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German Pages 320 [321] Year 2022
Alain Caillé Das Paradigma der Gabe
Sozialtheorie
Alain Caillé, geb. 1944, ist promovierter Wirtschaftswissenschaftler und emeritierter Professor für Soziologie an der Université Paris Ouest-Nanterre La Défense. Er leitet die Zeitschrift La Revue du MAUSS (Mouvement anti-utilitariste en science sociale) seit ihrer Gründung 1981 und ist zentraler Akteur der konvivialistischen Bewegung.
Alain Caillé
Das Paradigma der Gabe Eine sozialtheoretische Ausweitung Übersetzt aus dem Französischen von Michael Halfbrodt
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Original title: Extensions du domaine du don Original Publisher: © Actes Sud, 2019 © der deutschen Ausgabe 2022 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Korrektorat: Rebecca Hohnhaus, Leipzig Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen Print-ISBN 978-3-8376-6190-3 PDF-ISBN 978-3-8394-6190-7 https://doi.org/10.14361/9783839461907 Buchreihen-ISSN: 2703-1691 Buchreihen-eISSN: 2747-3007 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschaudownload
Inhalt
Vom Anti-Utilitarismus zur Ausweitung der Gabenzone Vorwort von Frank Adloff ............................................................ 9 Vorwort ........................................................................... 23 Einleitung ......................................................................... 29 Die einzigartige Geschichte des MAUSS ............................................. 30 Welche Gabe? ...................................................................... 34 Politische Ökonomie und Soziologie................................................. 38 Der Essay über Die Gabe von Marcel Mauss und der MAUSS. Ein Mittelweg ............ 42 Vom einfachen zum erweiterten Gabenparadigma................................... 50 Anwendungen des Gabenparadigmas ............................................... 55 Zu diesem Buch .................................................................... 58
I. Vom einfachen zum erweiterten Gabenparadigma 1.
Ein obligatorischer Ausgangspunkt. Der Essay über Die Gabe von Marcel Mauss................................... Marcel Mauss ...................................................................... Der Essay über Die Gabe ............................................................ Kommentare zu Marcel Mauss ...................................................... Von Mauss zum MAUSS ............................................................. Schlussfolgerung...................................................................
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2. Was stimmt nicht mit der Gabe bei Bourdieu? ............................... 79 Ein von Mauss inspirierter Ansatz, aber von welchem? .............................. 80 Aporien ............................................................................ 83
Ein künstlicher Gegensatz .......................................................... 84 Und seine imaginäre Auflösung durch die Zeit....................................... 87 Schlussfolgerung................................................................... 90 3. Gabe und Kampf für Anerkennung ........................................... 95 Marcel Mauss und die beiden Hegels ................................................ 96 Dialektisierung..................................................................... 101 4.
Soziologie als implizite Theorie des Kampfes um Anerkennung............................................................ 105 Anerkennung in der soziologischen Tradition .......................................107
5.
Von einigen Schwierigkeiten der Anerkennungstheorien. Die Frage von Wert und Gabe................................................. 115 Auf dem Weg zu einer Theorie des sozialen Werts .................................. 120
6. Gabe und Care ............................................................... 127 Die Unzulänglichkeiten des eingeschränkten Gabenparadigmas und der Beitrag der Care-Theorien................................................. 128 Care als generische Tätigkeit und als Prozess ...................................... 130 Vom Care-Paradigma zu einem erweiterten Gabenparadigma ....................... 133 Schlussfolgerung.................................................................. 136 7. Der Geist des Spiels......................................................... 139 Vor-Spiel.......................................................................... 142 Game/play: Ist Spielen gleich Spielen? ............................................. 145 Die Schönheiten des Homo ludens .................................................. 147 Erste kurze Schlussfolgerung...................................................... 149 8. Was gibt die Natur? ......................................................... 153 Existiert die Natur? ............................................................... 156 Auf dass sie existiere ............................................................. 158 Grenzen der Akteur-Netzwerktheorie .............................................. 159 Gabe und Anerkennung............................................................. 161
II. Anwendungen des erweiterten Gabenparadigmas 9.
Anwendung des Gaben- und des Anerkennungsparadigmas auf internationale Konflikte..................................................167 Die Idee des Wertes als solche..................................................... 169 Nicht-Anerkennung in internationalen Beziehungen ................................. 171 Soziologie der internationalen Reaktionen auf Anerkennungsverweigerungen ....... 173 Die Anerkennungsrituale in den internationalen Beziehungen........................175 Zwei Beispiele: Der Kampf um Anerkennung im wilhelminischen Deutschland und im heutigen Russland ............................................ 178 Zur Gewalt von Al-Qaida und dem Islamischen Staat. Der Wunsch, als Geber von Leben… oder Tod anerkannt zu werden................................... 181 Schlussfolgerung.................................................................. 186 10. Konsum aus der Perspektive der Gabe ...................................... 189 Trugbilder des Konsums. Der Konsum als Gaben-Falle? ............................. 192 Ambivalenzen. Glanz und Elend des Konsums ...................................... 198 Sich einer Marke hingeben ........................................................ 202 Schlussfolgerung.................................................................. 205 11.
Kunst/Gabe. Auf dem Weg zu einer bescheidenen Auffassung von Kunst................. 207 Erweiterung des Gabenparadigmas ................................................ 208 Auf dem Weg zu einer bescheidenen Auffassung von Kunst: von der Gabefähigkeit ..............................................................210 Umgekehrter Totalitarismus ........................................................ 221 Schlussfolgerung: Auf dem Weg zu einer konvivialistischen Gesellschaft und Kunst? ....................................................................... 224 12.
»Daran glauben.« Zurück zur »Symbolischen Wirksamkeit« ................................... 227 Negative symbolische Wirksamkeit ................................................ 231 Von der Heiligkeit zur Gesundheit .................................................. 232 Die Bundestheologie oder Covenant Theology ...................................... 234 Einige elementare Formen der symbolischen Wirksamkeit. Vom Glauben ............ 238 Die zirkuläre Verstärkung des Glaubens durch den praktischen Syllogismus ..........241 Eintritt in den positiven therapeutischen Kreislauf ................................. 248
Spiel, Symbolik und Metapher...................................................... 251 Schlussfolgerung.................................................................. 253 13. Eine Rückkehr zur Religion. Grundzüge einer allgemeinen Soziologie .................................... 257 Das Gabenparadigma systematisieren, um den Ort der Religion besser hervorzuheben .................................................................... 260 Substantielle und formale Definitionen..............................................261 Vier Bündnis- und Gabensysteme .................................................. 263 Überlappungen der Bündnissysteme ............................................... 264 Die vier Dimensionen des Bündnisses.............................................. 266 Das Religiöse, die Religiosität und die Religion ..................................... 267 Sprache, Symbolik und Metasymbolik .............................................. 269 14. Macht, Herrschaft, Charisma und Führung .................................. 273 Drei Grenzen der Weber’schen Machttypologie...................................... 273 Einige Voraussetzungen ........................................................... 275 Typologie der Macht: Leiter und Mächtige .......................................... 277 Ein Mächtiger werden ............................................................. 280 Die Momente der Entscheidung .................................................... 281 Die vier Arten der Herrschaft ...................................................... 283 Entscheidungen im System der Herrschaft ......................................... 284 Kleine Dialektik von Macht und Herrschaft ......................................... 285 Kurze Rückkehr zu Weber ......................................................... 285 Unwandlungstabelle mit Weber’schen Konzepten ................................... 286 An Stelle einer Schlussfolgerung ................................................. 287 Gabe und Resonanz. In Anlehnung an die Soziologie von Harmut Rosa. Auf dem Weg zu einer Synthese? .................................................. 289 Bibliographie ..................................................................... 303 Danksagungen ................................................................... 315
Vom Anti-Utilitarismus zur Ausweitung der Gabenzone Vorwort von Frank Adloff
