Das aboriginale Horoskop : Ein Senigiroba-Weg des Wissens ; nach den Lehren des Altmeisters Urug aufgezeichnet 3251000128

Die gesamte abendländische - wie übrigens auch die in manchem weitgehend verwandte chinesische - Astrologie wird - wie d

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German Pages [118] Year 1983

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Das aboriginale Horoskop : Ein Senigiroba-Weg des Wissens ; nach den Lehren des Altmeisters Urug aufgezeichnet
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Haffmans Verlag.

Das aboriginale Horoskop Ein Senigiroba-Weg des Wissens Nach den Lehren des Altmeisters Urug aufgezeichnet von

Bernd Eilert Mit Zeichnungen von Hilke Raddatz

Das aboriginale Horoskop Ein Senigiroba-Weg des Wissens Nach den Lehren des Altmeisters Urug aufgezeichnet von

BERND EILERT Mit Zeichnungen von Hilke Raddatz

HafTmans Verlag

Die Einleitung dieses Werkes erschien zuerst im ersten Literatur-Magazin >Der Rabe4

Das aboriginale Horoskop

diese zentralaustralischen Ureinwohner denn überhaupt schon so etwas wie Wochentage? ist damit beantwortet: Oja, sie kannten. Einzige Richtschnur ihres vorbildlich einfachen Lebens war und ist natürlich die Natur — und zwar nicht die äußere mit all ihrer verwirrenden Unberechenbarkeit, nach der sich gewöhnliche Naturvölker richten, sondern die eigene. Die innere Uhr sozusagen, wenn solch eine moderni­ stische Metapher in diesem archaischen Zusammenhang erlaubt ist. Wie praktisch das ist, entnehmen wir der folgenden Tabelle. Sie faßt all das zu­ sammen, was Urug mir in endlosen Unter­ redungen vertraute, indem sie die uns ge­ wohnte Woche zur aboriginalen in Bezie­ hung setzt und auch das Zeichen nebst Aszendenten und seiner Bestimmung angibt, das — freilich erdgebundener als unsere himmelsverhafteten Sternkreis­ zeichen — den jeweiligen Geburts-Tag regiert.

Einleitung

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Daß der Senigiroba seine Woche genau wie wir in sieben Tage unterteilt, grenzt schon ans Wunderbare. Ich war aus mir naheliegenden Gründen heilfroh darüber. Und das sagte ich Urug auch. Er lächelte wissend. »Ist nicht jeder Mensch ganz gleich? Zerfallt nicht jeder in sieben Teile: den Kopf, den Leib, die zwei Arme und die beiden Beine? Und hat nicht jedes Teil, was es verdient: Den Bumerang und den Hammer in Händen, die Beule am Kopf, den Finger, um den Leib zu füllen, und mit den beiden Beinen stehen wir auf einer Bierdose und einer Brum­ mei.« »Aber« — ich zählte im Stillen noch ein­ mal nach — »aber das sind ja nur sechs!« Sein mildes Lächeln verwandelte sich in ein wildes Grinsen. »Ach, was du nicht sagst! Sind es das? Nur sechs, was? Als ob ich das nicht wüßte . . .« Dann schwieg er einige Wochen, wie es seine Art war, um eines Morgens ganz unvermutet auszurufen: »Die leere Bier-

Übersicht (für die Statistiker unter meinen Lesern)

(Aszendent)

Berufung

unser Wochentag

aboriginaler Wochentag

SenigirobaZeichen

Montag

Jagtag

der Bumera'ng (Beule)

Dienstag

Koch tag

der Hammer

(Brummei)

Reger u. Schläger

Mittwoch

Eßtag

der Finger

(volle Bierdose)

Pfleger, Träger u. Beweger

Donnerstag

Trinktag

die volle Bierdose

(Finger)

Habender u. Seiender

Freitag

Zahltag

die leere Bierdose

(hat keinen)

Schüler, Lehrer u. Hummelfänger

Samstag

Tanz tag

die Brummei

(Hammer)

Künstler

Sonntag

Schlaftag

die Beule

(Bumerang)

Sonstiger

Heger u. Jäger

Einleitung

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dose kannst du vergessen!« Und mit dem ihm eigenen luziden Humor fügte er noch hinzu: »Kein Mensch kann was mit einer leeren Bierdose anstellen. Nicht einmal so ein blöder alter Sack wie du.« Ich mußte mich geschlagen geben, wie­ der einmal. Ungeahnte Schwierigkeiten bereitete mir auch die Zuordnung der Tage unter­ einander. Erst an einem folgenreichen Montagmorgen fiel es mir ein, Urug zu fragen: »Meister, welcher Tag ist heute eigentlich?« »Jagtag!« antwortete der alte Häupt­ lingganz gegen seine Gewohnheit prompt und warf mir seinen Bumerang an den Kopf. Er hielt sehr auf Tradition. Alles weitere ergab sich von selbst, sobald ich aus meiner Ohnmacht wieder erwacht war. Die Erklärungen für die einzelnen Senigiroba-Zeichen sind von niederschlagen­ der Grundeinfachheit. So steht der Bumerang für den Jagtag,

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Das aboriginale Horoskop

weil er die einzige Waffe ist, welche die Senigiroba zu Jagdzwecken je entwickelt haben. Der Hammer, natürlich aus Stein, spielt am Kochtag eine entscheidende Rolle, da man mit ihm so lange auf alles haut, was herumliegt, bis davon irgendwas ge­ nügend Funken sprüht, um ein Kochfeuer daran zu entzünden. Ob der Finger nur deswegen für den Eß­ tag steht, weil die Senigiroba mit den Fin­ gern essen, habe ich nie mit allerletzter Sicherheit herausfinden können. Gewisse Andeutungen, die Urug mir machte, und eigene leidvolle Erfahrung, scheinen dar­ auf hinzudeuten, daß die Wahl dieses Symbols auch etwas damit zu tun haben könnte, daß man Eßtags an seinen Fin­ gern noch besonders deutlich spürt, wie oft man tags zuvor beim Feuermachen da­ neben gehauen hat. Die volle Bierdose am Trinktag spricht für veränderte Trinkgewohnheiten auch in Zentralaustralien.

Einleitung

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Auch die leere Bierdose ist wohl kein sehr altes Zeichen. Ursprünglich wurde bei den Senigiroba alles als Zahlungsmittel an­ erkannt, was man nicht essen oder trinken konnte, Frauen und Kinder ausgenom­ men. Da jedoch im Verlaufe der Jahrtau­ sende in Vergessenheit geriet, was und wo­ für man überhaupt bezahlte oder bezahlt wurde, lag es im Sinne einer Verein­ fachung - und jedes philosophische System strebt nach Vereinfachung oder sollte es zumindest — nahe, wenigstens ein einheitliches Zahlungsmittel einzuführen. Die Kurse sind seitdem vollkommen sta­ bil. »Zwei leere Bierdosen sind mehr als eine leere Bierdose«, erklärte mir Urug wiederholt. Und wie lang ich auch dar­ über nachdachte, konnte ich doch nichts Falsches daran entdecken. Die Bierdose hatte auch eine Revolutio­ nierung der aboriginalen Tanzmusik im Gefolge. Die Brummei, ein Mittelding aus Trommel, Bimmel, Klapper und Sum­ mer, ist zwar immer noch das einzige

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Das aboriginale Horoskop

Musikinstrument der Senigiroba, doch war es eben ursprünglich ein kaum faust­ großer, überaus kunstvoller Klangkörper, der aus dem Holz des getüpfelten Kuskusbaumes gefertigt wurde. »Unsere Väter«, erinnerte sich Urug, »fällten einen getüpfelten Kuskusbaum und machten aus dem obersten Ast seiner höchsten Spitze eine Brummei, indem sie ihn höhlten und hernach mit bei Voll­ mond getrocknetem Paradiesvogelkot wieder verschlossen.« »Warum, o Meister«, wagte ich zu fra­ gen, »fällten sie für eine so kleine Brummei einen ganzen großen getüpfelten Kuskus­ baum?« Urug antwortete mit einer Gegenfrage, wie er es gern tat: »Wie sollten sie denn sonst an den obersten Ast der höchsten Spitze des getüpfelten Kuskusbaumes ge­ langen, du Sack?« »Sie hätten doch hinaufklettern kön­ nen«, antwortete ich unbesonnen. Da sah Urug mich mit einem Blick an,

Einleitung

so erstaunt und voller Widerwillen, daß ich bis ins Mark verspürte, wie unwissend ich noch war; und ich bedauerte, über­ haupt gefragt zu haben. Jedenfalls war die Einführung der lee­ ren Bierdose als Brummelersatz durchaus segensreich. Auch und gerade für den zen­ tralaustralischen Bestand an getüpfelten Kuskusbäumen. Außerdem ist die Brummei das subtil differenzierte Instrument geblieben, das sie seit jeher war, auch wenn ihr Grund­ klang nun etwas mehr ins Blecherne spielt. Ihr Innenleben ist noch genauso reich wie früher. In die leere Bierdose werden nämlich die Verschlüsse anderer leerer Bierdosen praktiziert. Dazu kommt eine lebendige Hummel. Haut man nun mit dem Hammer auf die Brummei, mischen sich der trockene Anschlag desselben mit dem munteren Klappern der Bierdosen­ verschlüsse und dem aufgeregten Summen und Brummen der Hummel, die natürlich in Panik gerät, zu einer Art Dreiklang, den

