowells Auseinandersetzung mit der Dichotomie von Fakten und Werten noch detaillierter zu sprechen kommen (vgl. Kap. 3.3.1). Wichtig ist hier zunächst Bernard Williams maßgebliche Differenzierung zwischen den sogenannten dichten und dünnen ethischen Begriffen. Denn Sprachtheoretiker*innen, so Williams, haben die Unterscheidung zwischen Fakten und Werten nicht in der Sprache vorgefunden, sondern an sie herangetragen: »What they have found are a lot of those ›thicker‹ or more specific ethical notions I have already referred to, such as treachery and promise and brutality and courage, which seem to express a union of fact and value. The way these notions are applied is determined by what the world is like (for instance, by how someone has behaved), and yet, at the same time, their application usually involves a certain valuation of the situation, of persons and actions. Moreover, they usually (though not necessarily directly) provide reasons for action.« (Williams 2011/1985, 143 f.)

Begriffe wie Feigheit, Lüge, Brutalität oder Dankbarkeit sind also einerseits durch die Welt bestimmt (»world-guiding«) und geben andererseits Handlungsgründe (»action-guiding«; vgl. Williams 2011/1985, 155 f.). Oder kurz: Dichte ethische Begriffe sind solche, die sowohl beschreiben als auch bewerten. Im Gegensatz dazu wird angenommen, dass dünne ethische Begriffe wie gut, schlecht, richtig oder falsch keine deskriptive Bedeutungskomponente haben und bewerten, ohne zu beschreiben.54 Das wiederum bedeutet, dass sich besonders im dichten ethischen Vokabular einer Kultur Bestandteile ihres praktischen Wissens niederschlagen (vgl. Habermas 2002, 292 f.) – womit der Wissensbegriff allerdings noch nicht geklärt ist.

54 | Wir werden in Kap. 3.5.2 noch sehen, dass die Unterscheidung zwischen dichten und dünnen ethischen Begriffen anhand ihres deskriptiven Gehalts problematisch ist.

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Williams selbst meint etwa, dass erst die korrekte Verwendung eines Begriffs innerhalb einer Sprache verbürgt, dass jemand über moralisches Wissen verfügt, da es offensichtlich in verschiedenen Gesellschaften und historischen Epochen kein homogenes Vokabular dichter ethischer Begriffe gibt. Die praktischen Urteile einer bestimmten Sprache oder Kultur würden dementsprechend nicht dieselben sein wie die Urteile aus einer anderen Sprache oder Kultur, in denen entsprechend andere dichte oder dünne ethische Begriffe benutzt werden (vgl. ders. 1996, 28 ff.).55 Wie Putnam bemerkt, stützen sich diese Überlegungen jedoch (implizit) auf das Theorem der Inkommensurabilität und damit auf die Annahme, dass der Gebrauch dichter und dünner ethischer Begriffe vollkommen unabhängig voneinander geschehen kann. Dagegen macht er geltend, dass die von Williams angenommene Relativität nur im Falle von vollkommen ahistorischen Gesellschaften zutreffen könnte, deren Begriffe wir überhaupt nicht kennen (und die wir dementsprechend nicht als sprechende und denkende Wesen wahrnehmen könnten). Ferner würden dünne ethische Begriffe wie richtig oder sollen in allen Sprachen dieselbe grammatische Rolle spielen und damit Urteile über fremde Kulturen ermöglichen (vgl. WL, 188 ff.; Habermas 2002, 296). So verfügte zwar ein mittelalterlicher Samurai, der den Zen-Buddhismus und die Schriften Konfuzius studiert hat, nicht über dieselben dichten ethischen Begriffe wie wir, wohl aber über ein abstraktes Vokabular, um die universalistischen Ansprüche seiner Philosophie geltend zu machen. Und auch wenn wir keine exakten Synonyme für seine Begriffe haben, sind sie doch interpretierbar (vgl. WL, 190 f.). Daher ist, wie Jürgen Habermas zu Recht konstatiert, der Hinweis auf die Einheit von Beschreibung und Bewertung im Falle der dichten ethischen Begriffe für Putnam – im Gegensatz zu Williams – ein stichhaltiger Grund für denselben realistischen Geltungssinn von empirischen und evaluativen Urteilen (vgl. ders. 2002, 299).56 Diese Kontinuität zwischen deskriptiven und evaluati-

55 | Vor diesem Problem stehen Bernard Williams zufolge auch die gegenwärtigen Moraltheorien: So würden der Kantianismus und der Utilitarismus bei den dünnen ethischen Begriffen ansetzen, ohne ihre objektive Verwendung klären zu können. Neoaristoteliker*innen hingegen würden primär von den dichten ethischen Begriffen ausgehen, jedoch daran scheitern, dass es keine homogene Sprache der Moral gibt (vgl. ders. 1996, 31 ff.). 56 | Putnam wehrt sich dabei jedoch in der Auseinandersetzung mit Habermas gegen den Vorwurf, empirische Aussagen und evaluative Aussagen »in einen Topf« zu werfen. Vielmehr macht er geltend, dass es sich bei empirischen Aussagen nicht um eine homogene Gruppe handelt, da es verschiedene Arten des Übereinstimmens und viele Methoden der Projektion gibt. Empirische Aussagen, so Putnam, beziehen sich auf Dinge oder Ereignisse. In Sätzen wie »Katzen fangen Mäuse«, »Wasser ist H2O« oder »Mary liebt John« meint

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ven Aussagen und zwischen theoretischem und praktischem Wissen erläutert er genauer, indem er sein berühmtes Beispiel der Gehirne-im-Tank-Leute weiter modifiziert: »This time let us imagine that the continent of Australia is peopled by a culture which agrees with us in history, geography and exact science, but not in ethics. I don’t want to take the usual case of super-Nazis or something like that kind, but I want to take rather the more interesting case of super-Benthamites. Let us imagine that the continent of Australia is peopled with people who have some elaborate scientific measure of what they take to be ›hedonic tone‹, and who believe that one should always act so as to maximize hedonic tone (taking that to mean the greatest hedonic tone of the greatest number). I will assume that the superBenthamites are extremely sophisticated, aware of all the diffculties of predicting the future and exactly estimating the consequences of actions and so forth. I will also assume that they are extremely ruthless, and that while they would not cause someone suffering for the sake of the greatest happiness of the greatest number if there were reasonable doubt that in fact the consequence ot their action would be to bring about the greatest happiness of the greatest number, that in cases where one knows with certainty what the consequences of the actions would be, they would be willing to perform the most horrible actions – willing to torture small children or to condemn people for crimes which they did not commit – if the result of these actions would be to increase the general satisfaction level in the long run (after due allowance for the suffering of the innocent victim in each case) by positive ε, however small. I imagine that we would not feel very happy about this sort of super-Benthamite morality. Most of us would condemn the super-Benthamites as having a sick system of values, as being bureaucratic, as being ruthless, etc. They are the ›new man‹ in his most horrible manifestation. And they would return our invective by saying that we are soft-headed, superstitious, prisoners of irrational tradition, etc. The disagreement between us and the super-Benthamites is just the sort of disagreement that is ordinarily imagined in order to make the point that two groups of people might agree on all the facts and still disagree about the ›values‹.« (RTH, 139 f.)

Die Tatsache der Super-Benthamianer, dass etwa Unaufrichtigkeit nicht notwendigerweise als Übel anzusehen ist (wenn es der Hedonikstärke [»hedonic tone«] dient), würde jedoch dazu führen, so Putnam, dass der Begriff »aufrichtig« anders gebraucht würde als bei uns. Und dasselbe wäre auch mit allen anderen Begriffen wie »besonnen« oder guter Bürger der Fall. Die Super-Benthamianer

»Bezug nehmen auf« aber nicht ein und dieselbe Relation zwischen Aussage und Ding bzw. Ereignis (vgl. Putnam 2002, 310 ff.).

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würden unseren Wortschatz nach und nach abwandeln und für ihre Bedürfnisse verfeinern: »The texture of the human world will begin to change. In the course of time the super-Benthamites and we will end up living in different human worlds. In short, it will not be the case that we and the super-Benthamites ›agree on the facts and disagree about values‹.« (RTH, 141)

Die Auflösung der Dichotomie von Fakten und Werten umfasst damit zwei eng miteinander zusammenhängende Aspekte: Erstens macht Putnam, wie oben in Kap. 2.3.1 gezeigt, geltend, dass empirisches Wissen von Werten abhängig ist. Das betrifft auch Wahrnehmungswissen und einen so trivialen Satz wie »Die Katze ist auf der Matte« (den nicht nur die meisten Philosoph*innen für rein empirisch halten würden). Denn er benutzt begriffliche Mittel, die den Wertschätzungen einer Wissenskultur entsprechen, wie der Unterscheidung zwischen Lebewesen und Nicht-Lebewesen, Tier und Nicht-Tier oder dem Interesse an räumlichen Verhältnissen (vgl. RTH, 201). Darüber hinaus zeigt er nun zweitens, dass auch umgekehrt moralisches Wissen von Beschreibungen abhängig ist: Denn die kranke Art der Super-Benthamianer, die Welt zu bewerten, hängt mit ihrer unzulänglichen Art und Weise zusammen, sie zu beschreiben. Auch wenn wir also unsere Meinungsverschiedenheiten über Werte beiseite ließen, könnten wir ihre Gesamtrepräsentation der Menschenwelt (»total representation of the human world«) nicht als völlig rational akzeptieren (vgl. ebd., 141): »In short, I am saying that the ›real world‹ depends upon our values (and, again, vice versa).« (Ebd., 134 f.) Putnam wendet sich mit diesen Argumenten gegen die weit verbreitete Vorstellung, dass die Vernunft den Geist mit neutralen Fakten versieht, auf deren Grundlage der Wille eine willkürliche Entscheidung treffen muss (die Auswahl der Werte müsste willkürlich sein, da die Fakten ja per definitionem neutral sind; vgl. ebd., 154).57 Seine Ausführung über das Verhältnis von evaluativen und deskriptiven Aussagen und von moralischem und empirischem Wissen bleiben

57 | In diesem Sinne ist es also falsch, sich die Ethik unabhängig von jedweder Empirie als umgekehrte Pyramide vorzustellen, an deren Spitze (die selbst keine Stütze hat) ethische Axiome stehen (vgl. RTH, 141). Eine letztbegründende Ethik wäre im Übrigen auch völlig wirkungslos, wie Andreas Luckner geltend macht: »Selbst wenn man [...] ein unumstößliches deduktives System der Ethik hätte, – Wunschtraum vieler praktischer Philosophen bis heute – würde dies in Bezug auf die Selbstorientierung der Menschen zunächst keinen Effekt haben können, solange sie es nicht für ihre Handlungsleitung anerkennen.« (Ders. 2005, 24)

2. Wissen, Wahrheit und Rechtfertigung

zwar oft vage, aber anhand des Beispiels der Super-Benthamianer beansprucht er zu zeigen, dass empirische und moralische Urteile und Tatsachen prinzipiell identisch sind.58 Damit verschiebt sich das Problem moralischen Wissens von der Frage, wie ein vermeintlich rein deskriptives Vokabular mit einem evaluativen Vokabular synthetisiert werden kann hin zu der Frage, wie es möglich ist, die jeweiligen dichten und dünnen ethischen Begriffe richtig zu verwenden. Denn dichte ethische Begriffe wie besonnen, keusch oder grausam dienen in allen Wissenskulturen und Sprachen dazu, Handlungsweisen und Zustände sowohl zu beschreiben als auch zu bewerten. Und trotzdem fühlen wir uns manchmal berechtigt, gegen ihren unterschiedlichen Gebrauch Einspruch zu erheben. So wird etwa nicht in allen Kulturen die Zwangsheirat als grausam angesehen. Und selbst innerhalb derselben Kultur sind nicht immer alle Beobachter*innen dazu bereit, denselben Personen Besonnenheit zu attestieren. Ganz ähnlich verhält es sich mit dem Urteil »John lebt keusch«. Dabei ist nicht nur fraglich, welche Handlungen genau als keusch anzusehen sind, sondern auch inwiefern sie positiv oder negativ bewertet werden. Denn während Keuschheit in einer sehr frivolen Kultur oder Subkultur als Schimpfwort gelten mag, könnte der Begriff in derselben Sprache innerhalb einer anderen Kultur oder Subkultur als Lob gebraucht werden.59 Wie also ist es möglich, zwischen den richtigen und objektiven Werturteilen, die auf rationalen Gründen basieren und den subjektiven und falschen Werturteilen aufgrund von irrationalen Gründen – wie etwa aggressiven Impulsen oder narzisstischen Ideen – zu unterscheiden (vgl. RTH, 155)? Den Ausweg sucht Putnam im zweiten Argumentationsschritt in der bereits erwähnten Idee einer florierenden menschlichen Erkenntnis bzw. im aristotelischen Begriff der εύδαιμονία und dem »Vorrang der Praxis«. 2.3.3 Die Rückkehr des Wahrheitsproblems Ohne eine relativistische Rückzugposition, ohne die metaphysische Idee von Wahrheit als Übereinstimmung und ohne die positivistische Idee der durch Kriterien festgelegten Rechtfertigung ist es nötig, so Putnam, die Suche nach besse-

58 | Auf die kausale Theorie der Referenz wurde bereits in Kap. 2.1.1 hingewiesen. Es darf jedoch als Inkonsequenz Putnams angesehen werden, dass er im Kontext des Internen Realismus seine alten Ausführungen zur Referenz (bzw. die Theorie starrer Designatoren) nicht ausdrücklich verwirft (vgl. Ambrus 2002, 172). 59 | In eben diesem Sinne sagt auch Putnam, dass Worte ihre emotive Kraft erwerben, wie etwa im Falle der Beschreibung »beschlabbert sich beim Essen das Hemd«: »Any word that stands for something people in a culture value (or disvalue) will tend to acquire emotive force.« (RTH, 209)

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ren Rationalitätsauffassungen als intentionale Tätigkeit zu begreifen, die sich an der »Idee des Guten« orientiert (vgl. RTH, 136 f.). In Anschluss an John Dewey fasst er Objektivität damit nicht mehr als etwas metaphysisch oder epistemologisch Gegebenes auf, sondern als fortschreitenden Prozess des Problemlösens: »[G]iving up a certain metaphysical picture of objectivity [...] does not mean giving up the idea that there are what Dewey called ›objective resolutions of problematical situations‹ – objective resolutions to problems which are situated in a place, at a time, as opposed to an ›absolute‹ answer to ›perspective-independent‹ questions. And that is objectivity enough.« (RHF, 178)

Putnam steht nun jedoch vor einer Schwierigkeit: Zwar werden ihm zufolge innerhalb von Begriffs- und Wertesystemen Tatsachen nicht konstruiert, sondern entdeckt (vgl. MFR, 33; RR, 114), gleichzeitig jedoch sollen Objektivität und Rationalität ein fortschreitender und wertorientierter Prozess des Problemlösens sein. Um sich vom Relativismus abgrenzen zu können, sieht er sich deshalb genötigt, seinen Leser*innen einen adäquaten Wahrheitsbegriff zu präsentieren. Wie Valer Ambrus jedoch zu Recht konstatiert, lässt sich der Eindruck nicht von der Hand weisen, dass es sich dabei eher um eine Verlegenheitslösung handelt, um das Gesamtbild abzurunden (vgl. ders. 2002, 132). Denn Putnam konzipiert diesen Wahrheitsbegriff, ähnlich der Argumentationsstrategie von Karl-Otto Apel und Jürgen Habermas (vgl. Kap. 2.1.2), als »idealisierte rationale Akzeptierbarkeit« bzw. als »Rechtfertigung unter idealen Bedingungen«: »›Truth‹, in an internalist view, is some sort of (idealized) rational acceptability – some sort of ideal coherence of our beliefs with each other and with our experiences as those experiences are themselves represented in our belief system [...].« (RTH, 49 f.)

Auch wenn Putnam explizit nie von Wissen redet, legt er damit implizit auch einen Wissensbegriff als »idealisierte rationale Akzeptierbarkeit« zugrunde: Denn wenn die Begriffe Wahrheit und Rechtfertigung nicht unabhängig voneinander konzeptualisiert werden können (was die Kritik am Metaphysischen Realismus gezeigt hat) und wenn der Begriff der Wahrheit trotzdem nicht auf den Begriff der Rechtfertigung zurückgeführt werden kann (was die Kritik am Relativismus gezeigt hat), dann lassen sich möglicherweise zusätzliche Bedingungen angegeben, unter denen eine gerechtfertigte Behauptung notwendigerweise wahr wäre, sodass es sich bei dieser Behauptung um Wissen handelt (vgl. Kap. 2.1.3). Putnam verdeutlicht diesen Zusammenhang an einem Beispiel: »To reject the idea that there is a coherent ›external‹ perspective, a theory which is simply true ›in itself‹, apart from all possible observers, is not to identify truth with

2. Wissen, Wahrheit und Rechtfertigung rational acceptability. Truth cannot simply be rational acceptability for one fundamental reason; truth is supposed to be a property of a statement that cannot be lost, whereas justification can be lost. The statement ›The earth is flat‹ was, very likely, rationally acceptable 3,000 years ago; but it is not acceptable today. Yet it would be wrong to say that ›The earth is flat‹ was true 3,000 years ago; for that would mean that the earth has changed its shape. In fact, rational acceptability is both tensed and relative to a person. In addition, rational acceptability is a matter of degree; truth is sometimes spoken of as a matter of degree (e.g. we sometimes say, ›the earth is a sphere‹ is approximately true); but the ›degree‹ here is the accuracy of the statement, and not its degree of acceptability or justification.« (RTH, 55)

Den Begriff der »idealen rationaler Akzeptierbarkeit« erklärt Putnam anhand des Beispiels reibungsloser Oberflächen: Zwar gibt es keine (vollständig) reibungslosen Oberflächen, doch ist der Begriff nützlich, um approximierbare Grenzfälle zu beschreiben. Ebenso seien erkenntnistheoretisch ideale Bedingungen nicht erreichbar, aber approximierbar (vgl. RTH, 55). Allerdings offenbart das Beispiel eher die Schwäche der Argumentation, da die Reibung bei Oberflächen nur im Verhältnis zueinander gemessen werden kann. So ist etwa die Reibung von Eis siebenmal kleiner als die von Stahl, die Idealität erkenntnistheoretischer Bedingungen auf diese Weise anzugeben, ist aber offensichtlich nicht möglich (vgl. Burri 1994, 135). Und eben aus diesem Grund wird Putnams Lösungsansatz zirkulär. Man kann das deutlich am Ende von Reason, Truth and History sehen, wo Putnam seine Argumentation kurz zusammenfasst: »Put schematically and too briefly, I am saying that theory of truth presupposes theory of rationality which in turn presupposes our theory of the good. ›Theory of the good‹, however, ist not only programmatic, but is itself dependent upon assumptions about human nature, about society, about the universe (including theological and metaphysical assumptions). We have had to revise our theory of the good (such as it is) again and again as our knowledge has increased and our world-view has changed.« (RTH, 215)

M.a.W.: Weil Begriffe die Welt nicht einfach abbilden und es keine Grundlage der Erkenntnis geben kann (vgl. RTH, 215), setzt die Theorie der Wahrheit die Theorie der Rationalität voraus, die wiederum die Theorie des Guten voraussetzt, die wiederum von einer Vielzahl von (mitunter empirischen) Annahmen abhängig ist, was wiederum die Theorie der Wahrheit zur Voraussetzung hätte. Deshalb kann Putnams Antwort, dass wir die kranken Ansichten der Gehirneim-Tank-Leute und der Super-Benthamianer nicht teilen, weil wir an der Idee der »florierenden menschlichen Erkenntnis« interessiert sind, nicht wirklich befriedigen (vgl. ebd., 134). Denn es gibt, wie er selbst sagt, eben auch Ideale des

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menschlichen Gedeihens, die wir aus guten Gründen ablehnen (vgl. ebd., 148). Allerdings liefert der Interne Realismus keine Antwort darauf, wie wir zwischen ihnen unterscheiden können. Das Argument aus der Begriffsrelativität, dass er gegen den Metaphysischen Realismus und den Logischen Positivismus ins Feld führt, wird dabei auch dem Internen Realismus zum Verhängnis. Denn auch diejenigen vermeintlich objektiven Werte, die laut Putnam die Kriterien rationaler Akzeptierbarkeit ausmachen, werden mitunter unterschiedlich interpretiert.60 Während seine Angriffe auf den Metaphysischen Realismus, den Relativismus und die Dichotomie von Fakten und Werten gut begründet sind, bleiben also v.a. sein Wahrheits- und Wissensbegriff (und damit zusammenhängend selbstverständlich auch seine Auffassung von Rechtfertigung) problematisch. Diese Defizite des Internen Realismus sollen nun im Folgenden am Beispiel der Moralphilosophie etwas genauer analysiert werden. Denn im Kontext einer detaillierteren Problemdiagnose lassen sich die anschlussfähigen Argumentationslinien für diese Arbeit aufzeigen. 2.3.4 Putnams Problem: Sadismus und sprachliche Inkompetenz Um das Problem zu explizieren, greifen wir diesmal auf ein lebensnäheres Beispiel Putnams zurück, als das der offenbar verrückten Gehirne-im-Tank-Leute oder der Super-Benthamianer. Die Frage ist: Kann es rationale Nazis geben? Oder anders formuliert: Gibt es objektive Kriterien, anhand derer wir feststellen können, dass wir die guten und richtigen Überzeugungen haben und über moralisches Wissen verfügen und sie auf ein irrationales Weltbild hereingefallen sind und nicht über moralisches Wissen verfügen? Schauen wir uns die Überzeugungen eines (hier etwas strohmannhaft vorgestellten) Nazis Namens Karl einmal näher an: Dieser würde etwa behaupten, dass es moralisch geboten (oder zumindest nicht falsch) ist, Menschen aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit, ihrer sexuellen Orientierungen o.ä. zu diskriminieren (wobei er wahrscheinlich nicht den negativ konnotierten Begriff »Diskriminierung« verwenden würde, um sein Tun zu beschreiben). In der hypothetischen Situation, dass etwa Karl

60 | So sagt Putnam selbst, dass Kohärenz etwas ist, wofür wir keinen Algorithmus haben, sondern etwas, das wir eher nach Gefühl beurteilen, wie: »Die Hose sitzt.« (VWG, 180) Und mehr noch: Wenn die Theorie der Wahrheit Werte voraussetzt, wird klar, warum auch die Modellierung der Problemstellung, als Frage nach propositionalem Wissen, nicht wertfrei ist. Entsprechend handelt es sich auch bei der Aussage »Wissen ist gerechtfertigte, wahre Überzeugung« um einen »normativen Satz, der das Problem des Wissens so lange verschleiert, wie seine Normativität nicht verstanden wird« (Sandkühler 2009, 209). Denn im Kontext unserer epistemischen Rahmenbedingungen wollen die meisten Philosoph*innen – so auch Putnam – den Begriff des Wissens so verstehen.

2. Wissen, Wahrheit und Rechtfertigung

sein Nazisein durch rationale Argumente untermauern möchte, stünden ihm prinzipiell zwei Alternativen zur Auswahl: Er könnte sich entweder in unserer gewöhnlichen moralischen Sprache versuchen zu rechtfertigen. Dann würde Karl allerlei »Fakten« behaupten, die offensichtlich falsch sind (etwa die Existenz einer jüdischen Weltverschwörung) und mit Begriffen argumentieren, die er falsch benutzt (etwa »Verschwörung«) oder die keine guten Handlungsgründe geben können, weil sie unsinnig und nicht positiv konnotiert sind (»Arier«, »Herrenrasse« usw.). Oder aber er würde unsere gewöhnlichen Moralbegriffe durch andere Begriffe ersetzen. Dann allerdings könnte er zwischenmenschliche Beziehungen, politische Ereignisse und dergleichen nicht mehr so beschreiben, dass wir sie angemessen verstehen würden. Die letzte Alternative bestünde für Karl in der Feststellung »Danach steht mir einfach der Sinn«, womit seine Handlungen allerdings willkürlich und nicht rational gerechtfertigt wären (vgl. RTH, 211 ff.). Eine relativistische Rückzugsposition ist jedenfalls nicht möglich. Denn dann müsste Karl entweder behaupten, dass auch gegenteilige Überzeugungen gleich gut sind, oder er müsste auf die Inkommensurabilität seiner Begrifflichkeit verweisen. Wir hatten bereits gesehen, dass beide Alternativen nicht in Frage kommen. Denn im ersten Fall müssten ein objektiver Standpunkt und objektive Werte vorausgesetzt werden und im zweiten Fall eine inkommensurable Nazisprache, durch die wir Karl jedoch nicht mehr als sprechendes und denkendes Wesen wahrnehmen könnten (Kap. 2.2.2). Putnam weist hier zu Recht auf den Zusammenhang von moralischen und empirischen Überzeugungen hin und dass Karl de facto Unsinn redet. Das liegt aber nicht so sehr daran, dass Begriffe wie besonnen, mitfühlend, gerecht oder fair in der Lebensführung von Nazis keine Rolle spielen würden, wie er glaubt (vgl. ebd., 212 ff.). Sie gebrauchen diese Begriffe in ihren Urteilen einfach anders als wir. So sind sie etwa dazu bereit, Begriffe wie Arier und Herrenrasse zu benutzen, obwohl wir gute Gründe haben, dies nicht zu tun. Und mit den Begriffen Verschwörung, Gerechtigkeit oder Besonnenheit bezeichnen sie andere Personen oder Tatsachen, als wir dies tun. Damit soll natürlich nicht gesagt werden, dass das Schlechte am Nazisein ihre irrationale Weltauffassung ist. Das Schlechte daran sind ihre sadistischen Taten (vgl. ebd., 213). Diese hängen zwar offenbar eng mit ihrem Weltbild und der Art und Weise, wie sie ihre Begriffe benutzen (also mit ihrer sprachlichen Inkompetenz) zusammen, Putnam erklärt uns bisher jedoch nicht wie. Der bloße Hinweis auf den Zusammenhang von empirischen und evaluativen Überzeugungen reicht also offenbar noch nicht aus. Da jedoch nicht allein unsere Rationalitätsmaßstäbe der Grund dafür sein können, dass ihre Taten schlecht sind, muss Putnam genau an dieser Stelle auf den Begriff »idealisierter rationaler Akzeptierbarkeit« zurückgreifen, von dem wir schon gesehen hatten, wie problematisch er ist. In Reason, Truth and History weist er nur darauf hin, dass wir eine rationalere Auffassung von Rationalität bzw. eine bessere Moralauffassung nur ausbilden können, wenn wir vom Inne-

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ren unserer Tradition ausgehen. Wenn Putnam jedoch dafür argumentiert, dass es eine neutrale Rationalitätsauffassung und damit eine Grundlage von (moralischem) Wissen nicht geben kann und man sich an einem »menschlichen Dialog« beteiligen solle, um dem Relativismus (»Rechtfertigung nach unseren Maßstäben«) und dem Solipsismus (»Rechtfertigung nach meinen Maßstäben«) zu entgehen (vgl. ebd., 215 f.), fordert er aus einem bestehenden Wertesystem heraus die Interpretationshoheit über vermeintlich objektive Werte und postuliert damit Standards moralischer Objektivität, von denen er gleichzeitig behauptet, sie würden sich kontinuierlich entwickeln. Richard Bernstein sieht hier in seiner sehr wohlwollenden Lesart Putnams eine Art hermeneutischen Zirkel: »This is a type of ›bootstrapping‹ insofar as it is intended to bring about a moral objectivity that does not yet fully exist. But this type of bootstrapping is not objectionable. It is consistent with the pragmatic orientation that normative considerations are relevant to discerning what ought to count as objectivity. This is why I suggest that the circularity of Putnam’s argument is analogous to the hermeneutic circle.« (Bernstein 2005, 262)

Etwas konkreter wird Putnam in Words and Life, wo er in Anschluss an John Dewey auf diesen argumentativen Zirkel eingeht. Ebenso wie Dewey fasst er dabei sowohl die wissenschaftliche Forschungspraxis als auch lebensweltliche Kontexte als kooperative Wahrheitssuche auf. Denn beide weisen eine intrinsische Wertstruktur auf und in beiden Bereichen sind die jeweiligen epistemologischen und moralischen Werte ähnlich handlungsleitend (vgl. Habermas 2002, 289 f.). »Yet there was a close connection between inquiry and ethics, in Dewey’s view, for more than one reason. First, all cooperative activity involves a moment of inquiry, if only in the ongoing perception that the activity is going smoothly/not going smoothly. What is essential to the rational – or to use the word that Dewey preferred, the intelligent – conduct of inquiry is thus, to some extent, essential to the intelligent conduct of all cooperative activity. [...] Second, ethics itself requires inquiry. Experiencing ourselves as ethical fallibilists, as persons who do not inherit values which cannot be questioned, as persons who have, in fact, criticized many inherited values (even if we have not all criticized the same inherited values), we more and more see ethical disputes, as disputes to be settled, if possible, by intelligent argument and inquiry, and not by appeals to authority or to a priori principles.« (WL, 174 f.)

Putnam spricht in Words and Life zwar nicht expressis verbis von »idealer rationaler Akzeptierbarkeit«, das anschließende Argument spielt aber auf den Begriff an:

2. Wissen, Wahrheit und Rechtfertigung »[I]f there are ethical facts to be discoverd, then we ought to apply to ethical inquiry just the rules we have learned to apply to inquiry in general. For what applies to inquiry in general applies to ethical inquiry in particular. If this is right, then an ethical community – a community which wants to know what is right and good – should organize itself in accordance with democratic standards and ideals, not only because they are good in themselves (and they are), but because they are the prerequisites for the application of intelligence to inquiry. It is true, that some inquiries can be conducted with only partial democratization; a tyrant, for example, may allow his physicists a freedom of discussion (in certain areas) that is generally forbidden in the society. But – and this is an empirical presupposition of Dewey’s argument – any society that limits democracy, that organizes itself hierarchically, thereby limits the rationality of those at both ends of the hierarchy. Hierarchy stunts the intellectual growth of the oppressed, and forces the privileged to construct rationalizations to justify their position. But this is to say that hierarchical societies do not, in these respects, produce solutions to value disputes that are rationally acceptable. At this point it may look as if Dewey is ›pulling himself up by his bootstraps‹. For even if we assume that inquiry into values should be democratized, that the participants should, qua seekers after the right and the good, respect free speech and other norms of discourse ethics, not instrumentalize one another, and so on, what criteria should they use to tell that their inquiry has succeeded? This objection overlooks another feature of the pragmatist position; we do not, in fact, start from the position of ›doubting everything‹. As long as discussion is still possible, as long as one is not facing coercion or violence or total refusal to discuss, the participants in an actual discussion always share a large number of both factual assumptions and value assumptions that are not in question in the specific dispute. Very often, parties to a disagreement can agree that the disagreement has, in fact, been resolved, not by appeal to a universal set of ›criteria‹, but by appeal to values which are not in question in that dispute.« (WL, 175 f.)

Die Demokratie fungiert im Sinne Putnams in ethischen Fragen als Kriterium idealer rationaler Akzeptierbarkeit, da sie im Falle von Wertstreitigkeiten zu Lösungen führt, die rational akzeptierbar sind. Dabei bemerkt er den argumentativen Zirkel, der nicht nur Deweys, sondern auch seine eigene Position betrifft: Die Forschungspraxis oder die (ideale) Praxis des Problemlösens muss die Demokratie voraussetzen, um als Fundament der Rechtfertigung und damit des Wissens fungieren zu können. Aber nach Putnams eigenen Argumenten ist auch Demokratie ein Begriff, der interpretiert werden muss und positiv oder negativ konnotiert verwendet werden kann, sodass es ein solches Begründungsfundament gar nicht geben kann:61 Zwar gilt sie für uns als der Inbegriff legitimer

61 | Gerade am Beispiel der Demokratie lässt sich dieses Problem gut ver-

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politischer Ordnung, nicht aber nach der Rationalitätsauffassung des mittelalterlichen Gottesgnadentums oder unseres Beispiel-Nazis Karl. Um Demokratie angemessen, und d.h. im Sinne Putnams als legitime politische Ordnung oder Kriterium idealer rationaler Akzeptierbarkeit, verstehen zu können, bedarf es aber der Forschungspraxis bzw. der Praxis des Problemlösens, die wieder ein angemessenes Verständnis von Demokratie voraussetzt usw. Putnam versucht aber, diesem Argumentationszirkel zu entkommen, wie deutlich aus dem Zitat hervorgeht. Denn wir würden in moralischen Auseinandersetzungen, solange wir nicht auf Zwang, Gewalt oder totale Ablehnung stoßen, nicht alles in Zweifel ziehen, sondern uns auf der Grundlage einer bestehenden (demokratischen) Wertebasis verständigen können. Die Schwierigkeiten liegen dabei jedoch auf der Hand: Auch wenn nicht alles in Zweifel gezogen wird, müssen sich die widerstreitenden Parteien nicht auf eine Position einigen.62 Und in einigen Auseinandersetzungen stoßen wir eben doch auf Zwang, Gewalt oder totale Ablehnung. So wird sich der Widerstreit in unserer Rationalitätsauffassung, die wir eo ipso für vernünftig und gut begründet halten, und der Rationalitätsauffassung von Nazis, die wir strikt ablehnen, nicht allein durch den Austausch von Argumenten lösen lassen. Auch Habermas wendet deshalb zu Recht ein, dass allein aus der internalistischen Perspektive nicht ersichtlich wird, wie eine Moral gleicher

deutlichen, wie ein Blick in die Politische Theorie zeigt: »Alle wichtigen Begriffe der Politischen Theorie sind umkämpfte Begriffe. Sie sind nicht einfach sachliche Bezeichnungen für politische Phänomene, sondern drücken in ihrer Verwendung starke emotionale und bewertende Urteile aus wie Zustimmung, Hoffnung, Verachtung, Lob, Kritik und Hass. [...] Gäbe es einen Preis, der Überlebenskünstlern in der politischen Begriffsgeschichte verliehen wird, dann würde ›Demokratie‹ auf der Nominierungsliste ganz weit vorn stehen. Denn bis heute hat der Begriff jedem Versuch seiner Musealisierung erfolgreich widerstanden. Er konnte überleben, gerade weil er so heftig umstritten ist: Zum einen stand die ›Demokratie‹ jahrhundertelang im Zentrum politischer Konflikte zwischen Befürwortern und Gegnern; zum anderen war und ist die Bedeutung dessen, was genau unter ›Demokratie‹ zu verstehen ist, nicht minder umstritten. Angesichts der Differenzen zwischen antiker, neuzeitlicher und heutiger Verwendung grenzt es an ein sprachhistorisches Wunder, dass der Demokratiebegriff überhaupt noch praktischen Gebrauch in Wissenschaft und Alltagssprache findet.« (Jörke/Buchstein 2003, 470) Inwiefern Begriffe Zustimmung, Hoffnung, Verachtung und Lob ausdrücken können und was es bedeutet, dass sie umkämpft sind, wird das Thema der folgenden Kapitel dieser Arbeit sein. 62 | Eben dieses Argument hat Putnam später selbst gegen die Diskursethik geführt (vgl. ders. 2001, 301 ff.).

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Achtung und solidarischer Verantwortung möglich ist, da sich aus der ethischen Perspektive einer einzelnen, sich um ihr Wohl sorgenden Gemeinschaft weder Menschenrechte, noch der demokratische Verfassungsstaat begründen lassen (vgl. ders. 2002, 303): »Personen, die keine gemeinsame Lebensform oder Praxis verbindet, begegnen einander als Fremde. Auch von ihnen erwartet Putnam, daß sie, wenn ein Regelungsbedarf entsteht, in Diskurse eintreten und sich miteinander verständigen [...]. Diese Erwartung dürfte schwer zu erfüllen sein, wenn für die intelligente Ausbildung rationaler Wertüberzeugungen der Hintergrund einer intersubjektiv geteilten Gemeinwohlvorstellung schon vorausgesetzt werden muß.« (Habermas 2002, 301)

Das Problem des Internen Realismus und der Grund dafür, dass der Begriff des Wissens als »idealer rationaler Akzeptierbarkeit« nichts taugt, liegt also offenbar im defizitär konzeptualisierten Verhältnis von Praktiken und Werten begründet. Denn wie wir gesehen hatten, versteht Putnam Werte zunächst etwas wenig sagend als »lobende Ausdrücke« bzw. als »handlungsleitende Ausdrücke«, während er den Praxisbegriff gar nicht weiter ausführt und nur von der »Praxis des Problemlösens« redet, die er inkonsistenterweise als Begründungsfundament missversteht. Sein Bestreben jedenfalls, eine rationale Auffassung von Rationalität zu entwickeln, indem die angemessene Auffassung von Werten über die Praktiken des Problemlösens eruiert werden und umgekehrt, führt jedenfalls nur dazu, dass auch der Wissensbegriff aus dieser internen Perspektive Agrippas Trilemma nicht entkommen kann. Wenn man aber die Einsichten des Internen Realismus fruchtbar machen will, gilt es genau hier anzusetzen. Denn Putnam hat in seiner Grundintention schon Recht: Nazis sind böse und sie sind irrational, und irgendwie hängen beide Faktoren miteinander zusammen – aber wie?

2.4 Zusammenfassung: Rationale Nazis und böse Superwissenschaftler Die grundlegende These dieser Arbeit lautet, dass die gegenwärtige metaethische Forschung mit ihren beiden wichtigsten Theorietypen, dem Ethischen Realismus und dem Ethischen Objektivismus, von zwei Dogmen beherrscht wird. Das erste Dogma besteht darin, dass innerhalb dieser theoretischen Leitdifferenzen moralisches Wissen weitestgehend als propositionales Wissen konzeptualisiert wird. Das zweite Dogma besteht in der Annahme einer Dichotomie von Fakten und Werten, nach der es sich bei moralischem Wissen und bei empirischem Wissen um zwei verschiedene Wissenstypen handelt, die relativ unabhängig voneinander bestehen. Beide Annahmen sind jedoch schon prima facie problematisch:

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Das Problem moralischen Wissens

Der propositionale Wissensbegriff, der seit jeher innerhalb der Erkenntnistheorie diskutiert wird, setzt eine Erklärung wahrheitsgarantierender Gründe voraus, die durch die agrippinische Skepsis in Zweifel gezogen wird. Die Dichotomie von Fakten und Werten setzt dagegen eine eindeutige Unterscheidung zwischen einem naturalistischen und einem evaluativen Vokabular voraus, die jedoch nicht immer durchführbar ist. Und trotzdem werden die beiden hier genannten Dogmen in weiten Teilen der moralphilosophischen Theoriebildung explizit oder implizit zugrunde gelegt. Um das zu verdeutlichen, wurden die wichtigsten Theorietypen der gegenwärtigen Forschung anhand ausgewählter Positionen vorgestellt. Vor dem argumentativen Hintergrund des Internen Realismus Hilary Putnams konnte darauf aufbauend gezeigt werden, warum es sich beim propositionalen Wissensbegriff und der Dichotomie von Fakten und Werten um Dogmen der Moralphilosophie handelt: Der propositionale Wissensbegriff setzt die FaktenWerte Dichotomie voraus, beide Annahmen schließen sich jedoch aus. Im Falle des Ethischen Realismus wurde zunächst zwischen einer starken und einer schwachen Variante unterschieden, die wiederum mit der Differenzierung zwischen Naturalismus und Nonnaturalismus zusammenfallen. Der starke Ethische Realismus bzw. der Naturalismus behauptet, dass moralische Tatsachen und Eigenschaften vollständig unabhängig von den subjektiven Leistungen und Einstellungen der Moralakteure existieren. Um Mackies Argument aus der Absonderlichkeit und sein Argument aus der Relativität zu entkräften, werden sie dabei als natürliche Tatsachen gedeutet und als Gegenstände der Erkenntnis angesprochen. Damit wird der Begriff moralischen Wissens im Kontext des Naturalismus implizit als »wahre und gerechtfertigte Wertüberzeugung« verstanden. Da G.E. Moore den analytischen Naturalismus mit dem Argument der offenen Frage zurückgewiesen hat, versuchen moderne Naturalist*innen wie Richard Boyd und David Brink die Identität moralischer und natürlicher Tatsachen im Rahmen einer kausalen Theorie der Referenz zu klären. Zwar fungiert Hilary Putnam durch seinen frühen Aufsatz The Meaning of »Meaning« mitunter noch als Stichwortgeber für diese Position, die Argumente im Kontext seines Internen Realismus zeigen jedoch, dass auch ein synthetischer Naturalismus hochproblematisch ist. Denn dieser bedarf eines wertfreien oder naturalistischen Vokabulars, das im Rahmen eines realistischen (bzw. positivistischen) Wissenschaftsverständnisses auf die Welt projiziert wird, um es anschließend mit den sogenannten dünnen ethischen Begriffen (gut, schlecht, richtig, falsch etc.) zu synthetisieren. Das Argument aus der Begriffsrelativität und das Argument gegen die Dichotomie von Fakten und Werten, das Putnam in Anschluss an Iris Murdoch, Bernard Williams und John McDowell führt, stellen zusammen jedoch einen schlagkräftigen Einwand gegen diese Position dar. Denn erstens hängen Tatsachenfeststellung mitunter von der Verwendung eines bestimmten Vokabulars ab, und zweitens lässt sich nicht eindeutig zwischen einem naturalistischen und einem evaluativen Vokabular bzw. zwischen deskriptiven und evaluativen Bedeutungskomponen-

2. Wissen, Wahrheit und Rechtfertigung

ten von Begriffen unterscheiden. M.a.W.: Das vermeintlich wertfreie Vokalbular, dass der Naturalismus voraussetzt, kann es schlicht und ergreifend nicht geben. Daneben besteht für den Naturalismus noch das Problem der Handlungsmotivation, da der Internalismus zur Zirkularität tendiert, während im Rahmen des Externalismus nicht mehr eindeutig zwischen moralischen Urteilen und Geschmacksurteilen unterschieden werden kann. Mit der Theorie John McDowells wurde anschließend eine prominente Position vorgestellt, die trotz einiger Abgrenzungsschwierigkeiten üblicherweise als schwacher Ethischer Realismus und als Nonnaturalismus bezeichnet wird. McDowell unterscheidet dabei den »logischen Raum der Natur« vom »logischen Raum der Gründe«, in den auch Werte und moralische Tatsachen fallen. Diese werden jedoch im Gegensatz zum Naturalismus nicht als natürliche Tatsachen gedeutet, sondern als Tatsachen sui generis. Und trotzdem fällt dabei die Unterscheidung dieser Räume nicht mit der Unterscheidung zwischen natürlichen und nicht-natürlichen Tatsachen und Eigenschaften zusammen. Denn im Gegensatz zum Naturalismus existieren moralische Tatsachen, Eigenschaften und Werte im Sinne McDowells nicht vollständig unabhängig von subjektiven Leistungen und Einstellungen, sondern nur unabhängig von Einstellungen und Leistungen jeder einzelnen Person. Auf diese Weise gelingt es ihm, den Dualismus von Internalismus und Externalismus zu unterlaufen. Auch deshalb handelt es sich bei McDowells Position nicht unbedingt um eine idealtypische Variante des Ethischen Realismus, wohl aber um eine Variante, die idealtypische Probleme aufwirft. Dies lässt sich an der Rekonstruktion des Wissensbegriffs erläutern, die zu einigen Interpretationsschwierigkeiten führt. Dabei haben sich drei eng miteinander zusammenhängende Aspekte als besonders problematisch erwiesen: Erstens kann McDowell das Verhältnis von erster und zweiter Natur nicht angemessen konzeptualisieren. Zweitens wird das Verhältnis von Spontaneität und Rezeptivität nicht hinreichend erläutert, sodass nicht klar ist, ob er den Wissensbegriff eher im pragmatischen Sinn als »Aktualisierung einer begrifflichen Fähigkeit« oder doch im propositionalen Sinn als »wahre und gerechtfertigte Wertüberzeugung« verstanden wissen will. Und da ein philosophisch adäquater Wissensbegriff nicht heteronom denkbar ist, steht er drittens und damit zusammenhängend in der Bringschuld zu zeigen, wie Wissen (als begriffliche Fähigkeit oder als propositionales Wissen) unabhängig von bestehenden Rechtfertigungspraxen und Begriffssystemen erworben bzw. erlernt werden kann. Obwohl McDowell die dichotomische Einteilung zwischen einem deskriptiven und einem evaluativen Vokabular explizit ablehnt und obwohl er selbst darauf hinweist, dass die Moralerkenntnis bzw. Wertwahrnehmung von der Sprache abhängig ist, die wiederum Werte impliziert, weist der schwache Ethische Realismus damit tendenziell dieselben Probleme auf wie auch der starke Ethische Realismus. Im Gegensatz zu diesen beiden Varianten des Ethischen Realismus behauptet der Ethische Objektivismus, dass es objektive Normen und Wertüberzeugungen

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Das Problem moralischen Wissens

gibt, die durch die praktische Rationalität der Moralakteure konstituiert werden und damit vollständig von ihren subjektiven Leistungen und Einstellungen abhängig sind. Die Moralphilosophie Kants bietet dabei das wahrscheinlich prominenteste, elaborierteste und wirkmächtigste Beispiel einer solchen Argumentationsstrategie. Im Zentrum der kantischen Überlegungen steht dabei der Begriff der Autonomie, durch den er, wenn nicht explizit, so doch implizit versucht, moralisches Wissen als »autonom gerechtfertigte Wertüberzeugung« zu konzeptualisieren. Zwar ist der legislatorische Autonomiebegriff paradoxal, der Kategorische Imperativ lässt sich aber als logische Form der Autonomie rekonstruieren. Zwei Aspekte an Kants Theorie bleiben jedoch problematisch: Erstens kann er, wie er auch selbst eingesteht, das »Rätsel der Motivation« nicht befriedigend klären. Und zweitens kann er nicht a priori sagen, welche Rechtfertigungen autonome Rechtfertigungen sind. Denn nicht nur die Universalisierung, sondern auch die Formulierung mancher Maximen bereiten einige Schwierigkeiten. Vor dem Hintergrund der Argumente Putnams wird jetzt nochmal deutlich, warum das in vielen Fällen so ist: Denn der Kategorische Imperativ setzt nicht nur ein bestimmtes Vokabular voraus, sondern er setzt ebenso voraus, dass es sich um ein naturalistisches Vokabular handelt, das in der Maxime mit dem evaluativen Vokabular (den dünnen ethischen Begriffen) synthetisiert wird. Und wenn das so wäre, würde das Sittengesetz tatsächlich zeigen, dass man Eigentum nicht ableugnen darf und Unrecht verhindern muss. Allerdings gehören auch diese Begriffe i.) zum dichten ethischen Vokabular, sodass im Kategorischen Imperativ keine Synthesis stattfinden kann und ii.) muss immer schon vorausgesetzt werden, ob etwas Eigentum oder Unrecht ist (so mögen wir uns zwar darüber einig sein, dass Robin Hood kein Unrecht tut, da er kein Eigentum entwendet, sondern den Armen nur etwas gibt, was ihnen sowieso zusteht – der Sheriff von Nottingham würde dies aber anders sehen). Denn da es keine natürlichen Eigenschaften des Eigentum-Seins oder des Unrecht-Seins gibt, impliziert schon diese Tatsachenfeststellung eine Wertvorentscheidung, die in den Maximen mitformuliert wird. Analog dazu lädt die moderne diskursethische Reformulierung der kantischen Argumentation dieselbe Hypothek auf sich: Denn eine ideale Sprechsituation setzt schon voraus, dass über ihren Begriff und ihre Konstituenten (Unparteilichkeit, Egalität, reziproke Anerkennung, Autonomie usw.) ein gemeinsames, eindeutiges und objektives Verständnis besteht. Dies aber könnte im Sinne der Diskursethik nur Konsens eines idealen Diskurses sein. Aus diesem Grund ist es ebenfalls nicht möglich, den Begriff der Wahrheit und damit ebenfalls den Begriff moralischen Wissens auf den Begriff der »Rechtfertigung unter idealen Bedingungen« zurückzuführen. Indem also die beiden wichtigsten Theorietypen der metaethischen Forschung Normen, Werte und Wertüberzeugungen eruieren oder konstituieren wollen, dabei aber selbst Werte und Wertüberzeugungen voraussetzen, tendieren sie zur Zirkularität. Auch Putnams Interner Realismus scheitert an diesem Prob-

2. Wissen, Wahrheit und Rechtfertigung

lem. Gleichzeitig hat er jedoch gezeigt, dass trotz dieser Begriffsrelativität weder der Relativismus im Allgemeinen noch der ethische Relativismus im Besonderen gangbare Alternativen darstellen. Denn in der Argumentationslinie Platon-Wittgenstein-Putnam hatten wir gesehen, dass es nicht möglich ist, Sprachen, Kulturen und Rationalitätsstandards als Wahrheitskriterien voneinander abzugrenzen, ohne von einem nicht-relativistischen Wahrheitsbegriff auszugehen. Aber auch die Relativität auf den Bereich der Ethik einzuschränken, macht kaum Sinn, da weder zu verstehen ist wie zwei unvereinbare moralische Überzeugungen inkommensurabel sein sollen, noch, inwiefern sie gleich gut sein können. Damit können wir die drei relevanten Argumente Putnams für die metaethische Forschung und für diese Arbeit kurz zusammenfassen. Denn sie zeigen i.), dass es sich beim propositionalen Wissensbegriff und bei der Dichotomie von Fakten und Werten um Dogmen der Moralphilosophie handelt, und ii.), wie die beiden Dogmen miteinander zusammenhängen: 1. Das Argument aus der Begriffsrelativität besagt, dass Tatsachenfeststellungen davon abhängen, ob und wie wir ein bestimmtes Vokabular gebrauchen. Putnam führt das Argument zunächst gegen die Rationalitätsvorstellung des Positivismus und gegen den Metaphysischen Realismus. In seiner elaboriertesten Form wurde es von Nelson Goodman im Rahmen seines »neuen Rätsels der Induktion« formuliert, auf das Putnam in seiner Argumentation offensichtlich anspielt. 2. Das Argument gegen die Dichotomie von Fakten und Werten zeigt, dass es keine Unterscheidung zwischen einem deskriptiven oder naturalistischen und einem evaluativen oder nicht-naturalistischen Vokabular geben kann, da es nicht möglich ist, eindeutig zwischen evaluativen und deskriptiven Bedeutungskomponenten zu unterscheiden. Zwar können Begriffe in Urteilen benutzt werden, um zu beschreiben oder um zu bewerten, doch implizieren Tatsachenfeststellungen Wertüberzeugungen und umgekehrt. 3. Das Argument gegen den ethischen Relativismus führt Putnam im Rahmen einer Reihe von Argumenten gegen verschiedene Varianten des Relativismus, die er nicht weiter voneinander abgrenzt. Wir hatten jedoch gesehen, dass es aus zwei Teilargumenten besteht. Dabei greift das eine die Behauptung an, dass es inkommensurable Sprachen und Rationalitätsstandards gibt. Denn dann könnten wir die jeweils anderen Moralakteure und Überzeugungen nicht als solche wahrnehmen, sodass es auch keine Konflikte gäbe. Das andere wendet sich gegen den Begründungsrelativismus, der besagt, dass sich widersprechende Überzeugungen gleichermaßen wahr oder gleich gut sein können. Wenn es jedoch kein besser und schlechter, wahr oder falsch gibt, so Putnam, kann es auch kein gleichermaßen wahr oder gleich gut geben. Denn dies würde wiederum einen »moral point of view« verlangen.

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Das Problem moralischen Wissens

Die ersten beiden Argumente zeigen, dass es keine a-begrifflichen und wertfreien Erkenntnisquellen, Wissenschaften, Rationalitätsstandards oder Rechtfertigungspraxen geben kann. Genau diese werden jedoch sowohl vom Ethischen Realismus als auch vom Ethischen Objektivismus mit ihren propositionalen Wissensbegriffen vorausgesetzt, um wahre Überzeugungen vollständig oder unvollständig unabhängig von der Praxis des Rechtfertigens zu konzeptualisieren. Das dritte Argument zeigt, dass es ebenfalls nicht möglich ist, den Wahrheitsbegriff mit dem Rechtfertigungsbegriff einfach gleichzusetzen. Damit kann weder dem internen Zusammenhang, noch der Differenz von Wahrheit und Rechtfertigung Rechnung getragen werden: Denn i.) können wahre Überzeugungen nicht unabhängig von Rechtfertigungen bestehen, ii.) können keine objektiven Bedingungen (etwa über die Autonomie oder den idealen Diskurs) angegeben werden, unter denen gerechtfertigte Überzeugungen wahr sind und iii.) können wahre Überzeugungen nicht mit gerechtfertigten Überzeugungen gleichgesetzt werden. Putnams Argumente lassen also für den propositionalen Wissensbegriff keinen Platz. Die Inkohärenz, dass er selbst den Begriff des Wissens als »Rechtfertigung unter idealen Bedingungen« konzipiert hat, lässt sich nur durch die Inkonsequenz der Anwendung seiner eigenen Argumente erklären. Und trotzdem, so wurde gezeigt, kann die Moralphilosophie nicht einfach auf eine Theorie moralischen Wissens verzichten. Denn eine angemessene Theorie über Normen, Werte und Wertüberzeugungen ist auf jeden Fall im kognitivistischen Theorienspektrum zu verorten. Die Auseinandersetzung mit Putnams Argumenten bietet aber nicht nur eine Problemdiagnose der gegenwärtigen Forschungslandschaft, sie zeigt auch eine Lösungsperspektive auf. Denn wir hatten gesehen, dass er das Verhältnis von Werten und der Praxis des Problemlösens im Internen Realismus nicht angemessen konzeptualisieren kann. So argumentiert Putnam einerseits zirkulär, wenn die Praxis des Problemlösens (die gewissermaßen durch die Hintertür als Letztbegründung wieder eingeführt wird) die richtigen Wertüberzeugungen und das richtige Verständnis von Werten voraussetzt und umgekehrt. Andererseits bleiben sowohl der Begriff des Wertes als auch der Begriff der Praxis notorisch unterbestimmt. Putnams Ausführungen zum Wertbegriff sind etwa ziemlich ambivalent und lassen einige Fragen offen: Einerseits sagt er, dass einige Werte objektiv sein müssen, da sie die Kriterien rationaler Akzeptierbarkeit bereitstellen würden. Gleichzeitig räumt er jedoch ein, dass auch diese Werte interpretiert werden müssen, was wiederum soziokulutrelle Kontexte voraussetzt. Daneben konnte Putnam zwar plausibel darlegen, dass Beschreibungen immer auch Bewertungen implizieren und umgekehrt. Aber in vielen Fällen legen wir uns mit unseren Beschreibungen eben nicht automatisch auf bestimmte Bewertungen fest. Das Hauptproblem der Moralphilosophie, das sollte in dieser Diskussion deutlich geworden sein, besteht jedoch nicht darin zu zeigen, wie ein naturalistisches Vokabular ausgehend von einer wertfreien Beobachter*innenperspektive

2. Wissen, Wahrheit und Rechtfertigung

mit einem evaluativen Vokabular synthetisiert werden kann. Es besteht vielmehr darin zu zeigen, inwiefern es richtige oder falsche Verwendungsweisen der dichten ethischen Begriffe geben kann, die nicht nur innerhalb einer bestimmten Sprache oder Kultur Geltung beanspruchen können – und zu diesem Problem bietet der Interne Realismus keine adäquate Lösung an. Ähnlich problematisch erscheint in diesem Zusammenhang das Verhältnis von Wertüberzeugungen und Handlungsmotivationen. Denn Putnam will zwar zeigen, dass etwa Nazis wegen ihrer Taten böse sind und nicht wegen ihrer sprachlichen Inkompetenz, er klärt aber nicht das Verhältnis von Wertüberzeugungen und den entsprechenden Handlungen. Wie also ist es möglich, sich zum Verhältnis von Internalismus und Externalismus zu positionieren, ohne in dieselben Probleme zu geraten, wie der starke Ethische Realismus? Während Putnams Ausführungen zum Wertbegriff zu selten eindeutig genug sind, um eine homogene Werttheorie vorlegen zu können, wird der Begriff der Praxis trotz seiner zentralen Funktion gar nicht weiter ausgeführt. Putnam selbst spricht nur salopp von einer »Praxis des Problemlösens«, die er entgegen seiner eigenen Argumente als Fundament des Wissens zu missverstehen scheint. Bei den zentralen Begriffen des Wertes und der Praxis handelt es sich deshalb gewissermaßen um die Achillesfersen des Neopragmatismus bzw. des Internen Realismus, an denen eine adäquate Theoriebildung letztlich scheitert. Wenn es aber gelingt, sie differenzierter zu bestimmen bzw. angemessen zu konzeptualisieren, so soll im Folgenden gezeigt werden, wird aus den vermeintlichen Schwachstellen eine vielversprechende Forschungsperspektive für einen nicht-propositionalen Begriff moralischen Wissens.

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3. S  prechen, Wahrnehmen und Handeln Man kann doch auch durch Zufall, oder wenn ein anderer einem vorspricht, so reden, wie die Sprachlehre es vorschreibt. So wird man denn erst dann ein Sprachkundiger sein, wenn man nicht bloß redet, wie die Grammatik vorschreibt, sondern auch, weil sie es so vorschreibt, was beides dann der Fall sein wird, wenn man gemäß selbsteigener Kenntnis der Grammatik redet. A ristoteles

3.1 Wittgenstein

über das

Erlernen

einer

Sprache ...

Im ersten Teil dieser Arbeit wurde gezeigt, dass die Frage nach moralischem Wissen die Frage nach dem richtigen Gebrauch unserer dichten ethischen Begriffe ist. Damit zusammenhängend hatten sich die Schlüsselbegriffe des Neo­ pragmatismus Hilary Putnams als problematisch erwiesen. Um nun die Begriffe des Wertes und der Praxis für eine adäquate Theoriebildung anschlussfähig zu machen und um die damit zusammenhängende Frage beantworten zu können, wie zwischen dem richtigen und falschen Gebrauch dichter ethischer Begriffe unterschieden werden kann, werden im Folgenden zwei philosophisch zentrale und anschlussfähige Argumentationslinien vorgestellt. Dabei handelt es sich zum einen um Wittgensteins Überlegungen zum Erlernen der Sprache und zum Regelfolgen aus den Philosophischen Untersuchungen, zum anderen um die Begriffs- und Urteilslehre Hegels und die sogenannte Figur des »übergreifenden Allgemeinen« aus der Wissenschaft der Logik. Beide Ansätze werden in diesem Kapitel relativ ausführlich dargestellt, um die dabei gewonnenen Erkenntnisse auf die metaethische Diskussion übertragen zu können. Wir beginnen mit dem locus classicus zum Problem des korrekten Begriffsgebrauchs: Wie ist es also möglich, innerhalb einer Sprache bzw. eines Begriffssystems zwischen der richtigen und falschen Verwendung von Begriffen zu unterscheiden? Um diese

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Das Problem moralischen Wissens

Frage beantworten zu können, thematisiert Wittgenstein zu Beginn der Philosophischen Untersuchungen das Erlernen einer Sprache: »Augustinus, in den Confessiones I/8: cum ipsi (majores homines) appellabant rem aliquam, et cum secundum eam vocem corpus ad aliquid movebant, videbam, et tenebam hoc ab eis vocari rem illam, quod sonabant, cum eam vellent ostendere. Hoc autem eos velle ex motu corporis aperiebatur: tamquam verbis naturalibus omnium gentium, quae fiunt vultu et nutu oculorum, ceterorumque membrorum actu, et sonitu vocis indicante affectionem animi in petendis, habendis, rejicindis, fugiendisve rebus. Ita verba in variis sententiis locis suis posita, et crebro audita, quarum rerum signa essent, paulatim colligebam, measque iam voluntates, edomito in eis signis ore, per haec enuntiabam. [Nannten die Erwachsenen irgend einen Gegenstand und wandten sie sich dabei ihm zu, so nahm ich das wahr und ich begriff, daß der Gegenstand durch die Laute, die sie aussprachen, bezeichnet wurde, da sie auf ihn hinweisen wollten. Dies aber entnahm ich aus ihren Gebärden, der natürlichen Sprache aller Völker, der Sprache, die durch Mienen- und Augenspiel, durch die Bewegungen der Glieder und den Klang der Stimme die Empfindungen der Seele anzeigt, wenn diese irgend etwas begehrt, oder festhält, oder zurückweist, oder flieht. So lernte ich nach und nach verstehen, welche Dinge die Wörter bezeichneten, die ich wieder und wieder, an ihren bestimmten Stellen in verschiedenen Sätzen, aussprechen hörte. Und ich brachte, als nun mein Mund sich an diese Zeichen gewöhnt hatte, durch sie meine Wünsche zum Ausdruck.] In diesen Worten erhalten wir, so scheint es mir, ein bestimmtes Bild von dem Wesen der menschlichen Sprache. Nämlich dieses: Die Wörter der Sprache benennen Gegenstände – Sätze sind Verbindungen von solchen Benennungen. – In diesem Bild von der Sprache finden wir die Wurzeln der Idee: Jedes Wort hat eine Bedeutung. Diese Bedeutung ist dem Wort zugeordnet. Sie ist der Gegenstand, für welchen das Wort steht. Von einem Unterschied der Wortarten spricht Augustinus nicht. Wer das Lernen der Sprache so beschreibt, denkt, so möchte ich glauben, zunächst an Hauptwörter, wie ›Tisch‹, ›Stuhl‹, ›Brot‹, und die Namen von Personen, erst in zweiter Linie an die Namen gewisser Tätigkeiten und Eigenschaften, und an die übrigen Wortarten als etwas, was sich finden wird. Denke nun an diese Verwendung der Sprache: Ich schicke jemand einkaufen. Ich gebe ihm einen Zettel, auf diesem stehen die Zeichen: ›fünf rote Apfel‹. Er trägt den Zettel zum Kaufmann; der öffnet die Lade, auf welcher das Zeichen ›Äpfel‹ steht; dann sucht er in einer Tabelle das Wort ›rot‹ auf und findet ihm gegenüber ein Farbmuster; nun sagt er die Reihe der Grundzahlwörter – ich nehme an, er weiß sie auswendig – bis zum Worte ›fünf‹ und bei jedem Zahlwort nimmt er einen Apfel aus der Lade, der die Farbe des Musters hat. – So, und ähnlich, operiert man mit Worten. – ›Wie weiß er aber, wo und wie er das Wort ›rot‹ nachschlagen soll und was er mit dem Wort ›fünf‹ anzufangen hat?‹ – Nun, ich nehme an, er handelt, wie

3. Sprechen, Wahrnehmen und Handeln ich es beschrieben habe. Die Erklärungen haben irgendwo ein Ende. – Was ist aber die Bedeutung des Wortes ›fünf‹? – Von einer solchen war hier gar nicht die Rede; nur davon, wie das Wort ›fünf‹ gebraucht wird.« (PU 1)

Augustinus zeichnet hier ein Bild der Sprache, das Wittgenstein destruieren will. Demnach bezeichnen Begriffe bzw. Worte etwas, das dem lernenden Kind, das noch nicht über Sprache verfügt, unabhängig von der Sprache gegenwärtig sein muss.1 Das kindliche Erlernen einer Sprache wird dabei so vorgestellt, als käme ein Erwachsener in ein fremdes Land, um eine andere Sprache zu erlernen: Indem er darauf achtet, wie die fremden Sprecher*innen bestimmte Worte in bestimmten Situationen benutzen und indem er sich hinweisende Erklärungen geben lässt, kann er etwa lernen, dass »blue« »blau« bedeutet oder »tree« »Baum« oder »five« »fünf« usw. (vgl. Wellmer 2004, 31): »Wer in ein fremdes Land kommt, wird manchmal die Sprache der Einheimischen durch hinweisende Erklärungen lernen, die sie ihm geben; und er wird die Deutung dieser Erklärungen oft raten müssen und manchmal richtig, manchmal falsch raten. Und nun können wir, glaube ich, sagen: Augustinus beschreibe das Lernen der menschlichen Sprache so, als käme das Kind in ein fremdes Land und verstehe die Sprache des Landes nicht; das heißt: so als habe es bereits eine Sprache, nur nicht diese. Oder auch: als könne das Kind schon denken, nur noch nicht sprechen. Und ›denken‹ hieße hier etwas, wie: zu sich selber reden.« (PU 32)

Die von Wittgenstein angesprochenen »hinweisenden Erklärungen«, wie »Diese Farbe heißt so und so«, »Diese Zahl heißt zwei«, »Dieser Gegenstand ist x« oder »Dies ist Sepia« setzen allerdings schon voraus, dass die Sprecher*in bereits über die entsprechenden Worte wie Farbe, Zahl, Gegenstand oder Sepia verfügt (vgl. Wellmer 2004, 35; PU 29 ff.). Oder mit Wittgenstein: »Wir können sagen: Nach der Benennung fragt nur der sinnvoll, der schon etwas mit ihr anzufangen weiß.« (PU 31) Da die Annahme, ein Kind habe eine Sprache schon vor einer Sprache, keinen Sinn macht, kann das Erlernen einer Sprache nicht im Sinne Augustinus verstanden werden (vgl. Wellmer 2004, 36). Wittgenstein erläutert dies am Beispiel einer primitiven Sprache:

1 | Ich benutze die Begriffe Wort und Begriff hier vorerst synonym, um semantische Einheiten zu bezeichnen. Denn Wittgenstein differenziert erstens nicht weiter zwischen Worten und Begriffen und benutzt zweitens den Begriff Wort in eben diesem Sinne, wie mir scheint. Im weiteren Verlauf der Arbeit werde ich mit dem Ausdruck Begriff semantische Einheiten und mit dem Ausdruck Wort grammatische Einheiten bezeichnen.

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Das Problem moralischen Wissens »Denken wir uns eine Sprache, für die die Beschreibung, wie Augustinus sie gegeben hat, stimmt: Die Sprache soll der Verständigung eines Bauenden A mit einem Gehilfen B dienen. A führt einen Bau auf aus Bausteinen; es sind Würfel, Säulen, Platten und Balken vorhanden. B hat ihm die Bausteine zuzureichen, und zwar nach der Reihe, wie A sie braucht. Zu dem Zweck bedienen sie sich einer Sprache, bestehend aus den Wörtern: ›Würfel‹, ›Säule‹, ›Platte‹, ›Balken‹. A ruft sie aus; – B bringt den Stein, den er gelernt hat, auf diesen Ruf zu bringen. – Fasse dies als vollständige primitive Sprache auf.« (PU 2)

Das Lehren einer solch primitiven Sprache bezeichnet Wittgenstein nun nicht mehr als »hinweisende Erklärung«, sondern als »hinweisendes Lehren der Wörter« oder als »Abrichtung«:2 »Wir könnten uns vorstellen, daß die Sprache im § 2 die ganze Sprache des A und B ist; ja, die ganze Sprache eines Volksstamms. Die Kinder werden dazu erzogen, diese Tätigkeiten zu verrichten, diese Wörter dabei zu gebrauchen, und so auf die Worte des Anderen zu reagieren. Ein wichtiger Teil der Abrichtung wird darin bestehen, daß der Lehrende auf die Gegenstände weist, die Aufmerksamkeit des Kindes auf sie lenkt, und dabei ein Wort ausspricht; z. B. das Wort ›Platte‹ beim Vorzeigen dieser Form. (Dies will ich nicht ›hinweisende Erklärung‹, oder ›Definition‹, nennen, weil ja das Kind noch nicht nach der Benennung fragen kann. Ich will es ›hinweisendes Lehren der Wörter‹ nennen. – Ich sage, es wird einen wichtigen Teil der Abrichtung bilden, weil es bei Menschen so der Fall ist; nicht, weil es sich nicht anders vorstellen ließe.) Dieses hinweisende Lehren der Wörter, kann man sagen, schlägt eine assoziative Verbindung zwischen dem Wort und dem Ding: Aber was heißt das? Nun, es kann Verschiedenes heißen; aber man denkt wohl zunächst daran, daß dem Kind das Bild des Dings vor die Seele tritt, wenn es das Wort hört. Aber wenn das nun geschieht, – ist das der Zweck des Worts? – Ja, es kann der Zweck sein. – Ich kann mir eine solche Verwendung von Wörtern (Lautreihen) denken. (Das Aussprechen eines Wortes ist gleichsam ein Anschlagen einer Taste auf dem Vorstellungsklavier.) Aber in der Sprache im § 2 ist es nicht der Zweck der Wörter, Vorstellungen zu erwecken. (Es kann freilich auch gefunden werden, daß dies dem eigentlichen Zweck förderlich ist.) Wenn aber das das hinweisende Lehren bewirkt, – soll ich sagen, es bewirkt das Verstehen des Worts? Versteht nicht der den Ruf ›Platte!‹, der so und so nach ihm handelt? – Aber dies half wohl das hinweisende Lehren herbeiführen; aber doch

2 | Allerdings handelt es sich entgegen der Auffassung Wittgensteins hierbei eher um ein Signalverhalten als um eine primitive oder gar vollständige Sprache, da die Einbettung in eine entsprechende Sprachpraxis fehlt (vgl. Stekeler-Weithofer 2002, 221). Auf eine solche Einbettung macht er im Folgenden aufmerksam.

3. Sprechen, Wahrnehmen und Handeln nur zusammen mit einem bestimmten Unterricht. Mit einem anderen Unterricht hätte dasselbe hinweisende Lehren dieser Wörter ein ganz anderes Verständnis bewirkt. ›Indem ich die Stange mit dem Hebel verbinde, setze ich die Bremse instand.‹ – Ja, gegeben den ganzen übrigen Mechanismus. Nur mit diesem ist er der Bremshebel; und losgelöst von seiner Unterstützung ist er nicht einmal Hebel, sondern kann alles Mögliche sein, oder nichts.« (PU 6)

Wenn Wittgenstein hier vom »hinweisenden Lehren« und vom »Abrichten« spricht, bezeichnet er damit einen Modus des Lernens, durch den die Voraussetzung dafür geschaffen wird, dass Kinder nach Benennungen fragen können. Denn das Erlernen der Wörter Würfel, Säule, Platte oder Balken geschieht nicht nur durch das Hervorrufen von Assoziationen mit Dingen. So bezeichnet das Wort Platte in PU 2 eben keinen Namen von einem Ding, sondern einen Befehl: »Bring mir eine Platte!« Deshalb sagt Wittgenstein später auch, dass man für eine große Klasse von Fällen (aber nicht für alle Fälle!) das Wort Bedeutung wie folgt erklären kann: »Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache.« (PU 43)3 Das Erlernen einer Sprache, so die Pointe von PU 6, besteht weniger in der Assoziation von Wörtern mit Dingen als vielmehr in der Einführung in eine soziale Praxis (vgl. Wellmer 2004, 39). Das ist für Wittgenstein der Grund, den berühmten Begriff des Sprachspiels einzuführen: »Ich werde auch das Ganze: der Sprache und der Tätigkeiten [sic!], mit denen sie verwoben ist, das ›Sprachspiel‹ nennen.« (PU 7) Zunächst können wir also festhalten, dass im Sinne Wittgensteins das Erlernen einer Sprache in der Einführung in eine gemeinsame Praxis verstanden werden muss. Anschließend erweitert er sein Beispiel der primitiven Sprache um Zahlworte, deiktische Ausdrücke und Farbmuster, um darauf aufbauend zu fragen, wie diese neuen Wörter gelernt werden können: »Sehen wir eine Erweiterung der Sprache (2) an. Außer den vier Wörtern ›Würfel‹, ›Säule‹, etc. enthalte sie eine Wörterreihe, die verwendet wird, wie der Kaufmann in (1) die Zahlwörter verwendet (es kann die Reihe der Buchstaben des Alphabets sein); ferner, zwei Wörter, sie mögen ›dorthin‹ und ›dieses‹ lauten (weil dies schon

3 | Innerhalb dieses Kapitels wird mit dem Begriff der Bedeutung operiert, da er eine zentrale Rolle in Wittgensteins Ausführungen und ihrer Rezeption in der Forschung spielt. Da es sich jedoch um einen der kompliziertesten Begriffe der Linguistik und Philosophie handelt, der mit dem Thema dieser Arbeit nur lose verknüpft ist, kann er hier nicht hinreichend geklärt werden. Als zugegebenermaßen nicht unproblematische Arbeitsdefinition kann der Begriff der Bedeutung in diesem Kontext aber als dasjenige aufgefasst werden, was ein sprachlicher Ausdruck zu verstehen gibt (vgl. Schneider 2004, 259).

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Das Problem moralischen Wissens ungefähr ihren Zweck andeutet), sie werden in Verbindung mit einer zeigenden Handbewegung gebraucht; und endlich eine Anzahl von Farbmustern. A gibt einen Befehl von der Art: ›d-Platte-dorthin‹. Dabei läßt er den Gehilfen ein Farbmuster sehen, und beim Worte ›dorthin‹ zeigt er an eine Stelle des Bauplatzes. B nimmt von dem Vorrat der Platten je eine von der Farbe des Musters für jeden Buchstaben des Alphabets bis zum ›d‹ und bringt sie an den Ort, den A bezeichnet. – Bei anderen Gelegenheiten gibt A den Befehl: ›dieses dorthin‹. Bei ›dieses‹ zeigt er auf einen Baustein. Usw.« (PU 8)

Und weiter: »Wenn das Kind diese Sprache lernt, muß es die Reihe der ›Zahlwörter‹ a, b, c, ... auswendiglernen. Und es muß ihren Gebrauch lernen. – Wird in diesem Unterricht auch ein hinweisendes Lehren der Wörter vorkommen? – Nun, es wird z.B. auf Platten gewiesen und gezählt werden: ›a, b, c Platten‹. – Mehr Ähnlichkeit mit dem hinweisenden Lehren der Wörter ›Würfel‹, ›Säule‹, etc. hätte das hinweisende Lehren von Zahlwörtern, die nicht zum Zählen dienen, sondern zur Bezeichnung mit dem Auge erfassbarer Gruppen von Dingen. So lernen ja Kinder den Gebrauch der ersten fünf oder sechs Grundzahlwörter. Wird auch ›dorthin‹ und ›dieses‹ hinweisend gelehrt? – Stell dir vor, wie man ihren Gebrauch etwa lehren könnte! Es wird dabei auf Orte und Dinge gezeigt werden, – aber hier geschieht ja dieses Zeigen auch im Gebrauch der Wörter und nicht nur beim Lernen des Gebrauchs.« (PU 9)

Die scheinbare Brücke zwischen Worten und der Welt ist im Sinne Wittgensteins eine Brücke zwischen Worten. Erst wenn ein Begriffsfeld mit verschiedenen Farben, Zahlen, Richtungen, Gegenständen usw. eröffnet ist, kann man sagen »Dieser Stein heißt Platte« oder »das Zeichen d bezeichnet eine Zahl« usw. Die Redeweise »x bedeutet y« kann sonst keinen Sinn haben (vgl. Wellmer 2004, 41). Neben der Korrelation von Sprache und Handlungspraxis können wir in Anschluss an Wittgenstein darüber hinaus also festhalten, dass es Wortbedeutungen nur im Zusammenhang einer Sprache geben kann: »Einen Satz verstehen, heißt, eine Sprache verstehen.« (PU 199)

3.2 ...

und über

Regelfolgen

Mit diesen beiden zusammenhängenden Einsichten, dass i.) das Erlernen einer Sprache als Einführung in eine gemeinsame Praxis verstanden werden muss und dass es ii.) Wortbedeutungen nur im Zusammenhang einer Sprache geben kann, wendet sich der späte Wittgenstein gegen die positivistische These, dass die Bedeutung eines Ausdrucks ein Gegenstand oder Sachverhalt in der Welt ist.

3. Sprechen, Wahrnehmen und Handeln

Gleichzeitig weist er darauf hin, dass die Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks, wenn schon nicht in allen, so doch in vielen Fällen, in der Art und Weise seiner Verwendung liegt. Um auf die zentrale Bedeutung einer relativ stabilen Verwendungsweise von Begriffen hinzuweisen, greift Wittgenstein anschließend auf den Begriff der Regel zurück (vgl. PU 81 f.). Dabei knüpft er (ohne es explizit zu erwähnen) an die Begriffstheorie Immanuel Kants an. Denn es gehört wohl zu den größten Verdiensten Kants, Begriffe als Regeln bestimmt und das Problem des Regelfolgens formuliert zu haben. In der Kritik der reinen Vernunft unterscheidet er zwischen Verstand, Urteilskraft und Vernunft als den Vermögen der Begriffe, Urteile und Schlüsse (vgl. KrV, A 130). Der Verstand wird dabei als das »Vermögen der Regeln« und die Urteilskraft als das »Vermögen unter Regeln zu subsumieren« gedacht, »d.i. zu unterscheiden, ob etwas unter einer gegebenen Regel (casus datae legis) stehe, oder nicht« (KrV, B 171/A 132). Kant erläutert die Bestimmung von Begriffen als Regeln am Beispiel eines Hundes: »Der Begriff vom Hunde bedeutet eine Regel, nach welcher meine Einbildungskraft die Gestalt eines vierfüßigen Tieres allgemein verzeichnen kann, ohne auf irgend eine einzige besondere Gestalt, die mir die Erfahrung darbietet, oder auch ein jedes mögliche Bild, was ich in concreto darstellen kann, eingeschränkt zu sein.« (KrV, A 141/B 180)

Das Motiv, dass die Bedeutung von Begriffen nicht durch »besondere Gestalten« oder »mögliche Bilder« festgelegt werden kann, findet sich in Anschluss an Kant ebenso bei Wittgenstein, wie der Vorgriff auf das Problem des Lernens von Begriffen bzw., dass das Befolgen von Regeln nicht durch Belehrung gelernt werden kann: »Wollte sie [gemeint ist die allgemeine Logik; FHvW] nun allgemein zeigen, wie man unter diese Regeln subsumieren, d.i. unterscheiden sollte, ob etwas darunter stehe oder nicht, so könnte dieses nicht anders, als wieder durch eine Regel geschehen. Diese aber erfordert eben darum, weil sie eine Regel ist, aufs neue Unterweisung der Urteilskraft, und so zeigt sich, daß zwar der Verstand einer Belehrung und Ausrüstung durch Regeln fähig, Urteilskraft aber ein besonderes Talent sei, welches gar nicht belehrt, sondern nur geübt sein will. [...]; denn ob diese gleich einem eingeschränkten Verstande Regeln vollauf, von fremder Einsicht entlehnt, darreichen und gleichsam einpfropfen kann; so muß doch das Vermögen, sich ihrer richtig zu bedienen, dem Lehrlinge selbst angehören, und keine Regel, die man ihm in dieser Absicht vorschreiben möchte, ist in Ermangelung einer solchen Naturgabe, vor Mißbrauch sicher. Ein Arzt daher, ein Richter oder ein Staatskundiger kann viel schöne pathologische, juristische oder politische Regeln im Kopfe haben in dem Grade, daß er selbst darin ein gründlicher Lehrer werden kann, und wird dennoch in der Anwendung derselben leicht verstoßen, entweder, weil es ihm an natürlicher

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Das Problem moralischen Wissens Urtheilskraft (obgleich nicht am Verstande) mangelt, und er zwar das Allgemeine in abstracto einsehen, aber ob ein Fall in concreto darunter gehöre, nicht unterscheiden kann, oder auch darum, weil er nicht genug durch Beispiele und wirkliche Geschäfte zu diesem Urteile abgerichtet worden.« (KrV, A 133/B 172)

Die Philosophischen Untersuchungen knüpfen genau an dieses Problem an, ohne jedoch eine Definition des Regelbegriffs zu geben. Denn da Wittgenstein Wesensbestimmungen ablehnt, fragt er stattdessen danach, wann wir vom Befolgen einer Regel sprechen (vgl. PU 82; Puhl 2011, 94). Er hat jedoch, wie schon vor ihm Kant, zwei grundlegende Motive für die Einführung des Regelbegriffs: Erstens wird damit auf den stabilen bzw. wiederholbaren Begriffsgebrauch innerhalb einer Sprache hingewiesen und zweitens darauf, dass diese Wiederholbarkeit mit der Unterscheidung zwischen richtigem und falschem Begriffsgebrauch zusammenhängt (vgl. Wellmer 2004, 59).4 In Anschluss an die Überlegungen Kants zeigt Wittgenstein zunächst mit einem Regressargument, dass die Anwendung einer Regel nicht durch Dinge oder Sachverhalte in der Welt geregelt werden kann. Dabei stellt er fest, dass die Anwendung eines Wortes »nicht überall von Regeln begrenzt« ist, da die richtige Anwendung einer Regel nicht ad infinitum gesichert werden kann: »Können wir uns nicht eine Regel denken, die die Anwendung der Regel regelt? Und einen Zweifel, den jene Regel behebt – und so fort?« (PU 84) Es gibt, so das Argument, keine eindeutige Relation zwischen Begriffen und Gegenständen, Dingen oder Sachverhalten in der Welt, wie das augustinische Bild der Sprache suggeriert:5 »Nimm an, ich erkläre: ›Unter ›Moses‹ verstehe ich den Mann, wenn es einen solchen gegeben hat, der die Israeliten aus Ägypten geführt hat, wie immer er damals

4 | In Anschluss an John Rawls Unterscheidung zwischen der »summary view« und der »practice view« von Regeln (vgl. ders. 1988/1955) hat John Searle die kanonische Unterscheidung zwischen regulativen Regeln und konstitutiven Regeln in die philosophische Debatte eingeführt (vgl. ders. 1995, 27 ff.): Während regulative Regeln in bestimmten Situationen ein bestimmtes Handeln vorschreiben, ermöglichen konstitutive Regeln das Handeln erst. So handelt es sich etwa bei der Norm, nur am Wochenende Fußball zu spielen, um eine regulative Regel, während die Regeln des Fußballs konstitutiv dafür sind, um überhaupt Fußball spielen zu können (vgl. Kern 2006, 203 f.). Wir werden im weiteren Argumentationsverlauf sehen, dass die Einteilung von Regeln in solche, die Praktiken voraussetzen, und solche, die von Praktiken vorausgesetzt werden, problematisch ist. 5 | Die Begriffe Gegenstand und Ding benutze ich hier vorerst gleichbedeutend. Eine begriffliche Differenzierung folgt im weiteren Argumentationsverlauf.

3. Sprechen, Wahrnehmen und Handeln geheißen hat und was immer er sonst getan, oder nicht getan haben mag‹. – Aber über die Wörter dieser Erklärung sind ähnliche Zweifel möglich wie die über den Namen ›Moses‹ (was nennst du ›Ägypten‹, wen ›die Israeliten‹, etc.?). Ja, diese Fragen kommen auch nicht zu einem Ende, wenn wir bei Wörtern wie ›rot‹, ›dunkel‹, ›süß‹, angelangt wären. – ›Aber wie hilft mir dann eine Erklärung zum Verständnis, wenn sie doch nicht die letzte ist? Die Erklärung ist dann ja nie beendet; ich verstehe also noch immer nicht, und nie, was er meint!‹ – Als hinge eine Erklärung, gleichsam, in der Luft, wenn nicht eine andere sie stütze. Während eine Erklärung zwar auf einer andern, die man gegeben hat, ruhen kann, aber keine einer anderen bedarf – es sei denn, daß wir sie benötigen, um ein Mißverständnis zu vermeiden. Man könnte sagen: Eine Erklärung dient dazu, ein Mißverständnis zu beseitigen, oder zu verhüten – also eines, das ohne die Erklärung eintreten würde; aber nicht: jedes, welches ich mir vorstellen kann. Es kann leicht so scheinen, als zeigte jeder Zweifel nur eine vorhandene Lücke im Fundament; so daß ein sicheres Verständnis nur dann möglich ist, wenn wir zuerst an allem zweifeln, woran gezweifelt werden kann, und dann alle diese Zweifel beheben. Der Wegweiser ist in Ordnung, – wenn er, unter normalen Verhältnissen, seinen Zweck erfüllt.« (PU 87)

Wittgenstein zeigt, dass es keine abschließende Erklärung des Begriffsgebrauchs und damit keine eindeutige Beziehung zwischen Sprache und Welt, Begriff und Gegenstand geben kann.6 Damit weist er zunächst jede naive Abbildtheorie der

6 | Das Regressargument wird in PU 139 wieder aufgegriffen, um die Problematik am Beispiel eines Würfels zu verdeutlichen: »Wenn mir jemand z.B. das Wort ›Würfel‹ sagt, so weiß ich, was es bedeutet. Aber kann mir denn die ganze Verwendung des Wortes vorschweben, wenn ich es so verstehe? Ja, wird aber andererseits die Bedeutung des Wortes nicht auch durch diese Verwendung bestimmt? Und können sich diese Bestimmungen nun widersprechen? Kann, was wir so mit einem Schlage erfassen, mit einer Verwendung übereinstimmen, zu ihr passen, oder nicht zu ihr passen? Und wie kann das, was uns in einem Augenblicke gegenwärtig ist, was uns in einem Augenblick vorschwebt, zu einer Verwendung passen? Was ist es denn eigentlich, was uns vorschwebt, wenn wir ein Wort verstehen? – Ist es nicht etwas, wie ein Bild? Kann es nicht ein Bild sein? Nun, nimm an, beim Hören des Wortes ›Würfel‹ schwebt dir ein Bild vor. Etwa die Zeichnung eines Würfels. In wiefern [sic!] kann dies Bild zu einer Verwendung des Wortes ›Würfel‹ passen, oder nicht zu ihr passen? – Vielleicht sagst du: ›das ist einfach; – wenn mir dieses Bild vorschwebt und ich zeige z.B. auf ein dreieckiges Prisma und sage, dies sei ein Würfel, so paßt diese Verwendung nicht zum Bild.‹ – Aber paßt sie nicht? Ich habe das Beispiel absichtlich so gewählt, daß es ganz leicht ist, sich eine Projektionsmethode vorzustellen, nach welcher das Bild nun doch paßt. Das Bild des Würfels legte uns allerdings

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Das Problem moralischen Wissens

Bedeutung zurück, nach der Sachverhalte in der Welt durch Begriffe mental repräsentiert werden.7 Anschließend vergleicht er die Regel mit einem Wegweiser. Denn um eine Regel richtig anzuwenden, muss man bereits gelernt haben, sie richtig zu deuten: »Eine Regel steht da, wie ein Wegweiser. – Läßt er keinen Zweifel offen über den Weg, den ich zu gehen habe? Zeigt er, in welche Richtung ich gehen soll, wenn ich an ihm vorbei bin; ob der Straße nach, oder dem Feldweg, oder querfeldein? Aber wo steht, in welchem Sinne ich ihm zu folgen habe; ob in der Richtung der Hand, oder (z.B.) in der entgegengesetzten?« (PU 85)

Beim Befolgen von Regeln bzw. bei der Projektion von Begriffen gibt es zwar keine eindeutige Beziehung zwischen Sprache und Welt, das bedeutet aber nicht, dass es gar keine Unterscheidung zwischen richtigem und falschem Begriffsgebrauch gibt.8 Deshalb redet Wittgenstein davon, dass wir bei der Projektion von Begriffen wie Würfel unter keinem »logischen Zwang«, wohl aber unter einem »psychologischen Zwang« stehen: »Welcher Art war dann aber mein Irrtum; der, welchen man so ausdrücken möchte: ich hätte geglaubt, das Bild zwinge mich nun zu einer bestimmten Verwendung? Wie konnte ich denn das glauben? Was habe ich da geglaubt? Gibt es denn ein Bild, oder etwas einem Bild Ähnliches, das uns zu einer bestimmten Anwendung zwingt, und war mein Irrtum also eine Verwechslung? – Denn wir könnten geneigt sein, uns auch so auszudrücken: wir seien höchstens unter einem psy-

eine gewisse Verwendung nahe, aber ich konnte es auch anders verwenden.« (PU 139) Wittgenstein variiert das Argument an dieser Stelle: Die augustinische Sprecher*in muss annehmen, dass alle möglichen Verwendungsweisen des Begriffs Würfel für alle künftigen Verwendungen eindeutig festgelegt sind. 7 | Die aus der Optik stammende Metaphorik der Abbildung ist seit der Antike ein beliebtes philosophisches Motiv, um das Verhältnis von Sprache und Welt zu erläutern. Üblicherweise werden Abbildtheorien weiter in Isomorphie- und Widerspiegelungstheorien unterteilt (vgl. Lorenz 2004, 26 f.). Ich spreche im Folgenden von Abbildtheorien ausschließlich in Bezug auf naiv-realistische Theorien, bei denen Gegenstände »in der Welt« durch Worte »vertreten« bzw. semantisch zugeordnet werden (vgl. Kambartel/Stekeler-Weithofer 2005, 165). Eine anschlussfähige Widerspiegelungstheorie, die von einer naiv-realistischen Abbildtheorie abzugrenzen ist, wird weiter unten skizziert werden. 8 | Ich spreche hier, wie in der Forschung mitunter üblich, von der Projektion bzw. vom Projizieren von Begriffen als dem urteilsmäßigen Anwenden oder Zuschreiben von Begriffen auf Gegenstände oder Sachverhalte in der Welt.