Alain Caillé ist hierzulande kein Unbekannter mehr. Der Ökonom, Soziologe und Konvivialist Caillé war Professor für Soziologie an der Universität Paris X und hat sich auch im deutschsprachigen Raum seit rund 15 Jahren einen Namen gemacht, sowohl als der Begründer der MAUSS-Bewegung als auch als Kopf der öffentlichen politischen Philosophie des Konvivialismus. Auch die englischsprachige Debatte um das Gabenparadigma nimmt zunehmend an Fahrt auf, so erschien im Jahr 2020 das Buch The Gift Paradigm. A Short Introduction to the Anti-Utilitarian Movement in the Social Sciences in einer von Marshall Sahlins herausgegebenen Reihe bei Chicago University Press, und im Jahr 2021 wurde die erste Ausgabe der englischsprachigen MAUSS International herausgebracht. Mit Das Paradigma der Gabe. Eine sozialtheoretische Ausweitung liegt nun ein weiteres Buch auf Deutsch (nach Anthropologie der Gabe aus dem Jahr 2008) vor, und zwar eines seiner wichtigsten, welches das Gabenparadigma systematisch ausweitet und auf vielfältige soziale Phänomene anwendet. Caillé bezieht die Gabentheorie auf Anerkennung, Care, Herrschaft, internationale Beziehungen, Spiel oder Konsum. Der Titel des französischen Originals lautet dementsprechend Extensions du domaine du don, Ausweitung der Gabenzone. Damit spielt Caillé natürlich auf den Roman Ausweitung der Kampfzone des französischen Schriftstellers Michel Houellebecq an. Dieses 1994 erschienene Buch wurde in über 20 Sprachen übersetzt und mit diversen Preisen ausgezeichnet. Houllebecq beschreibt darin die Ausweitung der neoliberalen Freiheits- und Kampflogik, von der Ökonomie auf das Feld der Sexualität und Intimbeziehungen. Der Ich-Erzähler führt aus (S. 108f.):
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Das Paradigma der Gabe
»In einem völlig liberalen Wirtschaftssystem häufen einige wenige beträchtliche Reichtümer an; andere verkommen in der Arbeitslosigkeit und im Elend. In einem völlig liberalen Sexualsystem haben einige ein abwechslungsreiches und erregendes Sexualleben; andere sind auf Masturbation und Einsamkeit beschränkt. Der Wirtschaftsliberalismus ist die erweiterte Kampfzone, das heißt, er gilt für alle Altersstufen und Gesellschaftsklassen. Ebenso bedeutet der sexuelle Liberalismus die Ausweitung der Kampfzone, ihre Ausdehnung auf alle Altersstufen und Gesellschaftsklassen.«
Anti-utilitaristische Kritik Alain Caillé kritisiert diesen erweiterten Utilitarismus, der das Nutzenkalkül des Homo oeconomicus weit über das Feld der Wirtschaft hinaustreibt, aufs Heftigste. Er stellt ihm die Ausweitung der Gabenzone gegenüber. Praktiken des Gebens und Erwiderns seien gegenüber dem neoliberalen Konkurrenz- und Eigennutzmodell zu revitalisieren und zu stärken. Seit über 40 Jahren kritisiert Caillé den Utilitarismus – verstanden als Theorie, die den Eigennutz als Ursprung sozialen Handelns und sozialer Ordnung begreift – als ökonomische und sozialwissenschaftliche Theorie und deren praktische Umsetzung in der Gesellschaft. Caillé entwickelte sich seit Ende der 1990er Jahre mehr und mehr zum reformorientierten, politischen Protagonisten der MAUSSBewegung, zum Verfechter eines »Dritten Wegs« jenseits der Verabsolutierung von Staat und Markt. In alternativen, zivilgesellschaftlich organisierten Wirtschaftsformen (solidarische und soziale Ökonomie) erblickt er beispielsweise die Möglichkeit, nicht-kapitalistische Formen des Gütertransfers mit dem Anerkennungs- und Bündnischarakter der Gabe zu verbinden. Dabei geht es ihm nicht um die vollständige Ersetzung der kapitalistischen Wirtschaftsweise, sondern um deren Ergänzung um alternative Austauschformen, die nicht primär der Profiterzielung dienen. Im Jahr 2013 wird er schließlich zum Hauptimpulsgeber der konvivialistischen Bewegung. Das politische Ziel der Konvivialistinnen und Konvivialisten ist eine demokratisch-egalitäre Gesellschaft jenseits der Wachstumslogik. In dieser sollen die Verbindungen von Individuen, Gruppen und Gemeinwesen auf neue Art und Weise sichtbar gemacht werden; der Untertitel des ersten konvivialistischen Manifests lautet dementsprechend: Declaration
Frank Adloff: Vom Anti-Utilitarismus zur Ausweitung der Gabenzone
d’interdependence (Erklärung der wechselseitigen Abhängigkeit).1 Es geht darum, dass Menschen einander in ihrer Unterschiedlichkeit achten und dabei zum Wohle aller – unter konstruktiver Austragung von Konflikten – untereinander, aber auch mit der Natur kooperieren. Im Jahr 2020 gelingt es ihm, im Rahmen eines zweitens Manifests annähernd 300 Intellektuelle, Wissenschaftler:innen und Aktivist:innen zusammenzubringen, um am Text mitzuwirken und ihn zu unterzeichnen.2 Caillés intellektuelle Wurzeln liegen in seiner Zeit als Assistent von Claude Lefort Ende der 1960er Jahre an der Universität von Caen. Seit Ende der 1940er Jahre arbeiteten Claude Lefort und Cornelius Castoriadis in der Zeitschrift Socialisme ou Barbarie an einer Kritik des stalinistischen Totalitarismus und der Marx’schen Theorie und kamen dabei zur Theorie einer autonomen, sich selbst erzeugenden Zivilgesellschaft, die sich nicht der staatlichen Macht unterwirft. Die beiden Autoren kritisieren ein staatszentriertes Politikverständnis und betonen die besondere Bedeutung von Konflikten in der Zivilgesellschaft. Die Macht solle in der Zivilgesellschaft verbleiben.3 Das Ziel vieler linker Bewegungen, soziale und politische Antagonismen zu überwinden, bedeute faktisch die totalitäre Eliminierung von Demokratie. Bei Lefort findet sich auch die vielfach diskutierte Differenz zwischen dem Politischen (le politique) und der Politik (la politique): Das Politische ist für Lefort – und später auch für Caillé – nicht auf den instituierten Raum der Politik (Wahlrecht, staatliche Institutionen etc.) zu reduzieren, sondern weiter und offener zu verstehen.4 Ab den 1980er Jahren zieht Caillé die politische Philosophie Leforts zur Kritik der dominanten Ideologien des Kapitalismus, nämlich des Rationalismus und Utilitarismus heran.5 Zunächst geht es ihm um einen negativen Anti-Utilitarismus, ohne dass eine alternative Position schon greifbar war. Dies ist der Ausgangspunkt der im Jahr 1981 gegründeten MAUSS-Bewegung, die das Werk des Soziologen und Anthropologen Marcel Mauss aufruft und insbesondere seinen berühmten Essay sur le don von 1924 in den Mittelpunkt 1 2 3 4 5
Les Convivialistes, Das konvivialistische Manifest. Für eine neue Kunst des Zusammenlebens, Bielefeld 2014. Konvivialistische Internationale, Das zweite konvivialistische Manifest. Für eine post-neoliberale Welt, Bielefeld 2020. Claude Lefort, »Die Frage der Demokratie«, in Ulrich Rödel (Hg.): Autonome Gesellschaft und libertäre Demokratie, Frankfurt a.M. 1990, S. 281-297. Vgl. Oliver Marchart, Die politische Differenz, Berlin 2010. Alain Caillé, Splendeurs et Misères des sciences sociales, Paris/Genf 1986.
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soziologischer Diskussionen rückt. Die Autorinnen und Autoren rund um die Zeitschrift La Revue du MAUSS (Mouvement Anti-Utilitariste en Sciences Sociales, Anti-utilitaristische Bewegung in den Sozialwissenschaften) betrieben zunächst eine Kritik utilitaristischer Positionen. La Revue du MAUSS hat im Verlauf der Jahre einer Vielzahl von internationalen Autor:innen eine Plattform geboten, die dieses Programm beförderten. So publizierten zum Bespiel auch Amitai Etzioni, Charles Taylor, Ernesto Laclau oder Bruno Latour in ihr. Auch wenn das Akronym auf Marcel Mauss anspielt, ist eine andere Perspektive in den Anfangsjahren mindestens ebenso wichtig, nämlich die des Wirtschaftshistorikers Karl Polanyi, der bekanntlich die Etablierung einer Marktgesellschaft als eine große Transformation beschrieb.6 Zuvor waren Märkte immer in Gesellschaften eingebettet, erst im 19. und 20. Jahrhundert setzt ihre Entbettung ein. Diese negative Kritik des MAUSS zielt – so wie bspw. auch die Kritik der Frankfurter Schule – auf die Expansion des Marktes ab, auf Utilitarismus, Eigennutz sowie eine eindimensionale, instrumentelle Vernunft.7 Später wurde das anti-utilitaristische Programm konstruktiv gewendet. Seit den 2000er Jahren geht es Caillé und seinen Mitstreiter:innen um eine anti-utilitaristische Alternative zum Theorem des Eigennutzes.8 In Anthropologie der Gabe, das 2008 auf Deutsch erschien, entwickelt Caillé eine nicht-utilitaristische und nicht-normativistische Interpretation der Mauss’schen Gabentheorie und baut eine eigenständige handlungstheoretische Alternative zu existierenden soziologischen Paradigmen auf. Damit gewinnt das positive Gegenprogramm zum Utilitarismus deutlich an Kontur. Zugleich wird für die MAUSS-Gruppe Marcel Mauss zum obligatorischen Passierpunkt.
Das Paradigma der Gabe Marcel Mauss wird nun zum wichtigsten Gewährsmann für Caillés Sozialtheorie.9 Für Caillé ist Mauss in seinen Analysen weit über die Antworten
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Karl Polanyi, The Great Transformation, Frankfurt a.M. 1978. Dazu Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, Frankfurt a.M. 1988. Vgl. zur Einführung Alain Caillé, Anti-utilitarisme et paradigme du don. Pour quoi?, Lormont 2014. Marcel Mauss, Soziologie und Anthropologie, 2 Bde, Wiesbaden 2010; Marcel Mauss, Schriften zur Religionssoziologie, Berlin 2012. Zu Mauss und seiner Rezeption vgl. Frank
Frank Adloff: Vom Anti-Utilitarismus zur Ausweitung der Gabenzone
seines Onkels und Mentors Émile Durkheim hinausgegangen, indem er soziale Interaktion und Ordnung auf den Zyklus von Geben, Annehmen und Erwidern zurückführt. Gaben haben zwar zumeist eine materielle Basis, sind jedoch zugleich Symbole. Ferner sind Symbole auch Gaben. Gaben symbolisieren Verbindungen – »Bündnisse« wie Caillé betont. Die Gabe gilt Mauss und Caillé als das »Symbol des sozialen Lebens« schlechthin.10 Diese Überlegungen von Mauss sind für Caillé entscheidend, da sie den Weg zu einem eigenständigen Paradigma eröffnen, das einerseits den normativistischen Holismus (von Durkheim, Parsons u.a.) als auch den utilitaristischen Individualismus (etwa in Form von Rational Choice-Theorien) überwindet.11 Die Gabe ist für Mauss ein totaler sozialer Tatbestand, weil sie alle Dimensionen des Sozialen umfasst: das Politische, die Religion, die Ökonomie, das Recht, die Moral, die Kunst usw. Gaben mobilisieren Individuen, Gruppen und Gesellschaften, und schließlich sind Gaben totale soziale Tatbestände, weil sie in jeder Gesellschaft – in »archaischen« wie in »modernen« – vorkommen.12 Sie verbinden Personen und Dinge, Interessen und Symbole, Konflikt und Konsens, Individuen und Gesellschaften, menschliche und nicht-menschliche Akteure gleichsam wie magische Operatoren.13 Sofern sich Gruppen (oder auch Individuen) als Fremde gegenüberstehen, dient der Operator der Gabe als Test und Herausforderung, der auf die Frage abzielt: Schafft man ein friedliches Bündnis oder läuft es auf Feindschaft hinaus? Gaben machen nicht nur auf horizontaler Ebene potentielle Feinde zu Verbündeten; sie stiften auch diagonale Verbindungen zwischen Vorfahren, Lebenden und Nachfahren; und auf einer vertikalen Ebene werden nach unten Verbindungen zur Erde und nach oben religiöse Bindungen zu Göttern, Gott oder anderen unsichtbaren Entitäten kreiert (Kapitel 13 in diesem Band). Auf diese Weise unterscheidet Caillé zwischen dem Politischen, dem Verwandtschaftlichen, dem Wirtschaftlichen und dem Religiösen, wobei historisch besonders enge Verbindungen zwischen dem Religiösen und dem Politischen bestehen.