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Das aboriginale Horoskop

keiner je vergessen kann, der ihn je gehört hat. Aber wer hat das schon? Von einem Meister wie Urug geschla­ gen, kann die Brummei tatsächlich ein ganzes Orchester entsetzen. Ob aber ein ganzes Orchester eine einzige Brummei er­ setzen kann, würde ich bezweifeln. Ich jedenfalls habe in den Konzertsälen der alten Welt keines gehört, das dies ver­ möchte. Nein, die meisten möchten es wohl nicht einmal. Das siebte und letzte Symbol des ab­ originalen Horoskops, dessen Zuweisung auf den ersten Blick vielleicht am befremd­ lichsten erscheint, ist die Beule. Daß die Beule für den Schlaftag steht, ist auf eine besondere Art des Tanzes zurückzufüh­ ren. Der Senigiroba tanzt grundsätzlich mit geschlossenen Augen und vorgestreck­ tem Kopf. Als ich Urug fragte, warum das so sein müsse, lächelte er wie entrückt. Dann sprach er: »Warum scheint die Sonne am Tage und der Mond in der Nacht? Warum

Einleitung

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wächst der Baum in den Himmel und nicht in die Erde? Warum singt der Vogel und warum stinkt der Fisch?« Da ich lei­ der nichts zu antworten wußte, fuhr er fort. »Warum steckt der Strauß seinen Kopf in den Sand und nicht in die Tasche? Warum trägt das Känguruh einen Beutel, der Pinguin aber einen Frack? Warum hat der Dingo weder Frack noch Beutel noch einen Kopf? Warum ist dieser verdammte Bus eigentlich nie pünktlich? Warum . . .« Urug hätte gewiß noch mehr dieser ur­ alten unbegreiflichen Fragen gestellt, wäre nicht in diesem Moment der ver­ spätete Bus endlich gekommen, der uns zu jenem geheimen Ort brachte, von dem ich nichts weiter verraten darf, außer, daß mich der Meister dort in alle Einzelheiten des aboriginalen Horoskops feierlich einweihte. Wer nun dies Horoskop in all seinen Höhen und seinen ganzen Tiefen begrei­ fen will, muß dreierlei einbringen: Er muß zum einenjenen Urtrieb in sich fühlen, der

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Das aboriginale Horoskop

seit jeher das Schwungrad der mensch­ lichen Entwicklung vorantreibt, einem Hamster gleich: das unbedingte Streben nach Erkenntnis des einzig Wahren und das verbissene Widerstreben gegen alles, was dies eventuell komplizieren könnte. Er muß zum andern die Bereitschaft, die Fähigkeit und den festen Willen mit­ bringen, sich von jenen Scheinwerten zu trennen, die das europäisch verstümmelte Menschenbild ihm aufzwingen wollte. Ich spreche von den Verletzungen durch Elternhaus und Kindergarten, von den Verbildungen durch Schule und Beruf. Ich spreche von der satanischen Sucht zu zweifeln, zu deuteln, zu kritteln und zu spötteln, dem diabolischen Drang zu ana­ lysieren, zu reflektieren und zu relativie­ ren. Ich spreche von allen, die dies Horoskop einfach nicht wahrhaben wollen, weil sie es nicht glauben können. Ich aber sage euch: Nicht denken — ver­ senken!

Einleitung

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»Vergiß alles, was du gelernt hast!« ver­ langt Urug. Ich sage: Moment noch! Zuvor mußt du unbedingt noch etwas über die drei Bräu­ che lernen, die mich in Urugs Stammesgeschichten immer am tiefsten beein­ druckt haben. Denn ohne deren Vor­ kenntnis dürfte es unmöglich sein, den Volkscharakter der Senigiroba in seiner einzigartigen Mischung aus typisch asiati­ scher Verblümtheit und wüstenhaft trockener Lakonie auch nur annähernd zu begreifen. »Mit begreifst du doch auch nichts«, beruhigte mich Urug. Ja, erst ein Spritzer seiner traulichen Pfiffigkeit verleiht die­ sem Charakter-Topf den unnachahmli­ chen Stich ins schmackhaft Rituelle.

Die drei Bräuche

i. Pentathlon: der klassische Sechskampf der Senigiroba

Die sieben Disziplinen des klassischen Pen­ tathlon erfordern nacheinander höchste Explosivität, tiefste Kontemplation, eine gewisse Schnellkraft, mathematische Grundkenntnisse, Kletterfertigkeit, Um­ kehrungsvermögen, F allgeschwindigkeit und wahren Todesmut. Nur wer all diese Voraussetzungen mitbringt, kann am Pentathlon teilnehmen. Ja, wenn sein Clan und das Schicksal es so wollen, muß er sogar. Schauplatz des Spektakels war ein ver­ wunschener Ort in der Gegend des heu­ tigen Adelaide. Hier strömten einmal im Jahr, wenn anderswo die Anemonen blüh­ ten, fast sämtliche Clans des Senigirobastammes zusammen. Nur die Nenemmonegsua — zu deutsch etwa : die Ausgenomme­ nen - waren natürlich ausgenommen.

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Die drei Bräuche

Welch farbenprächtiges Bild entfaltet sich auf dem Schirm meiner Einbildungs­ kraft! Nur schade, daß einige von euch es nurschwarz-weiß empfangen können. Für die sei gesagt: der Himmel ist bläulich, das Gras ist von jenem fahlen Braun, das hie­ siges Gras erst im Heuzustand erreicht, die Zuschauer sind noch brauner, ungefähr so, wie hiesige Zuschauer schlimmstenfalls nach mehrjährigem Aufenthalt in Sola­ rien und Wintersportorten wären, der Wald steht schwarz und schweiget, und da die Sonne scheint — violette Schatten wirft sie! — kann ich meinen Schirm wohl wieder zuklappen. Die Wettkämpfer haben bereits Aufstel­ lung genommen. Nebeneinander, nicht übereinander. Der Kampf kann beginnen. Auf das Kommando: Achtung, fertig, wird’s bald! hüpfen alle weg, in Känguruh­ manier. Die Klügeren natürlich schon bei Achtung, denn so sind sie eher am Ziel, und darauf kommt es schließlich an beim Pen­ tathlon.

Pentathlon

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Das Ziel ist ein Baum, der vorher be­ stimmt wird, nicht hinterher. Unter den setzt sich der Kämpfer, sobald er da ist, und zählt nun so laut und so weit er kann, mindestens aber bis io. Sodann erklettert er den Baum, so schnell und so weit er kann, mindestens aber bis zu dem Ast, den er sich ausgesucht hat. Dieser Ast sollte zweierlei Bedingungen erfüllen. Erstens muß er irgendwann ab­ brechen, wenn der Kletterer weit genug darauf vom Stamme weg gerutscht ist, denn dies gilt als die einzig zugelassene Weise den Baum wieder zu verlassen, und zweitens — Gemach! Zunächst muß der vom Baum gefallene Rutscher wieder zu­ rückzählen bis i. Der Senigiroba kennt keine o — war ihm wohl zu abstrakt. Rückwärts gezählt wird übrigens im Kopf- es muß der eigene sein —, und zwar nicht bloß um den Vorgang zu erschwe­ ren, sondern mehr noch um ihm eine ge­ wisse Feierlichkeit zu verleihen, sozusagen als allerletzte Ehre für den Zähler.

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Die drei Bräuche

Denn auf diesen seinen Kopf — es muß wirklich der eigene sein — haut sich der Pentathlet nun mit jenem Ast, welcher zu­ vor unter seinem Gewicht abgebrochen ist. Und dies ist auch die zweite Vorausset­ zung, die jener Ast erfüllen sollte: der Kopf muß vor ihm kaputtgehen, nicht nach ihm. Wer zuerst tot ist, hat gewonnen. Die Verlierer werden alsdann vom Pu­ blikum erschlagen. Und das ist schließlich der Pfeffer im Salz des Lebens. Es mag etwas brutal klingen, macht je­ doch diese Art Sport für die Senigiroba zu einer recht nützlichen, geradezu sozial­ hygienischen Angelegenheit, was man ja beileibe nicht von jeder Sportart behaup­ ten kann. Ich nenne nur: Tischtennis und Dressurreiten. Urug erklärte mir glaubhaft, der Pen­ tathlon sei für seinen Stamm seit Abschaf­ fung der Todesstrafe die einzige Möglich­ keit, Zeitgenossen, die sonst zu nichts

Fudji-bama

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taugten, auf einigermaßen würdige, ja ge­ radezu unterhaltsame Art loszuwerden. Dann krauste er die breite Stirn. »Und irgendwie hatte das Ganze auch noch mit Religion zu tun.« Von anderen kultischen Festivitäten auf Massenbasis ist Urug und damit auch mir leider nichts bekannt. Urug deutete ledig­ lich einmal an, er könne auch Dame spie­ len, doch dazu fehlte uns der dritte Mann. Ich mag keine Brettspiele.