3. Sprechen, Wahrnehmen und Handeln chologischen Zwang, aber unter keinem logischen. Und da scheint es ja völlig, als kennten [sic!] wir zweierlei Fälle. Was tat denn mein Argument? Es machte darauf aufmerksam (erinnerte uns daran), daß wir unter Umständen bereit wären, auch einen andern Vorgang ›Anwendung des Würfelbildes‹ zu nennen als nur den, an welchen wir ursprünglich gedacht hatten. Unser ›Glaube, das Bild zwinge uns zu einer bestimmten Anwendung‹, bestand also darin, daß uns nur der eine Fall und kein andrer [sic!] einfiel. ›Es gibt auch eine andere Lösung‹, heißt: es gibt auch etwas Anderes, was ich bereit bin ›Lösung‹ zu nennen; worauf ich bereit bin, das und das Bild, die und die Analogie anzuwenden, etc. Und das Wesentliche ist nun, daß wir sehen, daß uns das Gleiche beim Hören des Wortes vorschweben, und seine Anwendung doch eine andere sein kann. Und hat es dann beide Male die gleiche Bedeutung? Ich glaube, das werden wir verneinen.« (PU 140)

Wie aber ist es nun möglich, einen Begriff richtig anzuwenden bzw. ihn richtig zu projizieren? Wittgenstein expliziert das Problem anhand einer Lehr-Lernsituation im Bereich der Arithmetik. Dabei betont er, dass das Erlernen einer Regel vom gemeinsamen und verlässlichen Reagieren auf diese Lernsituation abhängig ist (vgl. Puhl 2011, 100): »Betrachten wir nun diese Art von Sprachspiel: B soll auf den Befehl des A Reihen von Zeichen niederschreiben nach einem bestimmten Bildungsgesetz. Die erste dieser Reihen soll die sein der natürlichen Zahlen im Dezimalsystem. – Wie lernt er dieses System verstehen? – Zunächst werden ihm Zahlenreihen vorgeschrieben und er wird angehalten, sie nachzuschreiben. (Stoß dich nicht an dem Wort ›Zahlenreihen‹, es ist hier nicht unrichtig verwendet!) Und schon hier gibt es eine normale und eine abnormale Reaktion des Lernenden. – Wir führen ihm etwa zuerst beim Nachschreiben der Reihe 0 bis 9 die Hand; dann aber wird die Möglichkeit der Verständigung daran hängen, daß er nun selbständig weiterschreibt. – Und hier können wir uns, z.B., denken, daß er nun zwar selbständig Ziffern kopiert, aber nicht nach der Reihe, sondern regellos einmal die, einmal die. Und dann hört da die Verständigung auf. – Oder aber er macht ›Fehler‹ in der Reihenfolge. – Der Unterschied zwischen diesem und dem ersten Fall ist natürlich einer der Häufigkeit. – Oder: er macht einen systematischen Fehler, er schreibt z.B. immer nur jede zweite Zahl nach; oder er kopiert die Reihe 0, 1, 2, 3, 4, 5, .... so: 1, 0, 3, 2, 5, 4, .... Hier werden wir beinahe versucht sein zu sagen, er habe uns falsch verstanden. Aber merke: Es gibt keine scharfe Grenze zwischen einem regellosen und einem systematischen Fehler. D.h., zwischen dem, was du einen ›regellosen‹, und dem, was du einen ›systematischen Fehler‹ zu nennen geneigt bist. Man kann ihm nun vielleicht den systematischen Fehler abgewöhnen (wie eine Unart). Oder, man läßt seine Art des Kopierens gelten und trachtet, ihm die normale Art als eine Abart, Variation, der seinigen beizubringen. – Und auch hier kann die Lernfähigkeit unseres Schülers abbrechen.« (PU 143)

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Das Problem moralischen Wissens

Die Lehrer*in hat keine Chance, ihre Aufforderung so zu formulieren oder die Schüler*in so anzuleiten, dass keine Deutungsvielfalt möglich ist. In Ermangelung an interpretationsfreien Kriterien, kann es keine klare Unterscheidung zwischen regellosen und systematischen Fehlern geben. Nachdem Wittgenstein in PU 148-184 das Regelwissen als ein »Können« oder als das »Beherrschen einer Technik« bestimmt hat (s.u.), kommt er in PU 185 auf das Problem zurück: »Gehen wir nun zu unserm Beispiel (143) zurück. Der Schüler beherrscht jetzt – nach den gewöhnlichen Kriterien beurteilt – die Grundzahlenreihe. Wir lehren ihn, nun auch andere Reihen von Kardinalzahlen anschreiben und bringen ihn dahin, daß er z.B. auf Befehle von der Form ›+n‹ Reihen der Form 0, n, 2n, 3n, etc. anschreibt; auf den Befehl ›+1‹ also die Grundzahlenreihe. – Wir hätten unsre Übungen und Stichproben seines Verständnisses im Zahlenraum bis 1000 gemacht. Wir lassen nun den Schüler einmal eine Reihe (etwa ›+2‹) über 1000 hinaus fortsetzen, – da schreibt er: 1000, 1004, 1008, 1012. Wir sagen ihm: ›Schau, was du machst!‹ – Er versteht uns nicht. Wir sagen: ›Du solltest doch zwei addieren; schau, wie du die Reihe begonnen hast!‹ – Er antwortet: ›Ja! Ist es denn nicht richtig? Ich dachte, so soll ich’s machen.‹ – Oder nimm an, er sagte, auf die Reihe weisend: ›Ich bin doch auf die gleiche Weise fortgefahren!‹ – Es würde uns nun nichts nützen, zu sagen ›Aber siehst du denn nicht....?‹ – und ihm die alten Erklärungen und Beispiele zu wiederholen. – Wir könnten in so einem Falle etwa sagen: Dieser Mensch versteht von Natur aus jenen Befehl, auf unsre Erklärungen hin, so, wie wir den Befehl: ›Addiere bis 1000 immer 2, bis 2000 4, bis 3000 6, etc.‹. Dieser Fall hätte Ähnlichkeit mit dem, als reagierte ein Mensch auf eine zeigende Gebärde der Hand von Natur damit, daß er in der Richtung von der Fingerspitze zur Handwurzel blickt, statt in der Richtung zur Fingerspitze.« (PU 185)

Das Beispiel, so Albrecht Wellmer, hat etwas gewollt Absurdes. Da wir die Arithmetik gelernt haben, können wir gar nicht verstehen, dass man die Regel »+2« in der Art missverstehen kann. Die Pointe der Argumentation besteht darin, dass die Lehrer*in die Regel »Addiere 2« zwar durch andere Beispiele und Erklärungen erläutern könnte, diese jedoch wieder von der Schüler*in gedeutet werden müssten (vgl. ders. 2004, 76 f.; PU 186). Saul Kripke hat dieses Beispiel in abgewandelter Form zur Grundlage seiner prominenten Wittgenstein-Interpretation gemacht und das Problem gleichzeitig sehr anschaulich erläutert: Jeder, so Kripke, der die Additionsregel »+« schon einmal verwendet hat, hat – egal wie viele Additionen er im Leben schon gerechnet haben mag – immer eine Reihe von Additionen noch nicht ausgeführt. Nun stellen wir uns eine Person P vor, die noch nie Additionen mit Zahlen ausgeführt hat, die größer als 56 sind. P rechnet

3. Sprechen, Wahrnehmen und Handeln

nun zum ersten Mal die Addition »68 + 57« und kommt auf das Ergebnis 125. Dieses Ergebnis rechtfertigt P mit der Additionsregel: »So zu verfahren ist das, was ich unter Addition verstehe, und schon immer darunter verstanden habe.« Kripke nimmt nun eine fiktive Skeptiker*in an, die bezweifelt, dass P bei der Verwendung des Operators »+« auch wirklich der Regel »a plus b« gefolgt ist. Es könnte ja auch sein, dass P, anstatt der Additionsregel »Plus« zu folgen, bisher immer der Quadditionsregel »Quus« (dargestellt durch das Symbol ) gefolgt ist, die wie folgt definiert ist: x y = x + y, wenn x, y < 57. x y = 5 in allen anderen Fällen. In dem Fall wäre das Ergebnis also nicht 125, sondern 5. Wer, so Kripke, kann bestimmen, dass dies nicht die Funktion ist, die P als »Plus« interpretiert hat? Die Hypothese der Skeptiker*in mag offensichtlich falsch und ganz bestimmt verrückt sein, doch gibt es einfach keine Tatsache des nicht-plus-sondern-quusMeinens (vgl. ders. 1982, 8 ff.). Damit pointiert Kripke Wittgensteins Argument, das darauf abzielt, dass es keine nicht-semantischen oder a-begrifflichen Tatsachen der Bedeutung gibt.9 Oder anders formuliert: Die Anwendung von Regeln (und damit auch die Anwendung von Begriffen) lässt sich nicht durch die Fortsetzung von Beispielen determinieren. Die Fortsetzung einer Beispielreihe (sei es in der Arithmetik oder in der alltäglichen Sprache) ist, zumindest prima facie, immer mit einer Deutung der Regel verbunden. Damit gelangen wir in das Zentrum der Überlegungen zum Regelfolgen. Die Abschnitte PU 198-202 gehören spätestens seit Kripkes berühmter Interpretation zu den meist diskutierten Abschnitten der Philosophischen Untersuchungen. Wittgenstein macht zunächst nochmal explizit klar, dass die Deutung einer Regel nicht ihre richtige Anwendung garantieren kann: »›Aber wie kann mich eine Regel lehren, was ich an dieser Stelle zu tun habe? Was immer ich tue, ist doch durch irgendeine Deutung mit der Regel zu vereinbaren.‹ – Nein, so sollte es nicht heißen. Sondern so: Jede Deutung hängt, mitsamt dem Gedeuteten, in der Luft; sie kann ihm nicht als Stütze dienen. Die Deutungen allein bestimmen die Bedeutung nicht. ›Also ist, was immer ich tue, mit der Regel vereinbar?‹ –

9 | Allerdings schlägt Kripke eine skeptische Lösung vor, die Wahrheitsbedingungen durch Rechtfertigungsbedingungen ersetzt. Es handelt sich dabei jedoch nicht, wie er selbst sagt, um eine plausible Wittgenstein-Interpretation, sondern um Wittgensteins Argument, »as it struck Kripke, as it presented a problem for him« (ders. 1982, 5). Zum Vergleich seiner skeptischen Lösung mit den in der Forschung sogenannten direkten und pragmatischen Lösungen vgl. Esfeld 2003. Die Parallelität des Arguments zu Goodmans »neuem Rätsel der Induktion« (vgl. Kap. 2.2.1) ist offensichtlich und wird auch von Kripke betont.

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Das Problem moralischen Wissens Laß mich so fragen: Was hat der Ausdruck der Regel – sagen wir, der Wegweiser – mit meinen Handlungen zu tun? Was für eine Verbindung besteht da? – Nun, etwa diese: ich bin zu einem bestimmten Reagieren auf dieses Zeichen abgerichtet worden, und so reagiere ich nun. Aber damit hast du nur einen kausalen Zusammenhang angegeben, nur erklärt, wie es dazu kam, daß wir uns jetzt nach dem Wegweiser richten; nicht, worin dieses Dem-Zeichen-Folgen eigentlich besteht. Nein; ich habe auch noch angedeutet, daß sich Einer nur insofern nach einem Wegweiser richtet, als es einen ständigen Gebrauch, eine Gepflogenheit, gibt.« (PU 198)

Die hier kritisierte Position, die Abbildtheorie der Bedeutung, ist paradoxal, da jede Anwendung einer Regel eine Deutung voraussetzen müsste. Die mathematischen Beispiele von Wittgenstein und Kripke haben jedoch gezeigt, dass beinahe jede Anwendung mit jeder Deutung der Regel zu vereinbaren ist. Das jedoch würde nicht nur der Intention der Abbildtheorie widersprechen und dazu führen, dass alle Wahrheitsbedingungen zusammenfallen. Vielmehr ist diese Position letzten Endes selbstwidersprüchlich, da eine Deutung der (begrifflichen oder mathematischen) Regel sowohl ihre Anwendung erst ermöglichen könnte als auch verunmöglichen müsste: »Unser Paradox war dies: eine Regel könnte keine Handlungsweise bestimmen, da jede Handlungsweise mit der Regel in Übereinstimmung zu bringen sei. Die Antwort war: Ist jede mit der Regel in Übereinstimmung zu bringen, dann auch zum Widerspruch. Daher gäbe es hier weder Übereinstimmung noch Widerspruch. Daß da ein Mißverständnis ist, zeigt sich schon darin, daß wir in diesem Gedankengang Deutung hinter Deutung setzen; als beruhige uns eine jede wenigstens für einen Augenblick, bis wir an eine Deutung denken, die wieder hinter dieser liegt. Dadurch zeigen wir nämlich, daß es eine Auffassung einer Regel gibt, die nicht eine Deutung ist; sondern sich, von Fall zu Fall der Anwendung, in dem äußert, was wir ›der Regel folgen‹, und was wir ›ihr entgegenhandeln‹ nennen. Darum besteht eine Neigung, zu sagen: jedes Handeln nach der Regel sei ein Deuten. ›Deuten‹ aber sollte man nur nennen: einen Ausdruck der Regel durch einen anderen ersetzen.« (PU 201)

»Darum«, so Wittgenstein, »ist ›der Regel folgen‹ eine Praxis« (PU 202). Da keine (deutungsfreie) Regel denkbar ist, die die Anwendung einer Regel regelt, können wir Worte bzw. Begriffe nicht als explizite Regeln verstehen, die in einem eindeutigen Verhältnis zur Welt stehen und auf diese projiziert werden. Vielmehr äußert sich die Anwendung von Begriffen in dem, was wir »der Regel folgen« nennen. Somit sind unsere sprachlichen Kommunikations- und Kooperationsversuche nicht vollständig schematisch geregelt, doch projizieren wir eine Ordnung in die Sprache, indem wir häufig später erklären, bestimmten Regeln gefolgt zu

3. Sprechen, Wahrnehmen und Handeln

sein (vgl. Stekeler-Weithofer 2002, 214, 220; Kambartel/Stekeler-Weithofer 2005, 55). M.a.W.: In unserem alltäglichen Sprechen und Kommunizieren deuten wir keine begrifflichen Regeln, um sie korrekt anwenden zu können. Wir sprechen einfach so, wie wir es gelernt haben und rekonstruieren unseren Sprachgebrauch als Regelfolgen und Begriffe als Regeln.10 In diesem Sinne sieht Wittgenstein die Lösung des Problems des Regelfolgens oder der richtigen Projektion von Begriffen in einer Praxis, zu der man abgerichtet wird.11 Diese Praxis bezeichnet er in PU 199-200 durch ihre Wiederholbarkeitsstruktur als Gepflogenheit oder als Technik: »Ist, was wir ›einer Regel folgen‹ nennen, etwas, was nur ein Mensch, nur einmal

10 | Wittgenstein selbst hielt den Regelbegriff in seinem letzten und posthum veröffentlichten Werk Über Gewißheit sogar für überflüssig: »Das Wichtigste aber ist: Es braucht die Regel nicht. Es geht uns nichts ab. Wir rechnen nach einer Regel, das ist genug.« (ÜG 46) 11 | Dass es jedoch ohne »logischen Zwang« auch nicht immer einen »psychologischen Zwang« geben muss, zeigt Peter Winch anekdotisch anhand des berühmten Aufsatzes What the Tortoise said to Achilles von Lewis Carroll: »Achilles and the Tortoise are discussing three propositions, A, B, and Z, which are so related that Z follows logically from A and B. The Tortoise asks Achilles to treat him as if he accepted A and B as true but did not yet accept the truth of the hypothetical proposition (C) ›If A and B be true, Z must be true‹, and to force him, logically, to accept Z as true. Achilles begins by asking the Tortoise to accept C, which the Tortoise does; Achilles then writes in his notebook: ›A, B, C (If A and B are true, Z must be true), Z‹. He now says to the Tortoise: ›If you accept A and B and C, you must accept Z‹. When the Tortoise asks why he must, Achilles replies: ›Because it follows logically from them. If A and B and C are true, Z must be true (D). You don’t dispute that, I imagine?‹. The Tortoise agrees to accept D if Achilles will write it down. The following dialogue then ensues. Achilles says: ›Now that you accept A and B and C and D, of course you accept Z‹. ›Do I?‹ said the Tortoise innocently. ›Let’s make that quite clear. I accept A and B and C and D. Suppose I still refuse to accept Z?‹. ›Then Logic would take you by the throat, and force you to do it!‹ Achilles triumphantly replied. ›Logic would tell you ›You can’t help yourself. Now that you’ve accepted A and B and C and D, you must accept Z‹. So you’ve no choice, you see‹. ›Whatever Logic is good enough to tell me is worth writing down,‹ said the Tortoise. ›So enter it in your book, please. We will call it (E). If A and B and C and D are true, Z must be true. Until I’ve granted that, of course, I needn’t grant Z. So it’s quite a necessary step, you see?‹. ›I see,‹ said Achilles; and there was a touch of sadness in his tone.« (Winch 1973/1958, 55 f.)

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Das Problem moralischen Wissens im Leben, tun könnte? – Und das ist natürlich eine Anmerkung zur Grammatik des Ausdrucks ›der Regel folgen‹. Es kann nicht ein einziges Mal nur ein Mensch einer Regel gefolgt sein. Es kann nicht ein einziges Mal nur eine Mitteilung gemacht, ein Befehl gegeben, oder verstanden worden sein, etc. – Einer Regel folgen, eine Mitteilung machen, einen Befehl geben, eine Schachpartie spielen sind Gepflogenheiten (Gebräuche, Institutionen). Einen Satz verstehen, heißt, eine Sprache verstehen. Eine Sprache verstehen, heißt, eine Technik beherrschen.« (PU 199)

Allerdings scheint Wittgenstein Anlass zur Sorge um ein genuines Regelwissen zu geben: »Wenn ich der Regel folge, wähle ich nicht. Ich folge der Regel blind.« (PU 219) An die Stelle des Interpretierens der Regel tritt bei Wittgenstein also ein blindes Regelfolgen, das durch Abrichten zu einer Gepflogenheit geworden ist, sodass sich der Spaten irgendwann zurückbiegt: »›Wie kann ich einer Regel folgen?‹ – wenn das nicht eine Frage nach den Ursachen ist, so ist es eine nach der Rechtfertigung dafür, daß ich so nach ihr handle. Habe ich die Begründungen erschöpft, so bin ich nun auf dem harten Felsen angelangt, und mein Spaten biegt sich zurück. Ich bin dann geneigt zu sagen: ›So handle ich eben.‹« (PU 217)

Über Wittgensteins Lösung des Problems des Regelfolgens ist in der internationalen Forschung viel gestritten worden.12 Zwar kann an dieser Stelle auf die Vielzahl der angebotenen Interpretationen nicht eingegangen werden, doch lassen sich eine tendenziell kantische und eine eindeutig anti-kantische Pointe der Argumentation herauslesen. Die tendenziell kantische Pointe besteht in der begriffs- und lerntheoretischen Annahme, dass der adäquate Begriffsgebrauch nicht durch Belehrung gelernt werden kann. Es handelt sich hierbei jedoch nur in der Tendenz um eine kantische Pointe, da für Kant selbst das Erlernen der Sprache oder des Begriffsgebrauchs durch Übung geschieht. Wittgenstein hingegen spricht vom »hinweisenden Lehren« oder vom »Abrichten« und einem »psychologischen Zwang«. Er scheint die Möglichkeit des richtigen Projezierens von Begriffen eher mit der praktischen Faktizität des Lobens und Tadelns zu begründen. Die eindeutig anti-kantische Pointe besteht dagegen darin, dass es im Sinne Wittgensteins nicht möglich ist, zwischen dem Auswählen und Anwenden eines Begriffs zu unterscheiden (vgl. dazu genauer Brandom 2002, 212 f.). Ob Wittgenstein mit seinen Ausführungen immer Kant im Blick hatte, sei einmal dahingestellt. Im Kontext dieser Arbeit geht es nun vielmehr darum, die Implikationen der bisher vorgestellten Überlegungen zu untersuchen.

12 | Einen Überblick samt Kritik der teils sehr heterogenen und mitunter gegensätzlichen Lesarten des Regelfolgenproblems findet sich bei Glüer 1999.

3. Sprechen, Wahrnehmen und Handeln

3.3 Zur Problemrelevanz Vorläufig können wir festhalten, dass Wittgenstein auf den Begriff der Praxis als Lösung des Regelfolgenproblems verweist. Da er es aber (ähnlich wie Hilary Putnam im Kapitel zuvor) unterlässt, ihn eindeutig zu konzeptualisieren, kann er weder das Verhältnis von Sprache und Praxis abschließend klären noch das Verhältnis der jeweils abgerichteten Person zur Praxis des Abrichtens angemessen thematisieren. Eine ausführliche Begründung dieser These muss ich hier zunächst schuldig bleiben. Trotzdem haben Wittgensteins Überlegungen zum Regelfolgen sowohl für die Metaethik im Allgemeinen als auch für diese Untersuchung im Besonderen große Bedeutung. Mit Blick auf das systematische Anliegen dieser Arbeit soll nun gezeigt werden, inwiefern der Topos des Regelfolgens dabei hilft, die hier zur Disposition stehenden Begriffe der Praxis und des Wertes genauer zu bestimmen. Paradigmatische Argumentationslinien finden sich dabei in den Wittgenstein-Interpretationen von John McDowell und Stanley Cavell. Wie bereits in der Diskussion um dichte und dünne ethische Begriffe angedeutet wurde, zielt McDowells Argument darauf ab, dass sich Begriffe nicht in eine deskriptive und eine evaluative Bedeutungskomponente unterteilen lassen. Mit diesen Überlegungen lassen sich aber nicht nur nonkognitivistische Theorieansätze widerlegen, sie werden auch im weiteren Verlauf dieses Kapitels wichtig, wenn es um die Definition des Wertbegriffs geht. Stanley Cavells Wittgenstein-Interpretation hilft dagegen, das problematische Verhältnis von Sprache und Praxis über den Begriff der Lebensform näher zu erläutern. Die Darstellung seiner Interpretation dient dabei ebenfalls als Vorarbeit, um später in Anschluss an Hegel die problematischen Begriffe der Praxis und Lebensform abschließend bestimmen zu können. 3.3.1 Nochmal: Gegen den Nonkognitivismus John McDowell hat in seinem berühmten Aufsatz Nonkognitivism and RuleFollowing gezeigt, dass sich hinter dem Problem des Regelfolgens ein schlagfertiges Argument gegen den Nonkognitivismus verbirgt.13 Denn dieser müsste sich, wie in Kap. 2.3.2 bereits angesprochen, auf die Thesen festlegen, dass man i.) dichte ethische Begriffe in eine evaluative und eine deskriptive Bedeutungskomponente unterteilen kann und dass ii.) nur die deskriptiven Bedeutungskomponenten die korrekten Verwendungsweisen dieser Begriffe festlegen. Diese

13 | Da es sich eigentlich um ein Argument gegen jede Form des Metaphysischen Realismus oder szientistischen Naturalismus handelt, wendet es sich auch gegen jede dualistische Begriffstheorie und jede Moralphilosophie, die auf solchen Begriffstheorien beruht.

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Das Problem moralischen Wissens

Annahme wird in der Forschung in Anschluss an McDowell auch als Entkopplungsmanöver (»disentangleing manoeuvre«) bezeichnet: »Typically, non-kognitivists hold that when we feel impelled to ascribe value to something, what is happening can be disentangled into two components. Competence with an evaluative concept involves, first, a sensitivity to an aspect of the world as it really is (as it is independently of value experience), and, second, a propensity to a certain attitude – a non-cognitive state which constitutes the special perspective from which items in the world seem to be endowed with the value in question.« (NR, 200 f.)

Der Nonkognitivist Alan Gibbard erläutert dieses Entkopplungsmanöver am Beispiel des indigenen Stammes der Kumi, die ihren dichten ethischen Begriff »gopa« projizieren. Dies, so Gibbard, geschieht in zwei Phasen: Erst identifizieren die Kumi eine Handlung, wie etwa das Töten eines bedrohlichen Feindes, anhand einer Beschreibung: »Das ist gopa!« Erst im zweiten Schritt findet eine Evaluation statt bzw. kann eine normative Aussage getroffen werden: »Lasst uns diese Handlung ehren!« (Vgl. ders. 1992, 268; Croom 2010, 212 f.) McDowell zeigt jedoch nun in Anschluss an Wittgenstein, dass es nicht möglich ist, Begriffe in eine deskripitve und eine evaluative Bedeutungskomponente zu unterteilen. Denn dann müsste sich die deskriptive Bedeutungskomponente unabhängig von der evalutativen Bedeutungskomponente projizieren lassen (vgl. NR, 201). Und dazu müssten wir i.) einen psychologischen Mechanismus annehmen, der es uns erlaubt, Begriffe als Regeln anzueignen und in allen künftigen Fällen korrekt projizieren zu können. Ferner müssten wir (ii.) den Metaphysischen Realismus vertreten und annehmen, dass die entsprechenden Regeln unabhängig von uns in der Welt existieren. Kurz: Nonkognitivist*innen, so McDowell, müssten Regeln als »Gleise« verstehen, die wir mit unseren »geistigen Rädern« (»mental wheels«) einfach abfahren können (vgl. ebd., 203 f.). In Anschluss an Wittgensteins Problem des Regelfolgens widerspricht er beiden miteinander zusammenhängenden Annahmen: »If the first component is suspect, the second component is suspect too. And it is.« (Ebd., 207) Das Problem des Regelfolgens zeigt schließlich, dass dichte ethische Begriffe wie »gopa« nicht unabhängig von ihrem etablierten Gebrauch bzw. einer evaluativen Praxis projiziert werden können. Denn die Annahme natürlicher Eigenschaften, die es erlauben würden, alle künftigen Fälle von »gopa« festzulegen, würde wieder in den Interpretationsregress führen. Das gilt selbstverständlich nicht nur für dichte ethische Begriffe, sondern – wie Wittgenstein gezeigt hat – auch für alle anderen Begriffe. So etwa für (dichte) ästhetische Begriffe wie delikat. Nonkognitivist*innen und überhaupt alle szientistischen Naturalist*innen sind dagegen zu der Annahme gezwungen, dass es rein natürliche oder deskriptive Eigenschaften wie klein, knusprig oder hell gibt, die etwas delikat machen. Da-

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bei dürften nur die wenigsten Dinge die klein, knusprig und hell sind, delikat sein (vgl. Burton 1992, 30). Oder um es abermals mit McDowell zu formulieren: »Now it seems reasonable to be sceptical about whether the disentangling manoeuvre here envisaged can always [Hervorhebung durch mich; FHvW] be effected: specifically, about whether, corresponding to any value concept, one can always isolate a genuine feature of the world – by the appropriate standard of genuineness: that is, a feature that is there anyway, independently of anyone’s value experience being as it is [...].« (NR, 201)14

McDowell sagt in diesem Zitat jedoch einschränkend, dass es »nicht immer« möglich ist, die deskriptive von der evaluativen Bedeutungskomponente zu unterscheiden. Leider operiert er auch nur mit sehr wenigen Beispielen, um seine Argumentation anhand der Alltagssprache weiter zu erläutern. Zunächst jedoch klingt das wie ein Zugeständnis: Es gibt Fälle, in denen lässt sich die deskriptive von der evaluativen Bedeutungskomponente unterscheiden. So hatten wir etwa in Kap. 2.3.4 in Zusammenhang mit Hilary Putnams Beispiel der Demokratie gesehen, dass es nicht immer eine eindeutige Verbindung zwischen Beschreibung und Bewertung gibt. Für unseren fiktiven Beispiel-Nazi Karl etwa hätte der Begriff etwas Anrüchiges. Dieser Umstand wird auch von Nonkognitivist*innen wie Simon Blackburn benutzt, um ihre Position zu verteidigen. Blackburn weist darauf hin, dass dichte ethische Begriffe niemals eindeutig positiv oder negativ bewerten, bzw. dass es keine eindeutige Relation (»stable connections«) zwischen positiven und negativen Einstellungen und einem dichten ethischen Begriff gibt (vgl. ders. 1992, 294). So könne man etwa zu eifrig, zu klug oder zu anspruchsvoll sein, was nicht bedeuten würde, dass man nicht eifrig, klug oder anspruchsvoll wäre (vgl. ebd., 286). Und eben weil es keine stabile Verbindung von dichten Begriffen zu Pro- und Kontraeinstellungen gibt, so Blackburn, sei es möglich, einen dichten Begriff wie »gierig« auch ohne moralische Missbilligung zu projizieren. Und ebenso sei es möglich, Pavarotti entweder als dick zu bezeichnen, um ihn einfach zu beschreiben, oder ihn als dick↓ zu bezeichnen und ihn damit gleichzeitig zu bewerten (wobei »↓« für die Tonlage steht, mit der man seine abwertende Haltung ausdrückt; vgl. ebd., 289, 297). Das ist zwar soweit richtig, allerdings liefert Blackburn damit noch überhaupt keine plausiblen Argumente für das oben von McDowell kritisierte Entkopplungsmanöver: Denn um den Begriff »dick« projizieren zu können, müsste er auf (vermeintlich) rein deskriptive Eigenschaften wie das Gewicht einer Person verweisen. Das scheint

14 | Eine ausführliche Interpretation von McDowells Argument mitsamt einem Überblick über die wichtigsten Einwände und ihrer Zurückweisung findet sich bei Croom 2010.

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allerdings fraglich, da eine Eigenschaft wie das Gewicht allein nichts darüber aussagen kann, ob man dick ist, oder nicht. So hat etwa Arnold Schwarzenegger während der Zeit, als er sieben mal den Titel Mr.-Olympia gewonnen hat, mehr als hundert Kilogramm gewogen. Während man die meisten Menschen, die über hundert Kilogramm wiegen, wohl als dick bezeichnen darf, kann das hier aber offensichtlich nicht der Fall sein (vgl. Croom 2010, 228 f.). Deshalb kann man Nonkognitivist*innen zwar zugestehen, dass es »dünne Beschreibungen« gibt, also Beschreibungen physischer oder psychischer Vorgänge, aus denen sich nicht unmittelbar normative oder evaluative Konsequenzen ziehen lassen (vgl. Lueken 2013, 123 ff.). Aber rein naturalistische Tatsachenbeschreibungen kann es nach dem Regelfolgenargument eben nicht geben. Wenn McDowell also sagt, dass das Entkopplungsmanöver »nicht immer« durchführbar ist, ist das letztendlich inkonsequent. Denn dichte Begriffe sind nicht nur »variable-attitude concepts«, insofern sie bei verschiedenen Gelegenheiten verschiedene Wertungen implizieren, sie sind auch »multi-attitude concepts«, insofern sie gleichzeitig verschiedene Bewertungen implizieren können (vgl. Dancy 1996, 265). Blackburn würde dagegen zunächst einwenden, dass wir eine bestimmte positive oder negative Verwendungsweise eines Begriffs teilen müssen, um überhaupt kommunizieren zu können: »[I]f you don’t respond to lewdness as I do, then [...] your amalgamated concept of lewdness is not mine, and we are left in incommunicable solitude.« (Ders. 1992, 299) Allerdings basiert diese Annahme offensichtlich auf dem Theorem der Inkommensurabilität und scheint auch sonst wenig plausibel zu sein: »Blackburn assumes that if there is no singularly stable evaluative attitude connected to a thick concept, then there is no ›thickness‹ to that concept at all and that we should therefore be able to master that concept without an evaluative outlook. But it doesn’t follow that because it’s not required that a thick concept have [sic!] a singularly stable evaluative direction, that a thick concept can therefore be mastered independently of a sensitivity to its evaluative point.« (Croom 2010, 229)

Wir werden jedoch im nun folgenden Abschnitt sehen, warum allein der unterschiedlich wertende Gebrauch von Begriffen nicht ihre Bedeutung festlegen kann. Damit zusammenhängend sind diese Überlegungen zum Verhältnis von Beschreibung und Bewertung aber v.a. für eine adäquate Konzeptualisierung des Wertbegriffs von größter Wichtigkeit. Bevor wir darauf zurückkommen können, muss jedoch mit Stanley Cavells Wittgenstein-Interpretation eine zweite wichtige Argumentationslinie in Anschluss an das Regelfolgenproblem vorgestellt werden. Sie betrifft das Verhältnis von Sprache und Praxis bzw. Sprache und Lebensform und erlaubt es anschließend, den Begriff der Praxis näher zu bestimmen.

3. Sprechen, Wahrnehmen und Handeln

3.3.2 Sprache und Lebensform Wie wir in der Darstellung der wittgensteinschen Argumentation gesehen hatten, betrifft der Topos des Regelfolgens nicht nur das Verhältnis von Fakten und Werten, sondern auch das von Sprache und Praxis. So macht etwa Stanley Cavell in Anschluss an die Kritik am augustinischen Bild der Sprache darauf aufmerksam, dass das Erlernen einer Sprache eben nicht (nur) darin besteht, gesagt zu bekommen, was ein Wort bzw. Begriff bedeutet. Denn wir lernen Begriffe nicht in allen Zusammenhängen, in denen sie gebraucht werden können, und nicht in jedem Zusammenhang, in dem ein Begriff gebraucht wird, kann er auch gelernt werden (vgl. ders. 1999/1979, 168 f.). Was, so fragt etwa Cavell in Anschluss an die Überlegungen Wittgensteins, teilen wir einem Kind mit, wenn wir auf einen Kürbis zeigen und »Kürbis« sagen? Teilen wir ihm mit, was ein Kürbis ist oder was das Wort Kürbis bedeutet (vgl. ebd., 170)? »Grownups like to think of children (especially their own) as small grownups, midgets. So they say to their child, ›Let Sister use your shovel‹, and then nudge the child over towards Sister, wrest the shovel from the child’s hand, and are later impatient and disappointed when the child beats Sister with a pail and Sister rages not to ›return‹ the shovel. We learn from suffering.« (Cavell 1999/1979, 171)

Was wir lernen, so Cavell, ist nicht nur das, was wir studiert haben, was man uns gelehrt hat oder was wir lernen sollten. Und indem ein Kind lernt, was ein Wort – etwa Kürbis – bedeutet, lernt es gleichzeitig, was ein Kürbis ist. Wenn die Eltern zum Kind sagen »Wir haben dich lieb«, dann lernt das Kind die Bedeutung des Wortes Liebe und was Liebe ist. Für das Kind wird das Liebe sein, was die Eltern in dem Zusammenhang tun. Und wenn das mit Unmut und Einschüchterung zu tun hat, wird Liebe eine Mischung aus Unmut und Einschüchterung sein. Sagen die Eltern hingegen: »Morgen nehmen wir dich mit, versprochen!«, dann lernt das Kind was eine Zeitspanne und was Vertrauen ist. Und je nachdem ob man das Versprechen hält, lernt es ebenfalls, was Vertrauen wert ist. Sagt man hingegen: »Zieh deinen Pullover an!«, dann lernt das Kind, was ein Befehl und was Autorität ist. Und geht das Befehlen mit Ängstlichkeit einher, dann sind Autoritäten unsicher. Im Erlernen einer Sprache lernt man eben nicht bloß, was das Wort für Vater ist, sondern was ein Vater ist; nicht nur, was das Wort für Liebe bedeutet, sondern was Liebe ist usw. Kurz: Wir lernen nicht nur die Aussprache von Lauten und die grammatischen Ordnungen, sondern die Lebensformen, die Laute zu Begriffen machen (vgl. ders. 1999/1979, 177 f.).15 Diese Einsicht hat

15 | Der Begriff der Lebensform kommt im ersten Teil der Philosophischen Untersuchungen an drei Stellen vor. Wittgenstein sagt zu Anfang, dass »eine

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weitreichende Folgen für die Sprachphilosophie: Eben weil unsere Sprache nicht von unserer gemeinsamen Praxis oder Lebensform zu trennen ist, gibt es erstens unbegrenzte Projektionsmöglichkeiten von Begriffen, die aber keineswegs beliebig sind. Und zweitens kann die Bedeutung eines Satzes oder Begriffs nicht einfach in seinem Gebrauch bestehen. Denn wir lernen, so Cavell, den Gebrauch von »füttere die Katze«, »füttere den Löwen«, »füttere die Schwäne« oder »füttere den Affen« und eines Tages sagt jemand »füttere die Parkuhr« oder »füttere das Kleid«. Und obwohl wir dasselbe Wort in verschiedenen Zusammenhängen gebrauchen, ist doch klar geregelt, was als legitime Projektion zählt. So kann man etwa eine Parkuhr mit Groschen und einen Affen mit Erdnüssen füttern. Aber einem Affen Groschen ins Maul zu stopfen oder Erdnüsse durch den Schlitz einer Parkuhr zu quetschen, ist eben kein Füttern (vgl. Cavell 1999/1979, 181 ff.): »Would you be feeding a lion if you put a bushel of carrots in his cage? That he in fact does not eat them would not be enough to show that you weren’t; he may not eat his meat. But in the latter case ›may not eat‹ means ›isn’t hungry then‹ or ›refuses to eat it‹. And not every case of ›not eating‹ is ›refusing food‹. The swan who glides past the easter egg on the shore, or over a school of minnows, or under the pitchfork of meat the keeper is carrying for the lion cage, is nor refusing to eat the egg, the fish, or the meat. What will be, or count as, ›being fed‹ is related to what will count as ›refusing to eat‹, and thence related to ›refusing to mate‹, ›refusing to obey‹, etc. What can a lion or swan refuse? Well, what can they be offered (If we say ›The battery refuses to respond‹ are we thinking of the battery as stubborn?).« (Cavell 1999/1979, 183)

Obwohl wir die Bedeutung von Begriffen lernen, und obwohl dieses Lernen nie ein Ende findet, gibt es immer neue Entwicklungs- und Projektionsmöglichkeiten für Begriffe. »But who is the authority when all are masters? Who initiates

Sprache vorstellen heißt, sich eine Lebensform vorzustellen« (PU 19) und dass »das Sprechen der Sprache ein Teil ist einer Tätigkeit oder Lebensform« (PU 23). Und später heißt es: »›So sagst du also, daß die Übereinstimmung der Menschen entscheide, was richtig und was falsch ist?‹ – Richtig und falsch ist, was Menschen sagen; und in der Sprache stimmen die Menschen überein. Dies ist keine Übereinstimmung der Meinungen, sondern der Lebensform.« (PU 241) Eine genauere Bestimmung des Begriffs der Lebensform erfolgt im nächsten Kapitel. Hier muss zunächst eine Arbeitsdefinition ausreichen, wie sie sich im Kontext der Kritk an Stanley Cavells Wittgenstein-Interpretation bei Andrea Kern findet. Demnach sind Lebensformen »System[e] von Überzeugungen, Tätigkeiten, Interessen, Wünschen, Reaktionen Gefühlen usw.« (Dies. 2007, 250 f.)

3. Sprechen, Wahrnehmen und Handeln

us into new projections?« (Cavell 1999/1979, 180) Die Annahme legitimer und illegitimer Projektionsmöglichkeiten stellt uns also erneut vor die Frage nach den Kriterien des korrekten Begriffsgebrauchs. Cavell weist in Anschluss an Wittgenstein nun darauf hin, dass erst unsere Einbettung in Lebensformen die Unterscheidung zwischen richtigem und falschem Begriffsgebrauch ermöglicht. Unser Wissen, so Cavell, besteht demnach in der Abstimmung (»attunement«) von Sprache und Lebensform (vgl. ders. 1999/1979, 34). Was ist damit gemeint? Lebensformtheoretiker*innen wie Cavell versuchen den vermeintlichen und problematischen Alternativen zwischen Dogmatismus und Skeptizismus zu entkommen, indem sie zu zeigen beanspruchen, dass die Kriterien für den richtigen oder falschen Begriffsgebrauch zumindest nicht vollständig in Akten des Begründens aufgehen können: »Wissen, so lautet damit der zentrale Gedanke der Lebensformtheorie, ist kein geistiger Zustand, der vollständig rational kontrollierbar ist. Vielmehr ruht er einer a-rationalen, nicht-epistemischen Voraussetzung auf, die im Anschluss an Wittgenstein ›Lebensform‹ genannt wird.« (Kern 2007, 250)

Die Teilnahme an einer Lebensform bedeutet demnach, dass den Teilnehmenden gewisse Vollzüge selbstverständlich sind und nicht hinterfragt werden können. Lebensformen können unsere Wissensansprüche daher nicht rechtfertigen, sondern bilden die unhintergehbaren und nicht-thematisierbaren Voraussetzungen für Wissen (vgl. Kern 2007, 250 f.). Allerdings, so Andrea Kern, geht auch Cavell damit von einer Voraussetzung aus, die seit Descartes nicht in Frage gestellt wurde. Diese Voraussetzung besteht im propositionalen Wissensbegriff oder in der Akt-Auffassung von Wissen. Demnach kann jeder beliebige Wissensakt nur durch einen weiteren Wissensakt erklärt werden: »Ich weiß, dass p, weil ich weiß, dass q; und ich weiß, dass q, weil ich weiß, dass r; und ich weiß, dass r, weil ich weiß, dass s; und so weiter.« (Dies. 2007, 253; vgl. Kap. 1) Kern meint (entgegen der Interpretation von Cavell), dass diese Akt-Auffassung von Wissen von Wittgenstein überwunden wurde: »Die Grammatik des Wortes ›wissen‹ ist offenbar eng verwandt mit der Grammatik der Worte ›können‹, ›imstande sein.‹« (PU 150; vgl. Kern 2007, 245) Erst in Kap. 4 kann die hier nahegelegte Fähigkeitskonzeption von Wissen als vermeintliche Alternative zur Akt-Auffassung von Wissen weiter untersucht werden. Doch auch wenn der Lebensformbegriff allein nicht ausreicht, um den Begriff des Wissen zu erklären, lässt sich in Auseinandersetzung mit Cavells Ausführungen noch eine wichtige Pointe entnehmen: Denn die von ihm angesprochenen Kriterien des angemessenen Begriffsgebrauchs können in der Tat nicht rein »außersprachlich« existieren, wie die Diskussion um das Regelfolgenproblem zeigt. Ebensowenig können sie nur »innerhalb« der Sprache existieren, insofern die Bedeutung eines Begriffs einzig in seinem Gebrauch in einer bestimmten Sprache besteht. Denn dies würde zu

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einem weiteren sprachphilosophischen Problem führen, das sich anhand von Hilary Putnams Kritik an den Wittgenstein-Interpretationen von Michael Dummet und Norman Malcolm explizieren lässt. Putnam bedient sich dabei erneut an Beispielen aus der Wissenschaftsgeschichte: Nehmen wir an, im siebzehnten Jahrhundert wurden im Örtchen Whoozie Knochen ausgegraben und jemand fragt sich, wie alt diese Knochen sind. Durch moderne Technologien wissen wir heute, dass sie eine Million Jahre alt sind. Die relativistische (bzw. anti-realistische) Wittgenstein-Interpretation wäre nun gezwungen zu behaupten, dass der Satz »Die Knochen, die in Whoozie gefunden wurden, sind eine Million Jahre alt« im siebzehnten Jahrhundert etwas anderes bedeutet hat als heute. Schließlich handelte es sich damals um eine Mutmaßung oder um eine Wette, nicht aber um eine begründete Stellungnahme. Putnam weist diese Annahme als »erledigten Pseudo-Wittgensteinianismus« (»tired pseudo-Wittgensteinianism«) zurück, da wir demzufolge inkommensurable Sprachen sprechen müssten – was nach dem Argument gegen die Inkommensurabilität nicht möglich ist (vgl. Diamond 1999, 99 ff.; Kap. 2.2.2).16 Ein weiteres Beispiel, das sich allerdings auf Begriffe und nicht auf Aussagen bezieht, impliziert der Satz »things too small to see«. Zwar hat sich die Regel des Begriffs »small« seit dem Mittelalter geändert, da wir ihn heute auch auf Moleküle projizieren können, doch hat sich seit der Erfindung des Mikroskops nicht die Bedeutung von »small« geändert (vgl. TTC, 59 ff.; Glüer 1999, 151).17 Wenn aber die Unterscheidung zwischen legitimem und illegitimem Begriffsgebrauch völlig unhintergehbar ist, wie auch Cavell argumentiert, und die Kriterien dafür weder nur »außerhalb« noch nur »innerhalb« der Sprache liegen können, dann müssen die von ihm angesprochenen Praxen oder Lebensformen etwas damit zu tun haben. Der Lebensformbegriff wird sich für das Argumentationsziel dieser Arbeit noch als äußerst anschlussfähig herausstellen. Allerdings gilt, es ihn vorher angemessen zu konzeptualisieren. Um aber eben diesen problematischen Zusammenhang von Sprache und Praxis begreifen zu können, muss zunächst auf die Begriffstheorie Hegels zurückgegriffen werden. Denn sie zeigt, wie Sprechen, Wahrnehmen und Handeln miteinander zusammenhängen. Der

16 | Das Argument wurde von Cora Diamond aufgegriffen. Dabei bezieht sie sich auf Putnams unveröffentlichtes Manuskript Newton in His Time and Ours: Will the Real Richard Rorty Please Stand Up? 17 | Putnam selbst versucht in Anschluss an Wittgenstein zu zeigen, dass Begriffe dieselbe Bedeutung haben können, auch wenn sich ihr Gebrauch oder ihre Regeln geändert haben. Ob Wittgenstein selbst ein »erledigter PseudoWittgensteinianer« war, kann an dieser Stelle nicht geklärt werden. Zu Putnams Antwort auf diese Frage vgl. Diamond 1999, 103 ff.; zu seiner Interpretation des Regelfolgenproblems vgl. Glüer 1999, 149 ff.

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Begriff der Lebensform wird anschließend helfen, Hegels Anliegen modern zu reformulieren. 3.3.3 Von Wittgenstein zu Hegel Halten wir die wichtigsten Punkte noch einmal fest: Das Problem besteht in der Frage, ob und wie es möglich ist, (dichte ethische) Begriffe richtig zu projizieren. Die Interpretation McDowells zu Wittgensteins Problem des Regelfolgens hatte uns dabei vor Augen geführt, dass es nicht möglich ist, die deskriptive von der evaluativen Bedeutungskomponente eindeutig zu unterscheiden. Zwar gibt es meistens keine stabile Verbindung von Beschreibung und Bewertung, doch können Begriffe nicht wertfrei projiziert werden. Gleichzeitig macht Cavell in Anschluss an Wittgenstein auf den Zusammenhang von Sprache und Lebensform aufmerksam bzw. auf die »Übereinstimmung [...] von Gedanke und Wirklichkeit« (PU 429). Ferner zeigt er, dass zwischen legitimen und illegitimen Projektionen von (dichten ethischen) Begriffen unterschieden werden muss. Diese Unterscheidung des angemessenen Begriffsgebrauchs muss gelernt werden, die Bedeutung eines Begriffs besteht jedoch nicht einfach in seinem Gebrauch. Die hier zur Disposition stehenden Begriffe der Praxis und des Wertes sind damit zwar immer noch nicht geklärt, aber wir nähern uns langsam einer Lösung. In Anschluss an die Wittgenstein-Interpretationen von John McDowell und Stanley Cavell lässt sich die Problemstellung jetzt schon präzisieren: Gesucht wird eine Begriffstheorie, die zeigt, dass i.) Begriffe Werte implizieren, dass ii.) dieser wertimplizierende Gebrauch von Begriffen mit der Unterscheidung zwischen richtigem und falschem Begriffsgebrauch zu vereinbaren ist und dass iii.) die Kriterien dieses korrekten Begriffsgebrauchs weder nur »außerhalb« der Sprache liegen können (insofern er durch a-begriffliche Gegenstände reguliert wird) noch nur »innerhalb« der Sprache liegen können (insofern einfach der jeweilige Sprachgebrauch maßgeblich ist). Wittgenstein selbst hat das Problem markiert, jedoch lediglich eine Theorieskizze als Antwort geliefert, deren Interpretation in der Forschung stark umstritten ist. Allerdings finden sich bei den von Wittgenstein angesprochenen Punkten einige starke Parallelen zur Begriffs- und Bildungstheorie Hegels: Denn auch er wendet sich gegen den üblichen Dualismus von Sein und Denken bzw., wie Wittgenstein sagt, von Gedanke und Wirklichkeit. Die commonsensualistische Standard-Version des linguistic turn lautet: »Welcher Art auch immer die Gegenstände sein mögen, auf die wir uns beziehen, man darf nicht außer Acht lassen, daß wir uns wesentlich mittels der Sprache auf sie beziehen und daß daher alle Gegenstandsaussagen zuallererst einmal den sprachlichen Sinnbedingungen genügen müssen.« (Welsch 2005, 40)

Dieser Standardversion des lingusitic turn widersprechen sowohl Hegel als auch

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Wittgenstein: Denn da es keine strikte Sprachunabhängigkeit von Gegenständen geben kann, fällt die Unterscheidung zwischen Begriff und Gegenstand in den Begriff selbst (vgl. Welsch 2005, 41 f.). Deshalb redet Hegel auch davon, dass der Begriff das »Selbst« des Gegenstandes ist (vgl. TW 3, 57; Lütterfelds 2008, 36).18 In Anschluss an Kant bestimmt er dabei, genauso wie Wittgenstein, Begriffe als Regeln und zeigt, dass die richtige Projektion von Begriffen gelernt werden muss. Allerdings macht er ebenso deutlich, dass die Bedeutung eines Begriffs nicht einfach in seinem Gebrauch besteht, und dass die Fähigkeit, Begriffe richtig zu projizieren, nicht einfach durch Abrichten gelernt werden kann. Da Hegel im Gegensatz zu Wittgenstein nicht nur eine Theorieskizze, sondern eine der komplexesten und elaboriertesten nicht-dualistischen Begriffstheorien entwickelt hat, die zudem verspricht, das Problem der richtigen Projektion von Begriffen zu lösen, orientiert sich die folgende Argumentation an diesem Ansatz. Dabei kann nicht nur auf Parallelen zu Wittgenstein verwiesen werden. Der wittgensteinische Begriff der Lebensform wird, wie oben bereits erwähnt, auch später dabei helfen, Hegels Anliegen modern zu reformulieren. Dazu muss jedoch zunächst dessen Begriffsbzw. Bedeutungstheorie, wie sie sich innerhalb der Wissenschaft der Logik (und der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften) findet, soweit wie nötig und so präzise wie möglich rekonstruiert werden. Denn erst wenn klar ist, dass und warum sich Hegel des Verdachts entledigt, ein »erledigter Pseudo-Wittgensteinianer« (s.o.) zu sein, lässt sich das problematische Verhältnis von Sprache und Welt in Anschluss an seine Begriffstheorie angemessen konzeptualisieren.

3.4 Warum Hegel kein »erledigter Pseudo-Wittgensteinianer« ist Gleich zu Anfang der Wissenschaft der Logik wendet sich Hegel gegen den Metaphysischen Realismus mit dem ihm zugrundeliegenden Subjekt-Objekt-Dualismus. In Hegels eigenen Worten handelt es sich dabei um die Annahme, »[...] daß der Stoff des Erkennens als eine fertige Welt außerhalb des Denkens an und für sich vorhanden, daß das Denken für sich leer sei, als eine Form äußerlich zu jener Materie hinzutrete, sich damit erfülle, erst daran einen Inhalt

18 | Ich benutze den Begriff des Gegenstandes im Folgenden analog zu Hegels Verwendungsweise. Dementsprechend handelt es sich bei Gegenständen um die zu erkennenden Objekte, die dem erkennenden Subjekt »entgegenstehen« (vgl. exemplarisch TW 8, § 163 Z 2). Auf die begriffliche Differenzierung von »Gegenstand« und »Ding« werde ich, wie bereits erwähnt, noch zu sprechen kommen.

3. Sprechen, Wahrnehmen und Handeln gewinne und dadurch ein reales Erkennen werde. Alsdann stehen diese beiden Bestandteile (denn sie sollen das Verhältnis von Bestandteilen haben, und das Erkennen wird aus ihnen mechanischer- oder höchstens chemischerweise zusammengesetzt) in dieser Rangordnung gegeneinander, daß das Objekt ein für sich Vollendetes, Fertiges sei, das des Denkens zu seiner Wirklichkeit vollkommen entbehren könne, dahingegen das Denken etwas Mangelhaftes sei, das sich erst an einem Stoffe zu vervollständigen, und zwar als eine weiche unbestimmte Form sich seiner Materie angemessen zu machen habe. Wahrheit ist die Übereinstimmung des Denkens mit dem Gegenstande, und es soll, um diese Übereinstimmung hervorzubringen – denn sie ist nicht an und für sich vorhanden – das Denken nach dem Gegenstande sich fügen und bequemen.« (TW 5, 36 f.)

Hegel sucht nun, den von ihm skizzierten Metaphysischen Realismus im Kontext seiner Begriffs- und Urteilstheorie zu überwinden, indem er das neuzeitliche Verständnis von Begrifflichkeit bzw. das des »Begriffs des Begriffs« revolutioniert. Denn im Rahmen der zeitgenössischen Theoriebildung wurden Begriffe zumeist als semantische Einheiten aufgefasst, die als Gegenstände des Denkens im Erkenntnisprozess urteilsmäßig auf die extramentale Außenwelt bezogen werden.19 Im Sinne dieser Dualität von Fakten und Werten bestehen alle epistemisch relevanten Aussagen aus Urteilen, die wahr oder falsch sein können. Hegel disqualifiziert dagegen diese bis heute übliche Vorstellung, wonach das epistemische Primat im Urteil liegt, da dieses »einseitig und insofern falsch« sei (vgl. TW 8, § 31 A).20 »Es ist verkehrt, anzunehmen, erst seien die Gegenstände, welche den Inhalt unserer Vorstellungen bilden, und dann hinterdrein komme unsere subjektive Tätigkeit [gemeint ist das Urteil; FHvW], welche durch die vorher erwähnte Operation des Abstrahierens und des Zusammenfassens des den Gegenständen Gemeinschaftlichen die Begriffe derselben bilde. Der Begriff ist vielmehr das wahrhaft Erste, und die Dinge sind das, was sie sind, durch die Tätigkeit des ihnen innewohnenden und in sich offenbarenden Begriffs.« (TW 8, § 163 Z 2)

19 | Zu den verschiedenen neuzeitlichen Begriffstheorien vgl. ausführlich Ros 1990. Eine detaillierte Analyse der hegelschen Begriffs- und Urteilstheorie aus der Wissenschaft der Logik habe ich vorgelegt in Heusinger von Waldegge 2012. 20 | Wenn die Wahrheit, so Hegel, in der »Übereinstimmung« der Erkenntnis mit dem Gegenstand besteht (was er für eine Definition von »höchstem Werte« hält), dann ist es folgerichtig ungereimt zu behaupten, dass in Urteilen wie »Die Rose ist rot« Wahrheiten ausgedrückt werden, da »dasjenige fehlt, was die Definition der Wahrheit fordert« (TW 6, 268). Dazu genauer s.u.

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Begriffe, so Hegel, sind keine »Behälter von Vorstellungen«, die von der Realität getrennt erst im Urteil auf diese bezogen werden (vgl. TW 8, § 162). Damit wendet er sich gegen die bis in die Neuzeit und mitunter heute noch verbreitete Vorstellung, dass Begriffe als Gegenstände der Abstraktion (a-begriffliche) Dinge und Eigenschaften der Realität unter sich subsumieren oder enthalten, was wiederum zu einer Hierarchie von Klassen und Unterklassen führen würde. Das Urteil tritt dagegen bei Hegel in seiner epistemischen Relevanz hinter den Begriff zurück, und trotzdem kommt ihm eine bedeutende epistemische Rolle zu: »Das Urteil ist insofern eine andere Funktion als das Begreifen oder vielmehr die andere Funktion des Begriffes [...].« (TW 6, 301 f.) Mit dem Begriff der Funktion spielt er auf Kants Begriffs- und Urteilstheorie an, die für ihn gleichermaßen Inspirationsquelle und Reibungsfläche ist.21 Um seine Begriffstheorie angemessen zu rekonstruieren muss daher geklärt werden, wie er das Urteilen und Begreifen begreift, und warum es sich um Funktionen des Begriffs (im Singular!) handelt. Aufgrund der schwierigen Sprache Hegels ist es dabei unerlässlich, einige Bemerkungen vorauszuschicken.

21 | Der epistemische Vorrang des Urteils vor dem Begriff leitet die Argumentation der Kritik der reinen Vernunft: »Es gibt aber, außer der Anschauung, keine andere Art, zu erkennen, als durch Begriffe. Also ist die Erkenntnis eines jeden, wenigstens des menschlichen Verstandes, eine Erkenntnis durch Begriffe, nicht intuitiv, sondern diskursiv. Alle Anschauungen, als sinnlich, beruhen auf Affektionen, die Begriffe also auf Funktionen. Ich verstehe aber unter Funktion die Einheit der Handlung, verschiedene Vorstellungen unter einer gemeinschaftlichen zu ordnen. [...] Von diesen Begriffen kann der Verstand keinen andern Gebrauch machen, als daß er dadurch urteilt. Da keine Vorstellung unmittelbar auf den Gegenstand geht, als bloß die Anschauung, so wird ein Begriff niemals auf einen Gegenstand unmittelbar, sondern irgend eine andre Vorstellung von demselben (sie sei Anschauung oder selbst schon Begriff) bezogen. Das Urteil ist also die mittelbare Erkenntnis eines Gegenstandes, mithin die Vorstellung einer Vorstellung desselben. In jedem Urteil ist ein Begriff, der für viele gilt, und unter diesem Vielen auch eine gegebene Vorstellung begreift, welche letztere denn auf den Gegenstand unmittelbar bezogen wird. [...] Alle Urteile sind demnach Funktionen der Einheit unter unsern Vorstellungen, da nämlich statt einer unmittelbaren Vorstellung eine höhere, die diese und mehrere unter sich begreift, zur Erkenntnis des Gegenstandes gebraucht, und viele mögliche Erkenntnisse dadurch in einer zusammengezogen werden. Wir können aber alle Handlungen des Verstandes auf Urteile zurückführen, so daß der Verstand überhaupt als ein Vermögen zu urteilen vorgestellt werden kann. Denn er ist nach dem obigen ein Vermögen zu denken. Denken ist das [sic!] Erkenntnis durch Begriffe. Begriffe beziehen sich

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Der Begriff ist der terminus ad quem der Wissenschaft der Logik und der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften. Hegels eigene Theorie impliziert dabei sowohl eine inhaltliche als auch eine methodologische Kritik an den dualistischen Theorietypen, die er seinerzeit vorfindet. In den drei berühmten »Stellungen zum Gedanken der Objektivität« aus der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften kritisiert er die traditionelle Metaphysik dafür, mit Urteilen zu arbeiten, ohne ihre Wahrheitsfähigkeit geprüft zu haben (»Gott hat Dasein«, »die Seele ist einfach« usw.), wohingegen sich der Empirismus unkritisch metaphysischer Kategorien (Materie, Kraft, Einheit, Vielheit) und logischer Formen (Begriffe, Urteile, Schlüsse) bediene. Die Transzendentalphilosophie bleibe dagegen zirkulär, da sie das Erkenntnisvermögen erkennen will, ehe man erkennt (vgl. TW 8, §§ 26-78; Heusinger von Waldegge 2012, 8 f.). Hegels Ausweg besteht, in Ermangelung archimedischer Standpunkte, in einer »spekulativen Logik« oder einer »Wissenschaft der Logik«, die als prozessuale Semantik gelesen werden kann (vgl. Demmerling 1992, 81), da sie die Präsuppositionen objektstufiger Rede aufdeckt.22 Dies geschieht im »Sichaufheben« sich widersprechender Bestimmungen (vgl. TW 8, § 81) bzw. dialektischer Widersprüche, die auf semantischer Ebene im Spekulativen Satz entstehen. Da die »Form des Urteils« (mit der syntaktischen Struktur »A ist b«) »ungeschickt« dafür sei, spekulative Wahrheiten auszudrücken, ist Hegel zufolge ein »Gegenstoß« vonnöten. Dieser besteht in der Satzform »Das A ist das B«, welche die »Identität der Identität und Nichtidentität« ausdrückt (vgl. TW 3, 59; TW 5, 74, 93). Während Urteile also Gegenstände objektstufiger Rede thematisieren, analysiert der Spekulative Satz (etwa »Das Sein ist das Nichts«) Bedeutungen auf höherstufiger Ebene (vgl. Heusinger von Waldegge 2012, 9 f.). Auf diese Weise beansprucht Hegel innerhalb der Wissenschaft der Logik zu zeigen, wie in Anschluss an die Kategorien der Seins- und Wesenslogik der Begriff des Begriffs und die verschiedenen Urteilsformen abgeleitet bzw. bewiesen werden können.23 Der eigentlichen »Lehre

aber als Prädikate möglicher Urteile, auf irgendeine Vorstellung von einem noch unbestimmten Gegenstande.« (KrV, B 93 f.) 22 | Der Begriff Spekulation leitet sich vom lateinischen Deponens »speculari« ab, was mit »von einem Wachtturm aus beobachten« übersetzt werden kann. Damit zielt der Begriff, wie Pirmin Stekeler-Weithofer betont, auf die »höherstufige Betrachtung von themenbestimmten Vorbegriffen« ab (vgl. ders. 2005, 53). Hans Heinz Holz weist daneben sowohl auf die Übersetzung des griechischen Begriffs θεωρεῖν hin als auch auf Hegels (systematische, nicht philologische) Verknüpfung mit dem Begriff »speculum« (vgl. ders. 2011, 196 f.). Zum Motiv der Widerspiegelung bei Hegel s.u. 23 | Hegel selbst spricht auch von einer »immanenten Deduktion« (vgl. TW 6, 252).

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vom Begriff«, die zunächst die Begriffs- und Urteilstheorie abhandelt, geht in diesem Werk ein dreiteiliges Proömium voraus (»Vorbericht«, »Vom Begriff im Allgemeinen«, »Einleitung«), welches sich mit dem Begreifen und Kants transzendentaler Einheit der Apperzeption auseinandersetzt. Denn sowohl in der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften als auch in der Wissenschaft der Logik erläutert Hegel den Begriff bzw. das Begreifen unter Rückgriff auf Termini wie Ich oder Selbstbewußtsein (vgl. Horstmann 1990, 65 f.): »Der Begriff [...] ist nichts anderes als Ich oder reines Selbstbewußtsein.« (TW 6, 253) Denn es gehört, so Hegel, zu den »tiefsten und richtigsten Einsichten« Kants, dass die Einheit der ursprünglich synthetischen Apperzeption das »Wesen des Begriffs« ausmacht (vgl. TW 6, 254). Er spielt dabei auf die Einheit von Rezeptivität und Spontaneität an, die bei Kant a priori gegeben ist (vgl. KrV, B 134) und verweist in diesem Zusammenhang auf das Begreifen. Robert Brandom bemerkt daher, dass er von keine ernstzunehmenden zeitgenössischen Semantiker*in wisse, die dem Gedanken nachgehe, dass wir Begriffe am Besten durch das Modell des Selbst verstehen können. Vielmehr scheint es aus moderner Sicht sogar schwer zu sagen, was überhaupt damit gemeint sein könnte (vgl. ders. 2002, 210). Auf diesen Zusammenhang werde ich in Kap. 4.1.2 wieder eingehen und zeigen, dass Hegel dafür in der Tat gute Gründe hat. Hier interessiert uns aber zunächst das Begreifen, das Hegel wie folgt charakterisiert: »Das Begreifen eines Gegenstandes besteht in der Tat in nichts anderem, als daß Ich denselben sich zu eigen macht, ihn durchdringt und ihn in seine eigene Form, d. i. in die Allgemeinheit, welche unmittelbar Bestimmtheit, oder Bestimmtheit, welche unmittelbar Allgemeinheit ist, bringt. Der Gegenstand in der Anschauung oder auch in der Vorstellung ist noch ein Äußerliches, Fremdes. Durch das Begreifen wird das Anundfürsichsein, das er im Anschauen und Vorstellen hat, in ein Gesetztsein verwandelt; Ich durchdringt ihn denkend. Wie er aber im Denken ist, so ist er erst an und für sich; wie er in der Anschauung und Vorstellung ist, ist er Erscheinung; das Denken hebt seine Unmittelbarkeit, mit der er zunächst vor uns kommt, auf und macht so ein Gesetztsein aus ihm; dies sein Gesetztsein aber ist sein Anundfürsichsein oder seine Objektivität. Diese Objektivität hat der Gegenstand somit im Begriffe, und dieser ist die Einheit des Selbstbewußtseins, in die er aufgenommen worden; seine Objektivität oder der Begriff ist daher selbst nichts anderes als die Natur des Selbstbewußtseins, hat keine anderen Momente oder Bestimmungen als das Ich selbst.« (TW 6, 255)

Hinter die Einsicht, dass der Gegenstand die Objektivität »im Begriffe« hat, sei Kant nun wieder zurückgefallen, da er der »Stufe des Verstandes« die »Stufen des Gefühls und der Anschauung« vorausschicke, sodass Begriffe ohne Anschauungen »leer« seien (vgl. TW 6, 256). Die ursprüngliche Synthesis der Apperzeption »enthält den Anfang zum wahrhaften Auffassen der Natur des Be-

3. Sprechen, Wahrnehmen und Handeln

griffs und ist jener leeren Identität oder abstrakten Allgemeinheit, welche keine Synthesis in sich ist, vollkommen entgegengesetzt« (ebd., 261).24 Zwar gibt es keine Stelle im Werk Hegels in der er das Begreifen explizit erläutert, doch macht er in Anschluss an seine Auseinandersetzung mit Kant deutlich, dass in seiner Begriffstheorie die Synthesis bereits im Begriff (und nicht im Urteil) liegt: »Anschauung und Sein sind wohl der Natur nach das Erste oder die Bedingung für den Begriff, aber sie sind darum nicht das an und für sich Unbedingte.« (Ebd., 260) Und in der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften heißt es dementsprechend, dass die spekulative Philosophie den Satz »nihil est in intellectu, quod non fuerit in sensu« ebenso gelten lässt wie den Satz »nihil est in sensu, quod non fuerit in intellectu« (TW 8, § 8). Das Begreifen, d.h. das begriffliche »sich zu eigen machen«, ist dem Urteilen demnach epistemisch vorgeordnet. Das bedeutet, dass wir einen Gegenstand schon als einen bestimmten Gegenstand begriffen haben müssen, um von ihm urteilen zu können. Das wiederum führt zu einer sehr modernen und wittgensteinischen Pointe. Schließlich weist Hegel schon in der Phänomenologie des Geistes darauf hin, dass auch unsere vermeintlich unmittelbaren »sinnlichen Gewißheiten« auf begrifflichen Vermittlungen beruhen: Das zeitliche Jetzt, das räumliche Hier sowie inhaltliche Sach- und Gegenstandsbestimmungen (warm, hell, süß, spitz) können zwar in unterschiedlichen Situationen und zu unterschiedlichen Zeiten auf unterschiedliche Gegenstände oder Sachverhalte angewandt werden, doch handelt es sich um allgemeine Ausdrücke, die allgemeinen Regeln folgen, da sie sonst nicht verständlich wären (vgl. Welsch 2005, 15 ff.). In Hegels Worten: »[W]ir sprechen das Allgemeine aus; oder wir sprechen schlechthin nicht, wie wir es in der sinnlichen Gewißheit meinen.« (TW 3, 85) Auch das Einzelne, d.h. ein Gegenstand der unmittelbaren Deixis, ist immer das »aus der Vermittlung hergestellte Unmittelbare« (TW 6, 300). In der Sprache, die Hegel als das »Wahrhaftere« bezeichnet, widerlegen wir unser bloßes Meinen, denn:

24 | Insofern hat Alexander Grau vollkommen Recht, wenn er darauf hinweist, dass Richard Rortys Synthesis-Kritik der Synthesis-Kritik Hegels auf »so erstaunliche Weise« gleicht (vgl. ders. 2001, 287): »The notions of synthesis and the concept-intuition distinction are thus tailormade for one another, both being invented to make sense of the paradoxical but unquestioned assumption which runs through the first Critique – the assumption that manifoldness is ›given‹ and that unity is made.« (Rorty 1979, 152 f.) Aber im Gegensatz zu Rorty hat Hegel, wie im Folgenden gezeigt wird, eine gangbare Alternative zu bieten und gehört keinstenfalls zusammen mit Rorty und Feyerabend zu den »Antirealisten«, die in der Philosophie ein Gespräch ohne Geltungsanspruch sehen (gegen Grau 2001, 297 f., 305).

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Das Problem moralischen Wissens »[D]a das Allgemeine das Wahre der sinnlichen Gewißheit ist, und die Sprache nur dieses Wahre ausdrückt, so ist es gar nicht möglich, daß wir ein sinnliches Sein, das wir meinen, je sagen können.« (TW 3, 85) 25

Hegel kritisiert hier also nicht nur den »Mythos des Gegebenen«, sondern nimmt schon das Privatsprachenargument Wittgensteins vorweg.26 Und noch mehr erinnert an Wittgenstein: Denn das Denken, so Hegel, ist die tätige Beziehung auf Gegenstände und das Allgemeine ist das Produkt dieser Tätigkeit bzw. eine Regel, die gelernt werden muss (vgl. TW 8, § 21): »Schon dem Kinde wird das Nachdenken geboten. Es wird ihm z.B. aufgegeben, Adjektive mit Substantiven zu verbinden. Hier hat es aufzumerken und zu unterscheiden; es hat sich einer Regel zu erinnern und den besonderen Fall danach einzurichten. Die Regel ist nichts anderes als ein Allgemeines, und diesem Allgemeinen soll das Kind das Besondere gemäß machen. [...] In ähnlicher Weise betätigt sich das Nachdenken bei moralischen Verhältnissen. Nachdenken heißt hier, sich des Rechten, der Pflicht erinnern, nach welchem Allgemeinen, als der feststehenden Regel, wir unser besonderes Benehmen in den vorliegenden Fällen einzurichten haben. In unserem besonderen Verfahren soll die allgemeine Bestimmung erkennbar und enthalten sein. – Auch in unserem Verhalten zu Naturerscheinungen finden wir dasselbe. Wir bemerken z.B. Blitz und Donner. Diese Erscheinung ist uns bekannt, und wir nehmen sie oft wahr. Aber der Mensch ist mit der bloßen Bekanntschaft, mit der nur sinnlichen Erscheinung nicht zufrieden, sondern will dahinterkommen, will wissen, was sie ist, will sie begreifen. Man denkt deshalb nach, will die Ursache wissen, als ein von der Erscheinung als solcher Unterschiedenes, das Innere in seinem Unterschied von dem bloß Äußeren. Man verdoppelt so die Erscheinung, bricht sie entzwei in Inneres und Äußeres, Kraft und Äußerung, Ursache und Wirkung. Das Innere, die Kraft, ist hier wieder das Allgemeine, das Dauernde, nicht dieser und jener Blitz, diese und jene Pflan-

25 | Damit wendet sich Hegel ebenfalls gegen die neuzeitliche These, dass Begriffe nichts Sprachliches sind (vgl. dazu Ros 1990, 31 ff.). 26 | Darauf hat bereits Alexander Grau hingewiesen (vgl. ders. 2001, 47 ff.). Vgl. dazu ebenfalls die entsprechende Passage aus der Seinslogik: »Man meint, durch ›Dieses‹ etwas vollkommen Bestimmtes auszudrücken; es wird übersehen, daß die Sprache, als Werk des Verstandes, nur Allgemeines ausspricht, außer in dem Namen eines einzelnen Gegenstandes; der individuelle Name ist aber ein Sinnloses in dem Sinne, daß er nicht ein Allgemeines ausdrückt, und erscheint als ein bloß Gesetztes, Willkürliches aus demselben Grunde, wie denn auch Einzelnamen willkürlich angenommen, gegeben oder ebenso verändert werden können.« (TW 5, 126)

3. Sprechen, Wahrnehmen und Handeln ze, sondern das in allem dasselbe Bleibende. Das Sinnliche ist ein Einzelnes und Verschwindendes; das Dauernde darin lernen wir durch das Nachdenken kennen. Die Natur zeigt uns eine unendliche Menge einzelner Gestalten und Erscheinungen. Wir haben das Bedürfnis, in diese Mannigfaltigkeit Einheit zu bringen; wir vergleichen deshalb und suchen das Allgemeine eines jeden zu erkennen. Die Individuen werden geboren und vergehen; die Gattung ist das Bleibende in ihnen, das in allem Wiederkehrende, und nur für das Nachdenken ist dasselbe vorhanden. Hierher gehören auch die Gesetze, so z.B. die Gesetze der Bewegung der himmlischen Körper. Wir sehen die Gestirne heute hier und morgen dort; diese Unordnung ist dem Geist ein Unangemessenes, dem er nicht traut, denn er hat den Glauben an eine Ordnung, an eine einfache, konstante und allgemeine Bestimmung. In diesem Glauben hat er sein Nachdenken auf die Erscheinungen gewendet und hat ihre Gesetze erkannt, die Bewegung der himmlischen Körper auf eine allgemeine Weise festgesetzt, so daß aus diesem Gesetz sich jede Ortsveränderung bestimmen und erkennen läßt.« (TW 8, § 21 Z)

Etwas zu begreifen, so Hegel, bedeutet zu wissen, »was es ist«. Das begriffliche Bestimmen impliziert dabei nicht nur in praktischer Hinsicht die Kenntnis von Handlungsregeln, sondern in theoretischer Hinsicht auch die Kenntnis der Regelmäßigkeiten und Gesetze, nach denen sich Naturphänomene verhalten. Der hier erwähnte Begriff der Allgemeinheit spielt in diesem Zusammenhang eine entscheidende Rolle. Zusammen mit seinen begrifflichen Komplementen Besonderheit und Einzelheit ist er unerlässlich für das Verständnis der hegelschen Argumentation. Ein Grund, warum diese für heutige Interpreten mitunter etwas sperrig anmutet, besteht darin, dass Hegel erstens mehrere Begriffe von Allgemeinheit kennt (dazu zählen die abstrakte sinnliche Allgemeinheit, die Reflexionsallgemeinheit, die Allheit, Gattung und Art und die Begriffsallgemeinheit; vgl. TW 7, § 24; TW 8, § 21; s.u.) und dass zweitens Allgemeinheit, Besonderheit und Einzelheit sowohl ein höherstufiges als auch ein objektstufiges Begriffsverhältnis bezeichnen können. Im Folgenden muss daher zunächst diese Begriffstrias näher erläutert werden. 3.4.1 Die Figur des »übergreifenden Allgemeinen« Gleich zu Anfang der Wissenschaft der Logik schreibt Hegel, was er unter »Begriff« versteht: »[T]eils aber ist ein Begriff sogleich erstens der Begriff an ihm selbst, und dieser ist nur einer und ist die substantielle Grundlage; fürs andere aber ist er wohl ein bestimmter Begriff, welche Bestimmtheit an ihm das ist, was als Inhalt erscheint; die Bestimmtheit des Begriffs aber ist eine Formbestimmung dieser substantiellen

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Das Problem moralischen Wissens Einheit, ein Moment der Form als Totalität, des Begriffes selbst, der die Grundlage der bestimmten Begriffe ist.« (TW 5, 29 f.)

Was es bedeutet, dass ein Begriff zugleich der eine Begriff und ein bestimmter Begriff ist, expliziert Hegel dann später in der »Lehre vom Begriff«. Dabei war es das Ergebnis der vorausgegangenen Wesenslogik, dass die Einheit unterschiedener Substanzen »Begriff« heißt. Dieser Begriff ist damit systemisch geprägt, indem er die geordnete Struktur einer Menge von semantischen Einheiten beschreibt. Der Begriff, als Allgemeinheit ist daher zunächst einmal Repräsentant des begrifflichen Gesamtzusammenhangs. Die Besonderheit fungiert dagegen als Repräsentant für die Begriffe objektstufiger Rede (bzw. in Hegels Worten die »bestimmten Begriffe«), etwa Farbe, Tier, Pflanze usw. (vgl. TW 8, § 163 Z; TW 6, 274 ff., 280 ff.; Heusinger von Waldegge 2012, 12 ff.).27 Hegel spricht nun davon, dass der allgemeine Begriff die drei Momente Allgemeinheit (also sich selbst!), Besonderheit und Einzelheit enthält, ebenso wie der besondere Begriff den allgemeinen Begriff enthält (vgl. TW 6, 273, 280). Diese Figur, in der sich Allgemeinheit und Besonderheit gegenseitig enthalten und damit zugleich subordiniert und koordiniert sind (vgl. ebd., 280 f.), bezeichnet er als »Übergreifen«: »Das Allgemeine als der Begriff ist er selbst und sein Gegenteil, was wieder es selbst als seine gesetzte Bestimmtheit ist; es greift über dasselbe über [Hervorhebung durch mich; FHvW] und ist in ihm bei sich.« (TW 6, 281)

In Anschluss an Hegel nennt Josef König diese Figur auch das »übergreifende Allgemeine«: »Die Konzeption des übergreifenden Allgemeinen ist mithin dadurch bestimmt, daß ein in sich einiges Doppeltes vorliegt [...]: Nämlich daß das Allgemeine das Allgemeine seiner selbst und seines Gegenteils ist: daß die Gattung Gattung ihrer selbst und ihres Gegenteils ist.« (König 1978/1948, 34)

Innerhalb der »Lehre vom Begriff« wird zunächst das höherstufige Verhältniss abgehandelt, um zu zeigen, dass es keinen archimedischen Punkt außerhalb einer Sprache oder eines Begriffssystems geben kann. Mit dieser Begriffskonzeption wendet sich Hegel gegen eine philosophische Tradition, die den (objektstufigen) Begriff als »repraesentatio per notas communes« definiert und metaphorisch

27 | Hegel grenzt diese objektstufigen Begriffe klar von den Kategorien der Seins- und Wesenslogik ab. Bei letzteren handelt es sich um Begriffe »an sich«, die nicht im Verhältnis von Allgemeinheit, Besonderheit und Einzelheit zueinander stehen (vgl. TW 8, § 162).

3. Sprechen, Wahrnehmen und Handeln

davon spricht, dass sich Begriffe »enthalten«. Nach diesem (augustinischen) Bild der Sprache wirken Abstraktionen (also das Weglassen von Bestimmungen) klassenbildend, so wie etwa der Begriff des Lebewesens die Begriffe Tier und Mensch enthält. Demgegenüber spricht Hegel ebenso metaphorisch davon, dass sich Begriffe »gegenseitig enthalten« oder »übergreifen«. Das wiederum meint nichts anderes, als dass jeder einzelne Begriff durch den begrifflichen Gesamtzusammenhang bestimmt wird. Die Einzelheit ist daher zunächst nicht als unmittelbare Einzelheit zu nehmen, wie »wir von einzelnen Dingen, Menschen sprechen [...]« (TW 8, § 163), sondern als »repraesentatio mundi«: Das Allgemeine ist in jedem einzelnen Begriff vollständig (»notio completa«) aber nicht vollkommen (»notio perfecta«) enthalten (vgl. Holz 2005, 207 f.). Die Begriffstrias Allgemeinheit, Besonderheit und Einzelheit bezeichnet demnach hier zunächst ein höherstufiges Verhältnis von Begriffen innerhalb einer Sprache oder eines begrifflichen Zusammenhangs. In der darauffolgenden Urteilslehre thematisiert Hegel anschließend das objektstufige Verhältnis von Begriffen bzw. die Möglichkeit objektstufiger Verwendungsweisen von Begriffen. In dem Zusammenhang wendet er sich gegen das noch heute verbreitete Urteilsverständnis, nach welchem von Fakten »in der Welt« Begriffe »aus dem Kopf« prädiziert werden. Dies nennt Hegel den »subjektiven Sinn« des Urteils: »Mit dem Urteilen ist hernach die Reflexion verbunden, ob dieses oder jenes Prädikat, das im Kopfe ist, dem Gegenstande, der draußen für sich ist, beigelegt werden könne und solle; das Urteilen selbst besteht darin, daß erst durch dasselbe ein Prädikat mit dem Subjekte verbunden wird, so daß, wenn diese Verbindung nicht stattfände, Subjekt und Prädikat jedes für sich doch bliebe, was es ist, jenes ein existierender Gegenstand, dieses eine Vorstellung im Kopfe.« (TW 6, 304 f.)

Allerdings, so Hegel, sagt ja die Kopula in Urteilen wie »Die Rose ist rot« oder »Das Gemälde ist schön«, dass wir es nicht der Rose äußerlich antun, rot zu sein oder dem Gemälde, schön zu sein, sondern dass dies die Bestimmungen der Gegenstände sind. Wir betrachten einen Gegenstand eben nicht durch unser subjektives Tun, sondern »in der durch seinen Begriff gesetzten Bestimmtheit« (TW 8, § 166 Z). Ein solch subjektives Verhältnis besteht laut Hegel nur in Sätzen, die die Form eines Urteils haben (Sätze stehen im Sinne Hegels nicht im Verhältnis von Allgemeinheit, Besonderheit und Einzelheit, weswegen es sich um informative Aussagen handelt, die epistemisch irrelevant sind; vgl. TW 6, 305): »Nur dann würde ein Satz [wie] ›es fährt ein Wagen vorüber‹ ein und zwar subjektives Urteil sein, wenn es zweifelhaft sein könnte, ob das vorüber sich Bewegende ein Wagen sei oder ob der Gegenstand sich bewege und nicht vielmehr der Standpunkt, von dem wir ihn beobachten; wo das Interesse also darauf geht,

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Das Problem moralischen Wissens für [eine] noch nicht gehörig bestimmte Vorstellung die Bestimmung zu finden.« (TW 8, § 167)

Bei Sätzen wie »Aristoteles ist im 73. Jahr seines Alters, in dem 4. Jahr der 115. Olympiade gestorben« (TW 6, 305), oder »Cäsar ist zu Rom in dem und dem Jahr geboren, hat zehn Jahre Krieg in Gallien geführt, ist über den Rubikon gegangen« handelt es sich nur dann um subjektive Urteile, wenn einige Informationen fraglich wären (vgl. TW 8, § 167).28 Hegel macht dagegen geltend, dass es beim Urteilen nicht um ein »Beilegen« oder »Verbinden« von Begriffen gehen kann. Vielmehr müssen sich Subjekt und Prädikat schon in einer inferentiellen Beziehung befinden, um urteilen zu können. Dies nennt Hegel den »objektiven Sinn« des Urteils, den er (falsch etymologisierend und in Anschluss an Friedrich Hölderlins Schrift Urteil und Sein) als »ursprüngliche Teilung« oder »Ur-Teilung« bezeichnet (vgl. TW 8, § 166; TW 6, 304; Heusinger von Waldegge 2012, 53 ff.). Hegel leitet anschließend die Urteilsformen und die bestimmten Begriffe als Begriffe objektstufiger Rede dialektisch her. Entsprechend wird, wie bereits erwähnt, auch die Begriffstrias Allgemeinheit, Besonderheit und Einzelheit jetzt als objektstufiges Bestimmungsverhältnis konzipiert. Jede Urteilsform hat dabei die jeweils vorausgehende zur präsuppositionslogischen Voraussetzung. Die Details dieser »immanenten Deduktion« (TW 6, 252) müssen hier nicht weiter interessieren. Trotzdem sollen die verschiedenen Urteile hier kurz vorgestellt werden, da sie zum Verständnis von Hegels Begriffstheorie zentral sind. Die Dialektik der Urteilsformen beginnt mit dem »Urteil der Qualität«, welches die sinnliche Allgemeinheit bzw. die Eigenschaften der unmittelbaren Dei-

28 | Ferner gibt es gemischte Fälle: Der Satz »Caesar war entsetzt über die Niederlage des Varus« ist nur dann ein Urteil, wenn das Prädikat das Subjekt weiter bestimmt, man also ausdrücken möchte, dass Augustus zur Klasse der Caesaren gehörte. Wird sowohl von der Sprecher*in, als auch von der Hörer*in vorausgesetzt, dass es sich bei Caesar nicht um einen generischen Begriff, sondern um den Cognomen von Gaius Julius handelt, dann bestimmt das Prädikat das Subjekt nicht weiter und es handelt sich um einen falschen Satz. Denn Gaius Julius hat mit der Niederlage des Varus nichts zu tun gehabt (vgl. Stekeler-Weithofer 1992, 364 f.). Ein oft gemachter Fehler in der Hegel-Interpretation besteht darin, die Unterscheidung zwischen Sätzen und Urteilen zu übersehen (vgl. dazu TW 6, 36 f.). So handelt es sich auch beim Spekulativen Satz eben nicht um ein Urteil. Wenn also Wilhelm Lütterfelds den Spekulativen Satz Hegels zusammen mit Wittgensteins »grammatischer Bewegung« von der »gewöhnlichen Auffassung des Satzes« abgrenzt, übersieht er eben diese Differenzierung (was seiner grundsätzlichen Intuition, auf die inhaltliche Nähe von Hegel und Wittgenstein hinzuweisen, jedoch keinen Abbruch tut; vgl. ders. 2008).

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xis prädiziert. Hegel unterscheidet dabei zwischen dem positiven Urteil (z.B. »die Rose ist rot«), dem negativen Urteil (z.B. »die Rose ist nicht rot«) und dem unendlichen Urteil (bzw. dem unendlichen Satz; z.B. »die Rose ist kein Elefant«). Da in diesen Urteilen jeweils weitere Eigenschaften des Subjekts präsupponiert werden, führt dies zum »Urteil der Quantität«, welches die reflektierende Allgemeinheit bzw. Eigenschaften des reflektierenden Nachdenkens aussagt. Dabei wird zwischen dem singulären Urteil (z.B. »dieses Ding ist nützlich/nicht nützlich«), dem partikulären Urteil (z.B. »einige Menschen sind glücklich/nicht glücklich«) und dem universellen Urteil (z.B. »Alle Menschen sind sterblich«) unterschieden. In diesem Zusammenhang geht Hegel von der reflektierenden Allgemeinheit (»Alle Menschen sind sterblich«) zur Gattungsallgemeinheit (»der Mensch ist sterblich«) über, da jede Allaussage eine typisierend-generische Aussage präsupponiert (vgl. TW 6, 332 f.; Heusinger von Waldegge 2012, 67):29 »In der Tat ist jedoch das Allgemeine der Grund und Boden, die Wurzel und die Substanz des Einzelnen. Betrachten wir z.B. den Gajus, den Titus, den Sempronius und die übrigen Bewohner einer Stadt oder eines Landes, so ist dies, daß dieselben sämtlich Menschen sind, nicht bloß etwas denselben Gemeinschaftliches, sondern ihr Allgemeines, ihre Gattung, und alle diese Einzelnen wären gar nicht ohne diese ihre Gattung.« (TW 8, § 175 Z)

Dabei betont Hegel nochmal, dass es sich bei der Allgemeinheit um eine Regel handelt: »Die Methode oder Regel ist als das wahrhaft Allgemeine anzusehen.« (TW 6, 331) Wie diese Regel funktioniert, wird im »Urteil der Notwendigkeit« geklärt, welches die Gattungsallgemeinheit prädiziert bzw. begriffslogische Gattungen und Arten in ein Verhältnis setzt. Hier wird zwischen dem kategorischen Urteil (z.B. »das Gold ist Metall«), dem hypothetischen Urteil (z.B. »wenn et-

29 | Es handelt sich bei den »bestimmten Begriffen« daher nicht um verschiedene Begriffstypen objektstufiger Rede, wie Hegel manchmal zu suggerieren scheint, sondern um verschiedene begriffliche Verwendungsweisen. So kann etwa das Prädikat »rot« als sinnliche Allgemeinheit (»die Rose ist rot«), Gattungsallgemeinheit (»die Farbe ist rot«) oder Reflexionsallgemeinheit (»einige Rosen sind rot«) verwendet werden (vgl. Heusinger von Waldegge 2012, 89). Ferner lässt sich schon durch die Urteilslehre antizipieren, warum Hegel im späteren Kapitel über den »Schluß der Induktion« oder den »Schluß der Allheit« auch Nelson Goodmans »neues Rätsel der Induktion« vorwegnimmt, wenn er ihn in der Gestalt A-e,e,e,e,.....-B wiedergibt (vgl. TW 6, 384). Denn die Induktion, so Hegel, ist der Schluss »des subjektiven Zusammenfassens der Einzelnen in die Gattung und des Zusammenschließens der Gattung mit einer allgemeinen Bestimmtheit, weil sie in allen Einzelnen angetroffen wird« (ebd., 385).