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Adloff, »Marcel Mauss – Durkheimien oder eigenständiger Klassiker der Soziologie?«, in Berliner Journal für Soziologie, Heft 2/2007: S. 231-251. Marcel Mauss, Soziologie und Anthropologie, Band II, a.a.O., S. 59. Vgl. Frank Adloff, Politik der Gabe. Für ein anderes Zusammenleben, Hamburg 2018. Marcel Mauss, Soziologie und Anthropologie, Band II, a.a.O.; Camille Tarot, Sociologie et anthropologie de Marcel Mauss, Paris 2003. Vgl. Frédéric Vandenberghe, The Axiomatics of the Gift. Alain Caillé’s Reinvention of Marcel Mauss, nicht veröff. Ms., Rio de Janeiro 2021.
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Das Paradigma der Gabe
Dem symbolischen Zyklus der Gabe als Verbindung steht ein entgegengesetzter Zyklus gegenüber, den Caillé den diabolischen Zyklus der Trennung nennt: Dieser Zyklus beruht auf Ignorieren, Nehmen, Ablehnen und Behalten; das heißt, man ignoriert statt zu bitten, man nimmt statt zu geben, man verweigert statt anzunehmen, man behält statt zu erwidern. Dieser Zyklus neigt zur sozialen Destruktivität. Gaben initiieren also Verbindung, Solidarität und Freundschaftlichkeit, kommen sie nicht zustande, läuft es auf Konflikt oder gar Krieg hinaus. Anti-utilitaristisch zu sein bedeutet nicht, die Existenz utilitaristischer Kalküle zu leugnen. Es geht Caillé und der MAUSS-Gruppe vielmehr darum, Motive nicht generell auf Eigennützigkeit zu reduzieren, sondern Handlungsmotive komplexer und vollständiger zu beschreiben. Dies führt notwendigerweise auch dazu, die Irreduzibilität von Empathie, Sympathie, Altruismus, Interesse an anderen oder Solidarität anzuerkennen.14 Die Gabe ist für Caillé aufgespannt in diesem Viereck aus Eigennützigkeit und Freundschaftlichkeit einerseits und aus Pflicht und Spontaneität andererseits. Die Gabe ist also weder auf Austausch und Tausch zu reduzieren (Lévi-Strauss, Bourdieu), noch ist sie die Inkarnation von purer Freiheit ohne jegliche Verpflichtung (Derrida, Marion). Pflicht, Freiheit, Altruismus und Interesse lassen sich analytisch unterscheiden, liegen jedoch immer ineinander verwoben in konkreten Situationen vor. Phänomenologische Arbeiten wie die Jacques Derridas und Jean-Luc Marions stützen sich auf das Konzept der Gegebenheit von etwas, das von niemandem gegeben wurde. Dieses Konzept wird bei ihnen auch zum Modell der sozialen Gabe zwischen menschlichen Subjekten gemacht. So muss die Gabe unter Menschen schließlich als minderwertig und unrein erscheinen, da sie immer auch auf Erwiderung, also Reziprozität abzielt und somit Bedingungen und Pflichten enthält. Aus diesem Grund stellt Caillé schon früh heraus, dass Gegebenheit und Unbedingtes klar von der sozialen Gabe zu unterscheiden sind, die auf einer bedingten Unbedingtheit (inconditionnalité conditionnelle) beruht.15 In der sozialen Gabe verschmelzen also bedingte und unbedingte Handlungsaspekte miteinander. Will man die Gabe nicht auf personale Beziehungen beschränken, sondern sie auf das Verhältnis der Subjekte zum Leben, zur Natur und zur Kreativität ausdehnen, benötigt man den 14 15
»Moving Beyond: Mission Statement of the MAUSS International«, in MAUSS International. Anti-Utilitarian Interventions in the Social Sciences, 2021, Nr. 1, S. 9. Alain Caillé, Anthropologie der Gabe, Frankfurt/New York 2008, Kap. IV.
Frank Adloff: Vom Anti-Utilitarismus zur Ausweitung der Gabenzone
theoretischen Bezug auf die Begriffe Gegebenheit und Hingabe. Während die Phänomenologen vorschlagen, die Gabe nach dem Modell der Gegebenheit zu denken, argumentiert Caillé umgekehrt: »Ich schlage daher vor, die Gabe nicht als subjektlose Gegebenheit zu denken, sondern die (subjektlose) Gegebenheit als eine Quasi-Gabe.«16
Ausweitungen des Gabenparadigmas In den letzten Jahren hat Alain Caillé das Gabenparadigma ausgefächert, indem er Theorien der Sorge, des Care, Theorien des Spiels und Anerkennungstheorien gabentheoretisch gedeutet und reformuliert hat. Angewandt hat er das Gabenparadigma außerdem auf die Bereiche des Managements (Caillé/ Grésy 2014) und der Psychologie (Caillé/Grésy 2018).17 In der Diskussion von Care-Theorien kommt Caillé zu dem Schluss, dass der Zyklus von Geben, Annehmen und Erwidern um ein viertes Element erweitert werden muss: Vor dem Geben findet sich die Bitte. Diese kann implizit bleiben und muss nicht klar artikuliert werden. Reagiert die Gabe nicht auf ein Bedürfnis, bleibe unklar, wem oder was man zu geben hätte. Instruktiv ist auch die zweite Erweiterung, die ermöglicht, eine Nähe der Gabe zum Spiel zu identifizieren. Der Freiheitspol der Gabe enthält Momente von Kreativität, Leidenschaft und Selbst-Transzendenz: Man gibt sich gleichsam selbst in spielerischen, aber auch künstlerischen oder religiösen Praktiken. Caillé spitzt zu, »dass der Geist des Spiels nichts anderes ist als der Geist der Gabe, der sich im spielerischen Register entfaltet, und dass umgekehrt der Geist der Gabe natürlich nichts anderes ist als der Geist des Spiels, der sich im Register des Uneigennützigen entfaltet.«18 Gaben und Spiele – durchaus in agonistischer Weise – bilden für Caillé den Grund jeder Kultur. Alain Caillé hat in den letzten Jahren betont, dass die Anerkennungstheorie, wie sie von Hegel formuliert und in Deutschland vor allem durch Axel Honneth fortentwickelt wurde, mit der Theorie der Gabe verknüpft werden kann. Damit nimmt er auch Gedanken auf, wie sie von Marcel Hénaff und
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S. 55 in diesem Band. Alain C aillé und Jean-Édouard Grésy, La révolution du don. Le management repensé à la lumière de l’anthropologie, Paris 2014; Alain Caillé und Jean-Édouard Grésy, Œil pour œil, don pour don. La psychologie revisitée, Paris 2018. In diesem Band, S. 139.
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Paul Ricœur entwickelt wurden.19 Vor allem Ricœur hat herausgestellt, dass die ausgedrückte Dankbarkeit für eine empfangene Gabe als Anerkennung der gebenden Person anzusehen ist. Doch solange man Anerkennung zuallererst und primär als Forderung egos nach Anerkennung durch alter ego begreift (wie dies Hegel und Honneth tun), entkommt man nicht dem utilitaristischen Gedanken des Eigennutzes. Anerkennung beruht vor allem darauf, sich wechselseitig und freiwillig Anerkennung zu geben – und nicht darauf, Anerkennung von anderen einzufordern und zu erhalten.20 Anerkennung erfährt derjenige, dem vom Empfänger einer Gabe Dankbarkeit entgegengebracht wird: Menschen wollen als Geber:innen anerkannt werden. Man wird durch die erfahrene Dankbarkeit in seiner Eigenschaft als Geberin von wertvollen Dingen anerkannt. Zeigt der Empfänger jedoch keine Dankbarkeit, wird weder die Gabe als Gabe noch die Geberin als Geberin anerkannt. Anerkennung erfährt die, die sich anderen gegenüber in Freiwilligkeit und Großzügigkeit gebend öffnet und wenn dies von den anderen durch Annahme der Gabe und durch Dank validiert wird. Der Überschuss der Freiheit über Verpflichtung und Eigeninteresse macht den Wert der Gabe und der Geberin aus. »Darum zu kämpfen, anerkannt zu werden, bedeutet nichts anderes, als darum zu kämpfen, einen Wert zuerkannt, zugeschrieben oder verliehen zu bekommen.«21 Auch den Konsum rückt Caillé in diesen Zusammenhang. Was leistet der Konsum, wenn man ihn durch die Brille der Gabentheorie betrachtet? Er lässt uns an der Dynamik des Charismas, der Gnade, der Selbstlosigkeit, der Energie oder des Lebens teilnehmen. Konsum ist viel mehr als die Befriedigung von Bedürfnissen, er berührt das Kostbarste und droht aber auch jederzeit in Maßlosigkeit, Hybris und Allmachtsphantasien umzuschlagen (Kapitel 10). Dabei betont Caillé mit Blick auf die Notwendigkeit der Herstellung einer Postwachstumsgesellschaft: »Wir werden also gezwungen sein, uns der endlosen Sucht nach Konsum zu entwöhnen. Vom unbegrenzten Konsum. Von der Hybris des Konsums.« Zu klären bleibt jedoch: »[K]ann man sich der Hy-
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Axel Honneth, Kampf um Anerkennung, Frankfurt a.M. 1992; Marcel Hénaff, Der Preis der Wahrheit. Gabe, Geld und Philosophie, Frankfurt a.M. 2009; Marcel Hénaff, Die Gabe der Philosophen. Gegenseitigkeit neu denken, Bielefeld 2014; Paul Ricœur, Wege der Anerkennung, Frankfurt a.M. 2006. Alain Caillé, »Anerkennung und Gabe«, in Journal Phänomenologie 2009 (31), S. 32-43. S. 121 in diesem Band.