2. Fudji-bama: die Kunst des Blumenversteckens

Im Unterschied zur japanischen Unart des Blumensteckens, setzt das aboriginale Fudji-bama ganz auf die Phantasie. Denn während der Japaner unverdros­ sen Primeln in morsches Holz pfropft und das Ergebnis dann ausmalerisch »Sonne will scheinen auf Gerichte und Fertig­



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gerichte« oder »Aufsteigender Kranich auf absterbendem Ast« oder auch »Das Rohe und das Ungekochte« nennt, steckt der Senigiroba seine Blumen gerade dort­ hin, wo sie garantiert keiner sieht. Dabei macht es wenig Unterschied, welche Blü­ ten er versteckt hat. Auch die Namen sei­ ner Kreationen sind vergleichsweise be­ scheiden: »Weg damit!«, »Endlich allein«, »Servus« oder schlicht und einfach »Kom­ post« heißen seine Kompositionen, und die Kapelle brummelt das uralte Signal »Blume tot!« dazu. Der anschließende Jubel ist zum Glück unbeschreiblich. Wichtig wird allein, wo einer seine Blu­ men versteckt. Dies dauerhaft und schul­ mäßig zu erledigen erfordert viel Übung und etwas Überlegung. Die Adepten des Fudji-bama unterteilen sich übersichtlich in fünf Klassen: Der An­ fänger trägt keinen Spaten und darf gar nichts verstecken, von sich selbst einmal abgesehen. Man sieht ihn also selten, und

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wenn man ihn sieht, wird er sofort zum Klein-Meister befördert. Der Klein-Meister - er trägt einen klei­ nen Spaten — gräbt ein 50 cm tiefes Loch, gibt seine Blumen hinein und macht es wieder zu. So wird er bald Meister. Der Meister, der einen großen Spaten tragen darf, gräbt ein 50 Meter tiefes Loch — und tut desgleichen. Der Groß-Meister trägt einen Spaten von der Größe eines Streichholzes und gräbt damit ein Loch von der Größe einer Streichholzschachtel, denn er weiß wohl, daß die Wahrscheinlichkeit, daß einer seine Blumen in dieser Tiefe findet, kaum größer ist, als sie es in 50 cm oder 50 m Tiefe wäre. Zumal kein vernünftiger Senigiroba auf die Wahnsinnsidee käme, nach vergrabenen Blumen zu buddeln. Der Ganzgroß-Meister — er trägt einen schwarzen Spaten, benutzt ihn aber nicht — wählt weise ein bereits vorhandenes Loch zum Versteck, das er einfach mit Steinen bedeckt.

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Auf diese Weise soll das MusgraveGebirge in Zentralaustralien entstanden sein. Der Alt-Meister endlich trägt über­ haupt keinen Spaten. Er kennt ein viel sichereres Versteck, das er jedoch nie ver­ rät, weil es ja sonst nicht mehr sicher wäre. Ich habe es trotz all meiner Grabungen nie herausbekommen. Ich weiß nur, wo er seine Blumen mit Sicherheit nicht ver­ steckt. »Alles was geht oder steht, fährt oder sich beschwert, fließt oder niest oder grob­ karierte Hosen trägt, kommt als Versteck nicht in Frage«, belehrte mich Urug. Auch die Methode, Steine an Blumen zu binden und sie dann in Seen, Flüssen oder Vasen zu versenken, lehnt der Alt-Meister ab. Aus dem klassischen Fudji-bama haben sich im Lauf der Jahrtausende übrigens Nachfolgehobbys wie das Fudji-wo und das Bama-da entwickelt. Sie sind jedoch min­

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der angesehen. Ich würde sogar sagen, zum Blumen-Verstecken verhalten sich das Blumen-Suchen und das BlumenFinden ungefähr wie klassische Musik zum bloßen Lärmschlagen bzw. zum Musik-Hören. Der Alt-Meister spricht: »Fudji-bama ist eine Kunst, Fudji-wo ist ein Spiel für Kinder und Bama-da ist ein ausgemachter Unfug und irgendwie ganz blöde.« Und Urug fügt hinzu: »Wo soll man dann wie­ der hin mit dem ganzen Buntzeug?« Ich möchte mit dieser Frage keineswegs von einer anderen ablenken, die da in mei­ nen Worten lautet: Anfänger, KleinMeister, Meister, Groß-Meister, Ganz­ groß-Meister und Alt-Meister — das sind die sechs Grade des Fudji-bama. Du aber sprachest anfangs von fünfen. Warum? Urug antwortete mir mit einer Gegen­ frage, wie so oft. »Wenn der Anfänger kei­ nen Spaten trägt und der Alt-Meister auch nicht, wie willst du die beiden unter­ scheiden, da dieser noch keine Blume je

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versteckte, während jener nie preisgeben darf, wo er es tat?« So begriff ich, daß das aboriginale Fudji-bama die einzige Kunst ist, die ihre Anfänger aus den Alt-Meistern rekrutiert und sich dergestalt aus sich selbst fort- und fortzeugen kann. Und ähnlich funktioniert auch das ab­ originale Horoskop: das Mittel wird der Zweck, das Zeichen die Deutung, der An­ fang das Ende und das Rätsel ist seine Lösung selbst. Bumerang, Hammer, Finger, volle und leere Bierdose, Brummei und Beule — das sind der Tage sieben. Habet nun acht!

5. Moment noch!

Ich sprach von drei alten Bräuchen, und es gibt tatsächlich noch einen.

Moment noch!

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Der ist allerdings so tabu, daß ich lange gezögert habe, ob ich ihn überhaupt er­ wähnen sollte, und ich bin immer noch unsicher, ob ich es tue. Denn erzählte ich davon, träfe mich wo­ möglich der Fluch der Senigiroba, und der wirkt über weite Strecken. Er besteht übri­ gens darin, den Verfluchten so lange zu ignorieren, bis er selbst an seinem Vorhan­ densein zu zweifeln beginnt, und damit anfängt, in Lokalen seine Rechnungen nicht zu bezahlen. Wo das endet, ist klar. Andererseits bin ich immer noch der erste und einzige Weiße, der jenem umwitter­ ten Ritual je beiwohnen durfte - d. h. ich durfte natürlich nicht. Aber ich habe. Machen wir also einen Kompromiß: ich verrate nicht alles und auch das nur in Andeutungen, die ich zudem stramm ver­ traulich behandelt wissen möchte. Man nehme: Auf einen Liter Wasser etwa zwei gestrichen volle Teelöffel Pulverkaffees (Urug benutzte entcoffeinierten der

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Die drei Bräuche

Marke »Wild + Fein«) und einen Wacker­ stein. Das kalte Wasser gebe man in ein Gefäß, wobei darauf zu achten wäre, daß dieses groß genug ist, damit jenes nicht überschwappt. Urug benutzte als Kenner dieser Gefahr seine zinkerne Sitzbade­ wanne. Das mag übertrieben klingen, ist es jedoch nicht, denn immerhin muß da auch der heiße Stein noch hineinpassen. Erhitzt wird dieser Stein auf einem Herd. Zwei Herde zu verwenden wäre ja reine Energieverschwendung. Und mit Energie geht der Senigiroba immer spar­ sam um, vor allem mit der eigenen. Tatsächlich hat der Senigiroba keine andere Tätigkeit zu solch hehrer Verkom­ menheit entwickelt wie das Kaffeekochen. Man frage mich nicht warum. Es ist so. Nur in der aboriginalen Kaffeezeremonie vereinen sich Sinnfälligkeit des Vorgangs, Zweckhaftigkeit des Vorgehens und Hin­ fälligkeit des Vorgehenden, zumindest was Geist- und Körperbeherrschung be­ trifft, zu einer harmonischen Vielfalt, vor

Moment noch!

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der das eigentliche Ergebnis der geheilig­ ten Handlung fast zwangsläufig etwas ver­ blassen muß. Mir war der australische Kaffee jedenfalls immer zu dünn. Das Vergnügen einem Meister wie Urug bei der Zubereitung desselben zu­ schauen zu können, entschädigt jedoch für manche Entbehrung. Auch wenn man da­ bei in recht unbequemer Haltung unter dem Loch hocken muß, das Urug als Küchenfenster benutzte. Ich sah eben noch, wie Urug nun das Problem löste, den glühend heißen Stein in die Badewanne zu bugsieren, ohne sich die Finger zu verbrennen. Er rückte seine Sitzbadewanne vor den Herd mit dem Stein und brauchte nun diesen nur mehr so weit zu kippen, bis jener wie von selbst und der eigenen Schwerkraft gehorchend in das kalte Wasser rauschte. Es zischte. Dies war der Moment, in dem auch mir die Ohren rauschten und jähe Schwäche meinen Blick beschlagen machte. Die Beine, überbeansprucht von der geduck-



Die drei Bräuche

ten Haltung, ausgehöhlt von der Angst, entdeckt zu werden, und wie gelähmt von der Gefahr, dann mittrinken zu müssen, gaben unter mir nach. Ich fiel etwas un­ glücklich. Als ich wieder zu mir kam, war alles zu spät, und so habe ich den letzten Teil des Zeremoniells, das eigentliche Kaffeetrin­ ken, leider versäumt. Ich nehme aber an, daß Urug diesen mit der gleichen beiläufi­ gen Eleganz bewältigte wie jene, die vor­ aufgingen. Auch den Namen des Rituals kenne ich nicht. Ich nenne es, wenn ich davon er­ zähle, gern Ich-presso, eben weil es ein Vor­ gang von solch hermetischer Intimität ist, daß es mit dem unpersönlichen Spektakel, das wir unter Espresso verstehen, wirklich nichts zu tun hat. Außerdem fehlt die Sahne — sonst wär’s ja Capuccino. Weitere Bräuche braucht der Senigiroba offenbar nicht. »Wozu auch?« fragt Urug zurecht.