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was Gold ist, so ist es notwendig Metall«) und dem disjunktiven Urteil (z.B. »das poetische Kunstwerk ist entweder episch oder lyrisch oder dramatisch«)30 unterschieden. Auf die Details dieses schwierigen Abschnitts der Wissenschaft der Logik kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden. Wichtig in diesem Zusammenhang ist lediglich die Disjunktion, die Hegel als die »Notwendigkeit des Begriffs« bezeichnet (vgl. TW 6, 339).31 Denn damit erinnert Hegel an einen »radikaleren Anspruch von ›Allgemeinheit‹ im Unterschied zu derjenigen, die qua Abstraktion klassenbildend [wirkt]« (Hubig 2007b, 13): »Was allen Einzelnen einer Gattung zukommt, kommt durch ihre Natur der Gattung zu.« (TW 6,

30 | Hegel erwähnt neben dieser »negativen Beziehung« noch die »positive Identität«: A ist sowohl B als auch C (vgl. TW 6, 339 f.). In der formalen Logik wird bei der Disjunktion, als Funktion mit mindestens zwei Argumenten, zwischen Adjunktion, Kontravalenz und Exklusion unterschieden. Aus Sicht der modernen Logik würde Hegel damit verschiedene Urteilsklassen vermischen (vgl. Schäfer 2006, 65). 31 | Hegel bezieht sich mit diesen Urteilsformen zurück auf das Ende der Wesenslogik, die das Substantialitätsverhältnis (kategorisches Urteil), Kausalitätsverhältnis (hypothetisches Urteil) und die Wechselwirkung (disjunktives Urteil) abhandelt (vgl. dazu genauer Heusinger von Waldegge 2012, 69 ff.). Gleichzeitig grenzt er das wechselwirkende Verhältnis der »begrifflichen Disjunktion« von der »empirischen Disjunktion« ab, in der die Arten nur vorgefunden werden (vgl. TW 6, 340). Die »empirische Vermischung und Unreinheit« bei Urteilen wie »Die Farbe ist entweder violett, indigoblau, hellblau, grün, gelb, orange oder rot« können, so Hegel, »nur in einem ganz unüberlegten Verfahren seinen Grund haben, das selbst für den Empirismus zuwenig [sic!] Reflexion zeigt« (ebd., 343). Hegel sieht in diesem Beispiel das Prinzip der Besonderung der Arten in der Einheit von hell und dunkel. Als Anhänger der subtraktiven Farbenlehre Goethes sind die Arten der Farbe im Sinne Hegels rot, gelb oder blau (vgl. TW 8, § 177 Z). Aus heutiger Sicht lässt sich über die Plausibilität der Unterscheidung zwischen begrifflicher und empirischer Disjunktion streiten, zumal Hegel selbst die Dualität zwischen Begriffen »im Kopf« und empirischen Fakten »in der Welt« kritisiert. Evtl. lässt er sich in diesem Beispiel zu sehr von seiner Bewunderung für die Farbenlehre Goethes leiten, die durch Rosenkranz überliefert wird (vgl. ders. 1998/1844, 339). Damit einher geht sicherlich Hegels Abneigung gegen Newtons Forschung, die er selbst dokumentiert und die hier als humoristische Spitze gegen empiristische Theorien zitiert wird: »Aus Beobachtungen Erfahrungen ableiten, heißt bei ihnen [den englischen Empiristen; FHvW] philosophieren. Ein solcher [sic!], zog Newton aus seinen Erfahrungen seine Verstandessätze; und in Physik und Farbenlehre hat er schlechte Beobachtungen und noch schlechtere Schlüsse gemacht.« (TW 20, 223) Und weiter: »Physik, hüte dich vor Metaphy-

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334)32 Denn es kann, und dies ist die zentrale Einsicht, nicht alles was über eine Gattung gesagt werden kann, für jede Art und für jede einzelne Instantiierung zutreffen. In der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften erläutert er dies anhand eines Beispiels: »Man hat bemerkt, daß die Menschen, im Unterschied von den Tieren, dies miteinander gemein haben, mit Ohrläppchen versehen zu sein. Es leuchtet indes ein, daß, wenn etwa auch der eine oder der andere keine Ohrläppchen haben sollte, dadurch sein sonstiges Sein, sein Charakter, seine Fähigkeiten usw. nicht würden berührt werden, wohingegen es keinen Sinn haben würde, anzunehmen, Gajus könnte etwa auch nicht Mensch, aber doch tapfer, gelehrt usw. sein. Was der einzelne Mensch im Besonderen ist, das ist er nur insofern, als er vor allen Dingen Mensch als solcher ist und im Allgemeinen ist, und dies Allgemeine ist nicht nur etwas außer und neben anderen abstrakten Qualitäten oder bloßen Reflexionsbestimmungen, sondern vielmehr das alles Besondere Durchdringende und in sich Beschließende.« (TW 8, § 175 Z)

Es handelt sich bei der Beziehung zwischen Allgemeinheit, Besonderheit und Einzelheit also nicht bloß um das Verhältnis von Mengen, Teilmengen und Elementen. Damit löst Hegel den überkommenen Dualismus zwischen dem nominalistischen Empirismus und dem Platonismus, der das Begriffliche hypostasiert (vgl. Stekeler-Weithofer 2009, 44, 50): »Die Gattung ist daher insofern die nächste einer Art, als diese ihre spezifische

sik, war sein Wahlspruch: d.h. also, Wissenschaft, hüte dich vor dem Denken. Und er sowohl als alle diese physischen Wissenschaften bis diesen Tag haben treulich darauf gehalten, als sie sich nicht auf eine Untersuchung ihrer Begriffe, das Denken der Gedanken, eingelassen haben.« (Ebd., 231) 32 | So erinnert zwar auch Wittgenstein an die Disjunktion, wenn er das, was Hegel Allgemeinheit nennt, als ein »kompliziertes Netz von Ähnlichkeiten, die einander übergreifen [Hervorhebung durch mich; FHvW] und kreuzen« (PU 66) bezeichnet. Allerdings thematisiert er im Gegensatz zu Hegel dieses disjunktive begriffliche Verhältnis nicht mehr weiter, sondern beschreibt es metaphorisch als Familienähnlichkeiten: »Ich kann diese Ähnlichkeiten nicht besser charakterisieren als durch das Wort ›Familienähnlichkeiten‹; denn so übergreifen und kreuzen sich die verschiedenen Ähnlichkeiten, die zwischen den Gliedern einer Familie bestehen: Wuchs, Gesichtszüge, Augenfarbe, Gang, Temperament, etc. etc. [...] Wenn aber Einer sagen wollte: ›Also ist allen diesen Gebilden etwas gemeinsam, – nämlich die Disjunktion aller dieser Gemeinsamkeiten‹ – so würde ich antworten: hier spielst du nur mit einem Wort.« (PU 67)

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Das Problem moralischen Wissens Unterscheidung an der wesentlichen Bestimmtheit jener und die Arten überhaupt ihre unterschiedene Bestimmung als Prinzip in der Natur der Gattung haben.« (TW 6, 341 f.)

Die Gattung oder das Allgemeine ist dann nicht mehr als das Ergebnis eines Abstraktionsprozesses zu betrachten, sondern sie markiert, als reale Möglichkeit des Bestimmens, ihre jeweiligen Arten als Extensionen. Die Art ist, als reale Wirklichkeit, die Instantiierung einer Gattung und bestimmt diese gleichzeitig (sie »wirkt«):33 »Jede Regel ist mithin ein ›Mehr‹ gegenüber ihrer Instantiierung, andererseits enthält jede Instantiierung mehr Eigenschaften als die Regel, die sie instantiiert. Die Einseitigkeit der vollzogenen extensionalen Bestimmung relativ zur Intension (ihr Anderes, ihr Nicht-Identisches) ist das Eine, der stumme Verweis auf ein ›Auch

33 | Ich habe bereits an anderer Stelle gezeigt, dass es sich beim disjunktiven Urteil um das Verhältnis der Wechselwirkung von realer Möglichkeit und realer Wirklichkeit handelt (vgl. Heusinger von Waldegge 2012, 69 ff.). Die Modalbegriffe Wirklichkeit, Möglichkeit und Notwendigkeit beziehen sich innerhalb der Wissenschaft der Logik einerseits auf den Status des Seins als Wahrmacher von Propositionen (operative Modalitäten de dicto: »Es ist wirklich/möglich/ notwendig, dass p«), und andererseits auf den Inhalt von Propositionen (als prädikative Modalitäten de re: »Für p ist es wirklich/möglich/notwendig, q zu sein«). Daneben unterscheidet Hegel ganz explizit die ontischen (realen) Modalitäten und die logischen (formellen) Modalitäten. Die formelle Wirklichkeit meint eine noch unmittelbare und unreflektierte Realität, die bestimmt werden soll. Mit formeller Möglichkeit bezeichnet Hegel dagegen das Konzept der Denkmöglichkeit oder Konsistenz (etwa, dass der »Mond auf die Erde fällt« oder der »türkische Kaiser Papst wird«; TW 8, § 143 Z). Die reale Wirklichkeit ist dagegen der Inbegriff für das »Ding von vielen Eigenschaften«, das »wirken kann«, während die reale Möglichkeit das »inhaltsvolle Ansichsein« der realen Wirklichkeit ist, mithin die Bestimmung möglicher Wirkungen (vgl. TW 6, 208 f.; Hubig 2010, 1646 f.; Heusinger von Waldegge 2012, 114 ff.). Aus diesem Grund wehrt sich Hegel auch gegen die Anfeindungen, die sein berühmter Satz aus der Vorrede der Rechtsphilosophie ausgelöst hat: »Was vernünftig ist, das ist wirklich, und was wirklich ist, das ist vernünftig.« (TW 7, 24) Denn einerseits, so Hegel, stecken die Ideen nicht bloß »in unseren Köpfen«, sondern sie sind das »Wirkende«. Andererseits ist die Wirklichkeit nicht so unvernünftig, wie es sich die »gedankenlosen Praktiker« einbilden. Das Missverständnis liegt näher darin, das Wirkliche mit dem »Handgreiflichen« und »unmittelbar Wahrnehmbaren« zu verwechseln (vgl. TW 8, § 142 Z).

3. Sprechen, Wahrnehmen und Handeln von Eigenschaften‹ [...], das der Bestimmung harrt, das Andere. Das ist die Dialektik von Regel und Regelvollzug.« (Hubig 2007b, 15)

So sind etwa mit Paarhufer in der heute gebräuchlichen Klassifikation entweder Schweineartige oder Flusspferde oder Kamele oder Wiederkäuer gemeint, also all diejenigen Arten, in denen sich die Gattung direkt manifestiert. Der vollständige Begriff Paarhufer umfasst jedoch noch unendlich viele weitere Bestimmungen, »einschließlich der relationalen zu allen anderen Entitäten der Welt« (z.B. Fellträger, Warmblüter, nicht fliegen können usw.; vgl. Hubig 2007b, 14). Auf diese Weise, und das ist eine zentrale Pointe der Urteilslehre, erläutert Hegel nochmal die Figur des »übergreifenden Allgemeinen«: Es handelt sich bei Begriffen um disjunktive Regeln, während Abstraktionstheorien Begriffe als konjunktive Regeln auffassen müssen (vgl. dazu auch Schick 2006, 122).34 Die objektstufige Verwendungsweise von Begriffen lässt sich deshalb in Anschluss an Pirmin Stekeler-Weithofer auch als »Logik des ›Aber‹« verstehen (vgl. ders. 2009): Denn unsere Sprachkompetenz basiert nicht nur auf der Beherrschung von Lexikon, Syntax und quantorenlogischen Aussageformen wie »für alle x gilt A(x)«, sondern auch auf »inhaltsbestimmenden Inferenznormen« (vgl. ebd., 34). Das bedeutet, dass nicht alles, was über eine Gattung prototypisch bzw. richtigerweise generisch gesagt werden kann, für jede einzelne Art oder empirische Instantiierung gilt: »Die rechte Anwendung des Aussagemodus des Allgemeinen bedarf eben daher der Vermittlung durch das Besondere.« (Ebd., 40) Das Generische ist damit zwar die präsuppositionslogische Voraussetzung für jedes empirische Einzelwissen, doch können wir über ein Einzelnes »immer nur als besonderes Exemplar oder besondere Aktualisierung eines allgemeinen Falles sprechen« (ebd., 42). So legen alle Säugetiere etwa keine Eier – bis auf das Schnabeltier. Und aus Eicheln wächst die Eiche aber aus den meisten Eicheln wächst gar nichts (vgl. ebd., 44). »Unser Reden über die reale Welt der Erfahrung bedarf daher immer einer projektiven Logik der μέθεξις, des Allgemeinen, Besonderen, Einzelnen, samt einer möglicherweise notwendigen partiellen Revision des bloß formal Allgemeinen (kurz: A.,B.,E.,R.).« (Stekeler-Weithofer 2009, 31)

Allerdings bestätigen bei Hegel nicht besondere Ausnahmen die begrifflichen Regeln (gegen Stekeler-Weithofer 2009, 44), da es sich ja um disjunktive Regeln handelt. Entsprechend weist uns Hegel darauf hin, dass erstens nominale

34 | Wenn Begriffe aber reale Möglichkeiten des Bestimmens sind, können sie als disjunktive Regeln nur über den Vollzug des wirklichen Sprechens rekonstruiert werden. Dazu s.u.

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Das Problem moralischen Wissens

Begriffsdefinitionen immer unbefriedigend bleiben müssen, da sie entweder Instantiierungen einer Art ausschließen oder alle Abweichungen mit einbeziehen müssten (vgl. Jaeggi, 2014, 184 f.). Zweitens können Begriffe nicht mit einer abegrifflichen Realität verglichen werden, sodass es lediglich einen Unterschied zwischen einem Begriff und seiner angemessenen oder defizitären Verwirklichung geben kann (vgl. TW 6, 517): »Etwas Wirkliches zeigt daher wohl an sich, was es sein soll, aber es kann auch nach dem negativen Begriffsurteil ebensosehr zeigen, daß seine Wirklichkeit diesem Begriffe nur unvollständig entspricht, daß sie schlecht ist. Indem die Definition nun in einer unmittelbaren Eigenschaft die Bestimmtheit des Begriffes angeben soll, so gibt es keine Eigenschaft, gegen welche nicht eine Instanz beigebracht werden könne, in der der ganze Habitus zwar das zu definierende Konkrete erkennen läßt, die Eigenschaft aber, welche für dessen Charakter genommen wird, sich unreif oder verkümmert zeigt. In einer schlechten Pflanze, einer schlechten Tiergattung, einem verächtlichen Menschen, einem schlechten Staate sind Seiten der Existenz mangelhaft oder ganz obliteriert, welche sonst für die Definition als das Unterscheidende und die wesentliche Bestimmtheit in der Existenz eines solchen Konkreten genommen werden konnten. Eine schlechte Pflanze, Tier usf. bleibt aber immer noch eine Pflanze, Tier usf. Soll daher auch das Schlechte in die Definition aufgenommen sein, so entgehen dem empirischen Herumsuchen alle Eigenschaften, welche es als wesentlich ansehen wollte, durch die Instanzen von Mißgeburten, denen dieselben fehlen, z.B. die Wesentlichkeit des Gehirns für den physischen Menschen durch die Instanz der Akephalen, die Wesentlichkeit des Schutzes von Leben und Eigentum für den Staat durch die Instanz despotischer Staaten und tyrannischer Regierungen.« (TW 6, 518)

Hegel verweist hier auf unseren alltäglichen Sprachgebrauch: Wenn wir etwa von schlechten Pflanzen, Menschen oder Staaten reden, beurteilen wir diese. Die »Logik des Aber« zeigt dabei, dass Instantiierungen oder Aktualiserungen einer sprachlogischen Gattung oder eines generischen Ausdrucks begrifflich nicht adäquat sein können. Daher kommentieren wir permanent unseren etablierten Sprachgebrauch, um anschließend unsere begrifflichen Bestimmungen zu revidieren und neu zu instituieren. Hegel erläutert dies im letzten Abschnitt der »Lehre vom Begriff« anhand des im Zitat erwähnten Begriffsurteils, das nun untersucht werden muss. 3.4.2 Dem eigenen Begriff (nicht) entsprechen Hegel gehört zu den wenigen Philosoph*innen die deutlich sehen, dass Bedeutungen niemals abgeschlossen sind, eben weil unsere Sprache und die darin enthaltenen begrifflichen Differenzierungen nicht wertfrei sind. Genau das meint

3. Sprechen, Wahrnehmen und Handeln

er, wenn er davon redet, dass das »eigentliche Urteilen« im Vergleich zwischen dem, was der Begriff »ist« und was er »sein soll«, besteht (vgl. TW 4, 54 f.). Damit spielt er auf das oben erwähnte Begriffsurteil oder das »Urteil der Modalität« an, welches am Ende der Begriffslehre thematisiert wird. Es handelt sich hierbei um ein Urteil über die Angemessenheit bisheriger begrifflicher Differenzierungen, sodass Hegel hier auf die Einheit von Beschreibung und Bewertung hinweist. Prädikate wie gut, schlecht, wahr oder schön drücken aus, ob eine Sache ihrem Begriff entspricht (vgl. TW 6, 344). Beurteilt bzw. bewertet werden dabei die bereits begriffenen Gegenstände des Erkennens (»es ist richtig/falsch, x als y zu begreifen« bzw. »der Begriff ist angemessen für den Gegenstand x«), Handlungen (»diese Handlung ist gut/schlecht«) oder ästhetische Sachverhalte (»dieser Gegenstand ist schön/nicht schön«; vgl. Heusinger von Waldegge 2012, 78). Gleichzeitig weist Hegel darauf hin, dass dies auch der Urteilsbegriff des alltäglichen Lebens ist, da man Personen, die nur Urteile wie »die Rose ist rot« oder »das Gemälde ist staubig« zu fällen wissen, keine Urteilskraft zusprechen würde (vgl. TW 8, § 178). Das unmittelbare Urteil des Begriffs ist zunächst assertorisch: »dieses Haus ist schlecht«, »diese Handlung ist gut« (vgl. TW 6, 346). Da in solchen Urteilen jedoch zunächst nur eine Zufälligkeit ausgedrückt wird, handelt es sich beim assertorischen Urteil zunächst um ein problematisches Urteil, welches eine formelle Möglichkeit im operativen Gebrauch ausdrückt: »Es ist möglich, dass dieses Haus wirklich ein Haus ist (unter die Gattung ›Haus‹ fällt)«. Da das Urteilen jedoch nicht in das subjektive Räsonnement oder Belieben einzelner Personen fällt, führt die Dialektik der Urteilsformen vom problematischen zum apodiktischen Urteil: »Das Haus so und so beschaffen ist gut, die Handlung so und so beschaffen ist recht« (ebd., 349), »dieses – die unmittelbare Einzelheit – Haus – Gattung –, so und so beschaffen – Besonderheit –, ist gut oder schlecht« (TW 8, § 179). Während die Urteile des Daseins, der Reflexion und der Notwendigkeit im Sinne Hegels bestenfalls richtig sein können, handelt es sich hierbei um das »wahrhafte Urteil« (ebd., § 171 Z), da es eine operative Notwendigkeit ausdrückt:35 So ist etwa ein wahrer Freund jemand, dessen Handlungsweise dem Begriff des Freundes entspricht, während ein wahres Kunstwerk dem Begriff des

35 | Die Begriffe Richtigkeit und Wahrheit werden im alltäglichen Leben oft gleichbedeutend verwendet. Hegel unterscheidet jedoch die Wahrheit als der »Übereinstimmung des Gegenstands mit sich selbst, d.h. mit seinem Begriff« von der Richtigkeit als Übereinstimmung »an einem Punkt«: Denn die Rose ist nicht nur rot, sie hat auch andere Eigenschaften und es gibt auch andere Blumen und Gegenstände, die ebenfalls rot sind. Die »Unwahrheit« solcher Urteile besteht darin, dass sich Form und Inhalt widersprechen (Die Wahrheit

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Das Problem moralischen Wissens

Kunstwerks entspricht (vgl. ebd., § 24 Z 2).36 Und ein Haus, um Hegels Beispiel nochmal aufzugreifen, ist etwas, was dem Begriff des Hauses entspricht. Eben diese Einsicht führt zu der Auffassung, dass der Begriff das »eigene Selbst« des Gegenstandes ist (vgl. TW 3, 57) und verändert das Verständnis sprachlicher Aussagen radikal:37 »Entscheidend ist die [...] Einsicht, daß die dem üblichen Sprachverständnis zugrundeliegende Differenz von Gegenstand und Begriff (als seine allgemeine geistige Repräsentation), oder auch die Differenz von Einzelnem und Allgemeinem, selber schon begrifflich gedacht und sprachlich formuliert ist. Denn angeben, worauf sich ein allgemeiner Begriff bzw. ein sprachlicher Ausdruck referentiell bezieht, also den Gegenstand angeben, ist nur derart möglich, dass man denselben Begriff und denselben sprachlichen Ausdruck wiederholt, ist also nur zirkulär und

dagegen ist im Sinne Hegels, dass die Farbe der Rose Rosenfarbe ist; vgl. TW 6, 323). Anders, so Hegel, verhält es sich beim Urteil des Begriffs, bei dem das Prädikat die »Seele« des Subjekts ist (vgl. TW 8, § 172 Z). Den Unterschied erläutert er an einem Beispiel: »Es mag immerhin richtig sein, daß jemand krank ist, oder daß jemand gestohlen hat; solcher Inhalt ist aber nicht wahr, denn ein kranker Leib ist nicht in Übereinstimmung mit dem Begriff des Lebens, und ebenso ist der Diebstahl eine Handlung, welche dem Begriff des menschlichen Tuns nicht entspricht.« (Ebd.) 36 | Aus diesem Grund ist es für Hegel möglich, »Richtigkeiten, die zugleich Unwahrheiten sind« im Kopf zu haben. Das ist etwa dann der Fall, wenn von einem »schlechten Staat« richtige Eigenschaften prädiziert werden (vgl. TW 8, § 24 Z 2). 37 | Im Argumentationsgang der Wissenschaft der Logik wird die Einheit von Sein und Denken erst im dritten Abschnitt »Die Idee« vollendet, insofern der adäquate Begriff die Realität übergreift (vgl. Heusinger von Waldegge 2012, 83 f.). Diese Einheit kann jedoch nie unterschiedslos sein: »Es ist die Definition der endlichen Dinge, daß in ihnen Begriff und Sein verschieden, Begriff und Realität, Seele und Leib trennbar, sie damit vergänglich und sterblich sind.« (TW 5, 92) Und: »[A]lle endlichen Dinge aber haben eine Unwahrheit an sich, sie haben einen Begriff und eine Existenz, die aber ihrem Begriff unangemessen ist. Deshalb müssen sie zugrunde gehen, wodurch die Unangemessenheit ihres Begriffs und ihrer Existenz manifestiert wird. Das Tier als Einzelnes hat seinen Begriff in seiner Gattung, und die Gattung befreit sich von der Einzelheit durch den Tod.« (TW 8, § 24 Z 2) Die Einheit Unterschiedener ist das Leitmotiv des dialektischen Denkens Hegels und wird durch den Spekulativen Satz und das Motiv der »Identität der Identität und Nichtidentität« ausgedrückt (vgl. TW 5, 93 f.; TW 6, 37 ff.).

3. Sprechen, Wahrnehmen und Handeln selbstbezüglich möglich: ›Haus‹ bezieht sich auf – Haus. Es ist nun diese scheinbartriviale Einsicht, die die Überzeugung korrigiert, daß man im urteilenden Satz und seiner prädikativen Aussage über einen referentiellen Gegenstand spricht und ihn allgemein inhaltlich bestimmt, etwa im Beispiel: ›Das Haus ist außergewöhnlich groß‹, und daß man dabei im identifizierenden Subjektausdruck (›Haus‹) referentiell so auf den Gegenstand Bezug nimmt, daß er im Prädikat hinsichtlich einer Eigenschaft (›groß‹) näher charakterisiert wird.« (Lütterfelds 2008, 37)

Eben weil prädikative Bestimmungen nur Gegenständen zugesprochen werden können, die schon sprachlich bzw. begrifflich bestimmt sind, liegt in der charakterisierenden Aussage eine wiederholende Selbstanwendung des prädikativen Inhalts vor. Oder anders formuliert: Im Sprechen beziehen wir uns auf Unterscheidungen, die bereits durch das Sprechen bzw. im Medium der Sprache vollzogen wurden: »Sprechen referiert auf nichts anderes, als auf sich selbst.« (Weingarten 2003, 38) Und eben aus diesem Grund betont Hegel, dass es immer wieder Differenzen zwischen einem Begriff und seiner Verwirklichung geben kann. Unsere bisher gemachten begrifflichen Differenzierungen sind nicht wertfrei, können falsch oder problematisch sein, wie er an den oben bereits erwähnten Beispielen zeigt: Eine schlechte Pflanze, eine schlechte Handlung, ein schlechter Staat oder ein hässliches Kunstwerk entsprechen ihren Begriffen zumindest nicht so, dass man sie unproblematisch als Pflanzen, Handlungen, Staaten oder Kunstwerke auffassen könnte. Dabei wählt Hegel mitunter Beispiele, die aus heutiger Sicht etwas schief klingen, so etwa im Falle einer »schlechten Pflanze« oder eines »schlechten Tieres«. Andere Beispiele kommen uns vertrauter vor, wie die Rede von einem »wahren Freund« oder einem »schlechten Staat«. Es wird trotzdem im Verlauf des weiteren Argumentationsganges zu zeigen sein, dass er damit ein wichtiges und heute nur unzulänglich betrachtetes Problem der (Sprach-)Philosophie und Metaethik markiert. Vorerst jedoch können wir festhalten, dass Hegel mit den verschiedenen Urteilsformen und dem Urteil des Begriffs zwei Probleme des alltäglichen Sprachgebrauchs unterscheidet: Das erste Problem besteht darin, welcher Begriff der bereits etablierten begrifflichen Differenzierungen projiziert werden darf. Sitzen wir etwa in einer U-Bahn einer gemischt-geschlechtlichen und gemischt-generationellen Gruppe von zwei Erwachsenen und drei Kindern gegenüber, lassen sich möglicherweise sowohl der Begriff der Familie als auch der Begriff der Kita-Gruppe projizieren.38 Der begriffliche Regelvollzug im Urteil bezieht sich dabei auf die bereits begriffenen Personen und Praktiken (z.B. Kinder, Erwachsene und die Art und Weise, wie sie miteinander umgehen: liebevoll, sorgend, distanziert etc.). Ob ein Urteil richtig ist oder nicht, hängt damit vom jeweils etablierten Begriffsgebrauch und

38 | Ich modifiziere hier ein Beispiel von Rahel Jaeggi, die die Relevanz der

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Das Problem moralischen Wissens

dem jeweiligen Hintergrundwissen bzw. den zur Verfügung stehenden Informationen ab. Das zweite und für Hegel viel wichtigere Problem besteht darin, ob ein bestimmter Begriff projiziert werden darf. Dabei steht der bereits etablierte Begriffsgebrauch in Frage. Angenommen wir wissen von dieser bestimmten Menschengruppe in der U-Bahn, dass die Kinder biologisch von den Erwachsenen abstammen und dass viele ihrer sozialen Praktiken einer idealtypischen Familie entsprechen. Wenn wir dann aber noch wissen, dass die Eltern (diesen Begriff dürften wir mit unserem Hintergrundwissen auf jeden Fall projizieren) zu ihren Kinder kalt und abweisend und manchmal sogar grausam sind, dürfen wir zu Recht fragen: »Ist das eigentlich eine richtige Familie?« (Hegel würde fragen, ob es sich um eine wahre Familie handelt). Vielleicht haben wir in dieser Situation keinen besseren Begriff und doch bringen wir zum Ausdruck, dass die etablierte Projektion in diesem neuen Fall eigentlich nicht angemessen ist. Zwar ist eine Familie, die basale Bedürfnisse ihrer Kinder missachtet, noch immer eine Familie (schließlich verfügt sie, wenn schon nicht über alle, so doch über hinreichend viele Eigenschaften, um als Familie bezeichnet zu werden, wie Hegel im Kontext des Urteils der Disjunktion argumentiert), doch ist ihre Instantiierung defizitär. Solche begrifflichen Probleme sind keine Ausnahme. Sie kommen häufig vor und werden u.a. politisch instrumentalisiert. Deutlich wird dies etwa am Slogan »Familie ist, wo Kinder sind«, der aus der Regierungserklärung zur Familienpolitik aus dem Ende der 1990er-Jahre stammt.39 Traditionell wird bei dem Begriff der Familie an die bürgerliche Kleinfamilie gedacht, in der die Eltern eine lebenslange, monogame und heterosexuelle Ehe führen, in einer Haushaltsgemeinschaft leben, leibliche Kinder haben usf. Hier wird jedoch eine Neuinterpretation vorgeschlagen: Familien gibt es auch in anderen psychosexuellen und sozialen Konstellationen. Essentiell für die Projektion des Begriffs ist dabei lediglich die Existenz von Kindern (ob leiblich oder nicht) und ein Sorgeverhältnis zu diesen. Wir finden eine Reihe ähnlicher Beispiele in politischen Kontroversen oder bei anderen gesellschaftlichen Problemen. So hat etwa der britische Politikwissenschaftler Colin Crouch vor einiger Zeit darauf hingewiesen, dass es sich bei den Demokratien westlicher Prägung eigentlich gar nicht um wirkliche Demokratien handelt (und hat dafür extra den Begriff der Postdemokratie geprägt; vgl. ders. 2008/2003). Und auch bei sozialen Konflikten und moralischen Problemen stehen oft die zu projizierenden Begriffe in Frage, also ob eine Handlung wirklich grausam, besonnen, tapfer o.ä. ist.

hegelschen Begriffstheorie zwar sieht, aber nicht auf ihre Details eingeht (vgl. dies. 2014, 183 ff.; hier: 186). 39 | Um noch einmal ein Beispiel von Rahel Jaeggi aufzugreifen (vgl. dies. 2014, 196 f.).

3. Sprechen, Wahrnehmen und Handeln

Spätestens mit diesen Ausführungen zum Begriffsurteil wird deutlich, dass Hegel entscheidend über Wittgenstein hinausgeht. Denn dieser hatte zu Recht darauf aufmerksam gemacht, dass das augustinische Bild der Sprache, d.h. die Abbildtheorien der Bedeutung, die von Sinnesreizen ausgehen, die Bedeutung von Lehr- und Lernprozessen unterschätzen: Wir lernen den korrekten Sprachgebrauch in bestimmten Situationen, d.h. in einer endlichen Reihe von Beispielfällen, die uns ein unbegrenztes Feld von Verwendungssituationen verfügbar machen (vgl. Kambartel/Stekeler-Weithofer 1988, 201). Wittgenstein beschreibt diesen Prozess mit dem Begriff des Abrichtens. Zwar sagt auch Hegel eindeutig, wie wir oben gesehen hatten, dass dem Kind das Nachdenken »geboten« wird, sodass es lernt, die Regel anzuwenden (vgl. TW 8, § 21 Z).40 Doch macht er hier ebenso deutlich, dass wir unseren Sprachgebrauch eben nicht nur imitierend erwerben, sondern auch normativ bzw. evaluativ kommentieren und beurteilen.41 Denn wir haben, wie Hegel sagt, das Bedürfnis, »Einheit in die Mannigfaltigkeit« zu bringen (vgl. ebd.). Oder modern formuliert: Wir gehen mit dem bereits etablierten Begriffsgebrauch in jedem Einzelfall neu um und zwar möglichst so, dass die Verständigung gelingt bzw. zielführend ist (vgl. Kambartel/StekelerWeithofer 2005, 170). »Dies tun wir«, wie Stekeler-Weithofer weiter ausführt, »zur Erzeugung und zum Erhalt einer gemeinsamen Perspektive, an die unter Verwendung von Bewertungswörtern wie vernünftig oder objektiv oder wissenschaftlich appelliert wird.« (Ders. 2002, 214) Allerdings zeigt Hegel im Kontext des Begriffsurteils, dass es nicht immer unproblematisch ist, diese gemeinsame begriffliche Perspektive einzunehmen. Denn da erst unsere Begriffe die »Gründe« und »Richtungslinien« (vgl. TW 4, 346) sind, nach denen wir handeln, sind Bewertung und Beschreibung, Sprache und Lebensweise nicht voneinander zu trennen. Er erläutert dies auch an anderer Stelle anhand der Begriffe des Freundes und des Sklaven. So wie ein wahrer Freund jemand ist, der dem Begriff des Freundes entspricht (vgl. TW 8, § 24 Z 2),

40 | Die Aussage ist nicht so restriktiv zu verstehen, wie sie zunächst klingt. Wir werden in Kap. 4.2.2 noch sehen, dass Hegel eine dichotomische Entgegensetzung von Erziehung und Bildung zurückweist. 41 | Vgl. dazu unabhängig von Hegel Kambartel/Stekeler-Weithofer 2005, 162 f. Stekeler-Weithofer weist in dem Zusammenhang auch auf die Untersuchungen von Michael Tomasello hin. Wenn etwa die Mutter (oder der Vater) dem Kind etwas zeigt, kontrollieren Mutter und Kind die Bezugnahme gemeinsam: »Das Kind kopiert nicht etwa nur das Verhalten der Mutter oder reagiert auf einen stilisierten Beginn eines Verhaltensablaufs. Das Kind kontrolliert die zustimmende Gebärde der Mutter, die Mutter kontrolliert den gemeinsamen Bezug.« (StekelerWeithofer 2002, 198; vgl. Tomasello 1999, 103 ff.)

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Das Problem moralischen Wissens

widerspricht der Begriff des Sklaven dem Begriff des Menschen in seinem »unendlichen Werte und seiner unendlichen Berechtigung« (ebd., § 163 Z 1): »[A]lle historische Ansicht über das Recht der Sklaverei und der Herrenschaft beruht auf dem Standpunkt, den Menschen als Naturwesen überhaupt nach einer Existenz (wozu auch die Willkür gehört) zu nehmen, die seinem Begriffe nicht angemessen ist.« (TW 7, § 57)

Es handelt sich dabei um sehr paradigmatische Beispiele Hegels, auf die im Verlauf dieser Arbeit noch weiter eingegangen wird. Wichtig ist hier zunächst, dass er ebenso wie Wittgenstein den Zusammenhang von Sprache und Lebensweise bzw. Praxis sieht, jedoch über Wittgenstein hinausgeht, wenn er darauf aufmerksam macht, dass wir Begriffe nicht nur projizieren, sondern auch in einem Verhältnis zu unseren projizierten Begriffen (und damit zu unseren Lebensweisen) stehen. Unsere bisherigen begrifflichen Differenzierungen können sich als problematisch und im Extremfall als falsch herausstellen. Da es jedoch keine archimedischen Standpunkte bzw. keine Instanzen außerhalb unserer begrifflichen Differenzierungen gibt, die darüber entscheiden könnten, wann der jeweilige Begriffsgebrauch bzw. die etablierten begrifflichen Differenzierungen angemessen sind, muss Hegel nun zeigen, inwiefern ein angemessener Begriffsgebrauch möglich ist bzw. inwiefern Begriffe »wahr« oder »adäquat« sein können.42 Bevor wir jedoch auf die entsprechenden lerntheoretischen Überlegungen eingehen

42 | Den adäquaten Begriff bezeichnet Hegel, wie bereits erwähnt auch als »Idee« oder die »Einheit von Begriff und Realität« in ihrem Unterschied (vgl. TW 6, 465): »Die Idee ist der adäquate Begriff, das objektive Wahre oder das Wahre als solches. Wenn irgend etwas Wahrheit hat, hat es sie durch seine Idee, oder etwas hat nur Wahrheit, insofern es Idee ist.« (Ebd., 462) Und: »Daß die Idee ihre Realität nicht vollkommen durchgearbeitet, sie unvollständig dem Begriffe unterworfen hat, davon beruht die Möglichkeit darauf, daß sie selbst einen beschränkten Inhalt hat, daß sie, so wesentlich sie Einheit des Begriffs und der Realität, ebenso wesentlich auch deren Unterschied ist; denn nur das Objekt ist die unmittelbare, d.h. nur ansichseiende Einheit. Wenn aber ein Gegenstand, z.B. der Staat, seiner Idee gar nicht angemessen, d.h. vielmehr gar nicht die Idee des Staates wäre, wenn seine Realität, welche die [der] selbstbewußten Individuen ist, dem Begriffe ganz nicht entspräche, so hätten seine Seele und sein Leib sich getrennt; jene entflöhe in die abgeschiedenen Regionen des Gedankens, dieser wäre in die einzelnen Individualitäten zerfallen; aber indem der Begriff des Staats so wesentlich ihre Natur ausmacht, so ist er als ein so mächtiger Trieb in ihnen, daß sie ihn, sei es auch nur in der Form

3. Sprechen, Wahrnehmen und Handeln

können, sollen die Ergebnisse der bisherigen Vorarbeit pointiert zusammengefasst und anhand einer Metapher erläutert werden. 3.4.3 Von der Abbild- zur Spiegelbildtheorie der Bedeutung Das bisher Gesagte lässt sich also wie folgt zusammenfassen: Sowohl Wittgenstein als auch Hegel knüpfen mit ihren Überlegungen an die Begriffstheorie und das Regelfolgenproblem Kants an. Begriffe, so Kant, sind Regeln, die nicht ihre eigene Anwendung regeln können, da es sonst zu einem Regress kommen würde. Um eine Regel im Urteil angemessen anwenden zu können, benötigt es deshalb Urteilskraft, die nicht durch Belehrung, sondern nur durch Übung gelernt werden kann. Beide, Wittgenstein und Hegel, weisen über Kant hinausgehend auf die Defizite dualistischer Begriffstheorien hin, wie sie sich paradigmatisch im augustinischen Bild der Sprache finden. Demnach beziehen wir uns als Sprecher*innen mit unseren Begriffen (aktiv) auf sprach- und theoriefreie Daten, die wir vorher durch die Wahrnehmung (passiv) bekommen: »Wahrnehmung wird sowohl im klassischen Empirismus und kognitionswissenschaftlichen Repräsentationismus als auch im modernen Konstruktivismus als ein natürlich sich vollziehender, sprachfreier Vorgang vorgestellt, der sich entweder kausal zwischen vorgegebenen Dingen und Nervensystemen ereignet, oder Zustandsänderungen (Perturbationen) im Nervensystem und Gehirn bewirkt, aus denen dann das Gehirn verhaltensrelevante Bedeutungen konstruiert.« (Weingarten 1999, 26)

Diese Auffassung der Wahrnehmung als Informationsaufnahme und Informationsverarbeitung hat sich zuerst in der Sinnesphysiologie des 19. Jahrhunderts etabliert und wurde später von den Neuro- und Kognitionswissenschaften übernommen. Dabei wird metaphorisch explizit oder implizit ein Sender-EmpfängerModell zugrunde gelegt: »Danach senden diskrete Objekte der Außenwelt spezifische Informationen aus, die von den Sinnesapparaten empfangen und zu Abbildungen oder Repräsentationen verarbeitet werden. Zielt die Abbildtheorie im Idealfall auf die Isomor-

äußerer Zweckmäßigkeit, in Realität zu versetzen oder ihn so sich gefallen zu lassen gedrungen sind, oder sie müßten zugrunde gehen. Der schlechteste Staat, dessen Realität dem Begriffe am wenigsten entspricht, insofern er noch existiert, ist er noch Idee; die Individuen gehorchen noch einem machthabenden Begriffe.« (Ebd., 465 f.) Hegel macht in dieser Textstelle deutlich, inwiefern Begriffe als Orientierungsinstanzen das Handeln anleiten.

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Das Problem moralischen Wissens phie von Abbild und Abgebildetem, so genügt den Repräsentationstheorien die Darstellung wahrgenommener diskreter Gegenstände und ebenfalls diskreter gegenständlicher Zusammenhänge in Form diskreter Symbole. Insgesamt wird von beiden Theorieskizzen die Außenwelt als ein in sich geordneter und strukturierter Gegenstandsbereich vor und unabhängig von jeglicher Wahrnehmung unterstellt. Dieser Auffassung entspricht es im weiteren, Wahrnehmen als Wahrnehmung, als kausales Ursache-Wirkung-Verhältnis zu rekonstruieren, in dem das ›Wahrgenommene‹ die Art und Weise der ›Wahrnehmung‹ determiniere oder doch wenigstens strukturiere.« (Weingarten 1999, 11) 43

Obwohl dieses Verständnis von Sprache und Wahrnehmung intuitiv sehr plausibel erscheint, ist es aus wissenschaftstheoretischer Perspektive problematisch und kann experimentell in Zweifel gezogen werden.44 Die Argumente Wittgensteins und Hegels gründen allerdings nicht in genuin wissenschaftstheoretischen Überlegungen oder Experimenten, sondern weisen auf die Aporien dualistischer Erkenntnis- und Begriffstheorien hin.45 Damit disqualifizieren sie jede naive Abbildtheorie der Bedeutung, die das Verhältnis von Sprache und Welt als Verhältnis von Urbild (Ding an sich) und Abbild (Bild des Dings) modelliert. Wittgenstein greift dazu das Motiv des Regelfolgens in seinen Philosophischen Untersuchungen auf um zu zeigen, dass die Abbildtheorie der Bedeutung in einen Regress führt: Gegenstände oder Sachverhalte in der Welt können nicht die Bedeutung von Begriffen festlegen, da sie nicht in einer eindeutigen Relation zueinander stehen. Wenn jedoch jede Anwendung der Regel einer Deutung bedarf, kann die Regel keine Anwendung mehr festlegen, da sie mit jeder entsprechenden Deutung zu vereinbaren ist. Wittgensteins Lösung des Problems besteht darin, dass das Regelfolgen eine Praxis ist, zu der man abgerichtet wird. Die verschiedenen Interpretationen der Wittgenstein-Forschung konnten hier jedoch nicht abschließend diskutiert werden. Vor dem Hintergrund der von Wittgenstein markierten Probleme hatten wir anschließend eine Begriffstheorie gesucht, die zeigt, dass i.) Begriffe Werte »im-

43 | Mit »diskret« ist in diesem Zitat »die ontologische Vorstellung gemeint, daß Objekte und ihre Eigenschaften als bestimmt und unterschieden gegenüber anderen Objekten und deren Eigenschaften vorgängig zu und unabhängig von menschlichen Unterscheidungsabsichten und -praxen vorliegen« (Weingarten 1999, 11). 44 | Vgl. dazu Weingarten 1999, 26 ff. 45 | Auf Hegels Konzept der Wahrnehmung (bzw. genauer: des Wahrnehmens) und seine Kritik an der neuzeitlichen Vermögenspsychologie, die sich den Menschen als Träger unterschiedlicher aktiver und passiver Erkenntnisvermögen vorstellt, werde ich später noch genauer zurückkommen.

3. Sprechen, Wahrnehmen und Handeln

plizieren«, dass ii.) dieser wertimplizierende Gebrauch von Begriffen mit der Unterscheidung zwischen richtigem und falschem Begriffsgebrauch zu vereinbaren ist und dass iii.) die Kriterien dieses korrekten Begriffsgebrauchs weder nur »außerhalb« der Sprache liegen können (insofern sie durch a-begriffliche Gegenstände »in der Welt« festgelegt werden) noch nur »innerhalb« der Sprache zu verorten sind (insofern der je aktuelle Sprachgebrauch zur Projektion von Begriffen maßgeblich ist). Mit Hilfe einer solchen Begriffstheorie, so die Hoffnung, können die in dieser Arbeit problematisierten Begriffe der Praxis und des Wertes geklärt werden. Mit Hegel hatten wir vor dem Hintergrund dieser Anforderungen einen vielversprechenden Ansprechpartner gefunden, der ebenfalls an Kants Problem des Regelfolgens anknüpft, dabei deutliche Parallelen zu Wittgenstein aufweist und trotzdem in den entscheidenden Punkten über diesen hinausgeht. Denn Hegel zeigt erstens, dass Begriffe unsere Wahrnehmungen strukturieren, zweitens dass sie uns als Regeln bzw. als Werte Handlungsgründe geben und dass wir drittens unseren Sprachgebrauch nicht nur imitierend erwerben, sondern auch in einem Verhältnis zu ihm (und damit auch zu unserem begrifflich vermittelten Wahrnehmen und Handeln) stehen. Theoretisch zentral ist dabei, wie wir gesehen hatten, die Figur des »übergreifenden Allgemeinen«, als der metaphorischen Gegenrede zum »sich enthalten« von Begriffen. Analog dazu lässt sich in Anschluss an Hegel eine moderne metaphorische Gegenrede zur Abbildtheorie formulieren, die Hegels komplexe Begriffstheorie auf den Punkt bringt. Sie geht auf Josef König zurück, der seine Interpretation der Figur des »übergreifenden Allgemeinen« durch die Metapher der Widerspiegelung erläutert.46 Während Abbildtheorien nur das Verhältnis von Sprache und Welt (bzw. Sein und Denken) thematisieren und dieses deshalb nicht adäquat konzeptualisieren können, fokussiert Hegels Begriffstheorie bzw. die Spiegelbildtheorie der Bedeutung das Verhältnis von Sprechen, Wahrnehmen und Handeln. Josef König schreibt: »Denn wir sehen im Spiegel nicht so etwas wie das Bild des Dinges, sondern in ihm das Ding selber.« (Ders. 1969/1937, 67)47 Wenn wir im Spiegel laut König das Ding selber und nicht ein Bild des Dings sehen, darf

46 | Zur Rolle von Metaphern im Allgemeinen und der Spiegelmetapher im Besonderen vgl. Gutmann 2004. Zur Kulturgeschichte der Spiegelmetaphorik und zum Verhältnis von Hegels spekulativer Philosophie zum Widerspiegelungstheorem vgl. Holz 2011, 195 ff. 47 | Wurden die Begriffe Ding und Gegenstand bisher eher intuitiv und mehr oder weniger synonym gebraucht, muss diese nivellierende Alltagsrede nun überwunden werden, damit die Spiegelmetaphorik zu einer präzisen Erläuterung des Verhältnisses von Sein und Denken fähig ist: Während die Rede

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die Spiegelmetapher also nicht mit der Abbild-Metaphorik verwechselt werden. Bei der Interpretation ist also Vorsicht geboten:48 »Weder ist der Spiegel selber ein Bild; hingegen Gemälde z.B. oder Photographien sind selber Bilder; noch ist das, was im Spiegel ist, ein Bild; denn in ihm ist etwas überhaupt nur in der Weise und in dem Sinn, daß und wenn wir etwas im Spiegel sehen. Das Spiegelbild ist das Bild des Spiegels, und dieser Genitiv ist ein possessiver. Der Spiegel besitzt aber nicht etwas, das ein Bild wäre, sondern spiegelt das Ding ähnlich, wie der Maler das Ding malt. Das Spiegelbild ist so das Bild des Spiegels, ähnlich wie ein Bild das Bild des Malers ist, der es gemalt hat. Allein ein Maler kann ein Ding nicht malen oder abmalen, es sei denn er male ein Bild des Dinges; während der Spiegel fertigbringt ein Ding zu spiegeln, ohne sozusagen gezwungen zu sein, ein Bild des Dinges zu spiegeln.« (König 1969/1937, 67; Fn. 1)

Die Metapher ist also gerade nicht so zu interpretieren, dass wir im Spiegel zusätzlich zum Ding selber noch ein Bild des Dings sehen. Vielmehr sehen wir das Ding selber nur deshalb, weil wir es im Spiegel sehen. Oder anders ausgedrückt: Wir sehen durch den Spiegel etwas (das Ding) als etwas Bestimmtes (das Ding selber). Die Spiegelmetaphorik thematisiert also das Verhältnis dreier Seiender: Spiegel-Ding, Ding selber und »wir«, die Betrachtenden (vgl. Weingarten 2004, 100 f.). Dieses Verhältnis wird im Kontext der Metaphorik als Verhältnis zweier Verhältnisse modelliert: 1. Das Verhältnis von Spiegel und dem Ding selber: a) Der Spiegel spiegelt (aktiv) die Dinge selber (passiv) b) Die Dinge selber spiegeln sich (aktiv) im Spiegel (passiv)

vom Ding auf etwas Elementares oder Substanzielles hinweist, meint die Rede vom »Gegen-Stand« ein Verhältnis zu etwas in einer tätigen Beziehung. Der Ausdruck Ding gehört der Metasprache an, sodass Gegenstände als Dinge, die (unabhängig von unseren Verhältnissen zu ihnen) gewisse Eigenschaften haben (etwa Veränderlichkeit oder Konstanz), thematisiert werden können (vgl. Gutmann/Weingarten 2005, 184 ff.). 48 | Tatsächlich wird die Spiegelmetaphorik oft als Abbildmetaphorik modelliert bzw. analog zu ihr verwendet wie etwa im Marxismus-Leninismus (vgl. Baumann 2009, 132; Fn. 179). Dann unterliegt sie aber der von Richard Rorty geäußerten Kritik (vgl. Weingarten 2004, 98). Trotzdem bleibt sowohl Rortys Gleichsetzung von Erkenntnistheorie und Philosophie problematisch (vgl. ebd., Fn. 4) als auch sein undifferenziertes Verständnis von Metaphern (vgl. Holz 2011, 221; En. 8).

3. Sprechen, Wahrnehmen und Handeln

2. Das Verhältnis von Spiegel und uns, den Betrachtenden: a) Wir sehen (aktiv) mittels des Spiegels die Dinge selber (passiv) b) Die Dinge selber zeigen sich (aktiv) uns im Spiegel (passiv) Damit weist die Spiegelmetaphorik zum einen auf das Verhältnis von Aktivität und Passivität hin. Denn der Spiegel erscheint hier zunächst als tätiges Ding, das etwas spiegelt (aktiv), dann aber auch als erleidendes Ding, in dem sich etwas spiegelt (passiv). Es sind weder nur der Spiegel oder nur das Ding selber oder nur wir, die tätig sind. Vielmehr handelt es sich bei dem gesamten Verhältnis des Spiegelns um ein tätiges Verhältnis. Das Spiegelbild (bzw. das Ding selber, das wir im Spiegel sehen) ist also weder unabhängig von uns noch sind wir es, die es im Spiegel erscheinen lassen (vgl. Baumann 2009, 130 f.). Und eben aus diesem Grund weist die Spiegelmetaphorik zum anderen auf das Verhältnis von Wirklichkeit und Möglichkeit hin, auf das Hegel innerhalb seiner Begriffstheorie aufmerksam macht: Denn von einem Spiegel lässt sich nur sinnvoll reden, wenn er wirklich etwas spiegelt und nicht, wenn er nur die Möglichkeit hat, etwas zu spiegeln, jedoch (noch) kein Bild gespiegelt hat (vgl. Gutmann/Weingarten 2005, 148).49 Dabei ist der Terminus »Wirklichkeit« hier im Sinne von aktual oder wirkend zu verstehen (vgl. Baumann 2009, 130 f.):50 Der Spiegel bewirkt nur dann ein Bild, das wir wirklich sehen, indem er etwas Wirkliches spiegelt. Das wiederum bedeutet erstens, dass es keinen Standpunkt außerhalb dieses Verhältnisses gibt, und dass das Spiegelbild zweitens ein Resultat oder Produkt des Spiegelns ist, das weder unmittelbar gegeben noch subjektiv konstruiert ist. Denn das Spiegelbild ist weder identisch mit dem Ding, noch stellt es etwas anderes dar.51 Vielmehr sehen wir im Spiegel das Ding selber. Dabei handelt es sich jedoch nicht um

49 | Dies, so Baumann, begründet auch den begrifflichen Vorrang des Wirklichen vor dem bloß Möglichen, da es nur möglich ist, ein Ding als Spiegel zu bezeichnen, wenn er wirklich spiegelt. Dabei lässt sich ebenfalls von der Wirklichkeit des Spiegelns auf die Möglichkeit schließen, auch andere Dinge spiegeln zu können (vgl. ders. 2009, 130; Fn. 173). 50 | Durch diese aktivische Bedeutungskomponente des lateinischen Begriffs »actualis« (dt.: tätig, wirksam), grenzen sich die Adjektive »wirklich« und »real« im philosophischen Begriffsgebrauch voneinander ab (lat. »realis«: sachlich; vgl. Baumann 2009, 131; Fn. 174). 51 | In Anschluss an König und im Sinne Hegels können wir auch hier wieder vom »übergreifenden Allgemeinen« sprechen: »Spiegel und Ding sind Verschiedene; und wir, die Betrachtenden, verwechseln beide nicht. Aber zugleich ist der Spiegel selbst das eine Worin, in dem [sic!] wir das Ding selber gleichfalls noch einmal sehen können. Das Ding, das der Spiegel spiegelt, ist das Ding des Spiegels, also das Andere des Spiegels; und das Andere und

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das Ding an sich, sondern nach dem gerade Gesagten um das Ding, das auf uns in einer bestimmten Art und Weise wirkt, weil wir uns zu ihm in einem tätigen Verhältnis befinden (vgl. Weingarten 2004, 108): Das »Wie« des Spiegelns hängt dabei sowohl von unserer Position als auch von der Position des Spiegels ab.52 Ferner kann das Spiegelbild als Resultat oder Produkt des Spiegelns verstanden werden (vgl. Gutmann/Weingarten 2004, 293).53 Begriffe, so lässt sich in Anschluss an diese Metapher zunächst konstatieren, bilden die Welt nicht einfach ab, vielmehr spiegeln sie unser Verhältnis zur Welt. Die Spiegelmetaphorik betont dabei den Primat des Sprechens vor der Sprache. Denn wir hatten ja gesehen, dass Begriffe im Sinne Hegels disjunktive Regeln oder reale Möglichkeiten des Bestimmens sind. Aber erst über das Sprechen bzw. den wirklichen begrifflichen Vollzug im Urteil lassen sich Begriffe als disjunktive Regeln und reale Möglichkeiten des Bestimmens rekonstruieren. Im Kontext der Metaphorik bedeutet das zunächst einmal nur, dass wir erst durch Begriffe und durch unsere Sprache bzw. das Sprechen die Welt in einer bestimmten Art und Weise wahrnehmen. In diesem Sinne ist die Sprache nicht nur als ein Mittel zur Kommunikation aufzufassen, sondern gleichzeitig als ein Medium (vgl. Weingarten 1999, 35): Um einen Gegenstand als diesen bestimmten Gegenstand bzw. als Gegenstand eines Typus wahrnehmen zu können, bedarf es etablierter begrifflicher Differenzierungen und damit einer praktischen Leistung der erkennenden Subjekte: Dem Sprechen (vgl. ebd., 36 f.). In diesem Sinne nehmen wir

das, dessen Anderes es ist, sind zwar Andere (Verschiedene, ἕτερα, diversa), zugleich aber in dem einen von ihnen, nämlich in sozusagen dem besitzenden Anderen, Unterschiedene (διαφορά, differentia).« (König 1969/1937, 68; vgl. dazu auch Holz 2011, 247). 52 | Die Rede davon, dass der Spiegel das Ding selber darstellt, nennt König »mittlere Eigentlichkeit« (vgl. ders. 1969/1937, 67 f.; Fn. 1). Denn in allen Darstellungen von Dingen (im Spiegelbild, im gemalten Bild oder im fotografierten Bild) ist nicht das eigentliche Ding sondern ein Bild des Dings zu sehen. Im gemalten Bild oder der Fotografie wird das Ding dagegen uneigentlich dargestellt, da es nicht das Bild selbst, sondern die Maler*in oder die Fotograf*in ist, die etwas darstellen (vgl. Baumann 2009, 132). 53 | Dass der Spiegel oder die Spiegelung Produkte oder Resultate des Spiegelns sind, erläutert Hegel innerhalb der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften ganz unmetaphorisch, wenn er schreibt, dass Begriffe Produkte der begrifflichen (denkenden) Tätigkeit sind: »Indem das Denken als tätige Beziehung auf Gegenstände genommen wird, das Nachdenken über etwas, so enthält das Allgemeine als solches Produkt seiner Tätigkeit den Wert der Sache, das Wesentliche, das Innere, das Wahre.« (TW 8, § 21) Dazu genauer s.u.

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also nicht erst etwas wahr, worüber wir uns anschließend verständigen können, sondern wir können überhaupt nur im Kontext der gemeinsamen Sprache wahrnehmen (vgl. ebd., 40 ff.). Deshalb steht die Spiegelmetapher zunächst für ein tätiges Verhältnis zwischen den wahrnehmenden (bzw. sprechenden) Subjekten und den wahrgenommenen Gegenständen. Nicht ob, sondern wie wir die Welt wahrnehmen, steht dabei in Frage. Jedoch ist allein mit dem Hinweis, dass Wahrnehmungswissen sprachlich vermitteltes Wissen ist, noch nicht hinreichend geklärt, so Weingarten, wie wir zu diesem Wahrnehmungswissen kommen (vgl. ebd., 40). Oder anders formuliert: Es bleibt noch zu klären, warum wir die Welt in einer bestimmten Art und Weise begrifflich strukturieren und wahrnehmen. Wie oben gezeigt wurde, hat Hegel jedoch nicht nur auf die Verklammerung von Sprechen und Wahrnehmen, sondern auch auf ihr Verhältnis zum Handeln hingewiesen. Denn im Sinne Hegels strukturieren Begriffe nicht nur das Wahrnehmen, sondern geben auch Handlungsgründe. Auch um diesen Zusammenhang zu erläutern bleibt die Spiegelmetaphorik anschlussfähig. So zeigt Josef König anhand eines Beispiels, dass wir ein Ding erst dadurch als ein bestimmtes Ding wahrnehmen, dass unser praktisches Tätigsein von dem Ding zurückgespiegelt wird: »Auf Grund von Wahrnehmung zu wissen, daß dieser oder jener Hund ein Hund ist, gehört dem Bereich identifizierender Tatsachenfeststellungen an und setzt den Besitz der Sprache notwendig voraus. [...] Die nur als Rückspiegelung auf die Bestimmtheit eines ursprünglichen Verhaltens auftretende Bestimmtheit dieses Anblicks macht das Sprechen über Hunde allererst möglich und trägt es. Quelle des Besitzes dieses bestimmten Wissens ist somit eine Bestimmtheit, die (im Unterschied zu Platons Idee) nur als die einem ursprünglichen Verhalten zurückgespiegelte Bestimmtheit ist, was sie ist. Der Spiegel, in dem uns die Bestimmtheit unseres ursprünglichen Verhaltens zurückgespiegelt wird, ist ein Dies-da, im gegenwärtigen Beispiel dieser Hund da, zu dem wir uns ursprünglich verhalten.« (König 1994/1947 ff., 167 f.)

Josef König erläutert den Zusammenhang von Sprache und Welt, ebenso wie Kant, am Beispiel des Hundes (vgl. Kap. 3.2). Allerdings kommt er zu einem anderen Ergebnis als Kant: Wir nehmen ein Etwas als einen Hund wahr, weil wir über den Begriff eines Hundes verfügen und wir somit wissen, dass sich das Etwas so verhält, wie sich typischerweise Hunde verhalten. Dabei nehmen wir aber nicht das typische Verhalten eines Hundes wahr, wie es ihm natürlicherweise zukommt, sondern unser typisches Handeln im Umgang mit einem sich verhaltenden (bzw. auf uns wirkenden) Etwas. Die Bestimmtheit von Etwas, bspw. als Hund, ist abhängig von unserem handelnden Umgang mit ihm: »In der Reflexion auf unseren handelnden Umgang mit Dingen in der Welt bilden

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Das Problem moralischen Wissens wir Typusbegriffe, mit denen wir unser bestimmtes Verhalten zu diesen Dingen als typisches Verhalten solchen Dingen gegenüber begrifflich fassen.« (Weingarten 1999, 45 f.)

Wenn Weingarten hier von der Bildung von Typusbegriffen redet, ist dies also nicht so zu verstehen, dass wir erst etwas wahrnehmen, dann handeln und im Kontext der daran anschließenden Reflexion Begriffe bilden. Genauer müsste man formulieren: Wir bilden unsere begrifflichen Differenzierungen im und durch das Urteilen bzw. das begrifflich vermittelte Wahrnehmen und Handeln aus und um. Auf das Problem der Bildung von Begriffen werde ich im letzten Teil dieser Arbeit genauer eingehen. Zunächst gilt es noch einmal, den Zusammenhang von Sprechen, Wahrnehmen und Handeln zu pointierten. Michael Weingarten schreibt: »Nur [im] kooperativen und verständigungsorientierten Tun kommt es zur Ausbildung sinnlicher Fähigkeiten, zu Gewichtungen und Umgewichtungen dieser Fähigkeiten, so daß das praktische Tun neben Arbeitsverhältnissen, zweckrational-instrumentellen und sprachlich-diskursiven Handlungen auch die Ausbildung sinnlicher Verhältnisse umfaßt, in denen wir uns wahrnehmend (hörend, fühlend, Stimmungen, Gefühle ausdrückend und erfahrend) in der Welt bewegen und uns miteinander über unser Weltverhältnis verständigen.« (Weingarten 1999, 7)

Indem wir also zusammen handeln und uns über unsere Handlungspraxis verständigen, können wir die Welt in einer bestimmten Art und Weise wahrnehmen (vgl. Weingarten 1999, 42). Ebenso gilt aber auch, dass wir erst in einer bestimmten Weise zusammen handeln können, weil wir über eine etablierte Begrifflichkeit verfügen und so die Welt in einer bestimmten Weise wahrnehmen. Sprechen (bzw. Urteilen), Wahrnehmen und Handeln sind also im Sinne eines Modalgefälles aufeinander bezogen: Denn Begriffe sind als Regeln reale Möglichkeiten des Bestimmens und damit eben Möglichkeiten des Sprechens, Wahrnehmens und Handelns und können nur über die entsprechenden Vollzüge als Regeln rekonstruiert und damit auch erst thematisiert werden. Darauf wird im Folgenden noch genauer einzugehen sein. Ob ein Urteil richtig ist oder nicht, hängt im Sinne Hegels aber zunächst einmal vom etablierten Begriffsgebrauch ab. Dank diesem können wir meistens ohne Probleme darüber urteilen, ob ein Gemälde staubig ist oder nicht, ob eine Rose rot ist oder gelb, dass das Gold Metall ist oder dass einige Menschen glücklich und alle Menschen sterblich sind. Mit genügend Hintergrundinformationen können wir ebenfalls ein qualifiziertes Urteil darüber abgeben, ob es sich bei der Personengruppe in der U-Bahn um eine Familie oder eine Kita-Gruppe handelt. Allerdings kommt es bei der Projektion von Begriffen immer wieder zu Problemen. Das ist laut Hegel dann der Fall, wenn die Instantiierung eines Begriffs seiner eigenen (zu rekonstruierenden und

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disjunkten) Regel nicht (vollständig) entspricht bzw. wenn sich unser bisheriges Begreifen – und damit die Möglichkeiten des gemeinsamen Sprechens, Wahrnehmens und Handelns – als problematisch herausstellen.54 So kennzeichnen sich Demokratien z.B. durch Mehrheitsentscheidungen, Gewaltenteilung, freie Wahlen, Verfassungsmäßigkeit, Schutz der Grundrechte etc. Und bei staatlichen Gebilden, die nur einige dieser begrifflichen Eigenschaften erfüllen, fragen wir zu Recht: »Ist das noch eine Demokratie?« (oder: »Können wir dieses politische System sinnvoll als Demokratie begreifen?«) Zu ganz ähnlichen Problemen kommt es entsprechend, wenn wir Personengruppen als Familien oder Handlungen als grausam oder tapfer wahrnehmen und entsprechend handeln. Manches an unserem Sprachgebrauch, so die Pointe Hegels bis hierher, ist problematisch und muss immer wieder revidiert werden, weil unsere Sprache nicht einfach in unseren Köpfen ist und dementsprechend nicht von unserer Lebensweise zu trennen ist. Mit Hegel haben wir also einen anschlussfähigen Autoren kennengelernt, der den zuvor identifizierten Kriterien an eine angemessene Begriffstheorie gerecht wird und somit das Ziel, die Begriffe des Wertes und der Praxis besser zu verstehen (bzw. in Hegels Worten: zu begreifen), zumindest perspektivisch etwas näher bringt. Und das aus zwei Gründen: Denn er zeigt im Kontext seiner Begriffs- und Urteilstheorie, die hier über die Spiegelmetaphorik nochmal pointiert erläutert wurde, erstens, dass nur über diejenigen Gegenstände (oder Handlungen) geurteilt werden kann, die schon begrifflich bestimmt sind, weswegen eine prädikative Bestimmung in der wiederholenden Selbstanwendung des Inhalts besteht. Deshalb kann man mit Hegel und in Anschluss an Hilary Putnam davon sprechen, dass sich Gegenstände oder (moralische) Tatsachen »selber identifizieren« (vgl. Lütterfelds 2008, 54). Falsch ist nur die Annahme selbstidentifizierender Gegenstände (»Self-Identifying Objects«) im Sinne Metaphysischer Realist*innen, die glauben, Gegenstände wären zu ein und derselben Zeit geistesunabhängig und selbstidentifizierend. Denn diese müssten davon ausgehen, dass es die Welt ist und nicht die denkenden Subjekte, die sie in Gattungen und Arten gruppieren, sodass alle Gegenstände derselben Art automatisch unter einen bestimmten Begriff fallen (vgl. RTH, 53 f.). Zweitens und damit eng zusammenhängend entledigt sich Hegel mit dieser Begriffstheorie des Verdachts, ein, ebenfalls mit Putnam, »erledigter Pseudo-Wittgensteinianer« zu sein. Denn die Kriterien des angemessenen Begriffsgebrauchs können weder außersprachlich existieren noch einzig im Gebrauch der Sprache. Vielmehr zeigt Hegel, dass das jeweilige Sprechen, Wahrnehmen und Handeln im Sinne eines Modalgefälles aufeinander bezogen ist und dass wir in einem (kommentierenden und revidie-

54 | Was »problematisch« an dieser Stelle heißt, muss im weiteren Verlauf der Argumentation freilich noch geklärt werden.

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renden) Verhältnis zu diesem stehen. Wie genau diejenigen Begriffe, mit denen wir sprechen, durch die wir wahrnehmen und aufgrund derer wir handeln ausund umgebildet werden, wird – wie bereits angekündigt – erst Thema des letzten Teils dieser Arbeit sein. Zunächst einmal geht es darum, die Erträge dieser sprachphilosophischen Vorarbeit einzufahren, um in Anschluss an Wittgenstein und Hegel die Begriffe der Praxis und des Wertes bestimmen zu können. Dabei gilt es gleichzeitig, das hier bereits angesprochene Modalgefälle von Sprechen, Wahrnehmen und Handeln genauer zu erläutern.

3.5 Schlussfolgerungen Die Begriffstheorien Wittgensteins und Hegels sind in verschiedener Weise für die Problemstellung dieser Arbeit anschlussfähig. Wittgensteins Regelfolgenproblem, so hatten wir in Anschluss an die Überlegungen John McDowells gesehen, zeigt, dass es nicht möglich ist, deskriptive und evaluative Bedeutungskomponenten eindeutig zu unterscheiden. Damit betrifft es unmittelbar das problematische Verhältnis von Fakten und Werten und perspektivisch eine adäquate Konzeption des Wertbegriffs. Gleichzeitig hatten wir uns über das Regelfolgenproblem dem ebenfalls problematischen Begriff der Praxis genähert. Denn im Kontext von Stanley Cavells Wittgenstein-Interpretation wird die notwendige Unterscheidung zwischen richtigem und falschem Begriffsgebrauch durch die Einbettung in Lebensformen ermöglicht. Zwar hatten wir gesehen, dass der Hinweis auf Lebensformen allein nicht ausreichen kann, um einen adäquaten Wissensbegriff zu konzeptualisieren, doch wird sich der Lebensformbegriff im Folgenden als äußerst anschlussfähig erweisen. Denn er zeigt die begründungstheoretische Unhintergehbarkeit der sprachlich vermittelten menschlichen Praxis auf. Aber was genau sind Lebensformen? Cavells Aussagen dazu bleiben ebenso vage wie diejenigen Wittgensteins, der schreibt, dass das Sprechen Teil einer Tätigkeit oder Lebensform sei oder dass das Übereinstimmen in der Sprache ein Übereinstimmen in den Lebensformen sei (vgl. PU 23, 241). Aus diesem Grund orientieren sich die folgenden Ausführungen zunächst an der modernen und anschaulichen Lebensformtheorie Rahel Jaeggis. Diese erweist sich jedoch in einigen Punkten als nicht präzise genug. Der Rückgriff auf die hegelsche Begriffstheorie wird es jedoch erlauben, einen adäquaten Lebensformbegriff zu konzeptualisieren und damit den Begriff der Praxis zu klären, der im Kontext des Internen Realismus Hilary Putnams als Begründungsfundament missverstanden wurde. Dies wiederum ermöglicht es anschließend und unter Rückgriff auf Hegels Ausführungen zum Begriffsurteil – die modern durch Peter Geach erläutert werden können – den Begriff des Wertes zu bestimmen.

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3.5.1 Lebensformen als Ensembles von Praktiken Der Begriff der Lebensform wurde durch Ludwig Wittgenstein in der modernen Philosophie populär gemacht und mitunter auch in den Sozialwissenschaften übernommen.55 Dabei erfreut er sich v.a. in der gegenwärtigen Philosophie großer Beliebtheit – und das obwohl er prima facie ziemlich unscharf zu sein scheint. So finden wir im Alltag und in der Sozialwissenschaft viele weitere Begriffe, die sich in ihrer Bedeutung mit dem Lebensformbegriff mitunter stark überschneiden. Das betrifft etwa die Begriffe der Lebensführung, der Lebensgewohnheit, der Lebensweise oder des Lebensstils. Doch im Gegensatz zur individuellen Lebensführung oder beständigen Lebensgewohnheiten zielt der Begriff der Lebensform auf die Zusammenhänge, in denen solch individuelle Lebensführungen oder Lebensgewohnheiten stattfinden. Eine ganz ähnliche Differenz besteht zum Begriff des Lebensstils, der eher durch kontingente und mitunter kurzfristige Präferenzen von Individuen gekennzeichnet ist wie etwa Freizeitverhalten, Musikgeschmack, Lektüregewohnheiten usf. (vgl. Hradil 2005, 437 f.). Ebenso verhält es sich mit dem Begriff der Lebensweise, der wie der Begriff der Lebensform im Englischen mit »way of living« übersetzt wird und mitunter synonym mit dem Begriff des Lebensstils gebraucht wird. Die größte semantische Ähnlichkeit besteht wahrscheinlich noch zum Begriff Kultur, da dieser auf die Lebensweisen von Gemeinschaften abzielt, jedoch selbst stark erläuterungsbedürftig ist. So definiert etwa Martin Seel den Lebensformbegriff über den Kulturbegriff: »Lebensformen sind Kulturen gemeinschaftlichen Handelns.« (Ders. 1993, 245)56

55 | Die gegenwärtige Wittgenstein-Forschung ist in der Interpretation des Lebensformbegriffs maßgeblich durch die Kontroverse von Norman Graver und Rudolf Haller geprägt. Graver vertritt dabei die These, dass Wittgenstein den Lebensformbegriff von Eduard Sprangers Buch Lebensformen entnommen hat und interpretiert ihn als einen »speziesspezifischen« Begriff der Naturgeschichte. Dagegen meint Haller, dass Wittgenstein den Begriff im »anthropologischsoziokulturellen« Sinn gebraucht und ihn aus W. Freds Textsammlung Lebensformen von 1911 entlehnt hat. Rafael Ferber versucht, zwischen beiden Positionen zu vermitteln und weist dabei auf den von Wittgenstein selbst dokumentierten Einfluss von Oswald Spengler hin (vgl. Ferber 1993). Welcher Interpretationsansatz letztlich weiter zu verfolgen ist, müssen die Protagonist*innen der Wittgensteinforschung unter sich ausmachen. Für die Zwecke dieser Arbeit wird sich jedoch ein eher soziokultureller Lebensformbegriff als anschlussfähig erweisen. Zur sozialwissenschaftlichen Übernahme des Begriffs vgl. Wiggershaus 1975. 56 | Im Historischen Wörterbuch der Philosophie wird der Begriff der Kultur um­g e­kehrt über den Lebensformbegriff definiert (vgl. Perpeet 1976, 1310).

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Auf diese Weise verschenkt man jedoch das Potential eines scharf konturierten Lebensformbegriffs, der sowohl für die Sozialphilosophie als auch für die Ethik wichtig ist – auch wenn es eine Vielzahl semantischer Überschneidungen gibt und keine abschließende Nominaldefinition vorgenommen werden kann. Denn nur er betont im Gegensatz zu allen anderen hier aufgeführten Begriffen die kollektive und begrifflich-vermittelte Lebensführung und macht damit zusammenhängend auf den wechselseitigen Einfluss von Individuum und Gemeinschaft aufmerksam. Lutz Wingert gibt dabei eine gute begriffliche Annäherung für die moderne philosophische Forschung: »Eine Lebensform ist ein Ensemble von Praktiken und Orientierungen, zu denen – nicht nur, aber auch – Praktiken des Verstehens und Interpretierens, des Sichverständlichmachens, des koordinierten Zusammenhandelns und des Rechtfertigens gehören, sowie Orientierungen im Urteilen und Handeln, die etwas als wünschenswert, wertvoll, erstrebenswert, als gelungen und mißraten, als berechtigt, geboten, ungerecht, angemessen oder als wahr, plausibel, zweifelhaft oder falsch gelten lassen. [...] Sie bilden einen Horizont und einen Ermöglichungs- und Hinderungsgrund für Ausdruck, Mitteilung, Streben und Urteilen, indem sie Formen und Mittel des Ausdrucks und der Mitteilung, Ziele und Realisierungsmöglichkeiten des Strebens sowie Maßstäbe und Regeln des Urteilens liefern. Zugleich ermöglichen sie als intersubjektiv geteilte Praktiken und Orientierungen bestimmte Formen der Kommunikation, also Formen der Interaktion, die wesentlich über ein gemeinsames Verständnis von Bedeutungen und intersubjektiv geteilte normative und Tatsachenüberzeugungen zustande kommen.« (Wingert 1993, 174 f.)

Wenn Wingert hier Lebensformen als »Ensembles von Praktiken und Orientierungen« beschreibt, meint er damit zunächst nur die gemeinsamen und mitunter koordinierten Praktiken des Verstehens, Interpretierens, Kommunizierens, Rechtfertigens, Handelns und Bewertens. In diesem Sinne versteht auch Rahel Jaeggi Lebensformen als »Bündel von Praktiken«, die auf verschiedene Art und Weise miteinander zusammenhängen, kollektiv geteilt werden und die einen »gewohnheitsmäßigen« Charakter haben (vgl. dies. 2014, 77 f.). Allerdings geht Jaeggi über die Definition von Wingert hinaus, wenn sie betont, dass Lebensformen sowohl ein aktives als auch ein passives Moment beinhalten: Denn sie bezeichnen diejenigen Strukturen, in denen Individuen sowohl tätig sind als auch durch die Praxis anderer Individuen beeinflusst werden (vgl. ebd.). Lebensformen »formen« also das individuelle Leben ebenso, wie sie durch Individuen »geformt« werden. Dabei müssen sie als stabile und selbständige Größen identifizierbar sein und eine gewisse Relevanz für das menschliche Leben haben (vgl. ebd., 78). Jaeggi bezeichnet etwa so heterogene Bereiche wie die bürgerliche Familie, das Unterfränkische, die Lebensweise der Azteken, die Wissenschaft, das Städtische oder die Moderne als Lebensformen, nicht jedoch Rave oder Inli-

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neskating (vgl. ebd., 90 f.). Dabei ist klar, dass sich Lebensformen vielfach überschneiden, wie auch Martin Seel (auf den Jaeggi Bezug nimmt) herausstellt: »Der Pfälzer Winzer, der Londoner Geschäftsmann und der Pariser Intellektuelle gehören einerseits derselben Lebensform an – wenn man diese mit anderen kulturellen Großformen vergleicht; gleichzeitig gehören sie grundverschiedenen Lebensformen an – wenn man sie untereinander vergleicht.« (Seel 1993, 245)

Um den Lebensformbegriff als Bündel oder Ensemble von Praktiken zu präzisieren und um zu klären, inwiefern Lebensformen das individuelle Leben aktiv formen und durch Individuen passiv geformt werden, muss zunächst der zentrale Begriff der Praxis genauer geklärt werden. Dieser genuin philosophische Terminus bezeichnet zunächst die tätige Auseinandersetzung mit der sozialen Mitwelt und natürlichen Umwelt.57 Eine Praxis ist etwas, das man tut, z.B. den Einkauf bezahlen, mikroskopieren, eine Doktorarbeit schreiben, Fußball trainieren, mit Kindern Verstecken spielen usw. Sie unterscheidet sich von einfachen Ereignissen oder Widerfahrnissen dadurch, dass sie im Kontext einer Abfolge von verbalen oder nonverbalen Tätigkeiten stattfindet und sozial verfasst ist: Man kann nur eine Doktorarbeit schreiben, wenn es wissenschaftliche Praktiken und soziale Institutionen wie die Universität gibt. Zum Einkaufen braucht man eine Marktwirtschaft und um mit Kindern Verstecken zu spielen, bedarf es eines kulturellen Rahmens, der ein bestimmtes Verständnis von Kindheit und Spielen kennt usw. (vgl. Jaeggi 2014, 94 ff., 103). Solche Praktiken setzen also erstens andere Praktiken voraus. Zweitens sind sie eng mit der Unterscheidung zwischen richtig und falsch verbunden: Die Praxis, eine Doktorarbeit zu schreiben, beinhaltet etwa, dass man nicht plagiiert und die des Versteckens, dass man sich als Suchender wirklich die Augen zuhält. Wer sich nicht an solche Regeln hält, macht etwas falsch oder nimmt im Zweifelsfall gar nicht an der entsprechenden Praxis teil. Durch diese beiden Aspekte haben Praktiken auch einen ermöglichenden Charakter: So kann man zwar auch ohne die Praxis des Fußballspielens einen Ball mit den Füßen in Richtung eines Aluminiumgehäuses treten und man kann auch zwischen diesem Aluminiumgehäuse stehen und den Ball mit den Händen fangen. Aber »ein Tor schießen« oder »Torwart sein« ist eben nur im Kontext der etablierten Praxis des Fußballspielens und seinen entsprechenden Regeln möglich (vgl. ebd., 99). Praktiken, wie den Einkauf bezahlen, mikroskopieren, eine

57 | Auf die komplementären Begriffe Handlung und Arbeit sowie die traditionelle Unterscheidung zwischen πρᾶξις und ποίησις werde ich erst im folgenden Kapitel eingehen. Da diese Begriffe im Kontext dieser Arbeit noch wichtig werden aber in Rahel Jaeggis Interpretation von Lebensformen keine Rolle spielen, folge ich ihren Ausführungen hier nur in einigen zentralen Punkten.

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Doktorarbeit schreiben, Fußball trainieren oder mit Kindern Verstecken spielen sind damit Teile von Lebensformen, insofern sie andere Praktiken voraussetzen und ermöglichen. Aber erst wenn z.B. zum Versteckspiel mit den Kindern weitere Praktiken dazukommen (etwa mit ihnen Hausaufgaben machen, Märchen vorlesen, Elternabende in der Schule besuchen usw.) lässt sich von einer Lebensform reden, hier z.B. einer Familie. Zusammenhängende Praktiken werden also nicht einfach nur ausgeführt und gelebt, sie werden auch (sprachlich vermittelt) »als etwas« interpretiert. Die einzelnen Praktiken beziehen ihre Bedeutung dabei erst durch ihren Zusammenhang mit einer Lebensform und machen diese Lebensform gleichzeitig aus (vgl. ebd., 104 ff., 109). Rahel Jaeggis Lebensformtheorie erweist sich zwar als anschaulich und anschlussfähig, muss aber in dreifacher Hinsicht präzisiert werden. Dabei kann Hegels Begriffstheorie, die oben mithilfe der Spiegelmetaphorik erläutert wurde, helfen: Denn erstens spricht Jaeggi von einer Abfolge sozial verfasster, verbaler und nonverbaler Tätigkeiten, ohne zu klären, in welchem Verhältnis diese zueinander stehen. Gleichzeitig bezieht sie sich in ihren Erläuterungen relativ einseitig auf Praktiken des Handelns. Wichtig in diesem Zusammenhang ist aber, dass auch im Kontext ihres Lebensformkonzepts das Wahrnehmen als Praxis begriffen werden muss. Denn eine Fernsehsendung anzuschauen oder ein Musikstück zu hören, sind ebenso Praktiken, die nur innerhalb von Lebensformen möglich sind.58 Aus diesem Grund bietet es sich an, Lebensformen in Anschluss an Hegel als Ensembles von Praktiken des Sprechens, Wahrnehmens und Handelns zu deuten. Zweitens betont Jaeggi, dass Lebensformen zugleich aktiv und passiv sind, indem sie Individuen formen und gleichzeitig von ihnen (durch ihre Praxen) geformt werden. In eben diesem Sinne müssen sie gleichermaßen als Möglichkeitsbedingungen und Produkte des gemeinsamen Sprechens, Wahrnehmens und Handelns verstanden werden. Und deshalb beschreibt der Begriff der Lebensform immer auch den wechselseitigen Einfluss von Individuum und Gemeinschaft. Solche Formulierungen sind zwar intuitiv einleuchtend, doch funktionieren sie genau genommen nur tentativ: Denn dass die Praktiken des Sprechens, Wahrnehmens und Handelns irgendwie miteinander zusammenhän-

58 | Zunächst scheint es möglicherweise befremdlich, die Wahrnehmung als Praxis (also als Wahrnehmen) zu deuten, da sie meistens als ein passives Aufnehmen oder als »sinnliche Widerfahrnis« interpretiert wird. Im letzten Abschnitt wurde jedoch schon gezeigt, dass sich Hegel im Kontext seiner Begriffs- und Urteilslehre gegen das epistemische Gefälle von Anschauung und Begriff und damit auch gegen den »Mythos des Gegebenen« und diese Auffassung der Wahrnehmung wendet. Dies macht, wie bereits erwähnt, ein alternatives Wahrnehmungskonzept erforderlich, welches weiter unten behandelt wird.

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gen und Individuum und Gemeinschaft sich gegenseitig beeinflussen, scheint einleuchtend. Aber wie genau sie zusammen als Lebensformen funktionieren, ist damit allein noch nicht geklärt. Wie oben gezeigt, hat Hegel jedoch eine Denkfigur bereitgestellt, mit der das Verhältnis des gemeinsamen Sprechens, Wahrnehmens und Handelns als Modalgefälle konzeptualisiert werden kann. Demnach können auch Lebensformen als reale Möglichkeiten des Sprechens, Wahrnehmens und Handelns begriffen werden, sodass diese Praktiken in der Tat als Möglichkeitsbedingungen und Produkte weiterer Praktiken aufgefasst werden können. Drittens, und das thematisiert Jaeggi überhaupt nicht, können Lebensformen erst aufgrund des wirklichen (bzw. des »wirkenden«) Sprechens, Wahrnehmens und Handelns rekonstruiert werden.59 Denn durch die Sozialität und Intersubjektivität sowie die dazugehörigen sprachlichen Verständigungsbemühungen über gemeinsame Ziele, Gelingensbedingungen oder Erfahrungen des Scheiterns der gemeinsamen Praktiken und eingeübten Lebensvollzüge sind Lebensformen begrifflich vermittelt. Das bedeutet, dass innerhalb von Lebensformen gemeinsam akzeptierte Beschreibungen von bestimmten Situationen angestrebt werden, etwa als schön, bedrohlich, oder erhaben. Daraus folgt zunächst allerdings noch nicht, dass diese Beschreibungen oder Bewertungen transsubjektiv und situationsinvariant im Kontext aller anderen Lebensformen gelten müssten (vgl. Weingarten 1999, 38 f.).60 Ganz im Gegenteil: Erst dadurch, dass in verschiedenen Lebensformen die verschiedenen dichten ethischen Begriffe (wie etwa Gerechtigkeit, Keuschheit oder Besonnenheit), aber auch alle anderen Begriffe (wie etwa Freizeit, Urlaub, Auto, Leistung, Demokratie etc.) zum Teil unterschiedlich verwendet, zum Teil aber auch mit unterschiedlichen Wertschätzungen (positiv oder negativ) unterschiedlich stark konnotiert sind, lassen sich Lebensformen überhaupt voneinander unterscheiden. Eine begriffliche Rekonstruktion von Lebensformen erfolgt dann immer aus bestimmten Lebensformen heraus, indem aufgrund von typischen Werthaltungen, Wahrnehmungen, Handlungs- oder Verhaltensweisen zwischen Kulturen und Subkulturen, Lebensstilgruppierungen oder sozialen Milieus unterschieden wird. Resümierend können wir sagen, dass Praktiken im hier gesuchten Sinne als Vollzüge des Sprechens, Wahrnehmens und Handelns und damit als Verwirkli-

59 | Dass es sich hierbei um ein zentrales theoretisches Defizit ihres Ansatzes handelt, wird noch genauer in Kap. 4.2.1 zu zeigen sein. 60 | Der Begriff Intersubjektivität meint hier die Gültigkeit von Aussagen innerhalb einer Sprecher*innengemeinschaft oder Lebensform. Das begriffliche Komplement der Transsubjektivität bezeichnet dagegen die Geltung einer Behauptung in jeder Sprecher*innengemeinschaft oder Lebensform und meint damit entsprechend personeninvariante, universelle Gültigkeit (vgl. Weingarten 1999, 9; Fn. 8).