Frank Adloff: Vom Anti-Utilitarismus zur Ausweitung der Gabenzone
bris entwöhnen? Einen Unterschied zwischen einer guten, kreativen, lebensspendenden Hybris und einer schlechten, schädlichen Hybris machen?«22 Die Logik von Gabe und Anerkennung weitet Caillé nun auch über den Bereich menschlicher Interaktionen aus. Auch die Natur kann als Geberin angesehen und anerkannt werden. Caillé plädiert für einen solch partnerschaftlichen Umgang mit der Natur und verankert ihn in einem methodologischen Animismus. Dabei muss man nicht allen Lebewesen wissenschaftlich nachgewiesen und abgesichert Bewusstsein, Subjektivität und Intentionalität zuschreiben. Es reicht, die nicht-menschlichen Wesen methodologisch als Quasi-Subjekte anzusehen. Das heißt, gabentheoretisch können die anderen Lebewesen so behandelt werden, als ob sie über Subjektivität verfügen und als Gebende auftreten. Das, was uns als Natur gegeben ist, kann uns als Geber und Geberin gegenübertreten. Damit öffnet Caillé die Soziologie einem anderen Gesellschaftsverständnis: Nicht-menschliche Entitäten und Akteure sind Teil des Netzwerkes aus Geben, Annehmen und Erwidern. Man kann hier auch von Formen posthumaner Konvivialität sprechen.23 An die Stelle von Menschen als Eigentümern, Nutzern und Ausbeutern der Natur als bloßer Ressource tritt hier das Bild der Menschen als Teil eines konvivialen Netzwerks von Akteuren, die in einem Austausch von Gaben und Gegengaben in und mit der Natur leben, was Spannungen und Konflikte in keiner Weise ausschließt.
Interparadigmatische Bündnisse Was folgt nun aus Caillés Ausweitung der Gabenzone für die Sozialtheorie? Vor allem gilt es zu erkennen, wo es Gemeinsamkeiten mit anderen Theoriefamilien gibt. So sind neue Allianzen gefragt zwischen anti-utilitaristischen Mikrotheorien (etwa phänomenologischer Soziologie, Interaktionismus, Ethnomethodologie, Pragmatismus und Akteur-Netzwerk-Theorien), politischer und Sozialphilosophie, kritischen Theorien im breiten Sinne, Cultural Studies sowie der Sozial-und Kulturanthropologie. Caillé und Vandenberghe plädieren in einer neueren Publikation dafür, dass die Sozialtheorie wieder einen
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S. 198 in diesem Band. Frank Adloff und Sérgio Costa, »Konvivialismus 2.0. Ein Nachwort«, in Konvivialistische Internationale: Das zweite konvivialistische Manifest, Bielefeld 2020, S. 123ff.
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Das Paradigma der Gabe
allgemeinen Anspruch vertreten müsse und Allianzen mit anderen (anti-utilitaristischen) Disziplinen eingehen solle.24 Die MAUSS-Bewegung und das Gabenparadigma zeigen, dass die französische Theorie auch weiterhin sehr lebendig ist. Es reicht sozialtheoretisch nicht, nur Bourdieu, Foucault, Derrida und Deleuze oder Weiterentwicklungen wie die Luc Boltanskis zu rezipieren. Und natürlich muss man nicht im Rahmen der MAUSS-Lektüre Marcel Mauss zur großen Ausnahme des sozialtheoretischen Denkens stilisieren. Es kommt vielmehr darauf an, sich gegenseitig etwas Neues und Befruchtendes zu geben, wie bspw. Caillés Lektüre von Max Webers Herrschaftssoziologie durch die Brille der Mauss’schen Gabentheorie zeigt (in diesem Band: Kapitel 14). So müssten vermehrt neue Allianzen zwischen verschiedenen anti-utilitaristischen Theorieperspektiven geschaffen und die Gemeinsamkeiten, etwa zwischen den Klassikern Tocqueville, Marx, Weber, Durkheim, Simmel, Mauss und Mead, herausgestellt werden. Caillé selbst stellt am Ende des vorliegenden Buches die Nähe des Gabenparadigmas zu Hartmut Rosas Theorie der Resonanz heraus.25 Trotz einiger Unterschiede bestehen große Gemeinsamkeiten, die auf eine gewisse Kongruenz zulaufen. Denn beide Paradigmen beleuchten sich gegenseitig. Ein gelungenes resonantes Leben (Rosa) beruht darauf, dass wir uns richtig in den Zyklus des Gebens (Caillé) einfügen, der uns zu anderen Personen in eine nicht-utilitaristische Beziehung setzt. Das Paradigma der Gabe tritt daher sicher nicht an, alternative anti-utilitaristische Paradigmen zu verdrängen. Vielmehr muss es um neue Kooperationen – um Formen des Gebens und Nehmens –gehen, um die anti-utilitaristische Agenda insgesamt zu stärken. Das Gabenparadigma kann dabei als eine Art Prisma betrachtet werden, durch das Licht auf vielfältige gesellschaftliche Phänomene fällt, die bisher im Dunkeln lagen oder sozialtheoretisch nur bruchstückhaft wahrgenommen wurden.
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Alain Caillé und Frédéric Vandenberghe, For a New Classic Sociology. A Proposition Followed by a Debate, London 2021. Hartmut Rosa, Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin 2016.
Frank Adloff: Vom Anti-Utilitarismus zur Ausweitung der Gabenzone
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Das Paradigma der Gabe
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dem Eichhörnchen
Vorwort
Ich bin ein wohlerzogener Junge. Mir wurde zwar nicht beigebracht, dass das Ich »hassenswert« ist, wie Pascal schrieb, dass es sich aber nicht schickt, es in den Vordergrund zu stellen und dass es besser sei, anderen zuzuhören, als von sich selbst zu sprechen. Meine Verlegerin ermutigt mich gleichwohl dazu, es bei Gelegenheit dieses Buches zu tun. Nun, Bücher habe ich schon viele veröffentlicht, um die 30, darunter auch einige über die Gabe. Was bringt das Vorliegende an Neuem? Warum ist es besonders wichtig für mich? Die Frage ist legitim und zwingt mich, aus der Reserve zu treten. Immerhin habe ich inzwischen ein gewisses Alter erreicht, um nicht zu sagen, ein fortgeschrittenes Alter, das mich berechtigt, in der Hoffnung, den Lesern und Leserinnen zu ermöglichen, gleich zu Beginn das Thema dieses Buches besser zu verstehen, kurz die geistige Entwicklung nachzuzeichnen, die ich in den letzten 50 Jahren durchlaufen habe. Wenn ich rückblickend darüber nachdenke, erscheint es mir so, als ob alles, was ich innerhalb eines halben Jahrhunderts (ja, die Zeit vergeht) zu denken versucht habe, meinem Erstaunen über den verblüffenden Gegensatz zwischen den beiden Disziplinen entspringt, in denen ich ausgebildet wurde und die mir je einen Doktortitel eingebracht haben, die Wirtschaftswissenschaften einerseits und die Soziologie andererseits. Die Gewissheit, von der die erste dieser beiden Disziplinen erfüllt ist, zumindest die Mehrheit ihrer Vertreter, besagt, dass menschliche Subjekte (mehr oder weniger) rationale Kalkulatoren sind oder als solche betrachtet werden sollten, die nur das Ziel haben, ihren individuellen Vorteil zu maximieren. Vom Menschen hat die Soziologie eine viel komplexere Vorstellung. Vielleicht zu komplex. Die Soziologie, der meine Gunst gehört, die der Klassiker, ist multidisziplinär. Mit dreiundzwanzig Jahren hatte ich das Glück, an der Universität Caen zum Soziologieassistenten bei Claude Lefort ernannt zu werden, dem geistigen Erben des berühmten Philosophen Maurice Merleau-Ponty, der selbst
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Das Paradigma der Gabe
als einer der führenden Theoretiker der Demokratie und des Totalitarismus gilt. Die Soziologie, die wir damals unterrichteten, stand im Dialog mit allen geistes- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen, Anthropologie, Philosophie, Geschichte, Psychoanalyse und Ökonomie. Am Schnittpunkt all dieser Disziplinen stand ein wirkmächtiger Text, der Essay über Die Gabe von Marcel Mauss. Faszinierend und verstörend zugleich, denn die Gabe, die er seinen Lesern mit Hilfe eines gigantischen ethnographischen Materials vorführte, die Gabe, die, wie er aufzeigte, die archaischen Gesellschaften strukturierte, hat wenig Ähnlichkeit mit dem, womit man das Wort »Gabe« heute zumeist und spontan verbindet: eine radikal uneigennützige Geste, die der Nächstenliebe oder dem Opfer ähnelt. Seiner Darstellung nach erscheint sie hingegen als ein »hybrider« Akt, voller Ambivalenzen, in gewissem Sinne uneigennützig, ja, aber ebenso sehr eigennützig, frei und gebunden zugleich. Jedenfalls himmelweit entfernt von der Figur des Homo oeconomicus, die den Ökonomen lieb und teuer ist. Indem ich sie verallgemeinerte und die Implikationen aus seiner Entdeckung zog, gelangte ich nach und nach zu der Überzeugung, dass die von Mauss analysierte Gabebeziehung die Allgemeinform der Beziehung zwischen menschlichen Subjekten ist, insofern sie gewillt sind, sich als Personen zu betrachten, die als solche anerkannt und in ihrer Singularität gewürdigt werden. Sie ist ein Anerkennungs- und Singularisierungsoperator. Ich gebe dir dies und nichts anderes, ich gebe es dir, weil du es bist und niemand anderes. Das reicht aus, um eine sehr viel ergiebigere und mächtigere, jedenfalls allgemeinere Sicht menschlicher Subjekte zu entwerfen als die der herrschenden Wirtschaftswissenschaft. Wenn wir bedenken, dass die Standardökonomie nur die Konkretisierung einer utilitaristischen Weltsicht ist – eine Sichtweise, die, kurz gesagt, alle Fragen auf die eine reduziert »Wozu nützt (mir) das?« –, dann erkennen wir, inwiefern dieses Konzept der Gabe im Mittelpunkt eines anti-utilitaristischen Ansatzes in den Geistes- und Sozialwissenschaften steht. »Anti-Utilitarismus« ist das Schlagwort, unter dem ich, zusammen mit meinen Freunden vom MAUSS (Mouvement Anti-Utilitariste en Sciences Sociales, siehe unten), alle meine wissenschaftlichen, aber auch ethischen und politischen Kämpfe geführt habe und immer noch führe. Diese wurden über zwei oder drei Jahrzehnte hinweg von meinen Kollegen aus verschiedenen Disziplinen mit einem oft skeptischen und argwöhnischen Blick betrachtet, trotz vereinzelter, punktueller Sympathien. Allmählich haben die Dinge sich verändert. Ein internationales Symposium, das vor drei Jahren im Schloss von Cerisy-la-Salle stattfand, einem wichtigen Zentrum des intellektuellen Austauschs in Frankreich, ermöglichte es, das Ausmaß dieses Wandels