Moment noch!

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»Der Mensch ist ein einfaches Wesen. Er wird geboren, um zu leben. Er lebt, um zu sterben. Und er stirbt, um wieder geboren zu werden.« »Ach«, hakte ich nach. »Du glaubst also an eine Wiedergeburt?« »Ich schon«, antwortete Urug, »was hätte der Tod denn sonst für einen Sinn?« »Und glauben alle Senigiroba daran?« »Nur manche«, schränkte Urug ein, »und manche nicht.« »Welche glauben denn daran?« »Die wiedergeboren wurden.« »Und wer wird wiedergeboren?« »Wer daran glaubt.« Da mir die Antwort sinnlos erschien und weiteres Fragen fruchtlos, kam ich lieber auf das aboriginale Horoskop zurück. »Was lernen wir daraus?« fragte ich frank. Urug fragte zurück: »Du oder ich?« »Ich.« Urug lächelte nur, als wolle er sagen: »Was du eben kannst.« Dann korrigierte

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Die drei Bräuche

er sein Lächeln in Richtung: »Was du willst.« Und der Meinung bin ich auch. Es hängt nie von der Lehre ab, was einer lernt. Und wenn einer nichts lernt, so spricht das nur gegen ihn.

Die sieben Zeichen

I. DER BUMERANG

Wir verbildeten Mitteleuropäer verstehen unter einem Bumerang ein gekrümmtes Stück Holz, das stets zu dem Ort zurück­ kehrt, von dem es abgeworfen wurde. Auch der Mensch, der unter diesem Zei­ chen geboren ward, neigt dazu. »Laß nie einen Bumerang in deine Hütte, denn du wirst ihn nimmer wieder los, so oft du ihn auch hinauswerfen magst«, riet mir Urug schon bei unserer ersten Begegnung. Später fügte er hinzu: »Viel Wind — wenig Regen.« Damit trat er in seine Hütte und ließ mich zum wieder­ holten Male draußen vor der Matratze stehen, die ihm als Tür diente; wie einen aufdringlichen Eindringling. Und war ich denn damals mehr als das? Allerdings. Immerhin vermochte ich schon, Urugs enigmatische Sprüche in un­ sere Begrifflichkeit zu übertragen. »Viel Wind — wenig Regen« — das meint einer­

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Die sieben Reichen

seits, der Bumerang sollte gefälligst darauf achten, daß er seine zweifellos vorhan­ denen Energien nicht in blindwütigem Aktionismus aufbraucht. Die Gefahr, von einem Bumerang naß gemacht zu werden, scheint dagegen relativ gering. Ansonsten ist der Bumerang, am Jagtag geboren, natürlich der geborene Jäger. Ich selbst bin das beste Beispiel für seine waidmännischen Tugenden. Die Art, wie ich in Urug mein Opfer witterte, erkannte und mich sogleich auf den Wehrlosen stürzte, um ihn für 30 Jahre nicht mehr aus meinen Klauen zu lassen, spricht wohl für sich; und für mich. Manch anderer hätte sich, aus falscher Scham oder gar Ehrfurcht vor dem frem­ den Kulturkreis, dessen letztem Vertreter gar nicht oder nur zögernd genähert, ihm frühestens nach umständlicher Anpirsch in Form klebriger Höflichkeitsfloskeln und windelweicher Entschuldigungen sein Wissen entrissen. Nicht so ich! Die Kunst des Pirschens besteht nämlich laut Urug

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darin, immer den geradesten Weg zum Ziel zu nehmen. »Mach’s kurz und schmerzlos, bitte!« jammerte er immer wieder. Ja, mit einem gezielten Biß traf ich ins Herz seiner Geheimnisse — und was ich einmal zwischen den Zähnen habe, das lasse ich so schnell nicht wieder los. Man nennt mich auch den Kippenquäler! Ich bleibe dran, selbst wenn ich, wie in diesem Fall, lange daran zu kauen hatte und das Gefühl nie ganz loswerden konnte, mit Abfällen abgespeist worden zu sein. Denn der Bumerang ist nicht bloß ein gewaltiger Jäger, sondern auch ein beachtlicher Heger. So hege ich immer noch den Verdacht, Urug habe mir das verschwiegen, was mir, ohne recht zu wis­ sen, was es genau sein sollte, die ganze Zeit als das Eigentliche vorschwebte. »Oh, so oft sind aber die Nebensachen gerade die Hauptsache«, lehrte mich Urug. Doch eben als ich begriffen zu haben glaubte, was er meinte, setzte er

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Die sieben Reichen

sengend hinzu: »Oder umgekehrt.« Und ich stand wieder am Anfang. Selbst heute kommen mir meine zen­ tralaustralischen Abenteuer manchmal noch wie ein böser Traum vor; und wären da nicht die vielen bunten Fahrkärtchen, die mir von meinen unzähligen Busreisen zu Urugs geheimem Heimatort geblieben sind, und für deren Anerkennung als Studienfahrt-Belege ich immer noch mit den zuständigen Finanzämtern einen un­ würdigen Kampf auszufechten habe, der für mich durchaus um Leben oder Fett­ leben geht, wäre ich wohl längst geneigt zu sagen: »Vergiß es.« Aber dann kommt wieder einer dieser seelenlosen Computer­ briefe und ein kurzer Blick in die SollSpalte macht mir mitleidlos klar, daß diese Niederschrift der Lehren meines AltMeisters Urug nicht allein um ihrer Ver­ breitung willen unabdingbar notwendig ist. Natürlicher Partner des Bumerangs ist übrigens die Beule. Doch davon später.

Der Bumerang

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»Der Bumerang ist frei zu fliegen, wohin ich will.« So lehrt der Meister, und er ruft dir zu: »Schwirr bloß ab!«

II. DER HAMMER

»Weckt das Feuer und brennt doch nicht — was ist das?« fragte mich Urug häufig. Und ich hatte zu antworten: »Das ist natürlich der Hammer.« Und so ist auch der Hammer-Mensch: ein Anreger, kein Vollender. Es ist ja be­ kannt, daß die wahrhaft produktiven Kräfte nichts dauerhaft zu gestalten ver­ mögen. Immerzu steckt der Hammer vol­ ler Ideen und Pläne, selten führt er sie aus. »Man müßte eigentlich mal . . .«, lautet seine Devise. Jeder kennt doch diesen tief ineffizienten Typ, der gern bei Brainstorms und Podiumsdiskussionen sitzt, auf Lehrstühlen und Oppositionsbänken, in Redaktionen und Agenturen und natür­ lich in Kneipen. An seiner Schlagfertigkeit sollt ihr ihn erkennen. Betrittst du eine Kneipe, und einer ruft: »Tür zu!« Und du fragst harm­ los: »Wieso?« Und der antwortet: »Weil

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sonst der ganze Rauch rauszieht!« So war das gewiß ein Hammer. Und wenn du ihm dann ein Mineralwasser spendieren willst, und er sagt: »Ich trinke nie Wasser.« Und du fragst wiederum: »Wieso?« Und er sagt: »Da ficken Fische drin.« Dann war es W. C. Fields; ein typischer HammerMensch, der ja in all seinen Filmen Opfer eigener fixer Ideen war. Gerade Komiker und andere eher romantische Kunst Schaffende sind meist im Zeichen des Hammers geboren. Beethoven z. B. verdanken wir sogar das Hammer-Klavier und einige durchaus brauchbare Sonaten dafür. Urug freilich wußte von solchen Kom­ positionen nichts — woher denn auch? als er mir anvertraute: »Trifft ein Hammer auf eine Brummei, kann astreine Musik herauskommen - trifft er dagegen auf ei­ nen Finger, dann . . . hahahoho . . .« Und er lachte sein satyrisches Greisenlachen, so donnernd und nachhallend, daß die Wüstenspringmäuse sich ganz tief in ihren