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chungen von Lebensformen zu verstehen sind. Lebensformen hingegen sind reale Möglichkeiten des Sprechens, Wahrnehmens und Handelns, die erst aus Lebensformen heraus und über ihre jeweiligen Verwirklichungen als solche rekonstruiert werden können. Vor dem Hintergrund dieses Lebensformbegriffs wird im letzten Kapitel dieser Arbeit der Begriff des Wissens zu bestimmen sein. Im nun folgenden Abschnitt kann und muss aber zunächst noch der Begriff des Wertes genauer geklärt werden. Denn wir hatten gesehen, dass Begriffe wertgeladen sind bzw. Werte implizieren und dadurch unser Wahrnehmen und Handeln strukturieren und es uns ermöglichen, unser Wahrnehmen und Handeln zu reflektieren. Was aber sind Werte genau und inwiefern strukturieren sie unser Handeln und Wahrnehmen? Und was genau hat es mit dem oben bereits angesprochenen Verhältnis von evaluativen und deskriptiven Bedeutungskomponenten auf sich? Auch hinsichtlich dieser Fragen können wir auf die bisher geleisteten Vorarbeiten zu Hegels Begriffstheorie zurückgreifen. 3.5.2 Werte sind implizite, begriffliche Handlungsregeln Der Begriff des Wertes wurde in der deutschsprachigen Nachkriegsphilosophie lange sehr stiefmütterlich behandelt und das hat sowohl philosophie- als auch sozialhistorische Gründe: Denn einerseits schien vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit dem nationalsozialistischen Paternalismus jede Form von Wertedezisionismus und -relativismus unangebracht. Andererseits galt auch die Erneuerung der Wertethik durch Max Scheler und Nicolai Hartmann aufgrund ihrer starken ontologischen Voraussetzungen als nicht zu akzeptierender Platonismus (vgl. Siep 2004, 124).61 Erst durch die angelsächsische Philosophietradition und die Debatte um dichte und dünne ethische Begriffe gelangte der Wertbegriff wieder in das Zentrum der metaethischen Diskussion, v.a. im Kontext der Auseinandersetzung mit naturalistischen und nonkognitivistischen Theorieansätzen. Wie schon im ersten Teil dieser Arbeit erwähnt, werden zu den dünnen ethischen Begriffen, also jenen, von denen gemeinhin angenommen wird, dass sie lediglich bewerten und nicht beschreiben, üblicherweise die Begriffe gut, schlecht, richtig und falsch gezählt.62 Als Beispiele für dichte ethische Begriffe, also solche, die sowohl beschreiben als auch bewerten, fungieren oft beschämend, schlüpfrig, heimtückisch, höflich, grausam, ehrlich sowie die verschiedenen Tugend- und Lasterbegriffe. Daneben hatten wir in Kap. 2.3.1 bereits gesehen, dass es neben

61 | Zur Wertphilosophie in Deutschland und ihrer Entwicklung vgl. Schnädelbach 1983. 62 | Manchmal wird auch der Begriff sollen als dünner ethischer Begriff verstanden (vgl. Blomberg 2007, 63). Allerdings handelt es sich dabei nicht um eine Bewertung im eigentlichen Sinne (vgl. Siep 2004, 75 ff.).

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ethischen auch wissenschaftliche Werte wie Kohärenz, Konsistenz, funktionale Einfachheit usw. gibt und die Diskussion über das Problem des Regelfolgens und die Spiegelmetaphorik hat gezeigt, dass alle Begriffe (wie Katze, Matte oder Hund) Werte implizieren, sodass sie handlungsleitend sind und wir sie angemessen projizieren können. Was aber bedeutet die Rede davon, dass bestimmte Begriffe Werte »sind« oder dass es sie »gibt« oder dass sie Werte »implizieren«? Oder kurz: Was sind Werte? In Anschluss an die bereits skizzierte Debatte um dichte und dünne ethische Begriffe sowie die Diskussionen um das Problem des Regelfolgens und die Spiegelmetaphorik kann nun der problematische Wertbegriff näher bestimmt werden. Denn dieser ist nicht nur für die moralphilosophischen Theoriebildung zentral, sondern auch für den praktischen Umgang mit Wertkonflikten, die sich im Kontext von ökonomischen, ökologischen und sozialen Problemen zeigen. Solche Wertkonflikte geben aber nicht nur ein Zeugnis von unterschiedlichen Wertorientierungen zwischen konfligierenden Werten ab, sondern auch darüber, was eigentlich als Wert zu verstehen ist (vgl. Hubig 2014, 112). Die meisten Wertforscher*innen orientieren sich dabei an der zirkulären Nominaldefinition von Clyde Kluckhohn: »A value is a conception, explicit or implicit, distinctive of an individual or characteristic of a group, of the desirable which influences the selection from available modes, means, and ends of action.« (Kluckhohn 1952, 395) 63

Wie Christoph Hubig bemerkt, mag diese Definition für die empirische Wertforschung brauchbar (also wertvoll) sein, insofern sie nach faktischen Werthaltungen fragt. Denn auf der Grundlage dessen, was von verschiedenen Personen oder Personengruppen gewünscht wird, können Übereinstimmungen und mögliche Konflikte freigelegt werden. Allerdings ist sie aus philosophischer Perspektive unbrauchbar, da das Definiendum im Definiens enthalten ist, mithin das Wünschenswerte das Werthafte markiert (vgl. ders. 2014, 112). Dieses Problem der angemessenen Definition von Werten hängt dabei eng zusammen mit dem philosophischen Streit um ihren Status, in dem sich Nominalist*innen (Werte als Bezeichnungen von Konventionen), Realist*innen (Werte als reale oder ideale Gegenstände sui generis), Idealist*innen (Werte als normative Konzepte/Ideen) und Materialist*innen (Werte als Erfüllungen naturaler, ökonomischer oder sozialer Bedürfnisse) gegenüberstehen (vgl. ebd., 113).64 Um eine voreilige Positionierung innerhalb dieser

63 | An Kluckhohn anschließend definiert auch der bekannteste Wertforscher der deutschsprachigen Forschungslandschaft, Hans Joas, Werte als »emotional stark besetzte Vorstellungen über das Wünschenswerte« (ders. 2005, 15). 64 | Vgl. zu den unterschiedlichen Wertkonzeptionen auch die in Kap. 2.1 kritisierten Leitdifferenzen der Metaethik.

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Diskussion zu vermeiden und um die Überlegungen aus dem vorherigen Kapitel berücksichtigen zu können, lohnt es sich daher genauer anzuschauen, wie wir im Alltag über Werte reden. In Anschluss an Johannes Erich Heyde (1926) lassen sich dabei zunächst zwei unterschiedliche Weisen der Rede von Werten identifizieren (vgl. Hubig 2014, 115 f.; ders. 2007a, 82 f.; Schnädelbach 1983, 205 f.): 1. Werte als Güter (Objektwerte): In vielen Kontexten sprechen wir davon, dass etwas ein bestimmter Wert ist, um einen intrinsischen Wert zu signalisieren. Beispiele sind etwa der Wert des Menschen, der Natur, der Schöpfung oder des Kunstwerks. Damit verbunden sind dann etwa Vorstellungen der Selbstzweckhaftigkeit, des Instrumentalisierungsverbots oder der NichtVerrechenbarkeit (mitunter also auch dasjenige, was Kant unter dem Titel »Würde« auf den Menschen bezogen hat). 2. Werte als Eigenschaften von Gütern (Wertobjekte): In anderen Kontexten weisen wir Objekten unter bestimmten Maßstäben (ökonomische, ökologische, ästhetische, pädagogische usw.) Werte zu, sodass sie einen Wert haben. In Abhängigkeit von Gewichtung und Relevanz der jeweiligen Maßstäbe kann dann zwischen solchen Wertzuweisungen abgewogen werden.65 Daneben ist noch eine dritte Auffassung von Werten als »latente Imperative« (vgl. Kraft 1951) zu berücksichtigen, die die Einnahme eines Verhältnisses zu Gütern oder Eigenschaften ausdrückt (»unter dem Wert x sollst du y tun«; vgl. Hubig 2007a, 83). Als Regeln oder Direktiven verstanden, orientieren Werte das Handeln bzw. erlauben, gebieten oder verbieten den Mitteleinsatz und damit das Verfolgen bestimmter Handlungszwecke. Diese drei Wertkonzepte lassen sich dabei sowohl in einem dogmatischen als auch einem diskursoffenen Verhältnis denken: In dogmatischer Hinsicht steht an erster Stelle eine nicht zu hinterfragende Ausgangsinstanz (Objektwert), die je nach Teilhabe oder Ähnlichkeit bestimmten Entitäten Werte als Eigenschaften zuordnet (Wertobjekte), um hieraus

65 | Den Unterschied zwischen Objektwerten und Wertobjekten erläutert Hubig am Beispiel des Wertkonflikts bei der Planung einer Erdgaspipeline im ostfriesischen Wattenmeer, bei dem beide Parteien in ökologischer Absicht argumentierten. Auf der einen Seite wurde geltend gemacht, dass Energiebereitstellung aus Erdgas den höchsten ökologischen Wert bei den Über­ gangstechnologien habe, während dem entgegengehalten wurde, dass der Naturpark Wattenmeer ein Wert sei. Dieser Konflikt wurde mit Blick auf die intrinsische Verfasstheit des Objektwerts gelöst, indem darauf hingewiesen wurde, dass die Verlegung der Pipeline Schäden anrichte, die denen eines starken Sturms ähnlich seien und der aufgrund der Regenerationsfähigkeit des Biotops in wenigen Monaten kompensiert sei (vgl. ders. 2014, 115 f.).

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(in Form von Handlungsanweisungen bzw. Imperativen) Regeln zum Umgang mit diesen Entitäten zu gewinnen. Da jedoch, wie bereits gezeigt wurde, ein solcher Vulgär-Platonismus sowohl in epistemologischer als auch in ontologischer Hinsicht problematisch ist, lässt sich in Anschluss an Hubig besser der umgekehrte Weg einschlagen: »Den Ausgangspunkt geben Werte als Kennzeichnungen impliziter Regeln für ... ab (als Maßstäbe, Leitbilder, technische und moralische Regeln), unter denen bestimmten Gegenständen oder Entitäten oder Handlungsoptionen ein konkreter Wert nach Maßgabe der Eignung oder Erfüllung der Regel zugesprochen wird und schließlich – in uneigentlicher Rede z.B. unter nicht mehr bewusster Internalisierung – ausgezeichnete Instantiierungen der angenommenen obersten Direktiven als Träger eines inhärenten Wertes begriffen werden.« (Hubig 2007a, 84)

Vor diesem Hintergrund und in Anschluss an die bisher gemachten Überlegungen können wir Werte nun vorläufig als implizite begriffliche Handlungsregeln fassen, die, je nachdem inwiefern sie als handlungsleitend anerkannt werden, als Objektwerte oder Wertobjekte fungieren. Implizit sind sie deshalb, weil sie nicht immer explizite, eindeutige Handlungsregeln vorgeben, sondern weil sie erst als Handlungsregeln rekonstruiert werden müssen. Denn wir hatten in Kap. 3.3.1 bereits gesehen, dass nicht immer eine stabile Beziehung zwischen Wertüberzeugungen und Begriffen besteht – sodass auch die jeweiligen Handlungsregeln nicht einfach eindeutig vorliegen. So können Begriffe wie Keuschheit oder Demokratie sowohl positiv, als auch negativ konnotiert sein und darüber hinaus verschiedene Handlungen oder Institutionen bezeichnen. Aus diesem Grund muss der Wertbegriff im Anschluss an McDowells Überlegungen zum Regelfolgenproblem noch etwas enger gefasst werden. Im Folgenden soll deshalb herausgearbeitet werden, warum i.) die Rede von dichten ethischen Begriffen mitunter problematisch ist, dass damit zusammenhängend ii.) das bisherige Verständnis von dünnen ethischen Begriffen damit auf dem Spiel steht und dass iii.) die in der Metaethik übliche Entgegensetzung von Internalismus und Externalismus nicht richtig sein kann. Daran anschließend kann die bisher vorläufig vorgenommene Bestimmung von Werten als »implizite begriffliche Handlungsregeln« erweitert werden. Erstens: Wenn sich evaluative und deskripitve Bedeutungskomponenten von Begriffen nicht eindeutig unterscheiden lassen, es aber meistens keinen stabilen Zusammenhang von Beschreibungen und positiven und negativen Bewertungen gibt, dann ist die Rede von dichten ethischen Begriffen wesentlich problematischer, als in der metaethischen Diskussion bisher herausgestellt wurde. Denn sie scheint zunächst einmal nahe zu legen, dass es auch nicht-dichte oder nichtethische Begriffe gibt. Ersteres kann jedoch, wie wir bereits im Kontext des Regelfolgenproblems und der Spiegelmetaphorik gesehen haben, nicht der Fall sein.

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Denn es gilt, dass Begriffe immer wertgeladen sind, da sie unsere Wahrnehmung strukturieren und sich als Handlungsregeln bzw. Objektwerte oder Wertobjekte rekonstruieren lassen. Der Satz »Die Katze liegt auf der Matte« zeigt, wie in Kap. 2.3.2 erwähnt, dass wir ein Interesse an der Unterscheidung zwischen Lebewesen und Nicht-Lebewesen haben, da Katzen und Matten Gegenstände sind, zu denen wir uns in typischer Weise je anders verhalten.66 Der zweite Fall liegt etwas komplizierter. Demnach müsste sich die Rede von dichten ethischen Begriffen auf Anwendungsbereiche beziehen, die sich eindeutig als moralisch oder ethisch relevant erweisen. Allerdings kann nicht allein ein Begriff festlegen, ob er ein ethisches Problem bezeichnet. Die Substantive Keuschheit und Demokratie oder die Adjektive besonnen und grausam zum Beispiel können sich, je nach Kontext und Lebensform, auf unterschiedliche Handlungsweisen und Institutionen beziehen und dabei sowohl negativ als auch positiv gebraucht werden. Aber nicht in allen Kontexten oder Lebensformen, in denen sie projiziert werden können, beziehen sie sich notwendig auf moralische oder ethische Probleme.67 Begriffe können deshalb nur aus bestimmten Kontexten und Lebensformen heraus angewandt und erst vor diesem Hintergrund als (ethische/moralische, wissenschaftliche, politische etc.) Handlungsregeln rekonstruiert werden. Eine sortierende Einteilung von ethischen und nicht-ethischen Begriffen kann es deshalb nicht geben. Zweitens: Wenn sich evaluative und deskripitve Bedeutungskomponenten von Begriffen nicht eindeutig unterscheiden lassen, es aber meistens keinen stabilen Zusammenhang von Beschreibungen und positiven und negativen Bewertungen gibt, dann ist auch die Unterscheidung zwischen dichten Begriffen (die beschreiben und dabei auch positiv oder negativ bewerten) und dünnen Begriffen (die nur positiv oder negativ bewerten) problematisch. In Kap. 2.1.1 hatten wir gesehen, dass G.E. Moore im Rahmen seines Arguments der offenen Frage das Prädikat »gut« als einfache, nicht-natürliche und undefinierbare Eigenschaft definiert. Dabei kann Moore zwar plausibel machen, dass der dünne Begriff »gut« nicht in einer analytischen Identitätsbeziehung zu einem Subjekt (etwa Lust) stehen kann, sein Argument scheitert aber letztlich daran, dass es keine verständliche Antwort auf die Frage gibt, was natürliche von nichtnatürlichen Eigenschaften unterscheiden soll. Um diese Problem zu umgehen

66 | Hier ist also Vorsicht geboten. Die Rede von dichten Begriffen ergibt nur in Abgrenzung von dünnen Begriffen Sinn, und so soll sie im weiteren Verlauf der Arbeit auch verstanden werden. 67 | Denn Metaethiker*innen übersehen oft, dass die Frage, wie ein ethisches Problem zu lösen sei, ein gemeinsames Verständnis von Moral voraussetzt. In diesem Sinne ist ebenfalls der Begriff der Moral ein dichter ethischer Begriff, denn auch er gehört nicht zu einem naturalistischen Vokabular.

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wurde deshalb vorgeschlagen, das Verhältnis von Beschreibung und Bewertung als synthetische Identitätsbeziehung zu deuten. Allerdings setzt auch dies einen wissenschaftlichen Realismus mit weitreichenden metaphysischen Annahmen voraus. Glücklicherweise müssen wir hier aber nicht zwischen zwei falschen Alternativen wählen. Denn Peter Geach hat in Anschluss an Gottlob Frege darauf hingewiesen, dass die dünnen Begriffe »gut« und »schlecht« in deskriptiven und evaluativen (bzw. mit Geach: in assertiven und nicht-assertiven) Kontexten vorkommen können, ohne ihre Bedeutung bzw. ihren kognitiven Gehalt zu ändern – wie etwa Nonkognitivist*innen eingestehen müssten: »If doing a thing is bad, getting your little brother to do it is bad. Tormenting the cat is bad. Ergo, getting your little brother to torment the cat is bad. The whole nerve of the reasoning is that ›bad‹ should mean exactly the same at all four occurrences – should not, for example, shift from an evaluative to a deskriptive [...] use. But in the major premise the speaker (a father, let us suppose) is certainly not uttering acts of condemnation: one could hardly take him to be condemning just doing a thing.« (Geach 1965, 463 f.)

Und weiter: »A thought may have just the same content whether you assent to its truth or not; a proposition may occur in discourse now asserted, now unasserted, and yet be recognizably the same proposition.« (Geach 1965, 449)

Geach nennt das den »Frege-Point«. Aus diesem Grund ist das Argument auch als Frege-Geach-Point bekanntgeworden. Es handelt sich dabei wahrscheinlich, neben McDowells Hinweis auf das Regelfolgenproblem, um den schlagfertigsten Einwand gegen den Nonkognitivismus. Allerdings stehen hier nicht die Bedeutungskomponenten dichter Begriffe im Fokus, sondern die dünnen Begriffe. Denn Nonkognitivist*innen machen geltend, dass Aussagen wie »Es ist moralisch falsch, Tiere zu quälen« nur in der Oberflächengrammatik deskriptiven Aussagen gleichen. Diese Deutung scheint aber unzulässig, sobald die Aussage als Prämisse in einem Argument, etwa im modus ponens ((p (p → q)) → q), vorkommt. An einem leicht abgewandelten Beispiel lässt sich dieser Zusammenhang noch besser verdeutlichen: (P1) Es ist moralisch falsch, Tiere zu quälen. (P2) Wenn es moralisch falsch ist, Tiere zu quälen, dann ist es auch moralisch falsch, den Hund zu treten. (K) Es ist moralisch falsch, den Hund zu treten.

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Da nun die Bedeutung von P1 in P2 nicht nonkognitivistisch gedeutet werden kann und die Bedeutungen von P1 und P2 identisch sind, kann auch P1 nicht nonkognitivistisch gedeutet werden (vgl. Czaniera 2001, 186 f.). Wenn nun aber dünne Begriffe wie »falsch« in deskriptiven und evaluativen Kontexten vorkommen können ohne ihre Bedeutung oder ihren kognitiven Gehalt zu ändern, ist das nicht nur ein Argument gegen den Nonkognitivismus, sondern es ist auch ein Argument gegen die in der Metaethik weit verbreitete Vorstellung, dass dünne Begriffe nur bewerten und nicht beschreiben. Und eben dies ist der Fehler Moores: Er spricht etwa davon, dass Lust gut ist, als ob es sich um eine Standardform der Prädikation handelt, wie bei »x ist gelb« – nur dass statt einer (natürlichen) Farbeigenschaft eine (nicht-natürliche) Werteigenschaft prädiziert wird. Geach weist aber darauf hin, dass es sich bei dünnen Begriffen nicht um rein evaluative (d.h. nicht-natürliche) Eigenschaften handeln kann. Vielmehr haben auch sie einen deskriptiven Gehalt (vgl. ders. 1988/1956, 67). Denn ein guter Einbrecher ist nicht unbedingt jemand, den wir gut finden: »Again if I call a man a good burglar or a good cut-throat I am certainly not commending him myself; one can imagine circumstances in which these descriptions would serve to guide another man’s choice (e.g. if a commando leader were choosing burglars and cut-throats for a special job), but such circumstances are rare and cannot give the primary sense of the descriptions. It ought to be clear that calling a thing a good A does not influence choice unless the one who is choosing happens to want an A; and this influence on action is not the logically primary force of the word ›good‹.« (Geach 1988/1956, 68)

Geach schließt daraus, dass es sich bei den dünnen Begriffen um attributive Adjektive handelt wie etwa groß oder klein und nicht prädikative Adjektive wie gelb. Philippa Foot erklärt den Unterschied: »Such a colour word operates in independence of any noun to which it is attached, but whether a particular F is a good F depends radically on what we substitute for ›F‹. As ›large‹ must change to ›small‹ when we find that what we thought was a mouse was a rat, so ›bad‹ may change to ›good‹ when we consider a certain book of philosophy first as a book of philosophy and then as a soporific. Seen in the light of Geach´s distinction, thoughts about good actions, which are fundamental to moral philosophy, appear with thoughts about good sight, good foot, good soil, good houses.« (Foot 2001, 2 f.)

Prädikative Adjektive wie gelb drücken also feststehende Eigenschaften (unabhängig vom entsprechenden Substantiv) aus, während attributive Adjektive wie groß, klein, gut oder schlecht Eigenschaften in Abhängigkeit des jeweiligen Substantivs prädizieren. So gibt es etwa große Elefanten und große Flöhe. Das

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bedeutet aber nicht, dass beides große Tiere sind. Und in ganz ähnlichem Sinne gibt es auch gute Einbrüche und gute Taten, was nicht bedeutet, dass beide Handlungsweisen miteinander zusammenhängen, da gute Einbrüche zumindest in moralischer Hinsicht oftmals ziemlich schlechte Taten sind. Allerdings täuscht dieser Vergleich etwas darüber hinweg, dass die typisch dünnen Begriffe eine Sonderform der attributiven Adjektive darstellen. Denn die Rede von »großen Häusern« und »guten Häusern« unterscheidet sich mitunter dadurch, dass im ersten Fall eine Relation zu anderen Gegenständen ausgedrückt wird, im zweiten Fall dagegen typisch-begriffliche Eigenschaften ausgesagt werden. Diese Unterscheidung lässt sich nochmal anhand des Begriffsurteils Hegels verdeutlichen, das auf dieselbe Pointe abzielt (vgl. Kap. 3.4.2): Ob die Begriffe »groß« oder »klein« projiziert werden dürfen, hängt zunächst von den bisherigen begrifflichen Differenzierungen und meinem Hintergrundwissen ab. Denn wenn sich etwa dasjenige, was ich zunächst fälschlicherweise begrifflich als Maus bestimmt habe, als Ratte herausstellt, kann – wie Philippa Foot sagt – groß zu klein werden. Es kann aber auch gut zu schlecht werden, etwa wenn jemand eine Rattenphobie hat. Wie das Zitat oben allerdings zeigt, sind das aber nicht diejenigen Fälle, die Geach im Auge hat. Denn auch wenn Einbrecher*innen und Mörder*innen in bestimmten Kontexten als gut bewertet werden, handelt es sich dabei nicht die logische primäre Bedeutung von gut. Vielmehr wird mit attributiven Adjektiven wie gut oder schlecht, wahr oder falsch ausgedrückt, ob ein Begriff (als reale Möglichkeit) seiner Instantiierung in einem bestimmten Urteil (als Verwirklichung) entspricht. Der Satz »Das ist eine gute Einbrecher*in« sagt nichts weiter, als dass eine Person wirklich über die typischbegrifflichen (d.h. einige der möglichen) Eigenschaften einer Einbrecher*in verfügt. Ganz so wie im Beispiel Hegels (das unserer Alltagssprache gut entspricht) ein wahrer Freund jemand ist, der dem Begriff des Freundes entspricht und ein schlechter Freund jemand, der einige der typisch-begrifflichen Eigenschaften eines Freundes vermissen lässt. Und in diesem Sinne meint auch die Rede von einer guten oder schlechten Handlung, dass sie über die typisch-begrifflichen Eigenschaften einer Handlung in einem bestimmten Kontext (moralisch, technisch etc.) verfügt oder nicht verfügt. Die dünnen Begriffe wie gut, schlecht, wahr oder falsch, so lässt sich festhalten, können sowohl in deskriptiven als auch in evaluativen Redekontexten vorkommen. Wir bewerten mit ihnen nicht nur Handlungs- oder Verhaltensweisen (»Es ist gut, dass du heute früh nach Hause gekommen bist«), wir kommentieren mit ihnen auch die bisherigen begrifflichen Differenzierungen bzw. begrifflich vermittelten Praktiken (»Er ist ein guter Einbrecher und ein wahrer Freund«). Das wiederum bedeutet, dass sich i.) auch im Falle der dünnen Begriffe Beschreibung und Bewertung nicht immer voneinander trennen lassen, dass ii.) die Projektion dünner Begriffe mitunter von der (positiven oder negativen) Verwendung dichter Begriffe abhängt und dass iii.) der Unterschied zwischen dichten und dünnen Begriffen nicht nur im Grad

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ihres deskriptiven Gehalts, sondern auch und v.a. in ihrer prädikativen und attributiven Verwendungsweise liegt. Das Problem einer angemessenen Definition von »gut« ist mit diesem differenzierteren Verständnis von dichten und dünnen Begriffen ebenso erledigt, wie die Entgegensetzung von externalistischen und internalistischen Theorietypen: Drittens: Wenn sich evaluative und deskripitve Bedeutungskomponenten von Begriffen nicht eindeutig unterscheiden lassen, es aber meistens keinen stabilen Zusammenhang von Beschreibungen und positiven und negativen Bewertungen gibt und trotzdem an der Unterscheidung zwischen richtigem und falschem Begriffsgebrauch festgehalten werden soll, dann kann der Dualismus zwischen Internalismus und Externalismus nicht richtig sein. Denn während für Externalist*innen Handlungsgründe in der rationalen Einsicht in subjekt-unabhängige Werteigenschaften bestehen, behaupten Internalist*innen in komplementärer Entgegensetzung, dass wir Wertschätzungen kontingenterweise über unsere Wünsche und Motive auf die Welt projizieren. Wie jedoch bereits gezeigt wurde, ist es weder möglich Begriffe wertfrei, also unabhängig von Wünschen und Motiven, zu projizieren noch kann das richtige Projizieren von Begriffen von den Wünschen und Motiven einzelner Personen abhängen. In Kap. 2.1.1 hatten wir zudem gesehen, dass John McDowell im Kontext seines schwachen Ethischen Realismus beansprucht, diesen Dualismus zu unterlaufen. Dabei weist er auf eine vermeintliche Entscheidung in der Theoriebildung zurück, bei der wir vor folgender Wahl stehen: Entweder werden die Gründe für das Handeln einer Akteur*in durch ihre Affekte bestimmt oder durch ihre leidenschaftslose Vernunft (vgl. MER, 111). Damit zusammenhängend findet McDowell in Anschluss an John Lockes Theorie sekundärer Qualitäten eine schöne Metapher, um den Status von Werten plausibel zu beschreiben: »Values are not brutely there – not there independently of our sensibility – any more than colours are: thought, as with colours, this does not prevent us from supposing that they are there independently of any particular apparent experience of them.« (VSQ, 146)

Werte (und somit Handlungsgründe) existieren demnach ebenso wenig wie Farben unabhängig von unserem Wahrnehmungsvermögen. Sehr wohl aber existieren sie unabhängig von jedem einzelnen Akt der Wahrnehmung. Im Sinne dieser Metapher bestehen sie also weder nur durch rein internalistische und subjektive Motive noch in einer rein externalistischen und objektiven Realität. Denn sowohl der Internalismus als auch der Externalismus unterschätzten jeweils die Rolle des Erlernens von Wertüberzeugungen. Vielmehr können Werte sowohl einen internen als auch einen externen Status haben – je nachdem ob und inwiefern sie einem einzelnen Subjekt zugänglich sind. Allerdings hatten wir ebenfalls schon gesehen, dass McDowells Position einige Probleme aufweist. Deshalb soll zu-

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nächst am Beispiel der empirischen Wertforschung und vor dem Hintergrund der bisherigen Ausführungen zum Lebensformbegriff gezeigt werden, inwiefern Werte nicht subjektunabhängig aber unabhängig von jedem einzelnen Subjekt existieren. In Anschluss an diese Überlegungen kann eine abschließende Bestimmung des Wertbegriffs vorgenommen werden. 3.5.3 Weder real noch relativ: Werte sind relational Die empirische Sozialforschung unterscheidet verschiedene soziale Milieus, um Werteinstellungen und Wertgruppierungen explizit zu machen. In Anschluss an die Darstellung von Stefan Hradil werden hier zunächst exemplarisch verschiedene Milieus der Sinus Markt- und Sozialforschung skizziert, um den internen und externen Status von Werten genauer zu explizieren und den Wertbegriff anschließend präziser bestimmen zu können (vgl. ders. 2005, 427 ff.). Soziale Milieus bieten sich hier zu Explikationszwecken besonders an, da sie »Gruppen Gleichgesinnter zusammen[fassen], die jeweils ähnliche Werthaltungen, Prinzipien der Lebensgestaltung, Beziehungen zu Mitmenschen und Mentalitäten aufweisen« (ebd., 426). Milieuangehörige interpretieren und Gestalten ihre Umwelt in ähnlicher Weise und unterscheiden sich dadurch von Angehörigen anderer sozialer Milieus (vgl. ebd.). Folgende Milieus lassen sich dabei unterscheiden: Das konservativ-technokratische Milieu: Die Lebensziele der Milieuzugehörigen konzentrieren sich auf beruflichen und materiellen Erfolg durch Leistung, Zielstrebigkeit, Führungs- und Gestaltungsbereitschaft. Man legt wert auf einen hohen Lebensstandard und ein intaktes Familienleben. Dabei wird versucht, traditionelle Stilansprüche mit technischer Modernität zu verbinden. Die soziale Lage der Milieuangehörigen ist gekennzeichnet durch ein hohes Bildungsniveau und hohe Einkommen; es finden sich hier viele leitende Angestellte, höhere Beamte und Selbständige. Das kleinbürgerliche Milieu: Die Lebensziele dieser Milieumitglieder richten sich auf das Festhalten an traditionellen Werten, Pflichterfüllung, Verlässlichkeit, Ordnung und Disziplin. Man will bleibende Werte schaffen, das Erreichte absichern und in geordneten Verhältnissen leben. Ordnung und Sauberkeit sind Lebensprinzipien. Die soziale Lage ist durch mittlere Einkommen gekennzeichnet. Zu den Milieuangehörigen gehören v.a. kleine und mittlere Angestellte, Beamte und Landwirte. Das traditionelle Arbeitermilieu: Die Lebensziele der Milieuzugehörigen zielen auf ein gutes Auskommen, einen sicheren Arbeitsplatz und Sicherheit im Alter. Man will bei Freund*innen, Nachbarn*innen und Kolleg*innen anerkannt sein. Bescheidenheit und Anpassung an die Notwendigkeiten gelten als Tugenden. Die Lebensweise ist einfach und sparsam, wobei Prestigegüter abgelehnt werden. Die Angehörigen dieses Milieus sind meistens Facharbeiter*innen oder angelernte Arbeiter*innen mit kleinen und mittleren Einkommen.

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Das traditionslose Arbeitermilieu: Die Angehörigen dieses Milieus wollen den Konsumstandard der breiten Mittelschicht halten. Lebensziele sind »Träume« von einem Leben mit viel Geld, Luxus und Prestige. Die Lebensweise ist gekennzeichnet von Spontankäufen und raschem Aufgreifen von Moden und Trends. Die Zukunft wird verdrängt, die Daseinsvorsorge ist oft ungenügend, man konzentriert sich auf das Hier und Heute. Die soziale Lage ist geprägt durch geringe Bildung, geringe Einkommen, überrepräsentiert sind ungelernte Arbeiter*innen sowie Arbeitslose. Das aufstiegsorientierte Milieu: Beruflicher und sozialer Aufstieg sind zentrale Lebensziele. Um den Erfolg vorzuzeigen und Ansehen zu genießen, wird geltungsorientierter Konsum (Auto, Urlaub, Freizeit) angestrebt. Zu dem Milieu gehören Facharbeiter*innen und qualifizierte Angestellte, aber auch Selbständige und Freiberufler*innen, die mittlere Bildungsabschlüsse mit abgeschlossener Berufsausbildung aufzuweisen haben und gehobenen Einkommensklassen angehören. Das moderne bürgerliche Milieu: Oberstes Ziel ist ein harmonisches, angenehmes, idyllisches Leben mit Familie und Kindern. Neben umfassender Sicherheit wird der Ausgleich zwischen individueller Selbstentfaltung und der Bereitschaft zur Anpassung angestrebt. Man lebt gemeinschaftsorientiert und will Ausgleich und Frieden mit den Nachbar*innen und der Umwelt. Bevorzugt wird eine konventionelle und gleichzeitig moderne Ästhetik. Die Milieuangehörigen sind einfache bis mittlere Angestellte und Beamte mit Familien und mehreren Kindern, mittleren Bildungsabschlüssen und Einkommensverhältnissen. Das liberal-intellektuelle Milieu: Lebensziele und Werthaltungen sind postmateriell, d.h. auf Selbstverwirklichung, Persönlichkeitswachstum, Individualität und Freiräume ausgerichtet. Soziale Gerechtigkeit, aber auch Identität und Erfolg im Beruf werden angestrebt, »überflüssiger Konsum« abgelehnt. Man ist weltoffen, die Teilnahme am gesellschaftlichen und kulturellen Leben ist rege. Hohe Formalbildung und gehobene Einkommensniveaus kennzeichnen die soziale Lage der Milieumitglieder. Qualifizierte und leitende Angestellte und Beamte, Freiberufler*innen und Studierende sind überproportional vertreten. Das moderne Arbeitnehmermilieu: Die Lebensweise verrät Aufgeschlossenheit, Mobilitätsbereitschaft und Toleranz. Besonders fällt die Verwendung technischer Möglichkeiten in Beruf und Freizeit auf. Hier finden sich v.a. junge Menschen mit guter (Aus-)Bildung und mittlerem bis hohem Einkommen. Das hedonistische Milieu: Die Menschen in diesem Milieu wollen das Leben genießen, intensiv leben, Spaß, Kommunikation und »Action« haben. Die Werteinstellungen richten sich auf Freiheit und Spontaneität: Sicherheits- und Geborgenheitsstreben werden abgelehnt. In der Lebensgestaltung fallen das Leben im Hier und Jetzt, der Mangel an Lebensplanung, der spontane Konsum und der unkontrollierte Umgang mit Geld auf. Man demonstriert Unangepasstheit und

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zelebriert Protest als Stil. Die soziale Lage lässt sich durch geringe, oft abgebrochene Formalbildung und kleine bis mittlere Einkommen charakterisieren. Das postmoderne Milieu: Hoch bewertet werden die ungehinderte Entfaltung der eigenen Persönlichkeit sowie das Ausleben der eigenen Gefühle, Begabungen und Sehnsüchte. Abgelehnt werden äußere Zwänge, Normen, Ideologien und Leitbilder, langfristige Festlegungen und die eigene Etablierung. Man inszeniert sich durch Konsum, Kommunikation, Unterhaltung und Bewegung. Unter den Zugehörigen gibt es viele junge Menschen, Singles, Menschen mit mittleren Berufsstellungen, viele Schüler*innen, Studierende und junge Akademiker*innen. Innerhalb dieser Milieus zeigen sich eine ganze Reihe verschiedener Objektwerte und Wertobjekte, die jeweils einen internen oder externen Status haben. Im konservativ-technokratischen Milieu etwa ist (beruflicher und materieller) Erfolg ein Wert. Die Begriffe Leistung oder Zielstrebigkeit fungieren dagegen als Wertobjekte bzw. haben einen Wert hinsichtlich des Objektwerts des Erfolgs. Ganz wichtig dabei ist, dass diese Werte nicht einfach nur in den Köpfen der Menschen existieren. Denn sie strukturieren nicht nur die typische Wahrnehmung der Milieumitglieder, sondern auch ihre Lebensgestaltung bzw. ihr Handeln. Gleichzeitig hängt die jeweilige Werteinstellung auch von der Einkommenshöhe, dem Bildungsgrad und der Berufsstellung – und damit von der Lebensgestaltung – ab (vgl. Hradil 2005, 426). Um dieses wechselwirkende Verhältnis zu verdeutlichen, wurde bereits der Begriff der Lebensform eingeführt, der auf den modalen Zusammenhang des gemeinsamen Sprechens, Wahrnehmens und Handelns hinweist (vgl. Kap. 3.5.1). Innerhalb dieser als Milieus rekonstruierten Lebensformen fungieren die jeweiligen Objektwerte und Wertobjekte damit als reale Möglichkeiten des Sprechens, Wahrnehmens und Handels, die sich in praktischen Lebensvollzügen und materiellen Lebensbedingungen verwirklichen. Diese praktischen Lebensvollzüge und materiellen Bedingungen wirken gleichzeitig auf die weiteren Möglichkeiten des gemeinsamen Sprechens, Wahrnehmens und Handelns. Was hier sehr trocken und formal klingt, lässt sich an einigen Beispielen leicht verdeutlichen: Während Begriffe wie Leistung oder Zielstrebigkeit im konservativ-technokratischen Milieu als Objektwerte rein positiv konnotiert sind, gelten sie im Kontext des aufstiegsorientierten Milieus möglicherweise nur als Wertobjekte unter den Maßstäben des beruflichen Aufstiegs und der sozialen Anerkennung. In beiden Fällen haben diese Werte einen internen Status und sind handlungsleitend. Allerdings gibt es auch Milieus, in denen diese Begriffe negativ konnotiert und damit nicht handlungsleitend sind. So würden möglicherweise Mitglieder des hedonistischen oder des postmodernen Milieus im Kontext einer wissenschaftlichen Erhebung angeben, dass Leistung und Zielstrebigkeit abzulehnen seien. In solchen Fällen fungieren diese Begriffe nicht als Werte und haben damit einen externen Status. Soziale Milieus unterscheiden sich jedoch nicht nur dadurch, dass verschiedene Begriffe als Objektwerte und Wertobjekte fungieren,

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sondern auch dadurch, dass diese Begriffe unterschiedlich interpretiert werden: So werden Mitglieder des kleinbürgerlichen Milieus oder des traditionellen Arbeitermilieus den Leistungsbegriff des konservativ-technokratischen Milieus wahrscheinlich eher ablehnen. Dabei wird jedoch nicht der Begriff der Leistung negativ konnotiert, sondern lediglich anders gedeutet – etwa indem er nicht so sehr über beruflichen und materiellen Erfolg definiert wird.68 Und ebenso, wie sich unter den Werten des materiellen Wohlstands oder der sozialen Anerkennung der Kauf eines Autos, des Zweitwohnsitzes oder einer berühmten Maler*in realisieren lassen, fungieren Werte wie Freizeit oder Freiheit als Handlungsgründe für Tätigkeiten wie Urlaub-machen, Golf- oder Klavierspielen.69 Werteinstellungen bzw. Wertinterpretationen und Lebensvollzüge lassen sich dabei nicht voneinander trennen. Denn das gemeinsame Sprechen und damit das Projizieren von denjenigen Begriffen, die als Objektwerte oder Wertobjekte fungieren, strukturiert die jeweiligen Praktiken des Wahrnehmens und Handelns. Und gleichzeitig wirken die Praktiken des Wahrnehmens und Handelns auf die Art und Weise, wie diese Begriffe gebraucht werden. Dieser Zusammenhang lässt sich gut durch den Begriff der Gerechtigkeit erläutern, denn es handelt sich dabei unabhängig von der jeweiligen Lebensform um einen eindeutig positiv konnotierten Begriff, der jedoch unterschiedlich interpretiert wird. Im konservativ-technokratischen Milieu werden etwa bestimmte Handlungen, wie der Erlass einer Reichensteuer oder das Demonstrieren für einen Schuldenschnitt, als ungerecht wahrgenommen. Tendenziell umgekehrt verhält es sich wahrscheinlich im liberal-intellektuellen Milieu, in dem der Begriff der sozialen Gerechtigkeit als Objektwert fungiert, unter dem Reichensteuern und Schuldenschnitte möglicherweise einen Wert haben. In beiden Fällen spielen die Lebensumstände und die praktischen Lebensvollzüge eine bedeutende Rolle für den Begriffsgebrauch. Denn mit dem Begriff der Gerechtigkeit lässt sich sowohl für als auch gegen eine Reichensteuer oder einen Schuldenschnitt argumentieren oder demonstrieren. Wenn sich aber aus dem Begriff gegensätzliche Handlungsregeln rekonstruieren

68 | In diesem Sinne und vor dem Hintergrund der begrifflichen Differenzierung von Inter- und Transsubjektivität (vgl. Kap. 3.5.1) wird in der Forschung auch zwischen inter- und transkulturellen Wertkonflikten unterschieden: Während im Falle von interkulturellen Wertkonflikten ein gemeinsames Verständnis von Objektwerten vorliegt, welche jedoch verschieden interpretiert werden, verweist die Rede von transkulturellen Wertkonflikten auf die Frage, was überhaupt ein Wert ist (vgl. Hubig 2002, 28 f.). Da im Kontext dieser Arbeit jedoch mehr mit dem Lebensformbegriff als mit dem Kulturbegriff argumentiert wird, kann im Folgenden nicht weiter auf diese ansonsten zentrale begriffliche Differenzierung eingegangen werden. 69 | Vgl. dazu auch Bourdieu 1998/1994, 17.

3. Sprechen, Wahrnehmen und Handeln

lassen, kann das zu Konflikten innerhalb und zwischen Lebensformen führen, die die etablierte Wertwahrnehmung und den etablierten Begriffsgebrauch in Frage stellen. Und ähnlich verhält es sich mit vielen anderen Begriffen wie Moralität, Besonnenheit, Keuschheit, Grausamkeit, Demokratie usw. Auf diese konflitktheoretischen Implikationen wird in Kap. 4.2 noch ausführlich eingegangen. Zunächst gilt es jedoch vor dem Hintergrund der bisherigen Ausführungen den problematischen Wertbegriff abschließend zu bestimmen: Im Abschnitt zuvor wurde gezeigt, dass es sich bei Werten um implizite begriffliche Handlungsregeln handelt, insofern sie sich erst ex post, aufgrund des jeweilige Sprechen, Wahrnehmens und Handelns, als Handlungsregeln rekonstruieren lassen. Wie v.a. im ersten Teil dieser Arbeit herausgearbeitet wurde, sind Werte dabei weder in dem Sinne real, als sie als Gegenstände einer wertfreien Erkenntnis angesprochen werden können, noch sind sie in dem Sinne relativ, als verschiedene Werte und Wertinterpretationen gleich gut oder inkommensurabel wären. Vielmehr sind sie relational in dem Sinne, dass sie je nach Lebensform unterschiedlich interpretiert werden und einen internen oder externen Status haben können. Mit dem Begriff der »Relationalität« wird sowohl auf das Verhältnis von Sprechen, Wahrnehmen und Handeln als auch auf das Verhältnis der verschiedenen Lebensformen zueinander angespielt. Denn Begriffe strukturieren die verschiedenen Praktiken des Sprechens, Wahrnehmens und Handelns, über die sich die verschiedenen Lebensformen erst voneinander abgrenzen lassen (vgl. Kap. 3.5.1).70 Werte lassen sich somit als relationale und implizite begriffliche Handlungsregeln definieren. Im nun abschließenden Teil der Arbeit wird zu zeigen sein, welche Folgen eine solche Definition von Werten zusammen mit dem bereits vorgestellten Konzept von Lebensformen für einen adäquaten Begriff moralischen Wissens hat. Zunächst gilt es jedoch, die wichtigsten Ergebnisse dieses Kapitels für ein besseres Verständnis der darauf aufbauenden Argumentation zusammenzutragen.

70 | Ich borge mir den Begriff der Relationalität dabei aus der Soziologie, da er in der philosophischen Theorietradition gegenwärtig nicht mehr gebraucht wird. Der Soziologe und Philosoph Karl Mannheim hat den Begriff des Relationismus im Gegensatz zum Relativismus geprägt, um auf die erkenntnistheoretische Perspektive seiner Wissenssoziologie hinzuweisen: Demnach ist Wissen immer Wissen von einem bestimmten Ort aus, allerdings mit dem Anspruch nicht vor sozio-kulturellen Relativitäten zu kapitulieren (vgl. Berger/Luckmann 1967, 22; Mannheim 2015/1929, 77). Später hat Pierre Bourdieu in ähnlicher Weise vom »Primat der Relationen« gesprochen und verweist dabei auf Ernst Cassirers Unterscheidung zwischen »substantiellen Begriffen« und »funktionalen oder relationalen Begriffen« (vgl. Bourdieu 1998/1994, 7, 15).

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3.6 Zusammenfassung: Praktiken, Werte der Begriff des Wissens

und

Im ersten Teil dieser Arbeit hatten sich die beiden zentralen Begriffe des Internen Realismus Hilary Putnams, der Begriff der Praxis und der Begriff des Wertes, für eine adäquate Theoriebildung als anschlussfähig, aber problematisch herausgestellt. Um diese Begriffe zu klären und um darauf aufbauend die zentrale Frage beantworten zu können, ob und wie es möglich ist, zwischen richtigem und falschem Gebrauch unserer (dichten ethischen) Begriffe zu unterscheiden, wurden innerhalb dieses Kapitels zwei philosophische Argumentationslinien verfolgt und abschließend zusammengeführt. In Anschluss an Wittgenstein wurde dabei zunächst gezeigt, dass das augustinische Bild der Sprache bzw. die Abbildtheorien der Bedeutung defizitär sind. Denn diese gehen von Sinnesreizen aus, insofern a-begriffliche Dinge in der Welt durch Begriffe in unseren Köpfen mental repräsentiert werden, unterschätzen dabei jedoch die Rolle von Lehr- und Lernprozessen. Wittgenstein macht entsprechend darauf aufmerksam, dass wir den korrekten Sprachgebrauch in bestimmten Situationen, d.h. in endlich vielen Beispielfällen, lernen, aber später in unendlich vielen Situationen verwenden können. Schon dieses Phänomen können Abbildtheorien der Bedeutung nicht erklären. Um das zu zeigen, greift Wittgenstein in Anschluss an Kant auf den Begriff der Regel zurück. Damit weist er zum einen auf die relativ stabile Verwendungsweise von Begriffen hin und zum anderen auf die damit zusammenhängende und notwendige Unterscheidung zwischen richtigem und falschem Begriffsgebrauch. Mit einem Regressargument (»Es gibt keine Regel, die die Anwendung der Regel regelt«) zeigt er anschließend, dass es keine eindeutige Relation zwischen Begriffen und Gegenständen in der Welt gibt. Eben aus diesem Grund sind die Abbildtheorien der Bedeutung paradoxal: Denn wenn fast jede Anwendung einer Regel mit einer entsprechenden Deutung zu vereinbaren ist, kann die Regel keine Anwendungsweise mehr festlegen. Mit dieser Argumentation zeigt Wittgenstein, dass unser Sprachgebrauch nicht vollkommen schematisch geregelt sein kann. Vielmehr projizieren wir im Nachhinein eine Ordnung in unsere Sprache, wenn wir unser Sprechen als Regelfolgen interpretieren und rekonstruieren. Diese Überlegungen sind nicht nur für die Sprachphilosophie, sondern auch für die metaethische Debatte von großer Bedeutung. Zwei anschlussfähige Wittgenstein-Interpretationen wurden hier herausgestellt: Erstens hat John McDowell gezeigt, dass sich hinter dem Problem des Regelfolgens ein schlagfertiges Argument gegen den Nonkognitivismus bzw. gegen jede Form von szientistischem Naturalismus oder Metaphysischem Realismus verbirgt. Es handelt sich dabei um eine Variation des Arguments gegen die Dichotomie von Fakten und Werten aus Kap. 2.3.2. Denn Nonkognitivist*innen glauben, dass sich Begriffe durch ein Entkopplungsmanöver in eine deskriptive und eine evaluative Bedeutungskomponente unterteilen lassen und dass nur die

3. Sprechen, Wahrnehmen und Handeln

deskriptive Bedeutungskomponente die korrekten Verwendungen eines Begriffs festlegt. Um ihre Theorie zu halten, müssen sie jedoch i.) einen psychologischen Mechanismus annehmen, der es erlaubt, alle bereits erlernten Begriffe (als Regeln) in allen künftigen Fällen korrekt zu projizieren, und ii.) annehmen, dass diese Regeln unabhängig von uns in der Welt existieren. Beide miteinander zusammenhängende Annahmen scheitern jedoch am Regressargument Wittgensteins. Nonkognitivst*innen verteidigen zwar das Entkopplungsmanöver, indem sie darauf hinweisen, dass es nicht immer eine stabile Beziehung zwischen Begriffen und (moralischen) Bewertungen gibt. Allerdings basiert McDowells Argument nicht auf der Annahme, dass Begriffe bestimmte positive oder negative Evaluationen implizieren, sondern dass sie überhaupt wertgeladen sind. Im Kontext dieser Arbeit dient das Argument aber nicht nur dazu, nonkognitivistische Theorietypen zurückzuweisen. Vielmehr haben sich die Hinweise auf die Unmöglichkeit des Entkopplungsmanövers und die instabile (aber nicht beliebige) Beziehung von Begriffsgebrauch und Bewertung als zentral für die nähere Bestimmung des Wertbegriffs heraus gestellt. Zweitens hat Stanley Cavell in Anschluss an Wittgensteins Überlegungen darauf aufmerksam gemacht, dass wir mit dem Erlernen einer Sprache nicht nur die Aussprache von Lauten und die grammatische Ordnung, sondern diejenigen dazugehörigen Lebensformen lernen, die Laute zu Begriffen machen. Deshalb gibt es unbegrenzt viele Projektionsmöglichkeiten von Begriffen, die aber eben keinesfalls beliebig sind. Der Unterschied zwischen dem richtigen und falschen Gebrauch von Begriffen bzw. zwischen Wissen und Nicht-Wissen besteht laut Cavell in der Abstimmung oder Einbettung von Sprache und Lebensform. Mit Andrea Kern wurde darauf hingewiesen, dass eine solche Lebensformtheorie problematisch ist, da sie an der Akt-Auffassung von Wissen festhält (bzw. nicht genau geklärt ist, was mit der jeweiligen »Abstimmung« oder »Einbettung« gemeint ist). Trotzdem konnte gezeigt werden, dass Cavells Lebensformbegriff für eine Theorie moralischen Wissens wichtig sein kann, sofern das Verhältnis von Sprache und Praxis bzw. Sprache und Lebensform hinreichend geklärt wird. Denn die Kriterien der angemessenen oder richtigen Projektionsmöglichkeiten von Begriffen können nicht »außerhalb« der Sprache liegen (insofern sie durch a-begriffliche Gegenstände reguliert werden), denn das würde in den Interpretationsregress führen. Sie können aber auch nicht einfach »innerhalb« der Sprache liegen (insofern einfach der jeweils aktuelle Sprachgebrauch maßgeblich ist). Das würde schließlich bedeuten, dass wir inkommensurable Sprachen sprechen müssten, was nach dem Argument gegen die Inkommensurabilität (vgl. Kap. 2.2.2) jedoch nicht möglich ist. In Anschluss an diese Überlegungen wurde eine Begriffstheorie gesucht, die zeigt, dass und inwiefern i.) Begriffe Werte implizieren, dass ii.) dieser wertimplizierende Gebrauch von Begriffen mit der Unterscheidung zwischen richtigem und falschem Begriffsgebrauch zu vereinbaren ist und dass iii.) die Kriterien

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dieses korrekten Begriffsgebrauchs weder nur außerhalb noch nur innerhalb der Sprache liegen. Da weder Wittgenstein im Kontext seiner Sprachphilosophie noch Cavell mit seiner Wittgenstein-Interpretation das Verhältnis von Begriff und Welt bzw. Sprache und Lebensform hinreichend genug klären, um diese Kriterien erfüllen zu können, wurden ihre Überlegungen anschließend mit der Begriffstheorie Hegels erweitert. Denn ebenso wie Wittgenstein definiert Hegel Begriffe in Anschluss an Kant als Regeln und ebenso wie Wittgenstein wendet er sich ganz explizit gegen jede Form des Metaphysischen Realismus. Hegel macht dabei allerdings gegen Wittgenstein deutlich, dass wir den jeweiligen Sprachgebrauch nicht nur imitierend (bzw. durch Abrichtung) erwerben, sondern immer auch kommentieren und revidieren – und damit in einem Verhältnis zu unserem Verhältnis der Welt stehen. Damit zusammenhängend weist er auf das Verhältnis von Sprechen, Wahrnehmen und Handeln hin. Um das zu erläutern, wendet sich Hegel gegen das bis heute noch weit verbreitete Verständnis von Begriffen als »Behälter von Vorstellungen«, die a-begriffliche Dinge und Eigenschaften der Realität unter sich subsumieren. Dieses Begriffsverständnis impliziert eine wittgensteinsche Pointe: Auch die Gegenstände der sinnlichen Wahrnehmung oder der unmittelbaren Deixis sind begrifflich vermittelt, d.h. sie sind nur durch allgemeine Ausdrücke kommunizierbar bzw. als allgemeine Regeln rekonstruierbar (weswegen Hegel das Privatsprachenargument Wittgensteins vorweggenommen hat). Aus eben diesem Grund spricht er nicht mehr davon, dass Begriffe Anschauungen, Vorstellungen oder andere Begriffe »enthalten«, sondern davon, dass sich Begriffe »übergreifen«. Was das bedeutet, erklärt er in seiner Urteilslehre: Denn im Urteil, so Hegel, geht es nicht um ein Beilegen oder Verbinden von Prädikaten »im Kopfe« mit den Gegenständen »da draußen«. Wenn wir etwa sagen »Die Rose ist rot«, tun wir es nicht der Rose an, rot zu sein. Vielmehr betrachten wir sie mit dem Urteil durch ihre »begriffliche Bestimmtheit«. Deshalb zeigt Hegel, dass jedes Urteil bereits bestehende begriffliche Bestimmungen und Beziehungen präsupponiert. Das wiederum hat zur Folge, dass begriffliche Regeln nicht konjunktiv aufgefasst werden können (wie im Falle von Abbildtheorien der Bedeutung, die Begriffe als Abstraktionen von rein empirischen Einzelgegenständen denken), sondern disjunktiv aufgefasst werden müssen: Um als kompetente Sprecher*in ein Lebewesen »Mensch« nennen zu dürfen, bedarf es etwa hinreichend vieler, aber keineswegs aller typisch-begrifflichen Eigenschaften eines Menschen (etwa aufrecht gehen können oder sprechen können oder Ohrläppchen haben etc.).71 Jeder Gattungs- oder Typusbegriff markiert dabei,

71 | Wobei es auch immer einige notwendige Eigenschaften gibt, um einen Begriff projizieren zu dürfen. In diesem Beispiel sind das etwa »sterblich sein« oder »nicht fliegen können« u.a.

3. Sprechen, Wahrnehmen und Handeln

als reale Möglichkeit des Bestimmens, seine Arten als Extensionen. Gleichzeitig bestimmt die Art – als reale Wirklichkeit der Bestimmung – ihre Gattung, sodass sich Gattungs- und Artbegriffe wechselseitig (im Sinne eines Modalgefälles) bestimmen.72 Denn unsere Sprache besteht eben nicht einfach aus einem begrifflichen Verhältnis von Mengen, Teilmengen und Elementen. Und Regeln sind, wie McDowell sagt, keine Gleise, die wir mit unseren mentalen Rädern einfach abfahren können. Weil unsere soziale Mitwelt und unsere natürliche Umwelt, mithin unsere gesamten Verhältnisse zur Welt, immer schon begrifflich strukturiert sind, macht es auch keinen Sinn, Begriffe mit einer a-begrifflichen Realität vergleichen zu wollen. Eben dies ist die Pointe der Figur des »übergreifenden Allgemeinen«, die sich in Anschluss an Stekeler-Weithofer auch als »Logik des Aber« rekonstruieren lässt. Da verschiedene Sprachen mit ihren verschiedenen begrifflichen Differenzierungen nicht wertfrei sind, können sich letztere als falsch oder problematisch herausstellen. Hegel macht dies anhand des Urteils des Begriffs einsichtig, welches in Anschluss an Rahel Jaeggis modernerer Beispiele erläutert wurde: So projizieren wir etwa den Begriff der Familie üblicherweise auf gemischt-generationelle Personengruppen, die in einem bestimmten Rechtsund/oder Sorgeverhältnis zueinander stehen und/oder voneinander abstammen usf. Und bei Personengruppen, die zwar einige dieser Eigenschaften erfüllen, zueinander aber kalt, abweisend oder grausam sind, fragen wir: »Ist das noch eine Familie?« Ganz ähnlich verhält es sich mit dem Beispiel der Demokratie, also einem Begriff, den wir normalerweise auf politische Systeme beziehen, die sich durch Gewaltenteilung, freie Wahlen, das Mehrheitsprinzip usf. auszeichnen. In einem Land aber, indem zwar gewählt wird, die Zustimmung zur Regierung aber bei 98 % liegt, fragen wir zu Recht: »Ist das wirklich eine Demokratie?« Hegel zeigt damit, dass es trotz der häufig auftauchenden Probleme mit den bisherigen begrifflichen Differenzierungen richtige und falsche Verwendungsweisen gibt und dass diese Verwendungsweisen nicht von unserer Lebensweise zu trennen sind. Denn Begriffe sind, so Hegel, die Gründe und Richtungslinien unseres Handelns. Auf diese Weise sind Sprechen, Wahrnehmen und Handeln auf das Engste miteinander verwoben. Hegel führt also den metaphorischen Ausdruck des »Übergreifens« als Gegen-Metaphorik zu denjenigen dualistischen Begriffstheorien in die Diskussion ein, die davon ausgehen, dass Begriffe Anschauungen und/oder Begriffe (nicht

72 | Wie bereits erwähnt, kann innerhalb dieser Arbeit nicht näher auf den Begriff der Bedeutung eingegangen werden. Allerdings wäre zu prüfen, ob sich hier nicht in Anschluss an Hegel ein adäquater Bedeutungsbegriff als »reale Möglichkeit des Begriffsgebrauchs« gewinnen ließe. Damit würde der Begriff der Bedeutung weder auf Gegenstände in der Welt noch auf seinen Gebrauch in der Sprache reduziert.

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weniger metaphorisch gesprochen) »enthalten«. Eine weitere prominente Metaphorik für solch dualistische Begriffstheorien ist die der Abbildung. Josef König deutet nun die Figur des »übergreifenden Allgemeinen« in seiner anschlussfähigen Interpretation als Widerspiegelungsverhältnis und grenzt es klar von Abbildungstheorien ab. Die Spiegelmetaphorik ist deshalb so wichtig, weil sie den Zusammenhang von Sprechen, Wahrnehmen und Handeln erläutert und gleichzeitig darauf hinweist, dass wir uns immer in einem Verhältnis zu unserem sprechenden, wahrnehmenden und handelnden Verhältnis zur Welt befinden. Dabei weist sie zunächst auf ein tätiges Verhältnis zwischen uns, dem Spiegel und dem gespiegelten Ding hin, das auf uns – je nach Position von uns und dem Spiegel – in einer bestimmten Art und Weise wirkt. Die Spiegelmetaphorik macht somit darauf aufmerksam, dass es keinen Standpunkt außerhalb dieses Verhältnisses gibt, sodass das Spiegelbild weder unmittelbar gegeben noch subjektiv konstituiert ist. Im Kontext der Metaphorik bedeutet das zunächst, dass wir erst durch Begriffe bzw. durch das Sprechen die Welt in einer bestimmten Art und Weise wahrnehmen können. Damit zusammenhängend wird über die Spiegelmetaphorik aber auch das Verhältnis vom Sprechen und Wahrnehmen zum Handeln erläutert. König redet dabei von einer Rückspiegelung: Denn wenn wir etwas begrifflich vermittelt in einer bestimmten Art und Weise wahrnehmen, nehmen wir nicht die natürlichen Eigenschaften eines Gegenstandes wahr, sondern unser typisches Handeln mit einem auf-uns-wirkenden Gegenstand: Ein Hund ist – ebenso wie ein Haus, ein Stuhl oder ein Nazi – etwas, das in seiner begrifflichen Abgrenzung und Bestimmung von unserem handelnden Umgang mit ihm abhängig ist. Indem wir zusammen handeln und uns über unsere Handlungspraxis verständigen, können wir also die Welt in einer bestimmten Art und Weise wahrnehmen. Gleichzeitig gilt, dass wir erst in einer bestimmten Weise zusammen handeln können, weil wir über eine etablierte Begrifflichkeit verfügen und so die Welt in einer bestimmten Weise wahrnehmen können. Sprechen, Wahrnehmen und Handeln sind dabei im Sinne eines Modalgefälles aufeinander bezogen: Denn Begriffe sind als Regeln reale Möglichkeiten des Bestimmens und damit eben Möglichkeiten des Sprechens (bzw. Urteilens), Wahrnehmens und Handelns und können nur über die entsprechenden Vollzüge als Regeln rekonstruiert werden. Die jeweiligen Vollzüge wirken dabei auf die künftigen Möglichkeiten des Sprechens, Wahrnehmens und Handelns. Denn im gemeinsamen Urteilen, Wahrnehmen und Handeln werden die bereits bestehenden begrifflichen Differenzierungen permanent aus- und umgebildet. M.a.W.: Begriffe bilden die Welt nicht einfach ab, sie spiegeln unser tätiges (urteilendes, wahrnehmendes oder handelndes) Verhältnis zur Welt wider. Die Darstellung der Theorien Wittgensteins und Hegels hatte zunächst den Zweck, das Problem des richtigen und falschen Begriffsgebrauchs in Hinblick auf die Debatte um dichte ethische Begriffe zu erläutern, um daran anschließend wiederum die Begriffe der Praxis und des Wertes bestimmen zu können.

3. Sprechen, Wahrnehmen und Handeln

Vor diesem Problemhorizont haben sich zwei theoretische Motive als besonders anschlussfähig herausgestellt: Wittgensteins Begriff der Lebensform und Hegels Begriffstheorie, die den Zusammenhang von Sprechen, Wahrnehmen und Handeln expliziert. Um den Interpretationsschwierigkeiten der Wittgensteinforschung hinsichtlich des Lebensformbegriffs zu entkommen, wurde zunächst die moderne und anschlussfähige Lebensformtheorie von Rahel Jaeggi skizziert. Im Sinne Jaeggis sind Lebensformen »Ensembles von Praktiken«, d.h. Abfolgen von verbalen und nonverbalen Tätigkeiten, die sozial verfasst sind und das individuelle Leben formen, ebenso wie sie zugleich durch Individuen geformt werden. Diese Konzeption impliziert jedoch einige begriffliche Unschärfen, die in Anschluss an die geleisteten Vorarbeiten zur Begriffstheorie Hegels behoben werden konnten. Dabei wurde der Begriff der Praxis zunächst als Tätigkeit des Sprechens, Wahrnehmens oder Handelns und damit als Verwirklichung von Lebensformen gedeutet.73 Lebensformen hingegen wurden als reale Möglichkeiten des Sprechens, Wahrnehmens und Handelns konzeptualisiert, die erst aus Lebensformen heraus und über ihre jeweiligen Verwirklichungen als bestimmte Lebensformen (Kulturen, Subkulturen, soziale Milieus oder Klassen) rekonstruiert werden können. Erst vor diesem Hintergrund war möglich, den Begriff des Wertes, der gegenwärtig v.a. im Kontext der metaethischen Debatte um dichte und dünne ethische Begriffe thematisiert wird, angemessen zu konzeptualisieren. Üblicherweise werden dabei unter dünnen ethischen Begriffen diejenigen Begriffe verstanden, die bewerten und nicht beschreiben (etwa gut, schlecht, richtig, falsch etc.) und unter dichten ethischen Begriffen diejenigen, die beschreiben und bewerten (etwa beschämend, schlüpfrig, heimtückisch, grausam etc.). Gleichzeitig wird in diesem Kontext zumeist angenommen, dass Handlungsgründe entweder in der rationalen Einsicht subjektunabhängiger Werteigenschaften bestehen (Externalismus) oder dass Werte über subjektive Wünsche und Motive auf die Welt projiziert werden (Internalismus). Dagegen konnte in Anschluss an Peter Geach und John McDowell gezeigt werden, dass das übliche Verständnis dichter und dünner ethischer Begriffe problematisch und dass die Entgegensetzung von Internalismus und Externalismus nicht haltbar ist. In dem Zusammenhang wurde ebenfalls die prominente aber zirkuläre Nominaldefinition von Werten (als »Vorstellungen über das Wünschenswerte«) als defizitär zurückgewiesen, um den Wertbegriff anschließend näher zu bestimmen. Dabei wurden drei wichtige Punkte herausgestellt:

73 | Auf den Komplementärbegriff der Arbeit und den wichtigen Zusammenhang von πρᾶξις und ποίησις werde ich, wie schon erwähnt, noch zu sprechen kommen.

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1. Die Rede von dichten ethischen Begriffen ist problematisch, da es keine sortierende Einteilung von ethischen und nicht-ethischen Begriffen geben kann. Begriffe lassen sich nur aus bestimmten Redekontexten und Lebensformen heraus als Handlungsregeln rekonstruieren und bestimmten Anwendungsbereichen zuordnen (ethisch/moralisch, wissenschaftlich, politisch etc.). Ferner macht die Rede von dichten Begriffen nur in Abgrenzung von dünnen Begriffen Sinn, da es kein wertfreies oder naturalistisches Vokabular geben kann. 2. Die übliche Entgegensetzung von dichten Begriffen, die beschreiben und bewerten und dünnen Begriffen, die nur bewerten, ist problematisch, da auch die typischen dünnen Begriffe sowohl in deskriptiven, als auch in evaluativen Redekontexten gebraucht werden. Mit Peter Geach konnte gezeigt werden, dass sich i.) auch im Falle der dünnen Begriffe Beschreibung und Bewertung nicht immer voneinander trennen lassen, dass ii.) die Projektion dünner Begriffe mitunter von der (positiven oder negativen) Verwendung dichter Begriffe abhängt, und dass iii.) der Unterschied zwischen dichten und dünnen Begriffen nicht nur im Grad ihres deskriptiven Gehalts, sondern v.a. in ihrer prädikativen und attributiven Verwendungsweise liegt. 3. Der Dualismus von Externalismus und Internalismus ist nicht haltbar, da es weder möglich ist Begriffe vollkommen unabhängig von Wünschen und Motiven noch in Abhängigkeit von Wünschen und Motiven einzelner Personen zu projizieren. John McDowell hat entsprechend den Status von Werten anhand der Metapher der Farbwahrnehmung erklärt: Genauso wie Farben existieren Werte zwar nicht unabhängig von der Wahrnehmung aber unabhängig von jeder einzelnen Wahrnehmung. Sie existieren damit – als Handlungsgründe – weder rein internalistisch als subjektive Motive noch rein externalistisch in einer subjekt unabhängigen Realität. Vielmehr können sie einen internen oder externen Status haben. Vor diesem Hintergrund wurden Werte als implizite und relationale begriffliche Handlungsregeln bestimmt. Denn Begriffe wie Leistung, Urlaub, Freizeit, Keuschheit, Gerechtigkeit oder Moral können in verschiedenen Lebensformen als Objektwerte (Güter) oder Wertobjekte (Eigenschaften von Gütern) fungieren – je nachdem wie sie gelernt und interpretiert werden. Während der Begriff der Keuschheit etwa in einer eher frivolen Lebensform einen externen Status hat, indem er eher negativ gebraucht wird und nicht handlungsleitend ist, fungiert er durch seinen internen Status in einer eher konservativen Lebensform als positiv konnotierter Objektwert oder Wertobjekt. Dabei kann erst aufgrund des jeweiligen Sprechens, Wahrnehmens und Handelns rekonstruiert werden, welche Handlungsregeln der Wert der sexuellen Enthaltsamkeit jeweils impliziert. Dagegen ist der Begriff der Gerechtigkeit beispielsweise immer positiv konnotiert und fungiert in jeder Lebensform als Objektwert oder Wertobjekt.

3. Sprechen, Wahrnehmen und Handeln

Fraglich ist nur, wie er zu interpretieren ist. So werden Reichensteuern ebenso wie Schuldenschnitte unter dem Wert (bzw. der Handlungsregel) der Gerechtigkeit befürwortet und abgelehnt. Begriffe können also innerhalb von Lebensformen als Werte fungieren, wobei sich mitunter verschiedene Handlungsregeln aus ihnen rekonstruieren lassen. Es handelt sich bei Werten dementsprechend um implizite begriffliche Handlungsregeln, da diese Regeln nicht einfach vorliegen, sondern ex post, aufgrund der jeweiligen Vollzüge des Sprechens, Wahrnehmens und Handelns, als Handlungsregeln rekonstruiert werden müssen. Werte sind darüber hinaus relational, da sie weder als reale Gegenstände einer wertfreien Erkenntnis angesprochen werden können noch einfach relativ zu einer bestimmten Lebensform bestehen. Stattdessen haben sie – je nach Lebensform – einen internen oder externen Status und können unterschiedlich interpretiert werden. Mit dem Begriff der Relationalität wird sowohl auf das Verhältnis von Sprechen, Wahrnehmen und Handeln als auch auf das Verhältnis der verschiedenen Lebensformen zueinander angespielt. Denn Begriffe strukturieren die verschiedenen Praktiken des Sprechens, Wahrnehmens und Handelns, über die sich die verschiedenen Lebensformen erst voneinander abgrenzen lassen. Diese Wertdefinition führt nun, zusammen mit dem zuvor vorgestellten Konzept der Lebensform, zu einem Wissensbegriff, der zwar von McDowells schwachem Ethischen Realismus stark inspiriert ist, aber entscheidend über diesen hinausgeht.

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4. M  it Begriffen leben und in Lebensformen lernen It is an obvious enough idea that if we are going to understand how ethical concepts work, and how they change, we have to have some insight into the forms of social organization within which they work. [...] The linguistc turn could have helped us, even if it has not actually done so, to recognize that ethical understanding needs a dimension of social explanation. B ernard Williams

4.1 Wissen

als

Akt

und als

Fähigkeit

Im ersten Teil der Arbeit wurde auf das gängige philosophische Paradigma hingewiesen, nach dem ein vermeintlich adäquater Wissensbegriff als propositionales Wissen über die Begriffe Wahrheit und Rechtfertigung definiert wird. Dieses philosophische Paradigma findet sich nicht nur ganz explizit in der Erkenntnistheorie, sondern strukturiert auch die metaethische Diskussion, insofern sich die wichtigsten Theorietypen – der Ethische Realismus und der Ethische Objektivismus – an ihm orientieren. In Anschluss an die Überlegungen von Andrea Kern kann dieses Paradigma auch die Akt-Auffassung von Wissen genannt werden, da sie in einem einzelnen Akt der Rechtfertigung einer beliebigen Überzeugung besteht (vgl. Kap. 3.3.2). Die Schwierigkeit dieser Akt-Auffassung von Wissen besteht darin, dass jeweils wertfreie Rationalitätsstandards oder Erkenntnisquellen vorausgesetzt werden müssen, was allerdings nicht möglich ist. Ein adäquater Begriff moralischen Wissens besteht vielmehr im Wissen um den angemessenen Gebrauch der (dichten ethischen) Begriffe. Aus diesem Grund wurde im zweiten Teil dieser Arbeit eine Variante der Akt-Auffassung von Wissen problematisiert, die man auch die »Regel-Konzeption von Wissen« nennen könnte (vgl. Kern 2006, 320): Das Wissen um den angemessenen Begriffsgebrauch kann jedoch nicht als ge-

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nuines Regelfolgen verstanden werden, sodass sich die grundlegende Bedeutung des Wissensbegriffs nicht in einzelnen Akten des Begründens oder Projizierens von Begriffen erschöpfen kann. Wittgenstein hat aus diesem Grund darauf hingewiesen, dass dieses Wissen erstens eng mit unseren Praktiken und Lebensformen zusammenhängt und dass es zweitens nur angemessen als Können, Kompetenz oder Fähigkeit verstanden werden kann (vgl. Kap. 3.2). Im dritten und letzten Teil dieser Arbeit muss nun in Anschluss an diese Argumentation ein adäquater Wissensbegriff konzeptualisiert werden. Allerdings ist die Fähigkeitskonzeption von Wissen, die von John McDowell mitunter nahe gelegt wird (vgl. Kap. 2.1.1), mit einem vermögenspsychologischen Problem verbunden. Zunächst lässt sich jedoch festhalten, dass sich eine Fähigkeitskonzeption von Wissen mit denselben Schwierigkeiten konfrontiert sieht wie die Akt-Auffassung von Wissen. Denn ein adäquater philosophischer Wissensbegriff ist maßgeblich mit zwei weiteren Begriffen verbunden: Dem Begriff der Selbständigkeit einerseits und dem Begriff des Lernens andererseits. Der Begriff der Selbständigkeit ist für den Wissensbegriff so zentral, da das auswendig gelernte Nachsprechen von Gründen, das bloße Internalisieren von Wissensinhalten, richtiges Raten oder das blinde Befolgen von Normen der eigenen Kultur bestenfalls einen relativistischen Wissensbegriff begründen könnten. Im Prinzip weist schon das Agrippa-Trilemma auf dieses Problem hin: Denn während Rechtfertigungszirkel oder infinite Rechtfertigungsregresse mit dem Begriff des Wissens gänzlich unvereinbar sind, führen dogmatische Rechtfertigungsabbrüche in den Relativismus, da dieser – zumindest prima facie – keine wahrheitsgarantierenden Gründe zu geben beansprucht und sich deshalb als inkonsistent erweist (vgl. Kap. 2.2.2). Dass ein adäquater Wissensbegriff nicht heteronom denkbar ist, hatte John McDowell anhand einer Analogie zu den wittgensteinschen Ausführungen über das Regelfolgen so erläutert: Da das mechanische Anwenden von Regeln nichts über das Verstehen dieser Regeln aussagt, kann man von dem richtigen Aufsagen einer Zahlenreihe nicht darauf schließen, dass eine Person die entsprechende mathematische Fähigkeit auch beherrscht (vgl. Kap. 2.1.1). Nur das zuverlässige und damit selbständige Lösen einer mathematischen Aufgabe verbürgt auch mathematisches Wissen. Eine einzige richtig gelöste Aufgabe gibt jedoch keine Auskunft darüber, ob jemand zufälligerweise richtig rät oder eine Fähigkeit aktualisiert. Und aus eben diesem Grund ist auch der Begriff des Lernens für einen adäquaten Wissensbegriff so zentral. Das Problem dabei ist: Wir lernen immer in bestimmten Lebensformen, Kulturen und Kontexten oder von bestimmten Personen, Umständen, Lebensphasen o.ä. Wenn nun aber die Fähigkeiten, Begriffe richtig zu projizieren und Handlungsgründe richtig aufzufassen, immer in bestimmten Situationen gelernt werden, wie ist es dann möglich, sie richtig, d.h. nicht beliebig und nicht zufällig, sondern situationsinvariant, zu aktualisieren? Bereits in den Kapiteln 2.1.1 und 2.1.2 wurde – allerdings eher beiläufig – darauf

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hingewiesen, dass das Verhältnis von Selbständigkeit und Unselbständigkeit und das Erlernen von Selbständigkeit für einen adäquaten Begriff moralischen Wissens von zentraler Bedeutung ist. So beanspruchen sowohl der transzendentale Objektivismus Kants als auch der schwache Realismus McDowells zu zeigen, inwiefern das Rechtfertigen von Überzeugungen bzw. das Aktualisieren begrifflicher Fähigkeiten allgemein gültig und selbständig sein können. Im Zentrum der Theorie Kants steht dabei der Begriff der Autonomie als »Eigenschaft des Willens, sich selbst ein Gesetz zu sein«. Zwar muss dessen Autonomiebegriff nicht als Selbstgesetzgebung im wörtlichen Sinn gelesen werden (was paradoxal wäre), sondern kann auch als Selbstverwirklichung interpretiert werden. Es bleibt jedoch auch bei dieser Lesart erstens das Problem der Motivation als blinder Fleck in der Theorie Kants und zweitens das Problem, nicht a priori sagen zu können, wie sich autonome Handlungen von heteronomen Verhaltensweisen unterscheiden. Auch McDowell stellt das Verhältnis von Selbständigkeit und Unselbständigkeit in das Zentrum seiner Theorie. Allerdings operiert er nicht mit dem Begriffspaar Autonomie/Heteronomie, sondern mit dem Begriffspaar Spontaneität/Rezeptivität, das er von Kant übernimmt. Im Gegensatz zum Begriff der Autonomie, der in Anschluss an Kant zumeist die Selbständigkeit des Willens meint, verweist der Begriff der Spontaneität auf die Selbständigkeit des Denkens. Denn im Sinne McDowells kann die Fähigkeit, Begriffe richtig zu projizieren und Gründe richtig aufzufassen, nicht als mechanisches Regelfolgen verstanden werden. Dabei hatten wir jedoch gesehen, dass seine Theorie an drei Problemen scheitert: Erstens wird das Verhältnis von erster und zweiter Natur nicht angemessen konzeptualisiert, sodass McDowell die Foothold-These zurücknehmen musste. Zweitens wird das Verhältnis der aktiven und begrifflichen Spontaneität zur passiven und sinnlichen Rezeptivität nicht hinreichend erläutert, sodass auch nicht immer klar ist, ob er seinen Überlegungen eine Fähigkeitskonzeption von Wissen oder einen propositionalen Wissensbegriff zugrunde legt. Drittens rückt er das Erlernen der Spontaneität in das Zentrum seiner Theorie, ohne diesen Erwerb des λόγος oder der zweiten Natur weiter zu erklären. Dabei weist er auf den deutschsprachigen Begriff der Bildung hin: »I cannot think of a good short English expression for this, but it is what figures in German philosophy as Bildung.« (MW, 84; vgl. Kap. 2.1.1) Dass McDowell (und vor ihm schon viele andere) den Begriff Bildung übernimmt, ohne ihn zu übersetzen, könnte allzu leicht als Indiz dafür genommen werden, dass hier ein tiefschürfender Gedanke ausgedrückt würde, für den man andernorts keine anderen passenden Begriffe parat habe (vgl. Reichenbach 2007, 126).1 Als guter Kenner der abendländischen Philosophiegeschichte ist

1 | Dabei ist die Annahme, dass gerade die eigene Sprache oder Kultur etwas Besonderes sei, ein vielleicht universelles Missverständnis, wie Ro­land Reichenbach im Zusammenhang mit dem Bildungsbegriff konstatiert: »Wie

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ihm aber möglicherweise das Potential des deutschsprachingen Bildungsbegriffs bewusst, der sich aufgrund seiner begriffsgeschichtlichen Sonderentwicklung nicht einfach in andere Sprachen übersetzen lässt (dazu s.u.). Eben deshalb verweist auch Axel Honneth in diesem Zusammenhang auf die ungelöste Spannung innerhalb des schwachen Ethischen Realismus, in der die hermeneutische Idee des Traditionsgeschehens unvermittelt neben der hegelianischen Idee einer gerichteten Bildung des menschlichen Geistes steht (vgl. ders. 2001, 374): »[A]uf der einen Seite stellt sich McDowell die Formung unseres moralische Wahrnehmungsvermögens nach dem Modell eines anonymen Überlieferungsgeschehens vor, so daß für die wahrnehmungsentlastete Überprüfung von normativen Ansprüchen kein Raum bleibt, auf der anderen Seite aber spielt er auch mit dem Gedanken eines rational vermittelten Lernprozesses, der nicht ohne die zumindest temporäre Unterbrechung unserer alltagsweltlichen Gewißheiten auf konsistente Weise zu deuten ist.« (Honneth 2001, 374)

Aus diesem Grund, so Honneth, bietet es sich an, die Kategorie der Bildung im hegelschen Sinne der »Fortbildung« ins Spiel zu bringen (vgl. ders. 2001, 398). Er begründet zwar nicht weiter, warum sich hier ausgerechnet Hegels Bildungstheorie als anschlussfähig herausstellen sollte und führt diesen Gedanken auch nicht weiter aus. Und trotzdem handelt es sich dabei um eine ausgesprochen gute Idee. Denn wie im Folgenden zu zeigen sein wird, lassen sich alle drei Probleme McDowells in Anschluss an Hegels Bildungstheorie lösen, wenn man sie i.) konsequent aristotelisch interpretiert und ii.) in einer modernen Terminologie, die im vorangegangenen Teil dieser Arbeit vorbereitet wurde, reformuliert. Auf diese Weise kann gezeigt werden, wie der Begriff der Selbständigkeit und der Begriff des Lernens miteinander zusammenhängen, um daran anschließend einen adäquaten Wissensbegriff zu konzeptualisieren. Vorher jedoch müssen die drei pädagogischen Grundbegriffe der Erziehung, Sozialisation und Bildung von-

kommt man nur dazu zu glauben, andernorts würde über Bildungsprozesse und Bildungsziele – was die Person und die Gemeinschaft bzw. Gesellschaft betrifft – nicht in vergleichbarer Art und Weise, vergleichbarer Tiefe und Gründlichkeit nachgedacht? Es gibt ja auch ›The German Angst‹, ›The German Leitmotiv‹, ›The German Zeitgeist‹, den Kindergarden und die ›Realpolitik allemande‹ ohne die Annahme, dass außerhalb Deutschlands etwa die Angst, die Leitmotive, der Zeitgeist und die Kindergärten nicht existieren oder aber nicht in dieser Tiefe, dieser Schwere oder dieser Überflüssigkeit. Wer vom ›educated mind‹ spricht oder vom ›homme de culture‹, der spricht von der Bildung der Person, nicht allein von seinen konkreten Ausbildungsleistungen [...] oder Schulabschlüssen.« (Ders. 2007, 127)

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einander abgegrenzt werden, um für den weiteren Argumentationsverlauf ein differenzierteres begriffliches Instrumentarium zur Verfügung zu haben. Erst darauf aufbauend kann gezeigt werden, dass gegenwärtig v.a. die angloamerikanische Forschung an das Problem der Selbständigkeit und Unselbständigkeit bei Hegel anknüpft. Dabei setzt sie sich allerdings nicht mit dem Begriff der Spontaneität, sondern mit dem Begriff der Autonomie und dem Kantischen Paradox (vgl. Kap. 2.1.2) auseinander und findet eine vermeintliche Lösung im Kapitel »Selbständigkeit und Unselbständigkeit des Selbstbewußtseins; Herrschaft und Knechtschaft« der Phänomenologie des Geistes (vgl. TW 3, 137 ff.). Da im Kontext dieser Arbeit der Wissensbegriff im Vordergrund steht, kann die sehr spannende und aktuelle philosophische Diskussion um den Autonomiebegriff hier nicht vollständig eingeholt werden. Trotzdem muss in Hinblick auf den (heteronom nicht denkbaren) Wissensbegriff deutlich aufgezeigt werden, dass sich das Problem des Verhältnisses von Autonomie und Heteronomie nicht durch die üblichen konstitutionstheoretischen Lesarten Hegels lösen lässt. Demgegenüber soll ein eher unkonventioneller Gegenvorschlag gemacht werden, wonach es sich beim sogenannten Selbstbewusstseinskapitel der Phänomenologie des Geistes um eine Reformulierung der aristotelischen Seelenlehre handelt. Für manche Hegelintepret*innen wird das zunächst weit hergeholt erscheinen. Eine aristotelische Ausdeutung der einschlägigen Textpassagen wird aber nicht nur durch die Quellenlage gestützt, sie erlaubt es auch, Hegels Theorie des Selbstbewusstseins sehr nah am Text zu rekonstruieren, ohne dass man sich ständig über eine vermeintlich komische Ausdrucksweise wundern müsste. Die Erträge dieser hermeneutischen Vorarbeit sollen dann am Ende dieses Abschnitts eingefahren werden. Sie zeigen, wie Hegel nicht nur das Verhältnis von Spontaneität und Rezeptivität angemessen konzeptualisiert, sondern damit zusammenhängend auch, wie er die Dualität von theoretischem Wissen und praktischem Können (und damit die Entgegensetzung der Begriffspaare Spontaneität/ Rezeptivität und Autonomie/Heteronomie) auflöst. Auf diese Weise kann ein tätigkeitstheoretischer Wissensbegriff konzeptualisiert werden, der im darauffolgenden Abschnitt weiter ausgearbeitet werden muss. 4.1.1 Kurzer Exkurs über drei pädagogische Grundbegriffe Der für diese Arbeit zentrale Begriff der Bildung bekommt seine spezifische Bedeutung durch die bereits erwähnte begriffsgeschichtliche Sonderentwicklung, insofern er in der deutschsprachigen philosophischen und pädagogischen Theorietradition deutlich von den Begriffen der Erziehung und Sozialisation abgegrenzt wird. Allen drei Begriffen ist dabei das Spannungsverhältnis von Selbständigkeit und Unselbständigkeit inhärent. Wir beginnen mit dem wichtigen Erziehungsbegriff, denn obwohl das Wissen um seine Entstehung noch bruchstückhaft ist, lassen sich zwei wichtige, sich aber teilweise widersprechen-

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de begriffsgeschichtliche Traditionslinien identifizieren. Demnach entstand der moderne Erziehungsbegriff im Kontext der jüdisch-christlichen Tradition, die unter dem hebräischen Begriff »musar« die Zucht und Disziplinierung verstand, mit dem Ziel des uneingeschränkten Gehorsams gegenüber den Geboten Gottes. Im Zuge der Übersetzung der Septuaginta vom Hebräischen ins Griechische wurde der Ausdruck, aufgrund einer fehlenden Entsprechung in der griechischen Sprache, mit dem Begriff παιδεία wiedergegeben. Allerdings zielt dieser weniger auf Zucht und Gehorsam als vielmehr auf die freie Selbstentfaltung des Menschen (vgl. Schwenk 1996a, 434 ff.). Zwar ist es historisch und kulturell variant, wie der Begriff der Erziehung interpretiert wird, doch lässt sich ein weit verbreiteter Minimalbegriff isolieren, der im Kontext der weiteren Argumentation zunächst (!) als Arbeitsdefinition dienen kann. Demnach sind unter Erziehung »alle Handlungen zu verstehen, die in der Absicht erfolgen (oder: die den Zweck haben), in anderen Menschen gemäß für sie gesetzten Normen (Sollensforderungen, Idealen, Zielen) psychische Dispositionen hervorzubringen, zu fördern, zu ändern, abzubauen oder zu erhalten« (Brezinka 1976, 129). Wie wir allerdings später noch sehen werden, ist diese Vorstellung von Erziehung, als bewusster und intentionaler Tätigkeit bzw. als pädagogischer Herstellung der Persönlichkeit, mehr als problematisch (vgl. Kap. 4.2.2). Aus diesem Grund etablierte sich im ausgehenden 19. Jahrhundert der Sozialisationsbegriff, der die Gesamtheit aller Bedingungen der Persönlichkeitsgenese umfasst und nicht auf ein intentionales und zeitlich begrenztes Verhältnis von Lehrendem und Lernendem beschränkt bleibt (vgl. Geulen 1993, 1409). Émile Durkheim, der als eigentlicher Begründer der Soziologie und des Konzepts der Sozialisation gilt, versteht darunter noch den »Vereinnahmungsprozess der Persönlichkeit«. Die moderne, arbeitsteilige Industriegesellschaft, so Durkheim, kann sich nur reproduzieren, wenn alle Individuen die Normen der Gesellschaft verinnerlichen (vgl. Hurrelmann 2002, 12). Mit dem Begriff der Sozialisation tritt demnach das Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft in den Fokus: »Der Mensch [...] ist nicht der Mensch, den die Natur gemacht hat, sondern der Mensch, wie ihn die Gesellschaft haben will [...]. Der Beweis liegt in der Art, wie sich unser Begriff des Menschen je nach den Gesellschaften geändert hat.« (Durkheim 1984/1902, 44)

Erziehung und Sozialisation können dabei nicht getrennt voneinander gedacht werden. Vielmehr ist Erziehung im Sinne Durkheims als »methodische Sozialisierung« (»socialisation méthodique«) zu verstehen: »Statt daß die Erziehung das Individuum und sein Interesse als einziges und hauptsächliches Ziel hat, ist sie vor allem das Mittel, mit dem die Gesellschaft immer wieder die Bedingungen ihrer eigenen Existenz erneuert. Die Gesellschaft

4. Mit Begriffen leben und in Lebensformen lernen kann nur leben, wenn unter ihren Mitgliedern ein genügender Zusammenhalt besteht. Die Erziehung erhält und verstärkt diesen Zusammenhalt, indem sie von vornherein in der Seele des Kindes die wesentlichen Ähnlichkeiten fixiert, die das gesellschaftliche Leben voraussetzt. [...] Sie besteht also unter der einen wie der anderen Einsicht aus einer methodischen Sozialisierung der jungen Generation.« (Durkheim 1984/1902, 45 f.)