Vorwort
zu ermessen. An dem Treffen nahmen mehr als 30 weltweit bekannte Vertreter der Sozialwissenschaften teil: Soziologen, aber auch Anthropologen, Philosophen, Historiker, Geographen oder Wirtschaftswissenschaftler, die sich alle in zwei, für mich entscheidenden Punkten einig waren.1 Der erste bezieht sich darauf, dass die fachlichen Spezialisierungen in den Geistes- und Sozialwissenschaften nur dann einen Sinn und eine Berechtigung haben, wenn man sie als Momente einer allzu oft aus den Augen verlorenen allgemeinen Sozialwissenschaft versteht. Eine allgemeine Sozialwissenschaft, für die dringend… Spezialisten (nach dem Vorbild der Allgemeinärzte in der Medizin) ausgebildet werden müssen. Die zweite Übereinkunft bestand, zu meiner großen und begeisterten, wie ich gestehen muss, Überraschung, darin, dass, sogar unter Ökonomen, die Dringlichkeit gesehen wurde, die derzeitige wissenschaftliche und politische Hegemonie der Wirtschaftswissenschaft zu überwinden und dass dies nur auf einer anti-utilitaristischen Grundlage geschehen kann. Aber die nunmehr erzielte Einigung über den Anti-Utilitarismus ist nicht gleichbedeutend mit einer Einigung über das, was ich das Paradigma der Gabe nenne, d.h. die Idee, dass wir, um unser menschliches und gesellschaftliches Dasein in seiner ganzen Komplexität zu verstehen, von der Entdeckung von Mauss ausgehen (oder zu ihr zurückkehren) müssen. Macht es schließlich keinen Sinn, mit dem Anfang zu beginnen, also mit dem, was wir darüber wissen oder davon verstehen, wie frühe Gesellschaften funktionieren? Und hier komme ich auf die Frage zurück, die meine Verlegerin Sylvie Fenczak gestellt hat. Warum ist dieses Buch wichtig für mich? Aus drei Arten von Gründen. Zunächst einmal scheint es mir, dass die Konzeption der Gabe, die ich hier präsentiere, nun die volle Reife erlangt hat und dass es sich lohnt, sie in ihrer Allgemeinheit und Kohärenz einer breiten Öffentlichkeit bekannt zu machen. Diese Konzeption hat sich nach und nach, in aufeinander folgenden Phasen, von Hypothese zu Hypothese entwickelt. Jede Etappe hatte ihre Leser, aber nur sehr wenige von ihnen werden wohl die Zeit und Bereitschaft
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Vgl. Alain Caillé, Philippe Chanial, Stéphane Dufoix, Frédéric Vandenberghe (Hg.), Des sciences sociales à LA science sociale. Fondements anti-utilitaristes, Lordon 2018, mit Beiträgen von: Jeffrey Alexander, Romain Bertrand, Robert Boyer, Sérgio Costa, François Dubet, Olivier Favereau, Francesco Fistetti, Christian Grataloup, François Hartog, Nathalie Heinich, Marcel Hénaff, Philippe d’Iribarne, Christian Laval, Thomas Lindemann, Danilo Martuccelli, André Orléan, Elena Pulcini, Anne Rawls, Marshall Sahlins, Ilana Silber, Lucien Scubla, Michel Wieviorka.
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Das Paradigma der Gabe
gehabt haben, den Weg Schritt für Schritt, Etappe für Etappe, Buch für Buch mitzuverfolgen. Und wenn ich mich nicht täusche, wenn die Gabe tatsächlich »die Allgemeinform der Beziehung zwischen menschlichen Subjekten ist, insofern sie gewillt sind, sich als Personen zu betrachten, die als solche anerkannt und in ihrer Singularität gewürdigt werden«, dann ist klar, dass die Frage der Gabe, ihrer Natur und ihrer Modalitäten, für uns alle die wichtigste ist. Und in der Tat konnten wir, meine Freunde und ich, feststellen, dass jedes Mal, wenn wir unsere Gedanken vor sehr unterschiedlichen Personenkreisen, der breiten Öffentlichkeit, Verbandsaktivisten, Beamten, Managern usw. präsentieren, sie auf ein unmittelbares Echo stoßen, als ob sie endlich in Worte fassen würden, was alle mehr oder weniger undeutlich empfinden. Das liegt daran, dass die Frage der Gabe das Leben selbst berührt. Aber dieses Buch ist nicht nur für die breite Öffentlichkeit bestimmt. Es richtet sich auch an meine Kolleginnen und Kollegen in den Geistes- und Sozialwissenschaften. Eine gewisse Anzahl von ihnen erkennt sich, wie ich schon sagte, bereits jetzt im Anti-Utilitarismus wieder. Ich möchte nun versuchen, sie davon zu überzeugen, dass das Paradigma der Gabe die bisher allgemeinste anti-utilitaristische – nicht-ökonomische, wenn man so will – Formulierung darstellt, die sich am besten eignet, mit einer ganzen Reihe anderer bestehender theoretischer Konstellationen in Dialog zu treten, z.B. den Care-Theorien oder denen des Kampfes für Anerkennung, der pragmatischen Soziologien, der Ökonomie der Konventionen, der connected history, der Anthropologie usw. Natürlich lässt sich keine davon auf das Paradigma der Gabe reduzieren, aber jede kann in seine Sprache übersetzt werden und dieses im Gegenzug erhellen und bereichern. Dies gilt auch für einen der vielversprechendsten Fortschritte in der zeitgenössischen Soziologie, die Resonanztheorie, die der deutsche Soziologe und Philosoph Hartmut Rosa entwickelt hat, der bereits für seine Beschleunigung und nun für sein neuestes Buch Resonanz2 weltberühmt ist. Zwischen dem Gabenparadigma und der Resonanztheorie gibt es starke… Resonanzen. Aber um sie zu verdeutlichen und das Gabenparadigma in einen tatsächlichen Dialog mit den genannten Denkkonstellationen treten zu lassen, ist es notwendig, klar und entschieden über das hinauszugehen, was die Entdeckung von Mauss allein zu denken erlaubt. Es musste bereits explizit gemacht und gegenüber irreführenden oder denkfaulen Interpretationen in seiner ganzen theoretischen Kraft wiederhergestellt 2
Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt a.M. 2005; Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin 2016.
Vorwort
werden. Darum habe ich mich in meinen vorherigen Büchern über die Gabe bemüht. Es war auch notwendig, seine Verbindungen zur Frage des Kampfes für Anerkennung aufzuzeigen. Aber darüber hinaus und damit es seine volle philosophische oder psychologische Bedeutung erlangen kann, ist es notwendig, die Analyse unter dem Aspekt der Gabe nicht auf personale Beziehungen zu beschränken, sondern sie auf das Verhältnis der Subjekte zum Leben, zur Natur und zur Kreativität auszudehnen. Was ich hier tun will, dank der Begriffe Gegebenheit und Hingabe. Schließlich arbeite ich seit einigen Jahren unter dem Vorzeichen des Konvivialismus daran, zur Entwicklung einer gemeinsamen Sprache beizutragen, die theoretisch, ethisch und politisch zugleich ist und die von Intellektuellen und alternativen zivilgesellschaftlichen Aktivisten sehr unterschiedlicher Herkunft und ideologischer Sympathien geteilt werden kann. Das konvivialistische Manifest, das eine Reihe von Übereinstimmungen zwischen den 64 Unterzeichnern festhält, wurde in ein Dutzend Sprachen übersetzt. Es beginnt mittlerweile, in vielen zivilgesellschaftlichen und ökologischen Kreisen bekannt und geschätzt zu werden.3 Es ist das Ergebnis eines kollektiven Schreibprozesses. Doch eine Reihe seiner zentralen Thesen sind vom Paradigma der Gabe inspiriert. Sympathisanten des Konvivialismus finden hier die Grundzüge einer Anthropologie, einer Vision des Menschen, die sich stark von denen unterscheiden, die noch immer die Mehrheit der bestehenden politischen Projekte inspirieren. Ohne eine alternative Anthropologie wird keine andere Politik möglich sein. Zum Abschluss dieses Vorworts will ich es offen gestehen: ja, ich hänge an diesem Buch. Sogar mehr als an allen meinen vorherigen.