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Löchern verkrochen, und die Mäusebus­ sarde tot von den Kakteen fielen, nach­ dem sie tagelang gefastet hatten, weil ihre Beutetierchen sich nicht wieder heraus­ trauten. Jaja, die Natur hat was Mörderisches. Urug lehrt: »Die Natur ist Mutter und Vater für dich; deshalb gehst du ihr besser aus dem Weg. Und wenn das nicht mehr möglich ist, dann wechsle wenigstens die Straßenseite.« Ich persönlich habe mich immer be­ müht, den Einfluß der Natur in Grenzen zu halten. Ich mag es nicht, wenn sie sich in mein Privatleben einmischt. Denn sie ist unberechenbar und neigt zu größeren Katastrophen. Der Hammer-Geborene freilich bewun­ dert gerade diese feurigen Ausbrüche am meisten an ihr. Er ist so einer, der freiwillig Vulkane besteigt, zum Skifahren Lawinenhänge bevorzugt, Wattwanderungen auch bei aufkommender Elut niemals abbricht und

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in Restaurants grundsätzlich alles weg­ putzt, was ihm vorgesetzt wird. Er trotzt der Natur auf seine Art, indem er sich bemüht, ihr Vorbild noch zu über­ treffen. Besonders als Autofahrer ist er eine echte Katastrophe. Sein Lebensdurst ist auch durch doppelte Cognacs kaum zu stillen, seine Lebenserwartung ent­ sprechend gering. Keiner aus unserem Kulturkreis hat die Zwienatur des Hammers intuitiv so klar erkannt wie der Lyriker F. W. Bernstein, dessen »Ode an einen Hammer« so endet: ». . . man kann Dich zu Kriegszwecken benutzen, aber auch zu Werken des Friedens. Letzteres will ich loben. Doch das mit den Kriegszwecken: Hammer! Das will mir gar nicht gefallen.«

III. DER FINGER

Der Finger ist ein in jeder Hinsicht nütz­ liches Glied jeder menschlichen Gesell­ schaft. Besondere Ausdauer und Beweg­ lichkeit werden ihm nachgesagt. Auch große Körper- und Heilkräfte stecken in jedem Finger. Ein altes Senigiroba-Märchen — übri­ gens das einzige, das ich kenne — erzählt, wie der Mensch zu seinen zehn Fingern gekommen ist. Es war in grauer Vorzeit, und der Mensch war damals das allerverächt­ lichste Wesen auf der ganzen Welt. Er hatte die Form einer Birne mit klumpigen Auswüchsen dort, wo eigentlich Arme und Beine sitzen sollten, und lebte unter der Erde, in Höhlen bei Olmen, Molchen und quallenartigen Molluskeln. Da ging ein Erleuchteter über die Erde, stolperte und fiel in eben eine solche Höhle. (Wieder das Motiv des Hinfallens!

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Das kann kein Zufall sein.) Seine Licht­ gestalt erleuchtete die Unterwelt, und als er der birnenförmigen Menschen ansichtig ward, versprach er ihnen: »Ihr sollt zehn Wünsche frei haben, falls ihr mich aus der Nacht dieser Höhle hinauf ans Tageslicht befördert.« Da bildeten die Birnenförmigen einen Haufen, so hoch, bis der Erleuchtete wie­ der oben war. »Und nun zu euren Wün­ schen«, sprach er. »Den Molchen soll der Schwanz ab­ fallen!« »Die Olme sollen blind werden!« »Tod allen Quallen!« »Meine Frau soll der Teufel holen!« »Ich geh’ja schon . .« — »Nicht den Teu­ fel - der Teufel!« - »Ich soll der Teufel holen?« - »Nein, den - ach was, der Teufel soll dich holen!« »Mir?« »Mein Gott!« stöhnte der Erleuchtete, als die Menschen so durcheinander spra­ chen. »Was seid ihr Menschen nur für ein

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Gezücht!? Fällt euch denn wirklich nichts Besseres ein, als eure zehn Wünsche für Bösartigkeiten zu vertun?« Eine gewisse Stille, die irgendwie betrof­ fen wirkte, trat ein. Dann sagte einer der Birnenförmigen mit seiner stickigen Stimme: »Das kommt, weil wir nix können zähle-zähle machen.« »Nicht einmal bis zehn?« »Längst nicht.« Darauf schenkte ihnen der Erleuchtete umgerechnet zehn Mark und erklärte: »Für jeden Wunsch, den ihr habt, gebt ihr mir eine Mark zurück, dann wißt ihr, wann eure zehn Wünsche erfüllt sind.« Nun hielten die Birnenförmigen eine große Beratung ab, und nachdem sie zehn Tage und zehn Nächte lang palavert hat­ ten, sprach einer: »Wir hätten gern drei Päckchen Zigaretten und für den Rest Streichhölzer.« »In Ordnung«, seufzte der Erleuchtete, »drei Päckchen Zigaretten kosten neun

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Mark . . . aber vielleicht solltet ihr statt für eine Mark Streichhölzer lieber eines dieser praktischen Gasfeuerzeuge nehmen . . . dann kriegt ihr auch noch dreißig Pfennig raus.« So ward es beschlossen. Und der Er­ leuchtete entschwand in einer Rauch­ wolke. Doch als endlich jeder Mensch eine Zigarette im Mund hatte, mußten sie fest­ stellen, daß keiner in der Lage war, mit dem Gasfeuerzeug umzugehen. Wie denn auch — ohne Finger? Da erhob sich ein größeres Wehklagen, und sie verfluchten den Erleuchteten tau­ sendfach. Ja, und an dieser Stelle des ab­ originalen Prometheus-Mythos muß ich wohl eingenickt sein, so ungefähr beim dreißigsten oder vierzigsten Fluch. Die Literatur der Senigiroba besteht nämlich zum überwiegenden Teil aus sol­ chen Schimpftiraden. Ihre Sprache ist für Polemiken besonders reich ausgebildet; ähnlich wie die Eskimos können sie prak­

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tisch jedes Wort durch Anhängen einer einzigen Silbe in eine Beleidigung verwan­ deln. Diese Silbe aber lautet -ug, was im Deut­ schen so viel wie Käsekuchen bedeutet. Als ich wieder aufwachte sprach Urug bereits über die Feinheiten der aborigina­ len Medizin. »Jede Krankheit«, sagte er, »ist ein­ malig, wie auch jeder Mensch einmalig ist und jede Heilung es zu sein hat.« Das klingt doch logisch. Der experimen­ telle Furor dieser Art Brachial-Therapie fordert freilich Opfer. Deshalb lehrt Urug: »Der beste Arzt ist die Natur.« Sie hat nur so selten Sprech­ stunde. Deshalb lehrt Urug weiter: »Der zweit­ beste Arzt ist der Finger. Lege einen Fin­ ger auf deine Wunde und du wirst viel­ leicht geheilt werden.« Nun wollte ich aber genau wissen, ob er jetzt einen eigenen Finger oder einen Fin­ ger eines Fingergeborenen oder gar den

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Fingergeborenen selbst meine. Und Urug antwortete: »Das kommt darauf an.« Ich habe nie erfahren, worauf. Wahr­ scheinlich auf die Größe der Wunde. Infektionskrankheiten waren übrigens für die Senigiroba eine ebenso neue wie tödliche Erfahrung. Natürliche Abwehr­ stoffe fehlten. So hat etwa die erste und letzte Diabetiker-Schluckimpfung Urugs ganzen Stamm, bis auf seine Ausnahme, weggerafft. Und auch ihn hätte es be­ stimmt erwischt, wenn er nicht am Impf­ tag wegen seiner Schlafstörungen daheim geblieben wäre. »Weißt du, normalerweise stört es mich nicht, wenn ich beim Frühstück wieder einschlafe; aber daß ich so meinem siche­ ren Tod entgangen bin, das ärgert mich natürlich schon.« Diese Äußerung ist bezeichnend für die Einstellung der Senigiroba zum Tod: positiv, durchgehend positiv. Auch darauf kommen wir zurück, wenn erst die Beule dran ist.

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Noch ein letztes Wort zum Zeichen des Fingers. Wie alles, was so nützlich ist, ver­ breitet auch der Finger eine Menge Lange­ weile. Urugsagt: »Einen Finger kann man un­ terbrechen — aber fünf Finger quatschen dir glatt ein Ohr ab.«

IV. DIE VOLLE BIERDOSE

Standen die ersten drei Tage unter ein­ deutig männlichen Vorzeichen, so wird die Mitte der Senigiroba Woche (unser Donnerstag — ihr Trinktag) von einer Art Mischzeichen regiert. Die Bierdose an sich ist natürlich weib­ lich, ihr Inhalt, also das Volle an ihr, kann hingegen durchaus maskuliner Prove­ nienz sein. Das hört sich weniger kompliziert an, als es ist. »Für jeden Menschen gibt es nur ein Geschlecht«, lehrt Urug und fährt mit der Offenheit des Naturburschen fort: »Schau nur zwischen deine Beine, du Sack.« »Wie aber, Meister, verhält es sich mit dem anderen?« »Welchem anderen?« »Dem anderen Geschlecht?« Keine Antwort. Doch so schnell mochte ich mich nicht