Allerdings scheint auch ein Sozialisationsverständnis, das die Individuen zu Ausführenden vorgegebener Rollen reduziert und den status quo der Gesellschaft zum normativen Bezugspunkt macht, aus heutiger Sicht defizitär – zumal es auch viele Lernsituationen gibt, die offensichtlich nicht unter diesen traditionellen Sozialisationsbegriff fallen (vgl. Geulen 1993, 1409). Die moderne Forschung wendet sich deshalb mittlerweile von den anpassungsmechanistischen Vorstellungen Durkheims ab. Trotz erheblicher inhaltlicher Unterschiede der verschiedenen Sozialisationstheorien besteht weitgehende Übereinstimmung, dass Sozialisation nicht nur durch das Erlernen sozialer Rollenmuster und Verinnerlichung gesellschaftlicher Werte und Normen erfolgt, sondern auch als »selbsttätige und selbstorganisierte Aneignung von sozial und kulturell vermittelten Umweltangeboten« (Hurrelmann 2002, 14). Menschen sind also stark durch ihre natürliche Umwelt und ihre soziale Mitwelt beeinflusst, zugleich gestalten sie diese aber auch immer mit. Aus diesem Grund wird heute von einem differenzierteren Sozialisationsbegriff ausgegangen: »Sozialisation bezeichnet nach dieser Definition den Prozess, in dessen Verlauf sich der mit einer biologischen Ausstattung versehene menschliche Organismus zu einer sozial handlungsfähigen Persönlichkeit bildet, die sich über den Lebenslauf hinweg in Auseinandersetzung mit den Lebensbedingungen weiterentwickelt. Sozialisation ist die lebenslange Aneignung von und Auseinandersetzung mit den natürlichen Anlagen, insbesondere den körperlichen und psychischen Grundmerkmalen, die für den Menschen die ›innere Realität‹ bilden, und der sozialen und physikalischen Umwelt, die für den Menschen die ›äußere Realität‹ bilden.« (Hurrelmann 2002, 15 f.)

Ein solcher Sozialisationsbegriff ist nicht nur gut mit den oben gemachten Ausführungen zum Begriff der Lebensform vereinbar, er lässt auch Platz für einen adäquaten Bildungsbegriff. Auch hier kann es jedoch zunächst nur um ein philosophisch und pädagogisch adäquates Minimalverständnis gehen: Im gewöhnlichen Alltagsverständnis gilt Bildung meist ganz allgemein als »Inbegriff gesellschaftlicher Zielvorstellungen für institutionalisiertes Lehren und Lernen« (Schwenk 1996b, 209). Daneben bezeichnet der Bildungsbegriff oft die aneignende Auseinandersetzung mit Sprache, Wissenschaft, Kunst und Literatur (vgl. ebd., 208). In der (deutschsprachigen) philosophischen und pädagogischen For-

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schung wird er jedoch v.a. in Abgrenzung zu den Begriffen der Erziehung und Ausbildung verwendet. Dieser Umstand verdankt sich seiner begriffsgeschichtlichen Entwicklung, in der sich das griechische Ideal der παιδεία mit christlichen Ebenbildlichkeitsvorstellungen (der Mensch als »imago dei«) und dem neuzeitlichen Gedanken der Selbstzweckhaftigkeit des Menschen vereinen (vgl. ebd., 209 ff.). Hinzu kommen die etymologischen Verbindungen zu den lateinischen Begriffen »formo« (dt.: formen, gestalten) und »imitatio« (dt.: Nachahmung; vgl. Borst 2011, 40). Entscheidend für die Ausbildung des Bildungsbegriffs zwischen dem 18. und 19. Jahrhundert war v.a. die Abwehr von den politischen Erziehungsprogrammen der Aufklärungspädagogik und der Abgrenzung von mechanischen Erziehungsverständnissen. Der Bildungsbegriff zielt nicht auf die Brauchbarkeit, sondern auf die Selbstverwirklichung des Menschen. Dabei handelt es sich allerdings um die schon erwähnte deutschsprachige Sonderentwicklung, da während des Übergangs von der feudalistischen in die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft emanzipatorische Vorstellungen in den kulturell-geistigen Bereich abgedrängt wurden und revolutionäre Änderungen in der Gesellschaft ausblieben. Durch diese historische Entwicklung lässt sich der Bildungsbegriff noch heute nicht einfach in andere Sprachen übersetzen (vgl. Schwenk 1996b, 209, 213; Borst 2011, 44). Im Gegensatz zur Erziehung, die ein asymmetrisches Gefälle von Lehrenden und Lernenden voraussetzt, wird Bildung deshalb vorwiegend als selbständiges Lernen oder reflexive Tätigkeit verstanden. Man wird nicht gebildet, sondern man bildet sich selbst. Zwei Theorietraditionen haben dabei die Bedeutung und den wissenschaftlichen Gebrauch dieses Bildungsbegriffs maßgeblich beeinflusst: Der Neuhumanismus (der v.a. mit dem Namen Wilhelm von Humboldt verbunden ist) und die Kritische Theorie (die v.a. mit den Namen Max Horkheimer und Theodor W. Adorno verbunden ist). Beide Traditionslinien werden im Folgenden kurz vorgestellt, da sie im weiteren Argumentationsverlauf der Arbeit noch wichtig werden: Die Bildungstheorie Wilhelm von Humboldts geht zunächst von einer anthropologischen Grundthese aus: Demnach ist der Mensch sowohl ein vernünftiges als auch ein durch Neigungen gesteuertes Wesen, welches beständig Zwecke verfolgt (vgl. WH I, 64). Der »wahre Zweck« des Menschen besteht laut Humboldt nicht darin, eine bestimmte gesellschaftliche Position, Macht, Reichtum, Ehre o.ä. zu erlangen, sondern er besteht in seiner Bildung, sodass sich der Mensch »aus sich selbst, in seiner Eigenthümlichkeit« (ebd., 69) entwickelt. Durch die Wechselwirkung des Ichs mit der Widerständigkeit der Welt wird dabei der Begriff der Menschheit weiterentwickelt: »Die letzte Aufgabe unseres Daseyns: dem Begriff der Menschheit in unsrer Person, sowohl während der Zeit unseres Lebens, als auch noch über dasselbe hinaus, durch die Spuren des lebendigen Wirkens, die wir zurücklassen, einen so großen Inhalt, als möglich, zu verschaffen, diese Aufgabe löst sich allein durch die

4. Mit Begriffen leben und in Lebensformen lernen Verknüpfung unsres Ichs mit der Welt zu der allgemeinsten, regesten und freiesten Wechselwirkung.« (WH I, 235 f.)

Bildung ist also wie bereits gesagt, im Gegensatz zur Erziehung, nicht asymmetrisch, sondern wesentlich reflexiv: »Was also der Mensch nothwendig braucht, ist bloß ein Gegenstand, der die Wechselwirkung seiner Empfänglichkeit mit seiner Selbstthätigkeit möglich mache« (WH I, 237). Diese Wechselwirkung von Ich und Welt impliziert dabei gleichzeitig die Wechselwirkung zwischen leiblicher Empfänglichkeit und denkender und handelnder Tätigkeit: »Rein und in seiner Endabsicht betrachtet, ist sein Denken [das des Menschen; FHvW] immer nur ein Versuch seines Geistes, vor sich selbst verständlich, sein Handeln ein Versuch seines Willens, in sich frei und unabhängig zu werden [...]. Bloß weil beides, sein Denken und sein Handeln nicht anders, als nur vermöge eines Dritten, nur vermöge des Vorstellens und des Bearbeitens von etwas möglich ist, dessen eigentlich unterscheidendes Merkmal es ist NichtMensch, d.i. Welt zu seyn, sucht er, soviel Welt, als möglich zu ergreifen, und so eng, als er nur kann, mit sich zu verbinden.« (WH I, 235)

Neben dem Begriff der Wechselwirkung ist v.a. der Begriff der Arbeit für die Bildungstheorie Humboldts von zentraler Bedeutung, da er auf das Verhältnis des Ichs auf die Selbst- bzw. Widerständigkeit der Welt verweist. »Denn nur die Welt«, so Humboldt, »umfasst alle nur denkbare Mannigfaltigkeit und nur sie besitzt eine so unabhängige Selbständigkeit, dass sie dem Eigensinn unsres Willens die Gesetze der Natur und die Beschlüsse des Schicksals entgegenstellt.« (WH I, 237) Aus diesem Grund sei auch auf die verschiedenen Weisen Rücksicht zu nehmen, »wie sich die Welt in verschiedenen Individuen spiegelt« (ebd., 239). Dabei betont Humboldt ausdrücklich die besondere Rolle, die die Sprache für alle Bildungsprozesse spielt: »Der Mensch denkt, fühlt und lebt allein in der Sprache, und muss erst durch sie gebildet werden [...].« (WH III, 77)2 Damit sind Humboldts Bildungs- und Sprachphilosophie auf das Engste miteinander verwoben. Obwohl er mit dem Verweis auf die Wichtigkeit der Sprache auch die Sozialität des Menschen betont, verlegt er dabei jedoch gleichzeitig die Freiheit in »aller Radikalität« in das Individuum selbst (vgl. Borst 2011, 63):

2 | In einem Brief an Schiller erläutert er, dass die Sprache weder nur die Welt repräsentiere noch bloß ein Kommunikationsmittel sei. Vielmehr sei sie die Voraussetzung für die Wechselbeziehung von Ich und Welt: »Die Sprache stellt offenbar unsre ganze geistige Tätigkeit subjectiv [...] dar; aber sie erzeugt auch zugleich die Gegenstände, insofern sie Objecte unsres Denkens sind

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Das Problem moralischen Wissens »Ganz und gar aber hört es auf, heilsam zu sein, wenn der Mensch dem Bürger geopfert wird. [...] Daher müsste, meiner Meinung zufolge, die freieste, so wenig als möglich schon auf die bürgerlichen Verhältnisse gerichtete Bildung des Menschen überall vorangehen. Der so gebildete Mensch müsste dann in den Staat treten, und die Verfassung des Staates sich gleichsam an ihm prüfen.« (WH I, 106)

Hier kommt nochmal deutlich zum Ausdruck, dass Selbstbestimmung im Sinne Humboldts nur unabhängig von gesellschaftlichen Verhältnissen, sowie sozialen und ökonomischen Zwecksetzungen stattfinden kann (vgl. Borst 2011, 64). Eben diese Forderung nach einer Bildung, die nicht am Arbeitsmarkt ausgerichtet ist und die nicht auf wirtschaftliche Verwertbarkeit abzielt, lässt die humboldtsche Theorie noch in gegenwärtigen Bildungsdebatten anschlussfähig erscheinen. Denn wenn er für eine Bildungsorganisation plädiert, in der Allgemeinbildung und berufliche Ausbildung unterschieden werden und Staat und Politik nur die Rahmenbedingungen für die Allgemeinbildung zur Verfügung stellen, ist dieser Konzeption ein herrschaftskritisches Moment inne.3 Allerdings stößt ein solch neuhumanistischer Bildungsbegriff hier auch an Grenzen, die v.a. im Kontext der Kritischen Theorie formuliert wurden. Denn die Frankfurter Schule hat die bildungs- und erziehungswissenschaftliche Diskussion in Deutschland maßgeblich geprägt, da sie die Verantwortung für die nationalsozialistische Gewaltherrschaft nicht nur in einer faschistischen Politik, sondern in der Entmündigung von Kindern und Jugendlichen sah (vgl. ebd., 108). In diesem Zusammenhang kritisiert Theodor Adorno im Kontext seiner Theorie der Halbbildung den neuhumanistischen Bildungsgedanken, wie er sich exemplarisch bei Humboldt findet:4 »Wenn [...] Menschen, die zuweilen mit Passion und Verständnis an den sogenannten Kulturgütern partizipieren, unangefochten der Mordpraxis des Nationalsozialismus sich verschreiben konnten, so ist das nicht nur ein Index fortschreitend gespaltenen Bewußtseins, sondern straft objektiv den Gehalt jener Kulturgüter, Humanität und alles, was ihr innewohnt, Lügen, wofern sie nichts

[...] Die Sprache ist daher [...] das Mittel, durch welches der Mensch zugleich sich selbst und die Welt bildet, oder vielmehr seiner dadurch bewußt wird, daß er die Welt von sich abscheidet.« (WH V, 195 f.) 3 | Zur Organisation des Bildungswesens bei Humboldt vgl. WH I, 553 ff.; WH IV, 168 ff., 255 ff. 4 | Ich beschränke mich hier auf eine Zusammenfassung der Theorie der Halbbildung. Das ist dem Umstand geschuldet, dass es mir hier um ein angemessenes Verständnis des Bildungsbegriffs der Kritischen Theorie und damit gleichzeitig um die Kritik des Bildungsbegriffs des Neuhumanismus geht. Beide Aspekte werden besonders bei Adorno deutlich.

4. Mit Begriffen leben und in Lebensformen lernen sind als Kulturgüter. Ihr eigener Sinn kann nicht getrennt werden von der Einrichtung menschlicher Dinge. Bildung, welche davon absieht, sich selbst setzt und verabsolutiert, ist schon Halbbildung geworden.« (Adorno 1972/1959, 94 f.)

Der neuhumanistische Bildungsgedanke, dessen Verwirklichung der »bürgerlichen Gesellschaft von Freien und Gleichen« (Adorno 1972/1959, 97) entsprechen sollte, scheiterte, da das Emanzipationsinstrument des Bürgertums von Feudalstaat und Kirche zum Distinktionsmerkmal gegenüber unteren Klassen wurde (vgl. Borst 2011, 111): Die Besitzenden verfügen über das Bildungsmonopol und Verweigern den Arbeitenden die Voraussetzungen für Bildung (vgl. Adorno 1972/1959, 98 f.). Aus diesem Grund spricht Adorno auch von einem »Doppelcharakter« von Geisteskultur und realem Leben (vgl. ebd., 94 f.). Die Idee der Bildung, die immer als Bedingung einer autonomen Gesellschaft galt, wird im Sinne Adornos widersprüchlich, sobald sie einseitig entweder als Geisteskultur oder als Ausbildung bzw. Anpassung an das reale Leben verstanden wird: »Fraglos ist in der Idee der Bildung notwendig die eines Zustands der Menschheit ohne Status und ohne Übervorteilung postuliert, und sobald sie davon sich etwas abmarkten läßt und sich in die Praxis der als gesellschaftlich nützliche Arbeit honorierten partikularen Zwecke verstrickt, frevelt sie an sich selbst. [...] Der Traum der Bildung, Freiheit vom Diktat der Mittel, der sturen und kargen Nützlichkeit, wird verfälscht zur Apologie der Welt, die nach jenem Diktat eingerichtet ist. Im Bildungsideal, das die Kultur absolut setzt, schlägt die Fragwürdigkeit der Kultur durch.« (Adorno 1972/1959, 97)

Wenn sich Bildung darin erschöpft, an Kulturgütern zu partizipieren und ein Statussymbol des Bildungs- und Besitzbürgertums zu sein, dann ist sie im Sinne Adornos zur Halbbildung geworden, als der Attitüde des »Verfügens, Mitredens, als Fachmann sich Gebärdens, Dazugehörens« (ders. 1972/1959, 115). Halbbildung ist damit nicht, wie die Naivität und das Nichtwissen der Unbildung, eine Vorstufe zur Bildung, sondern ihr »Todfeind« (vgl. ebd., 104, 111). Der Halbgebildete weiß »[a]lles, was man wissen muss« (Schwanitz 2004), allerdings geht es lediglich um die »punktuelle, unverbundene, auswechselbare und ephemere Informiertheit, der schon anzumerken ist, daß sie im nächsten Augenblick durch andere Informationen weggewischt wird« (Adorno 1972/1959, 115). Kurzum: Es geht um Konformität, die dazu führt, dass auch vermeintliche Kritik lediglich als Beweis der intellektuellen Überlegenheit dient: »Damit aber ist der Geist von Halbbildung auf den Konformismus vereidigt. Nicht nur sind ihr die Fermente der Kritik und der Opposition entzogen, die Bildung im achtzehnten Jahrhundert gegen die etablierten Mächte in sich trug, sondern die Bejahung und geistige Verdopplung dessen, was ohnehin ist, wird zu ihrem eige-

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Das Problem moralischen Wissens nen Gehalt und Rechtsausweis. Kritik aber ist zur puren Schlauigkeit erniedrigt, die sich nichts vormachen läßt und den Kontrahenten drankriegt, ein Mittel des Vorwärtskommens.« (Adorno 1972/1959, 115)

Indem Adorno die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft für das Scheitern des neuhumanistischen Bildungsbegriffs verantwortlich macht, weist er gleichzeitig auf den (vermeintlichen) Widerspruch zwischen Autonomie und Heteronomie hin, der dem Bildungsbegriff inhärent ist: »Sie [die Bildung; FHvW] hat als ihre Bedingung Autonomie und Freiheit, verweist jedoch zugleich, bis heute, auf Strukturen einer dem je Einzelnen gegenüber vorgegebenen, in gewissem Sinn heteronomen und darum hinfälligen Ordnung, an der allein er sich zu bilden vermag. Daher gibt es in dem Augenblick, in dem es Bildung gibt, sie eigentlich schon nicht mehr. In ihrem Ursprung ist ihr Zerfall teleologisch bereits gesetzt.« (Adorno 1972/1959, 104)

Das Problem einer kritischen Theorie der Bildung besteht nun darin, dass die Kritik der Halbbildung nur vor dem Hintergrund des klassischen (d.h. neuhumanistischen) Bildungsbegriffs funktioniert, der hier wiederum selbst in der Kritik steht (vgl. Adorno 1972/1959, 102). In diesem Sinne ist auch Adornos Apell zu verstehen, »an der Bildung festzuhalten, nachdem ihr die Gesellschaft die Basis entzog« (ebd., 121). Bildung meint demnach »die kritische Reflexion auf die Halbbildung, zu der sie notwendig wurde« (ebd.). Ob und inwiefern Adornos Theorie der Halbbildung eine adäquate Diagnose von Bildungsprozessen in der gegenwärtigen Gesellschaft bereitstellt, muss an anderer Stelle geklärt werden. Mit Blick auf den weiteren Argumentationsverlauf dieser Arbeit ist es wichtig, beide Bildungsbegriffe zur Kenntnis zu nehmen, um später auf sie zurückkommen zu können. Denn Hegel knüpft mit seiner Bildungstheorie zwar an Humboldt an, überwindet jedoch die Dualismen von Neigung und Vernunft und Individuum und Gesellschaft, um eine kritische Theorie der Bildung vorzubereiten. 4.1.2 W  ie man Hegel besser nicht liest: Vom Paradox der Autonomie zum pädagogischen Problem und zurück Vor dem Hintergrund dieser begrifflichen Vorarbeit kann nun auf das Interpretationsangebot der modernen Hegelforschung eingegangen werden, die das Verhältnis von Selbständigkeit und Unselbständigkeit über den Begriff der Autonomie thematisiert.5 Dabei handelt es sich nicht nur seit dem Beginn der Mo-

5 | Hegel selbst benutzt diesen Begriff nie in systematischer Absicht. Wir werden noch sehen, dass das Gründe hat.

4. Mit Begriffen leben und in Lebensformen lernen

derne um eine der wichtigsten Selbstzuschreibungen des Menschen, der Begriff nimmt auch eine zentrale Stellung in der Pädagogik und Philosophie des 21. Jahrhunderts ein.6 Der Pädagogik dient er als Legitimation erzieherischen Handelns, insofern Autonomie diejenige Zielvorstellung ist, die als notwendig zur Menschwerdung betrachtet und damit gleichsam als Abgrenzung von illegitimer Indoktrination oder Machtausübung angesehen wird (vgl. Nordström 2009, 21). Ähnlich verhält es sich in der Philosophie: Hier dient der Begriff der Autonomie jedoch weniger als Zielvorstellung, sondern mehr als Begründungsinstanz für moralisches Handeln und Wissen. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass er seine für die Philosophie maßgebliche Bedeutung durch Kant erhält, wobei sich die legislatorische Formulierung von Autonomie im Sinne der Selbstgesetzgebung als paradoxal herausgestellt hat (vgl. Kap. 2.1.2).7 Obwohl wir in diesem Zusammenhang gesehen hatten, dass sich der kantische Autonomiebegriff auch nicht-paradoxal als Selbstverwirklichung reformulieren lässt, schlägt die gegenwärtige Hegelforschung ein alternatives Autonomiekonzept vor. So hat etwa Terry Pinkard in der jüngeren Vergangenheit darauf hingewiesen, dass Hegel das Paradox der Autonomie als das zentrale Problem der Ethik Kants erkannt und im berühmten Selbstbewusstseinskapitel der Phänomenologie des Geistes mithilfe der Analogie von Herr und Knecht gelöst habe:8

6 | Zur historischen Entwicklung des Autonomiegedankens vgl. Schneewind 2009/1998. Die »ungeheure Sogwirkung« des Autonomiegedankens erklärt sich dabei v.a. durch die Möglichkeit, über diesen Begriff das spannungsreiche Verhältnis von individuellem Selbst und gesellschaftlicher Ordnung zu modellieren (vgl. Honneth 2011, 36). 7 | Nicht nur die moralphilosophischen sondern auch die erziehungstheoretischen und sozialphilosophischen Debatten um den Autonomiebegriff schließen maßgeblich an Kants Position an. So wird etwa Durkheims Rezeption des kantischen Autonomiebegriffs (vgl. ders. 1984/1902) von Jean Piaget diskutiert (vgl. ders. 1979/1932, 385 ff.), der wiederum von Lawrence Kohlberg (1995) rezipiert wird. Kohlbergs Theorie der Moralentwicklung, die auf Kants Autonomiegedanken zurückgreift, wird wiederum von Habermas aufgenommen (vgl. ders. 1982/1974, 85; Meyer-Drawe 1998, 43 f.). Auch John Rawls knüpft mit seiner vertragstheoretischen Autonomiekonzeption an das kantische Autonomieverständnis an (vgl. ders. 1996/1971, 557 ff.; Nordström 2009, 206 ff.). Demgegenüber haben in den letzten Jahren v.a. kommunitaristische (vgl. Taylor 1992/1985; Sandel 1998; MacIntyre 1999) und feministische (vgl. Mackenzie/Stoljar 2000) Positionen auf die Defizite liberaler und individualistischer Autonomiekonzeptionen in der Tradition Kants hingewiesen, die zum Teil unter dem Titel »relational autonomy« diskutiert werden (vgl. Nordström 2009). 8 | Zur ausführlichen Diskussion vgl. Khurana/Menke 2011.

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Das Problem moralischen Wissens »It is probably not going too far to say that Hegel viewed the ›Kantian Paradox‹ as the basic problem that all post-Kantian philosophies had to solve; and the solution had to be to face up to the paradox and to see how we might make it less lethal to our conception of agency while still holding onto it, all in terms of integrating it into in fact livable and conceivable. [...] Hegel’s resolution of the Kantian paradox was to see it in social terms. Since the agent cannot secure any bindingness for the principle simply on his own, he requires the recognition of another agent of it as binding on both of them.« (Pinkard 2002, 226 f.)

Nach Pinkard löst Hegel das Paradox der Autonomie einfach auf, indem er es in sozialen Termini reformuliert. Autonomie wird demnach durch die gegenseitige Anerkennung der Akteure konstituiert: Da jeder Handelnde eine Maxime wählt und vom jeweils Anderen die Anerkennung fordert, führe dies zu einem Kampf um Anerkennung (»struggle for recognition«; vgl. Pinkard 2002, 227).9 Die scheinbare Lösung besteht zunächst darin, dass am Ende des Kampfes der eine der Urheber des Gesetzes ist (der Herr), der andere dem Gesetz unterworfen ist (der Knecht). Weil sich das Paradox auf diese Weise jedoch nicht auflöst, zeige sich, so Pinkard, dass normative Autorität eine soziale Angelegenheit ist, die auf dem Willen beider beruht (vgl. ders. 2002, 229). Allerdings kann diese Antwort nur für einen Augenblick befriedigen, wie Sebastian Rödl ausführt: »Es ist klar, dass dein Akt mich nicht binden kann, es sei denn, hinter ihm steht ein Gesetz, dass ihn autorisiert. Dieses Gesetz soll dasjenige sein, das ich dir gebe. Dem unterstehst du jedoch nur, wenn mein Akt dich binden kann, was er nur tun kann, wenn hinter ihm ein Gesetz steht, das ihn autorisiert. Nun soll umgekehrt dieses Gesetz dasjenige sein, das du mir gibst. Aber wir versuchen erst zu verstehen, wie es möglich ist, dass du mir ein Gesetz gibst. Wenn man sich nicht am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen kann, helfen zwei im Sumpf versinkende sich nicht, indem sie einander an den Haaren packen.« (Rödl 2011b, 96)

Eine mögliche Antwort und Erweiterung dieser Angriffslinie könnte nun zunächst darin bestehen, die horizontale Dimension gegenseitiger Anerkennung um eine vertikale Dimension zu erweitern. Autonomie würde dann nicht bloß als das Ergebnis wechselseitiger Anerkennung von einzelnen Personen, sondern als Ergebnis historischer (vgl. Pinkard 2002, 229 ff.) und individueller Lernprozesse

9 | Pinkard ist mit seiner Lesart nicht allein. So geht etwa auch Robert Brandom davon aus, dass Hegel das Paradox der Autonomie durch gegenseitige Anerkennung löst (vgl. Brandom 2009, 78 ff.; ders. 2002). Zu den verschiedenen Lesarten des Selbstbewusstseinskapitels der Phänomenologie des Geistes s.u.

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verstanden werden.10 Auf diese Weise droht das Paradox der Autonomie jedoch als pädagogisches Paradox zurückzukehren, denn es wäre immer noch nicht geklärt, wie Autonomie als Ergebnis eines Lernprozesses gedacht werden kann. In der Erziehungstheorie Immanuel Kants lässt sich ein historischer Kristallisationspunkt ausmachen, der dieses Spannungsverhältnis auf den Punkt bringt. Denn hier dient der Begriff der Autonomie nicht als Begründungsinstanz für moralisches Handeln, sondern als pädagogische Zielvorstellung. Kant hat sich dabei mit der Frage auseinandergesetzt, ob sich Erziehung und Autonomie nicht kategorisch ausschließen: »Eines der größten Probleme der Erziehung ist, wie man die Unterwerfung unter den gesetzlichen Zwang mit der Fähigkeit, sich seiner Freiheit zu bedienen, vereinigen könne. Denn Zwang ist nötig! Wie kultiviere ich die Freiheit bei dem Zwange? Ich soll meinen Zögling gewöhnen, einen Zwang seiner Freiheit zu dulden, und soll ihn selbst zugleich anführen, seine Freiheit gut zu gebrauchen. Ohne dies ist alles bloßer Mechanism, und der der Erziehung entlassene weiß sich seiner Freiheit nicht zu bedienen.« (Päd., 711)

Dieses moralpädagogische Legitimitätsparadigma wurde in Anschluss an diese Formulierung oft als pädagogisches Paradox verstanden, welches die Normativität von Erziehung betrifft und nach pädagogischen und moralphilosophischen Antworten verlangt (vgl. Nordström 2009, 22 f.). Schließlich kann man weder jemanden dazu bringen noch ihn zwingen, frei zu sein. Denn wer mich zur Freiheit bringen will, muss mich in irgendeiner Art und Weise gängeln oder in Unfreiheit setzen (vgl. Luckner 2003, 74). Letztlich würde dies nur in einen performativen Widerspruch führen, der sich in der Aufforderung zur Freiheit ausdrückt: »Sei selbständig!« Kant zeigt deswegen in seiner Vorlesung Über Pädagogik, dass es sich bei der Erziehung zur Freiheit nicht um ein pädagogisches Paradox im eigentlichen Sinne, sondern vielmehr um ein pädagogisches Problem handelt – wie

10 | Christoph Menke bezeichnet Interpretationen, denen zufolge bei Hegel Autonomie durch Autonomie gewonnen wird, linkshegelianisch: »Linkshegelianismus heißt, die Geschichte als einen Lernprozess zu verstehen, der unter Voraussetzung von Autonomie Autonomie zum Ergebnis hat.« (Ders. 2011, 169) Dabei nennt er exemplarisch Robert Brandom und Robert Pippin als Stellvertreter solcher Lesarten und betont gleichzeitig, dass Hegel selbst den Schritt über den Linkshegelianismus hinaus vorbereitet hat. Menkes (berechtigte) Kritik an den Lesarten Brandoms und Pippins kann an dieser Stelle nicht weiter diskutiert werden. Auf das Problem des Erlernens von Selbständigkeit im Kontext der Geschichtlichkeit wird im Folgenden aber noch weiter eingegangen werden.

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er in dem Zitat auch schreibt.11 Der erzieherische Zwang darf nur um die Sorge des Zöglings stattfinden, kann aber Autonomie selbst nicht bewirken, da dies paradoxal wäre. Da Autonomie und moralisches Wissen nicht heteronom vorgegeben werden können, ist es Ziel des Erziehungsprozesses den Menschen dazu zu befähigen seine natürlichen Anlagen soweit zu entwickeln, um sich selbst autonom zu machen.12 Das Erlernen von Autonomie kann also im Sinne Kants weder mit dem »erhobenen Zeigefinger« noch durch die »Moralkeule« gelingen (vgl. ebd., 76).13 Auf das Problem des Erlernens von Selbständigkeit bzw. Autonomie und moralischem Wissen werden wir später wieder zurückkommen. Wichtig ist hier zunächst, dass Autonomie und damit auch moralisches Wissen weder als Ergebnis von Anerkennungsprozessen konzeptualisiert werden können noch als Ergebnis von Lernprozessen, bei denen die Selbständigkeit einer Person vorausgesetzt wird, um sie einer anderen Person beizubringen. So scheint es in letzter Konsequenz Pinkards eigene Hegel-Interpretation, die in die Paradoxien der Autonomie führt. Obwohl seine Lesart offenkundig inkonsistent ist, möchte ich im Folgenden dafür argumentieren, dass Hegel das Problem in der Tat bei Kant gesehen und im Selbstbewusstseinskapitel der Phä-

11 | Obwohl die Wirkung der Aufklärungsschriften Kants auf die Pädagogik immens war, hat er ihr kein eigenes Werk gewidmet. Die Vorlesung Über Pädagogik wurde zwar noch 1803 zu seinen Lebzeiten veröffentlicht, doch handelt es sich um eine von seinem Schüler D. Friedrich Theodor Rink herausgegebene und editorisch problematische Zusammenstellung aus Manuskripten Kants (vgl. Luckner 2003, 72). 12 | »Was der Mensch im moralischen Sinn ist, oder werden soll, gut oder böse, dazu muß er sich selbst machen, oder gemacht haben. Beides muß eine Wirkung seiner freien Willkür sein; denn sonst könnte es ihm nicht zugerechnet werden, folglich er weder moralisch gut noch böse sein. Wenn es heißt: er ist gut geschaffen, so kann das nichts mehr bedeuten, als er ist zum Guten erschaffen, und die ursprüngliche Anlage im Menschen ist gut; der Mensch ist es selber dadurch noch nicht, sondern, nachdem er die Triebfedern, die diese Anlage enthält, in seine Maxime aufnimmt, oder nicht [...], macht er, daß er gut oder böse wird.« (Rel., 694) Und: »Die Vorsehung hat gewollt, daß der Mensch das Gute aus sich selbst herausbringen soll, und spricht, so zu sagen, zum Menschen: ›Gehe in die Welt,‹ – so etwa könnte der Schöpfer den Menschen anreden! – ›ich habe dich ausgerüstet mit allen Anlagen zum Guten. Dir kömmt es zu, sie zu entwickeln, und so hängt dein eignes Glück und Unglück von dir selbst ab‹.« (Päd., 702) 13 | An einigen wenigen Stellen seiner Vorlesung sagt Kant, wie genau diese »Moralisierung« vonstatten gehen muss. Dazu gehört zunächst, den Zöglingen

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nomenologie des Geistes einen anschlussfähigen Lösungsvorschlag gemacht hat. Allerdings darf man ihn nicht in der konstitutionstheoretischen Lesart Pinkards interpretieren, nach der Autonomie bzw. Selbständigkeit durch gegenseitige Anerkennung hergestellt wird. Denn ein solcher Ansatz muss zirkulär bleiben. Hegel selbst verwahrt sich entsprechend gegen diese Lesarten, wie er später in der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften schreibt: Einen Kampf um Anerkennung kann es in der bürgerlichen Gesellschaft nicht geben, »weil daselbst dasjenige, was das Resultat jenes Kampfes ausmacht, nämlich das Anerkanntsein, bereits vorhanden ist« (TW 10, § 432 Z).14 Hegel muss also etwas anderes meinen. Eine genauere Analyse der relevanten Textstellen wird eben dies bestätigen. Dabei gehört das Kapitel »Die Wahrheit der Gewißheit seiner selbst« zusammen mit dem Unterkapitel »Selbständigkeit und Unselbständigkeit des Selbstbewußtseins; Herrschaft und Knechtschaft« in der Tat zu den schwierigsten und am kontroversesten interpretierten und diskutierten Abschnitten der Phänome-

ihre moralischen Pflichten durch »Beispiele und Anordnungen bei[zu]bringen« (Päd., 749), dann aber auch darauf zu achten, dass sie »dieselben zur Ausübung bringe[n]« (ebd., 750). Kant betont hier einerseits die Einübung von Handlungsweisen und den dazugehörigen Überzeugungen, andererseits jedoch die Wichtigkeit durch Widerstandserfahrungen (vgl. ebd., 740, 742, 750) und begründete Auseinandersetzungen wie beispielsweise im sokratischen Dialog (vgl. ebd., 737) zu lernen. Seine zentrale Einsicht lautet also: Autonomie kann nicht pädagogisch bewirkt, sondern muss anhand von Widerstandserfahrungen bzw. in der (begründeten) Auseinandersetzung mit anderen Menschen gelernt werden. So modern die kantische Pädagogik in vielen und gerade in diesen Punkten sein mag: Die Behauptung, dass sich Vernunfterkenntnisse aus einem Menschen »herausholen« ließen (vgl. ebd.) oder dass es bei der Erziehung darum ginge »Naturanlagen« zu entwickeln (vgl. ebd., 704 f.), wird, wie bereits oben erwähnt, seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert in Frage gestellt. 14 | Der Ausdruck »Kampf um Anerkennung« ist in der gegenwärtigen Forschung v.a. durch die Arbeiten von Axel Honneth prominent geworden (vgl. ders. 2012/1994). Demnach nimmt Hegel Fichtes Theorie der Anerkennung auf, um sie vor dem Hintergrund des von Thomas Hobbes im Leviathan entwickelten Modells des Kampfes aller gegen alle konflitktheoretisch zu dynamisieren (vgl. ebd., 31; Hobbes 2008/1651). Auf diese Weise, so Honneth, wendet sich Hegel gegen naturrechtliche Ansätze, die von fiktiven anthropologischen Bestimmungen und individualistischen Handlungskonzepten ausgehen, um eine vernünftige bzw. gerechte Gesellschaftsordnung zu entwickeln. Mit der Umdeutung der Fichteanischen und Hobbesschen Theorieansätze

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nologie des Geistes.15 Zunächst ist hier jedoch nicht direkt Autonomie, sondern Selbstbewusstsein das Thema. Inwiefern beide Begriffe zusammenhängen, muss im Folgenden noch geklärt werden. Denn mit dem Begriff des Selbstbewusstseins wird in der neuzeitlichen Philosophie zunächst das Problem thematisiert, wie sich das Subjekt erkennend auf das eigene objektbezogene Erkennen (und

würde Hegel eine »epochale Neufassung« des Begriffs des sozialen Kampfes einleiten, in dem Konflikte als Bewegungsmomente des gesellschaftlichen Zusammenlebens verstanden werden und moralische Spannungen im Bereich des Sozialen integriert sind (vgl. Honneth 2012/1994, 32). Während Honneth mit der Kritik am Naturrechtsdenken eine wichtige Pointe der hegelschen Theorie einfängt und – wie noch zu zeigen sein wird – ebenfalls richtig sieht, dass Hegel soziale Konflikte als Bewegungsmomente des gesellschaftlichen Zusammenlebens auffasst, scheint seine Rekonstruktion der Anerkennungstheorie jedoch gerade aus hegelianischer Perspektive problematisch zu sein. Andreas Luckner macht daher zu Recht darauf aufmerksam, dass der Ausdruck »Kampf um Anerkennung« nicht direkt in der Phänomenologie des Geistes vorkommt, sondern auf die deutsche Teilübersetzung des Hegel-Kommentars von Alexandre Kojève durch Iring Fetscher zurück geht (vgl. Luckner 1995, 144; Fn. 14; Kojève 1975/1947). Allerdings benutzt Hegel innerhalb der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften den Ausdruck expressis verbis: Während der Kampf um Anerkennung nur in einem fiktiven Naturzustand stattfinden kann, kommen der Zweikampf und der Kampf des Anerkennens in der bürgerlichen Gesellschaft vor (vgl. TW 10, § 432, § 432 Z, § 433). In Hegels Sinn kann es daher einen realen Kampf um Anerkennung nicht geben, da Anerkennung erst die Voraussetzung eines Kampfes ist: Eine wechselseitige Anerkennungsbeziehung kann nicht gestiftet werden, da es keinen Punkt außerhalb der Anerkennungsbeziehung geben kann (vgl. Luckner 1995, 151). Aber auch unabhängig von der Metaphorik des Kampfes betont Hegel, dass eine konstitutionstheoretische Lesart von Anerkennung problematisch ist. So heißt es etwa in der Rechts-, Pflichten- und Religionslehre für die Unterklasse: »Anerkennen hat nicht den Grund der Gegenseitigkeit. Ich anerkenne es nicht darum, weil du es anerkennst und umgekehrt, sondern [der] Grund dieses gegenseitigen Anerkennens ist die Natur der Sache selbst. Ich anerkenne den Willen des anderen, weil er an und für sich anzuerkennen ist.« (TW 4, 237) 15 | Im Zentrum der wissenschaftlichen Auseinandersetzung steht dabei eben jene berühmte Metaphorik von Herr und Knecht. In der gegenwärtigen Forschungslandschaft lassen sich v.a. zwei unterschiedliche Interpretationsstrategien unterscheiden: Die interpersonale Lesart geht davon aus, dass Hegel mit der Analogie auf das soziale (Anerkennungs-)Verhältnis verschiedener Personen anspielt. In Anschluss an die marxistischen Interpretationen von

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andere subjektive Vollzüge) beziehen kann (vgl. Gehtmann 2004, 755): »Ich hat als urteilend einen Gegenstand, der nicht von ihm unterschieden ist – sich selbst; Selbstbewußtsein.« (TW 10, § 423) Damit knüpft Hegel an eine Theorietradition an, die seit Descartes im Selbstbewusstsein den methodischen Ausgangspunkt aller wissenschaftlichen und philosophischen Begründungsleistungen sieht (vgl. Gehtmann 2004, 755 f.). Im Selbstbewusstseinskapitel der Phänomenologie des Geistes – darin ist sich die moderne Forschung weitestgehend einig – sucht er dabei in Anschluss an Fichte einen Weg, den Aporien der dualistischen Erkenntnis- und Selbstbewusstseinstheorie Immanuel Kants zu entgehen: Denn Kant unterscheidet zwischen dem transzendentalen Selbstbewusstsein als »bloß intellektuelle Vorstellung der Selbsttätigkeit des denkenden Subjekts« (KrV, B 278), und dem empirischen Selbstbewusstsein als Selbsterkenntnis, »nicht wie ich vor dem Verstande bin, sondern wie ich mir erscheine« (ebd., B 155). Während das empirische Selbstbewusstsein der Psychologie zuzuordnen ist, kommt dem transzendentalen Selbstbewusstsein, als der Möglichkeitsbedingung von Gegenstandsbewusstsein,

Alexandre Kojève (1975/1947) und Georg Lukács (1948) dürfte es sich dabei bis heute um die am weitesten verbreitete Lesart handeln. Neben Terry Pinkard (2002) und Robert Brandom (2002; 2009) wird sie exemplarisch etwa auch von Werner Becker (1972), Charles Taylor (1975), Robert Pippin (2010) oder Ludwig Siep (2000) vertreten. Neben solchen Interpretationen, die Wert auf exegetische Genauigkeit legen, knüpfen auch transformative Lesarten an die interpersonale Interpretation an, die Hegels Überlegungen für ihre eigene Forschung fruchtbar machen wollen. Die prominenteste ist die oben bereits erwähnte von Axel Honneth (2012/1994), die sich allerdings auf Hegels frühere Jenaer Schriften bezieht. Die intrapersonale Lesart interpretiert die Analogie dagegen als Verhältnis von Leib und Seele, Denken und Handeln bzw. empirischem und transzendentalem Subjekt. Vor allem die Leipziger Hegelschule um Christoph Hubig (1985), Andreas Luckner (1994) und Pirmin Stekeler-Weithofer (2005; 2008; 2014a) zählt zu den Vertretern dieses Interpretationsansatzes. Auch John McDowell (2003) vertritt eine solche – wie er selbst sagt – »unorthodoxe« Lesart des Verhältnisses von Herrschaft und Knechtschaft. Je nach Interpretation müssen sich aber beide Perspektiven aber nicht ausschließen. So schreibt etwa Hans Heinz Holz: »[Hegel] sieht im Herr-Knecht-Verhältnis zunächst eine Bewußtseinsform, das heißt die Figur einer ineinander verschränkten Abhängigkeit verschieden tätiger Bewußtseinsgestalten, die erst sekundär als Bild einer arbeitsteiligen Gesellschaft verstanden wird. Die Figur des Bewußtseins erscheint aber bei Hegel als das Vorbild, das sich in dieser Gesellschaftsform ausprägt, nicht als das Abbild, das von ihr geprägt wird.« (Ders. 1968, 24 f.; vgl. zur Möglichkeit eines integrativen und ergänzenden Verständnisses der Metaphorik auch Hubig 2012, 26).

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auch philosophische Bedeutung zu: Denn für Kant besteht alles Erkennen in der Synthesis von Vorstellungen (Anschauungen oder Begriffen) zu einer Einheit, welche nur durch die Spontaneität der Verstandeshandlung vollbracht werden kann, da es sich bei der Sinnlichkeit um ein rein rezeptives Erkenntnisvermögen handelt (vgl. ebd., B 129 f.). Da nun das transzendentale Selbstbewusstsein die Quelle dieser Synthesis ist, kann es selbst nicht Gegenstand dieser Synthesis sein. »Das: Ich denke, muß alle meine Vorstellungen begleiten können« (ebd., B 131 f.), ohne als Gegenstand der Erkenntnis angesprochen werden zu können. Hegel hält es nun, wie er in der Wissenschaft der Logik betont, für eine der »tiefsten und richtigsten Einsichten« Kants, über das äußerliche Verhältnis des Begriffs und des Verstandes als Vermögen der Begriffe zum Ich hinausgegangen zu sein (vgl. TW 6, 254). Ferner habe auch Kant schon die »Unbequemlichkeit«, dass wir uns jederzeit schon des Ichs bedienen müssen, um von ihm urteilen zu können, gesehen (vgl. ebd., 489). Da er jedoch auf dem epistemischen Gefälle von Anschauung und Begriff beharrt, bleibe er bei der Vorstellung des Ichs stehen, ohne es begreifen zu können (vgl. ebd., 255 f.).16 Das Ich, so Hegel, begleitet jedoch nicht meine Vorstellungen, Empfindungen, Begierden, Handlungen usw. Vielmehr sei das Ich das Denken als Subjekt, welches in meinen Empfindungen, Vorstellungen, Zuständen usw. ist (vgl. TW 8, § 20). Hegel verwirft somit die »gewöhnliche« Bedeutung des Denkens, nach der es als ein Vermögen neben anderen Vermögen (etwa Sinnlichkeit, Anschauen, Phantasie, Begehren, Wollen usw.) besteht (vgl. ebd.).17 Um diesen Zusammenhang erläutern zu können möchte ich an die-

16 | Innerhalb der Wissenschaft der Logik, in der Hegel gegen Kant zu zeigen beansprucht, dass die Synthesis nicht erst im Urteil, sondern schon im Begriff stattfindet (vgl. Kap. 3.4.1), greift er ebenfalls das Motiv der ursprünglichsynthetischen Einheit der Apperzeption auf. Die Einheit des transzendentalen und empirischen Selbstbewusstseins macht für Hegel das Wesen des Begriffs aus: »Ich habe wohl Begriffe, d.h. bestimmte Begriffe, aber Ich ist der reine Begriff selbst, der als Begriff zum Dasein gekommen ist.« (TW 6, 253) Wie Rolf-Peter Horstmann bemerkt, erklärt Hegel sowohl in der Phänomenologie des Geistes als auch in der Wissenschaft der Logik seine Begriffstheorie durch Termini wie Ich, Selbstbewußtsein oder Geist (vgl. ders. 1990, 65 f.). Denn für ihn hat das begreifende Denken dieselbe epistemische Funktion wie Kants synthetische Einheit der Apperzeption: »Das Denken als die Tätigkeit ist somit das tätige Allgemeine, und zwar das sich betätigende, indem die Tat, das hervorgebrachte, eben das Allgemeine ist. Das Denken als Subjekt vorgestellt ist Denkendes, und der einfache Ausdruck des existierenden Subjekts als Denkenden ist Ich.« (TW 8, § 20; vgl. dazu auch McDowell 2003) 17 | Hegel, so betont Franz Knappik, übernimmt dabei zunächst die cartesische Auffassung von der Einheit der geistigen Vermögen im (begrifflichen)

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ser Stelle vorschlagen, Hegels Interpretation der aristotelischen Seelenlehre zum besseren Verständnis seiner Argumentation heranzuziehen.18 Eine aristotelische Ausdeutung des Selbstbewusstseinskapitels der Phänomenologie des Geistes mag zwar gewagt erscheinen, sie wird aber durch die Quellenlage gestützt und ermöglicht eine textnahe Rekonstruktion der hegelschen Argumentation.19 Aus diesem Grund werde ich zunächst so weit wie nötig, aber so detailliert wie möglich auf Hegels Interpretation (oder besser: Uminterpretation) von De anima aus seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie eingehen, um anschließend eine adäquate Interpretation des Selbstbewusstseinskapitels anbieten zu können. Im Kontext seiner aristotelischen Kritik an der zeitgenössischen Vermögenspsychologie, so wird sich zeigen, begreift Hegel Selbständigkeit und Unselbständigkeit nicht mehr als Eigenschaften von Personen. Auf diese Weise löst er nicht nur das (Binnen-)Verhältnis von Spontaneität und Rezeptivität und Autonomie und Heteronomie, sondern bereitet auch einen anschlussfähigen Wissensbegriff vor. 4.1.3 Eine historische Vergegenwärtigung in hermeneutischer Absicht Hegels Interpretation der aristotelischen Seelenlehre aus den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie zu einem besseren Verständnis der Phänomenologie des Geistes heranzuziehen, scheint auf den ersten Blick hochproblematisch. Denn die von Karl Ludwig Michelet posthum besorgte Ausgabe beruht auf verschiedenen Quellen, die – mit Ausnahme einer Niederschrift Hegels aus der Jenaer Zeit – auf seine spätere Schaffensperiode an der Berliner Humboldt-Universität zurückgehen. Die Quellenlage scheint dies jedoch zu rechtfertigen: Denn dass Hegel nicht nur stark von der aristotelischen Philosophie im Allgemeinen

Denken, die er gegen die neuzeitliche Vermögenspsychologie im Allgemeinen und Kants Dualismus von Anschauung und Begriff im Besonderen geltend macht (vgl. Knappik 2013, 384): »Was aber bin ich demnach? Ein denkendes Ding! Und was heißt das? Nun, – ein Ding, das zweifelt, einsieht, bejaht, verneint, will, nicht will und das auch Einbildung und Empfindung hat.« (Med., 21) Allerdings kritisiert Hegel in den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie die cartesische These, wonach das Denken bzw. die Seele und der Leib »zwei Dinge« sind (vgl. TW 20, 157). 18 | Dieser Interpretationsansatz wurde mittlerweile ebenfalls in Heusinger von Waldegge 2017 veröffentlicht. 19 | Auch Stekeler-Weithofer sieht übrigens Parallelen von Hegels Anthropologie zur aristotelischen Seelenlehre und betont ganz ausdrücklich, dass sie Hegels Überlegungen über Herrschaft und Knechtschaft erhellen (vgl. ders. 2010, 228). Allerdings arbeitet er diese Überlegungen nicht detaillierter aus.

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und ihrer Seelenlehre im Besonderen beeinflusst war, sondern auch die Wende in der Beurteilung von Aristoteles als Empiriker herbeigerufen hat, wird zunächst von seinen Zeitgenossen überliefert.20 Daneben gibt auch er selbst immer wieder explizit oder implizit Zeugnis von seiner Wertschätzung für das Werk Aristoteles und dessen Einfluss auf das eigene Denken.21 Der aristotelischen Seelenlehre schenkt Hegel dabei nicht nur aus historischem, sondern auch aus systematischem Interesse besondere Aufmerksamkeit. Wie Horst Seidl bemerkt, beziehen sich die häufigen direkten und indirekten Verweise im Werk Hegels v.a. auf De anima III 4-5 und Metaphysik XII 1-2, 6, 7 und 9 (vgl. ders. 1986, 209). Bei den betreffenden Lehrstücken handelt es sich um den Übergang von Potenz zu Akt (δύναμις und ε νέργεια, bzw. ε ντελέχεια), die Identität zwischen Erkennendem und Erkanntem (νοου ν und νοούμενον), den passiven und aktiven Nus (νους ποιητικός und νους παθητικός) und um das Motiv des »Denken des Denkens« (νόησις νοήσεως). In der zweiten Auflage der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften von 1827 stellt Hegel die »Philosophie des Geistes«, der auch die Theorie des (Selbst-) Bewusstseins angehört (vgl. TW 10, §§ 424-437), ganz ausdrücklich in die Tradition der aristotelischen Seelenlehre: »Die Bücher des Aristoteles über die Seele mit seinen Abhandlungen über besondere Seiten und Zustände derselben sind deswegen noch immer das vorzüglichste oder einzige Werk von spekulativem Interesse über diesen Gegenstand. Der

20 | Einen Überblick über die Quellenlage gibt Walter Kern (vgl. ders. 1971, 243; Fn. 36). In der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften wendet sich Hegel ganz explizit gegen die empiristischen Aristoteles-Interpretationen seiner Zeitgenossen: Fälschlicherweise, so Hegel, wird der Satz »nihil est in intellectu, quod non fuerit in sensu« Aristoteles zugeschrieben. Für die spekulative Philosophie gelte aber ebenso der Grundsatz: »nihil est in sensu, quod non fuerit in intellectu« (TW 8, § 10) – und eben dieses Motiv findet er auch bei Aristoteles (vgl. TW 19, 214 f.). Selbst sein Widersacher Adolf Trendelenburg musste in seiner Antrittsrede an der Berliner Universität am 13. Mai 1833 eingestehen, dass Hegel seinerzeit die Wende in der Beurteilung der aristotelischen Philosophie als naiven Empirismus herbeigeführt hat. Dabei bezog sich Trendelenburg unmittelbar auf Hegel, jedoch ohne dessen Namen direkt zu nennen: »Dieses Vorurteil ist zuerst auf der Berliner Universität zerstreut worden.« Allerdings wolle er, Trendelenburg, »Aristoteles aus Aristoteles verstehen« und nicht das »Eigene mit dem Fremden« vermischen, wie er in der ersten kritischen Ausgabe von De anima aus demselben Jahr gegen die »Hegelei« gewandt schreibt (vgl. Kern 1961, 85 f.). Trendelenburg weist damit unmittelbar auf die Uminterpretation hin, die Hegel an der aristotelischen Seelenlehre vornimmt (s.u.). 21 | Vgl. etwa TW 19, 132 f.

4. Mit Begriffen leben und in Lebensformen lernen wesentliche Zweck einer Philosophie des Geistes kann nur der sein, den Begriff in die Erkenntnis des Geistes wieder einzuführen, damit auch den Sinn jener Aristotelischen Bücher wieder aufzuschließen.« (TW 10, § 378)

Auch am ganz am Ende der »Philosophie des Geistes« verweist er auf Aristoteles Theorie des νους (allerdings bezieht er sich dabei auf dessen Metaphysik),22 sodass die aristotelische Seelenlehre eine Klammer bildet, »durch die Hegel seine gesamte Philosophie des Geistes umgriffen wissen möchte« (Dangel 2013, 156). Während seiner späten Berliner Zeit sagt Hegel also ganz explizit, dass seine Theorie des Selbstbewusstseins (und damit auch die Dialektik von Herr und Knecht) aristotelisch beeinflusst ist. Das ist bei der Phänomenologie des Geistes, die 1807 erschien, nicht der Fall. Allerdings spricht die Quellenlage erstens deutlich dafür, dass er schon zu dieser Jenaer Zeit stark durch die aristotelische Seelenlehre beeinflusst war und er dabei zweitens dieselbe oder zumindest eine sehr ähnliche Aristoteles-Interpretation vertreten hat wie in den späteren Berliner Vorlesungen.23 Aus diesem Grund wird hier zunächst dargestellt, wie Hegel die aristotelische Seelenlehre in seinen Berliner Vorlesungen uminterpretiert. Anschließend können die einschlägigen Passagen aus dem Selbstbewusstseinskapitel der Phänomenologie des Geistes angemessen interpretiert werden. In seinen Vorlesung konzentriert sich Hegel dabei hauptsächlich auf die aristotelische Theorie der Wahrnehmung (αι σ  θησις, was er meistens mit »Empfindung« übersetzt) und die Lehre vom νους (den er mit »Verstand«, manchmal auch mit »Denken« übersetzt). In der Deutung der Wahrnehmungslehre orientiert sich Hegel v.a. an den Kapiteln B 5, B 12 und G 2 aus De anima, welche nicht die einzelnen Wahrnehmungsvermögen, sondern den Begriff der Wahrnehmung thematisieren (vgl. Dangel 2013, 187). Dabei betont er zu Recht, dass in der aris-

22 | Dabei handelt es sich um den Textauszug Met. XII 7, 1072b18-30, in dem es um das Denken des Denkens und die Identität von Denken und Leben als selbstzweckhafter Tätigkeit geht (zum Begriff des Lebens s.u.). Auch Erich Frank betont Hegels Bezugnahme auf diese Textstelle ganz explizit und betont, »daß das eigentümliche und allgemeine Wesen philosophischer Spekulation von Aristoteles in diesen Worten so endgültig formuliert worden sei, daß er, Hegel, nicht glaubt es besser ausdrücken zu können« (ders. 1927, 610). 23 | Folgende Indizien lassen sich diesbezüglich festmachen: Hegel hat in seinem akademischen Leben insgesamt neunmal über die Geschichte der Philosophie gelesen (1805/06 in Jena, 1816/17 und 1817/18 in Heidelberg und 1819, 1820/21 sowie die Wintersemester von 1823/24 bis 1829/30 in Berlin) und De anima dabei jedes Mal ausführlich, mit eigener Übersetzung und eigenem Kommentar abgehandelt (vgl. Ferrarin 2001, 246). Drei Übersetzungen

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totelischen Wahrnehmungstheorie Aktivität und Passivität bzw. Rezeptivität und Spontaneität zusammen gedacht werden: »›Das Empfinden ist Überhaupt eine Möglichkeit‹, – eine Rezeptivität, würden wir sagen; aber diese Möglichkeit oder Rezeptivität ist nicht als eine Passivität zu begreifen, ist auch Aktivität. ›Passivität und Tätigkeit ist eines und desselben‹, oder: ›Die Passivität ist selbst auf eine doppelte Weise. Eine Passivität ist entweder ein Verderben, Verschwinden durchs Entgegengesetzte; eine andere Passivität ist Erhalten (σωτηρία) vielmehr dessen, was nur der Möglichkeit nach ist, durch das, was der Wirksamkeit nach ist. So ist es mit der Erwerbung der Wissenschaft, es ist eine Passivität, insofern eine Veränderung in einer entgegengesetzten Gewohnheit vorgeht; aber es ist dann auch eine Passivität, worin das nur als Möglichkeit Gesetzte erhalten wird. Es gibt eine Veränderung, die privativ ist, und eine, die auf die Natur und bleibende Wirksamkeit (Kraft und Gewohnheiten, ἕξις) geht. Die erste Veränderung des Empfindenden geschieht daher von dem die Empfindung Erzeugenden‹ (in der Empfindung unterscheidet man die Veränderung, und

von De anima III 4-5 sind erhalten. Eine aus der Nürnberger, eine aus der Heidelberger, und eine aus der Berliner Zeit. Die Nürnberger Übersetzung wurde von Walter Kern zunächst fälschlicherweise auf das Jahr 1805 datiert. Zwar ist sie erst nach der Phänomenologie des Geistes entstanden, doch weist Kern schon hier auf eine Umdeutung Hegels »im Sinne seiner Systemdialektik« hin. Gleichzeitig, so Kern, spricht die Übersetzung für eine jahrzehntelange und ernsthafte Beschäftigung mit dem Text (vgl. ders. 1961, 63; 87). Diese Einschätzung wird auch durch die Vorlesung von 1805/06 bestätigt. Zwar ist dazu keine eigene Übersetzung erhalten, doch bezeugt der Jenaer Schüler G.A. Gabler (der 1835 auf Hegels Berliner Lehrstuhl folgte) 1832 über das Studium bei Hegel, dass er »die wichtigsten Aufschlüsse schon vor 26 Jahren [also um 1806; FHvW] von ihm vernahm. Hegel hatte schon damals das Tiefste und Beste aus der Quelle selbst geschöpft.« (Zitiert nach Kern 1971, 241 f.) Dass Hegel schon während der Arbeit an der Phänomenologie des Geistes von Aristoteles beeinflusst war, deckt sich auch mit dem Eindruck des Zeitgenossen und Hegelbiographen Rudolph Haym: »[S]oviel ist gewiß, daß er [gemeint ist Hegel; FHvW] nicht nur in der Art und Weise seiner Schematik, sondern auch in der Formulirung [sic!] auf’s bestimmteste zu aristotelisiren [sic!] begann.« (Ders. 1857, 225 f.) Ganz in diesem Sinne konstatiert auch die moderne Forschung aristotelische Motive innerhalb der Phänomenologie des Geistes. Sowohl Walter Kern als auch Alfredo Ferrarin weisen darauf hin, dass sich Hegels Vernunftbegriff aus der Vorrede mit seiner Interpretation des aristotelischen νοῦς-Begriff aus den späteren Vorlesungen über De anima deckt (vgl. Kern 1971, 255; Ferrarin 2001, 409).

4. Mit Begriffen leben und in Lebensformen lernen was geschieht, von dem, was die Empfindung erzeugt, dies ist die Passivität der Empfindung); ›wenn sie aber erzeugt ist, so wird die Empfindung besessen (ἔχει) wie ein Wissen‹, ebensosehr Spontaneität. Es sind so zwei Seiten: die eine die Passivität und die andere, nach der die Empfindung im Besitz der Seele ist; und nach dieser Seite, der Tätigkeit, verhält sich das Empfinden wie das Erkennen (θεωρεῖν). Die Einwirkung von außen, eine Passivität, ist das Erste; nachher tritt aber Tätigkeit ein.« (TW 19, 205)

Hegel deutet in diesem Zitat bereits an, dass Aristoteles zwischen dem Substantiv der Wahrnehmung (αι σ  θησις), der Substantivierung des Wahrnehmens (αι σθάνεσθαι) und dem Wahrnehmungsvermögen (αίσθητικόν) unterscheidet (vgl. De an. II 5, 417a6-14). Ferner weist er auf den Zusammenhang mit der aristotelischen Begriffstrias δύναμις (Möglichkeit), ε νέργεια (tätige Wirksamkeit) und ε ντελέχεια (vollendete Wirksamkeit) hin:24 Die Wahrnehmung bzw. das Wahrnehmen ist im aristotelischen Sinne, als Verwirklichung des Wahrnehmungsvermögens, eine Tätigkeit. Das Wahrnehmungsvermögen, und auch das sieht Hegel ganz richtig, kann jedoch nicht von sich aus in die Wirklichkeit übergehen, da es auf einen Wahrnehmungsgegenstand (αι σθητόν) angewiesen ist, der den Übergang von δύναμις zu ε νέργεια, bzw. ε ντελέχεια ermöglicht. Das Wahrnehmen besteht entsprechend darin, dass sich der Wahrnehmungsgegenstand und das Wahrnehmungsvermögen in tätiger Wirklichkeit befinden, da erst durch das Wirken des αι σθητόν das αίσθητικόν in Tätigkeit versetzt wird. Sobald die Seele wahrnimmt, sind beide in tätiger Wirklichkeit (vgl. Dangel 2013, 188 ff.). Der wahrnehmende Seelenteil bildet im Sinne Aristoteles mit den Gegenständen ihrer Wahrnehmung eine Einheit, da das Bewirken und Erleiden

24 | Wie Alexander Aichele betont, fällt dabei die Unterscheidung von Wahrnehmen und Wahrnehmung mit der Differenz von ἐνέργεια und ἐντελέχεια zusammen: Das Wahrnehmen meint die jeweils konkrete Verwirklichung des Wahrnehmungsvermögens eines Lebewesens. Im Gegensatz dazu impliziert der Begriff der Wahrnehmung sowohl ihre Ursache als auch ihr Resultat, d.h. welcher Gegenstand vermittels welcher Wahrnehmungsart wahrgenommen wurde (vgl. ders. 2009, 290). Aristoteles unterscheidet in diesem Zusammenhang auch die Bewegung (κίνησις) von der tätigen bzw. vollendeten Wirksamkeit (ἐνέργεια, bzw. ἐντελέχεια), wie sie in Phys. III 1, 201b27 ff. und v.a. in Met. IX 6, 1048b18 ff. abgehandelt werden (vgl. De an. II 5, 417a14 ff.): Seelische Tätigkeiten wie Sehen, Überlegen oder Denken haben als vollendete Tätigkeiten ihren Zweck in sich selbst. Bewegungen wie Abmagern, Lernen, Gehen oder Bauen sind dagegen zeitlich begrenzt und auf einen Zweck außerhalb ihrer selbst gerichtet (vgl. Cassirer 1932, 73 f.). Zu einer alternativen Deutung dieser sortierenden Einteilung zwischen zeitlich begrenzten und nicht begrenzten Tätigkeiten s.u.

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gleichermaßen im tätigen Vollzug des Wahrnehmens stattfindet (vgl. ebd., 196; De an. III 2, 426a9-11).25 Im Kontext einer solchen Wahrnehmungstheorie muss, wie Wolfgang Welsch betont, jeglicher neuzeitliche Erwerbsgedanke aus dem Spiel bleiben (vgl. ders. 1987, 121). Hegel bezieht sich in seiner Interpretation des Wahrnehmungsvermögens auf eine Textstelle in De anima, in der Aristoteles zwischen dem Vermögen, eine Fähigkeit zu erlernen, und dem Vermögen, eine Fähigkeit zu aktualisieren, unterscheidet: »Es gibt nämlich ein solches wissenschaftliches Verstehen, wie wir einen Menschen wissenschaftlich nennen, weil der Mensch zu den wissenschaftsfähigen Wesen gehört und zu denen, die Wissenschaft haben. Wir können aber (auch) Wissenschaftler denjenigen nennen, der (z.B.) schon die Grammatik (-Wissenschaft) besitzt. Jeder von beiden ist nicht auf dieselbe Weise fähig, sondern der eine ist es, weil die Gattung (Lebewesen) und Materie von solcher Art sind, der andere aber, weil er, wenn er will, zur (wissenschaftlichen) Betrachtung übergehen kann, sofern von den äußeren Umständen nichts hindert. Wieder ein anderer ist derjenige, der schon betrachtet, der sich in der Vollendung befindet und in eigentlichem Sinne etwas, dieses A, wissenschaftlich versteht. Die beiden ersten sind also dem Vermögen nach Wissenschaftler, aber der eine ist es dadurch, daß er durch Lernen sich verändert hat und vielmals in eine entgegengesetzte Haltung übergewechselt ist, der andere hingegen dadurch, daß er die Wahrnehmung oder die Grammatik besitzt, aber

25 | Hegel weist deshalb auf die berühmte aristotelische Analogie mit dem Wachs hin: Ebenso wie das Wachs die Form eines Siegelrings ohne dessen Material (etwa Eisen oder Gold) annimmt, nimmt auch das Wahrnehmen die Form des wahrgenommenen Gegenstandes an (vgl. De an. II 12, 424a17 ff.): »Man bleibt roherweise beim Groben des Vergleichs stehen. Wenn man sich nun bloß an dies Beispiel hält und daran zur Seele übergeht, so sagt man, die Seele verhalte sich wie das Wachs, – Vorstellungen, Empfindungen, alles werde nur in die Seele eingedrückt; sie ist eine tabula rasa, sie ist leer, die äußerlichen Dinge machen nur einen Eindruck, wie die Materie des Siegelrings auf die Materie des Wachses wirkt. [...] In jenem Bild fehlt dies, woran nicht gedacht wird, daß nämlich das Wachs die Form in der Tat nicht aufnimmt [...]. Würde diese Form die Form seines Wesens, so hörte es auf, Wachs zu sein. [...] Keineswegs soll die Seele passives Wachs sein und von außen die Bestimmungen erhalten. Die Seele ist die Form, die Form ist das Allgemeine; und das Aufnehmen desselben ist nicht wie das des Wachses. Das Aufnehmen ist ebensosehr Aktivität der Seele; nachdem das Empfindende gelitten, hebt es die Passivität auf, bleibt zugleich frei davon.« (TW 19, 208 f.)

4. Mit Begriffen leben und in Lebensformen lernen in einer anderen Weise nicht tätig ist, hin zur Betätigung .« (De an. II 5, 417a22-b2)

Im ersten Fall wird das Vermögen der Wahrnehmung bzw. das Vermögen, Wissenschaftler zu sein, der Gattung Mensch aber keinem bestimmten Menschen zugesprochen. Im zweiten Fall, der der substantivierten Verbalform des Wahrnehmens entspricht, wird das Vermögen einzelner Vertreter einer Gattung ausgesagt, die etwa gelernt haben, Wissenschaft zu betreiben (vgl. Aichele 2009, 290 f.). Aristoteles differenziert hier also zwei Stufen der Möglichkeit und Vollendung. Im ersten Fall handelt es sich um die Anlage (Disposition) zu einer Haltung (Fähigkeit). Im zweiten Fall ist die Haltung bzw. Fähigkeit als erste Vollendung bereits erreicht. Diese kann jedoch als zweite Möglichkeit in die Tätigkeit als zweite Vollendung übergehen (vgl. Seidl 1995, 242). Dementsprechend hat auch das Erleiden zwei Bedeutungen: »Auch das Erleiden ist nicht von einfacher Bedeutung, sondern in der einen Bedeutung ist es der Untergang durch das Entgegengesetzte, in der anderen ist es eher die Bewahrung des in Möglichkeit Seienden durch das, was in der Vollendung ist und sich ebenso verhält, wie die Möglichkeit (Vermögen) zur Vollendung; denn das, was die Wissenschaft besitzt, wird ein Betrachtendes, was entweder keine Veränderung ist – der Zuwachs erfolgt ja zu ihm selbst hin und zur Vollendung –, oder eine andere Gattung von Veränderung. Daher kann man nicht gut sagen, daß das, was besonnen denkt, sich verändere, wenn es denkt, wie auch der Baumeister , wenn er baut. Was also beim vernünftig Erkennenden und besonnen Denkenden aus dem in Möglichkeit Seienden in die Vollendung führt, ist nicht Belehrung, sondern hat mit Recht eine andere Benennung. Was hingegen aus dem Zustand des in Möglichkeit Seienden lernt und eine Wissenschaft erwirbt von dem, was in der Vollendung steht und zur Lehre befähigt ist, das darf man (wie gesagt) entweder nicht mehr Erleiden nennen, oder man muß zwei Arten von Veränderung benennen, die eine als Wechsel zu (entgegengesetzten) privativen Verfassungen und die andere zu den Haltungen und zur eigentümlichen Natur.« (De an. II 5, 417b2-16)

Im Unterschied zur Wissenschaft, die gelernt werden muss, besteht das Wahrnehmungsvermögen schon als Fähigkeit, ohne erlernt werden zu müssen (vgl. Welsch 1987, 114). Hegel weist in seiner oben zitierten Aristoteles-Übersetzung aber auch auf den privativen Charakter des Erlernens der Wissenschaft hin: Das Vermögen, eine Wissenschaft zu erwerben, kann nicht mehr bestehen, wenn der Besitz einer Wissenschaft in Vollendung vorliegt (vgl. Aichele 2009, 294). In den beiden vorhergehenden Textstellen, die hier in der Übersetzung von Willy Theiler vorliegen, wird der reflexive und aktivische Charakter des Lernens einer Wissenschaft betont: Durch das Überwechseln in verschiedene Haltungen ver-

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ändert jemand sich selbst. Den Erwerb eines Vermögens, so Aristoteles, kann man jedoch nicht Belehrung nennen. Dieses Motiv, auch wenn es von Hegel in den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie nicht herausgestellt wird, spielt unter dem Titel der »Bildung« bei Hegel eine bedeutende Rolle (dazu s.u.). Aisthetische Vollzüge unterscheiden sich damit im Sinne Aristoteles von noetischen Vollzügen dadurch, dass sie nicht gelernt werden können und von außen angestoßen werden müssen. Denn die Wahrnehmung richtet sich auf das (extrapsychische) Einzelne, das Denken hingegen auf das Allgemeine. Das Wahrnehmen steht, als Resultat des Bewegtwerdens, nicht in der eigenen Macht, wohingegen es zum Denken nur des eigenen Entschlusses bedarf (vgl. Welsch 1987, 114 f.; De an. II 5, 417b20–26). Hegel sagt daher ganz zu Recht, dass man im Sinne Aristoteles erst im Denken frei ist, da es, im Gegensatz zur Empfindung, selbständig möglich ist (vgl. TW 19, 206 f.). Indem er betont, dass es sich dabei um den »ganz richtige[n] Standpunkt der Empfindung« (ebd.) handelt, wendet er sich mit seiner Aristoteles-Interpretation nicht nur gegen die Wahrnehmungstheorien des Empirismus, sondern auch gegen den Begriff der Sinnlichkeit in der transzendentalen Ästhetik Kants (vgl. Dangel 2013, 186; KrV, B 33). Während sich Hegel bei seiner Übersetzung und Interpretation der Wahrnehmungslehre um exegetische Genauigkeit bemüht, erfährt die aristotelische Lehre des νους jedoch eine wesentliche Umdeutung: »Von der Empfindung geht Aristoteles zum Denken über und wird hier wesentlich spekulativ. ›Das Denken‹, sagt er (III, 4), ›leidet nicht, ist nicht passiv [Hervorhebung durch mich; FHvW] (ἀπαθές)‹, schlechthin tätig; es nimmt die Form auf und ist der Möglichkeit nach eine solche. Wenn gedacht wird, so ist das Gedachte insofern Objekt, aber nicht wie das Empfundenwerdende; es ist Gedanke, und dies ist ebenso der Form eines Objektiven beraubt. Das Denken ist auch δύναμις. ›Aber es verhält sich zum Gedachtwerdenden nicht [Hervorhebung durch mich; FHvW] wie die Empfindung zum Empfundenwerdenden‹, hier ist ein Anderes, Sein, gegen die Tätigkeit.« (TW 19, 212)

Das Kuriose an dieser Textstelle ist, dass sie eine offenkundig falsche Übersetzung beinhaltet. Denn Hegel schreibt hier, dass sich das Denken und Gedachtwerdende bei Aristoteles nicht wie die Empfindung zum Empfundenwerdenden verhält. In De an. III 4, 429a17-18 will Aristoteles aber das Denken in eine Analogie zum Wahrnehmungsvermögen bringen, da beide auch rezeptiv sind: So »wie das Wahrnehmungsfähige [αίσθητικόν] sich zum Wahrnehmbaren [αι σθητόν] verhält, so muß sich die Vernunft (der Intellekt) [νους] zum Intelligiblen [νοητά] verhalten«. Wie Tobias Dangel (vgl. ders. 2013, 233) in Anschluss an Hermann Drüe (vgl. ders. 1976, 345 f.) betont, fügt Hegel in seiner Übersetzung ein »nicht« ein, welches im griechischen Original nicht

4. Mit Begriffen leben und in Lebensformen lernen

vorkommt.26 Vor dem Hintergrund seiner eigenen spekulativen Philosophie deutet er den aristotelischen νους damit als (zunächst) rein spontane Verstandestätigkeit um: »[A]n sich ist der νους alles, aber nicht, ohne daß er denkt, – er ist absolute Tätigkeit, existiert nur so, und ist, wenn er tätig ist.« (TW 19, 213) Hegel greift daran anschließend die aristotelischen Aporien aus Г 4 auf, da er das »große Prinzip des Aristoteles« im »selbstbewußten νους« entdeckt: »Damit [der νοῦς einen Gegenstand erhält; FHvW] scheint [Hervorhebung durch mich; FHvW] sogleich ein Passives im νοῦς zu sein; es ist damit ein Verschiedenes von ihm in ihm, und zugleich soll er rein und unvermischt sein. ›Ferner schon, wenn er selbst gedacht, denkbar ist, so gehört er anderen Dingen an, ist außer ihm selbst oder wird etwas Gemischtes an ihm haben, das ihn zu einem Gedachten (Objekte) macht wie die anderen Dinge‹, – er erscheint [Hervorhebung durch mich; FHvW] als Gegenstand, als Anderes. [...] Der νοῦς denkt alles, ist so bei sich, er ist selbst bei sich alles; [...] d.h. der selbstbewußte νοῦς ist nicht bloß an sich, sondern wesentlich für sich, – er ist nur als Tätigkeit, die οὐσία des νοῦς ist Energie.« (TW 19, 214)

Da für Aristoteles nicht die Sinne wahrnehmen, sondern der νους durch die Sinne, besteht ein zweifaches Verhältnis zum Erkenntnisobjekt: Der νους bezieht sich entweder durch die Sinneswahrnehmung auf ein konkretes materielles Ding oder auf die Wesenheit (vgl. De an. III 4, 429b10-22). Damit besteht i.) für Aristoteles das Problem zu erklären, wie der νους überhaupt etwas erkennen kann,

26 | Dieses bemerkenswerte »nicht«, so Drüe, ist von zwei unterschiedlichen Quellen überliefert, sodass Hegel es in seinen Vorlesungen auf jeden Fall vorgetragen hat. Dabei kann weder davon ausgegangen werden, dass er den Satz nicht übersetzen konnte, noch, dass er mit voller Absicht getäuscht hat. Vielmehr glaubt sich Hegel mit Aristoteles in der These des »Primats des SichSelbstdenkens des νοῦς« einig zu sein (vgl. ders. 1976, 346 f.). Möglicherweise hat er sich also durch sein philosophisches Vorverständnis leiten lassen und gedacht, dass es sich um einen Fehler in der Überlieferung der Quelle handelt, um das »nicht« stillschweigend einzufügen. Ebenfalls auffällig an dieser Textstelle ist übrigens, dass Hegel den Begriff ἀπαθές mit »nicht passiv« übersetzt, wohingegen Aristoteles in diesem Zusammenhang das Denken als ebenso »aufnehmend« (δεκτικόν) bestimmt (vgl. De an. III 4, 429a13-18). Das ἀπαθές muss aber vielmehr mit »leidensunfähig« übersetzt und auf den Leib bezogen werden (vgl. Dangel 2013, 202). Aus diesem Grund spricht Aristoteles unmittelbar danach auch von einer Herrschaft des νοῦς. Dabei weist er auf Anaxagoras hin, für den der νοῦς selbständig herrschend, unendlich und ohne Beziehung zu den Dingen ist (vgl. De an. III 4, 429a13 ff.).

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wenn er leidensunfähig und mit nichts Körperlichem vermischt ist. Und ii.), so Aristoteles, muss geklärt werden, ob der νους auch für sich selbst denkbar ist (vgl. De an. III 4, 429b22-29). Er beantwortet die erste Aporie damit, dass der νους der Möglichkeit nach die νοητά ist, aber nicht bevor er wirklich denkt. Dabei ist er, gleich einer leeren Schreibtafel, keines der konkreten materiellen Objekte, sondern nur der Möglichkeit nach, ihre (intelligible) Form (vgl. De an. III 4, 429b29 ff.; Seidl 1995, 263 f.). Auf die zweite Aporie gibt er zur Antwort, dass νους und νοητά, im Gegensatz zum Denken der materiellen Dinge, der Wirklichkeit und nicht nur der Möglichkeit nach identisch sind (vgl. Kern 1961, 69 f.; Seidl 1995, 265). Für Hegel ist aber der aristotelische νους nicht nur das Intelligible, sondern alles Seiende der Möglichkeit nach. Entsprechend ergibt sich aus diesem Deutungsansatz, dass der νους sich in den Dingen selbst erfasst, »weshalb die Erkenntnis des Geistes uno actu seine Selbsterkenntnis einschließt, die durch die Welt als dem erscheinenden Gegensatz des Geistes vermittelt ist« (Dangel 2013, 236): Dem selbstbewußten νους, so Hegel im obigen Zitat, scheint der νους etwas Passives zu sein, und er erscheint im Sich-Denken als anderer Gegenstand. Hegel beharrt in seiner Aristoteles-Interpretation darauf, dass der spontane νους sich im Denken der Welt von sich unterscheidet: »Das Denken macht (Hervorhebung durch mich; FHvW) sich zum passiven Verstand, d.i. zum Objektiven, Gegenstand für es: intellectus passivus.« (TW 19, 213) Im Sinne Hegels fällt dabei die aristotelische Unterscheidung zwischen dem aktiven und dem passiven νους, auf die hier angespielt wird, nicht nur in den νους selbst, er identifiziert auch den passiven νους mit der Natur und der Wahrnehmung (da beide in Hegels Sinne identisch sind, wenn wahrgenommen wird; vgl. Dangel 2013 230 ff.): »Aristoteles unterscheidet [...] zwischen tätigem und passivem νους (III, 5); der passive νους ist die Natur, auch ist das in der Seele Empfindende und Vorstellende νους an sich.« (TW 19, 216) 27 Die aristotelische Differenzierung in Г 5 zwischen dem νους παθητικός und dem νους ποιητικός betrifft allerdings zwei verschiedene Seelenteile: Der νους ποιητικός ist für Aristoteles, als unsterblicher Seelenteil, leidensunfähig und unvermischt, während der νους παθητικός wie alle anderen Seelenteile vergänglich ist (vgl. De an. III 5, 430a15 ff.).28 Der νους ποιητικός versetzt den νους παθητικός

27 | Auf den aristotelischen Begriff der Vorstellung kann in diesem Rahmen nicht eingegangen werden. Zum Verhältnis von Wahrnehmung und Vorstellung bei Aristoteles vgl. Aichele 2009, 304 ff. 28 | Zum problematischen Verhältnis beider Seelenteile vgl. Cassirer 1932, 174 ff. Die moderne Aristotelesforschung versteht die Unterscheidung von νοῦς ποιητικός und νοῦς παθητικός wahlweise als zwei Stadien des Denkens (das des Erwerbs von Konzepten und das ihres Gebrauchs), als zwei verschiedene, aber zusammenspielende Vermögen (die Fähigkeit zu denken

4. Mit Begriffen leben und in Lebensformen lernen

in Tätigkeit, sodass dieser die νοητά aufnimmt, die der Möglichkeit nach in den Wahrnehmungen enthalten sind (vgl. Dangel 2013, 207 ff.; 214 ff.). Neben diesen Seelenteilen unterscheidet Aristoteles in Г 6 noch zwei Erkenntnisweisen oder Modi des Denkens: Das intuitive bzw. noetische Denken erfasst die Einheit von Dingen und ihren Eigenschaften, das diskursive bzw. dianoetische Denken verbindet und trennt diese Einheiten im Urteil (vgl. De an. III 6, 430a26-b6; Seidl 1995, 269).29 Wenn für Hegel also die Unterscheidung zwischen dem νους ποιητικός und dem νους παθητικός in den νους fällt (bzw. der νους ποιητικός sich von sich als νους παθητικός unterscheidet), scheint er beide Momente, die der verschiedenen Seelenteile und die der unterschiedenen Erkenntnisweisen, miteinander zu kombinieren: Nach seiner Lesart gibt es bei Aristoteles keine Unterscheidung von zwei verschiedenen Seelenteilen. Vielmehr konstatiert er hier eine Unterscheidung des νους, der aktiv ist und rezeptiv, d.h. wahrnehmend, tätig sein kann. Es handelt sich bei Hegels Lesart jedoch gerade auch vor dem Hintergrund der modernen Forschung um eine eher extravagante Ausdeutung der aristotelischen Seelenlehre.30 Ob es sich dabei um interpretative Missverständnisse handelt oder nicht, ist hier zunächst sekundär. Wichtig ist, dass Hegel die Unterscheidung zwischen νους ποιητικός und νους παθητικός nicht als sortierende Einteilung zwischen zwei verschiedenen Seelenteilen oder Tätigkeiten auffasst. Vielmehr scheint er plausibel machen zu wollen, dass es sich um eine aspektuale Unterscheidung von zwei notwendigen und irreduziblen Beschreibungsweisen handelt, die am tätigen νους vorgenommen wird. M.a.W.: Denken und Wahrnehmen sind nicht zwei verschiedene Vollzüge oder Aktualisierungen voneinander unabhängiger Fähigkeiten. Vielmehr handelt es sich um eine Unterscheidung am tätigen Denken. Oder anders formuliert: Auch das Wahrnehmen ist eine Art und Weise oder ein Modus des Denkens. Gleichzeitig ist der »selbstbewußte νους« im

und die Wiedererkennungsfähigkeit eines Menschen als Menschen) oder als das durch den νοῦς ποιητικός veranlasste Erlangen eines Gedankenobjekts vom νοῦς παθητικός. Ferner ist umstritten, ob es sich beim νοῦς ποιητικός um den ersten Beweger aus Met. XII handelt (vgl. Kubota 2005, 384). In jedem Fall entspricht Hegels Deutung nicht den gängigen Forschungsansätzen. 29 | Anscheinend nimmt Hegel dieses Motiv auch in der Wissenschaft der Logik wieder auf, wenn er zwischen Urteilen und Begreifen als den »Funktionen des Begriffs« unterscheidet (vgl. Kap. 3.4). 30 | Obwohl dieser Rekonstruktionsvorschlag Hegels sehr unkonventionell ist, findet sich interessanterweise ein ähnlicher Interpretationsansatz auch in der modernen Aristotelesforschung. Dabei geht es allerdings nicht um das Verhältnis von νοῦς ποιητικός und νοῦς παθητικός, sondern um das Verhältnis von πρᾶξις und ποίησις. Da Hegel in seiner Vorlesung nicht näher auf diese beiden Begriffe eingeht, kann hier nicht mit Sicherheit gesagt werden,

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Das Problem moralischen Wissens

Sinne Hegels ε νέργεια. Das wiederum bedeutet, dass der νους nicht resultativ als Gegenstand der Erkenntnis oder Ergebnis eines Erkenntnisprozesses angesprochen werden kann. Er lässt sich nur progressiv, d.h. über seinen Vollzug, thematisieren, um die beiden verschiedenen Beschreibungsperspektiven vornehmen zu können. Das ist zunächst zwar immer noch schwer zu verstehen, aber Hegel betont die systematische Bedeutung seiner Interpretation ganz explizit: Dieses »Denken des Gedankens«, so Hegel, ist »die höchste Spitze der Aristotelischen Metaphysik, das Spekulativste, was es geben kann [...]. Aber was [Aristoteles]

inwiefern er seine νοῦς-Interpretation auch auf sie übertragen würde. Zum besseren Verständnis der hegelschen Position sei dieser Interpretationsansatz hier aber kurz skizziert: Aristoteles schreibt in der Nikomachischen Ethik: »Was sich anders verhalten kann, ist teils Gegenstand des Hervorbringens [ποίησις], teils Gegenstand des Handelns [πρᾶξις]. Denn Hervorbringen und Handeln sind voneinander verschieden [...]. Demnach ist auch der mit Vernunft verbundene Habitus des Hervorbringens verschieden, weshalb auch keiner in dem anderen enthalten ist. Denn das Handeln ist sowenig Hervorbringen als das Hervorbringen ein Handeln ist.« (EN VI 4, 1140a1 ff.) Wie Jan Müller erläutert, unterscheidet Aristoteles mit »Hervorbringen« (welches manchmal auch mit »Herstellen« übersetzt wird) und »Handeln« zwei Bereiche des menschlichen Handelns, die sich im Gegensatz zum νοῦς so auf einen Gegenstand richten, dass sie ihn verändern (vgl. ders. 2010, 180). ποίησις und πρᾶξις sind dabei so voneinander unterschieden, dass das Herstellen sein Ziel oder seinen Zweck außer sich hat, das Handeln jedoch ist selbst ihr Zweck (vgl. NE VI 5, 1140b7 f.). In der üblichen extensionalen Ausdeutung handelt es sich dabei um zwei verschiedene Tätigkeitstypen, die gemäß ihrer Mittel-Zweck-Struktur sortiert werden. In Anschluss an Theodor Ebert (1976), Christoph Hubig (1978; 1985; 2006), Andreas Luckner (2005) und Alexandra Popp (2007) schlägt Müller nun eine intensionale Lesart vor, nach der es sich bei der Differenzierung von ποίησις und πρᾶξις um zwei irreduzible und nicht durcheinander zu ersetzende Aspekte oder Beschreibungsperspektiven auf ein Tun handelt (vgl. ders. 2010, 181). In diesem Sinne kann man ein Tun resultativ unter dem Aspekt der ποίησις oder progressiv unter dem Aspekt der πρᾶξις betrachten. Bei beiden handelt es sich um Sonderfälle der Reden über κίνησις und ἐνέργεια, insofern sie auf menschliche Tätigkeiten bezogen werden. Die Redeweise der ποίησις behandelt das Tun dabei perfektiv als Tat, während die Redeweise der πρᾶξις den (imperfektiven) Vollzug thematisiert (vgl. ebd., 183 ff.). Inwiefern es sich hierbei um eine adäquate Aristoteles-Interpretation handelt oder nicht, kann an dieser Stelle nicht diskutiert werden.