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Das konvivialistische Manifest. Für eine neue Kunst des Zusammenlebens, Bielefeld 2014 (Original: Manifeste convivialiste. Déclaration d’interdépendance, Lormont 2013, von 64 Autoren unterzeichneter Text, verfügbar unter https://www.lesconvivialistes.org/ oder http://www.diekonvivialisten.de/).
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Einleitung
Seit fast 40 Jahren arbeiten die Autoren, die sich um die Revue du MAUSS (Mouvement Anti-Utilitariste en Sciences Sociales) versammelt haben, jeder auf seine Weise an der Herausarbeitung aller Implikationen der Entdeckung, die Marcel Mauss in seinem berühmten Essay über Die Gabe (1925) gemacht hat und die zweifellos die wichtigste in der Geschichte der Sozialwissenschaften und der moralischen und politischen Philosophie ist. Eine Entdeckung, die man gegebenenfalls in folgenden Worten zusammenfassen könnte: Soziale Beziehungen werden geschaffen und aufrechterhalten, indem man in die Dynamik dessen eintritt, was Mauss die dreifache Verpflichtung zum Geben, Annehmen und Erwidern nannte.1 Nach all diesen Jahren sind wir immer noch erstaunt und verwundert, was diese scheinbar so einfache These zu sehen, zu denken, zu beobachten und zu verstehen ermöglicht. Aber jetzt müssen wir versuchen, über die Entdeckung von Mauss hinauszugehen und ihr zugleich treu zu bleiben. Dies ist das Ziel dieses Buches. Doch bevor das Warum und Wie erklärt wird, mag es nützlich sein, kurz die Geschichte der Revue du MAUSS vorzustellen, denn sie ist einzigartig und liefert eine gute Veranschaulichung für die Fruchtbarkeit des Geistes der Gabe, des »Geistes der gegebenen Sache«, ihres hau, jenes hau, das der Maori-Weise Ranapiri in einer Passage aus dem Essay über Die Gabe erklärt, die zu den bekanntesten und meistkommentierten der gesamten Anthropologiegeschichte gehört.
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Beziehungsweise, wie ich im Vorwort sagte, die von Mauss analysierte Gabebeziehung ist die Allgemeinform der Beziehung zwischen menschlichen Subjekten, insofern sie gewillt sind, sich als Personen zu betrachten, die als solche anerkannt und in ihrer Singularität gewürdigt werden.
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Das Paradigma der Gabe
Die einzigartige Geschichte des MAUSS Die Geschichte des MAUSS entwickelte sich aus bescheidensten Anfängen. Als wir, nämlich Gérald Berthoud, Professor für Anthropologie an der Universität Lausanne, und ich selbst, damals Soziologiedozent an der Universität Caen, 1980 an einem Symposium über die Gabe teilnahmen, war unsere Überraschung groß, dass fast keiner der Teilnehmer und Teilnehmerinnen, Ökonomen, Philosophen oder Psychoanalytiker, sich auf Mauss bezog, und dass für sie alle die Gabe nur eine Illusion sein konnte, da – das schien ihnen offensichtlich – nur das mehr oder weniger gut verborgene Eigeninteresse unser aller Handeln lenkt. Gleichzeitig wunderte ich mich über die ökonomistischen und individualistischen (man sprach nur noch von »methodologischem Individualismus«) Auswüchse, die die Sozialwissenschaften, die Biologie und die politische Philosophie heimsuchten. Wir beschlossen damals, mit einigen Freunden aus verschiedenen Disziplinen, eine Art Newsletter zu erstellen, um diejenigen zu vernetzen, die unsere Verwunderung und Sorge teilten. Wir nannten ihn Bulletin du MAUSS, was uns erlaubte, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen, indem wir einerseits den Utilitarismus kritisierten, der uns die Wiege der von uns angeprangerten ökonomistischen Auswüchse zu sein schien, und andererseits Marcel Mauss huldigten. Ohne dass es uns damals auch nur im Geringsten bewusst war – wir wollten lediglich mit den vorhandenen Mitteln Widerstand leisten –, tat sich damit ein fantastisches Forschungsprogramm vor uns auf, sowohl unter dem Aspekt der Kritik (am Utilitarismus und Ökonomismus) als auch in konstruktiver Hinsicht (die Erarbeitung dessen, was wir fünfzehn Jahre später »das Paradigma der Gabe« nennen sollten). Die vorhandenen Mittel waren, offen gestanden, mehr als bescheiden und sind es bis zum heutigen Tag geblieben. Da wir nicht von der symbolischen und finanziellen Unterstützung irgendeiner Institution oder Forschungseinrichtung profitierten, mussten wir alles selbst machen. Die Artikel, die wir im Bulletin du MAUSS veröffentlichten, wurden einfach fotokopiert, diejenigen, die wir selbst schrieben, wurden auf alten Schreibmaschinen getippt, die klecksten, die Umschläge (die nicht lange hielten) erstellten wir mit Hilfe von… Abziehbildern, und das Ganze wurde im Offsetverfahren gedruckt. Dabei halfen mir vor allem drei junge Doktoranden der Wirtschaftswissenschaften, ein Franko-Grieche, Rigas Arvanitis, und zwei Franko-Türken, Cen-
Einleitung
giz Aktar und Ahmet Insel2 , die ein paar Exemplare in den Buchhandlungen des Quartier Latin auslegten. Interessanterweise hatte uns Herr Thorel, Leiter der sozialwissenschaftlichen und philosophischen Abteilung in der PUFBuchhandlung an der Place de la Sorbonne, ins Herz geschlossen und deponierte unser Magazin, dessen Selfmadecharakter schon damals nicht mehr zeitgemäß war, stapelweise neben der Kasse. So wurden wir schnell von vielen Akademikern gelesen, vor allem von Ausländern, die neugierig waren und vorbeikamen, um zu sehen, was in Frankreich passierte. Von der ersten Ausgabe an hatten wir die Unterstützung von zwei großen Namen der Sozialwissenschaften, die unsere Absichtserklärung in der ersten Nummer sympathisch fanden: dem Ökonomen Albert Hirschman3 und dem Philosophen Charles Taylor. Wie man sieht, hatten sich gute Feen über unsere improvisierte Krippe gebeugt. Einige Jahre später war unsere Leserschaft groß genug geworden, dass der Verlag La Découverte uns vorschlug, uns unter seine Fittiche zu nehmen. Damit begann eine zweite Periode des Magazins. Aus dem Bulletin wurde die Revue du Mauss, die von 1988 bis 1992 mit einem mausgrauen Umschlag erschien, natürlich in viel höherer Verbreitung. Es galt, seriös zu werden, und das war eine gute Sache – auch wenn manche es bedauerten –, da die Zahl der Autorinnen und Autoren, die mit der Zeitschrift sympathisierten, erheblich zunahm. So sehr, dass es verlockend wurde, ihre Bücher zu veröffentlichen. An diesem Punkt wurde es notwendig, die Vereinbarung mit unserem Verleger zu überdenken. Ab 1993 profitierten wir zwar weiter von der Auslieferung von La Découverte und erschienen unter ihrem Label, machten uns aber wieder selbständig und übernahmen alle Herstellungskosten sowohl der
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Rigas, inzwischen mehr Soziologe als Ökonom, ist derzeit Direktor des IFRIS (Institut francilien recherche, innovation et société). Cengiz, Professor an der BahçesehirUniversität in Istanbul, die von der Erdogan-Regierung geschlossen wurde, ist der bekannteste Fürsprecher eines EU-Beitritts der Türkei. Ahmet, ehemaliger Vizepräsident der Universität Paris I und Gründer der französisch-türkischen Universität Galatasaray, ist der Hauptkolumnist der berühmten Zeitung Cumurryet, deren Leitung derzeit fast vollständig im Gefängnis sitzt und deren gesamtes Journalistenteam entlassen wurde. Beide sind, zusammen mit drei weiteren bekannten türkischen Intellektuellen, Initiatoren der Bitte um Vergebung an die Armenier für den an ihnen begangenen Völkermord. Beide haben inzwischen ein Einreiseverbot in die Türkei. Der vorschlug, uns auch mit C.B. MacPherson (Autor der Politischen Theorie des Besitzindividualismus) und dem heute weltberühmten Amartya Sen in Kontakt zu bringen. Aus verschiedenen Gründen kam dieser Kontakt schließlich nicht zustande.