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geschlagen geben; gerade weil es hier um Sexualität ging, und Sexualität hat mich schon immer interessiert. Und diese Naturvölker sollen ja in dieser Beziehung die dollsten Bräuche haben. Deshalb fragte ich lauernd: »Gibt es nicht doch zwei Geschlechter? Eines, das obenherum . . .« Urug trat mich in den Unterleib und fragte zurück: »Was spürst du?« Ich spürte, daß ich einem Geheimnis auf der Spur war, konnte jedoch nicht so­ gleich antworten. Also tat er es: »Dein Geschlecht.« So ging ich das nächste Mal noch behut­ samer zur Sache. »Die Frauen sind doch ein offenbares Geheimnis, das gerade des­ wegen so geheimnisvoll bleibt, weil es so offenbar ist.« Keine Reaktion. Ich wieder: »Wenn ich eins nicht ver­ stehe, dann sind es die Frauen . . .« Kein Kommentar. Ich präzisierte: »Tja Weiber . . .«

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Da biß er an und sprach: »Frauen sind leere Bierdosen, die wir irgendwie voll machen.« Das erinnerte mich an einen ebenso zar­ ten Ausspruch Goethes: »Frauen sind sil­ berne Schalen, in die wir goldene Äpfel legen.« Urug schien das Bild sehr zu gefallen, denn er prustete sofort los und gnickerte dann sehr lange. Endlich sprach er: »Man muß sie schon in ihrer Liebenswürdigkeit gewähren lassen.« »Wen?« Da sah er mich prüfend an. Viel später erst bekam ich aus ihm her­ aus, daß sein Glaube ihm verbot, Mutma­ ßungen über das weibliche Geschlecht an­ zustellen. Da mich in dieser Beziehung kein Gebot hemmt, habe ich meine Mutmaßungen über die Sexualität der Senigiroba in ei­ nem kleinen Exkurs zusammengefaßt:

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Kleiner Exkurs über die Sexualität der Senigiroba

Bei fremden Völkern interessiert natürlich jeden, wie sie es machen. Denn daß sie es machen, davon legt ihre bloße Existenz ja unmißverständlich Zeugnis ab. Ich trage jenem Interesse Rechnung, indem ich die­ sen heiklen Punkt streife, obwohl ich auch nicht genau weiß, wie sie es machen. Sie reden ja nicht darüber, sie tun es einfach. Und daß sie es nicht auf unsere Weise tun, kann man sich leicht vorstellen, zumal es sonst auch keinen Sinn ergäbe, darüber zu schreiben. Wie denn nun? Gerade über die diesbezüglichen Sitten und Gebräuche von Naturvölkern kursieren ja die wilde­ sten Berichte und Gerüchte, wie gesagt. Ein Teil davon mag der Wahrheit ent­ sprechen, ein anderer - womöglich der größere, vielleicht aber auch der geringere — gewiß nicht. Nein, die Vorstellungskraft des Europäers von zielgerichteter Energie und purer Willenskraft des Natur­

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menschen übertreibt leicht die Unter­ schiede, die man freilich auch nicht weg­ leugnen kann und soll. Ich jedenfalls wehre mich dagegen, ge­ rade auf diesem Gebiet zu verharmlosen und zu verniedlichen, da diese Haltung mindestens ebenso gefährlich wirkte, wie die idealisierend heroisierende, die von mir seit jeher bekämpft wurde. Es ist sicher nicht anmaßend zu be­ haupten, daß ich von allem Anfang an ein geschworener Feind jener schlau berech­ neten Andeutungen gewesen bin, die so geeignet sind, Erwartungen zu wecken, deren Einlösung nur mit Hilfe weiterer Andeutungen und der lockeren Verknüp­ fung scheinhafter Beweisketten auf dem Rücken des ernsthaft Interessierten ebenso ausgetragen würde wie auf dem des schamlosen Voyeurs, dessen Optik mir un­ möglich macht, Dinge auszubreiten, die letztlich das Leben jedes Menschen mehr oder weniger mitbestimmen, und deren Bedeutung Appelle an Sensationslüstern-

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heit ebenso unangebracht erscheinen las­ sen, wie falsche Scham und Prüderie, deren Überwindung erste Voraussetzung dafür ist, nicht ins extreme Gegenteil zu verfallen, und so durch schamlose Offen­ heit jene Bereitschaft zu zerstören, die allein der Vermittlung solch intimer Details nicht im Wege stehen sollte oder muß. Zur Sache: Weibliche und männ­ liche Sexualität sind auch bei den Senigiroba recht verschieden und anschau­ lich geschieden, indem jene vorzüglich Frauen, letztere dagegen fast ausschließ­ lich Männern vorbehalten bleibt. Der Ge­ schlechtsverkehr ergibt sich aus der Ver­ bindung dieser beiden Prinzipien. Im übrigen lasse ich mir hier nicht die Erinnerung an einen Menschen beflecken, vor dessen Bild im Schrein meiner Erinne­ rung immer eine Kerze brennen wird; da­ mit ich mich im Dunkeln nicht vor ihm fürchte. EXKURS ENDE

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Die Verschiedenartigkeit und Trennung der Geschlechter ist nach Auffassung der Senigiroba eine Strafe Gottes, deren Strenge man nur dadurch etwas mildern kann, indem man so wenig wie möglich darüber nachdenkt und noch weniger da­ von spricht. In ihrer Paradiesvorstellung kommt nur ein Geschlecht vor. Diese Lehre erklärt zumindest die auffällige Vorliebe vieler Männer — nicht nur bei den Senigiroba — für den Militärdienst. »Gäbe es tatsächlich zwei Geschlechter — wie unendlich unglücklich müßten wir sein!« sagte mir Urug einmal vertraulich. Und als ich antwortete: »Es gibt aber zwei!« begann er prompt zu weinen wie ein kleines Kind und nannte mich den ganzen Abend »Mutti«. Ich nutzte die Gelegenheit, ihm alles Wissenswerte über das Zeichen der vollen Bierdose zu entlocken. Und ich muß schon sagen, wer das Glück hatte, am Trinktage geboren zu werden, ist tatsächlich fein raus und zum Höchsten bestimmt.

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»Redegewandt wie das Schnabeltier, zungenfertig wie der Ameisenbär und an­ passungsfähig wie das Chamäleon kann jeder sein. Auch zäh wie das Zähbra, hart wie das Hartferkel und flink wie der Fink zu sein, ist keine Kunst. Das gleiche gilt für die Putzigkeit des Koalabären — aber: wirklich stark und reich ist nur die volle Bierdose allein.« Soweit Urug. Wir lernen: physische Brutalität und jede Form von Besitz gelten bei den Senigiroba wie bei den meisten Naturvölkern als besonders verehrungsund erstrebenswürdig. »Immer feste druff!« Und: »Haste was, biste was!« lauten die Maximen, nach de­ nen der Senigiroba-Staat organisiert war. Das Recht war immer aufSeiten des Stär­ keren oder bei jenem, der es sich leisten konnte, einen noch Stärkeren zu bezahlen. Für uns wird diese Idealgesellschaft gleichwohl Utopie bleiben müssen, da uns die wichtigste Voraussetzung für ihr Funktionieren nun mal fehlt: das magi-

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sehe Denken. Parole: »Mag isch oder mag isch nischt.« Auch der alte Konflikt zwischen Haben und Sein ist im Zeichen der vollen Bier­ dose aufgehoben. »Ich habe also bin ich«, lehrt Urug sinngemäß. Er drückt es sogar noch klarer aus: »Ich habe einen Rausch, also bin ich betrunken.« Und so wird aus der vollen eine leere Bierdose.

V. DIE LEERE BIERDOSE

Das Zeichen der leeren Bierdose ist ganz eindeutig weiblichen Ursprungs. Urugs Auslassungen darüber sind entsprechend spärlich. Als ich ihm einmal nebenbei erzählte, daß es dort, wo ich herkomme, Menschen gibt, die ihr Leben damit verbringen, zur Schule zu gehen und zu lernen, um sodann wieder zur Schule zu gehen und das zu lehren, was sie gelernt haben, murmelte er nur: »Leere Bierdosen lehren Bierdosen.« Ich schließe daraus, daß es an sich schon keine besonders geistreiche Beschäftigung ist, eine leere Bierdose zu sein. Für die Senigiroba ist das Lernen eine durchgehend schmerzliche Erfahrung. »Der Mensch lernt nur, was ihm weh­ tut«, lehrt Urug und bestätigt damit die mnemotechnische Funktion grausamer Initiationsriten und körperlicher Züchti­ gungen aller Art.