4. Mit Begriffen leben und in Lebensformen lernen

über das Denken sagt, ist für sich das absolut Spekulative und steht nicht neben anderen, z.B. der Empfindung, die nur δύναμις ist für das Denken.« (TW 19, 219) Hegel behauptet im Kontext seiner Aristoteles-Interpretation also i.), dass der Verstand (bzw. das Denken) und die Wahrnehmung (bzw. das Empfinden) voneinander insofern unterschieden sind, als der Verstand aktiv, die Wahrnehmung jedoch auch rezeptiv ist. Diese Unterscheidung fällt allerdings ii.) in die Verstandestätigkeit (als ε νέργεια) selbst, da die Wahrnehmung δύναμις für das Denken ist. Das Denken, so müsste man Hegel hier konsequenterweise lesen, kann wahrnehmend tätig sein, wenn es auf einen Wahrnehmungsgegenstand trifft. Ferner fällt iii.) das objektbezogene Erkennen des Verstandes mit seiner Selbsterkenntnis zusammen. Das wiederum bedeutet, dass sich der νους nur progressiv im Vollzug und damit ebenfalls aspektual thematisieren lässt. Schließlich behauptet Hegel iv.), dass die aristotelische Theorie des Selbstbewusstseins einen systematischen und nicht nur einen philosophiehistorischen Wert hat. Die nun folgende Analyse des Selbstbewusstseinskapitels wird eben dies bestätigen. Denn hier finden sich nicht nur alle zentralen Motive aus De anima wie Selbstbewusstsein, Tätigkeit, Leben, Bewegung, Herrschaft, Selbständigkeit/ Unselbständigkeit oder Bildung wieder. Auch eine aspektuale Unterscheidung von Bewusstsein und Selbstbewusstsein, Selbständigkeit und Unselbständigkeit, lässt sich anhand des Textes rekonstruieren. Auf diese Weise weist Hegel den Dualismus von Selbständigkeit und Unselbständigkeit zurück und bereitet einen adäquaten Wissensbegriff vor. 4.1.4 H  errschaft und Knechtschaft: Hegels aristotelische Kritik an der (nicht nur) neuzeitlichen Vermögenspsychologie Bei der Interpretation des Selbstbewusstseinskapitels der Phänomenologie des Geistes und der Metaphorik von Herrschaft und Knechtschaft ist es wichtig zu bedenken, dass zur Zeit Hegels (wie auch mitunter in der gegenwärtigen Forschung) die Annahme eines Widerstreits in der Natur des Menschen ein Gemeinplatz in der philosophischen Diskussion war. Der Mensch wurde dabei als Träger verschiedener Vermögen vorgestellt, die unterschiedlich hierarchisiert wurden. So differenziert etwa Kant an mehreren Stellen seines Werkes zwischen Sinnlichkeit (als dem Vermögen der Anschauung), Verstand, Urteilskraft und Vernunft (als den Vermögen der Begriffe, Urteile und Schlüsse) oder zwischen dem Willen (als dem Vermögen nach Prinzipien zu handeln) und der Willkür (als dem Vermögen nach Belieben zu handeln). Gleichzeitig unterscheidet er zwischen oberen und niederen Vermögen aufgrund ihrer Selbst- bzw. Unselbständigkeit und kennzeichnet sie durch die Begriffspaare Spontaneität/Rezeptivität bzw. Autonomie/Heteronomie (vgl. Eisler 1930, 140 f.). Eine solche Hierarchisierung wurde in der abendländischen Philosophietradition von der Antike bis zur Neuzeit oft anhand der Metaphorik von Herrschaft

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Das Problem moralischen Wissens

und Knechtschaft expliziert. Im Kontext von Hegels Aristoteles-Interpretation wurde schon auf Anaxagoras hingewiesen, für den der νους selbständig herrschend ist. David Hume ist dagegen für die berühmte Formulierung aus seiner Abhandlung A Treatise of Human Nature bekannt, dass die Vernunft Sklavin der Leidenschaften sei: »Reason is, and ought only to be the slave of the passions, and can never pretend to any other office than to serve and obey them.« (Ders. 2009/1738, 266) Und für seinen Zeitgenossen Jean-Jacques Rousseau liegt dem sozialen Widerstreit ein Kampf menschlicher Vermögen zugrunde, durch den man, wie es im vierten Buch von Émile ou De l’éducation heißt, zum Sklaven der eigenen Leidenschaften oder durch die Vernunft zum eigenen Herrn würde (vgl. ders. 2012/1762, 662).31 Ganz ähnlich formuliert Kant diese Hierarchie, wenn der schreibt, dass die Vollkommenheit des Menschen erfordere, dass der »Verstand herrsche, ohne doch die Sinnlichkeit (die an sich Pöbel ist, weil sie nicht denkt) zu schwächen« (Anth., 443). Hegel polemisiert innerhalb der Phänomenologie des Geistes gegen diese Unterscheidung und Hierarchisierung verschiedener Vermögen: »Die beobachtende Psychologie, welche zuerst ihre Wahrnehmungen von den allgemeinen Weisen, die ihr an dem tätigen Bewußtsein vorkommen, ausspricht, findet mancherlei Vermögen, Neigungen und Leidenschaften, und indem sich die Erinnerung an die Einheit des Selbstbewußtseins bei der Hererzählung dieser Kollektion nicht unterdrücken läßt, muß sie wenigstens bis zur Verwunderung fortgehen, daß in dem Geiste, wie in einem Sacke, so vielerlei und solche heterogene, einander zufällige Dinge beisammen sein können, besonders auch da sie sich nicht als tote ruhende Dinge, sondern als unruhige Bewegungen zeigen.« (TW 3, 230)

Hegel argumentiert an dieser Stelle, dass die empirische Forschung kognitive und affektive Vollzüge (er spricht hier aristotelisch von »Bewegungen«, dazu s.u.) beobachtet und daraufhin fälschlicherweise verschiedene Vermögen unterscheidet, die wir – metaphorisch gesprochen – »haben«. Dagegen spricht er selbst unmittelbar vor dem Selbstbewusstseinskapitel der Phänomenologie des Geistes im Sinne seiner oben dargelegten Aristoteles-Interpretation vom »Meinen, Wahrnehmen und [dem] Verstand« als den »Weisen [Hervorhebung durch mich; FHvW] des Bewußtseins« (TW 3, 136). Damit werden ganz explizit verschiedene Modi des Bewusstseins thematisiert und nicht verschiedene Bewusstseinstypen. Diese Kritik an der (nicht nur) neuzeitlichen Vermögenspsychologie gilt es, bei der Interpretation im Auge zu behalten.

31 | Vgl. dazu auch Rousseaus Autonomieformel aus dem Gesellschaftsvertrag (ders. 2011/1762, 23) und Kelly 1973, 203 f.

4. Mit Begriffen leben und in Lebensformen lernen

Denn bei seiner Analyse des Selbstbewusstseins als dem »Wissen von sich selbst« (ebd., 138) macht Hegel zunächst und in Anschluss an Fichte auf die aporetische Problemstruktur aufmerksam: »Indem ein Selbstbewußtsein der Gegenstand ist, ist er ebensowohl Ich wie Gegenstand.« (Ebd., 145) Wenn er in diesem Zusammenhang von einer »Verdopplung des Selbstbewußtseins« spricht und davon, dass es nur »für ein Anderes [und] nur als ein Anerkanntes« (ebd., 144 f.) ist, darf dies jedoch nicht voreilig zum Anlass einer interpersonalen Interpretation genommen werden: Von einer Verdopplung redet Hegel hier, um nochmal ausdrücklich auf die aporetische Problemstruktur hinzuweisen: Das Ich soll gleichzeitig aktiv wissend bzw. erkennend und als solches passiv gewusst bzw. erkannt sein.32 Das erklärt übrigens auch Hegels Rede »verschiedener Selbstbewußtsein[e]« (ebd., 145 ff.). Zitiert wird hier nach der Werkausgabe, die an vielen Stellen der Phänomenologie des Geistes vermeintliche Schreibfehler zu Unrecht durch Klammern korrigiert.33 Tatsächlich erscheint es nicht besonders plausibel, dass sich Hegel so oft hintereinander verschrieben haben soll. Viel wahrscheinlicher ist es, dass es sich hier um bewusste grammatische Verstöße handelt, mit denen darauf hingewiesen werden soll, dass die Rede vom Selbstbewusstsein notwendigerweise diese zwei Perspektiven impliziert.34 Den Begriff des Anerkennens übernimmt

32 | Evtl. handelt es sich bei dieser Formulierung um eine Anspielung auf Kant, der in der Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik von einer »Verdoppelung« in das »Ich der inneren sinnlichen Anschauung und das des denkenden Subjects« spricht, welche »zwey Subjecte in einer Person vorauszusetzen« scheint (vgl. Preis., 268). 33 | Zum Vergleich: In der von Hans-Friedrich Wessels und Heinrich Clairmont herausgegebenen Ausgabe, die auf der kritischen Edition der Gesammelten Werke beruht, wurden die Klammern nicht in den Originaltext eingefügt (vgl. PhG, 127 ff.). 34 | Für diesen Hinweis danke ich Michael Weingarten. Man könnte mir trotzdem vorwerfen, hier sehr selektiv einige ausgewählte Passagen zu interpretieren und diejenigen auszulassen, in denen Hegel ganz offensichtlich von interpersonalen Verhältnissen redet. Das betrifft etwa die vielzitierte Textstelle vom »Ich, das Wir, und Wir, das Ich ist« (TW 3, 145) und noch deutlicher wird es in einer späteren Passage: »Das Individuum, welches das Leben nicht gewagt hat, kann wohl als Person anerkannt werden; aber es hat die Wahrheit dieses Anerkanntseins als eines selbständigen Selbstbewußtseins nicht erreicht.« (TW 3, 149) Dass Hegel zwischendurch auch über das Verhältnis verschiedener Personen spricht, steht dieser jedoch Interpretation nicht entgegen. Denn das Thema ist ja Selbstbewusstsein und damit ganz allgemein das Verhältnis von Selbständigkeit und Unselbständigkeit. Wie im Folgenden noch zu zeigen sein wird, löst Hegel dabei nicht nur die Dichotomie von

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Hegel in diesem Zusammenhang von Fichte, da der Begriff des Erkennens in der zeitgenössischen Diskussion für diejenigen epistemischen Operationen reserviert ist, in denen »das Intellektuelle mit dem Sinnlichen Synthesen eingeht« (Frank 1991, 433).35 Das erkennende Ich kann nicht, wie bereits oben gesagt, als Gegenstand der Erkenntnis angesprochen werden. Durch diese aporetische Problemstruktur sieht sich der Aristoteliker Hegel nun (und in Anschluss an Fichtes Motiv der Tathandlung)36 dazu genötigt, das Selbstbewusstsein – wie in seiner Interpretation von De anima – progressiv als Vollzug bzw. Tätigkeit zu analysieren: »Es ist ein Selbstbewußtsein für ein Selbstbewußtsein. Erst hierdurch ist es in der Tat.« (TW 3 144) Er macht anschließend darauf aufmerksam, dass diese Aktivität und Passivität des Selbstbewusstseins mit einem »zweiten Doppelsinn« (ebd., 146) einhergeht: Denn die Struktur des

Spontaneität und Rezeptivität auf, sondern auch ihre Entgegensetzung zum Begriffspaar Autonomie und Heteronomie. Es ist eben kein Zufall, dass er diese in der damaligen Problemdiskussion etablierten Begriffe nicht explizit verwendet. Im Übrigen spricht gerade das letzte Zitat gegen eine vorschnelle interpersonale Ausdeutung, da es dort heißt, dass man »nicht« das Leben wagen muss, um als Person anerkannt zu werden (vgl. Stekeler-Weithofer 2014a, 688 f.). Hegel weist mit solchen Formulierungen viel eher auf die weiteren Überlegungen voraus (vgl. ebd., 662). 35 | In der Hegelforschung wird zumeist angenommen, dass Hegels FichteRezeption auch in seinen späten Jenaer Jahren und während des Abfassens der Phänomenologie des Geistes eine wichtige Grundlage der eigenen Argumentation bleibt. Deshalb wird der Begriff der Anerkennung, worunter Fichte das wechselseitige Verhältnis selbstbewusster Individuen versteht, auch in der gegenwärtigen Forschung immer so stark betont (vgl. Siep 2000, 98). Und tatsächlich kann seine frühe Jenaer Philosophie als Vorarbeit zur Phänomenologie des Geistes verstanden werden (vgl. Habermas 2014/1967). Allerdings zeigt ein genauerer Blick, dass sich Hegel hier wieder vom Fichteanismus entfernt (vgl. Wildt 1982, 370 ff.). So wurde bereits darauf hingewiesen, dass er schon beim Verfassen der Phänomenologie des Geistes stark von derjenigen Aristoteles-Interpretation beeinflusst war, die er auch in den späteren Berliner Vorlesungen vorträgt. Aus diesem Grund halte ich es für gerechtfertigt, den Begriff der Anerkennung hier nicht ausführlicher zu behandeln, zumal im Hinblick auf die weitere Argumentation dieser Arbeit kein systematisches Interesse daran besteht. Zum Begriff der Anerkennung bei Fichte und Hegels Rezeption desselben vgl. trotzdem die wichtige Studie von Ludwig Siep (1979). 36 | Zur Interpretation Fichtes, an die Hegel kritisch anschließt vgl. Frank 1991, 433 ff.

4. Mit Begriffen leben und in Lebensformen lernen

Selbstbewusstseins erfordert es, dass es nicht nur als aktiv und passiv, sondern auch als spontan bzw. selbständig und rezeptiv bzw. unselbständig beschrieben wird. Der aktive und spontane Selbstbezug steht damit dem passiven und rezeptiven Gegenstandsbezug nicht nur als Beschreibungsperspektive unvermittelt gegenüber, beide Perspektiven sind auch miteinander verschränkt: »Diese Bewegung des Selbstbewußtseins in der Beziehung auf ein anderes Selbstbewußtsein ist aber auf diese Weise vorgestellt worden als das Tun des Einen; aber dieses Tun des Einen hat selbst die gedoppelte Bedeutung, ebensowohl sein Tun als das Tun des Anderen zu sein; denn das Andere ist ebenso selbständig, in sich beschlossen, und es ist nichts in ihm, was nicht durch es selbst ist. Das erste hat den Gegenstand nicht vor sich, wie er nur für die Begierde zunächst ist, sondern einen für sich seienden selbständigen, über welchen es darum nichts für sich vermag, wenn er nicht an sich selbst dies tut, was es an ihm tut. Die Bewegung ist also schlechthin die gedoppelte beider Selbstbewußtsein[e]. [...] Das Tun ist also nicht nur insofern doppelsinnig, als es ein Tun ebensowohl gegen sich als gegen das Andere, sondern auch insofern, als es ungetrennt ebensowohl das Tun des Einen als des Anderen ist.« (TW 3, 146 f.)

An dieser Textstelle wird sehr gut deutlich, wie Hegel mittels der Begriffe »Bewegung« und »Begierde« mit Terminologien spielt, die er der philosophischen Problem- und Begriffstradition entleiht:37 Das Selbstbewusstsein soll (sowohl als aktiv wissendes als auch als passiv gewusstes) sowohl spontan bzw. selbständig als auch rezeptiv bzw. unselbständig sein. Auf keine dieser miteinander verschränkten Perspektiven kann jedoch verzichtet werden, und das obwohl sie sich zunächst auszuschließen scheinen. Hegel erläutert dies anhand einer Analogie: »Das Verhältnis beider Selbstbewußtsein[e] ist also so bestimmt, daß sie sich selbst und einander durch den Kampf auf Leben und Tod bewähren.« (TW 3, 148 f.) Wie die beiden notwendigen, sich scheinbar aber ausschließenden Perspektiven zusammen gedacht werden können, erläutert Hegel, indem er die bereits erwähnte Metapher aus der Philosophiegeschichte aufgreift und aristotelisch uminterpretiert:

37 | Mit dem Begriff der Bewegung scheint Hegel das zentrale aristotelische Konzept der κίνησις im Auge zu haben. Der Begriff der Begierde kommt zwar auch in Hegels Vorlesungen über De anima vor, wird dort allerdings nur oberflächlich thematisiert (vgl. TW 19, 219 ff.). Wahrscheinlich handelt es sich aber um eine Anspielung auf den »Appetit« oder »Nisus« der Monaden, auf den Hegel schon in der Wissenschaft der Logik hinweist (vgl. TW 6, 76; zum Begriff der Begierde vgl. auch Pippin 2010).

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Hegel wiederholt hier nochmal, dass die vorher geschilderten Perspektiven auf das Selbstbewusstsein unhintergehbar sind: Im ersten Argumentationsschritt ist die spontane Verstandestätigkeit als reines Selbstbewusstsein von der rezeptiven Wahrnehmungstätigkeit als seiendes Bewusstsein in »Gestalt der Dingheit« zu unterscheiden.38 Mir scheint, dass diese Textstelle erst durch eine aristotelische Ausdeutung Sinn bekommt: Demnach redet Hegel von einem Bewusstsein in »Gestalt der Dingheit«, insofern die Wahrnehmung – wie in der aristotelischen Theorie – mit ihren Gegenständen der Möglichkeit nach identisch ist. Dazu passen auch die folgenden Passagen: Der Herr, so Hegel, »bezieht sich auf den Knecht mittelbar durch das selbständige Sein« und genauso »bezieht sich der Herr mittelbar durch den Knecht auf das Ding« (TW 3, 151). Denn wenn man wie Hegel hier im ersten Argumentationsschritt zunächst davon ausgeht, dass es sich beim Verstehen und Wahrnehmen um zwei verschiedene Tätigkeiten bzw. Aktualisierungen verschiedener Vermögen handelt, stellt sich ihr Verhältnis wie folgt dar: Der Verstand (der Herr) kann sich nur durch die Wahrnehmung (den Knecht) auf die Welt (das »selbständige Sein«) beziehen, da dies ohne rezeptives Erleiden nicht möglich wäre. Ebenso kann sich der Verstand nur durch das »selbständige Sein« auf den Knecht bzw. die Wahrnehmung beziehen, da diese erst durch das rezeptive Erleiden in Tätigkeit versetzt wird. Allerdings scheint Hegel

38 | Die Unterscheidung zwischen Ding und Gegenstand wurde in Kap. 3.4.3 bereits angesprochen. Auch Hegel scheint den Begriff Gegenstand eher im etymologischen Sinne als das »dem Subjekt Entgegenstehende« zu verstehen (vgl. TW 7, §4 Z), während der Begriff Ding eine methodologische Funktion hat: Gegenstände lassen sich als Dinge thematisieren, insofern sie auch unabhängig von unseren Verhältnissen zu ihnen gewisse Eigenschaften haben.

4. Mit Begriffen leben und in Lebensformen lernen

hier nicht nur die Verstandestätigkeit im Verhältnis zur Wahrnehmungstätigkeit zu thematisieren: »[D]er Knecht bezieht sich als Selbstbewußtsein überhaupt auf das Ding auch negativ und hebt es auf; aber es ist zugleich selbständig für ihn, und er kann darum durch sein Negieren nicht bis zur Vernichtung mit ihm fertig werden oder er bearbeitet es nur. Dem Herrn dagegen wird durch diese Vermittlung die unmittelbare Beziehung als die reine Negation desselben oder der Genuß; was der Begierde nicht gelang, gelingt ihm, damit fertig zu werden und im Genusse sich zu befriedigen. Der Begierde gelang dies nicht wegen der Selbständigkeit des Dinges; der Herr aber, der den Knecht zwischen es und sich eingeschoben, schließt sich dadurch nur mit der Unselbständigkeit des Dinges zusammen und genießt es rein; die Seite der Selbständigkeit aber überläßt er dem Knechte, der es bearbeitet.« (TW 3, 151)

Wenn Hegel hier vom »Negieren« spricht, spielt er auf Spinozas berühmt gewordenen Ausdruck »omnis determinatio est negatio« an. Gemeint ist also nichts anderes als das begriffliche Bestimmen.39 Die etwas kryptische Formulierung vom Knecht, der sich negativ auf das Ding bezieht und es »aufhebt« bedeutet dementsprechend (und ziemlich unspektakulär) nichts anderes, als dass ein Ding, wenn es begrifflich bestimmt wird, nicht unabhängig vom Verhältnis zum Knecht besteht (und somit nicht mehr als Ding angesprochen werden kann). Dieses Negieren kann jedoch nicht bis zur »Vernichtung« des Dings fortschreiten, da es nicht möglich ist, jede beliebige begriffliche Bestimmungen vorzunehmen. Die Schlüsselbegriffe der letzten beiden Zitate (Leben, Arbeit, Genuss und Begierde) sprechen dabei jedoch eindeutig dafür, dass Hegel hier nicht nur das Verhältnis von Verstandes- und Wahrnehmungstätigkeit im Blick hat.40 Besonders mit dem

39 | So heißt es in den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie: »Spinoza ist der Hauptpunkt der modernen Philosophie: entweder Spinozismus oder keine Philosophie. Spinoza hat den großen Satz: Alle Bestimmung ist eine Negation. [...] Die einfache Determination, Bestimmung (Negation gehört zur Form) ist ein Anderes gegen die absolute Bestimmtheit, Negativität, Form.« (TW 20, 163 f.) 40 | Günther Buck hat darauf hingewiesen, dass Hegel mit den Begriffen Genuss und Arbeit auf Schillers Kritik des Machtungleichgewichts zwischen verschiedenen Personen anspielt (vgl. ders. 1984, 186 f.). Wie später zu zeigen sein wird, steht die Metaphorik des genießenden Herrn und des arbeitenden Knechts in der Tat auch für die Machtverhältnisse zwischen verschiedenen Individuen. Eine genaue Textanalyse zeigt aber m.E. deutlich, dass man die Pointe der Argumentation verpassen würde, wenn man sie vorschnell inter

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Begriff der Arbeit geht er einen entscheidenden Schritt über die Argumentation in De anima hinaus. Denn wie bereits gezeigt wurde, richtet sich der νους oder das verständige Denken innerhalb der aristotelischen Seelenlehre (auch in Hegels Interpretation) nicht so auf einen Gegenstand, dass er ihn verändert. Mit dem Begriff der Arbeit wird dann offensichtlich i.) auf Humboldts Bildungstheorie und die Wechselwirkung von Ich und Welt bzw. von leiblicher Empfänglichkeit und denkender und handelnder Selbsttätigkeit angespielt (vgl. Kap. 4.1.1) und ii.) auf die aristotelische Unterscheidung von πρα ξις und ποίησις.41 Damit wird nochmal deutlich, dass Hegel mit dem Problem des Selbstbewusstseins ganz allgemein (und wie der Titel des Unterkapitels verrät) das Verhältnis von Selbständigkeit und Unselbständigkeit thematisiert, welches er in den verschiedenen zeitgenössischen Diskussionen über das Verhältnis von Vernunft und Sinnlichkeit, Wille und Neigungen, Spontaneität und Rezeptivität, Autonomie und Heteronomie oder Mittel-zum-Zweck und Zwecke-an-sich vorfindet. Aus diesem Grund rekonstruiert etwa auch Pirmin Stekeler-Weithofer diese Passagen zu Recht als die Problematisierung des Verhältnisses von Denken und leiblichem Tun (vgl. ders. 2014a, 696 ff.): Der Begierde des Herrn (d.h. der Verstandestätigkeit oder des Denkens), die Welt nach den eigenen Ansprüchen zu bestimmen, steht zunächst der Arbeit des Knechts (d.h. der Wahrnehmungstätigkeit oder der leiblichen Vollzüge) gegenüber, der sich an der selbst- bzw.

personal ausdeutet. Mit der Analogie von Herr und Knecht und den Motiven Arbeit und Genuss wird eben nicht nur auf Schiller angespielt. Hegel hat vielmehr eine weit verzweigte Theorietradition im Blick, der Referenzpunkt bleibt aber Aristoteles. So scheint auch der Begriff des Lebens auf seine Aristotelesrezeption zurückzugehen (vgl. Frank 1927). Dabei ist zunächst nicht ganz klar, ob Hegel hier eher auf den Begriff ζωή (als dem biologischen Leben, um dessen Erhalt und Fortführung sich der οἶκος kümmern muss) oder den Begriff βίος (als dem Leben des Bürgers in der πόλις) anspielt. Denn οἶκος und πόλις unterscheiden sich laut Aristoteles nicht nur durch die Anzahl der Beherrschten (vgl. Pol. I 1, 1252a9 f.). Auf das Verhältnis von Herrschaft und Knechtschaft bei Aristoteles kann hier nicht weiter eingegangen werden, der Bezug zur Analogie sollte jedoch deutlich sein. 41 | Es handelt sich bei beiden Begriffen, wie bereits angedeutet, um teleologische Begriffe, da ihr jeweiliges τέλος in einem ἔργον liegt. Im Falle der ποίησις besteht das ἔργον in dem von der Herstellung unterschiedenen Bestehen einer Sache oder Situation. So liegt etwa das ἔργον des Schneiderns im Vorliegen eines neuen oder veränderten Kleides. Dagegen ist das ἔργον der πρᾶξις nicht begrifflich von dieser unterschieden. Ihr τέλος ist εὐπραξία, also das Gelingen dieser πρᾶξις (vgl. Müller 2008, 98; zur Unterscheidung Hegels zwischen Arbeit und Handeln vgl. Riedel 1972, 125).

4. Mit Begriffen leben und in Lebensformen lernen

widerständig gegebenen Realität sprichwörtlich abarbeitet (vgl. Menke 2013, 315). Allerdings handelt es sich in Hegels Sinn dabei gerade nicht um »mehr als bloß einen Kommentar zum Begriff des Selbstbewusstseins« (Stekeler-Weithofer 2014a, 696 ff.). Denn wie wir bereits gesehen hatten, wendet sich Hegel gegen die Unterteilung zwischen verschiedenen Vermögen (etwa Vernunft und Sinnlichkeit einerseits, Wille und Neigungen andererseits).42 Aber erst diese Unterteilung impliziert, dass das Problem des Selbstbewusstseins nur das Verhältnis von Verstandestätigkeit und Wahrnehmungstätigkeit betreffen würde. Hegel, und das ist ganz wichtig, geht in seiner eigenen Theorie über die aristotelische Lösung des Problems des Selbstbewusstseins hinaus aber er löst das Problem des Selbstbewusstseins bzw. das Verhältnis von Selbständigkeit und Unselbständigkeit wie in seiner Interpretation der aristotelischen Seelenlehre. Denn solange die spontane Bewusstseinstätigkeit einfach vorausgesetzt und von der rezeptiven Bewusstseinstätigkeit unterschieden wird, bleibt das Problem paradoxal: »Wir sahen nur, was die Knechtschaft im Verhältnisse der Herrschaft ist. Aber sie ist Selbstbewußtsein, und was sie hiernach an und für sich selbst ist, ist nun zu betrachten.« (TW 3, 152)

42 | So heißt es dementsprechend etwa auch in der Rechtsphilosophie: »Was aber den Zusammenhang des Willens mit dem Denken betrifft, so ist folgendes zu bemerken. [...] Der Unterschied zwischen Denken und Willen ist nur der zwischen dem theoretischen und dem praktischen Verhalten, aber es sind nicht etwa zwei Vermögen, sondern der Wille ist eine besondere Weise des Denkens [Hervorhebung durch mich; FHvW]: das Denken als sich übersetzend ins Dasein, als Trieb, sich Dasein zu geben. Dieser Unterschied zwischen Denken und Willen kann so ausgedrückt werden. Indem ich einen Gegenstand denke, mache ich ihn zum Gedanken und nehme ihm das Sinnliche; ich mache ihn zu etwas, das wesentlich und unmittelbar das Meinige ist: denn erst im Denken bin ich bei mir, erst das Begreifen ist das Durchbohren des Gegenstandes, der nicht mehr mir gegenüber steht und dem ich das Eigene genommen habe, das er für sich gegen mich hatte.« (TW 7, § 4 Z). Dadurch, dass das Denken und der Wille nicht als verschiedene Vermögen konzeptualisiert werden, wird die Dualität von Spontaneität/Rezeptivität und Autonomie/Heteronomie gelöst, da sie nicht mehr als Eigenschaften dieser verschiedenen Vermögen begriffen werden können. Und aus eben diesem Grund ist es auch ganz richtig, dass Terry Pinkard die Lösung des Problems der Autonomie im Selbstbewusstseinskapitel der Phänomenologie des Geistes vermutet (vgl. Kap. 4.1.2). Allerdings verpasst er dabei Hegels aristotelische Pointe. Dies mag allerdings auch an den Übersetzungen in die englische Sprache liegen, bei denen der aristotelische Gehalt des Textes mitunter verloren gehen kann.

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Erst im nächsten Argumentationsschritt weist Hegel auf die Lösung hin. Wenn er schreibt, dass die »Wahrheit des selbständigen Bewußtseins« das »knechtische Bewußtsein« ist (vgl. TW 3, 152), heißt dies jedoch nicht, dass der Leib der eigentliche Herr ist und dass am Ende »immer der Leib gewinnt« (vgl. Stekeler-Weithofer 2014a, 701; ders. 2008, 417). Denn Hegel sagt zwar, dass das Bewusstsein die »Furcht des Todes, des absoluten Herrn« (TW 3, 153) empfunden hat, doch geht es dabei nicht um existentialistische Sterblichkeitsreflexionen (vgl. Müller 2011, 11; Fn. 23), wie selbst Stekeler-Weithofer annimmt (vgl. ders. 2014a, 703 f.). Vielmehr wird auf die oben genannte Analogie und den bisherigen Argumentationsverlauf angespielt: Das selbständige Bewusstsein und das unselbständige Bewusstsein scheinen zunächst notwendig und entgegengesetzt zu sein. Doch eben weil die Argumentation hier noch nicht abgeschlossen ist spricht Hegel auch davon, dass die Furcht des Herrn der Anfang der Weisheit ist (vgl. TW 3, 153):43 »Durch die Arbeit kommt es [das Bewusstsein; FHvW] zu sich selbst. In dem Momente, welches der Begierde im Bewußtsein des Herrn entspricht, schien dem dienenden Bewußtsein zwar die Seite der unwesentlichen Beziehung auf das Ding zugefallen zu sein, indem das Ding darin seine Selbständigkeit behält. Die Begierde hat sich das reine Negieren des Gegenstandes und dadurch das unvermischte Selbstgefühl vorbehalten. Diese Befriedigung ist aber deswegen selbst nur ein Verschwinden, denn es fehlt ihm die gegenständliche Seite oder das Bestehen. Die Arbeit hingegen ist gehemmte Begierde, aufgehaltenes Verschwinden, oder sie bildet. Die negative Beziehung auf den Gegenstand wird zur Form desselben und zu einem Bleibenden, weil eben dem Arbeitenden der Gegenstand Selbständigkeit hat. Diese negative Mitte oder das formierende Tun ist zugleich die Einzelheit oder das reine Fürsichsein des Bewußtseins, welches nun in der Arbeit außer es in das Element des Bleibens tritt; das arbeitende Bewußtsein kommt also hierdurch zur Anschauung des selbständigen Seins als seiner selbst.« (TW 3 153 f.)

Das ist, wie Jan Müller zu Recht konstatiert, keine genetische faktive Beschreibung. Es wird vielmehr der Begriff dessen, was ein selbständiger Gegenstand und was eine selbständige (denkende oder handelnde) Beziehung auf den Gegenstand ist, als reflexive Unterscheidung am Vollzug des bildenden Tuns erläutert (vgl. ders. 2011, 12). Aus diesem Grund scheint mir das die zentrale Textstelle zu sein, in der sich die beiden wesentlichen Elemente von Hegels Interpretation der aristotelischen Seelenlehre wiederfinden lassen:

43 | Es handelt sich dabei um eine Anspielung auf Psalm 111, 10.

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1. Die Begierde des Herrn hat sich das Negieren bzw. das Bestimmen des Gegenstandes vorbehalten. Ihr fehlt die gegenständliche Seite oder das Bestehen, denn wie wir oben gesehen haben, ist der νους nur, wenn er wirklich denkt. M.a.W.: Er ist ε νέργεια und lässt sich nur progressiv thematisieren – also wenn er etwas denkt. Dementsprechend heißt es in dieser Textstelle, dass das arbeitende Bewusstsein (im Vollzug) zur Anschauung seiner selbst kommt. Wie in Hegels Aristoteles-Interpretation lassen sich der tätige νους und der selbstbewusste νους nur aspektual voneinander unterscheiden: Ein Akt des Bewusstseins ist ein Akt des Selbstbewusstseins. Erst die Annahme, dass es sich um zwei verschiedene Vollzüge handelt, lässt das Problem des Selbstbewusstseins paradoxal erscheinen. 2. Ferner hatten wir gesehen, dass die Tätigkeiten des Denkens und Wahrnehmens in Hegels Aristoteles-Interpretation zwar unterschieden sind, diese Unterscheidung zwischen νους ποιητικός und νους παθητικός aber ebenfalls aspektual am tätigen νους vorgenommen wird: Es handelt sich also nicht um zwei voneinander unabhängige oder sortal verschiedene Tätigkeitstypen. Das Wahrnehmen ist vielmehr δύναμις für das Denken, d.h. der νους kann wahrnehmend tätig sein, wenn er auf einen Wahrnehmungsgegenstand trifft. Und ganz ähnlich heißt es hier: Die Arbeit ist die (gehemmte) Begierde. Bei der autonomen oder spontanen Tätigkeit des Herrn und der heteronomen oder rezeptiven Tätigkeit des Knechts handelt es sich dementsprechend nicht um extensionale Unterscheidungen, die verschiedene Vollzüge oder Tätigkeiten sortieren. Auch hier geht es Hegel um intensionale Unterscheidungen zwischen Hinsichten oder Aspekten an einer Tätigkeit bzw. am Denken und Handeln. Die Arbeit »bildet« im Sinne Hegels, indem sie die negative Beziehung auf den Gegenstand ist bzw. den Gegenstand bestimmt. Er ist somit das Werk (ε ρ γον) der Arbeit oder wie Hegel sagt: Die Form der begrifflichen Bestimmung oder des tätigen νους. Der damit zusammenhängende Begriff der Bildung verweist dabei auf die aristotelische Theorie des Erlernens und Aktualisierens von Vermögen, die oben am Beispiel der Wahrnehmung und der Wissenschaft erläutert wurde: Denn der Erwerb eines Vermögens oder einer Fähigkeit, so Aristoteles, kann nicht durch Belehrung, und das heißt durch Vermittlung von Wissensinhalten, geschehen (vgl. Kap. 4.1.3). Vor diesem Hintergrund lassen sich die wichtigsten Ergebnisse des bisherigen Argumentationsverlaufs wie folgt festhalten: Hegel löst das Problem des Selbstbewusstseins in kritischer Auseinandersetzung mit Fichtes Motiv der Tathandlung, Humboldts Konzept der Wechselwirkung und v.a. unter Rückgriff auf seine frühe Auseinandersetzung mit Aristoteles: Eine aporetische Problemstruktur besteht nur, wenn man im Sinne der neuzeitlichen Vermögenspsychologie von verschiedenen selbständigen und unselbständigen Vermögen ausgeht, die

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im Prozess des Erkennens aktualisiert werden. Hegel jedoch fasst Begriffe wie Verstand, Wahrnehmung, Spontaneität, Rezeptivität, Vernunft, Neigung, Autonomie oder Heteronomie nicht als Bezeichnungen für unabhängig voneinander bestehende Vermögen oder (nach Selbständigkeit und Unselbständigkeit hierarchisierte) Eigenschaften von Vermögen auf. Vielmehr, so macht er in Anschluss an Aristoteles deutlich, handelt es sich um »Weisen des Bewusstseins« oder modern formuliert um Adverbialsubstantivierungen,44 die die Modi des tätigen Bewusstseins bzw. Wissens beschreiben. Und in eben diesem Sinne handelt es sich auch bei der Differenzierung zwischen Bewusstsein und Selbstbewusstsein nicht um zwei verschiedene Vollzüge, sondern um eine aspektuale Unterscheidung am Bewusstsein selbst. Ein Akt des Wissens ist demnach ein selbstbewusster Akt. Damit wurde eine sehr unorthodoxe Lesart des umstrittenen Selbstbewusstseinskapitels vorgeschlagen. Sie wird jedoch i.) durch die Quellenlage gestützt, erlaubt es ii.) Hegels Ausführungen sehr textnah zu rekonstruieren und kann im Gegensatz zu vielen etablierten Lesarten iii.) eine plausible Lösung des Problems des Selbstbewusstseins anbieten. Ob und wie die Hegelforschung von einer solchen Lesart profitieren kann, muss an anderer Stelle geklärt werden. In Hinblick auf die Problemstellung dieser Arbeit ist im Folgenden zunächst der Bezug zum Ausgangsproblem wieder herzustellen, um darauf aufbauend die Erträge dieser Interpretation einfahren zu können. 4.1.5 Modi des Wissens: Selbständigkeit und Selbstbewusstsein Eines der zentralen Probleme der anschlussfähigen Position McDowells bestand darin, dass er das Verhältnis von Spontaneität und Rezeptivität nicht hinreichend geklärt hat, sodass nicht ersichtlich war, ob er in seiner Theorie einen propositionalen Wissensbegriff oder eine Fähigkeitskonzeption von Wissen zugrunde legt. Vor dem Hintergrund der eben vorgestellten Hegel-Interpretation kann dieses Problem nun gelöst werden. Denn wie oben gezeigt wurde, bestimmt Hegel den Begriff des Bewusstseins als Wissen, wenn er etwa schreibt, dass das Selbstbewusstsein das »Wissen von sich selbst« ist (vgl. TW 3, 138). Dieses Bewusstsein bzw. das Wissen wird im Kontext des Selbstbewusstseinskapitel als Tätigkeit analysiert. Interessanterweise gehört Ernst Tugendhat, der nicht gerade im Verdacht steht, Hegel übermäßig wohlwollend und modern zu lesen, zu den ganz wenigen Interpret*innen, die diesen Zusammenhang klar gesehen haben.45 Ent-

44 | Vgl. dazu die Ausführungen von Jan Müller (ders. 2011, 10), der wiederum auf Josef König verweist: »Wie tut jedoch einer, was er tut? Dies sagt das Adverb [...]. Das Adverb ist von daher die Bestimmung einer Bestimmung oder die ›bestimmte Bestimmtheit‹, wie Hegel den Modus fasst.« (Ders. 1969/1937, 7) 45 | In seiner Analyse bezieht er sich allerdings auf die Einleitung der

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rüstet stellt er fest, dass man diese Behauptung, »über die die stets verständnisvollen Hegelinterpreten mit der größten Selbstverständlichkeit hinweggehen, nur als eine Ungeheuerlichkeit bezeichnen [kann]« (ders. 1979, 310). Dabei beruft er sich auf die Standarddefinition von Wissen als »wahre und gerechtfertigte Überzeugung«, wie sie sich in Platons Dialog Theätet findet (vgl. Kap. 1). Der Wissensbegriff, so Tugendhat, sei einer der wenigen philosophisch relevanten Begriffe, die ein für alle mal geklärt worden sind: »Daß das im Fall des Wissens so einfach war, liegt daran, daß wir hier den Gattungsbegriff des Meinens haben und deswegen nur die zutreffende differentia specifica gefunden werden mußte.« (Ders. 1979, 310 f.) Hegel würde dementsprechend einfach nur Unsinn reden und das wirkliche Phänomen des Wissens zum verschwinden bringen (vgl. ebd., 311). Wie jedoch zu Beginn dieser Arbeit gezeigt wurde, ist der propositionale Wissensbegriff sowohl im Kontext der theoretischen als auch der praktischen Philosophie hochproblematisch. Hegel sieht diese Probleme und schlägt eine neue Definition vor: Wissen wird hier nicht mehr als ein Haben von gerechtfertigten Überzeugungen oder Wissensgegenständen begriffen, sondern als Tätigkeit.46 Dementsprechend lehnt er eine sortale Einteilung zwischen zwei verschiedenen Wissensformen oder Wissenstypen, dem Wissen durch die Aktualisierung eines rezeptiven Vermögens einerseits und dem Wissen durch die Aktualisierung eines spontanen Vermögens andererseits, kategorisch ab. Wenn Hegel die zeitgenössische Vermögenspsychologie kritisiert, ist das aber nicht so zu verstehen, dass Menschen nicht über verschiedene Vermögen verfügen würden (was offenkundig absurd wäre). Er selbst unterscheidet ja in Anschluss an Aristoteles deutlich zwischen dem Wahrnehmungsvermögen und dem Denken. Hegel wendet sich nur gegen die klassische Aufteilung und Ausdeutung dieser Vermögen und den Irrglauben, dass das (bzw. die einzelnen) Wahrnehmungsvermögen nicht auch eine Aktualisierung des begrifflichen Denkens wären. Er macht dementsprechend darauf aufmerksam, dass es problematisch ist, durch die empirisch beobachtbaren Vollzüge des Wahrnehmens und Urteilens auf verschiedene Vermögen zu schließen, die sich im Erkenntnisprozess aufeinander beziehen. Deshalb spricht er auch von den »Weisen des Bewußtseins«: Wahrnehmen und

Phänomenologie des Geistes, in der Hegel schreibt: »Dieses [das Bewusstsein; FHvW] unterscheidet nämlich etwas von sich, worauf es sich zugleich bezieht; oder wie dies ausgedrückt wird: es ist etwas für dasselbe; und die bestimmte Seite dieses Beziehens oder des Seins von etwas für ein Bewußtsein ist das Wissen.« (TW 3, 76) Hegel spricht hier nicht von einer Tätigkeit, sondern vom »Beziehen«, sodass Tugendhat zu Recht konstatiert, dass mit dem Begriff »Wissen« die Relation des Subjekts auf ein Objekt gemeint ist (vgl. ders. 1979, 313). 46 | Vgl. dazu auch die Interpretation Josef Königs von Mathias Gutmann und Michael Weingarten (dies. 2005, 163).

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Das Problem moralischen Wissens

Urteilen sind Aktualisierungen einer begrifflichen Fähigkeit und nicht Vollzüge verschiedener Fähigkeiten.47 Oder modern ausgedrück: Es handelt sich dabei um Modi des Wissens. Damit zusammenhängend löst er aber nicht nur die Dualität von Spontaneität und Rezeptivität auf, sondern auch die von theoretischem Wissen und praktischem Können. Denn wir haben eben nicht, wie Hegel auch in der Rechtsphilosophie schreibt, »in der einen Tasche das Denken [und] in der anderen das Wollen« (TW 7, § 4 Z). Das bedeutet, in Übereinstimmung mit dem bisherigen Ausführungen über den Zusammenhang von Sprechen, Wahrnehmen und Handeln, dass wir nicht einerseits ein empirisches Vokabular haben, um die Welt zu beschreiben, und dann noch ein evaluatives Vokabular, um die Welt zu bewerten. Auch die Unterscheidung zwischen empirischem Wissen einerseits und praktischem bzw. moralischem Wissen andererseits, muss aspektual aufgefasst werden: Theoretisches und praktisches Wissen bzw. empirisches und moralisches Wissen sind demnach Perspektiven auf die jeweiligen Vollzüge des Sprechens, Wahrnehmens und Handelns. Es ist kein Zufall, dass Hegel nicht mit den Begriffspaaren Spontaneität/Rezeptivität und Autonomie/Heteronomie operiert, sondern ganz allgemein von Selbständigkeit und Unselbständigkeit spricht. Denn die Differenzierung zwischen diesen Begriffspaaren setzt die Unterteilung verschiedener Vermögen und Wissenstypen voraus. Die wichtige Pointe für diese Arbeit besteht nun darin, dass die Begriffe Selbständigkeit und Unselbständigkeit trotzdem nicht genügen, um den Wissensbegriff angemessen zu konzeptualisieren. Denn indem Hegel auch das problematische Verhältnis von Bewusstsein und Selbstbewusstsein in Anschluss an seine Aristoteles-Interpretation aspektual löst, zeigt er, dass wir nicht zum einen das Wissen von etwas haben und dann zum anderen das Wissen über uns als Wissende von etwas. Das Wissen von etwas und das Wissen von sich selbst ist ein Akt.48

47 | Ich verstehe Hegels Kritik an der neuzeitlichen Vermögenspsychologie dabei so, dass die Rede von Fähigkeiten nur rekonstruktionstheoretisch Sinn macht: So verfügen wir etwa über die Wahrnehmungsfähigkeit ebenso, wie über verschiedene sinnliche Wahrnehmungsvermögen. Seine Kritik besagt dann, dass man sich Fähigkeiten nicht als eindeutig abgrenzbare und aufzulistende Vermögen vorstellen darf, die »wie in einem Sacke« (TW 3, 230) nebeneinander bestehen. Urteilen und Wahrnehmen sind in diesem rekonstruktionstheoretischen Sinne Aktualisierungen einer begrifflichen Fähigkeit. Auf den Begriff der Fähigkeit wird im Folgenden noch genauer eingegangen werden. 48 | Vgl. dazu auch Sebastian Rödels Untersuchung zum Problem des Selbstbewusstseins, die mit den hier gemachten Überlegungen einige Parallelen aufweist (ders. 2011a, 143 f.).

4. Mit Begriffen leben und in Lebensformen lernen

Oder anders formuliert: Der Begriff des Wissens (bzw. des Bewusstseins) kann nur über den Begriff des Selbstbewusstseins erläutert werden, denn ein Akt des Wissens ist ein selbständiger Akt und ein selbständiger Akt ist ein selbstbewusster Akt (sowohl das Problem der Autonomie bzw. der Selbständigkeit als auch das Problem des Selbstbewusstseins haben dieselbe selbstbezügliche Form). Noch deutlicher als im Selbstbewusstseinskapitel der Phänomenologie des Geistes schreibt Hegel in der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften: »Die Wahrheit des Bewußtseins ist das Selbstbewußtsein und dieses der Grund von jenem, so daß in der Existenz alles Bewußtsein eines anderen Gegenstandes Selbstbewußtsein ist; ich weiß von dem Gegenstande als dem meinigen (er ist meine Vorstellung), ich weiß daher darin von mir.« (TW 10, § 424) 49

Man kann die Pointe der hegelschen Überlegungen und ihre Wichtigkeit für einen angemessenen Wissensbegriff an dieser Stelle gar nicht genug betonen. Und trotzdem bleibt es, wie Sebastian Rödl schreibt, eine ehrwürdige, aber schwer zu verstehende Idee des Deutschen Idealismus, dass Selbstbewusstsein, Freiheit und Vernunft eins sind (vgl. ders. 2011a, 143). Daher gilt es nun, diese Idee genauer zu erläutern, um den Wissensbegriff abschließend bestimmen zu können. Dabei wird zu zeigen sein, dass Hegels Theorie entgegen der weit verbreiteten Unterstellung durch Interpret*innen wie Ernst Tugendhat alles andere als eine »Rechtfertigung des Bestehenden« (vgl. ders. 1979, 351) ist. Vielmehr handelt es sich, wie Christoph Menke zu Recht konstatiert und im Folgenden noch genauer zu zeigen sein wird, um eine »Theorie der Befreiung« (vgl. ders., 2013). Denn wenn Hegel von den »Weisen des Bewusstseins« spricht, wendet er sich nicht nur gegen den metaethischen Dualismus von Naturalismus und Nonnaturalismus. Und wenn er in Anschluss an das Selbstbewusstseinskapitel auf den motivationalen Gegensatz von tatenlosem Denken (Stoizismus) und gedankenlosem Tun (Skeptizismus) anspielt (vgl. Stekeler-Weithofer 2014a, 720 ff.), kritisiert er nicht einfach nur die (metaethische) Differenzierung von Externalismus und Internalismus. Es geht ihm vielmehr in kritischer Auseinandersetzung mit

49 | Stekeler-Weithofer sieht daher ganz richtig, dass die Unterstellung, Hegel meine mit Selbstbewusstsein die Beziehung von mir als performative Sprecher*in auf mich als grammatisches Objekt, völlig unzutreffend ist. Dass »ich« kein bezugnehmender Ausdruck ist, hat bereits Elizabeth Anscombe mit dem Argument gezeigt, dass es unsinnig ist zu sagen, Ich-Gedanken könnten den richtigen Gegenstand erfassen (vgl. dies. 1993/1981; Rödl 2011a, 165 ff.). Tugendhats »Kehraus mit Hegel« (vgl. ders. 1979, 293 ff., 321 ff.) trifft daher weniger Hegel selbst als viele seiner Interpreten (vgl. StekelerWeithofer 2014a, 718).

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dem neuhumanistischen Bildungsgedanken, wie er sich v.a. bei Humboldt findet, um die Vorbereitung einer kritischen Theorie der Bildung, die zeigt, wie Selbständigkeit, Selbstbewusstsein und Wissen erarbeitet werden (vgl. Kap. 4.1.1). Damit zusammenhängend können auch die beiden anderen Schwierigkeiten innerhalb der Theorie McDowells – das Verhältnis von erster und zweiter Natur und das Problem des Erlernens von Selbständigkeit bzw. Wissen – gelöst werden. Den bereits eingeführten Begriffen der Arbeit und der Bildung wird dabei eine besondere Bedeutung zukommen.

4.2 Von der zweiten Natur zum Habitus Ein Akt des Wissens, so hatten wir in Anschluss an Hegel gesehen, ist ein selbständiger und damit selbstbewusster Akt des Sprechens, Wahrnehmens oder Handelns. Theoretisches und praktisches bzw. empirisches und moralisches Wissen sind dabei aspektual voneinander unterschieden, insofern sie verschiedene Perspektiven auf einen solchen Akt beschreiben. Wie das zu verstehen ist, wird nun im letzten Abschnitt dieser Arbeit geklärt. Dabei wird auch auf die wichtigen Vorarbeiten aus dem vorangegangenen Hauptkapitel zurückzukommen sein, insbesondere auf den Begriff des Wertes und der Lebensform. Den Ausgangspunkt der Überlegungen bilden die beiden verbleibenden Probleme des schwachen Ethischen Realismus John McDowells. Sie betreffen das Verhältnis von erster und zweiter Natur und das Erlernen der zweiten Natur bzw. von Selbständigkeit. Nachdem das Konzept der zweiten Natur längere Zeit aus der philosophischen Mode gekommen war, hat es mit dem Erfolg von McDowells Buch Mind and World ein beachtliches revival in der philosophischen Diskussion erfahren. Dabei liegen seine Wurzeln bereits in der griechischen Antike und seine begriffsgeschichtliche Entwicklung reicht bis zur Anthropologie des 20. Jahrhunderts. Im Gegensatz zu McDowells Verständnis der zweiten Natur werden mit dem Begriff traditionell aber nicht nur Gewohnheiten, Fähigkeiten und Eigenheiten von Individuen bezeichnet (etwa Sitten, Charaktereigenschaften oder Tugenden), sondern auch soziale Beziehungen, Institutionen und Lebensformen (wie etwa Bildung, Technik, Kultur, Recht oder Staat; vgl. Testa 2008, 286 f.). Und eben dieses Verhältnis von individuellen Vollzügen und Lebensformen, dass sich im letzten Hauptkapitel dieser Arbeit als eines der zentralen Probleme für eine Theorie moralischen Wissens herausgestellt hat, scheint in McDowells Adaption der zweiten Natur etwas aus dem Blickfeld zu geraten (vgl. ebd., 288). Das mag auch daran liegen, dass er mit dem Begriff das problematische Verhältnis von Geist und Welt verständlich machen will (und damit gleichzeitig auf erkenntnistheoretische und metaethische Pointen abzielt), ohne aber eine elaborierte oder zumindest etwas detailliertere Theorie der zweiten Natur zur Verfügung zu

4. Mit Begriffen leben und in Lebensformen lernen

stellen.50 Und eben darin liegen die in Kap. 2.1.1 bereits explizierten Probleme seiner Theorie. Hier scheint sich Hegel abermals als Gewährsmann anzubieten, um über McDowell hinausgehen zu können. Denn er greift expressis verbis auf das Konzept der zweiten Natur zurück und thematisiert darüber hinaus auch noch ihr Erlernen. So liest man etwa in der Rechtsphilosophie: »Aber in der einfachen Identität mit der Wirklichkeit der Individuen erscheint das Sittliche, als die allgemeine Handlungsweise derselben, als Sitte, – die Gewohnheit desselben als eine zweite Natur, die an die Stelle des ersten bloß natürlichen Willens gesetzt und die durchdringende Seele, Bedeutung und Wirklichkeit ihres Daseins ist, der als eine Welt lebendige und vorhandene Geist, dessen Substanz so erst als Geist ist.« (TW 7, § 151)

Und im Zusatz zu diesem Paragraphen heißt es weiter, dass die Pädagogik die Kunst sei, den Menschen sittlich zu machen: »[S]ie betrachtet den Menschen als natürlich und zeigt den Weg, ihn wiederzugebären, seine erste Natur zu einer zweiten geistigen umzuwandeln, so daß dieses Geistige in ihm zur Gewohnheit wird.« (TW 7, § 151 Z) Offensichtlich ist Hegels Begriff der zweiten Natur nicht identisch mit dem von McDowell. Denn in Hegels Sinn handelt es sich dabei um Gewohnheiten des (sittlichen) Handelns und (philosophischen) Denkens (vgl. ebd.). Damit zusammenhängend formuliert er in der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften die Bildung der Leiblichkeit zur zweiten Natur: »Die Gewohnheit ist mit Recht eine zweite Natur genannt worden, – Natur, denn sie ist ein unmittelbares Sein der Seele, – eine zweite, denn sie ist eine von der Seele gesetzte Unmittelbarkeit, eine Ein- und Durchbildung der Leiblichkeit, die den Gefühlsbestimmungen als solchen und den Vorstellungs- [und] [sic!] Willensbestimmtheiten als verleiblichten (§ 401) zukommt.« (TW 10, § 410)

Hegel zielt in diesem Paragraphen darauf ab, dass diese Gewohnheiten durch Wiederholung und Übung gebildet werden (vgl. TW 10, § 410). Mit dem Begriff der Leiblichkeit betont er gleichzeitig die Einheit von körperlichen und geistigen bzw. von emotionalen und kognitiven Vollzügen (vgl. ebd., § 410 Z).51 Und mehr noch:

50 | Diese Einschätzung teilt auch Christoph Halbig (vgl. ders. 2006, 222) und verweist dabei auf McDowells eigene Worte: »Once my reminder of second nature has done its work, nature can drop out of my picture.« (Ders. 2002, 277) 51 | Hegel nimmt auch hier die Herrschaftsmetaphorik wieder auf. So spricht er etwa von der »Herrschaft der Seele« oder der »Bemächtigung der Leiblichkeit«, wozu Bildung erforderlich sei (vgl. TW 10, § 410 Z). Zu Hegels Lösung des Leib-Seele-Problems vgl. Wolff 1992.

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Das Problem moralischen Wissens »Der Boden des Rechts ist überhaupt das Geistige und seine nähere Stelle und Ausgangspunkt der Wille, welcher frei ist, so daß die Freiheit seine Substanz und Bestimmung ausmacht und das Rechtssystem das Reich der verwirklichten Freiheit, die Welt des Geistes aus ihm selbst hervorgebracht, als eine zweite Natur, ist.« (TW 7, § 4)

Indem Hegel mittels des Begriffs der zweiten Natur nicht nur leibliche Vollzüge, sondern auch das Verhältnis von Individuen und sozialen Strukturen thematisiert, geht er einen entscheidenden Schritt über McDowell hinaus. Es wäre an dieser Stelle jedoch ein eher langweiliges und sinnloses Unterfangen, alle Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Theorien der zweiten Natur von Hegel und McDowell miteinander vergleichen zu wollen, um sie anschließend auf ihre Anschlussfähigkeit hin zu prüfen.52 Da im Kontext dieser Arbeit der schwierige Naturbegriff nicht zentral ist und die ansonsten notwendigen Untersuchungen und Erläuterungen für eine adäquate Konzeptualisierung des Verhältnisses von erster und zweiter Natur im Sinne der argumentativen Stringenz gespart werden können, scheint es in diesem Fall zunächst einmal lohnend, sich vom engen Korsett einiger Begrifflichkeiten Hegels zu befreien. Denn seine Überlegungen zum Begriff der zweiten Natur sind – wie die Zitate deutlich zeigen – in etwas veraltete Begriffe wie Geist, Sittlichkeit oder Seele eingebettet. Es würde wenig Sinn machen, sie entgegen unserer Sprachgewohnheiten wieder in die philosophischen Debatten der Gegenwart einführen zu wollen. Und aus eben diesem Grund müssen sie, so weit das erforderlich ist, in eine moderne Terminologie übersetzt werden.53

52 | Ein spannender Vergleich von McDowells und Hegels Naturbegriff findet sich dagegen bei Halbig 2006. 53 | Während ich bisher mit der Begriffs- und Urteilslehre aus der Wissenschaft der Logik und dem Selbstbewusstseinskapitel aus der Phänomenologie des Geistes auf zusammenhängende Textstellen und Argumente Hegels zurückgegriffen habe, um sie modern zu übersetzen und damit für die Problemstellung dieser Arbeit anschlussfähig zu machen, greife ich im Folgenden auf Textstellen aus verschiedenen Werken zurück. Das ist dem Umstand geschuldet, dass Hegel keine zusammenhängende Theorie der (Bildung der) zweiten Natur entwickelt hat, sich aber seine Ausführungen zum Begriff der Bildung zu einer stringenten Argumentationslinie zusammenfügen lassen. Die Hauptquellen sind dabei die Grundlinien der Philosophie des Rechts, die sogenannten Gymnasialreden, die Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie und die Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte. Da innerhalb dieser Arbeit nicht nur Hegelphilologie betrieben werden soll, kann nicht jeder

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Deshalb soll an dieser Stelle der Begriff des Habitus eingeführt werden, um den problematischen Begriff der zweiten Natur in seiner systematischen Funktion zu beerben. Denn erstens hat er dieselben geistesgeschichtlichen Wurzeln, sodass mit beiden ähnliche Problemstellungen untersucht werden (manchmal werden beide Konzepte auch miteinander identifiziert) und zweitens ist er überaus anschlussfähig an die bereits vorgestellten Überlegungen zum Begriff der Lebensform, zu Hegels Kritik an der zeitgenössischen Vermögenspsychologie und – wie im Folgenden noch genauer zu zeigen sein wird – zu seinen bildungstheoretischen Ausführungen. Aus diesem Grund liegt das Potential des Habitusbegriffs für die gegenwärtige philosophische Forschung analog zum Begriff der zweiten Natur darin, dass moralisches Wissen und Handeln nicht entweder auf subjektiven Gefühlen (wie im Nonkognitivismus und im Relativismus) oder auf einer leidenschaftslosen Vernunft resp. Rationalität (wie im Ethischen Objektivismus und teilweise im Ethischen Realismus) beruhen müssen. Gleichzeitig lassen sich über ihn das Spannungsfeld zwischen Individuum und Lebensform und die damit zusammenhängenden Lernprozesse angemessen thematisieren. Um meinen Vorschlag, den Begriff in die Forschungsdiskussion aufzunehmen, zu untermauern und um den nächsten Argumentationsschritt dieser Arbeit vorzubereiten, wird im Folgenden zunächst der Begriff des Habitus vorgestellt und gezeigt, wie er sich in den Argumentationsgang dieser Arbeit einfügt. Darauf aufbauend werden vor dem Hintergrund des hegelschen Bildungsbegriffs zunächst die lerntheoretischen Implikationen des Habituskonzepts untersucht, um anschließend auf die selbstbewusstseinstheoretischen Implikationen einzugehen, die den Begriff des Wissens abschließend erklären. 4.2.1 Das Verwirklichen der Habitus in der Tragödie Der Begriff des Habitus geht auf den aristotelischen Begriff der ε  ξις zurück, der üblicherweise mit »Haltung« in die deutsche Sprache übersetzt wird. Die Haltungen sind entweder mit der Geburt gegeben oder werden durch das Lernen erworben. So unterscheidet Aristoteles etwa in der Nikomachischen Ethik zwischen der sittlichen Tugend, die durch Übung gelernt wird, der Verstandestugend, die »hauptsächlich durch Belehrung« gelernt wird und der Wahrnehmung, die uns von Natur aus zuteil wird und nicht gelernt werden kann (vgl. EN II 1, 1103a14 ff.):54

einzelne problematische Begriff aus den verschiedenen Zitaten in eine moderne Terminologie übertragen werden. In Anschluss an die Ausführungen Hegels soll aber die in dieser Arbeit bereits entwickelte Begrifflichkeit weiter ausdifferenziert werden. 54 | Es handelt sich dabei um die bereits erwähnte Textstelle, auf die auch John McDowell für das Konzept der zweiten Natur zurückgreift (vgl. Kap. 2.1.1).

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Das Problem moralischen Wissens »Die Tugenden dagegen erlangen wir nach vorausgegangener Tätigkeit, wie dies auch bei den Künsten der Fall ist. Denn was wir tun müssen, nachdem wir es gelernt haben, das lernen wir, indem wir es tun. So wird man durch Bauen ein Baumeister und durch Zitherspielen ein Zitherspieler. Ebenso werden wir aber durch gerechtes Handeln gerecht, durch Beobachtung der Mäßigkeit mäßig, durch Werke des Starkmuts starkmütig.« (EN II 1, 1103a30 ff.)

Zwischen einer Haltung (die durch Übung gelernt wird) und einer Tätigkeit (ε νέργεια) besteht also insofern ein wechselseitiges Verhältnis, als die Haltungen aus der Wiederholung ähnlicher Tätigkeiten entstehen (vgl. EN I 1, 1103b21 f.; Ricken 2005, 254). Thomas von Aquin nimmt den aristotelischen Begriff der ε  ξις später mit dem lateinischen Begriff »habitus« wieder auf, verwendet ihn aber in verschiedenen, wenn auch sehr ähnlichen Bedeutungen (vgl. Darge 1996, 15 ff.). Theoretisch zentral ist dabei, dass der Habitus als Vermittlungsinstanz zwischen einem Wirkvermögen (Potenz) und der entsprechenden Verwirklichung einer Tätigkeit (Akt) gefasst wird (vgl. ebd., 20). Die verschiedenen Habitus werden dabei an den Tätigkeiten, die aus ihnen hervorgehen, erkannt und rekonstruiert (»habitus per actus cognoscuntur«; vgl. S.theol. I, qu. 87 a. 2),55 wobei jeder einzelnen Person ein individueller Habitus zukommt (vgl. Krais/Gebauer 2014/2002, 26).56 Kurioserweise hat der Habitusbegriff, seiner prominenten Wurzeln und seines Potentials zum Lösen philosophischer Probleme zum Trotz, keine weitere Karriere in der akademischen Philosophie gemacht. Dagegen findet er sich innerhalb der Soziologie an prominenter Stelle etwa bei Émile Durkheim, Max Weber, Marcel Mauss oder Norbert Elias. Doch erst bei Pierre Bourdieu bekommt der Begriff eine spezifisch systematische Bedeutung und wird zum Kernstück seiner Theoriebildung. Damit leitet Bourdieu gleichzeitig einen Paradigmenwechsel im sozialwissenschaftlichen Denken ein, insofern soziales Handeln nicht länger als Resultat bewusster Entscheidungen bzw. als Befolgen von Regeln gedeutet wird (vgl. ebd., 5). Der Begriff des Habitus dient ihm dazu, die Vermittlung von (objektiver) Struktur und (individueller) Praxis in einem Begriff zu denken und sich damit der Entgegensetzung von System- und Handlungstheorie zu widersetzen (vgl. Wayand 1998, 226). Es handelt sich beim Habitus dementsprechend um die Gesamtheit der einverleibten und (mitunter) unbewussten »Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungs-

55 | Während der Plural des Habitus in der deutschen Sprache oft etwas ungenau und möglicherweise verwirrend mit »Habitusformen« übersetzt wird, wird er im Folgenden mit dem lateinischen Plural wiedergegeben: Habitus, gesprochen mit einem langen »u« (vgl. Krais/Gebauer 2014/2002, 7). 56 | Eine detaillierte Interpretation von Thomas’ Habituskonzept mit ausführlichen Quellenangaben findet sich bei Darge 1996.

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schemata«, welche die Äußerungen von Individuen und Gruppen strukturieren (vgl. ebd.; Bourdieu 1970, 40). Dabei ist er als Transmissionsmechanismus zu verstehen, durch den die objektiven Strukturen (Bourdieu unterscheidet hierbei mit der sozialen Klasse, dem Geschlecht und dem sozialen Feld drei zentrale Strukturierungsmöglichkeiten moderner Gesellschaften) in alltäglichen Handlungen Gestalt annehmen (vgl. Wayand 1998, 226). Als opus operatum ist er die verinnerlichte oder inkorporierte Geschichte des Individuums, als modus operandi bringt er in neuen Situationen neue Verhaltensweisen hervor (vgl. Krais/ Gebauer 2014/2002, 5 f.). Damit ist er zugleich und je nach Perspektive Produkt und Produzent seiner sozialen Mitwelt und natürlichen Umwelt. In Anschluss an Aristoteles verweigert sich Bourdieu dabei der dichotomischen Entgegensetzung von physisch und psychisch bzw. von Körper und Geist, sodass der Körper nicht mehr einfach nur als Speicher oder Aufbewahrungsort für bereitgehaltene Gedanken gesehen wird (vgl. ders. 1987/1980, 127). Vielmehr ist der Habitus das »Körper gewordene Soziale« (ders./Wacquant 1996/1992, 161). Es ist kein Zufall, dass sich dieses Habituskonzept nahtlos in die Argumentation dieser Arbeit einfügen lässt. Denn Wittgensteins Deutung der Sprache als regelmäßig aber nicht regelgeleitet sowie als konventionell und zugleich offen (vgl. Kap. 3.2), diente Bourdieu als wichtige Inspirationsquelle seiner eigenen Theorie (vgl. Rehbein 2013, 124 ff.). Der Begriff des Habitus überträgt dabei die oben bereits vorgestellten Überlegungen zum Regelfolgen auf soziale Individuen. Allerdings hatten wir gesehen, dass Wittgenstein es nicht vermag, das Verhältnis von Sprache und Lebensform abschließend zu klären. Aus diesem Grund wurde in Kap. 3.4 auf Hegels Begriffstheorie verwiesen, die zeigt, wie Sprechen, Wahrnehmen und Handeln miteinander zusammenhängen. Daran anschließend konnte in Kap. 3.5 ein angemessener Begriff der Lebensform entwickelt werden. Vor dem Hintergrund dieser Vorarbeit kann das Verhältnis von Habitus und Lebensform hier als Modalgefälle konzeptualisiert werden. Demnach ist der Habitus die Gesamtheit der Sprach-, Wahrnehmungs- und Handlungsschemata, insofern er die jeweiligen Lebensformen, als reale Möglichkeiten des Sprechens, Wahrnehmens und Handelns, verwirklicht. Sowohl die Lebensformen als auch die Habitus selbst können erst über die jeweiligen Verwirklichungen der Habitus rekonstruiert werden:57

57 | Wie Thomas in seiner Interpretation der aristotelischen Seelenlehre hervorhebt, ist der Habitus sowohl Potenz als auch Akt: Denn während jeder Mensch potentiell ein Grammatiker und jeder, der sich zu einem bestimmten Zeitpunkt mit der Grammatik befasst, aktuell ein Grammatiker ist, nimmt der, der sich den Habitus eines Grammatikers angeeignet hat, sich aber gerade nicht mit Grammatik befasst, eine Zwischenstellung ein, wie Peter Nickl betont: »Der erste nämlich ist ›in potentia tantum‹, der zweite ›in actu tantum‹,

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Wer etwa in der Wohlhabenheit und Sicherheit des konservativ-technokratischen Milieus aufwächst, entwickelt einen anderen Geschmack und ein anders Verhältnis zur Welt als jemand, der seit frühester Kindheit an die Not und Notwendigkeit des traditionslosen Arbeitermilieus gewohnt ist, mit Distanz zu den Produkten der Hochkultur aufwächst und permanent mit sozialer Unsicherheit konfrontiert ist. Beide entwickeln einen Habitus, in dem sich die frühen Erfahrungen des sozialen Ortes, in den sie hineingeboren wurden, eingelagert hat und der bestimmte Wünsche, Zeithorizonte, Aspirationen und Umgangsweisen mit der Welt eröffnet und andere ausschließt. Das jeweilige Sprechen, Wahrnehmen und Handeln ist damit an jeweils andere Objektwerte und Wertobjekte gebunden, aus denen sich unterschiedliche und manchmal auch gegensätzliche Handlungsregeln rekonstruieren lassen (vgl. Krais/Gebauer 2014/2002, 43; Kap. 3.5.2; Kap. 3.5.3). Deshalb stellen Konflikte zwischen den unterschiedlichen Ordnungsvorstellungen und Verhaltensweisen der Habitus die eingeübten Sprach-, Wahrnehmungs- und Handlungsschemata immer wieder in Frage, sodass sich die Habitus-prägenden Erfahrungen nicht immer bruchlos und harmonisch ineinander fügen (vgl. Krais/Gebauer 2014/2002, 72 f.).58 An einem Beispiel lässt sich dieser Zusammenhang verdeutlichen: »Mädchen bürgerlicher Herkunft lernen gleichzeitig, dass ihnen die Welt offen steht, dass sie frei und im sozialen Raum ›oben‹ sind und dass sie doch nur

der dritte aber ›in actu‹ mit Blick auf den ersten, zugleich aber ›in potentia‹ mit Blick auf den zweiten.« (Ders. 2001, 52) 58 | Da der Terminus Erfahrung zu den Grundbegriffen der abendländischen Philosophiegeschichte gehört und dementsprechend mit einer Vielzahl von Bedeutungen und Verwendungsweisen konnotiert wird, ist er zu komplex, um ihn an dieser Stelle genauer explizieren zu können. Hans-Georg Gadamer macht aber darauf aufmerksam, »daß wir in einem doppelten Sinne von Erfahrung sprechen, einmal von den Erfahrungen, die sich unserer Erwartung einordnen und sie bestätigen, sodann aber von der Erfahrung, die man ›macht‹. Diese, die eigentliche Erfahrung, ist immer eine negative. Wenn wir an einem Gegenstand eine Erfahrung machen, so heißt das, daß wir die Dinge bisher nicht richtig gesehen haben und nun besser wissen, wie es damit steht. Die Negativität der Erfahrung hat also einen eigentümlich produktiven Sinn. [...] Es kann also nicht ein beliebig aufgelesener Gegenstand sein, an dem man eine Erfahrung macht, sondern er muß so sein, daß man an ihm ein besseres Wissen nicht nur über ihn, sondern über das, was man vorher zu wissen meinte, also über ein Allgemeines gewinnt.« (Ders. 1990/1960, 359) Gadamer nennt in diesem Kontext Hegel als wichtigen Zeugen, und in eben diesem Sinne soll der Erfahrungsbegriff hier deshalb verstanden werden.

4. Mit Begriffen leben und in Lebensformen lernen zweitrangige Wesen sind, dass sie dem unterlegenen Geschlecht angehören, dass die Welt sie mit Barrieren, Beschränkungen und Grenzen konfrontiert. Und Mädchen aus Arbeiterfamilien mögen wohl lernen, dass sie nicht nur dem minderwertigen Geschlecht angehören, sondern auch in ihren sozialen Ansprüchen sich zu bescheiden haben, den Kopf einzuziehen haben gegenüber den Mächtigen und Besitzenden, sie lernen zugleich, dass sie, um ein menschenwürdiges Leben führen zu können, in der Lage sein müssen, ihre materielle Existenz durch eigene Arbeit zu sichern – denn dass ihr Lebensunterhalt und ihre soziale Position durch einen vermögenden Ehemann zuverlässig und über lange Jahre gesichert wird, ist eher unwahrscheinlich.« (Krais/Gebauer 2014/2002, 73)

Die δόξα der unhinterfragten Selbstverständlichkeit der sozialen Ordnung wird in konflikthaften Erfahrungen leicht brüchig, so dass die jeweiligen Weisen des Sprechens, Wahrnehmens und Handelns hinterfragt werden müssen. Hegel selbst verdeutlicht diesen Zusammenhang u.a. anhand der griechischen Tragödie: So beschreibt etwa Sophokles in seinem Drama Antigone einen Wertkonflikt, bei dem die Protagonistin nicht konfliktfrei handeln kann. Kreon, der neue Herrscher Thebens, verbietet bei Strafandrohung der Steinigung die Beerdigung ihres Bruders Polyneikes aus politischen Gründen und verwehrt ihm damit den Einzug in das Totenreich. Die Gesetze der Götter hingegen gebieten diese Beerdigung. Für Antigone steht fest, dass sie ihren Bruder trotz des Verbots und der drohenden Strafe beerdigen muss. Sie sieht sich aus ihrer individuellen Perspektive mit einer Pflicht oder moralischen Tatsache konfrontiert. In diesem Sinne schreibt Hegel in den Grundlinien zur Philosophie des Rechts: »Betrachtet man die Sittlichkeit von dem objektiven Standpunkt, so kann man sagen, der sittliche Mensch sei sich unbewußt. In diesem Sinne verkündet Antigone, niemand wisse, woher die Gesetze kommen: Sie seien ewig.« (TW 7, § 144 Z)

Und in der Phänomenologie des Geistes heißt es weiter: »So gelten sie [die Gesetze; FHvW] der Antigone des Sophokles als der Götter ungeschriebenes und untrügliches Recht: nicht etwa jetzt und gestern, sondern immerdar lebt es, und keiner weiß, von wannen es erschien. Sie sind. Wenn ich nach ihrer Entstehung frage und sie auf den Punkt ihres Ursprungs einenge, so bin ich darüber hinausgegangen; denn ich bin nunmehr das Allgemeine, sie aber das Bedingte und Beschränkte. Wenn sie sich meiner Einsicht legitimieren sollen, so habe ich schon ihr unwankendes Ansichsein bewegt und betrachte sie als etwas, das vielleicht wahr, vielleicht auch nicht wahr für mich sei. Die sittliche Gesinnung besteht eben darin, unverrückt in dem fest zu beharren, was das

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Das Problem moralischen Wissens Rechte ist, und sich alles Bewegens, Rüttelns und Zurückführens desselben zu enthalten.« (TW 3, 322) 59

Das individuelle Handeln – hier im Falle von Antigone – ist zunächst nichts als das bloße Fortschreiben der tradierten Ordnung. Hegel zeigt aber, dass es potentiell auch immer in Spannung zu dieser steht. Die Grundlage allen Handelns bleibt dabei jedoch der Ethos (vgl. Stekeler-Weithofer 2014b, 194). Wichtig ist, dass es sich bei dieser Spannung eben nicht einfach um eine Kollision verschiedener Pflichten handelt, in denen das Individuum abwägen muss, was zu tun ist: »Der Grund, von dem diese Bewegung aus- und auf dem sie vorgeht, ist das Reich der Sittlichkeit [...]. Als sittliches Bewußtsein ist es die einfache reine Richtung auf die sittliche Wesenheit oder die Pflicht. Keine Willkür, und ebenso kein Kampf, keine Unentschiedenheit ist in ihm, indem das Geben und das Prüfen der Gesetze aufgegeben worden, sondern die sittliche Wesenheit ist ihm das Unmittelbare, Unwankende, Widerspruchslose. Es gibt daher nicht das schlechte Schauspiel, sich in einer Kollision von Leidenschaft und Pflicht, noch das Komische, sich in einer Kollision von Pflicht und Pflicht zu befinden – einer Kollision, die dem Inhalte nach dasselbe ist als die zwischen Leidenschaft und Pflicht; denn die Leidenschaft ist ebenso fähig, als Pflicht vorgestellt zu werden [...].« (TW 3, 342)

Hegel überrascht und provoziert mit dieser Aussage gleichermaßen, wie Stekeler-Weithofer konstatiert. Denn die Kollision von Pflichten oder Pflichten und Neigungen – etwa ob man einen dicken Mann von einer Brücke auf einen rollenden Zug werfen dürfe, um zehn weitere zu retten – wird heute eher als tragisch angesehen. Solche Szenarien, so Hegel, könnten jedoch höchstens als Teil eines schlechten Dramas oder einer Komödie bestehen, womit er sie als läppisch abtut. Die Tragödie thematisiert dagegen nur »echte« Wertkonflikte – wie der zwischen Kreon und Antigone – in der alle Personen von ihrem Handeln überzeugt sind (vgl. ders. 2014b, 195 f.): »Das sittliche Bewußtsein aber weiß, was es zu tun hat; und ist entschieden, es dem göttlichen oder dem menschlichen Gesetze anzugehören.« (TW 3, 343) 60 Sowohl Kreons Befehl, den toten Aufrührer Poly-

59 | Vgl. zu Hegels Antigone-Deutung hinsichtlich des Problems der Autonomie auch Menke 2013, 308 f. 60 | Antigones Überzeugung drückt sich auch in ihrem Namen aus, der sowohl mit »unbeugsam« als auch mit »gegen die Mutterschaft« übersetzt werden kann (vgl. Žižek 2015, 22). Im Drama wird zwar ein Konflikt in einem spezifischen historischen und kulturellen Kontext dargestellt, die Problemstellung ist aber, im Gegensatz zum Ausgang der Tragödie, zeitlos. Unter anderen historischen Vorzeichen hätte der Chor als Kollektivorgan möglicher-

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neikes nicht zu begraben, als auch Antigones Missachtung dieses Befehls folgen ihrem jeweiligen Charakter oder sind modern formuliert Verwirklichungen ihres jeweiligen Habitus.61 »Indem es [das sittliche Bewußtsein; FHvW] das Recht nur auf seiner Seite, das Unrecht aber auf der anderen sieht, so erblickt von beiden dasjenige, welches dem göttlichen Gesetz angehört, auf der andern Seite menschliche zufällige Gewalttätigkeit, – das aber dem menschlichen Gesetze zugeteilt ist, auf der anderen den Eigensinn und den Ungehorsam [...].« (TW 3, 344)

Kreon argumentiert mit dem positiv bestehenden Recht des Staates, Antigone dagegen mit dem Verweis auf die Familientradition, wobei Antigone Kreon Gewalttätigkeit und Kreon Antigone Ungehorsam vorwirft (vgl. Stekeler-Weithofer 2014b, 200). Hegel identifiziert das Problem aber eben nicht nur darin, dass die handelnden Personen jeweils andere Objektwerte und Wertobjekte geltend machen. Vielmehr handelt es sich um einen Widerspruch auf der Seite der sittlichen Verhältnisse (vgl. Jaeggi 2014, 376; Fn. 100). Dieser erlaubt es Antigone nicht, konfliktfrei zu handeln, obwohl sie sich ihrer Sache sicher ist: »Aber das sittliche Wesen hat sich selbst in zwei Gesetze gespalten, und das Bewußtsein, als unentzweites Verhalten zum Gesetze, ist nur einem zugeteilt.« (TW 3, 345) Und weiter: »Indem das Gemeinwesen sich nur durch die Störung der Familienglückseligkeit [...] sein Bestehen gibt, erzeugt es sich an dem, was es unterdrückt und was ihm zugleich wesentlich ist, an der Weiblichkeit überhaupt seinen inneren Feind.« (TW 3, 352)

Nach Rahel Jaeggis anschlussfähiger Interpretation handelt es sich hierbei eben nicht um einen Konflikt, der durch das Auftreten zweier konträrer Ansprüche entsteht, sondern um einen Konflikt zwischen zwei miteinander verbundenen Ansprüchen: Dem rechtlich verfassten Gemeinwesen einerseits und dem durch Antigone verkörperten Gesetz familiärer Solidarität andererseits (vgl. dies. 2014,

weise die Kontrolle über Theben übernommen, die Volksdemokratie eingeführt, Kreon entthront und ihn und Antigone auf der Stelle verhaftet und liquidiert (vgl. ebd., 28 f.). Das Drama (und v.a. die Tragödie) kann deshalb in Anschluss an Alasdair MacIntyre als »Form des menschlichen Lebens« und aller ethischen Probleme verstanden werden (vgl. ders. 2011/1981, 167 f.). 61 | »Das sittliche Bewußtsein, weil es für eins derselben entschieden ist, ist wesentlich Charakter.« (TW 3, 343)

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371). Sie spricht dabei auch von »immanenten Widersprüchen« innerhalb von Lebensformen oder von »dialektischen Widersprüchen« (vgl. ebd., 373 f.): »Dass eine Lebensform in einen ›immanenten Widerspruch‹ geraten kann, bedeutet, dass ihr ihre eigenen Geltungsgrundlagen, der mit ihr und von ihr gesetzte Sinn und die mit ihr und von ihr gesetzten normativen Bezugspunkte fraglich geworden sind. Nur so erklärt sich, dass Lebensformen intern gewissermaßen ›erodieren‹ können oder sogar eine solche auf das interne Ungenügen zurückführende Erosion die Voraussetzung ihres faktischen Scheiterns ist. Nicht weil es Sokrates gibt, weil er weltgeschichtlich auftritt, zerbricht die griechische Sittlichkeit, sondern weil diese an ihm erfahren muss, dass sie ihren eigenen Ansprüchen nicht genügen kann. Und nicht das bloße Faktum der Armut lässt die bürgerliche Gesellschaft ›in ihre Extreme auseinandertreten‹, sondern der Umstand, dass dieses Faktum mit ihrem Selbstverständnis als eine Gesellschaft, in der der Einzelne ›Ehre und Subsistenz‹ nur im Modus der Erwerbsarbeit finden kann, unvereinbar ist.« (Jaeggi 2014, 374) 62

Ich möchte an dieser Stelle Jaeggis Argumentation aufnehmen und noch etwas weiter präzisieren. Zunächst einmal scheint dabei die Kennzeichnung sozialer Krisen oder Konflikte als »immanente Widersprüche« von Lebensformen weiter erklärungsbedürftig. Denn da Jaeggi u.a. die Familie als eigene Lebensform beschreibt (vgl. Kap. 3.5.1), könnte es sich im Falle Antigones auch in der von ihr entwickelten Terminologie um den Widerspruch zwischen zwei verschiedenen Lebensformen, etwa dem Gemeinwesen und der Familie, handeln.63 Über Jaeggi hinausgehend hatten wir bereits gesehen, dass sich Lebensformen nur aus Lebensformen heraus und aufgrund von typischen Werthaltungen, Wahrnehmungen, Handlungs- oder Verhaltensweisen, als Kulturen, Subkulturen, Lebensstilgruppierungen, soziale Milieus oder Klassen rekonstruieren lassen, so dass es kaum möglich wäre zu sagen, wann ein Widerspruch innerhalb einer Le-

62 | Jaeggi greift hier einerseits auf Hegels Sokrates-Interpretation in den Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte zurück (vgl. TW 12, 328 ff). Andererseits spielt sie auf Hegels Begriff des Pöbels an (vgl. TW 7, §§ 240, 244 f.). 63 | So formuliert es etwa Alasdair MacIntyre, wenn er schreibt, dass es sich bei den Forderungen der πόλις und der Familie um rivalisierende Forderungen handelt (vgl. ders. 2011/1981, 154). Jaeggi sieht das anscheinend auch selbst: »So wird, wie Hegel im ›Geistkapitel‹ der Phänomenologie des Geistes herausarbeitet, die Zugehörigkeit des Einzelnen zum sittlichen Zusammenhang der Familie einerseits, dem des Staates andererseits zu einem Zwiespalt, der in der Antigone-Tragödie in einer Krise kulminiert.« (Dies. 2014, 368).

4. Mit Begriffen leben und in Lebensformen lernen

bensform vorliegt und wann es sich um einen Widerspruch zwischen verschiedenen Lebensformen handelt. Vielmehr beschreibt der Begriff der Lebensform den sozialen Bereich (Kultur, Milieu, Klasse etc.), auf den sich ein Konflikt bezieht. Nur auf diese Weise, so scheint es mir, macht die Rede von »immanenten Widersprüchen« überhaupt Sinn.64 Im weiteren Verlauf der Arbeit werden die hier beschriebenen Konflikte daher weniger spektakulär als begriffliche Widersprüche bezeichnet, was anscheinend auch Hegels Antigone-Deutung entspricht: »Das sittliche Bewußtsein aber hat aus der Schale der absoluten Substanz die Vergessenheit [...] seiner Zwecke und eigentümlichen Begriffe getrunken und darum in diesem stygischen Wasser zugleich alle eigene Wesenheit und selbständige Bedeutung der gegenständlichen Wirklichkeit ertränkt.« (TW 3, 344)

64 | Während die Rede von »immanenten Widersprüchen« nur problematisch ist, scheint es fraglich, ob sich dem schillernden Begriff des »dialektischen Widerspruchs«, den Jaeggi ebenfalls benutzt und den sie in Anschluss an Hegel als »Bewegungsprinzip der Wirklichkeit« entdeckt (vgl. dies. 2014, 375 f.; Fn. 98), in diesem Zusammenhang überhaupt Sinn abgewinnen lässt. Denn dabei verweist sie auf eine Stelle in den Vorlesungen über die Ästhetik, in der Hegel den Begriff offensichtlich nicht benutzt: »Wer aber verlangt, daß nichts existiere, was in sich einen Widerspruch als Identität Entgegengesetzter trägt, der fordert zugleich, daß nichts Lebendiges existiere.« (TW 13, 162) Man kann Jaeggi zunächst zwar noch zugute halten, dass sie meistens nur ganz allgemein von Widersprüchen redet. Allerdings legt die Überschrift des Unterkapitels »Krise als dialektischer Widerspruch« nahe, dass sie diese Krisen nicht nur als immanente Widersprüche, sondern auch immer als dialektische Widersprüche versteht – ohne jedoch näher zu erläutern, was an diesen Widersprüchen eigentlich so »dialektisch« ist (vgl. dies. 2014, 368 ff.). Obwohl es nur eine einzige Stelle in Hegels Werk gibt, in der er überhaupt einen dialektischen Widerspruch erwähnt (vgl. TW 15, 43), ist der Begriff auch über die Grenzen der Hegel-Forschung hinaus zu zweifelhafter Berühmtheit gelangt – noch heute wird er meistens dazu verwendet, um vermeintlich unsinnige und unverständliche Weisen des Philosophierens zu brandmarken. Es ist zu bezweifeln, ob Jaeggi Hegels Begriff des dialektischen Widerspruchs in ihrer Interpretation gerecht wird, sodass die Rede von dialektischen Widersprüchen – um falschen Assoziationen vorzubeugen – im Folgenden gemieden wird. Eine ausführliche Studie zu Hegels Widerspruchsbegriff, die dieses begriffliche (Miss-)Verständnis aufklären kann, findet sich bei Michael Wolff (1981). Die entsprechende Problemdiskussion ist jedoch an anderer Stelle zu führen.

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Und in eben diesem Sinne ist m.E. auch zu verstehen, dass die Weiblichkeit, als »innerer Feind« des Gemeinwesens fungiert (vgl. TW 3, 352; s.o.). Innerhalb der Polis Theben lassen sich aus dem Begriff gegensätzliche Handlungsregeln rekonstruieren, die in ihrer jeweiligen Verwirklichung zu einem Konflikt führen würden: Gehorsam gegen die Obrigkeit und den rollenspezifischen Erwartungen gegenüber der Familie und den Göttern.65 Auch an anderer Stelle identifiziert Hegel begriffliche Widersprüche als potentielle Konflikt- und Problemquellen. So heißt es in der oben bereits zitierten Textpassage: »[A]lle historische Ansicht über das Recht der Sklaverei und der Herrenschaft beruht auf dem Standpunkt, den Menschen als Naturwesen überhaupt nach einer Existenz [...] zu nehmen, die seinem Begriffe [Hervorhebung durch mich; FHvW] nicht angemessen ist.« (TW 7, § 57)

Die Begriffe Sklave und Mensch, so verstehe ich Hegel an dieser Stelle, widersprechen sich, insofern aus ihnen gegensätzliche Handlungsregeln rekonstruierbar sind: Man kann nicht beide auf eine Person projizieren, ohne potentiell in einen Konflikt zu geraten. Wie auch Jaeggi richtig sieht, bereitet Hegel hier eine Krisentheorie vor, die nicht nur auf bereits ausgebrochene Konflikte zielt, sondern auch Probleme in Latenz zu fassen vermag:66

65 | Es kann an dieser Stelle nicht weiter auf Hegels Antigone-Interpretation und die damit verbundenen geschlechtlichen Rollenzuschreibungen eingegangen werden (vgl. dazu Rózsa 2008a, 453 ff.). Dass Hegel ausgerechnet an dieser Stelle den Begriff der Weiblichkeit betont, könnte eine Anspielung auf den Prolog des Dramas sein, in dem der Konflikt durch Antigones Schwester Ismene pointiert formuliert wird: »Vielmehr laß uns bedenken, daß wir Frauen und zum Kampfe gegen Männer nicht geschaffen sind, auch dieses, daß wir, untertan den Herrschenden, gehorchen müssen dem Gebot und schlimmren noch! Ich werde beten zu den Unterirdischen, daß sie verzeihn: ich beuge mich ja nur dem Zwang. Denen die an der Macht sind füg‘ ich mich: es hat ja keinen Sinn, zu handeln übers Maß hinaus.« (Ant., 13) Dass Hegel hier einen Widerspruch und damit ein Problem mit dem Begriff der Weiblichkeit erkennt, bedeutet jedoch nicht, dass er ein aufgeklärtes Rollenverständnis gehabt hätte. Auf das Verhältnis des sozialen Fortschritts im Sinne Hegels und seit Hegel werde ich im folgenden Unterkapitel noch eingehen. 66 | Es ist hier nochmal zu betonen, dass sich Hegels eigene Beispiele vorwiegend auf historische Krisensituationen beziehen, die ex post als solche identifiziert werden bzw. aus denen sich im Nachhinein begriffliche Widersprüche rekonstruieren lassen. Eines der prominentesten Beispiele ist seine Analyse des Schreckens der Französischen Revolution. Denn diese ist

4. Mit Begriffen leben und in Lebensformen lernen »Eine in sich widersprüchliche ist dann nicht alleine (und auch nicht immer) eine offen konflikthafte Lebensform, die vordergründig von sozialem Unfrieden, Konflikten oder widerstreitenden Interessen gezeichnet wäre. Vielmehr verweist das Konzept des inneren Widerspruchs auf eine tieferliegende ›strukturelle‹ [resp. ›begriffliche‹; FHvW] Dimension, die, so die damit einhergehende Vorstellung, manifestierte Konflikte innerhalb eines sozialen Praxiszusammenhangs erst auslöst, ermöglicht oder – ich bleibe hier absichtlich vage – motiviert.« (Jaeggi 2014, 377)

Krisen geschehen nicht einfach, wie Jaeggi sagt, sie sind als Widersprüche in den Verhältnissen angelegt (vgl. dies. 2014, 375). In Anschluss an Hegel können wir auch etwas präziser formulieren: Krisen und Konflikte beruhen auf begrifflichen Widersprüchen oder der Art und Weise, wie die Welt innerhalb von Lebensformen beschrieben und damit auch immer explizit oder implizit bewertet wird. Vor diesem Hintergrund müssen nun die im vorigen Hauptteil der Arbeit aufgeworfenen Fragen geklärt werden: Wie ist ein angemessener Begriffsgebrauch möglich bzw. inwiefern können Begriffe wahr oder adäquat sein, sodass sie ihrem Sachverhalt oder Gegenstand entsprechen (vgl. Kap. 3.4.2)? Wie und inwiefern wird der etablierte Sprachgebrauch und damit diejenigen Begriffe, mit denen wir sprechen, durch die wir wahrnehmen und aufgrund derer wir handeln aus- und umgebildet (vgl. Kap. 3.4.3)? Hegel beantwortet diese Fragen im Kontext verschiedener Argumentationslinien zum Bildungsbegriff. Bei der nun folgenden Interpretation soll gezeigt werden, dass er »Bildung« i.) im Doppelsinn der individuellen und der historisch-kollektiven Bildung begreift und dass ii.) letztere erst die Bedingung der Möglichkeit der ersten ist. Nur deshalb sind Männer wie Kreon und Frauen wie Antigone nicht notwendig in einem Zirkel

laut Hegel nicht ein Resultat kontingenter Nebenwirkungen, sondern in einem absolut gefassten Freiheitsmodell angelegt (vgl. Jaeggi 2014, 381). Der Begriff der Freiheit ist widersprüchlich, und das macht die Lebensform, in der er verwendet wird, so krisenanfällig (vgl. TW 3, 433). In diesem Sinne schreibt auch Charles Taylor: »Certain historical forms of life are shown to be prey to inner contradiction because they are defeating the purpose for which they exist. [...] The revolutionary state destroys freedom because it tries to realize it in absolute form, by dissolving all the articulations of society, whithout which freedom cannot exist.« (Ders. 1975, 216 f.) Aber es geht bei Hegel eben nicht nur um historische Lebensformen. Mit dem Pöbel thematisiert er etwa ein Problem, dass schon die Zeitgenossen wahrgenommen haben (vgl. TW 7, § 240, §§ 244 f.; vgl. dazu genauer Ruda 2009). Wie Jaeggi richtig sagt, geht es eben auch um latente Konflikte, die aber erst als begriffliche Widersprüche rekonstruiert werden müssen (vgl. dies. 2014, 377).