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Zeitschrift – die zur Revue semestrielle du MAUSS wurde – als auch der neu geschaffenen Buchreihe Bibliothèque du MAUSS, die am Ende 45 Titel umfasste.4 Das Interessante an dieser Geschichte, und was erklärt, warum ich es für angebracht hielt, auf einige Höhepunkte hinzuweisen, ist, dass sich dieses wissenschaftliche Abenteuer, wie ich schon sagte, ohne jegliche institutionelle Unterstützung entwickelte. Ich glaube nicht, dass es dafür ein anderes Beispiel gibt. Wenn wir bis heute durchhalten konnten, ohne vom ursprünglichen Projekt abzuweichen, dann deshalb, weil es nicht nur ein wissenschaftliches war. Die Kritik am Ökonomismus, das Nachdenken über die Macht, aber auch über die Gefahren und Ambivalenzen der Gabe, all dies spricht viele Menschen an, die sehr schnell alle ethischen, existentiellen und (im weitesten Sinne) politischen Fragen wahrnehmen. Sie sind es auch, die uns eine finanzielle Unabhängigkeit sichern, die, wie man sich denken kann, äußerst prekär ist, aber letztlich ausreicht, um trotz einiger heikler Momente bis heute zu überleben. Die Kehrseite der Medaille, der zu zahlende Preis, war lange Zeit eine gewisse akademische Unsichtbarkeit. Da wir von keiner bestimmten Disziplin – Anthropologie, Wirtschaft, Soziologie, Philosophie usw. – herkamen, sondern von allen, da wir uns auf keine der etablierten Schulen beriefen (und sie obendrein kritisierten…), war es in verschiedenen Kreisen fast verboten, uns zu zitieren. Zumal wir, da wir keine institutionelle Identität besaßen, nicht in die üblichen Bezugssysteme passten, und man sich fragte, wer wohl hinter all dem steckte. Die Kritiken, die man an uns richtete (und noch heute manchmal richtet), waren von seltener Dürftigkeit. Sie unterstellten, wir würden, da wir die, wie ich es nannte, Axiomatik des Interesses – den Monismus, menschliche Handlungen durch Interesse zu erklären – kritisierten, daran glauben, dass menschliche Beziehungen auf Nächstenliebe und Altruismus beruhen. Eine merkwürdige Ausblendung der Tatsache, dass die von Mauss untersuchte Gabe eine »agonistische Gabe« ist, eine Art Krieg durch Gaben. Ein Krieg, der aus Krieg und Konflikt herausführt, aber dennoch Gewalt enthält.
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Von einigen davon wurden mehr als 10.000 Exemplare verkauft. Während die halbjährlich erscheinende Revue du MAUSS semestrielle nach wie vor von La Découverte und wieder auf deren Kosten veröffentlicht wird, wurde die Bibliothèque du MAUSS 2010 vom Verlag Le Bord de l’eau übernommen, der bereits fast zwanzig Titel veröffentlicht hat.
Einleitung
Nach und nach haben sich jedoch die Verdächtigungen zerstreut und die Kritiken sind seltener geworden. Auch wenn die Zeitschrift, aus dem Zentrum jeder einzelnen Disziplin betrachtet, weitgehend ein UWO, ein unbekanntes wissenschaftliches Objekt, bleibt, genießt sie inzwischen ziemlich durchgängig Respekt und Wertschätzung.5 Was nützt uns diese Aufmerksamkeit, wenn wir noch immer keine Mittel haben und über keinen institutionellen Rückhalt verfügen, der uns eine grundsätzliche akademische Legitimität garantieren würde? Drei Faktoren, die, wie ich glaube, eng zusammenhängen. Da wir nicht von einer etablierten Schule oder Clique abhängig sind, scheinen wir zunächst einmal für keine von ihnen eine Bedrohung darzustellen. Dementsprechend hat sich die Zeitschrift immer für einen radikalen Pluralismus entschieden und ihre Seiten allen Meinungen geöffnet, einschließlich derer, die ihren eigenen am meisten widersprechen, und darauf gesetzt, dass Fortschritte nur dadurch erzielt werden können, wenn man sich mit Gegnern auseinandersetzt, die als so intelligent wie möglich angesehen werden müssen, und die man nicht mit mehr oder weniger versteckten Beleidigungen überzieht oder so tut, als ob man sie nicht kennt. Schließlich, und das ist der entscheidende Punkt, auf den ich hinaus wollte und der diesen vielleicht etwas zu hagiographischen Umweg über die Geschichte des MAUSS rechtfertigt, stellt das Paradigma der Gabe – die Theoriebildung in der Sozialwissenschaft und der politischen Philosophie, die aus der Entdeckung von Mauss hervorgegangen ist – die prinzipielle Legitimität keiner bestimmten Denkschule in Frage. Jede von ihnen scheint ihm einen Teil der Wahrheit zum Ausdruck zu bringen und das tatsächliche Verständnis eine Dimension der menschlichen und sozialen Realität zu ermöglichen. Keine von ihnen berücksichtigt jedoch, oder wenn, dann auf sehr unzureichende und fragwürdige Weise, die Frage der Gabe, die doch wesentlich ist, wenn, wie wir eingangs bei der Zusammenfassung der Entdeckung von Mauss sagten, durch die Gabe die eigentlich sozialen Beziehungen geschaffen und aufrechterhalten werden. Jeder der bestehenden Ansätze oder Schulen in den Sozialwissenschaften sagen wir deshalb: »Ja, was ihr seht und zeigt, ist interessant, aber wäre es nicht noch interessanter, wenn ihr euer Blickfeld erweitern und die Gabe einbeziehen würdet? Und würdet
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Im Laufe der Zeit haben wir erfreulicherweise festgestellt, dass sich viele Professoren und Forscher zum Teil durch ihre Lektüre heranbildeten. Und das gilt umso mehr, seit vor einigen Jahren die Website der Revue du MAUSS permanente (www.journaldumauss .net) eingerichtet wurde, auf der mehr als tausend Originalartikel für Studierende frei zugänglich sind.
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ihr nicht, wenn ihr die Brille der Gabe aufsetzt, eine andere Sicht auf das erhalten, was ihr schon perfekt erfasst zu haben glaubtet?« Das Gabenparadigma hingegen beansprucht a priori keine bestimmte Wahrheit. Die von Mauss exhumierte Gabe stellt ein »gesellschaftliches Totalphänomen« dar, wie er es nannte. Allerdings ist das Konzept teilweise unbestimmt und diskussionsbedürftig. Halten wir hier einfach fest, dass die archaische Gabe wirtschaftliche, politische, soziale und symbolische Dimensionen vereint. Ich habe gerade gesagt, dass die verschiedenen Schulen der Sozial- (und Geistes-)Wissenschaften die wesentliche Realität der Gabe verfehlen. Aber umgekehrt bliebe das Gabenparadigma ohnmächtig, wenn es sich nicht auf sie stützen würde. Sagen wir also, dass es als Übersetzungsoperator fungiert. Oder besser gesagt, es entwickelt seinen eigenen Diskurs, doch dieser bereichert sich ständig durch die Übersetzung, die es an anderen bestehenden Diskursen vornimmt.6 Damit diese Übersetzungsarbeit tatsächlich geleistet und das Gabenparadigma als ein Mechanismus funktionieren kann, der Diskurse oder Ansätze, denen es fremd erscheinen mag, verknüpft und zusammenhält, ist es jedoch notwendig, über die anfängliche Entdeckung von Mauss hinauszugehen, um ihr eine ausreichende Allgemeingültigkeit zu verleihen. Der Bereich der Gabe muss ausgeweitet werden. Darum geht es in diesem Buch.
Welche Gabe? Für eine solche Ausweitung ist allerdings eine vorherige Klärung des Begriffs der Gabe selbst unerlässlich. Denn wenige Worte sind so voller Bedeutungsvielfalt, Mehrdeutigkeit, Ambivalenz und Ungewissheit, und wenige Worte vermitteln so viele Erwartungen und Hoffnungen oder, im Gegenteil, so viel Verachtung und Ablehnung wie das der Gabe. Vielleicht kein einziges. Dennoch, oder gerade deshalb, müssen wir bei ihm ansetzen, wenn wir einige der zentralen Fragen der politischen und der Moralphilosophie oder der Sozialwissenschaft in ihrer Einheit erfassen wollen, ohne uns durch ihre unendliche
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In einem anderen Bereich, dem der politischen Philosophie, könnte man sagen, dass der Konvivialismus (https://www.lesconvivialistes.org/ bzw. https://convivialism.org/), der aus Überlegungen innerhalb des MAUSS hervorgeht, von der gleichen Logik inspiriert ist. Er fungiert als Operator der Übersetzung, aber auch der Aktualisierung und Überwindung von Liberalismus, Sozialismus, Kommunismus und Anarchismus.