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So erkläre ich mir auch, daß Urug jeden Satz, der ihm wichtig genug schien, mit einer Ohrfeige oder mehreren begleitete. Ein typisches Beispiel: »So wie man das Leben als Kunst des Wegnehmens be­ greifen darf und zur Handhabung des Bumerangs der Kunst des Wegwerfens be­ darf, während der Tanz die Kunst des Weglaufens bedeutet, so möchte ich die Architektur als eigentliche Kunst des Weglassens bezeichnen.« Ich (wohlwissend, daß die Senigiroba es nie fertiggebracht haben, auch nur die einfachste Hütte zu erbauen, wie sie ja überhaupt nicht mehr Kulturgüter ge­ schaffen haben als hierzulande jeder Blu­ mentopf enthält): »Wieso?« Er: »Du sollst, klatsch, (Ohrfeige) mir nicht, klatsch, dauernd so blöde Fragen stellen, klatsch, klatsch!« Ich: »Warum nicht?« Er: »Darum nicht — klatsch, klatsch, klatsch . . .« So habe ich mehr von Urug gelernt als

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aus klügeren Büchern, weil die natürlich nicht so schlagfertig waren. Vor allem lernte ich zu schweigen. Ich wurde der reinste Teufelsschweiger. Oh, ich konnte bald dermaßen schweigen, daß selbst der Meister es manchmal nicht mehr aushielt. Er: »Warum sagst du nichts?« Ich:-----Er: »Willst du denn gar nichts mehr fragen?« Ich:-----Er: »Willst du nicht einmal wissen, was die leere Bierdose bedeutet und wozu sie gut ist?« Ich: (mit letzter Kraft) — Er: »Dazu ist sie gut — klatsch!« Ich: »Warum hast du mich geohrfeigt?« Er: »Ich habe dich nicht geohrfeigt, sondern nur eine Hummel gefangen, die sich auf deinem dummen Gesicht nieder­ gelassen hatte.« Ich: »Warum hast du jene Hummel ge­ fangen, die sich auf meinem dummen Ge­ sicht niedergelassen hatte?«

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Er: »Das sagte ich bereits.« Ich: »Wann denn?« Er: »Du sollst, klatsch! — mir nicht — klatsch! . . .« undsoweiter. Urug hatte recht: Ja, die Frage war tatsächlich wieder eine überflüssige. End­ lich begriff ich: die leere Bierdose ist ausschließlich dazu gut, sich selbst über­ flüssig zu machen. Nur indem sie sich auf­ hebt, kann sie beweisen, daß sie nicht überflüssig war. So wie ein Lehrer letztlich dazu da ist, sich selbst überflüssig zu machen und nur dadurch beweisen kann, daß er es nicht schon immer war. Wie jedoch ein Schüler auf die Wahn­ sinnsidee kommen kann, selbst Lehrer zu werden, ist mir ein Rätsel geblieben, obwohl ich selbst ein Beispiel dafür ge­ worden bin, indem ich Urugs Lehre von der Überflüssigkeit des Lehrens und Lernens gelernt habe und hier weiter­ lehre. Und so fängt die leere Bierdose Hum­ meln, auf daß sie und ihr Schicksal sich

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erfüllen, und man eine Brummei aus ihr machen kann.

VI. DIE BRUMMEL

Die Brummei regiert den Tanztag (Sams­ tag). Der Tanztag ist der Tag des Tanzes. Am Tag des Tanzes wird getanzt und ge­ sungen. Gesungen werden verschiedene Lieder. Lieder der Senigiroba gibt es ins­ gesamt vier: ein Jagdlied, ein Liebeslied sowie zwei schwerspezifizierbare Wechsel­ gesänge. Das Jagdlied ist gereimt: Leute, heute fette Beute! Schlagt das Känguruh tot, Jungs! Schlagt das Känguruh tot. Das Liebeslied ist auch gereimt: Ich liebe die Art, wie du läufst. Ich liebe die Art, wie du seufzt. Trotzdem finde ich, du hast jetzt genug gesoffen. Ich liebe die Art, wie du guckst. Ich liebe die Art, wie du spuckst. Pfui, jetzt hast du genau in mein Auge getroffen.

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Ich liebe die Art, wie du liegst. Ich liebe die Art, wie du riechst. Ichfinde allerdings, du hast schon mal besser gerochen. Ich liebe die Art, wie du sprichst. Ich liebe die Art, wie du brichst. Aua, jetzt hast du mir den rechten Arm gebrochen. Ich liebe die Art, wie du gehst. Ich liebe die Art, wie du stehst. Doch, sag, muß das ausgerechnet auf meinem Fuß sein? Ich liebe die Art, wie du küßt. Ich liebe die Art, wie du schnüßt. Aber was soll denn dasfür ein Kuß sein? Hilfe! Hilfe! Ich ersticke! Hussa, hussa, he!

Schmissen, muß man dazu wissen, ist eine besondere Art zu küssen, die nur in Zen­ tralaustralien üblich und wohl auch mög­ lich war.

Der erste Wechselgesang ist weitgehend ungereimt: Vorsänger: Habt ihr meine Frau gesehen? Sie ging zum Fluß, um Wasser zu holen,

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und ist nicht zurückgekommen. Habt ihr meine Frau gesehen?

Chor: Wir haben deine Frau nicht gesehen. Vielleicht ist sie ausgerutscht und ertrunken, oder sie ist dir einfach fortgelaufen. Wir haben deine Frau jedenfalls nicht gesehen. Vorsänger: Warum stellt ihr dann so haltlose Hypothesen auf?

Chor: Weil es uns Vergnügen macht, du Sack! Hahahahahahaha . . .

Interessant, daß auch hier, in diesem an sich so fröhlichen Lied, die Urangst der Senigiroba vor dem Ausrutschen und Hin­ fallen wieder auftaucht. Sie spielt in dem zweiten Wechselgesang überhaupt keine Rolle, der sich dafür aber wieder reimt: Chor: Siehst du den Blitz in der Spitze des Baums? Glaubst du, er kommt aus der Tiefe des Raums?

Nachsänger: Das Leben ist nur der Traum eines Traums.

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Chor: Siehst du die Feder am Kleid ihres Saums? Glaubst du, sie kommt aus der Tiefe des Flaums? Nachsänger: Das Leben ist nur der Traum eines Traums. Chor: So, du glaubst also das Leben sei kaum mehr als der Traum eines Traums?

Nachsänger: Nein! Der Traum eines Traums eines Traums!

Chor: Warum nicht gleich: der Traum eines Traums eines Traums eines Traums? Nachsänger: Ja! Der Traum eines Traums eines Traums eines Traums eines Traums . . .

Undsoweiter. Von allen Liedern der Senigiroba ist dies vielleicht das längste und typischste. Es gibt allerdings noch ein Lied; aber das ist nicht echt. Hören Sie selbst: Chor der Frauen: Wir bringen alle Männer um und singen: dummdummdideldumm!

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Chor der Männer: Wir schlachten alle Frauen ab und singen: schabbadubischabb! Und nun alle: Wir hau’n uns gegenseitig tot und essen uns zum Abendbrot. Dann singen wir mit vollem Mund:

Der Rest ist unverständlich. Gottseidank. Unverständlich ist nämlich auch das ganze Lied, denn die Senigiroba sind alles andere als Kanibalen. Soweit ich es be­ urteilen kann, sind sie sogar strenge Vege­ tarier und ernähren sich hauptamtlich von Früchten des Vollkornbrotbaumes, Eukalyptushonig und Kaktusblütentee. Ich muß allerdings einräumen, daß Urug seine Mahlzeiten nie in meiner Gegenwart einnahm, da er dem Aberglau­ ben anhing, bei meinem Anblick würde ihm der Appetit vergehen. »Es liegt an dir, ob du weiterhin deinen Körper mit wertlosem Zeug füllst oder ob du auf Vollwertkost umsteigen willst. Dein

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Frühstück könnte dann aus zwei Scheiben Vollkornbrot mit dünn Butter und Honig mit i Tasse Tee oder Kaffee bestehen. Das reicht aus, um dich über den Vormittag zu bringen. Ei, Käse und Wurst zum Früh­ stück sind eine reine Schlemmerei und wenn du meinst, du brauchst sie, dann ist das dein Problem zu überlegen, was du mit deinen Süchten abdeckst. Das hat dann aber auch nichts mehr mit Ernäh­ rung zu tun. Deiner Kreativität sind natürlich keine Grenzen gesetzt.« Das sagt übrigens nicht Urug, sondern eine gewisse »Lisa« in der »Grünen Stadt­ teilzeitung Nordend«, die ich bei meiner Heimkehr in meinem Briefkasten fand. Auch wenn sie es nicht so gut ausdrücken kann, meint Lisa im Grunde doch das Gleiche wie Urug; was mir nur recht sein kann, verkaufstechnisch. »Das Tier ist mein Bruder«, pflegte Urug zu sagen, »und warum sollte ich meinen Bruder verspeisen? Er hat mir ja nichts getan.« Und mit einem Seitenblick

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auf seinen treuen fetten Dingo fügte er hinzu: »Noch nicht.«

VII. DIEBEULE

»Die Beule ist der Anfang und das Ende«, lehrt Urug. »Ich bin eine Beule.« Wo­ möglich erklärt diese Tatsache die beson­ dere Vorliebe des Meisters für das Zeichen derer, die am Schlaftag geboren wurden: Sonntagskinder. »Ich habe einen Traum«, sagte mir Urug, »und du kennst ihn, denn dieser Traum ist das, was du mein Leben nennst. Wie kann der leben, der nicht träumt?« Er sah mich zweiflerisch an und fuhr dann fort: »Ich bin, was ich bin. Und ich bleibe, was ich bin, weil ich nicht werden kann, was ich nicht war.« Ich begriff langsam: Von nichts kommt nichts. »Es gibt kein Fern, es gibt kein Nah. Es gibt kein Gestern und kein Morgen. Es gibt kein Böse und kein Gut.« Das absolute Primat des Hier und Jetzt. Auch gut — bzw. böse. Ich kann mich nicht mehr genau erinnern.