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eingeschlossen, in dem sich ihre Bilder zur antagonistischen und wechselseitigen Bestätigung unendlich reflektieren (vgl. Bourdieu 1997, 163). Das wäre im Sinne Hegels eine »schlechte Unendlichkeit«, die nur das Sollen des Aufhebens des Endlichen ausdrückt (vgl. TW 8, § 94). Denn der Begriff der Weiblichkeit spiegelt zwar Kreons und Antigones gemeinsame Lebensform, diese führt aber zum Konflikt und damit in die Tragödie. Dadurch werden sie gezwungen, ihre bestehenden Selbst- und Weltbilder zu hinterfragen. Erst die Reflexion und Verarbeitung dieser Erfahrung kann dazu führen, den Begriff der Weiblichkeit so umzubilden, dass er seiner Lebensform entspricht. Im nächsten Argumentationsschritt müssen deshalb zunächst die lerntheoretischen Implikationen des Habitusbegriffs erörtert werden. Hegel löst in diesem Zusammenhang den Dualismus von Bildung und Erziehung, der darin besteht, dass beide dem üblichen Verständnis entsprechend als verschiedene Tätigkeiten aufgefasst werden (vgl. Kap. 4.1.1). Daran anschließend können diejenigen historisch-kollektiven Bildungsprozesse thematisiert werden, die die individuellen Bildungsprozesse der Habitus und einen adäquaten Wissensbegriff ermöglichen. 4.2.2 Leib gewordene Geschichte: Habitus und Lebensform Während in vielen theoretischen Ansätzen, insbesondere innerhalb der liberalen Theorietradition, das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft bzw. Individuum und Gemeinschaft antagonistisch konzeptualisiert wird, deuten die komplementären Begriffe des Habitus und der Lebensform auf ein alternatives Verhältnis hin: Durch sein leibliches In-der-Welt-Sein ist der Mensch immer schon Teil von verschiedenen Lebensformen. Diese Teilnahme an Lebensformen ist jedoch nicht als passives Ruhen zu verstehen, sondern vielmehr als Tätigkeit oder aktive Auseinandersetzung mit der sozialen Mitwelt und der natürlichen Umwelt (vgl. dazu ähnlich Krais/Gebauer 2014/2002, 78). Das Verhältnis von Habitus und Lebensform impliziert damit wichtige lerntheoretische Konsequenzen: Der Habitus ist nicht angeboren, sondern erworben und bildet sich seit frühester Kindheit in der Auseinandersetzung mit den verschiedenen Lebensformen. Wir treten eben nicht als »unbeschriebenes Blatt« oder, mit Aristoteles, als »leere Wachstafel« in die Welt, um dann beschrieben zu werden (vgl. Kap. 4.1.3). Egal ob Lernprozesse als Erziehung, Bildung oder Sozialisation konzeptualisiert und voneinander abgegrenzt werden, es handelt sich doch immer (auch) um aktive Auseinandersetzungen mit der Welt. »Man wird nicht Mitglied einer Gesellschaft, sondern ist es von Geburt an. Man ist mit der Geburt in soziale Zusammenhänge einbezogen, in Interaktionen eingebunden, und von Geburt an befindet man sich in einer aktiven Auseinandersetzung mit der Welt. Das Problem ist nicht, wie der Mensch zu einem gesellschaftlichen Wesen gemacht wird, sondern unter welchen Bedingungen er oder sie ein

4. Mit Begriffen leben und in Lebensformen lernen bestimmter Teil der Gesellschaft [resp. Lebensform; FHvW] sein kann, mit einer spezifischen Position im sozialen Raum.« (Krais/Gebauer 2014/2002, 61)

Dementsprechend hat man sich das Lernen nicht so vorzustellen, als sei das Individuum eine Art Schrank, in dessen Fächer und Schubladen soziale Ordnungen, Vorstellungen, Klassifikationsschemata, Wissensbestände usw. gerade so einsortiert würden, wie sie das Individuum vorfindet. Vielmehr wird Gelerntes verarbeitet. Das bedeutet, dass die Fülle der einzelnen Erfahrungen, die Menschen in der Auseinandersetzung mit der Welt machen, zu einem komplexen Erfahrungswissen zusammengearbeitet und immer wieder transformiert werden (vgl. Krais/Gebauer 2014/2002, 63). Dabei verhält sich das jeweilige Individuum zu sich selbst, indem es sich seines Sprechens, Wahrnehmens und Handelns in der Vergangenheit erinnert und für die Zukunft antizipiert und reflektiert (vgl. ebd., 69). Aus eben diesem Grund, so wird im Folgenden zu zeigen sein, ist Hegels Bildungstheorie noch heute von großer Aktualität. Bevor sie hier angemessen thematisiert werden kann, muss allerdings noch auf eine wichtige begriffliche Unterscheidung hingewiesen werden, die Hegel zwar einführt aber etwas vernachlässigt: Denn zum einen spricht er davon, dass die zweite Natur (also das, was wir hier als Habitus bezeichnen) eine »Gewohnheit« ist, die durch »Ein- und Durchbildung« der Leiblichkeit entsteht (vgl. TW 10, § 410; s.o.). Zum anderen betont er, dass Erziehungs- und Bildungsprozesse nicht auf bestimmte Bildungsgüter oder Wissensinhalte zielen, sondern auf den Erwerb von »Fähigkeiten« wie der, »dem öffentlichen Leben anzugehören« (TW 4, 352) oder »Mitglied der Gesellschaft zu werden« (TW 7, § 239). Sowohl Gewohnheiten als auch Fähigkeiten gehören zur zweiten Natur bzw. zum Habitus. Um einen adäquaten Wissensbegriff bereitstellen zu können, muss aber präzise zwischen dem Bilden von Gewohnheiten und gewohnheitsmäßigem Bilden von Fähigkeiten unterschieden werden. Beide werden hier zunächst voneinander abgegrenzt, um anschließend die entsprechenden Bildungsprozesse thematisieren zu können:67 Zwar sind wir, so Hegel, an die Vorstellung der Gewohnheit gewöhnt, doch erweist sich die Bestimmung ihres Begriffs als schwierig (vgl. TW 10, § 410 Z). Trotzdem kann sie in Anschluss an seine Überlegungen zunächst als »Bestimmtheit des Gefühls, auch der Intelligenz, des Willens usf.« (ebd., § 410) begriffen

67 | Hegel spricht übrigens nicht nur von der Bildung von Fähigkeiten und Gewohnheiten, sondern auch von der Bildung von Tugenden (vgl. TW 4, 349 f.). Allerdings unterlässt er es ebenfalls, das Konzept der Tugend weiter auszuführen oder es im Verhältnis zu Fähigkeiten und Gewohnheiten zu erklären. Auf den Begriff der Tugend kann hier nicht weiter eingegangen werden. Es sollte aber schon jetzt deutlich sein, dass sich mit tugendethischen Überlegungen an die hier gemachte Argumentation gut anschließen lässt.

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werden, bzw. als »allgemeine Weise des Tuns« (ebd., § 410 Z). Dementsprechend denken wir bei Gewohnheiten an regelmäßige Vollzüge wie »jeden Morgen zu joggen, [...] dann zu Duschen und dann ein Toastbrot mit Nutella zu essen« (Kern 2006, 199). Solche Gewohnheiten, so Hegel, müssen zwar durch die Bildung des Leibes bzw. durch »wiederholte Übung« erworben werden, trotzdem bleiben sie »etwas dem freien Geiste Nichtentsprechendes« (vgl. TW 10, § 410, § 410 Z). Ein Akt der Gewohnheit ist also kein Akt des Wissens. Das liegt zum einen daran, dass Akte des Wissens, wie oben gezeigt wurde, selbstbewusste Akte des Sprechens, Wahrnehmens oder Handelns sind. Zum anderen liegt es daran, dass diese Akte nicht unabhängig voneinander vollzogen werden können. Man kann sich zum Beispiel nicht sprechend und handelnd für die Abschaffung der Sklaverei einsetzen, wenn man sie nicht in irgendeiner Hinsicht als Unrecht wahrnehmen kann. Erst der Begriff der Fähigkeit erklärt, wie die Akte des Sprechens, Wahrnehmens und Handelns zusammenhängen.68 Was Fähigkeiten und Gewohnheiten also unterscheidet, ist die Art und Weise der Erklärung derjenigen Akte, die unter sie fallen: Gewohnheiten erklären ihre Regelmäßigkeit (etwa morgens zu joggen, zu duschen und ein Toastbrot mit Nutella zu essen). Fähigkeiten erklären, wie regelmäßige Akte zusammenhängen. So besteht etwa ein Akt des Skifahrens (um ein Beispiel von Andrea Kern aufzugreifen) aus der Einheit von Akten wie dem Strecken der Beine, dem Beugen des Oberkörpers, des Abstützens auf den talseitigen Stock usf. (vgl. dies. 2006, 201).69 Und ein Akt des Versprechens be-

68 | Ich greife hier das Argument von Andrea Kern auf, die zwischen Gewohnheiten und Fähigkeiten in eben diesem Sinn unterscheidet (vgl. dies. 2006, 199 ff.). Allerdings handelt es sich um eine nicht ganz unproblematische Unterscheidung, da man auch Gewohnheiten als Aktualisierungen von Fähigkeiten beschreiben kann – schließlich müssen auch alltägliche Gewohnheiten wie das morgendliche Duschen »gekonnt« sein. Akte wie Joggen, Duschen oder Toastbrot mit Nutella essen sind zwar unabhängig von der Gewohnheit, durch die sie in Andrea Kerns Beispiel miteinander verknüpft sind, beschreibbar. Das bedeutet aber nicht, dass sie unabhängig von anderen gewohnheitsmäßigen Akten beschrieben werden könnten. 69 | Andrea Kern interpretiert den Unterschied von Gewohnheiten und Fähigkeiten darüber hinausgehend so, dass die Fähigkeit »eine Einheit von Akten ist, die gegenüber den Akten, die sie ausmachen, logisch vorgängig ist« (dies. 2006, 205). Mal ganz abgesehen davon, dass ihre Formulierung dahingehend problematisch ist, dass Fähigkeiten keine »Akte« und damit auch keine »Einheit von Akten« sein können, stellt sich noch ein anderes Problem: Denn es wurde bereits im Kap. 3.4.3 auf den Vorrang der Wirklichkeit vor der Möglichkeit hingewiesen und in Anschluss an Hegels Kritik an der neuzeitlichen Vermögenspsychologie gezeigt, dass die Rede von Fähigkeiten nur re-

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steht nicht nur in der Artikulation eines Satzes, sondern auch im entsprechenden Wahrnehmen und Handeln. Hegel spricht zwar vom »Bilden von Fähigkeiten« ebenso wie vom »Bilden von Gewohnheiten«. Der Begriff des Wissens muss aber als selbstbewusster Akt des Sprechens, Wahrnehmens und Handelns und damit als Akt einer (zu rekonstruierenden) Fähigkeit verstanden werden.70

konstruktionstheoretisch Sinn machen kann (vgl. Kap. 4.1.5). In Anschluss an Michael Thompson, auf den auch Kern Bezug nimmt, lässt sich das Problem auch so erklären: Die Standardauffassung der Fähigkeit besteht darin, sie als einen zugrundeliegenden Zustand aufzufassen, der durch den Bezug auf die einzelnen Akte als das erkannt wird, was er erklärt. Die Annahme eines solchen Zustands, der eine unbegrenzte Folge einzelner Aktualisierungen hervorbringt, ohne sich dabei zu verändern, führt aber in einen hoffnungslosen Regress. Thompson erläutert das am Beispiel des Versprechens: »For if we attempt to explain the phenomenon of a long run of promise-keeping in terms of a common cause in a state of this nature, we are still left with the problem, how to understand the equally long run of days or months in which the agent (or her soul or her brain) continued to manifest that state. The fundamental problem is merely deferred, and in the process translated into terms that must be alien to practical consciousness. The suspicion forms that it could never be the business of a practical philosopher to employ such a concept.« (Ders. 2008, 193) 70 | Nach dem hier Gesagten erklären Fähigkeiten die Einheit der Akte des Sprechens, Wahrnehmens und Handelns und damit Vollzüge des Wissens. Da die Rede von Fähigkeiten jedoch nur rekonstruktionstheoretisch Sinn macht (vgl. Kap. 4.1.5), können sie jedoch kein Wissen begründen. Das jedoch ist die Argumentationsstrategie von Andrea Kern, die das problematische Konzept wahrheitsgarantierender Gründe (vgl. Kap. 1) innerhalb der Erkenntnistheorie rehabilitieren will. Demnach wäre der Begriff des Wissens als »vernünftige Fähigkeit« bzw. »selbstbewusste Fähigkeit« oder »selbstbewusstes Können« zu verstehen (vgl. dies. 2006, 239; dies. 2007, 258): »Ein Subjekt, das ein Bewußtsein der Fähigkeit hat, die es aktualisiert oder zu aktualisieren versucht, kann sich kraft dieses Bewußtseins auf die Fähigkeit als Grund für sein Verhalten beziehen und damit selbst normativ erklären, weshalb es das tut, was es tut, indem es sein Handeln als eines darstellt, das unter den gegebenen Umständen, in denen es sich befindet, gemäß der Fähigkeit richtig ist.« (Ebd., 241) Genau das sei es, was jemand, tut der sagt: »Ich glaube, dass die Dinge so und so liegen, weil ich es sehe.« (Ebd., 256) Kerns Ansatz kann hier nicht weiter diskutiert werden. Ich sehe das Problem ihrer Position allerdings analog zum Problem bei McDowell darin, dass diese vernünftigen Fähigkeiten faktisch auf sehr unterschiedliche Weise aktualisiert werden, sodass es fraglich erscheint,

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Anhand von Hegels Bildungstheorie lassen sich nun die lerntheoretischen Konsequenzen der Konzepte Habitus und Lebensform erläutern, obwohl er selbst diese Begriffe nicht benutzt. Dabei weist Hegel das pädagogische Paradox bzw. das pädagogische Problem der Erziehung zur Freiheit (vgl. Kap. 4.1.2) als unproblematisch zurück, indem er den Dualismus von Bildung und Erziehung auflöst: Demnach handelt es sich beim Erziehen um eine bewusste, intentionale und asymmetrische Tätigkeit, die eine erziehende Person oder Personengruppe an einer zu erziehenden Person oder Personengruppe vornimmt, wohingegen das reflexive Bilden eine andere Art von Tätigkeit beschreibt: Man wird (passiv) erzogen, man bildet sich hingegen (aktiv) selbst (vgl. Kap. 4.1.1). Das Problem einer angemessenen Interpretation besteht allerdings erstens darin, dass Hegel diese individuellen Bildungsprozesse (und damit das Verhältnis von Bildung und Erziehung) an unterschiedlichsten Stellen seines Werkes (v.a. in der Rechtsphilosophie und innerhalb der Gymnasialreden) und in unterschiedlichen Kontexten (Familie, Schule, Staat und bürgerliche Gesellschaft) thematisiert.71 Zudem scheinen seine Ausführungen zweitens – zumindest prima facie – uneinheitlich und bisweilen sogar widersprüchlich zu sein: So schreibt er einerseits in den Grundlinien der Philosophie des Rechts, dass die Erziehung dem Bereich der Familie (vgl. TW 7, § 175), die Bildung hingegen der Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft angehört (vgl. ebd., § 187), wobei ein Hauptmoment der Erziehung die Zucht sei, »welche den Sinn hat, den Eigenwillen des Kindes zu brechen« (ebd., § 174 Z). Trotzdem muss man hier mit vorschnellen Interpretationen sehr

wie sie als wahrheitsgarantierende Gründe fungieren können. Das gerät bei Kern etwas in den Hintergrund, weil sie – in erkenntnistheoretischer Hinsicht – völlig unproblematische Beispiele zur Erläuterung ihrer Theorie wählt (etwa die Fähigkeit, Ski zu fahren [vgl. dies. 2006, 200 f.] oder die Fähigkeit zu sehen, dass noch Apfelsaft im Kühlschrank ist, da man kraft eines visuellen Eindrucks erkennt, dass noch Apfelsaft im Kühlschrank ist [vgl. ebd., 307 f.]). Das eigentliche Problem liegt aber im Argument aus der Begriffsrelativität (vgl. Kap. 2.1.1). So wäre zu fragen, wer seine vernünftigen Fähigkeiten richtig aktualisiert: Die Jünger des Gurus von Sidney die glauben, wir wären Gehirne im Tank (vgl. Kap. 2.3.1)? Oder etwa die Super-Benthamianer, die sogar Kinder foltern und Unschuldige für Verbrechen verurteilen würden (vgl. Kap. 2.3.2)? Andrea Kern glaubt, dass der Wissensbegriff nicht über eine Lebensformtheorie erklärt werden kann, da sich diese auf die Akt-Auffassung von Wissen festlege und in den Relativismus führe (vgl. dies. 2007; Kap. 3.3.2). Das ist aber nicht notwendig der Fall, wie im Folgenden noch zu zeigen sein wird. Vielmehr führt die von ihr vorgeschlagene Fähigkeitskonzeption von Wissen anscheinend entweder in den Metaphysischen Realismus oder in den Relativismus. 71 | Zu Hegels Bildungsbegriff im historischen Kontext vgl. Pöggeler 1980.

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vorsichtig sein. Denn andererseits versteht Hegel die Pädagogik als Kunst, um den Menschen »sittlich zu machen« und »umzuwandeln« – aber eben nicht, indem sie einen Weg zeigt, seinen Willen zu brechen, sondern, indem sie einen Weg zeigt, seine Willkür zu brechen: »Die Pädagogik ist die Kunst, die Menschen sittlich zu machen: sie betrachtet den Menschen als natürlich und zeigt den Weg, ihn wiederzugebären, seine erste Natur zu einer zweiten geistigen umzuwandeln, so daß dieses Geistige in ihm zur Gewohnheit wird. In ihr verschwindet der Gegensatz des natürlichen und subjektiven Willens, der Kampf des Subjekts ist gebrochen, und insofern gehört zum Sittlichen die Gewohnheit, wie sie auch zum philosophischen Denken gehört, da dieses erfordert, daß der Geist gegen willkürliche Einfälle gebildet sei und diese gebrochen und überwunden seien, damit das vernünftige Denken freien Weg hat.« (TW 7, § 151 Z)

Bei den problematischen Textpassagen handelt es sich allerdings vorwiegend um Zusätze aus der Theorie-Werkausgabe, die durch Vorlesungsmitschriften seiner Schüler überliefert und nicht von Hegel autorisiert wurden.72 Zieht man die Gymnasialreden zu einer genaueren Untersuchung von Hegels Erziehungsund Bildungstheorie heran, werden die Ausführungen schon etwas klarer. Dabei unterscheidet er auch hier die »Zucht der Sitten und die Bildung derselben« und fordert, dass die Kinder »schon gezogen in die Schule kommen« (TW 4, 334), sodass die Erziehung im Bereich der Familie stattfindet. Und weiter heißt es: »Da die Erziehung immer mehr aus dem richtigen Gesichtspunkte betrachtet worden ist, daß sie wesentlich mehr Unterstützung als Niederdrückung des erwachenden Selbstgefühls, eine Bildung zur Selbständigkeit sein müsse, so hat sich [...] die Manier immer mehr verloren [...] leeren Gehorsam um des Gehorsams willen zu fordern und durch Härte zu erreichen, wozu bloß das Gefühl der Liebe, der Achtung und des Ernsts der Sache gehört.« (TW 4, 350)

Hegel identifiziert hier nicht nur die Begriffe Erziehung und Bildung miteinander, er spricht im weiteren Verlauf sowohl von einer »Bildung zur Selbständig-

72 | Aus diesem Grund ist auch Herbert Schnädelbachs Diagnose hinfällig, dass sich Hegel in seiner »Opposition gegen die Romantik« auf die widersprechende Überzeugung festlegt, dass man ein freiheitliches Ziel mit repressiven Mitteln erreichen könne (vgl. ders. 2000, 260). Dabei sieht Schnädelbach selbst, dass die inkriminierenden Passagen aus »trüben Quellen« stammen und sich Hegel ansonsten gegen jede Form eines philosophischen oder pädagogischen Rigorismus – die er v.a. bei Fichte und Kant zu

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keit« (TW 4, 350) als auch auch von einer »Erziehung zur Selbständigkeit« (ebd., 351) und ferner davon, dass die Schule Individuen »bilden« würde (vgl. ebd., 252 f.). In Kap. 4.1.1 und Kap. 4.1.2 hatten wir jedoch gesehen, dass Erziehung und Bildung traditionellerweise klar voneinander abgegrenzt werden und dass die Selbständigkeit einer Person gerade nicht erzieherisch bewirkt werden kann. Wenn man Hegel nicht unterstellen will, dass er das Problem entweder nicht gesehen oder nicht verstanden hat (was schon aufgrund der Ausführungen in Kap. 4.1.4 unmöglich sein dürfte), gibt es m.E. nur eine befriedigende Antwort: Hegel macht geltend, dass es sich beim Bilden und Erziehen nicht um zwei sortal verschiedene Tätigkeiten bzw. Tätigkeitstypen handelt, sondern um eine aspektuale Unterscheidung an einer Tätigkeit:73 »[W]ie der Wille, so muß auch der Gedanke beim Gehorsam anfangen. Schränkte aber das Lernen sich auf ein bloßes Empfangen ein, so wäre die Wirkung nicht viel besser, als wenn wir Sätze auf das Wasser schrieben; denn nicht das Empfangen, sondern die Selbsttätigkeit des Ergreifens [...] macht erst eine Kenntnis zu unserem Eigentum. Geht umgekehrt die Richtung überwiegend nach dem eigenen Räsonieren, so kommt nie Zucht und Ordnung in das Denken, kein Zusammenhang und Konsequenz in die Erkenntnis. Zum Empfangen muß daher notwendig die ei-

finden meint – zur Wehr setzt (vgl. ebd.). Ein Überblick über die relevanten Textpassagen zur Erziehungs- und Bildungstheorie Hegels lässt es jedenfalls bedeutend wahrscheinlicher erscheinen, dass es sich hier um ein Problem mit der Quellenlage und nicht um einen offenkundigen Widerspruch (und damit um ein intellektuelles Problem des Autors) handelt. 73 | Dass Hegel das Problem gesehen und verstanden hat, belegt auch folgende Textstelle aus den Gymnasialreden, in der er das pädagogische Paradox scharf zurückweist: »Es ist ein Vorurteil nicht allein des philosophischen Studiums, sondern auch der Pädagogik – und hier noch weitgreifender – geworden, daß das Selbstdenken in dem Sinn entwickelt und geübt werden solle, daß es erstlich dabei auf das Material nicht ankomme und zweitens als ob das Lernen dem Selbstdenken entgegengesetzt sei, da in der Tat das Denken sich nur an einem solchen Material üben kann, das keine Geburt und Zusammenstellung der Phantasie oder keine, es heiße sinnliche oder intellektuelle Anschauung, sondern ein Gedanke ist, und ferner ein Gedanke nicht anders gelernt werden kann als dadurch, daß er selbst gedacht wird. Nach einem gemeinen Irrtum scheint einem Gedanken nur dann der Stempel des Selbstgedachten aufgedrückt zu sein, wenn er abweichend von den Gedanken anderer Menschen ist, wo dann das Bekannte seine Anwendung zu finden pflegt, daß das Neue nicht wahr und das Wahre nicht neu ist.« (TW 4, 422)

4. Mit Begriffen leben und in Lebensformen lernen gene Bemühung hinzukommen, nicht als ein erfindendes Hervorbringen, sondern als Anwendung des Gelernten, als Versuch, durch dasselbe sogleich mit anderen einzelnen Fällen, mit anderem konkretem Stoff zurechtzukommen« (TW 4, 332).

Ich lese diese Textstelle so, dass es im Sinne Hegels nicht möglich ist, das Lernen als »bloßes Empfangen« zu konzeptualisieren – ebenso wenig wie es möglich ist, Sätze auf Wasser zu schreiben. Die erzieherische Grenzsetzung ist aber notwendig, damit das Denken nicht beim willkürlichen Räsonieren stehen bleibt. Indem Hegel ferner nur im Bereich der Familie vom Erziehen spricht, dagegen jedoch vom Bilden sowohl innerhalb der Familie, der Schule und der bürgerlichen Gesellschaft, wendet er sich gegen die übliche Auffassung, dass das Erziehen eine andere Art von Tätigkeit sei als das Bilden. In ähnlicher Weise hat Anselm Winfried Müller vor einiger Zeit darauf hingewiesen, dass der Begriff der Erziehung über den Begriff der Zuständigkeit erläutert werden muss. Diese Überlegungen scheinen mir nicht nur ganz im Sinne Hegels, sondern auch für den Begriff der Erziehung von großer Bedeutung zu sein. Denn die übliche Auffassung von Erziehung, so Müller, geht mit zwei Problemen einher: Das erste Problem identifiziert er im Aktionismus, der davon ausgeht, dass das Erziehen eine Art von Tätigkeit ist, die durch Erziehungsmaßnahmen oder bestimmte Handlungen konstituiert wird (vgl. Müller 2008, 77). Müller unterscheidet dabei in Anschluss an die in Kap. 4.1.3 bereits vorgestellte aristotelische Unterscheidung von ποίησις und πρα ξις zwischen abgeschlossenen Handlungen (etwa »eine Birne pflücken«) und unabgeschlossenen Tätigkeiten (»Birnen pflücken«). Analog dazu wäre eine erzieherische Zurechtweisung eine Handlung, das Suchen nach einer altersgemäßen Lektüre dagegen eine Tätigkeit (vgl. ebd., 78). Die Aktionist*in glaubt nun irrtümlicherweise, so Müller, dass das Erziehen in solchen Handlungen und Tätigkeiten besteht. Da es sich um ein Tätigkeitswort handelt und es ansonsten fraglich wäre, was Erziehen sei, werde die aktionistische Annahme in der theoretischen Reflexion von Erziehung fast durchgehend unhinterfragt vertreten. Allerdings, so Müller weiter, ist diese Auffassung offenkundig mit der Zeitstruktur von Erziehung nicht zu vereinbaren. Denn im Gegensatz zum Unterrichten, Belehren, Erbsen-zählen oder Birnen-pflücken kann man beim Erziehen nicht unterbrochen werden (»Du siehst doch, dass ich gerade damit beschäftigt bin, A zu erziehen«). Die Kontinuität von Erziehung kann entsprechend nicht in aufeinanderfolgenden Handlungen und Tätigkeiten bestehen, denn es ist zwar möglich, jemanden über neun Jahre zu erziehen, nicht aber für zwei Stunden, und man macht keine Pause mit dem Erziehen, wenn man schläft (vgl. ebd., 77 ff.). Zunächst ließe sich einwenden, dass zum Erziehen nicht nur Handlungen und Tätigkeiten, sondern auch Unterlassungen gehören. Aber erstens nehmen Unterlassungen keine Zeit in Anspruch (denn zu sagen, dass etwa das Schlafen eine pädagogisch relevante Unterlassung zwischen erzieherischen Handlungen sei, scheint irgendwie unsinnig zu sein) und zweitens verbringt die

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erziehende Person die meiste Zeit mit Handlungen und Tätigkeiten, die sich überhaupt nicht in der Erziehung niederschlagen. Darüber hinaus erschöpftt sich das Erziehen nicht in Handlungen, Tätigkeiten und Unterlassungen. So etwa, wenn man trotz der zu erledigenden Hausarbeit noch für die Tochter oder den Sohn ansprechbar ist (vgl. ebd., 80 f.). Müller folgert daraus, dass der Aktionismus einer falschen Fährte folgt. Das zweite Problem identifiziert er im Intentionalismus, der nur beabsichtigte und zweckgerichtete Handlungen und Tätigkeiten als Erziehung anerkennt. Fraglich ist laut Müller jedoch, warum ausgerechnet im Falle der Erziehung der Intention eine solche Bedeutung zukommen sollte. Die Politik einer Ministerpräsident*in bemisst sich schließlich auch nicht einfach an ihren politischen Zielen, sondern bspw. auch an der Vernachlässigung des öffentlichen Gesundheitswesens, das sie als unverbesserliche Sozialdarwinist*in zufälligerweise für eine Verirrung hält. In diesem Sinne, so Müller, kann auch die Erziehungsabsicht nicht darüber entscheiden, was Erziehung ist. So könnte etwa Bs Arroganz ein Ergebnis der Erziehung durch A sein, obwohl A nie die Absicht hatte, B zu einem arroganten Menschen zu erziehen (vgl. ebd., 85 f.). Um entscheiden zu können, ob B von A erzogen wird, reicht es deshalb nicht aus (absichtliche) Handlungen und Tätigkeiten in den Blick zu nehmen. Da die übliche Auffassung in eine Sackgasse führt, schlägt Müller nun vor, den Begriff der Erziehung über den Begriff der Zuständigkeit zu erläutern. Denn die Zuständigkeit erinnert daran, dass Erziehung ihrem Begriff nach finalisiert sei – d.h. nicht dadurch, was eine beliebige erziehende Person will, sondern dadurch, was Erziehung soll (ebd., 95). Meines Erachtens sind die Argumente Müllers nicht nur für eine adäquate Konzeptualisierung des Erziehungsbegriffs von großer Bedeutung. Sie können auch helfen zu verstehen, warum Hegel die Begriffe Erziehung und Bildung an einigen Textstellen voneinander unterscheidet, um sie an anderen wieder miteinander zu identifizieren. Dass er die Erziehung nur im Bereich der Familie verortet (womit er als guter Protestant die bürgerliche Kleinfamilie des 19. Jahrhunderts meint), ist freilich dem Zeitgeist geschuldet. Müllers Hinweis auf die pädagogische Zuständigkeit kann hier als moderne Reformulierung verstanden werden. Zusammen mit dem vorher Gesagten lässt sich das nun so deuten, dass es sich beim Erziehen und Bilden nicht um zwei verschiedene Tätigkeiten oder Lerntypen handelt, sondern um Lernmodi oder mögliche Perspektiven auf das Lernen bzw. die Vollzüge der Habitus: Unter der Bedingung der Familie (Hegel) – bzw. moderner formuliert der pädagogischen Zuständigkeit (Müller) – kann sich das Individuum an der erzieherischen Grenzsetzung bilden.74 Im Gegensatz zur Erziehung kann die Bildung (besser: das Bilden) jedoch nicht ab-

74 | An einem alltäglichen Beispiel lässt sich dieser Zusammenhang leicht

4. Mit Begriffen leben und in Lebensformen lernen

geschlossen werden, sondern »nur eine gewisse Stufe« erreichen (vgl. TW 4, 353). Denn das Erziehen ist eine Perspektive auf die Vollzüge der Habitus unter den Bedingungen der pädagogischen Zuständigkeit. Es endet mit der familiären oder schulischen Zuständigkeit, das Bilden hingegen nicht. Dabei unterscheidet Hegel zunächst zwischen der theoretischen und der praktischen Bildung. Die praktische Bildung besteht passend zum vorher Gesagten in der Ausbildung von Gewohnheiten und Fähigkeiten, indem man sich an sozialen und natürlichen Widerständen abarbeitet: »Die praktische Bildung durch die Arbeit besteht in dem sich erzeugenden Bedürfnis und der Gewohnheit der Beschäftigung überhaupt, dann der Beschränkung seines Tuns, teils nach der Natur des Materials, teils aber vornehmlich nach der Willkür anderer, und einer durch diese Zucht sich erwerbenden Gewohnheit objektiver Tätigkeit und allgemeingültiger Geschicklichkeiten.« (TW 7, § 197)

Wenn Hegel Bildungsprozesse als Arbeitsprozesse charakterisiert, kann das leicht zu falschen Intuitionen führen. Das Problem besteht darin, dass sowohl der

veranschaulichen: Wenn etwa Eltern oder andere Sorgeberechtigte ein Kind, das blindlings über die Straße läuft, zurechtweisen, lernt es nicht nur, was es zu unterlassen hat, sondern auch, was Autorität ist (schließlich lernen wir nicht nur das, was wir lernen sollen; vgl. Kap. 3.3.2). Und es übt gleichzeitig, sich zu solchen Autoritäten zu verhalten. Mit Hegel könnte man sagen: Es bildet sich anhand einer erzieherischen Grenzsetzung. Erziehen und Bilden sind dabei zwei Perspektiven auf die Tätigkeit des Zurechtweisens. Wenn dagegen eine fremde, pädagogisch nicht zuständige Person das Kind in derselben Situation zufällig sieht und zurechtweist, kann man zwar noch immer davon sprechen, dass sich das Kind bildet, allerdings fehlt die Perspektive des Erziehens. Indem Hegel auf die aspektuale Unterscheidung des Bildens und Erziehens bei einer konkreten lernenden oder lehrenden Tätigkeit verweist, ordnet er eben nicht einfach die Erziehung der Familie und die Bildung der bürgerlichen Gesellschaft zu, wie in der Hegelforschung manchmal kolportiert wird (vgl. Rózsa 2008b, 91). Wo sie den Zusammenhang von Bildung und Erziehung sieht, vermag sie ihr Verhältnis bisher aber nur vage zu umschreiben, so etwa im Standardwerk zu Hegels Bildungstheorie von Friedhelm Nicolin: »Insgesamt läßt sich [...] feststellen, daß Hegel die beiden Begriffe Bildung und Erziehung im Gebrauch nicht streng gegeneinander absetzt. Dies freilich nicht auf Grund mangelnder Unterscheidung, sondern weil sich in seiner Sicht diese Begriffe einander annähern.« (Ders. 1955, 170) Erst der Verweis auf die aspektuale Unterscheidung kann das Verhältnis von Bilden und Erziehen angemessen konzeptualisieren.

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alltägliche als auch der in den verschiedenen Geistes- und Sozialwissenschaften geläufige Arbeitsbegriff so mehrdeutig ist, dass mitunter von verschiedenen Arbeitsbegriffen gesprochen wird.75 Es gibt keine exponierte Stelle in Hegels Werk, in der dieser Zusammenhang von Arbeit und Bildung umfassend erläutert wird. Die Interpretation des Selbstbewusstseinskapitels der Phänomenologie des Geistes – als der wahrscheinlich ergiebigsten Textstelle zu diesem Thema – hat jedoch deutlich gemacht, dass er neben Humboldts Bildungstheorie v.a. die aristotelische Unterscheidung zwischen πρα ξις und ποίησις im Blick hat (vgl. Kap. 4.1.4). Etwas zu »bilden« oder zu »bearbeiten« bedeutet demnach, sich so auf einen Gegenstand beziehen, dass dieser sich verändert, sodass ein Werk (ε ρ γον) hervorgebracht wird. »Sich« zu bilden, bedeutet dementsprechend, sich so auf einen (Lern-)Gegenstand zu beziehen, dass man sich dabei selbst verändert. Es geht bei den hier thematisierten individuellen Bildungsprozessen also um das Ausbilden des Leibes bzw. um das Bilden von Fähigkeiten und Gewohnheiten. Die Begriffe Arbeit und Bildung bezeichnen dabei nicht konkrete menschliche Tätigkeiten, sondern Perspektiven auf das menschliche Tun. Modern formuliert könnte man sagen, dass Hegel mit der praktischen Bildung einen Sozialisations-

75 | In diesem Sinne differenziert etwa Angelika Krebs zwischen acht verschiedenen und sich zum Teil in ihren Bedeutungen überlappenden Arbeitsbegriffen aus der Alltagssprache und der wissenschaftlichen Literatur: 1.) Arbeit als zweckrationales Handeln, 2.) Arbeit als Mühe, 3.) Arbeit als entlohnende Tätigkeit, 4.) Arbeit als Güterproduktion, 5.) Arbeit als Güterproduktion, bei der der Produzent durch eine andere Person ersetzbar ist, 6.) Arbeit als gesellschaftlich notwendige Tätigkeit, 7.) Arbeit als Tätigkeit für andere und 8.) Arbeit als Tätigkeit innerhalb des gesellschaftlichen Leistungsaustausches (vgl. dies. 2002, 23 ff.). Dass es sich dabei um einen Arbeitsbegriff handelt, der verschiedene »Momente« der Arbeit ausdrückt, zeigt Claus Baumann (vgl. ders. 2009, 141 ff.). Herbert Macuse grenzt dabei den verengten Arbeitsbegriff als »wirtschaftliche Tätigkeit« (auf den die meisten dieser »Momente« des Arbeitsbegriffs zielen) zu Recht von Hegels Arbeitsbegriff ab: »Der wesentliche Unterschied [...] ist der: hier [bei Hegel; FHvW] erscheint die Arbeit als ein Grundgeschehen des menschlichen Daseins, als ein das ganze Sein des Menschen dauernd und ständig durchherrschendes Geschehen, in dem zugleich mit der ›Welt‹ des Menschen etwas geschieht. Hier ist Arbeit gerade nicht eine bestimmte menschliche ›Tätigkeit‹ [...], vielmehr ist sie das, worin jede einzelne Tätigkeit gründet und wieder zurückschlägt: ein Tun. Und zwar ist sie das Tun des Menschen als die Weise seines Seins in der Welt. [...] Die Arbeit wird hier nicht bestimmt durch die Art ihrer Gegenstände, nicht durch ihren Zweck, Inhalt, Erfolg usw., sondern durch das, was mit dem menschlichen Dasein selbst und als Ganzem in der Arbeit geschieht.« (Ders. 1933, 262 f.)

4. Mit Begriffen leben und in Lebensformen lernen

prozess vor Augen hat, der auch das Erziehen (das sich in Anschluss an Durkheim als »methodische Sozialisation« verstehen lässt) mit einschließt. Denn wir hatten bereits gesehen, dass das moderne Sozialisationsverständnis eben nicht vom einfachen Verinnerlichen oder Internalisieren von sozialen Rollen, Werten und Normen ausgeht, sondern die aktive Aneignung und Mitgestaltung der eigenen Lebensformen betont (vgl. Kap. 4.1.1). Man kann sich aber nicht allein, so Hegel, »auf die natürliche Entwicklung des Guten aus dem Herzen und auf die Angewöhnung durch das Beispiel ohne Reflexion [...] verlassen« (TW 4, 346). Indem er die vermögenspsychologische Vorstellungsweise »einer vergangenen Zeit« (ebd., 335) zurückweist, wendet sich Hegel gegen jeden Versuch »Kopf und Herz zu trennen und Denken und Empfinden, oder wie dieser Unterschied sonst genannt werden mag, beinahe als zweierlei unabhängige und gegeneinander gleichgültige Wesen zu betrachten« (ebd.; vgl. Reuss 1982, 262 f.). Aus diesem Grund betont er auch die Einheit von kognitiven und affektiv-motivationalen Lernprozessen und wendet sich damit gegen die »negative Erziehung« der Aufklärungspädagogik Rousseaus (vgl. ebd., 260 f.): »Es ist eines der Vorurteile, welche durch die Aufklärung der neueren Zeit verbreitet worden [...], daß der Jugend moralische Begriffe und Sätze wie auch religiöse Lehren nicht früh beigebracht werden müssen, darum, weil sie solche nicht verstehe und nur Worte ins Gedächtnis bekomme. Die Sache aber näher betrachtet, so ist leicht zu bemerken, daß die sittlichen Begriffe von dem Kinde, von dem Knaben, dem Jünglinge nach Maßgabe ihres Alters wohl verstanden werden, und unser ganzes Leben ist nichts weiter, als ihre Bedeutung und Umfang immer tiefer verstehen zu lernen, aus neuen und immer neuen Beispielen und Fällen sie herausspiegeln zu sehen und nur so das Vielbefassende ihres Sinnes, das Bestimmte ihrer Anwendung immer entwickelter zu erkennen. In der Tat, wenn man, um den Menschen damit bekanntzumachen, warten wollte, bis er die sittlichen Begriffe in ihrer ganzen Wahrheit zu fassen völlig fähig wäre, so würden wenige und diese wenigen kaum vor dem Ende ihres Lebens diese Fähigkeit besitzen.« (TW 4, 347)

Aus diesem Grund entwickelt die theoretische Bildung »[a]n der Mannigfaltigkeit der interessierenden Bestimmungen und Gegenstände« nicht nur Vorstellungen und Kenntnisse, sondern auch eine »Beweglichkeit und Schnelligkeit des Vorstellens [...], die Bildung des Verstandes überhaupt, damit auch der Sprache« (TW 7, § 197). Die Ausbildung von sprachlichen Fähigkeiten bzw. der Fähigkeit des begrifflichen Denkens, geschieht demnach in der Auseinandersetzung mit den (Lern-)Gegenständen.76 Wenn Hegel innerhalb seiner Gymnasialreden die

76 | Dass Hegel den wichtigsten Bildungsinhalt in der »Welt des Altertums«

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»direkte Belehrung über moralische Begriffe und Grundsätze« betont (vgl. TW 4, 346), geht es ihm also nicht um ein dogmatisches Internalisieren von Wissensinhalten, sondern darum, »das Bewußtsein mit den sittlichen Bestimmungen bekanntzumachen, die moralische Reflexion in ihm zu befestigen und es zum Nachdenken darüber [Hervorhebung durch mich; FHvW] anzuleiten« (ebd.).77 Und zur Begründung führt Hegel an: »Denn an diesen Begriffen haben wir die Gründe und Gesichtspunkte, aus denen wir uns und anderen über unsere Handlungen Rechenschaft geben, die Richtungslinien, die uns durch die Mannigfaltigkeit der Erscheinung und das unsichere Spiel der Empfindung hindurch leiten. Es ist der Vorzug des Selbstbewußtseins, daß es statt der Festigkeit des tierischen Instinkts einerseits willkürlich und zufällig in seinen Bestimmungen ist und andererseits dieser Willkür aus sich selbst durch seinen Willen Schranken setzt. Das Feste und Bindende nun gegen das Unstete und die Widersprüche jener Seite sind die sittlichen [...] Bestimmungen [...]. Ohne sie fällt das Allgemeingültige, das, was der Mensch soll, und das Zufällige, was ihm für den Augenblick beliebe, in die gemeinschaftliche Form eines solchen, das er mag.« (TW 4, 346 f.)

sieht, »der schönsten, die gewesen ist« (TW 4, 318, 320 f.), ist vor allem, aber eben nicht nur auf den akademischen Zeitgeist zurückzuführen. Denn die theoretische Bildung zielt bei Hegel vorwiegend auf begriffliche bzw. sprachliche Kompetenzen. Den Wert des grammatischen Studiums, so Hegel, kann man gar nicht hoch genug einschätzen: »Das grammatische Erlernen einer alten Sprache hat zugleich den Vorteil, anhaltende und unausgesetzte Vernunfttätigkeit sein zu müssen; indem hier nicht, wie bei der Muttersprache, die unreflektierte Gewohnheit die richtige Wortfügung herbeiführt, sondern es notwendig ist, den durch den Verstand bestimmten Wert der Redeteile vor Augen zu nehmen und die Regel zu ihrer Verbindung zu Hilfe zu rufen. Somit aber findet ein beständiges Subsumieren des Besonderen unter das Allgemeine und Besonderung des Allgemeinen statt, als worin ja die Form der Vernunfttätigkeit besteht. – Das strenge grammatische Studium ergibt sich also als eines der allgemeinsten und edelsten Bildungsmittel.« (TW 4, 323) Obwohl Hegel in seiner Grundeinsicht Recht zu geben ist, dass sich die Ausbildung von geistigen und körperlichen Fähigkeiten nicht beliebig organisieren lässt (vgl. Büttner 2006, 62) und obwohl er das heute noch wichtige Erlernen sprachlicher Kompetenzen ausdrücklich betont, darf die Überzeugung, dass das (analytische) Erlernen der alten Sprachen eines der »edelsten Bildungsmittel« ist, aus moderner Sicht zurückgewiesen werden. 77 | Hegels Ausführungen zum Begriff der Bildung sind innerhalb der Gymnasialreden vorwiegend auf die Schule bezogen. Da es im Kontext dieser

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In Rückgriff auf die aristotelische Ethik-Tradition hebt Hegel also die Notwendigkeit habitualisierten Handelns hervor, abstrahiert damit aber nicht von der Notwendigkeit der Belehrung (vgl. Reuss 1982, 246) und ihrer Reflexion. Interessant sind an dieser Stelle wieder die selbstbewusstseinstheoretischen Implikationen: Erst das durch die Reflexion des Sprechens, Wahrnehmens und Handelns erworbene Bewusstsein über diejenigen Begriffe, mit denen wir sprechen, durch die wir wahrnehmen und aufgrund derer wir handeln, erlaubt es uns, das jeweilige Sprechen (bzw. Urteilen), Wahrnehmen und Handeln zu rechtfertigen.78 Wie im Folgenden noch zu zeigen sein wird, bedeutet das aber keinesfalls einen Rückschritt zu einem propositionalen Wissensbegriff. Wichtig ist hier aber zunächst, dass Hegel innerhalb seiner Bildungstheorie nicht nur den Dualismus von Erziehung und Bildung und vom kognitiven und affektiven Lernen zurückweist, sondern damit zusammenhängend auch den der formellen bzw. allgemeinen und sittlichen bzw. moralischen Bildung: »Schon die allgemeine Bildung hängt ihrer Form nach aufs engste mit der moralischen Bildung zusammen; denn wir müssen diese überhaupt nicht auf einige Grundsätze und Maximen, auf eine generelle Redlichkeit, Wohlmeinendheit und ehrliche Gesinnung einschränken, sondern dafür halten, daß nur der überhaupt gebildete Mensch auch ein sittlich gebildeter Mensch sein könne.« (TW 4, 335 f.)

Damit weist er auf die bereits erwähnte Kontinuität von empirischem und moralischem Wissen als Wissensmodi hin (vgl. Kap. 4.1.5). Der Schulunterricht in den »Künsten und Wissenschaften« hat als formelle Bildung etwa eine »mittelbare« moralische Wirkung, insofern die Fähigkeit gelernt wird, »den Fall und die Umstände richtig aufzufassen, die sittlichen Bestimmungen selbst wohl voneinander

Arbeit ganz allgemein um Hegels Bildungsbegriff geht, werden die schultheoretischen Überlegungen hier so weit wie möglich ausgeklammert. Zu Hegels Theorie der Schule vgl. Reuss 1982, 82 ff. und v.a. Büttner 2006. Letzterer legt eine interessante systemtheoretische Interpretation der hegelschen Bildungstheorie vor. 78 | Vgl. dazu auch Hegels Erläuterung aus der Rechts-, Pflichten- und Religionslehre für die Unterklasse: »Die Erfahrung lehrt also nur, wie die Gegenstände beschaffen sind, nicht, wie sie sein müssen, noch wie sie sein sollen. Diese Erkenntnis geht nur aus dem Wesen oder dem Begriff der Sache hervor. Sie allein ist die wahrhaftige. Da wir aus dem Begriff die Gründe des Gegenstandes erkennen lernen, so müssen wir auch von den rechtlichen, moralischen und religiösen Bestimmungen die Begriffe erkennen.« (TW 4, 210)

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zu unterscheiden und die passende Anwendung von ihnen zu machen« (TW 4, 345, 348). In diesem Zusammenhang begreift Hegel die Bildung als »Befreiung« und als »formelle Grundlage« des moralischen Handelns: »Die wissenschaftliche Bildung hat überhaupt die Wirkung auf den Geist, ihn von sich selbst zu trennen, aus seinem unmittelbaren natürlichen Dasein, aus der unfreien Sphäre des Gefühls und des Triebs herauszuheben und in den Gedanken zu stellen, wodurch er ein Bewußtsein über die sonst nur notwendige, instinktartige Rückwirkung auf äußere Eindrücke erlangt und durch diese Befreiung die Macht über die unmittelbaren Vorstellungen und Empfindungen wird, welche Befreiung die formelle Grundlage der moralischen Handlungsweise überhaupt ausmacht.« (TW 4, 348)

Diese theoretischen Bildungsprozesse werden dabei analog zu den praktischen Bildungsprozessen als »Arbeit« gedeutet. In diesem Sinne, so Hegel, ist auch das Fortschreiten der Bildung kein »ruhiges Fortsetzen einer Kette«, sondern die Verarbeitung, Veränderung und neue Formierung eines »früheren Stoffs« (vgl. TW 4, 320). Bilden kann man sich jedoch erst an Gegenständen, die die »Gestalt von etwas Fremdartigem erhalten haben« (ebd., 321): »Unglücklich der, dem seine unmittelbare Welt der Gefühle entfremdet wird; denn dies heißt nichts anderes, als daß die individuellen Bande, die das Gemüt und den Gedanken heilig mit dem Leben befreunden, Glaube, Liebe und Vertrauen, ihm zerrissen wird! – Für die Entfremdung, welche Bedingung der theoretischen Bildung ist, fordert diese nicht diesen sittlichen Schmerz, nicht das Leiden des Herzens, sondern den leichteren Schmerz und Anstrengung der Vorstellung, sich mit einem Nicht-Unmittelbaren, einem Fremdartigen, mit etwas der Erinnerung, dem Gedächtnisse und dem Denken Angehörigen zu beschäftigen.« (TW 4, 321)

Hegel benutzt den Begriff der Entfremdung hier offensichtlich in zweifacher Hinsicht: Der »sittliche Schmerz« der Entfremdung betrifft die praktische Bildung. Es geht hierbei um diejenigen Lebensformen wie Familien, Staaten oder Demokratien, die ihrem Begriff nicht entsprechen (vgl. Kap. 3.4.2) und deshalb Glaube, Liebe und Vertrauen – metaphorisch gesprochen – »zerreißen«. Dass solche Lebensformen defizitär, krisenhaft oder ethisch-funktional ungenügend sind, bedeutet dementsprechend nicht, dass wir sie schlecht finden (vgl. Jaeggi 2013, 347), sondern dass sie in begriffliche Widersprüche verwickelt sind.79

79 | Zum Zusammenhang des Begriffs der Entfremdung und Hegels Motiv des »begrifflichen Entsprechens« vgl. Jaeggi 2013, die allerdings nicht beansprucht, eine detaillierte Interpretation vorzulegen, sondern das Motiv in

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Praktische Bildung bedeutet dann in diesem Zusammenhang die Reflexion des defizitären bzw. konflikthaften Sprechens, Wahrnehmens und Handelns. Der »leichtere Schmerz« betrifft dagegen die theoretische Bildung und meint die (wissenschaftlich-)distanzierte Auseinandersetzung, etwa mit der altgriechischen Sprache und ihren Lebensformen (s.o. Fn. 76). Man muss Hegels Einsicht hier jedoch modern reformulieren: Es geht um die Auseinandersetzung mit historischen und kulturellen Entwicklungen, die es erst erlauben, sich der Relationalität der Objektwerte und Wertobjekte der jeweiligen Lebensformen bewusst zu werden. Dabei bilden, wie Siegfried Reuss richtig sieht, die sittliche und die theoretisch-kognitive Erziehung (bzw. Bildung), die den Educandus dazu befähigen soll, die »Anstrengung des Begriffs« (TW 3, 56) auf sich zu nehmen, eine untrennbare Einheit (vgl. ders. 1982, 250): Zur Bildung des Habitus gehören nicht nur Gewöhnung und Erziehung, sondern auch die Reflexion eigener Konflikterfahrungen und die distanzierte Auseinandersetzung mit fremden Lebensformen, durch die die eigene Lebensweise reflektiert werden kann.80 Hegels Theorie der

Anschluss an Hegel entwickelt. Den Zusammenhang von Bildung und Entfremdung thematisiert Hegel im Kapitel »Der sich entfremdete Geist. Die Bildung« innerhalb der Phänomenologie des Geistes (vgl. TW 3, 359 ff.). Dabei benutzt er mindestens vier verschiedene Entfremdungsbegriffe, wie Ludwig Siep hervorhebt: i.) Entfremdung als Herrschaft des Werkes über seine Hervorbringer*innen. Hier erkennt sich das Individuum in der von ihm (zusammen mit anderen) geschaffenen Welt nicht mehr als Produkt seiner eigenen Kräfte und Tätigkeiten wieder. Das ist der Entfremdungsbegriff, an den v.a. Karl Marx anknüpft; ii.) Entfremdung als Umwandlung in einen »neuen Menschen« und die geistige Gemeinschaft der Kirche. Dabei knüpft Hegel an Rousseaus Begriff der aliénation an; iii.) Entfremdung als eine gespaltene Welt und einer Verklärung des Diesseits im unwirklichen Jenseits. Dieser Entfremdungsbegriff findet sich etwa in den Religionskritiken von Ludwig Feuerbach und Karl Marx wieder; iv) Entfremdung als Auflösung der geistigen Ordnung des Glaubens und der traditionellen Sittlichkeit und Moralordnung (ähnlich der Kulturkritik Rousseaus; vgl. Siep 2000, 189 ff.). Der Entfremdungsbegriff im Kontext der praktischen Bildung scheint dabei an die Entfremdung als Herrschaft des Werkes über seine Hervorbringer*innen angelehnt zu sein (dazu s.u.). Der Entfremdungsbegriff innerhalb der theoretischen Bildung als »wissenschaftlich-distanzierte Auseinandersetzung« findet dagegen keine weitere Entsprechung. Es geht Hegel aber (neben seiner Griechenschwärmerei), wie erwähnt, darum, dass sich der Mensch seiner selbst bzw. seiner »geschichtlichen Vermitteltheit« nur in der Auseinandersetzung mit etwas Fremdem bewusst werden kann (vgl. Reuss 1982, 210). 80 | In diesem Sinne schreibt Hegel an der Stelle weiter: »Diese Forderung

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Entfremdung (sofern man hier überhaupt von einer zusammenhängenden Theorie sprechen kann) schließt aus diesem Grund (und anders als oft behauptet) eben nicht aus, dass die eigene Lebenswelt, sofern sie als Problem und Konfliktfeld erfahren wird, zum Gegenstand kritischer Bewusstseinsbildung gemacht wird (vgl. Reuss 1982, 214). Aus diesem Grund ist auch Adornos Diagnose völlig unzutreffend, dass Hegel das Bestehende »als vernünftig rechtfertigen« will (vgl. ders. 1974/1963, 46). Denn: »Die Bildung ist [vielmehr; FHvW] in ihrer absoluten Bestimmung die Befreiung und die Arbeit der höheren Befreiung, nämlich der absolute Durchgangspunkt zu der nicht mehr unmittelbaren, natürlichen, sondern geistigen, ebenso zur Gestalt des Allgemeinen erhobenen unendlichen subjektiven Substantialität der Sittlichkeit. Diese Befreiung ist im Subjekt die harte Arbeit gegen die bloße Subjektivität des Benehmens, gegen die Unmittelbarkeit der Begierde sowie gegen die subjektive Eitelkeit der Empfindung und die Willkür des Beliebens.« (TW 7, § 187)

Wir hatten bereits in den vorangegangenen Kapiteln gesehen, dass Hegel den Begriff der Selbständigkeit nicht als Eigenschaft des Denkens oder Willens, sondern als Modus von Vollzügen auffasst. Denn Selbständigkeit oder Freiheit gibt es nur als Prozess und damit als Befreiung (vgl. Menke 2013, 301). Entsprechend grenzt er sich vom neuhumanistischen Bildungsgedanken deutlich ab und bereitet eine kritische Theorie der Bildung vor, insofern Bildung als reflexive (Selbst-) Kritik begriffen wird.81

der Trennung aber ist so notwendig, daß sie sich als ein allgemeiner und bekannter Trieb in uns äußert. Das Fremdartige, das Ferne führt das anziehende Interesse mit sich, das uns zur Beschäftigung und Bemühung lockt, und das Begehrenswerte steht im umgekehrten Verhältnisse mit der Nähe, in der es steht und gemein mit uns ist. Die Jugend stellt es sich als Glück vor, aus dem Einheimischen wegzukommen und mit Robinson eine ferne Insel zu bewohnen. Es ist eine notwendige Täuschung, das Tiefe zuerst in der Gestalt der Entfernung suchen zu müssen; aber die Tiefe und Kraft, die wir erlangen, kann nur durch die Weite gemessen werden, in die wir von dem Mittelpunkte hinwegflohen, in welchen wir uns zuerst versenkt befanden und dem wir wieder zustreben. Auf diesen Zentrifugaltrieb der Seele gründet sich nun überhaupt die Notwendigkeit, die Scheidung, die sie von ihrem natürlichen Wesen und Zustand sucht, ihr selbst darreichen und eine ferne, fremde Welt in den jungen Geist hineinstellen zu müssen.« (TW 4, 321) 81 | Mit Max Horkheimer dürfte ich hier einen prominenten Fürsprecher haben: »Wenn Herder, Schiller, Humboldt und Schleiermacher auf der ihrer Periode angemessenen Verinnerlichung insistieren, hat das realistische

4. Mit Begriffen leben und in Lebensformen lernen »Der Mensch ist nach der unmittelbaren Existenz an ihm selbst ein natürliches, seinem Begriffe Äußeres; erst durch die Ausbildung seines eigenen Körpers und Geistes, wesentlich dadurch, daß sein Selbstbewußtsein sich als freies erfaßt, nimmt er sich in Besitz und wird das Eigentum seiner selbst und gegen andere. Dieses Besitznehmen ist umgekehrt ebenso dies, das, was er seinem Begriffe nach (als eine Möglichkeit, Vermögen, Anlage) ist, in die Wirklichkeit zu setzen, wodurch es ebensowohl erst als das Seinige gesetzt, als auch als Gegenstand und vom einfachen Selbstbewußtsein unterschieden und dadurch fähig wird, die Form der Sache zu erhalten.« (TW 7, § 57)

Diese Ausbildung des Körpers und des Geistes geschieht nicht einfach durch Unterwerfung unter sittliche Mächte wie gesellschaftliche Institutionen, Autoritäten oder Erziehungsinstanzen, sondern in der (praktischen und theoretischen) Abarbeitung an ihnen. Das wiederum bedeutet, dass Lebensformen die notwendige Voraussetzung dafür abgeben, um sich zu ihnen – aufgrund der Reflexion ihrer Relationalität und Widersprüchlichkeit – in ein Verhältnis zu setzen (vgl. Hubig 2012, 29).82 Wie es zu verstehen ist, dass das »Selbstbewußtsein sich als freies erfaßt« und sich gemäß seines eigenen Begriffs verwirklicht, wird Gegenstand des nun folgenden und abschließenden Kapitels sein. Dabei müssen die bereits antizipierten selbstbewusstseinstheoretischen Implikationen des Habitusbegriffs erörtert werden – und damit zusammenhängend diejenigen historisch-kollektiven Bildungsprozesse, die die soeben behandelten individuellen Bildungsprozesse der Habitus erst ermöglichen. Denn wir hatten gerade gesehen, dass Hegel die Bildung als Befreiung, »höhere Befreiung« und damit als

Ingenium von Hegel und Goethe tiefer gesehen als die individualistischen Denker, deren Kult des Individuums auf das Ende substantieller Bildung und eben damit auf die Abschaffung des Individuums hinausläuft. Jene beiden haben gewußt, daß der Weg der Bildung Entäußerung ist; man könnte auch schlichtweg sagen: einer der Erfahrung. Gebildet wird man nicht durch das, was man ›aus sich selbst macht‹, sondern einzig in der Hingabe an die Sache, in der intellektuellen Arbeit sowohl wie in der ihrer selbst bewußten Praxis. [...] Mit dem Aneignen ist es nicht getan. Wer nicht aus sich herausgehen, sich an ein Anderes, Objektives ganz und gar verlieren und arbeitend doch darin sich enthalten kann, ist nicht gebildet, und der sogenannte Gebildete, der dazu unfähig ist, wird stets Male einer Beschränktheit und Befangenheit aufweisen, die seinen eigenen Anspruch auf Bildung Lügen strafen.« (Ders. 1985/1952, 415) 82 | Die Bildungsgeschichte von Albano de Cesara, dem Helden aus Jean Pauls »Kardinal- und Kapitalroman« Titan veranschaulicht einen solchen Prozess (vgl. ders. 1983/1800 ff.; Hubig 2012, 29 f.).

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»absoluten Durchgangspunkt« betrachtet, sodass individuelle Bildungsprozesse geschichtlich bedingt sind (vgl. Menke 2013, 314 ff.). In eben diesem Sinn spielt er auch an anderer Stelle auf Friedrich Schillers Gedicht Resignation an wenn er sagt, dass die Weltgeschichte das »Weltgericht« sei (vgl. TW 7, § 340): Alles Wissen ist an die historische Entwicklung und den sozialen Fortschritt gebunden, sodass der Habitus »Leib gewordene Geschichte« ist (vgl. Bourdieu 1991/1985, 69). Vor dem Hintergrund der geschichts- und selbstbewusstseinstheoretischen Überlegungen Hegels kann der Begriff des Wissens abschließend konzeptualisiert werden, indem die konflikt- und lerntheoretischen Implikationen des Habituskonzepts miteinander verknüpft werden. 4.2.3 Über das Ende und die Moral von der Geschicht’: Rationale Nazis gibt es nicht! Ironischerweise wird Hegels Geschichtsphilosophie bis heute diejenige metaphysische Eschatologie und Hypostasierung ontologischer Teleologie nachgesagt, die sie eigentlich zu widerlegen beansprucht (vgl. Stekeler-Weithofer 2001, 141). Grund dafür mögen oberflächliche Lesarten von heute kryptisch anmutenden Formulierungen wie der sein, dass die Weltgeschichte der »vernünftige, notwendige Gang des Weltgeistes« sei (vgl. TW 12, 22). Kryptisch sind solche Formulierungen jedoch nur, wenn man sich nicht die Mühe macht, die hegelsche Terminologie genau nachzuvollziehen und in eine moderne Begrifflichkeit zu übersetzen.83 Die geschichtsphilosophische Grundeinsicht, dass jedes Individuum ein Sohn seiner (oder eine Tochter ihrer) Zeit ist, keine Philosophie über ihre gegenwärtige Welt hinausgeht und kein Individuum seine Zeit überspringt (vgl. TW 7, 26), scheint dagegen mehr Binsenweisheit, als tiefe philosophische Erkenntnis zu sein. Interessant wird sie erst vor dem Hintergrund, dass Hegel jede

83 | So meint die Rede vom »Weltgeist« etwa keine »spukhafte Superentität« als Agens der Weltgeschichte, sondern ist lediglich ein Name für den Prozess, »in dem sich menschliche Selbstbestimmung in Form komplexer sittlicher, religiöser, künstlerischer und philosophischer Gepräge ausgestaltet« (Ostritsch 2014, 324; Fn. 500). »Vernunft« bedeutet dagegen bei Hegel das »ganz frei sich selbst bestimmende Denken« (TW 12, 25). Die Vernunfttätigkeit ist demnach die »Kritik und Beurteilung gängiger Meinungen, ganzer Theorien oder Systeme von Denk- und Argumentationsregeln, samt der Kenntnis der immer auftretenden Probleme (Widersprüche) eines bloß rationalen Verständnisses oder einer rein schematischen Anwendung« (Stekler-Weithofer 2005 179). Sie verhält sich damit kritisch-reflektierend zur urteilenden Verstandestätigkeit (vgl. Baumann 2009, 146 f.; Kap. 3.4.1).

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Form von Relativismus strikt ablehnt. Er verdeutlicht diesen Zusammenhang u.a. mithilfe seiner berühmten Reminiszenz: »Auf die Frage eines Vaters nach der besten Weise, seinen Sohn sittlich zu erziehen, gab ein Pythagoreer [...] die Antwort: wenn du ihn zum Bürger eines Staates von guten Gesetzen machst.« (TW 7, § 147 A)

Vor dem Hintergrund der bisheringen Ausführungen ist diese Textstelle so zu interpretieren, dass man nur innerhalb eines Staates oder innerhalb von Lebensformen sittlich erzogen werden kann. Gleichzeitig wird behauptet, dass es Staaten mit »guten Gesetzen« und damit gute Lebensformen de facto gibt: Historisch-kollektive Lernprozesse, so wird die Pointe der Argumentation lauten, gehen individuellen Lernprozessen voraus, ohne dass man sich zwischen den falschen Alternativen, Nonkognitivismus und Kulturrelativismus einerseits oder Ethischer Realismus und Ethischer Objektivismus andererseits zu entscheiden hätte. Um das zu zeigen, greift Hegel Beispiele aus der Sozial- und Kulturgeschichte auf. Allerdings weist er damit nicht nur auf den faktischen Begriffs- und Wertepluralismus (Kuhn) oder die Kontinuität von deskriptiven und evaluativen Aussagen (Putnam) hin. Er will vielmehr zeigen, dass und wie sozialer bzw. moralischer Fortschritt möglich ist, um daran anschließend erklären zu können, dass und wie soziale und moralische Tatsachen möglich sind und wie wir von ihnen wissen können. Im Zentrum von Hegels geschichtsphilosophischen Überlegungen steht dabei eine zumindest prima facie merkwürdig anmutende These: »Die Weltgeschichte ist der Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit – ein Fortschritt, den wir in seiner Notwendigkeit zu erkennen haben.« (TW 12, 32) Dieser notwendige Fortschritt wiederum wird weiter als »schwere lange Arbeit der Bildung« (ebd., 31) charakterisiert. Aus Gründen der argumentativen Stringenz wird im Folgenden nur der begrifflich-systematische Zusammenhang von Fortschritt, Arbeit und Bildung aus Hegels komplexer und vielschichtiger Geschichtsphilosophie erläutert, ohne diese im Ganzen darzustellen.84 Wichtig ist dabei zu bemerken, dass hier keine teleolo-

84 | Hegel unterscheidet drei Formen der geschichtlichen Reflexion (vgl. TW 12, 11 ff.): Erstens die ursprüngliche Geschichte, d.h. die Beschreibung von Taten, Begebenheiten und Zuständen (lat.: »res gestae«). Zweitens die reflektierende Geschichte, deren Darstellung »nicht in Beziehung auf die Zeit, sondern rücksichtlich des Geistes über die Gegenwart hinaus ist« (ebd., 14). Hier meint Geschichte das, was »auswählende und systematisierende, deutende und erklärende Gründe und Zwecke des Handelns und Ursachen des Verhaltens nennende Geschichtsschreibung an Inhalten vermittelt« (Stekeler-Weithofer 2006, 37 f.; lat.: »historia rerum gestarum«). Hegel nennt diese beiden auch

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gische Fortschrittsgeschichte gezeichnet wird, deren Ziel die Freiheit ist und die – bei Erreichen – in einem »Ende der Geschichte« terminiert.85 Hegel kritisiert im Gegenteil jede ontologische Teleologie oder metaphysische Eschatologie, indem er auf die Wichtigkeit hinweist, die traditionelle Sittlichkeit, als System realer Praxisformen, in ihrer Geschichtlichkeit zu begreifen (vgl. Stekeler-Weithofer 2001, 141 f.). Dementsprechend dient der Schlüsselbegriff der Freiheit hier nicht einfach als Ziel der historischen Entwicklung, sondern als ihr Prinzip (vgl. Jaeggi 2014, 423 f.). Hegel zeigt auf diese Weise, wie Bewusstsein (bzw. Wissen), Selbstbewusstsein und Freiheit zusammenhängen: »[D]er Geist ist das Bei-sich-selbst-Sein. Dies eben ist die Freiheit, denn wenn ich abhängig bin, so beziehe ich mich auf ein Anderes, das ich nicht bin; ich kann nicht sein ohne ein Äußeres; frei bin ich, wenn ich bei mir selbst bin. Dieses Beisichselbstsein des Geistes ist Selbstbewußtsein, das Bewußtsein von sich selbst. Zweierlei ist zu unterscheiden im Bewußtsein, erstens daß ich weiß, und zweitens was ich weiß. Beim Selbstbewußtsein fällt beides zusammen, denn der Geist weiß sich selbst, er ist das Beurteilen seiner eigenen Natur und er ist zugleich die Tätigkeit, zu sich zu kommen und so sich hervorzubringen, sich zu dem zu machen, was

die »subjektive« und die »objektive Seite« der Geschichte (vgl. TW 12, 83). Drittens die philosophische Geschichte, als der »denkenden Betrachtung« der ursprünglichen und der reflektierenden Geschichte (vgl. ebd., 20). Gemeint ist das Begreifen unserer geschichtlichen Welt- und Selbstverhältnisse (vgl. Baumann 2009, 167 ff.). Diese wird im Folgenden, soweit sie für die Zwecke dieser Arbeit relevant ist, skizziert. Auf Hegels Verhältnis zum Historismus und die damals noch jungen Geschichtswissenschaft kann hier aus Gründen der argumentativen Stringenz nicht eingegangen werden (vgl. für einen ersten Überblick Schloßberger 2013, 131 ff.). 85 | In diesem Sinne hat etwa Francis Fukuyama Hegels Geschichtsphilosophie gründlich missverstanden: »With the American and French revolutions Hegel asserted that history comes to an end because the longing that had driven the historical process – the struggle for recognition – has now been satisfied in a society characterized by universal and reciprocal recognition.« (Ders. 2006/1992, xviii) Wenn man jedoch im Sinne Hegels nicht um Anerkennung kämpfen kann (vgl. Kap. 4.1.2), kann die Beendigung dieses Kampfes auch nicht mit dem Ende der Geschichte zusammenfallen. In Anschluss an die Hegel-Interpretation Kojèves meint die Rede vom »Ende der Geschichte« bei Fukuyama zwar nicht das Ende aller historischer Ereignisse, sondern das Ende gesellschaftstransformierender Organisationsprinzipien (vgl. de Berg 2007, 11). Trotzdem ist Fukuyamas Geschichtsauffassung nicht mit der seines Gewährsmanns Hegel zu vereinbaren.

4. Mit Begriffen leben und in Lebensformen lernen er an sich ist. Nach dieser abstrakten Bestimmung kann von der Weltgeschichte gesagt werden, daß sie die Darstellung des Geistes sei, wie er sich das Wissen dessen, was er an sich ist, erarbeitet [Hervorhehung durch mich; FHvW] [...]. Die Orientalen wissen es noch nicht, daß der Geist oder der Mensch als solcher an sich frei ist; weil sie es nicht wissen, sind sie es nicht; sie wissen nur, daß Einer frei ist, aber eben darum ist solche Freiheit nur Willkür, Wildheit, Dumpfheit der Leidenschaft oder auch eine Milde, Zahmheit derselben, die selbst nur ein Naturzufall oder eine Willkür ist. Dieser Eine ist darum nur ein Despot, nicht ein freier Mann. – In den Griechen ist erst das Bewußtsein der Freiheit aufgegangen, und darum sind sie frei gewesen; aber sie, wie auch die Römer, wußten nur, daß einige frei sind, nicht der Mensch als solcher. Dies wußten selbst Platon und Aristoteles nicht. Darum haben die Griechen nicht nur Sklaven gehabt und ist ihr Leben und der Bestand ihrer schönen Freiheit daran gebunden gewesen, sondern ihre Freiheit war selbst teils nur eine zufällige, vergängliche und beschränkte Blume, teils zugleich eine harte Knechtschaft des Menschlichen, des Humanen.« (TW 12, 30 f.)

Da auch Hegel selbst ein »Sohn seiner Zeit« war, sehen wir hier einmal über seine eurozentrische bzw. preußisch-protestantische Perspektive auf die Geschichte hinweg und wenden uns der philosophischen Pointe zu. Sie besagt, dass die wichtigsten Veränderungen im Laufe der Geschichte Veränderungen vom wachsenden Selbstverständnis des Menschen waren und damit vom wachsenden Verständnis derjenigen Begriffe, mit denen Menschen sich und ihre Welt beschreiben (vgl. Houlgate 1991, 18): Denn das Wissen des Menschen, was er an sich, d.h. seinem Begriff oder der Möglichkeit nach ist, muss er sich erst erarbeiten, um es auch verwirklichen zu können.86 Um das verstehen zu können, muss zunächst die Rede vom »Bewußtsein der Freiheit« erläutert werden. Dabei ist es wichtig, die doppelte Bedeutung als genitivus objectivus und als genitivus subjectivus zu beachten, auf die Hegel in diesem Zitat anspielt und die es im Folgenden genauer zu untersuchen gilt:87 Als genitivus objectivus meint der Ausdruck »Bewusstsein der Freiheit«, dass die Freiheit das Objekt oder der Gegenstand des Bewusstseins bzw. des Wissens ist (oder in Hegels Worten aus dem obigen Zitat: dass ich um meine Freiheit weiß). Als genitivus subjectivus bedeutet er, dass die Freiheit selbst das Subjekt des Wissens ist (in Hegels Worten: was ich als mich frei verwirklichendes Wesen [über mich oder meine Freiheit] weiß). Wir beginnen mit dem genitivus objectivus. Denn Hegel behauptet zunächst, dass der Mensch von

86 | Dass Hegels Ausdruck »an sich« hier als Begriff oder Möglichkeit gedeutet wird, geht nicht nur auf die bereits gemachten Ausführungen zur Begriffstheorie zurück (vgl. Kap. 3.4.1), sondern auch auf die Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte (vgl. TW 12, 36). 87 | Vgl. dazu auch Ostritsch 2014, 319 ff.

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Natur aus frei ist, und es doch »bei vielen Völkern« Sklaverei gab und immer noch gibt (vgl. TW 18, 40). Wie aber ist dann diese »natürliche« Freiheit des Menschen – als Gegenstand des Wissens – hier zu verstehen? »Der einzige Unterschied zwischen den afrikanischen und asiatischen Völkern und den Griechen, Römern und der modernen Zeit ist nur, daß diese wissen, es für sie ist, daß [Hervorhebung durch mich; FHvW] sie frei sind. Jene sind es auch, aber sie wissen es nicht; sie existieren nicht als frei. Dies macht die ungeheure Änderung des Zustands aus. Alles Erkennen, Lernen, Wissenschaft, selbst Handeln beabsichtigt weiter nichts, als das, was innerlich, an sich ist, aus sich herauszuziehen und sich gegenständlich zu werden.« (TW 18, 40)

Die »ungeheure Änderung des Zustands« besteht nun darin, dass das Wissen um die eigene Freiheit unser Selbstverständnis und unsere Auffassung bezüglich der Welt, in der wir leben, fundamental verändert. Zu wissen, dass wir frei sind, bedeutet zu wissen, dass die Umstände, in denen wir Leben (die Lebensformen) von uns abhängen und durch uns verändert werden können. Wer etwa bestehende Autoritäten, Institutionen o.ä. für gottgegeben oder natürlich hält, wird sich ihnen gegenüber anders verhalten als jemand, der weiß, dass dies nicht so ist (vgl. Jaeggi 2014, 433; Houlgate 1991, 19). »Der Geist produziert, realisiert sich nach seinem Wissen von sich; er wirkt, dass das was er von sich weiß, auch realisiert werde. So kommt alles auf das Bewußtsein des Geistes von sich an; wenn der Geist es weiß, dass er frei ist, so ist dies ganz etwas anderes, als wenn er es nicht weiß. Denn wenn er es nicht weiß, dann ist er Sklave und mit der Sklaverei zufrieden, und er weiß nicht, dass sie sich nicht gebührt.« (VPW, 55 f.)

Hegel selbst erläutert diesen Zusammenhang über das Motiv der Sklaverei, das er der zeitgenössischen Diskussion entnimmt. Um die Pointe der Argumentation besser zu verstehen, sind jedoch ein paar Anmerkungen zur historischen Einordnung angebracht: Denn zur Zeit Hegels hatte sich die Sklaverei als Schlüsselmetapher der politischen Philosophie etabliert und ihr Gegenbegriff, die Freiheit, war zum höchsten Wert der Politik avanciert. Dabei akzeptierten ironischerweise diejenigen Philosophen der Aufklärung, die die Freiheit zum unveräußerlichen Menschenrecht erklärten, die millionenfache Ausbeutung von Sklav*innen in den Kolonien als gegebene politische und ökonomische Ordnung (vgl. BuckMorss 2009, 21 ff.). John Locke etwa stellte 1689 zu Beginn seiner Two Treatises of Government fest, dass es ihm schwerfällt zu begreifen, wie ein Engländer, geschweige denn ein Gentleman, die Sklaverei verteidigen könne (vgl. ders. 1989/1689, 141). Dieser Protest richtet sich allerdings weniger gegen den Einsatz von Sklav*innen in den britischen Kolonien. Die Sklaverei dient hier vielmehr

4. Mit Begriffen leben und in Lebensformen lernen

als Metapher für die »legale Tyrannei« des absolutistischen Ancien Régime (vgl. Buck-Morss 2009, 27 f.). Und während die französischen Aufklärer die indigene Bevölkerung der Kolonien als »edle Wilde « idealisierten, spielten sie die Gräuel der Sklaverei entweder aus rassistischen Gründen herunter oder schwiegen sich über sie aus. So etwa Rousseau, in dessen philosophischem Hauptwerk Du Contract Social ou Principes du Droit Politique es nicht nur heißt, dass der Mensch frei geboren wird und trotzdem überall in Ketten liegt (vgl. ders. 2011/1762, 5), sondern auch, dass die Wörter Sklaverei und Recht im Widerspruch zueinander stehen (vgl. ebd., 15). Diese theoretische Empörung geht jedoch einher mit der Ignoranz gegenüber den realen Schrecken der europäischen Sklaverei, deren sich Rousseau sehr wohl bewusst war. Die aus heutiger und genuin philosophischer Perspektive vorgenommenen Universalitätszuschreibungen dürften damit weit über die Absichten vieler Autoren hinausgehen (vgl. Buck-Morss 2009, 29 ff.). Die Befreiung aus ihrer Knechtschaft wurde letztendlich durch die Sklav*innen selbst vollbracht. Ausgangspunkt und Epizentrum dieses Befreiungskampfes bildete die französische Kolonie Saint-Domingue. 1791 revoltierten 500.000 von ihnen gegen die koloniale Vorherrschaft und zwangen die französische Republik drei Jahre später, die Abschaffung der Sklaverei anzuerkennen. Nach dem Sieg über ein Expeditionsheer Napoleons, das die Kontrolle über die Kolonien wiedererlangen sollte, wurde 1804 die Unabhängigkeit von Frankreich erklärt und 1805 der Staat Haiti gegründet. Die Verfassung erklärte dabei alle Bewohner*innen Haitis zu Schwarzen, um ethnologische Unterschiede gesetzlich zu »beseitigen« (vgl. ebd., 34 ff.). Diese Ereignisse wurden von den europäischen Zeitgenoss*innen genau verfolgt, eben weil sie für das politische Denken und die Überwindung rassistischer Vorbehalte von so großer Bedeutung waren. Und weil nachweislich auch Hegel über seine Zeitungslektüre bestens mit diesen Geschehnissen vertraut war, hat er möglicherweise in der Auseinandersetzung mit den Ereignissen in Saint-Domingue etwas Wichtiges gelernt: Freiheit kann nicht einfach von oben geschenkt werden (vgl. ebd., 55), vielmehr muss sie erarbeitet und erkämpft werden. Vor diesem Hintergrund kritisiert er nicht nur das neuzeitliche Naturrechtsdenken, sondern auch die weit verbreitete Rechtfertigung der Sklaverei über eine vermeintliche Natur des Menschen. Denn die Antinomie zwischen zwei konkurrierenden philosophischen Überzeugungen, nach denen »der« Mensch bzw. bestimmte Menschengruppen von Natur aus als frei oder unfrei gekennzeichnet werden, erweist sich als Illusion: »Die behauptete Berechtigung der Sklaverei (in allen ihren näheren Begründungen durch die physische Gewalt, Kriegsgefangenschaft, Rettung und Erhaltung des Lebens, Ernährung, Erziehung, Wohltaten, eigene Einwilligung usf.) sowie die Berechtigung einer Herrschaft als bloßer Herrenschaft überhaupt und alle historische Ansicht über das Recht der Sklaverei und der Herrenschaft beruht auf dem Standpunkt, den Menschen als Naturwesen überhaupt nach einer Existenz

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Das Problem moralischen Wissens (wozu auch die Willkür gehört) zu nehmen, die seinem Begriffe nicht angemessen ist. Die Behauptung des absoluten Unrechts der Sklaverei hingegen hält am Begriffe des Menschen als Geistes, als des an sich freien, fest und ist einseitig darin, daß sie den Menschen als von Natur frei oder, was dasselbe ist, den Begriff als solchen in seiner Unmittelbarkeit, nicht die Idee, als das Wahre nimmt. Diese Antinomie beruht, wie alle Antinomie, auf dem formellen Denken, das die beiden Momente einer Idee getrennt, jedes für sich, damit der Idee nicht angemessen und in seiner Unwahrheit, festhält und behauptet. Der freie Geist ist eben dieses (§ 21), nicht als der bloße Begriff oder an sich zu sein, sondern diesen Formalismus seiner selbst und damit die unmittelbare natürliche Existenz aufzuheben und sich die Existenz nur als die seinige, als freie Existenz zu geben. Die Seite der Antinomie, die den Begriff der Freiheit behauptet, hat daher den Vorzug [Hervorhebung durch mich; FHvW], den absoluten Ausgangspunkt, aber auch nur den Ausgangspunkt für die Wahrheit zu enthalten, während die andere Seite, welche bei der begrifflosen Existenz stehenbleibt, den Gesichtspunkt von Vernünftigkeit und Recht gar nicht enthält. Der Standpunkt des freien Willens, womit das Recht und die Rechtswissenschaft anfängt, ist über den unwahren Standpunkt, auf welchem der Mensch als Naturwesen und nur als an sich seiender Begriff, der Sklaverei daher fähig ist, schon hinaus. Diese frühere unwahre Erscheinung betrifft den Geist, welcher nur erst auf dem Standpunkte seines Bewußtseins ist; die Dialektik des Begriffs und des nur erst unmittelbaren Bewußtseins der Freiheit bewirkt daselbst den Kampf des Anerkennens und das Verhältnis der Herrenschaft und der Knechtschaft.« (TW 7, § 57) 88

Die Ansicht, dass der Mensch, oder bestimmte Menschengruppen, von Natur aus unfrei oder untergeordnet wären, ist historisch kontingent, entspricht aber nicht dem Begriff des Menschen. Die Gegenposition, dass der Mensch von Natur aus frei ist, scheint zunächst einmal ebenso kontingent zu sein, da sie wieder einfach eine bestimmte Natur unterstellt. Interessant ist jetzt aber die in dieser Textstelle von mir hervorgehobene Begründung, mit der Hegel die vermeintliche Antinomie als Illusion entlarvt: Eben weil der Mensch sich selbst als freies (oder unfreies) Wesen interpretieren kann (es mithin zu seiner Freiheit gehört, sich so begreifen zu können), ist er der Möglichkeit nach wirklich frei. Diese Deutung wird auch durch folgende Textstelle aus den Grundlinien der Philosophie des Rechts gestützt: »So ist der Wille nur an sich frei, oder für uns, oder es ist überhaupt der Wille in seinem Begriffe. Erst indem der Wille sich selbst zum Gegenstande hat,

88 | Hegel verweist direkt in Anschluss an diese Textstelle auf das bereits besprochene Selbstbewusstseinskapitel der Phänomenologie des Geistes (vgl. TW 3, 154; Kap. 4.1.4) und die entsprechende Passage aus der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften (vgl. TW 10, §§ 430 ff.). Die Metaphorik von

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ist er für sich, was er an sich ist.« (TW 7, § 10) Das Besondere am Wissen um die eigene Freiheit besteht wie gesagt zunächst darin, dass sich durch dieses Wissen, die Art und Weise, wie Menschen (bzw. die Habitus) sich bzw. diese Freiheit verwirklichen, ändert: Sobald wir wissen, dass wir (der Möglichkeit nach) frei sind, wissen wir, dass die Bedingungen, unter denen wir leben, und die Lebensformen, in denen wir leben, von uns abhängen. Und jemand, der das weiß, handelt anders, als jemand, der das nicht weiß (vgl. Jaeggi 2014, 432 f.). Das wiederum bedeutet jedoch, dass der Inhalt des Freiehtsbegriffs nicht unabhängig von den Erfahrungen spezifiziert werden, die aus dem Prozess seiner Realisierung erwachsen (vgl. Halbig 2004b, 43). Aus diesem Grund schreibt Hegel auch in obigem Zitat, dass die Bestimmung des Menschen als »freie Existenz« nur den absoluten (d.h. unbedingten) »Ausgangspunkt« der Wahrheit enthält. Von diesem Ausgangspunkt kommen wir zum genitivus subjectivus des Ausdrucks »Bewußtsein der Freiheit« und damit zu der Frage, was sich-frei-verwirklichende-Wesen über sich und ihre Freiheit wissen können. Hegel argumentiert weiter anhand des Motivs der Sklaverei, indem er sagt, dass sie aus heutiger Perspektive Unrecht, damals allerdings notwendig war: »Hält man die Seite fest, daß der Mensch an und für sich frei sei, so verdammt man damit die Sklaverei. Aber daß jemand Sklave ist, liegt in seinem eigenen

Herrschaft und Knechtschaft ist im Zusammenhang mit der Frage nach der Sklaverei also interpersonal zu verstehen. Wahrscheinlich hat dieser Umstand auch zu dem Missverständnis innerhalb der Hegelforschung beigetragen, sie innerhalb des Werkes Hegels ganz ungeachtet des argumentativen Kontextes immer interpersonal zu interpretieren. So vertritt etwa Susan Buck-Morss in ihrem vielfach rezipierten Buch Hegel, Haiti, and Universal History (vgl. dies. 2009) die These, dass Hegel bei der Entwicklung der Dialektik von Herr und Knecht maßgeblich durch die Sklavenaufstände auf Haiti inspiriert wurde (vgl. ebd., 50). Zwar war er über das politische Tagesgeschehen sehr wohl im Bilde, doch hat er sich eben auch sehr ausführlich mit der Philosophiegeschichte und mit der politischen Philosophie beschäftigt. Und wie wir bereits gesehen hatten, geht das Motiv von Herrschaft und Knechtschaft auf eine weit verzweigte Theorietradition zurück, die bis in die Antike reicht und u.a. im Kontext der neuzeitlichen Vermögenspsychologie benutzt wurde. Entsprechend finden sich im hegelschen Text, so wurde in Kap. 4.1.4 hoffentlich deutlich, eindeutige Bezüge zu Fichtes Selbstbewusstseinstheorie, Humboldts Bildungstheorie und Aristoteles Seelenlehre. Die zentrale Inspirationsquelle der hegelschen Herr-Knecht-Metaphorik waren die Ereignisse auf Haiti somit auf keinen Fall – und doch scheinen sie von großer Wichtigkeit für sein politisches Denken gewesen zu sein.

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Das Problem moralischen Wissens Willen, so wie es im Willen eines Volkes liegt, wenn es unterjocht wird. Es ist somit nicht bloß [Hervorhebung durch mich; FHvW] ein Unrecht derer, welche Sklaven machen oder welche unterjochen, sondern der Sklaven und Unterjochten selbst. Die Sklaverei fällt in den Übergang von der Natürlichkeit der Menschen zum wahrhaft sittlichen Zustande; sie fällt in eine Welt, wo noch ein Unrecht Recht ist. Hier gilt das Unrecht und befindet sich ebenso notwendig an seinem Platz.« (TW 7, § 57 Z)

Hegel behauptet hier zunächst, dass damals das Unrecht der Sklaverei noch Recht war. An anderer Stelle schreibt er aber auch, dass wegen der Sklaverei bei den Römern blutige Kriege entstanden, »in denen die Sklaven sich frei zu machen, zur Anerkennung ihrer ewigen Menschenrechte [Hervorhebung durch mich; FHvW] zu gelangen suchten« (TW 10, § 433 Z). Da hier ein offenkundiger Widerspruch droht, muss zunächst gefragt werden, wie sich die Rede von einem »Unrecht« das »Recht« ist und sich notwendig »an seinem Platz« befindet, mit dem Bekenntnis zu »ewigen Menschenrechten« vereinen lässt. Dabei muss nochmal betont werden, dass die Sklaverei im Sinne Hegels nicht nur dadurch möglich war (und heute noch möglich ist), dass die eine Gruppe von Menschen die andere unterjocht, sondern auch dadurch, dass diese sich von jener unterjochen lässt: Das gemeinsame Selbstverständnis der römischen Lebensform, mithin der entsprechende Begriff des Menschen, macht die Sklaverei möglich (vgl. TW 7, § 57). Und eben deshalb war das Unrecht im Sinne Hegels auch »notwendig«. Denn nur als Sklavenhaltergesellschaft, mit ihrer spezifischen Weise der Arbeitsteilung, der Produktion, Reproduktion etc. ist die römische Lebensform überhaupt als solche rekonstruierbar. Émile Durkheim, der zwar stark von Kant beeinflusst ist, aber ähnlich wie Hegel davon ausgeht, dass sich jede Gesellschaft ihre Moral erarbeitet und diese ihre soziale Struktur widerspiegelt, hat das treffenderweise so formuliert: »Was die Moral als das Werk der Gesellschaft ausweist, ist, daß sie sich wie die Gesellschaft ändert. Die Moral der griechischen und römischen Städte war nicht unsere, so wie die Moral der primitiven Stämme nicht die Moral der Städte ist. Tatsächlich hat man versucht, diese Verschiedenheit der Moralen als das Produkt von Irrtümern zu erklären, die man auf die Unvollkommenheit unserer Vernunft zurückführte. Wenn die Moral der Römer, hat man gesagt, von unserer verschieden ist, so darum, weil die menschliche Vernunft damals noch durch eine ganze Reihe von Vorurteilen und Aberglauben, die seither verschwunden sind, verschleiert und verdunkelt war. Wenn es aber eine Tatsache gibt, die die Geschichte außer jeden Zweifel gerückt hat, so diese, daß die Moral eines jeden Volkes in direkter Beziehung mit der Struktur des Volkes steht, die sie praktiziert. [...] Sagen sie mir, wie die Ehe und die häusliche Moral bei einem Volke ist, und ich werde ihnen die wichtigsten Züge seiner Verfassung nennen. Der Gedanke, daß die Römer

4. Mit Begriffen leben und in Lebensformen lernen eine andere Moral ausüben hätten können als die ihre, ist ein wahrer historischer Widersinn. Nicht nur, daß sie keine andere haben konnten, sie durften sie auch nicht haben. Nehmen wir an, daß sie auf wundersame Weise für Gedanken empfänglich gewesen wären, die an der Basis unserer heutigen Moral stehen, dann hätte die römische Gesellschaft nicht leben können. [...] Jeder soziale Typus hat die Moral, die er braucht, wie jeder biologische Typus das Nervensystem hat, das ihm erlaubt, sich zu erhalten.« (Durkheim 1984/1902, 135)

Es wäre dementsprechend ein unsinniges geschichtswissenschaftliches Unterfangen, dem Sklavenhalter Lentulus Batiatus vorwerfen zu wollen, ein besonders unmoralischer Mensch gewesen zu sein, da er seine Sklaven so schlecht behandelte, dass sie den Spartacus-Aufstand auslösten.89 Und trotzdem können wir diesen Zustand ex post als Unrecht und Verstoß gegen die »ewigen Menschenrechte« kennzeichnen und müssen nicht in inkonsistent-relativistischer Manier davon ausgehen, dass unsere widersprechenden Überzeugungen irgendwie inkommensurabel oder gleich gut wären (vgl. Kap. 2.2.2). Denn die antiken und neuzeitlichen Sklavenhaltergesellschaften haben sich aufgrund eines inadäquaten Selbst- und Freiheitsverständnisses als konflikt- und krisenanfällig erwiesen. So sagt Hegel nicht nur, dass es blutige Kriege gab, in denen die Sklaven um die Anerkennung ihrer ewigen Menschenrechte kämpften, sondern auch, dass die Freiheit der antiken Sklavenhaltergesellschaften vergänglich war, eben weil sie nur wussten, dass einige frei sind und weil Freiheit noch die »Bestimmung der Natürlichkeit« hatte (vgl. TW 10, § 433 Z; TW 12, 31). Vor diesem konflikttheoretischen Hintergrund deutet er nun auch die soziale und moralische Entwicklung als »Bildung« und »Arbeit«. Wie bereits ausführlich dar­ gelegt wurde, beschreiben diese Begriffe zunächst Perspektiven auf das individuelle Tun, insofern sich die Habitus in ihrer Verwirklichung selbst bzw. ihren Leib oder ihre Fähigkeiten und Gewohnheiten ausbilden. Aber auch im Kontext der historischkollektiven Bildungsprozesse der Lebensformen, die nichts weiter sind als die Verwirklichung der sich-bildenden Habitus, meinen sie das »Hervorbringen eines Werkes«. So spricht Hegel an verschiedenen Stellen etwa von der »mehrtausend­ jährige[n] Arbeit der Vernunft und ihres Verstandes« (TW 7, 19), von der »Arbeit der Weltgeschichte« (VPW, 182) oder von der »Bildung eines Volkes« (TW 12, 101). »Der Geist handelt wesentlich, er macht sich zu dem, was er an sich ist, zu seiner Tat, zu seinem Werk; so wird er sich Gegenstand, so hat er sich als ein Dasein vor

89 | In diesem Sinne sagt Hegel etwa, dass gegen »welthistorische Taten und deren Vollbringer« keine moralischen Ansprüche erhoben werden können (vgl. TW 12, 91), denn die Frage nach moralischem Fortschritt, ist eben nicht die Frage nach individuellen Überzeugungen (vgl. ebd., 90).

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Das Problem moralischen Wissens sich. So der Geist eines Volkes: er ist ein bestimmter Geist, der sich zu einer vorhandenen Welt erbaut, die jetzt steht und besteht, in seiner Religion, in seinem Kultus, in seinen Gebräuchen, seiner Verfassung und seinen politischen Gesetzen, im ganzen Umfang seiner Einrichtungen, in seinen Begebenheiten und Taten. Das ist sein Werk – das ist dies Volk. Was ihre Taten sind, das sind die Völker. Ein jeder Engländer wird sagen: Wir sind die, welche den Ozean Beschiffen [sic!] und den Welthandel besitzen, denen Ostindien gehört und seine Reichtümer, welche Parlament und Geschwornengerichte haben usf. – Das Verhältnis des Individuums dazu ist, daß es sich dieses substantielle Sein aneigne, daß dieses seine Sinnesart und Geschicklichkeit werde, auf daß es etwas sei. Denn es findet das Sein des Volkes als eine bereits fertige, feste Welt vor sich, der es sich einzuverleiben hat. In diesem seinem Werke, seiner Welt genießt sich nun der Geist des Volkes und ist befriedigt.« (TW 12, 99)

Alle kulturellen, religiösen oder politischen Institutionen des Menschen, mithin alle Lebensformen, sind dessen »Werk«, insofern sich der Mensch »nach dem Wissen von sich« produziert bzw. realisiert (vgl. VPW, 55 f.). In diesem Sinne heißt es auch in der Rechtsphilosophie, dass die »Welt des Geistes« aus ihm selbst hervorgebracht ist (vgl. TW 7, § 4). Und in ganz ähnlicher Weise wird die Einzelheit (bzw. der Gegenstand der unmittelbaren Deixis) innerhalb der Wissenschaft der Logik als das aus der Vermittlung hergestellte Unmittelbare bezeichnet (vgl. TW 6, 300; Kap. 3.4.), während in der Phänomenologie des Geistes von der »zustande gebrachten [Hervorhebung durch mich; FHvW] Gemeinsamkeit der Bewußtsein[e]« (TW 3, 65) die Rede ist. Indem Hegel die je unterschiedlichen Vollzüge des Sprechens, Wahrnehmens und Handelns als »Produzieren«, »Realisieren«, »Herstellen«, »Hervorbringen« oder »Zustandebringen« kennzeichnet, erinnert er (wie schon vor ihm Kant)90 an die etymologische Bedeutung des Begriffs Tatsache als »Sache der Tat« oder »Tat-Sache« (lat.: »res facti«; vgl. Sandkühler 2009, 37). Denn die Habitus bilden oder erarbeiten sich ihr Selbst- und Freiheitsverständnis und damit auch diejenigen empirischen und moralischen Tat-Sachen, die die verschiedenen Lebensformen erst als solche rekonstruierbar machen. Zunächst jedoch nehmen sie diese Tat-Sachen als eine »fertige, feste Welt« und damit als Tatsachen wahr, die sie sich einverleiben (s.o.).91 Die Geschichte des jeweils einzelnen Habitus ist dabei in die Geschichte derjenigen Lebensformen eingebettet, in denen er sich gebildet hat. Die Habitus verwirklichen und tradieren aber nicht nur ihre Lebensformen, sie bilden sie auch aus- und um, indem sie sich bilden und sich so

90 | Vgl. KdU, 435. 91 | In eben diesem Sinne, so Hegel, sagt auch Antigone: »[D]ie göttlichen Gebote sind nicht von gestern, noch von heute, nein, sie leben ohne Ende, und niemand wüßte zu sagen, von wannen [sic!] sie kamen.« (TW 12, 56; vgl. Kap. 4.2.1)

4. Mit Begriffen leben und in Lebensformen lernen

von ihnen befreien (vgl. TW 10, § 382 Z). Denn in der Reflexion der Relationalität und Widersprüchlichkeit von Lebensformen begreift der Habitus, dass seine Bestimmungen die Bestimmungen der Sache und dass die objektiv gültigen bzw. die seienden Bestimmungen seine Bestimmungen sind (vgl. ebd., § 468). So sagt Hegel auch an anderer Stelle, dass sich das Bewusstsein »in sich« aus seinem vergänglichen Werk reflektiert und »in der Tat« seinen Begriff erfährt (vgl. TW 3, 303 f.). Deshalb ist das Bilden bzw. Umbilden von Lebensformen durch diese Reflexion der tradierten aber problematisch gewordenen Weisen des Sprechens, Wahrnehmens und Handelns gleichermaßen als Erarbeiten von Tat-Sachen und sich-freimachen von Tatsachen zu verstehen: »Die ganze Entwicklung des Begriffs des Geistes stellt nur das Sichfreimachen des Geistes von allen seinem Begriffe nicht entsprechenden Formen seines Daseins dar; eine Befreiung, welche dadurch zustande kommt, daß diese Formen zu einer dem Begriffe des Geistes vollkommen angemessenen Wirklichkeit umgebildet werden.« (TW 10, § 382 Z)

Die Pointe der hegelschen Argumentation besteht, wie auch Christoph Halbig konstatiert, darin, dass sich das menschliche Selbstverständnis und dessen Selbstverwirklichung wechselseitig bestimmen, sodass das Scheitern sozialer Praktiken auf die Freiheitskonzeption ebenso zurückwirkt, »wie diese deren Konzeption mitbestimmt hat« (ders. 2001, 113). Es handelt sich dabei also um das bereits angesprochene Modalgefälle vom Begriff und seiner Instantiierung (im Sprechen, Wahrnehmen und Handeln) bzw. um das Modalgefälle von Lebensform und Habitus: Der Geist macht sich zu dem, was er an sich – der Möglichkeit nach – ist (vgl. TW 12, 75). Was sich historisch ändert, ist die durch Konflikterfahrungen vermittelte Art und Weise, wie er sich begreift und damit die Art und Weise, wie er seine Freiheit verwirklicht. Durch die historische Entwicklung und die damit zusammenhängende Reflexion der gemachten Krisen- und Konflikterfahrungen wird der Begriff (vgl. Kap. 3.4.1) bzw. werden die verschiedenen Begriffe »berichtigt« (vgl. VPW, 153). Genau diesen kriseninduzierten Prozess bezeichnen wir heute als Wertewandel. Fraglich ist jetzt allerdings noch, warum Hegel den empirisch feststellbaren Wertewandel als »Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit« deutet, der zudem noch »notwendig« sein soll. Diese zunächst etwas steil anmutende These gilt es nun näher zu beleuchten. Hegel schreibt: »So viel wird zugestanden, daß eine Geschichte einen Gegenstand haben müsse, z. B. Rom, dessen Schicksale, oder den Verfall der Größe des römischen Reichs. Es gehört wenig Überlegung dazu, einzusehen, daß dies der vorausgesetzte Zweck ist, welcher den Begebenheiten selbst sowie der Beurteilung zum Grunde liegt, welche derselben eine Wichtigkeit [geben] [sic!], d.h. nähere oder entferntere Beziehung auf ihn haben. Eine Geschichte ohne solchen Zweck und ohne

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Das Problem moralischen Wissens solche Beurteilung wäre nur ein schwachsinniges Ergehen des Vorstellens, nicht einmal ein Kindermärchen, denn selbst die Kinder fordern in den Erzählungen ein Interesse, d. i. einen wenigstens zu ahnen gegebenen Zweck und die Beziehung der Begebenheiten und Handlungen auf denselben.« (TW 10, § 549)

Es gehört eben zum Begriff der Geschichte – so sie nicht nur »res gestae«, sondern »historia rerum gestarum« ist – einen Zweck zu haben. Die historische Entwicklung läuft dabei aber nicht einfach auf die Freiheit hinaus. Wie schon vorher gesagt, ist sie vielmehr das »leitende Prinzip«, ohne das Geschichte nicht geschrieben werden könnte: »Diesen Zweck [der historischen Entwicklung; FHvW] haben wir von Anfang an festgestellt; es ist der Geist, und zwar nach seinem Wesen, dem Begriff der Freiheit. Dies ist der Grundgegenstand und darum auch das leitende Prinzip der Entwicklung, das, wodurch diese ihren Sinn und ihre Bedeutung erhält (so wie in der römischen Geschichte Rom der Gegenstand und damit das die Betrachtung des Geschehenen Leitende ist), wie umgekehrt das Geschehene nur aus diesem Gegenstande hervorgegangen ist und nur in der Beziehung auf denselben einen Sinn und an ihm seinen Gehalt hat.« (TW 12, 76 f.)

Wenn Hegel darüber hinaus in den Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte noch sagt, dass »jede Veränderung« im Geist Fortschritt ist (vgl. VPW, 153), bedeutet das jedoch nicht, dass die Geschichte nicht partiell auch als Verfallsgeschichte geschrieben werden könnte. Er selbst betont, dass man, »bloß mit richtiger Zusammenstellung des Unglücks«, die Geschichte als eine Schlachtbank betrachten kann, »auf welcher das Glück der Völker, die Weisheit der Staaten und die Tugend der Individuen zum Opfer gebracht worden [sind]« (TW 12, 35). Allerdings, so Hegel weiter, werden diese historischen Gegebenheiten dann kontingenterweise so zusammengestellt, dass sie als Mittel für die behauptete Verfallsgeschichte dienen (ebd.).92 Hat man jedoch begriffen, dass Lebensformen Instantiierungen der Freiheit (bzw. des freien Tuns) sind, weil man sie so oder auch anders gestalten könnte (vgl. Jaeggi 2014, 424), ist die Weltgeschichte wesentlich Freiheitsgeschichte. Dass sie dabei notwendig auch im-

92 | So ist etwa die These Oswald Spenglers vom Untergang des Abendlandes vor dem Hintergrund der Erfahrungen des Ersten Weltkriegs zu lesen (vgl. ders. 1981/1923). Die kollektiv gefühlte Überzeugung, dass der technische Fortschritt immer mit einem zivilisatorischen Fortschritt einhergeht, wurde dabei erschüttert und macht die These eines zyklischen Geschichtsverlaufs prima facie plausibel: »Alle großen Kulturen der Geschichte sind untergegangen, warum sollte es der unsrigen anders ergehen?« (Schloßberger 2013, 185 f.)

4. Mit Begriffen leben und in Lebensformen lernen

mer Fortschrittsgeschichte ist, liegt daran, dass sie als Entwicklungsgeschichte anerkannter Formen, Strukturen oder Kriterien des gemeinsam als vernünftig oder als richtig bewerteten Handelns notwendigerweise perspektivisch auf diejenigen bezogen ist, die diese Geschichte schreiben (vgl. Stekeler-Weithofer 2001, 158). M.a.W.: Wir rekonstruieren die Geschichte vor dem Hintergrund unserer Lebensformen.93 Und auch wenn wir, oder einzelne Historiker*innen, eine Verfallsgeschichte schreiben, wird dabei implizit ein fortgeschrittener Standpunkt behauptet, von dem aus eine Entwicklung als Verfall erst rekonstruierbar ist. Fortschritt in sozialer oder ethischer Hinsicht meint dabei, dass eine neue Position besser in der Lage ist, Krisen oder Konflikte zu meistern, weil sie ein verbessertes Selbstverständnis und damit gleichzeitig ein verbessertes Verständnis der Welt impliziert (vgl. Jaeggi 2014, 426). Hegel legt sich mit der Formel vom »Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit« m.E. aber nicht auf ein Ende der Geschichte im Sinne eines vollkommenen Zustands des menschlichen Selbstverständnisses und der menschlichen Selbstverwirklichung fest. Denn Freiheit ist im Sinne Hegels eben kein Zustand, sondern ein Sich-Verwirklichen, die Art und Weise einer Tätigkeit oder das leitende Prinzip der historischen Entwicklung. Es handelt sich also bei dieser Art von Geschichtsphilosophie um eine retrospektive Teleologie, wie Rahel Jaeggi in Anschluss an Terry Pinkard sagt (vgl. dies. 2014, 436 ff.), oder um eine rekonstruktionstheoretische Geschichtsphilosophie: Das

93 | In diesem Sinne sagt Hegel: »Auch der gewöhnliche und mittelmäßige Geschichtsschreiber, der etwa meint und vorgibt, er verhalte sich nur aufnehmend, nur dem Gegebenen sich hingebend, ist nicht passiv mit seinem Denken und bringt seine Kategorien mit und sieht durch sie das Vorhandene« (TW 12, 23). Dass auch historische Tat-Sachen begrifflich-rekonstruktiv ermittelt werden müssen, stellt die Geschichtswissenschaft dabei zunächst vor ein wissenschaftstheoretisches Problem. Anhand eines Beispiels, das Egon Flaig bei Chris Lorenz aufgreift, lässt sich das gut zeigen: Zwei Beobachter*innen, die am 21. Januar 1793 beim Sterben Ludwigs XVI. zusahen, haben – obwohl sie dasselbe gesehen haben – das Ereignis in ganz verschiedener Weise wahrgenommen. So schreibt die eine: »Bürger Capet wurde heute hingerichtet!« Währenddessen notiert die andere: »Heute wurde König Ludwig vom Pöbel ermordet!« Das Problem der Tatsachenfeststellung ist dabei nicht einfach ein Problem der Sprache. Deutsche Jakobiner*innen hätten sich in ihrer Sprache schließlich ähnlich ausgedrückt wie französische (vgl. Flaig 2007, 75 f.). Das Problem liegt vielmehr in der Art und Weise, wie die Begriffe Bürger, König, Hinrichtung und Mord verwendet werden und damit in der Perspektivität und Wertgebundenheit der Quellen, die noch um die Perspektivität und Wertgebundenheit der interpretierenden Historiker*in ergänzt wird (wobei es auch relativ unproblematische Tatsachenfeststellungen gibt, wie etwa die, dass

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Urteil, ob eine bestimmte Lebensform besser ist als die vorangegangene oder nicht, kann immer nur nachträglich gefällt werden. Claus Baumann bringt dieses rekonstruktionstheoretische Geschichtsverständnis auf den Punkt: »Die je aktuelle Gegenwart ist sowohl der Ausgangspunkt der Rekonstruktion, wie sie zugleich auch das Ziel der geschichtlichen Reflexion darstellt. Insofern bilden frühere geschichtliche Zustände im Resultat ihrer Darstellung sowohl Produkte der Rekonstruktion als auch Mittel der Reflexion.« (Baumann 2009, 159)

Wenn es also im Sinne Hegels ein »Ende der Geschichte« geben sollte, wäre das trivialerweise genau jetzt: »Dies ist das Ziel der Weltgeschichte, dass der Geist sich zu seiner Natur, einer Welt ausbilde, die ihm angemessen ist, sodass das Subjekt seinen Begriff von Geist in dieser zweiten Natur, in dieser durch den Begriff des Geistes erzeugten Wirklichkeit findet und in dieser Objektivität das Bewußtsein seiner subjektiven Freiheit und Vernünftigkeit hat. Das ist der Fortschritt der Idee überhaupt, und dieser Standpunkt muss für uns in der Geschichte das Letzte sein.« (VPW, 256 f.) 94

Ludwig XVI am 21. Januar 1793 starb). Die Geschichtswissenschaft impliziert aber auch ein eher lebenspraktisches Problem über eben jenes Selbstverständnis, das auch Hegel in seiner Geschichtsphilosophie thematisiert: Wer etwa die Geschichte des Nationalsozialismus mit mystifizierenden Begriffen wie »deutsche Tragödie«, »deutsche Katastrophe« oder »deutsches Schicksal« beschreibt, oder (wie Golo Mann) den undeutschen Charakter des Österreichers Hitler und seiner »Räuberbande« betont, wird in vielerlei Hinsicht andere politische Überzeugungen vertreten wie jene, die die Rolle von Großgrundbesitzern, Industriellen und Funktionseliten des alten Kaiserreichs bei der Schuldfrage herausstellen (vgl. Lorenz 1997, 414 f.; zum Problem von Wertgebundenheit und Objektivitätsanspruch der Geschichtswissenschaft vgl. ebd., 367 ff.). 94 | Christoph Halbig liest diese Textstelle dagegen so, dass der »Abschluss der Entwicklung des Geistes« bei Hegel dann erreicht ist, wenn er »sein angemessenes Selbstverständnis in einer kultürlich umgeformten Welt unmittelbar wieder findet« (ders. 2001, 113). Wichtig ist allerdings zu bemerken, dass derjenige Standpunkt, der nach Hegel in der Geschichte der Letzte sein soll, hier eben nicht notwendig als der einer »angemessen ausgebildeten Welt des Geistes« zu interpretieren ist. Der letzte Standpunkt ist m.E. in diesem Zitat auf den »Fortschritt der Idee« bezogen, also auf die Annahme, dass das Ziel der Weltgeschichte die Ausbildung des Geistes zu einer Welt ist, die ihm angemessen ist. Begriffen zu haben, dass die Geschichte eine

4. Mit Begriffen leben und in Lebensformen lernen

Hegels komplexe und vielschichtige Geschichtsphilosophie kann an dieser Stelle mit Blick auf das nun sehr nahe Argumentationsziel nicht weiter diskutiert werden. Es sollte jedoch hinreichend klar sein, warum die Rekonstruktion der zentralen Argumente von so großer Wichtigkeit ist: Erstens macht sie nochmal deutlich, woran philosophische Argumente, die einfach nur auf den Vergleich von verschiedenen Wissenskulturen zielen, oft kranken. Denn dieser Vergleich von »uns« mit den realen Beispielen aus der Geschichte (etwa »den« Azteken) oder den lustigen und fiktiven Beispielen Putnams (»den« Jüngern des Gurus von Sidney) unterstellt eine Homogenität von Lebensformen, die den Blick auf das Problem von vornherein verstellt. Er kann jedoch weder den Relativismus begründen noch etwas über die Rationalität von Rationalitätstandards aussagen (vgl. Kap. 2.2). Trotzdem sind wir berechtigt, viele unserer modernen Lebensformen für besser zu halten, als etwa die antiken Sklavenhaltergesellschaften – und das obwohl wir keine Kriterien haben, die wir gewissermaßen von außen, mit Hilfe eines »Blicks von Nirgendwo« (Thomas Nagel), anlegen könnten. So wusste Hegel bereits, genau wie wir heute, dass der Mensch gilt, weil er Mensch ist und nicht »weil er Jude, Katholik, Protestant, Deutscher, Italiener usf. ist« (TW 7, § 209). Aber Hegel wusste auch, dass die Neger-Sklaven, die sich auf Haiti ihre Freiheit erkämpften, wie die Kinder sind (vgl. TW 10, § 393 Z) und dass Frauen nicht nur für Wissenschaft und Philosophie nicht gemacht sind, sondern dass auch der Staat in Gefahr ist, wenn sie an der Spitze der Regierung stehen (vgl. ebd., § 166 Z). Und heute wissen wir, dass das rassistischer und sexistischer Unsinn ist. Aber all das wusste er und wissen wir nicht, weil es philosophische Meisterargumente, Algorithmen zur Wahl richtiger Überzeugungen oder eine moralische Realität gäbe, die unabhängig von den jeweiligen Lebensformen als

Rekonstruktion von Lebensformen als Resultate von sich-frei-verwirklichenden Individuen ist, ist demnach der letzte (unhintergehbare) Standpunkt der Geschichte. Stephen Houlgate formuliert das so: »The absolute truth of humanity is that we are historical, and the history of humanity is the process whereby we recognise our absolute, historical character. History and truth are thus completely inseparable for Hegel, and it is not possible to drop or reject either term.« (Ders. 1991, 26) Es finden sich allerdings auch Textstellen im Werk Hegels, die Halbigs Interpretation nahe legen: »Die ganze Entwicklung des Begriffs des Geistes stellt nur das Sichfreimachen des Geistes von allen seinem Begriffe nicht entsprechenden Formen seines Daseins dar; eine Befreiung, welche dadurch zustande kommt, daß diese Formen zu einer dem Begriffe des Geistes vollkommen angemessenen Wirklichkeit umgebildet werden.« (TW 10, § 382 Z) Die schwierige Rede vom »Ende der Geschichte« kann deshalb hier nicht abschließend geklärt werden. Zur Diskussion vgl. Halbig 2001, 119 ff. und Ostritsch 2014, 337 ff.

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Das Problem moralischen Wissens

Gegenstand der Erkenntnis angesprochen werden könnte. Vielmehr wissen wir das aufgrund der begrifflichen Widersprüche, die zu Konflikten, und deren Bewältigung letztlich zur Abschaffung der Sklaverei in vielen Teilen der Welt und zur Zurückdrängung sexistische Praktiken geführt haben. Eben dieser rekonstruktionstheoretische Ansatz unterscheidet Hegels Position vom Projekt einer normativen Ethik, wie Stekeler-Weithofer ausführt: »Autonom begreifen können wir die Sittlichkeit [resp. die Lebensformen; FHvW] oder das Überlieferungsgeschehen nicht durch abstrakte Kritik im Blick auf ein utopisches Ideal einer besseren Welt, sondern nur durch die Differenzierung zwischen anerkennungswürdigen und kritikwürdigen Formen. Diese müssen dazu explizit gemacht sein. Als vernünftig gelten kann immer nur eine Art des konstruktiven Mißtrauensvotums gegen die Tradition. Eine bloß negative, zynische, weil tatenlose, Kritik an bestehenden Verhältnissen oder Überzeugungen reicht ebenso wenig aus, wie eine willkürliche Revolution der Verhältnisse. Es sind anerkennungswürdige und am Ende faktisch anerkannte Neuvorschläge für eine ›bessere‹ Formung [resp. ›Bildung‹; FHvW] des gemeinsamen Handelns zu machen.« (Stekeler-Weithofer 2001, 144)

In eben diesem Sinne weiß auch Hilary Putnam, dass es rationale Nazis nicht geben kann – und das obwohl er nicht die richtigen Gründe dafür hat. Denn die »Fakten«, die etwa Nazis behaupten, haben sich nicht aufgrund von idealen Bedingungen des Rechtfertigens, sondern aufgrund von historisch-kollektiven Lernprozessen als falsch herausgestellt – und zwar ganz unabhängig davon, ob sie das im Rahmen ihrer je individuellen Lernprozesse sehen können oder nicht. Schließlich hat sich die Art und Weise, wie sie ihre Lebensformen verwirklichen und wie sie ihre Begriffe benutzen, als widersprüchlich und konfliktanfällig erwiesen. Und weil es notwendig war, ein besseres Verständnis der Welt zu erarbeiten, eines, dass dem Begriff des Menschen (besser) entspricht, können wir auch heute – aus einer rekonstruktionstheoretischen Perspektive – mit Recht sagen, dass sie es sind, die Begriffe wie besonnen, mitfühlend oder gerecht falsch verwenden und dass ein Begriff wie Herrenrasse so dermaßen unsinnig ist, dass er nicht einmal auf irgendetwas in der Welt referiert (vgl. Kap. 2.3.4). Und genau dieser Zusammenhang bringt uns jetzt zweitens zur abschließenden Konzeptualisierung eines adäquaten Wissensbegriffs und damit ans Ziel dieser Arbeit. Denn wir hatten in Anschluss an die Überlegungen McDowells gesehen, dass Wissen nicht heteronom denkbar ist. Mit Hegel sind wir anschließend über McDowell hinaus gegangen um zu zeigen, dass nur ein selbstbewusster Akt eines urteilenden, wahrnehmenden und handelnden Subjekts, ein selbständiger Akt und damit ein Akt des Wissens ist. Nach der hier geleisteten Interpretationsarbeit zur Geschichtsphilosophie können wir diesen Zusammenhang jetzt verstehen. Hegel schreibt:

4. Mit Begriffen leben und in Lebensformen lernen »Der Sklave weiß nicht sein Wesen, seine Unendlichkeit, die Freiheit, er weiß sich nicht als Wesen, – und er weiß sich so nicht, das ist, er denkt sich nicht. Dies Selbstbewußtsein, das durch das Denken sich als Wesen erfaßt und damit eben sich von dem Zufälligen und Unwahren abtut, macht das Prinzip des Rechts, der Moralität und aller Sittlichkeit aus.« (TW 7, § 21)

Wenn er an dieser Stelle sagt, dass der Sklave sich nicht denkt, ist das nicht so zu verstehen, dass er sich über ihr Elend keine Gedanken machen würden, was offenkundig unsinnig wäre. Denn Selbstbewusstsein meint hier eben nicht die Beziehung von einer performativen Sprecher*in auf sich selbst als grammatisches Objekt (vgl. Kap. 4.1.5). Vielmehr ist damit gemeint, dass der Sklave nicht im Bewusstsein derjenigen begrifflichen Differenzierungen spricht (bzw. urteilt), wahrnimmt und handelt, die aufgrund der Reflexion von Konflikterfahrungen gebildet wurden. Er hat nicht begriffen, dass die Begriffe Mensch und Sklave im Widerspruch zueinander stehen. Dass er das nicht begriffen hat, ist aber nicht nur ein Problem einer individuellen Bildung von Selbstbewusstsein. Denn es gehört zum Wesen der Sklaverei, gerade diese zu verwehren (vgl. Flaig 2011, 16 ff.). Sich selbst für frei zu halten, ist jedoch keineswegs irgendein beliebiger philosophischer Standpunkt. Hegel betont im Zitat oben ganz explizit, dass wir uns nur so als Wesen verstehen können, die in rechtlichen, moralischen und sittlichen Kontexten zusammen leben und sich Rechtsansprüche, moralische Überzeugungen oder sittliches Handeln zu- und absprechen. Ein Akt des Wissens ist eben ein selbständiger oder ein freier Akt und ein solcher Akt erfordert, dass sich das Subjekt dieser Freiheit bewusst ist.95 Über seine Freiheit zu wissen, bedeutet aber zu wissen, worin sie besteht: Erst wer die ökonomischen, ökologischen und sozialen Voraussetzungen für das gemeinsame Handeln innerhalb von Lebensformen begriffen hat, kann die eigenen Handlungsziele unabhängig von vorgeschobenen Sachzwängen oder epistemischen Zwängen realisieren, fortschreiben und ausarbeiten (vgl. Hubig 2012, 30).96 Freiheit wird von Hegel deshalb folgerichtig als eine Nötigung durch objektive Gründe bzw. angemessene Begriffe aufgefasst:97

95 | Vgl. dazu auch die Ausführungen bei Sebastian Rödl (ders. 2011a, 149 ff.). 96 | So hat etwa ein Hund, der auf Befehl seines Herrchens Zucker auf der Schnauze balanciert, keinen Begriff davon, was es heißt, anders zu reagieren. Und genau deshalb gibt es für ihn keine Alternative, als auf einen bestimmten Reiz zu reagieren. Ein anständiger Mensch kann sich dagegen des Geldstehlens enthalten, auch wenn es ein Leichtes wäre und er das Geld dringend benötigt. Denn er begreift sein Handeln (vgl. Winch 1973/1958, 65). 97 | Der Freiheitsbegriff kann an dieser Stelle nicht weiter diskutiert werden. Es sollte aber klar sein, dass sich die bisherigen Ausführungen zum

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Das Problem moralischen Wissens »Der gewöhnliche Mensch glaubt frei zu sein, wenn ihm willkürlich zu handeln erlaubt ist, aber gerade in der Willkür liegt, daß er nicht frei ist. Wenn ich das Vernünftige will, so handle ich nicht als partikulares Individuum, sondern nach den Begriffen der Sittlichkeit überhaupt: in einer sittlichen Handlung mache ich nicht mich selbst, sondern die Sache geltend.« (TW 7, § 15 Z)

Der »absolute Wert der [individuellen; FHvW] Bildung«, so Hegel, liegt deshalb im »Hervortreiben der Allgemeinheit [hier: Objektivität; FHvW] des Denkens« (TW 7, § 20). Ein Akt des Wissen ist damit ein urteilender, wahrnehmender oder handelnder Akt im Bewusstsein der adäquaten oder angemessenen Begriffe, mit denen man spricht, durch die man wahrnimmt und aufgrund derer man handelt. Da aber Begriffe reale Möglichkeiten des Bestimmens sind, ist ein Akt des Wissens ein Akt im Bewusstsein der realen Möglichkeiten des Sprechens, Wahrnehmens und Handelns, die sich aus der historisch-kollektiven (und damit auch je individuellen) Reflexion der Relationalität und Widersprüchlichkeit von Lebensformen und d.h. in der Reflexion von Konflikterfahrungen, gebildet haben: Erst jemand, der weiß, dass es zwar formell, nicht aber real möglich ist, den Begriff des Sklaven auf einen Menschen zu projizieren, weiß auch, dass es unsinnig ist, die Welt als eine wahrzunehmen, in der manche Menschen von Natur aus unfrei sind. Und jemand, der das weiß, handelt anders als jemand, der das nicht weiß. Dieses Wissen kann jedoch immer nur rekonstruktiv zugeschrieben werden, denn nur jemand, der in hinreichend vielen Fällen richtig urteilt, wahrnimmt oder handelt, beherrscht auch das adäquate Sprechen, Wahrnehmen und Handeln. Eine philosophische Antwort auf die Frage, nach wie vielen (und nach welchen) Akten man sagen kann, dass jemand eine Fähigkeit beherrscht, kann es jedoch nicht geben (vgl. Kern 2006, 246). Dies haben die jeweiligen Habitus im Prozess des Verwirklichens ihrer Lebensformen jedes Mal aufs Neue auszuhandeln. Vor dem Hintergrund dieser begriffs- und bildungstheoretischen Ausführungen und dieses Wissensbegriffs lässt sich nun zusammenfassend eine theoretische Alternative zu den in der Forschung etablierten Theorietypen formulieren, die ich den Ethischen Relationalismus nennen möchte.

Determinismusproblem neutral verhalten. Zu Hegels Freiheitsbegriff vgl. Knappik 2013, 374 ff., 405 ff.

5. F  azit: Der Ethische Relationalismus als Forschungsperspektive For any worthwhile study of society must be philosophical in character and any worthwhile philosophy must be concerned with the nature of human society. P eter Winch

In ihrem Aufsatz The Importance of Being Human kritisiert Cora Diamond die weit verbreitete philosophische Ansicht, dass die moralische Anteilnahme an einem Lebewesen auf Eigenschaften wie Selbstbewusstsein, Empfindungsvermögen oder Rationalität beruht – der Begriff des Menschen dagegen irrelevant ist. Sie verdeutlicht dies anhand einer Passage aus Peter Singers berühmten Buch Animal Liberation: »We have seen that the experimenter reveals a bias in favor of his own species whenever he carries out an experiment on a nonhuman for a purpose that he would not think justified him in using a human being, even [Hervorhebung durch mich; FHvW] a retarded human being.« (Singer 1975, 82)

Mit der Verwendung des Ausdrucks »nicht einmal«, so Diamond, bringt Singer seine Auffassung zum Ausdruck, dass der moralische Status eines Lebewesen entweder durch Eigenschaften wie das Empfindungsvermögen (über das auch nichtmenschliche Wesen verfügen) oder durch Eigenschaften wie Rationalität und Selbstbewusstsein (die nichtmenschlichen Wesen ebenso fehlen, wie vielen menschlichen Wesen) gerechtfertigt werden kann. Daher gilt laut Singer: Wenn die Bereitschaft, Versuche an nichtmenschlichen Wesen durchzuführen, mit der Weigerung verknüpft wird, solche Versuche an Menschen – ja nicht einmal an zurückgebliebenen Menschen – vorzunehmen, so zeigt sich darin ein Vorurteil zugunsten der eigenen Spezies (vgl. Diamond 1991, 52). Was Diamond an dieser Argumentation stört, ist, dass sie nach dem type-token-Modell funktionaler Erklärungen aufgebaut ist: Demnach wird jede Sub-

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Das Problem moralischen Wissens

stanz, so auch der Mensch, als Träger von Eigenschaften begriffen, die diese Substanz in moralischer Hinsicht erst qualifizieren. In diesem Sinne ist für Peter Singer die Klasse des Menschen größer als die Teilklasse der Personen, die über weitere Eigenschaften oder Fähigkeiten, wie Sprache oder Selbstbewusstsein, verfügen. Gleichzeitig werden diese Eigenschaften nach moralischer Relevanz gewichtet, sodass es sich bei einigen Menschen (etwa geistig behinderten) um mangelhafte Typenexemplare (»tokens«) des biologischen Typus (»type« oder »natural kind«) Mensch handelt (vgl. Weingarten 2003, 15 f.). Diamond kontrastiert diese Auffassung nun mit einer Passage aus Fjodor Dostojewskis Roman Die Brüder Karamasow: Lisaweta die Stinkende war eine stadtbekannte Irrsinnige mit einem breiten, rotbackigen und »völlig schwachsinnigen« Gesicht. Sie ging im Sommer wie im Winter barfuß und war nur mit einem Leinenhemd bekleidet. Ihr Haar war kraus und voller Erde und Schmutz (vgl. Dostojewsiki 2010/1879 f., 148). Nach Meinung des Volkes war sie aber ein gottgeweihtes Menschenkind, das alle gern zu haben schienen (vgl. ebd., 149). Und so reagierte die Stadt mit »starker und aufrichtiger Empörung«, als das Gerücht herumging, dass sie von Fjodor Pawlowitsch Karamasow vergewaltigt und geschwängert worden sei (vgl. ebd., 151). Dostojewski, so Diamond, erwartet dabei von seinen Leser*innen, dass sie seine Auffassung in folgender Hinsicht teilen: Wer die Dorfidiotin vergewaltigt, zeigt, dass er besonders niederträchtig ist. Für jede Moralphilosoph*in hingegen, nach deren Auffassung Eigenschaften wie Selbstbewusstsein und Autonomie eine zentrale Rolle spielen, wenn es darum geht, das Böse einer Handlung zu verstehen, müsse diese Vergewaltigung jedoch weniger verbrecherisch sein als die einer »normalen« Person (vgl. Diamond 1991, 56). Diamond kritisiert Singers Argumentation damit zwar in unzulässig verkürzter Weise und trotzdem wirft sie zu Recht die Frage auf, warum Eigenschaften wie Selbstbewusstsein und Autonomie entgegen unserer Alltagsintuition einen besonderen moralischen Status rechtfertigen sollten, sodass sich geistig behinderte Menschen in keiner moralisch relevanten Hinsicht von Kühen unterscheiden würden (oder Komatöse von Felsbrocken) – es sei denn, es gibt Personen, denen Sie am Herzen liegen (vgl. ebd., 54). Und selbst Relativist*innen wie Richard Rorty, die diese orthodoxe Meinung eigentlich ablehnen, teilen bestimmte Aspekte dieser Auffassung, so Diamond: Denn Solidarität im Sinne Rortys setze voraus, dass wir uns mit ihnen identifizieren können. Trotz tiefgreifender philosophischer Differenzen zwischen Rorty und den Vertreter*innen der orthodoxen Lehre könne man deshalb beiden die folgende Kombination von Meinungen zuschreiben: i.) Der Umstand, dass bestimmte Menschen bestimmte Fähigkeiten nicht einmal oder nur in eingeschränktem Maße haben, erschwert es, sie als Objekte moralischer Anteilnahme zu behandeln; ii.) Wir verfügen über keinen Begriff des Menschen, der sowohl sie als auch uns umfasst und im moralischen Leben eine maßgebliche Rolle spielen kann (vgl. ebd., 54).

5. Fazit: Der Ethische Relationalismus als Forschungsperspektive

Ziel dieser Arbeit war es zu zeigen, dass keine dieser beiden Meinungen zu trifft. Zwar spielen Selbstbewusstsein und Autonomie eine ganz zentrale Rolle hinsichtlich der moralischen Anteilnahme, aber in ganz anderer Hinsicht, als die Vertreter*innen der orthodoxen Lehre glauben. Denn es gibt keine Eigenschaften oder Vermögen, die einen besonderen moralischen Status rechtfertigen könnten. Darüber hinaus gibt es weder Algorithmen zur Wahl richtiger Überzeugungen noch ideale Bedingungen unter denen bestimmte Überzeugungen gerechtfertigt werden können – ganz zu schweigen von einer moralischen Realität, die als Gegenstand der Erkenntnis angesprochen werden könnte. Theoretiker*innen die dies annehmen, bauen nur eine Welt, »wie sie sein soll«, die aber nur im Meinen existiert, »einem weichen Elemente, dem sich alles Beliebige einbilden läßt« (TW 7, 26). Aber auch Relativist*innen können mit ihrer Position nicht überzeugen, da sie sich inkonsistenterweise auf ihr »inwendiges Orakel« berufen und so die »Wurzel der Humanität mit Füßen [treten]« (TW 3, 54 f.). Dabei ist es die Natur dieser Humanität, so Hegel, »auf die Übereinkunft mit anderen zu dringen«, sodass sie nur in der »zustande gebrachten Gemeinsamkeit der Bewußtsein[e]« existiert (vgl. ebd., 64). Das gemeinsame erarbeitete Vokabular, mit dem wir sprechen, durch das wir wahrnehmen und aufgrund dessen wir handeln, ist somit erst der Grund für moralisches Wissen und moralische Objektivität. Eines der Probleme der gegenwärtigen metaethischen Theorien besteht darin, dass sie sowohl historisch-kollektive als auch individuelle Lernprozesse nicht oder nur unzureichend thematisieren. Hegel erklärt dagegen, dass und warum es sozialen Fortschritt und damit moralische Tatsachen bzw. Tat-Sachen gibt und was es bedeutet, von ihnen zu wissen. Und genau das macht viele Argumentationsstränge seiner Philosophie noch heute aktuell und anschlussfähig. Im ersten Teil dieser Arbeit wurde gezeigt, dass die gegenwärtige metaethische Forschung von zwei Theorietypen dominiert wird, die wiederum von zwei Dogmen beherrscht werden. Der Ethische Realismus behauptet, dass es moralische Tatsachen und Eigenschaften unabhängig vom Vokabular oder der Rechtfertigungspraxis einzelner Moralakteure gibt. Der Ethische Objektivismus behauptet dagegen, dass es durch die praktische Rationalität der Moralakteure objektiv gerechtfertigte Normen und Wertüberzeugungen gibt. Beide legen dabei explizit oder implizit einen propositionalen Wissensbegriff zugrunde und beide halten explizit oder implizit an der Dichotomie von Fakten und Werten fest. Der schwache Ethische Realismus John McDowells nimmt dabei insofern eine Sonderstellung ein, als er versucht die Probleme dieser Position zu unterlaufen, dabei jedoch weder den Wissensbegriff noch das Verhältnis von Fakten und Werten eindeutig konzeptualisiert. Seine Theorie tendiert aber zu denselben Problemen wie der starke Ethische Realismus und der Ethische Objektivismus: Denn indem diese beanspruchen, Normen und Werte zu eruieren bzw. zu konstituieren, setzen sie selbst immer Werte und Wertüberzeugungen voraus und tendieren damit zur Zirkularität. Das gilt prinzipiell auch für Hilary Putnams

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Das Problem moralischen Wissens

Internen Realismus bzw. seinen Neopragmatismus. Die ausführliche Untersuchung seiner Position hat aber eine interessante Lösungsperspektive aufgezeigt. Dabei konnten zunächst drei anschlussfähige Argumente identifiziert werden: Das Argument aus der Begriffsrelativität besagt, dass Tatsachenfeststellungen davon abhängen, ob und wie ein bestimmtes Vokabular gebraucht wird. Damit zusammenhängend weist das Argument gegen die Dichotomie von Fakten und Werte die eindeutige Unterscheidung zwischen einem deskriptiven und einem evaluativen Vokabular bzw. zwischen deskriptiven und evaluativen Bedeutungskomponenten von Begriffen zurück. Auf diese Weise konnten der Metaphysische Realismus und der Positivismus disqualifiziert werden, die nonkognitivistische Positionen erst ermöglichen bzw. relativistische Positionen plausibel machen. Eine adäquate Theorie moralischen Wissens ist demnach i.) im kognitivistischen Theorienspektrum zu verorten und ihre Herausforderung besteht ii.) nicht darin zu zeigen, wie ein deskriptives Vokabular mit einem evaluativen Vokabular synthetisiert werden kann (wie es im Kontext des starken Ethischen Realismus und des Ethischen Objektivismus angenommen wird), sondern darin zu zeigen, wie das dichte (ethische) Vokabular richtig verwendet werden kann. Diese Verwendung darf aber nicht nur innerhalb einer Sprache oder Kultur Gültigkeit beanspruchen, wie das Argument gegen den ethischen Relativismus gezeigt hat: Denn sich widersprechende Überzeugungen können weder gleichermaßen wahr noch inkommensurabel sein. Da jedoch die zentralen Begriffe der Praxis und des Wertes innerhalb des Internen Realismus nicht angemessen konzeptualisiert wurden, konnte Putnam auch auf Grundlage dieser Argumente keinen adäquaten Wissensbegriff bereitstellen. Im zweiten Teil dieser Arbeit wurden zwei philosophische Theorien vorgestellt und miteinander kombiniert, um die Begriffe der Praxis und des Wertes für den weiteren Argumentationsverlauf anschlussfähig zu machen. Anhand von Wittgensteins Überlegungen zum Erlernen einer Sprache wurde dabei zunächst geltend gemacht, dass die gesuchten Kriterien des korrekten Begriffsgebrauch nicht »außerhalb« der Sprache liegen können. Denn das Regressargument zeigt, dass es keine eindeutige Relation zwischen Begriffen und Gegenständen geben kann, sodass sich die Abbildtheorien der Bedeutung als defizitär erweisen. Die Kriterien des angemessenen Begriffsgebrauchs können aber auch nicht einfach »innerhalb« der Sprache bzw. im aktuellen Sprachgebrauch bestehen, denn dann müssten wir inkommensurable Sprachen sprechen. Vielmehr, so betont etwa Stanley Cavell in Anschluss an Wittgenstein, hat der Unterschied zwischen dem richtigen und falschen Gebrauch von Begriffen bzw. der Unterschied zwischen Wissen und Nichtwissen etwas mit dem Verhältnis von Sprache und Praxis bzw. Sprache und Lebensform zu tun. Da dieses Verhältnis jedoch weder von Wittgenstein noch von seinen Interpret*innen wie Cavell hinreichend geklärt wird, wurde anschließend auf Hegels Begriffstheorie zurückgegriffen, die zeigt, wie die Praktiken des Sprechens, Wahrnehmens und Handelns miteinander zusammenhängen.

5. Fazit: Der Ethische Relationalismus als Forschungsperspektive

Die Analyse der einschlägigen Passagen der Wissenschaft der Logik hat dabei ergeben, dass Begriffe im Sinne Hegels reale Möglichkeiten des Bestimmens sind, die als disjunktive Regeln rekonstruiert werden müssen. Begriffe strukturieren demnach nicht nur das Wahrnehmen, sondern geben auch Handlungsgründe. Dabei macht Hegel entgegen der wittgensteinschen Auffassung geltend, dass der Sprachgebrauch nicht einfach imitierend oder durch Abrichtung erworben wird, sondern dass er von den Sprecher*innen auch kommentiert und revidiert wird. Denn da Sprachen nicht wertfrei sind, können sich die bestehenden begrifflichen Differenzierungen als problematisch oder falsch erweisen. Durch das Sprechen, Wahrnehmen und Handeln stehen wir deshalb nicht nur in einem Verhältnis zur Welt, sondern auch immer in einem Verhältnis zu unserem sprechenden, wahrnehmenden und handelnden Verhältnis zur Welt. Eben dies wird durch die Spiegelmetaphorik ausgedrückt, sofern sie im Sinne Josef Königs und nicht im Sinne Richard Rortys interpretiert wird: Indem wir zusammen handeln und uns über unsere Handlungspraxis verständigen, können wir die Welt (bzw. die auf uns wirkenden Gegenstände) in einer bestimmten Art und Weise wahrnehmen. Aber ebenso können wir erst in einer bestimmten Weise zusammen handeln, weil wir über eine etablierte Begrifflichkeit verfügen und so die Welt in einer bestimmten Weise wahrnehmen. Dabei wirken die jeweiligen Vollzüge auf die künftigen Möglichkeiten des Sprechens, Wahrnehmens und Handelns, sodass die zu rekonstruierenden Begriffe umgebildet werden. Vor dem Hintergrund dieser sprachphilosophischen Überlegungen konnte ein anschlussfähiger Begriff der Lebensform gewonnen werden, um den Begriff der Praxis genauer zu bestimmen. Demnach sind Lebensformen Ensembles von Praktiken bzw. reale Möglichkeiten des Sprechens, Wahrnehmens und Handelns, die erst über ihre Verwirklichungen als bestimmte Lebensformen (Kulturen, Subkulturen, soziale Milieus oder Klassen) rekonstruiert werden können. Im Anschluss an diese Überlegungen war es möglich, einen angemessenen Wertbegriff zu konzeptualisieren. Denn John McDowell hatte in Anschluss an Wittgensteins Regressargument gezeigt, dass es nicht möglich ist, Begriffe mittels eines Entkopplungsmanövers in deskriptive und evaluative Bedeutungskomponenten zu unterteilen, sodass nur die deskriptiven Bedeutungskomponenten den korrekten Begriffsgebrauch festlegen. Es handelt sich dabei um eine Variation des Arguments gegen die Dichotomie von Fakten und Werten aus dem ersten Teil der Arbeit. Wichtig war dabei jedoch der nonkognitivistische Einwand, dass es keine stabile Beziehung zwischen dichten ethischen Begriffen und positiven oder negativen Bewertungen gibt. Dieser Einwand, so wurde gezeigt, taugt zwar nicht dazu, das Entkopplungsmanöver zu rehabilitieren, er hat jedoch weitreichende Konsequenzen für die metaethische Debatte um dichte und dünne ethische Begriffe und für die Definition des Wertbegriffs. Dabei wurden drei Punkte herausgestellt: Erstens kann es keine sortierende Einteilung zwischen ethischen und nicht-ethischen Begriffen geben. Denn Begriffe lassen sich nur

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aus bestimmten Redekontexten und Lebensformen heraus als Handlungsregeln rekonstruieren und damit bestimmten Anwendungsbereichen zuordnen. Zweitens ist die Entgegensetzung von dichten Begriffen, die beschreiben und bewerten und dünnen Begriffen, die nur bewerten problematisch, da auch die dünnen Begriffe sowohl in deskriptiven als auch in evaluativen Redekontexten gebraucht werden. Die Unterscheidung zwischen dichten und dünnen Begriffen, so wurde in Anschluss an Peter Geach gezeigt, liegt weniger im Grad ihres deskriptiven Gehalts, als vielmehr in ihrer attributiven oder prädikativen Verwendungsweise. Drittens ist der Dualismus von Internalismus und Externalismus nicht haltbar, da es weder möglich ist Begriffe vollkommen unabhängig von Wünschen und Motiven, noch in Abhängigkeit von Wünschen und Motiven einzelner Personen zu projizieren. Vor diesem Hintergrund wurden Werte als implizite und relationale begriffliche Handlungsregeln bestimmt. Denn Begriffe können in verschiedenen Lebensformen, je nachdem wie sie gelernt und interpretiert werden, als Objektwerte (Güter) oder Wertobjekte (Eigenschaften von Gütern) fungieren. Es handelt sich bei Werten um implizite begriffliche Handlungsregeln, da diese Regeln nicht einfach vorliegen, sondern ex post, aufgrund der jeweiligen Vollzüge des Sprechens, Wahrnehmens und Handelns, als Handlungsregeln rekonstruiert werden können. Sie sind relational, da sie weder als reale Gegenstände einer wertfreien Erkenntnis angesprochen werden können, noch einfach relativ zu einer bestimmten Lebensform bestehen. Vielmehr haben sie – je nach Lebensform – einen internen oder externen Status und werden unterschiedlich interpretiert. Mit dem Begriff der Relationalität wird dabei sowohl auf das Verhältnis von Sprechen, Wahrnehmen und Handeln als auch auf das Verhältnis der verschiedenen Lebensformen zueinander angespielt, die sich erst durch das jeweilige Sprechen, Wahrnehmen und handeln voneinander abgrenzen lassen. Im dritten Teil dieser Arbeit konnte in Anschluss an diese Überlegungen und Hegels Theorie der Bildung ein adäquater Wissensbegriff konzeptualisiert werden. In dem Zusammenhang hatte sich der Begriff der Selbständigkeit als ebenso zentral erwiesen wie der Begriff des Lernens. Denn obwohl jegliches Wissen nur im Kontext von bestimmten Lebensformen, Kontexten und Situationen erlernt werden kann, ist es nicht heteronom denkbar. Das bloße Internalisieren von Wissensinhalten oder das blinde Befolgen von Normen und Vorgaben der eigenen Lebensformen können schließlich bestenfalls einen relativistischen Wissensbegriff begründen. Dabei wurde zunächst von John McDowells schwachen Ethischen Realismus ausgegangen, der an drei theoretisch zentralen Punkten scheitert: Er kann i.) das Verhältnis von erster und zweiter Natur nicht angemessen konzeptualisieren, ii.) das Verhältnis von Selbständigkeit und Unselbständigkeit bzw. von der aktiven und begrifflichen Spontaneität zur passiven und sinnlichen Rezeptivität nicht hinreichend erläutern und iii.) das zentrale Problem des Erlernens von Selbständigkeit bzw. Spontaneität nicht lösen. Diese Defizite, so wurde gezeigt, lassen sich jedoch im Kontext von Hegels Bildungstheorie beheben, wenn man

5. Fazit: Der Ethische Relationalismus als Forschungsperspektive

sie konsequent aristotelisch interpretiert und mitunter in einer modernen Terminologie reformuliert. Ausgangspunkt der weiteren Überlegungen war dabei zunächst das schwierige Selbstbewusstseinskapitel aus der Phänomenologie des Geistes, das das Verhältnis von Selbständigkeit und Unselbständigkeit behandelt. Denn in der gegenwärtigen Hegelforschung wird mitunter davon ausgegangen, dass Hegel dort Kants (vermeintliches) Paradox der Autonomie auflöst, indem er es in sozialen Termini reformuliert: Demnach wird Autonomie durch interpersonale Anerkennungsverhältnisse hergestellt. Auf diese Weise lässt sich das Problem jedoch nicht lösen, da diese Lesart in einen Begründungszirkel führt, sodass sich auch Hegel selbst gegen sie verwahrt. Entgegen dieser weit verbreiteten Interpretation wurde der unkonventionelle Vorschlag gemacht, das Selbstbewusstseinskapitel als Reformulierung der aristotelischen Seelenlehre und damit als Kritik an der neuzeitlichen Vermögenspsychologie zu lesen. Dabei wurde gezeigt, dass eine solche Herangehensweise durch die Quellenlage gestützt wird und es gleichzeitig erlaubt, die einschlägigen Passagen textnah zu rekonstruieren, ohne dass man sich ständig über eine vermeintlich komische Ausdrucksweise Hegels wundern müsste. Denn Hegel kritisiert die damals wie heute noch übliche Auffassung, den Menschen als einen Träger verschiedener selbständiger und unselbständiger Vermögen zu denken, die untereinander hierarchisiert und im Erkenntnis- bzw. Handlungsprozess aufeinander bezogen werden. Diese Vorstellung, die sich sowohl in der empiristischen als auch in der rationalistischen Theorietradition sowie in der Transzendentalphilosophie Kants findet, wurde innerhalb der abendländischen Philosophiegeschichte oft über die Metaphorik von Herrschaft und Knechtschaft erläutert. Sie kann allerdings weder Erkenntnisnoch Handlungsprozesse angemessen erklären. Hegel nimmt diese Bildsprache deshalb aus der zeitgenössischen Diskussion auf, um sie aristotelisch umzuinterpretieren. Dabei konzeptualisiert er innerhalb des Selbstbewusstseinskapitels nicht nur das Verhältnis von Selbständigkeit und Unselbständigkeit in Anschluss an Aristoteles, er löst damit zusammenhängend auch die Dualität von theoretischem Wissen und praktischem Können auf: Indem der Aristoteliker Hegel das Bewusstsein als Tätigkeit analysiert, wendet er sich gegen die dichotomische Entgegensetzung der Begriffspaare Spontaneität/Rezeptivität und Autonomie/ Heteronomie als Eigenschaften von verschiedenen Vermögen. Entsprechend lehnt er auch die sortale Einteilung zwischen zwei verschiedenen Wissenstypen – dem Wissen durch die Aktualisierung eines rezeptiven Vermögens einerseits und dem Wissen durch die Aktualisierung eines spontanen Vermögens andererseits – kategorisch ab. Wahrnehmen und Urteilen sind demnach Aktualisierungen einer begrifflichen Fähigkeit und nicht Vollzüge verschiedener Fähigkeiten. Auch die Unterscheidung zwischen empirischem und moralischem bzw. zwischen theoretischem und praktischem Wissen muss dementsprechend aspektual aufgefasst werden. Denn es handelt sich dabei um begriffliche Perspektiven auf die Vollzüge des Sprechens, Wahrnehmens und Handelns. Die wichtige Pointe

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für diese Arbeit lag jedoch in der Einsicht, dass es den Begriff des Selbstbewusstseins bedarf, um den Begriff des Wissens angemessen konzeptualisieren zu können. Ein Akt des Wissens ist demnach ein selbständiger und damit selbstbewusster Akt des Sprechens, Wahrnehmens und Handelns. Um diesen Wissensbegriff erläutern zu können, wurde anschließend der Begriff des Habitus eingeführt, um das problematische Konzept der zweiten Natur – das auch Hegel verwendet – in seiner argumentativen Funktion zu beerben. Denn das Potential des Habitusbegriffs liegt einerseits darin, dass moralisches Wissen und Handeln nicht entweder auf subjektiven Gefühlen oder einer leidenschaftslosen Vernunft beruhen müssen. Andererseits lassen sich durch ihn das Spannungsverhältnis von Individuum und Lebensform lösen und die damit zusammenhängenden individuellen und kollektiven Lernprozesse angemessen thematisieren. Vor dem Hintergrund der geleisteten Vorarbeiten konnte das Verhältnis von Habitus und Lebensform dabei als Modalgefälle konzeptualisiert werden: Der Habitus ist die Gesamtheit der Sprach-, Wahrnehmungs- und Handlungsschemata, insofern er die jeweiligen Lebensformen, als reale Möglichkeiten des Sprechens, Wahrnehmens und Handelns, verwirklicht. Sowohl die Lebensformen als auch die Habitus selbst können erst über die jeweiligen Verwirklichungen der Habitus rekonstruiert werden. Als opus operatum ist der jeweilige Habitus – wie Pierre Bourdieu sagt – die verinnerlichte oder inkorporierte Geschichte des Individuums, als modus operandi bringt er in neuen Situationen neue Verhaltensweisen hervor. Das jeweilige Sprechen, Wahrnehmen und Handeln ist damit an jeweils andere Objektwerte und Wertobjekte gebunden, aus denen sich unterschiedliche und manchmal auch gegensätzliche Handlungsregeln rekonstruieren lassen, sodass Konflikte zwischen den unterschiedlichen Ordnungsvorstellungen und Verhaltensweisen der Habitus die eingeübten Sprech-, Wahrnehmungs- und Handlungsweisen immer wieder in Frage stellen. Dass es sich bei den Ursachen von Konflikten innerhalb und zwischen Lebensformen um begriffliche Widersprüche handelt, konnte Hegel anhand von Sophokles Tragödie Antigone verdeutlichen. Das konflikthafte Sprechen, Wahrnehmen und Handeln macht es immer wieder notwendig, die jeweiligen Objektwerte und Wertobjekte, mit denen die Habitus sprechen, durch die sie wahrnehmen und aufgrund derer sie handeln, umzubilden. Die daraus resultierenden individuellen Lernprozesse wurden anschließend anhand von Hegels Ausführungen zum Bildungsbegriff aus der Rechtsphilosophie und den Gymnasialreden erläutert. Indem er hier betont, dass das Lernen immer auch eine aktive Auseinandersetzung mit der Welt ist, weist Hegel das pädagogische Paradox bzw. das pädagogische Problem Kants zurück. Die seit dem Neuhumanismus und der Aufklärungspädagogik bis heute weit verbreitete Ansicht, dass man (passiv) erzogen wird, sich aber (aktiv) selbst bildet, sodass es sich beim Erziehen und Bilden um zwei verschiedene Arten von Tätigkeit handelt, hatte sich in diesem Zusammenhang als unhaltbar herausgestellt. Denn

5. Fazit: Der Ethische Relationalismus als Forschungsperspektive

der Begriff der Erziehung lässt sich nicht als bewusste, intentionale und asymmetrische Tätigkeit konzeptualisieren, bei der eine Person oder Personengruppe Einfluss auf eine andere Person oder Personengruppe nimmt. Vielmehr, so hatten wir gesehen, muss er über den Begriff der Zuständigkeit erläutert werden. Aus diesem Grund handelt es sich beim Erziehen und Bilden nicht um zwei verschiedene Tätigkeiten oder Lerntypen, sondern um Lernmodi bzw. mögliche Perspektiven auf das Lernen und damit auf die Vollzüge der Habitus: Unter den Bedingungen der pädagogischen Zuständigkeit kann sich das Individuum an der erzieherischen Grenzsetzung bilden. Die Erziehung endet mit der pädagogischen Zuständigkeit, das Bilden hingegen, welches von Hegel als »Arbeit« charakterisiert wird, nicht. Etwas zu bilden oder zu bearbeiten, bedeutet dabei im Sinne Hegels, sich so auf einen zu Gegenstand beziehen, dass dieser sich verändert, sodass ein Werk (ε ρ γον) hervorgebracht wird. »Sich« zu bilden, bedeutet dementsprechend, sich so auf einen (Lern-)Gegenstand zu beziehen, dass man sich selbst verändert, sodass diese individuellen Bildungsprozessen das Ausbilden des Leibes bzw. das Bilden von Fähigkeiten und Gewohnheiten meinen. Gewohnheiten erklären dabei die Regelmäßigkeit von Akten des Sprechens, Wahrnehmens und Handelns. Fähigkeiten hingegen erklären, wie diese Akte zusammenhängen. Hegel differenziert hinsichtlich des Erlernens von Gewohnheiten und Fähigkeiten noch weiter zwischen der praktischen und der theoretischen Bildung: Die praktische Bildung meint dabei einen Sozialisationsprozess, der auch das Erziehen, als »methodische Sozialisation«, umfasst. Dabei geht es nicht einfach um ein Internalisieren von Wissensinhalten, sondern um die aktive Aneignung von und die Auseinandersetzung mit den eigenen Lebensformen und damit auch um die Reflexion des konflikthaften Sprechens, Wahrnehmens und Handelns. Die theoretische Bildung ist als Teil dieses Sozialisationsprozesses zu begreifen, bei dem es um die (wissenschaftlich-)distanzierte Auseinandersetzung mit fremden Lebensformen geht, die es erlaubt, die eigene Lebensweise zu reflektieren. Damit wird die Einheit von kognitiven und affektiven Lernprozessen explizit von Hegel betont. Diese individuellen Bildungsprozesse sind zwar notwendig, allerdings noch nicht hinreichend, um Vollzüge des Wissen erklären zu können. Denn Hegel zeigt, dass sie erst durch vorangegangene historisch-kollektive Bildungsprozesse ermöglicht werden, diese aber gleichzeitig mitgestalten. Er erläutert dies in den Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte und den Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte anhand des Motivs der Sklaverei, das er aus der zeitgenössischen Diskussion aufgreift, um sowohl das neuzeitliche Naturrechtsdenken als auch die Legitimation der Sklaverei über den Begriff der Natur zu kritisieren. Denn es ist die Natur des Menschen, so Hegel, sich im Sinne seines Selbst- bzw. Freiheitsverständnisses zu verwirklichen. Die wichtigsten Veränderungen im Laufe der Geschichte sind demnach Veränderungen dieses Selbst- und Freiheitsverständnis der Menschen – und somit Veränderungen im Verständnis derjenigen Begriffe, mit denen sie sich und ihre Welt

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Das Problem moralischen Wissens

beschreiben und bewerten bzw. durch die sie wahrnehmen und aufgrund derer sie handeln. Auch im Kontext dieser historisch-kollektiven Lernprozesse wird der Begriff der Bildung von Hegel als Arbeit gedeutet. Denn alle Lebensformen, d.h. alle kulturellen, religiösen, politischen u.a. Äußerungen und Institutionen des Menschen sind dessen »Werk«, insofern er sich nach seinen Begriffen verwirklicht. Die Habitus bilden oder erarbeiten sich dabei ihr Selbst- und Freiheitsverständnis und damit auch diejenigen empirischen und moralischen Tat-Sachen, die die verschiedenen Lebensformen erst als solche rekonstruierbar machen. Zunächst jedoch nehmen sie diese Tat-Sachen im Kontext der jeweiligen Sozialisationsprozesse als (natürlich) gegebene Tatsachen wahr. Denn die Geschichte jedes einzelnen Habitus ist in die Geschichte derjenigen Lebensformen eingebettet, in denen er sich gebildet hat. Als »Leib gewordene Geschichte« tradieren die Habitus aber nicht nur ihre Lebensformen, sie bilden sie auch aus und um, indem sie sich bilden. Denn in der Reflexion der Relationalität und Widersprüchlichkeit von Begriffen und Lebensformen und den damit zusammenhängenden Krisen- und Konflikterfahrungen ändert sich die Art und Weise, wie die Habitus sich und ihre Lebensformen begreifen. Dieser Wertewandel ist im Sinne Hegels nichts anderes als das »Berichtigen« derjenigen Begriffe, mit denen die Habitus sprechen, durch die sie wahrnehmen und aufgrund derer sie handeln. Der historische Bildungsprozess ist aber notwendigerweise als (sozialer) Fortschritt zu deuten. Das bedeutet nicht, dass Geschichte nicht partiell auch als Verfallsgeschichte geschrieben werden könnte – das ist, bei der richtigen Zusammenstellung des Übels, wie Hegel sagt, sehr wohl möglich. Es bedeutet vielmehr, dass die Geschichte perspektivisch auf diejenigen gerichtet ist, die diese Geschichte als Fortschritts- oder Verfallsgeschichte deuten und damit immer implizit einen fortschrittlicheren Standpunkt einnehmen müssen. Denn Lebensformen sind, ebenso wie ihre Geschichte, nur aus Lebensformen heraus rekonstruierbar, sodass sie im Kontext von individuellen Bildungsprozessen als Mittel zur Reflexion der eigenen Lebensweise genutzt werden können. Vor dem Hintergrund dieser bildungstheoretischen Erörterungen lässt sich nun der Wissensbegriff abschließend konzeptualisieren und von den üblichen, aber defizitären Wissenskonzeptionen abgrenzen: Ein Akt des Wissen ist ein sprachlicher bzw. urteilender, wahrnehmender oder handelnder Akt im Bewusstsein der historisch gebildeten adäquaten oder angemessenen Begriffe bzw. Objektwerte oder Wertobjekte. Da aber Begriffe, wie wir gesehen hatten, reale Möglichkeiten des Bestimmens sind, ist ein Akt des Wissens ein Akt im Bewusstsein der realen Möglichkeiten des Sprechens, Wahrnehmens und Handelns. Dabei handelt es sich um Aktualisierungen einer zu rekonstruierenden Fähigkeit. Der Begriff der Fähigkeit kann Wissen zwar nicht begründen, ohne ihn ließen sich Vollzüge des Wissens aber nicht erklären. Denn Fähigkeiten, so hatten wir gesehen, erklären, wie die Akte des Sprechens, Wahrnehmens und Handelns zusammenhängen: Erst jemand, der etwa

5. Fazit: Der Ethische Relationalismus als Forschungsperspektive

weiß, dass es zwar formell, nicht aber real möglich ist, den Begriff des Sklaven auf einen Menschen zu projizieren, weiß auch, dass es unsinnig ist, die Welt als eine wahrzunehmen, in der manche Menschen von Natur aus unfrei sind. Und jemand, der das weiß, handelt anders, als jemand, der das nicht weiß. Aber erst jemand, der in hinreichend vielen Fällen richtig urteilt, wahrnimmt oder handelt, beherrscht auch das Sprechen, Wahrnehmen und Handeln. Diese Fähigkeit kann jedoch nur rekonstruktiv, aus bestimmten Lebensformen bzw. Kulturen, Subkulturen, sozialen Milieus oder gesellschaftlichen Klassen heraus, zugeschrieben werden. Eine philosophische Antwort auf die Frage, nach wie vielen und nach welchen Akten man sagen kann, dass jemand eine Fähigkeit beherrscht, kann es nicht geben. Schließlich würde das in die Aporien des propositionalen Wissensbegriffs führen, insofern man wertfreie Rationalitätsstandards oder Erkenntnisquellen annehmen müsste. Der Begriff des Wissens wird dabei also weder als Akt des Begründens von wahren Überzeugungen noch einfach als begriffliche Fähigkeit verstanden, denn dafür müssten jeweils wertfreie Erkenntnisquellen und Rationalitätsstandards vorausgesetzt werden. Vielmehr handelt es sich um die Art und Weise einer Tätigkeit bzw. die Art und Weise, wie die Habitus ihre Lebensformen verwirklichen. Moralisches und empirisches Wissen sind dabei aspektual voneinander zu unterscheiden, insofern es sich um begriffliche Perspektiven auf die Vollzüge der Habitus handelt, die erst rekonstruktiv – über das gemeinsame Sprechen, Wahrnehmen und Handeln – zugeschrieben werden können. Genau das unterscheidet einen tätigkeitstheoretischen Wissensbegriff von der Akt-Auffassung oder der Fähigkeitskonzeption von Wissen. Da diese Vollzüge jedoch von den jeweiligen Objektwerten und Wertobjekten als relationalen und impliziten begrifflichen Handlungsregeln abhängen, lässt sich diese Position als Ethischer Relationalismus bezeichnen. Richard Rorty hat also in einem Punkt Recht: Auch Begriffe wie Wahrheit, Rechtfertigung oder Wissen gehören nicht zu einem rein naturalistischen Vokabular, denn wir benutzen sie eben auch zum Bekräftigen oder Bestreiten von Behauptungen. Dieser Umstand führt aber nicht notwendigerweise in den Relativismus. Denn das Vokabular, mit dem wir Tatsachen feststellen, Aussagen rechtfertigen, loben und tadeln, ist das Produkt einer historischen Entwicklung, das sich zum Teil bewährt hat, zum Teil aber auch immer wieder in Frage steht. Ganz in diesem Sinne konstatiert etwa auch Alasdair MacIntyre, dass Karl Marx aus ganz nichtmarxistischen Gründen recht hatte, als er den englischen Gewerkschaftlern der 1860er-Jahre entgegenhielt, dass Apelle an die Gerechtigkeit sinnlos sind. Schließlich gibt es rivalisierende Vorstellungen von Gerechtigkeit, die durch rivalisierende Gruppen gebildet werden. Denn wir leben in und mit einer Vielzahl zersplitterter Begriffe (»fragmented concepts«), um rivalisierende und unvereinbare gesellschaftliche Ideale und Politiken auszudrücken, sodass im Herzen der Gesellschaft Konflikt und nicht Konsens herrscht (vgl. ders. 2011/1981, 293). Die Tragödie, wie etwa die der Antigone, ist eben die Form des menschli-

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chen Lebens und damit der Grund aller ethischen oder sozialen Konflikte, ohne dass das pessimistisch zu stimmen bräuchte. Denn aus den rivalisierenden Begriffen bzw. ihrer verschiedenen Verwendung und den daraus resultierenden widersprüchlichen Lebensformen werden in historisch-kollektiven Lernprozessen Tat-Sachen gebildet, um gemeinsam mit Begriffen leben und in Lebensformen lernen zu können. Es gibt deshalb sozialen Fortschritt und moralische Tatsachen unabhängig davon, was jeder einzelne Moralakteur für gut und richtig hält. Aber erst die Möglichkeit der Reflexion der Widersprüchlichkeit und Relationalität von Begriffen und Lebensformen bzw. die Möglichkeit individuelle Bildungsprozesse zu machen oder zu verpassen, kann das Phänomen des Wissens erklären. Was die gegensätzlichen Positionen Singers und Rortys eint, ist also v.a. eine falsche Vorstellung unserer Sprache. Denn es gibt nicht den einen Begriff des Menschen, der alle ethisch relevanten Fälle einschließt und alle ethisch irrelevanten Fälle ausschließt. Das bedeutet aber nicht, dass es gar keinen adäquaten Begriff des Menschen gibt. Denn die meisten Lebensformen verfügen heute sehr wohl über ein differenziertes Vokabular, dass es ihren Teilnehmer*innen erlaubt, auch denjenigen gegenüber ihre Anteilnahme auszudrücken, die nicht einmal über dieselben Fähigkeiten verfügen wie sie. Dass einige Lebensformen und einige Habitus die entsprechenden historisch-kollektiven oder individuellen Lernprozesse verpasst haben und nicht über dieses Vokabular verfügen oder es falsch verwenden, ist jedenfalls kein Grund es zu relativieren – die Notwendigkeit, es aufgrund gegenwärtiger Konflikte weiter auszuarbeiten und umzubilden, bleibt jedoch bestehen. Die Überlegungen dieser Arbeit führen damit zu ganz verschiedenen Forschungsperspektiven. So ließe sich etwa fragen, inwiefern ein tätigkeitstheoretischer Wissensbegriff auch für die theoretische Philosophie relevant ist, wie sich mit Hegels Begriffstheorie an moderne Sprach- und Bedeutungstheorien anschließen lässt oder was seine Kritik an der neuzeitlichen Vermögenspsychologie zu den gegenwärtigen Debatten um das Verhältnis von Kognition und Emotion oder den theoretisch zentralen Begriff der Autonomie beitragen kann. Die wichtigste Forschungsperspektive scheint mir aber ein angemessenes Verständnis von (praktischer) Philosophie überhaupt zu sein. Denn falsch ist offensichtlich die Handlanger-Auffassung der Philosophie, die v.a. im Kontext des Positivismus und Nonkognitivismus vertreten wird. Demnach verhält sie sich parasitär zu anderen Disziplinen und beschäftigt sich lediglich damit, das sprachliche Gerümpel beiseite zu räumen, das den richtigen Blick auf die Welt versperrt (vgl. Winch 1973/1958, 3 ff.). Falsch ist ebenfalls die Auffassung einer erbauenden oder bildenden Philosophie im Sinne Richard Rortys, die einfach nur ein Gespräch weiter führt oder irgendein Vokabular vorschlägt und sich so aller Probleme mit dem Verweis auf eine vermeintliche Relativität von Lebensformen entledigt. Auch die paternalistische Auffassung der Philosophie, wie sie manchmal im Kontext des Ethischen Realismus und des Ethischen Objekti-

5. Fazit: Der Ethische Relationalismus als Forschungsperspektive

vismus vertreten wird, kann nicht überzeugen. Demnach wäre es ihre Aufgabe uns ein Leben zum Guten zu diktieren, insofern sie nach Algorithmen zur Wahl richtiger Überzeugungen fragt, nach Meisterargumenten zur guten Lebensführung sucht oder vermeintliche Letztbegründungen für das Handeln bereitstellt. Diejenigen Philosoph*innen, die diese Auffassung vertreten, begründen damit aber meistens doch nur jene Überzeugungen, die sie vor ihren philosophischen Bemühungen sowieso schon hatten. Das Belehren, so Hegel, kann sich die Philosophie jedoch sparen, denn dafür kommt sie ohnehin immer zu spät (vgl. TW 7, 27 f.). Vielmehr, so scheint mir, lässt sich Philosophie tatsächlich am Besten als erbauende oder bildende Philosophie begreifen. Aber im Gegensatz zu Rortys Auffassung gibt es Philosophie nicht einfach nur als Gespräch, sondern auch als Kritik. Denn sie reflektiert unsere Lebensformen und hilft auf diese Weise, an einem besseren Vokabular zu arbeiten, mit dem wir sprechen, durch das wir wahrnehmen und aufgrund dessen wir handeln. Oder um ein letztes mal Hegel zu bemühen: »Wahre Gedanken und wissenschaftliche Einsicht ist nur in der Arbeit des Begriffs zu gewinnen.« (TW 3, 65)

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6. Siglenverzeichnis

I.) Die Siglen zum Corpus Aristotelicum werden durch den Buchtitel und die kanonische Bekker-Paginierung angegeben: De an. De Anima (Peri psychês): Über die Seele (griechisch-deutsch), übers. v. Willy Theiler, hg. v. Horst Seidl, Hamburg 1998. EN Ethica Nicomachea (Ethika Nikomacheia): Nikomachische Ethik, übers. v. Eugen Rolfes, bearb. v. Günther Bien, in: Aristoteles: Philosophische Schriften in sechs Bänden (Bd. 3), Hamburg 1995. Met. Metaphysica (Ta meta ta physika): Metaphysik (2 Halbbände), übers. v. Eugen Rolfes u. Hermann Bonitz, hg. v. Horst Seidl, Hamburg 1991. Phys. Physica (Physikê akroasis): Physik. Vorlesung über die Natur, übers. v. Hans Günter Zekl, in: Aristoteles: Philosophische Schriften in sechs Bänden (Bd. 6), Hamburg 1995. Pol. Politica (Politika): Politik, übers. v. Eugen Rolfes, in: Aristoteles: Philosophische Schriften in sechs Bänden (Bd. 4), Hamburg 1995.

II.) Die Literaturangaben bei Kant beziehen sich auf die Studienausgabe (WA): Kant, Immanuel: Werkausgabe in 12 Bänden, hg. v. Wilhelm Weischedel, Wiesbaden/Darmstadt/Frankfurt a. M. 1957 ff. Stellen aus der Kritik der reinen Vernunft werden dabei in der modernisierten Fassung der Werkausgabe wiedergegeben, zitiert wird aber, wie üblich, nach der A/B-Paginierung der Akademieausgabe (AA: Kant, Immanuel: Gesammelte Schriften, hg. v. der Preußischen Akademie der Wissenschaften/Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin/Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Berlin/New York 1900 ff.). Die Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik wird ebenfalls über die Akademieausgabe zitiert. Dabei werden folgende Siglen verwendet: KrV Kritik der reinen Vernunft (A: AA IV, 1-252; WA III/B: AA III, 1-552; WA IV)

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Das Problem moralischen Wissens

GMS Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (WA VII, 11-102) KpV Kritik der praktischen Vernunft (WA VII, 107-302) MdS Metaphysik der Sitten (WA VIII, 309-634) Rel. Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (WA VIII, 649-879) KdU Kritik der Urteilskraft (WA X) Anth. Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (WA XII, 399-690) Päd. Über Pädagogik, hg. v. D. F. Th. Rink (WA XII, 695-761) Preis. Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik (AA XX, 253-332)

III.) Die Werke Wilhelm von Humboldts werden zitiert nach: ders.: Werke in 5 Bänden, hg. v. Andreas Flitner und Klaus Giel, Darmstadt 2002. WH I Schriften zur Anthropologie und Geschichte WH III Schriften zur Sprachphilosophie WH IV Schriften zur Politik und zum Bildungswesen WH V Kleine Schriften, Autobiographisches, Dichtungen, Briefe, Kommentare und Anmerkungen zu Band I-V, Anhang

IV.) Hegels Schriften werden in der modernisierten Form der Theorie-Werkausgabe angegeben: Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Werke in 20 Bänden. Auf der Grundlage der Werke von 1832-1845 neu editierte Ausgabe, hg. v. Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt a. M. 1969 ff. Zitiert wird mithilfe des Kürzels »TW«, gefolgt von der Nummer des Bandes. In den Fällen der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften und den Grundlinien der Philosophie des Rechts wird ggf. auf Seitenangaben zugunsten der Paragraphen verzichtet. Anmerkungen werden zusätzlich mit einem »A«, Zusätze mit einem »Z« hinter der Nummer des jeweiligen Paragraphen gekennzeichnet. TW 2 TW 3 TW 4 TW 5 TW 6 TW 7 TW 8 TW 10 TW 12 TW 13 TW 15

Jenaer Schriften 1801-1807 Phänomenologie des Geistes Nürnberger und Heidelberger Schriften 1808-1817 Wissenschaft der Logik I Wissenschaft der Logik II Grundlinien der Philosophie des Rechts Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften I Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften III Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte Vorlesungen über die Ästhetik I Vorlesungen über die Ästhetik III

6. Siglenverzeichnis

TW 18 TW 19 TW 20

Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie II Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III

Folgende Siglen werden ebenfalls verwendet: PhG Phänomenologie des Geistes, hg. v. Hans-Friedrich Wessels und Heinrich Clairmont, Hamburg 1988. VPW Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte (Bd. 1: Die Vernunft in der Geschichte), hg. v. Johannes Hoffmeister, Hamburg 1994.

V.) Die Abkürzungen zu Ludwig Wittgenstein beziehen sich auf die Werkausgabe in 8 Bänden, Frankfurt a. M. 1984. Zitiert wird jeweils nach der Nummerierung der Textabschnitte. TLP PU ÜG

Tractatus logico-philosophicus (Bd. 1, 7-85) Philosophische Untersuchungen (Bd. 1, 225-580) Über Gewißheit (Bd. 8, 113-257)

VI.) Die Hauptwerke Hilary Putnams werden ebenfalls durch Siglen kenntlich gemacht. Da die Sammelbände Words and Life und Realism Human Face zusammenhängend konzipiert sind, werden die dortigen Textpassagen über die Abkürzung des jeweiligen Sammelbandes angegeben. MoM The Meaning of Meaning, in: Mind, Language and Reality (Philosophical Papers, Volume 2), Cambridge (Mass.)/London u.a. 1975, 215-271. MMS Meaning and the Moral Sciences, Boston/London u.a. 1978. RTH Reason, Truth and History, Cambridge/New York u.a. 1981. VWG Vernunft, Wahrheit und Geschichte, Frankfurt a. M. 1982. MFR The Many Faces of Realism. The Paul Carus Lectures, La Salle/ Illinois 1987/1995. RR Representation and Reality, Cambridge (Mass.)/London 1988. RHF Realism with a Human Face, hg. v. James Conant, Cambridge (Mass.)/London 1990. RPh Renewing Philosophy, Cambridge (Mass.)/London 1992. WL Words and Life, hg. v. James Conant, Cambridge (Mass.)/London 1994. TTC The Threefold Cord: Mind, Body and the World, New York 1999.

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VIII.) Folgende Siglen werden ebenfalls verwendet: Ant. Sophokles: Antigone, Tusculum Studienausgabe (griechischdeutsch), übers. v. Wilhelm Willige, hg v. Bernhard Zimmermann Düsseldorf/Zürich 1999. Med. Descartes, René (1641/1642): Meditationen über die Grundlagen der Philosophie: mit den sämtlichen Einwänden und Erwiderungen (Meditationes de prima philosophia), übers. v. Artur Buchenau, Hamburg 1994. S.theol. Die deutsche Thomas-Ausgabe: Vollst. dt.-lat. Ausgabe der Summa Theologiae, Bonn/Salzburg/Leipzig 1933 ff.; (Heidelberg)/Graz/ Wien/Köln 1950 ff. (Die Sigle »S.theol. I, qu. 87 a. 2« bedeutet entsprechend: Summa theologiae, pars prima, quaestio 87, articulus 2). Theaet. Theaetetus (Theaítētos): Theätet, übers. v. Otto Apelt, in: Platon: Sämtliche Dialoge (Bd. 4), Hamburg 2004.

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Philosophie Les Convivialistes Das konvivialistische Manifest Für eine neue Kunst des Zusammenlebens (herausgegeben von Frank Adloff und Claus Leggewie in Zusammenarbeit mit dem Käte Hamburger Kolleg / Centre for Global Cooperation Research Duisburg, übersetzt aus dem Französischen von Eva Moldenhauer) 2014, 80 S., kart., 7,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-2898-2 als Open-Access-Publikation kostenlos erhältlich E-Book: ISBN 978-3-8394-2898-6 EPUB: ISBN 978-3-7328-2898-2

Jürgen Manemann Der Dschihad und der Nihilismus des Westens Warum ziehen junge Europäer in den Krieg? 2015, 136 S., kart., 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3324-5 E-Book: 12,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3324-9 EPUB: 12,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-3324-5

Hans-Willi Weis Der Intellektuelle als Yogi Für eine neue Kunst der Aufmerksamkeit im digitalen Zeitalter 2015, 304 S., kart., 22,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3175-3 E-Book: 20,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3175-7 EPUB: 20,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-3175-3

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Philosophie Jürgen Manemann Kritik des Anthropozäns Plädoyer für eine neue Humanökologie 2014, 144 S., kart., 16,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-2773-2 E-Book: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-2773-6 EPUB: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-2773-2

Franck Fischbach Manifest für eine Sozialphilosophie (aus dem Französischen übersetzt von Lilian Peter, mit einem Nachwort von Thomas Bedorf und Kurt Röttgers) Juli 2016, 160 S., kart., 24,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3244-6 E-Book: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3244-0

Claus Dierksmeier Qualitative Freiheit Selbstbestimmung in weltbürgerlicher Verantwortung Mai 2016, 456 S., kart., 19,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3477-8 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3477-2 EPUB: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-3477-8

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