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»Es gibt kein Erinnern und es gibt kein Vergessen«, lehrt Urug. Vielleicht war es auch nur eine Entschuldigung für sein schlechtes Gedächtnis und seine Unfähig­ keit vorauszudenken. »Was ist schon Zeit? Einmal ist sie schnell wie der Blitz, dann wieder so lang­ anhaltend wie gewisse Donner. Sie ist leicht wie der Staub der Magnolienblüte oder schwer wie der Panzer der Schild­ kröte. Gradlinig wie deine Bügelfalten oder gewunden wie der Weg deines Kugelschreibers. Sie kann so hart sein wie der Schwanz der Beutelratte oder so weich wie deine Unterschenkel, geradezu wabblig. Die Zeit kann süß sein wie ein Eukalyptusbonbon oder aber auch ge­ nauso klebrig. Es gibt kein Maß, die Zeit zu messen. Unermeßlich ist auch der Raum.« Von so simplen Berechnungen wie Länge mal Höhe mal Breite hatte Urug natürlich nie gehört. »Auch ich bin maßlos«, sprach er. »Ich

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bin der Schatten und das Licht. Ich bin der Anstoß und der Stein. Ich bin der Bogen und der Pfeil. Ich bin der Nabel und die Welt. Ich bin der Nagel und der Sarg. Ich bin der Bahnhof und der Käse. — Kannst du mir überhaupt folgen, du Sack?« Ich nickte, obwohl ich geneigt war, das Ganze unter Selbstüberschätzung abzu­ haken. Endlich wagte ich zu fragen: »Und was bin ich?« »Ich bin der Brunnen, du der Krug. Ich bin die Grube, du der Fall. Ich bin die Katze, du der Sack.« Er lächelte fein. »Du bist der Esel, ich das Eis.« Dann rief er plötzlich aus: »Nein, jetzt hab’ ich’s: Ich bin der Kronleuchter!« Seine Begeiste­ rung riß mich mit: »Laß mich die Hose sein«, flüsterte ich. So hing ich an ihm. Er nahm mein Angebot danklos an. Dann fuhr er fort, in Bildern und Rät­ seln zu sprechen. »Wie sinnreich einge­ richtet ist doch diese Hose! Sie hat Löcher

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für die Füße, Taschen für die Hände, Röh­ ren für die Beine, einen Gürtel für die Beine — aber, sag mir, was sollen diese Bügelfalten?« »Meister, ich weiß es nicht«, mußte ich zugeben, »’s ist mal bei uns so Sitte.« Urug versank in Schweigen. Endlich sprach er: »Ist es nicht, als wollten diese Bügelfalten uns lehren, daß der Mensch Dinge zu erschaffen versteht, deren Sinn zu ergründen ihm selbst nicht gegeben ist? Ja, diese Bügelfalten sind der Traum des Hosenschöpfers, sein Geschenk an die Menschheit und eine Mahnung für den­ jenigen, der sie trägt, diese Hosen stets mit Ehrfurcht zu betrachten und sich immer anständig hinzusetzen; denn niemand ist verderbter und verächtlicher als jener, welcher den Traum eines anderen zer­ stört.« Ich verstand, was Urug mir damit sagen wollte. Sein Leben war sein Traum. Ich durfte diesen Traum nicht länger stören. Dreißig Jahre waren genug. Außerdem

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war mir von der Philosophie der Beule nur so viel klar: in Worten ließ sie sich nicht ausdrücken; jedenfalls nicht in meinen. Wenn einer sie ausdrücken konnte, dann Urug. Und der konnte es auch nicht. Immerhin gab er mir noch sieben Sinn­ sprüche auf den Weg.

Die Beule

Die sieben Sinnsprüche der Senigiroba oder Die Philosophie der Beule

Für den Bumerang: Je früher du stirbst, desto länger bist du tot. Für den Hammer: Du weißt nicht, was du willst — aber das mit ganzer Kraft. Für den Finger: Allein machen sie dich ein. Gemeinsam machen sie dich alle. Für die leere Bierdose: Stelle niemals Ansprüche an dich selbst. Wozu sind denn die anderen da? Für die volle Bierdose: Vertraue dir selbst! Das ist das Einzige, was dir niemand abnehmen wird.

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Für die Brummei: Du hast nichts zu verlieren. Also paß gut darauf auf!

Für die Beule: Menschliches Leben ohne sittliches Bemühen ist kein Leben, sondern Traum.

Ausklang

Dann hieß es Abschied nehmen. Dabei fiel mir ein, daß ich ganz verges­ sen hatte, Urug nach dem Wichtigsten zu fragen. »Meister, unser ganzes Horoskop ist ja nichts wert, wenn einer nicht weiß, an welchem Wochentag er geboren ward. Was nun?« »Gibt es Menschen, die das nicht wissen?« »Oja, die gibt es. Ich zum Beispiel —« Er unterbrach mich »Dann rechne es doch aus, du Sack!« »Wie denn?« Urug antwortete mit einer Gegenfrage: »Wie alt bist du?« »33« »Und an welchem Wochentag hast du in diesem Jahr Geburtstag?« »Am Sonntag.« »Dann bist du an einem Montag gebo­ ren, du Bumerang.« Ich konnte nur stau­ nen.

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Das aboriginale Horoskop

»Das ist doch puppenleicht«, erklärte mir Urug, »Lebensalter durch 4, wegen der Schaltjahre, die mal 2, die einfachen Jahre dazu, die Summe durch 7, den Rest vom aktuellen Geburtstag zurückrechnen — fertig.« »Hä?« »33 entspricht 25 plus 16; 41 durch 7 macht 5, Rest 6: Schlaftag . . . Jagtag. Klar?« »Nein.« »Also, du bist 33, Das macht 8 Schalt­ jahre; 8 mal 2 ist 16; 25 einfache Jahre dazu sind 41; geteilt durch 7 ergibt 5, Rest 6. Dein 33. Geburtstag war an einem Sonntag. Du rechnest 6 Wochentage zu­ rück. Also wurdest du an einem Montag geboren.« »Aber wieso denn?« wollte ich fragen. Doch da traf mich ein harter Hieb genau auf die Kinnspitze. Als ich wieder zu mir kam, war von Urug nichts mehr zu sehen; nicht mal eine ferne Staubwolke.

Ausklang

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War er jemals dagewesen? Gab es ihn überhaupt? Vielleicht hätte ich doch noch angefan­ gen, an ihm zu zweifeln, wenn mich nicht der ankommende Autobus mit seinem Fahrtwind, der kühl meine Beine fächelte, daran erinnert hätte, daß ich keine Hosen anhatte.

Die gesamte abendländische wie übri­ gens auch die in manchem weitgehend verwandte chinesische - Astrologie wird wie die Forschung hier erstmals nachweist von der schlichten Größe und großen Einfalt des aboriginalen Horoskops an Exaktheit, Weisheit und ja, wir wagen das Wort Wahrheit überflügelt. Wie das schon Schopenhauer schön erahnte: »Die Simplicität ist der Stämpel der Ächtheit.« So dürfen wir denn ohne den Propheten spielen zu wollen mit aller Gewißheit festhalten, daß von diesem schmalen, doch unendlich wertvollen Werk aus­ gehend, sich ein ebenso stiller wie wirksa­ mer Bewußtseinswandel vollzieht. Denn der Unterschied zwischen Haben und Sein - auch da sollten wir uns keinem Wunschdenken hingeben wird erst im Zeichen der Vollen Bierdose wahrhaft aufgehoben sein. »Tief ist die Brummei der Vergangenheit. Sollte man sie nicht unergründlich nen­ nen?«

Bernd Eilert, geboren 1949 in Olden­

burg (in Oldenburg), lebt, unterbrochen von längeren Forschungsaufenthalten in Zentral-Australien, seit 1970 in Frankfurt am Main vom Schreiben für Funk, Film, Fernsehen, Bühne und Presse in jeder Form. Träger des »Golden Bumerang«, der höchsten Ehrengabe der A.C.C.A., der Association of the Chiefs of Central Australia (deutsch etwa: Vereinigung der vereinigten Häuptlinge von ZentralAustralien). Wichtigste Buchveröffentlichungen: Die Kronenklauer (mit F. K. Waechter, 1972) — Notwehr aufitalienisch (Roman, 1980) - Die unbetonten e-Laute der Aborigines in Bezug auf den kultur-politischen Hintergrund der Immigra­ tion in Australien (Diss., 1980) - Ecelia aus dem Wunderland (1980) — Bettgeschichten (1981) - Das Buch Otto (mit Robert Gern­ hardt, Peter Knorr und Otto Waalkes, 1980) Das Buch Titanic (mit Robert Gernhardt, Eckhard Henscheid, Hans Traxler, F. W. Bernstein, F. K. Waechter, Chlodwig Poth, Peter Knorr, Hilke Rad­ datz u. a.) Hilke Raddatz, geboren in Hamburg,

lebt in Frankfurt am Main als eine der führenden Mitarbeiterinnen des Fach­ blatts >Titanic