Einleitung
Zersplitterung in rivalisierende Doktrinen, Disziplinen und Teildisziplinen entmutigen zu lassen. Und, allgemeiner und einfacher, die Fragen zu verstehen, die sich uns im Alltag stellen, die Fragen des Lebens schlechthin. Aber ist es das Wort oder die Praxis der Gabe, nach der wir fragen müssen? Wir werden umso mehr versucht sein, erst mit dem zweiten Begriff der Alternative zu antworten, der Praxis den Vorrang vor dem Wort zu geben, als Letzteres bei Weitem nicht in allen Sprachen existiert. Jedenfalls nicht mit dem gleichen Bedeutungsumfang wie in den indoeuropäischen Sprachen. Aber wie können wir die Sache, die Praktiken der Gabe beobachten, wenn wir kein Wort haben, das es uns erlaubt, sie zu identifizieren, indem wir sie von denen unterscheiden, die nicht dazugehören? Es ist daher unmöglich, diesen Zirkel zu verlassen, wenn wir nicht mit dem Versuch beginnen, die Verwendung des Wortes Gabe etwas genauer zu bestimmen. Im Französischen, so bemerkt der Sprachwissenschaftler Lucien Tesnière, ist »geben« mit dem Verb »sagen« das typische Beispiel eines »trivalenten« Verbs, d.h. eines Verbs, das notwendigerweise drei »Aktanten« verbindet, denjenigen, der gibt, denjenigen, der empfängt, und den Gegenstand der Gabe.7 Wir können im Französischen so viele Dinge geben, von den kostbarsten Geschenken bis zu den heftigsten Schlägen, Leben, Geburt oder Tod, ein Steak beim Metzger, ein Baguette bei der Bäckerin, einen Tritt oder eine helfende Hand, Hoffnung oder Reue, zu sehen oder zu denken geben usw., dass »geben« im Französischen eine fast ebenso wichtige Rolle spielt wie »haben« oder »sein«. Aber was über die syntaktischen Funktionen des Verbs hinaus zur Fülle der Bedeutungen beiträgt, die mit dem Wort Gabe verbunden sind, ist natürlich die entscheidende Rolle, die es in der gesamten Geschichte des Christentums gespielt hat, einer Geschichte, deren Erben wir sind, ob wir wollen oder nicht. Das Christentum verpflichtet die Gläubigen, zu geben (und sich 7
Lucien Tesnière, Grundzüge der strukturalen Syntax, Stuttgart 1980 [1959]. Um diese Theorie der Trivalenz zu verstehen, dürfen wir die Akteure (Peter oder Paul) nicht mit den Aktanten verwechseln, die Elemente, Wesen oder Dinge, die an der Handlung teilnehmen oder mit ihr zusammenhängen. Über die Anwendung der Trivalenz-Theorie auf das Chinesische lese man die sehr technische, aber interessante Studie von Zewen Meng, »Jusqu’où étendre la notion de valence en chinois ?«, ELIS – Revue des jeunes chercheurs en linguistique de Paris-Sorbonne (Vol. 3, 2. Juli 2015), in der festgestellt wird, dass »geben«, 给 gěi, eines der problematischsten Worte im Mandarin-Chinesischen ist. Und zur Aktualität und Bedeutung von Tesnières Analyse kann man Vincent Descombesʼ Artikel »Dire/Donner«. Note sur les verbes trivalents«, Revue du MAUSS semestrielle, Nr. 50, 2. Sem. 2017, lesen.
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hinzugeben). Aus Liebe zu geben, ohne Berechnung, ohne eine Gegenleistung zu erwarten, und dafür zu sorgen, dass, wie das Matthäus-Evangelium sagt, »die rechte Hand nicht weiß, was die linke Hand tut«8 . Dieser Mahnung zufolge erscheint die Gabe zugleich als Wirkung, Zeichen und Beweis der Liebe. Gabe und Liebe scheinen also unlösbar miteinander verbunden zu sein. So wie manchmal (vor allem in der angelsächsischen Welt) gesagt wird, es gebe keine Freundschaft, sondern nur Freundschaftsbeweise, könnte man sagen, dass für das Christentum nur die Gabe die Realität der Liebe bezeugt. Aber welche Liebe? Wir wissen, dass sich die Evangelien und das Wort Christi in der Antike auf Griechisch verbreitet haben. Nun unterscheidet das Griechische drei Spielarten dessen, was wir unter Liebe verstehen: Eros, der der Ordnung des Begehrens angehört, Philia, die der geteilten und gegenseitigen Freundschaft angehört, und Agape, die die bedingungslose und asymmetrische Liebe bezeichnet, also, wie das Christentum sagen würde, zunächst einmal die Liebe Gottes zu seinen undankbaren Kindern. Eine Liebe, die umso schöner und eigentlich göttlich ist, als die Kinder sie in keiner Weise verdienen. Welches Modell der Liebe sollten die Kirche oder die religiösen Autoritäten fördern? Die Agape allein oder eine Agape mit einem Hauch von Philia oder sogar mit einem Anflug von Eros? Viele der großen theologischen Debatten, die im Laufe der Jahrhunderte aufeinander folgten, haben sich um diese Frage gedreht. Im katholischen Lager wurden sie im Frankreich des siebzehnten Jahrhunderts mit dem sogenannten Streit der reinen Liebe am heftigsten geführt. In gewisser Weise waren sie eine friedliche Fortführung der Debatten über die Art und die Bedingungen der Gnade, die die Religionskriege und die damit verbundenen Massaker im Jahrhundert zuvor angefacht hatten, und stellte die beiden größten Prediger der damaligen Zeit, Fénelon (1651-1715) und Bossuet (1627-1704), einander gegenüber. Muss man Gott um seiner selbst willen lieben oder um ins Paradies zu kommen durch eine Liebe, für die Gott dankbar sein wird? Man müsse ihn um seiner selbst willen und ohne persönliches Interesse lieben, antwortete Madame Guyon, eine Mystikerin, die am Hof Ludwigs XIV. von dessen strenger
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»Wenn du nun Almosen gibst, so lass keine Posaune vor dir ertönen, wie es die Heuchler in den Synagogen und auf den Straßen tun, damit sie von den Menschen verherrlicht werden. Wahrlich, ich sage euch, dass sie ihren Lohn erhalten. Wenn du aber Almosen gibst, so lass deine linke Hand nicht wissen, was deine rechte tut, damit deine Almosen im Verborgenen gegeben werden; und dein Vater, der im Verborgenen sieht, wird dir’s vergelten«, Matthäus 6:2.
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Mätresse, Madame de Maintenon, und theologisch von Fénelon unterstützt wurde. Ja, aber wie kann man sich der Reinheit dieser Liebe sicher sein? Mit einer Art Liebesprobe, die Madame Guyon unter dem Namen »unmögliche Annahme« präsentierte. Nehmen wir an, so erklärte sie, Gott habe mich für alle Ewigkeit verdammt, so müsste ich ihn dennoch über alles lieben. Worauf Bossuet, auf die Gefahr hin, der These des heiligen Augustinus zu widersprechen, die er an anderer Stelle selbst vertrat und der zufolge es nur sehr wenige Auserwählte (Prädestinierte) gibt, mit einem Versuch antwortete, eigennützige Selbstliebe und uneigennützige Gottesliebe miteinander zu versöhnen, indem er bekräftigte, dass der Wunsch nach dem eigenen Heil dem Zweck entspreche, für den Gott uns geschaffen habe, die ewige Seligkeit. Kurz gesagt, wir müssen Gott lieben, weil er nur unser Bestes will.9 Deshalb will er, dass wir auf uns selbst bedacht sind. Gleichzeitig änderte die Diskussion jedoch ihre Bedeutung und ihr Wesen, indem sie nicht mehr die Verpflichtung zur Liebe, sondern die finstere Realität des Interesses zur Wurzel allen menschlichen Handelns machte.10 Hinter den scheinbar edelsten Gefühlen wollten die jansenistischen »Messieurs« des Klosters von Port-Royal nur Eitelkeit und Eigenliebe am Werk sehen. »Das Ich ist hassenswert«, schrieb Pascal, ihr damaliger Schüler, der auch erklärte, dass das beste, profitabelste Interessenkalkül der Glaube an Gott sei. In diesem Sinne schrieb beispielsweise La Rochefoucauld (1613-1680), der pointierteste und bekannteste unter denen, die später als die französischen Moralisten oder die Moralisten des Großen Jahrhunderts bezeichnet werden sollten, im ersten Satz der Erstausgabe seiner Maximen: »Eigenliebe ist Liebe zu sich selbst und zu allen Dingen um seinetwillen; sie macht die Menschen zu Selbstanbetern und würde sie zu Tyrannen über andere machen, wenn das Schicksal ihnen die Mittel dazu gäbe […] sie lebt überall und von allem; und sie lebt von nichts […] und wenn sie sein kann, will sie gern auch ihr eigener Feind sein.« Und er stellte klar: »Der Eigennutz ist die See-
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Über den Streit der reinen Liebe, über die Debatte zwischen Bossuet und Fénelon und ihre theoretischen Implikationen, lese man mit Gewinn Michel Terestchenko, Amour et désespoir, de François de Sales à Fénelon, Paris 2000. Über den allmählichen Triumph des Interessendiskurses über den der Leidenschaften lese man das inzwischen klassische Buch von Albert O. Hirschman, Leidenschaften und Interessen. Politische Begründungen des Kapitalismus vor seinem Sieg, Frankfurt a.M. 1980.
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le der Eigenliebe«, ob es nun »Eigennutz am Guten« oder »Eigennutz an der Ehre« ist.11 Aber schon Hobbes (1588-1679) in England hatte in seinem berühmten Leviathan, der zu Recht als die Wiege aller modernen politischen Philosophie angesehen werden kann, noch düsterere Ansichten über die menschliche Natur entwickelt, als er z.B. schrieb: »Die Gemütsbewegungen, die in erster Linie die Unterschiede des Verstandes verursachen, sind hauptsächlich das mehr oder weniger große Verlangen nach Macht, nach Reichtum, nach Wissen und nach Ehre. Sie alle lassen sich auf das erste, nämlich das Verlangen nach Macht, reduzieren. Denn Reichtum, Wissen und Ehre sind nur verschiedenen Arten von Macht.«12 Oder: »So setze ich als allgemeine Neigung der ganzen Menschheit an die erste Stelle ein ständiges und rastloses Verlangen nach Macht und wieder Macht, das erst mit dem Tod aufhört.«13 Zwei oder drei Jahrhunderte lang wurde der Austausch zwischen Franzosen und Engländern, dem sich bald auch die Deutschen anschlossen, zu diesem Thema fortgesetzt und damit das eingeleitet, was die Schriftstellerin Nathalie Sarraute zu Recht als das Zeitalter des Argwohns bezeichnen sollte. Ein Argwohn, der alle Bereiche der sozialen oder individuellen Existenz, alle unsere Handlungen und alle unsere Gedanken erfassen sollte, die stets der Unreinheit und der bewussten oder, was wahrscheinlicher ist, unbewussten Heuchelei beschuldigt wurden. Seine großen Meister wurden Marx, Nietzsche und Freud. Und der Gegenstand des Argwohns schlechthin wurde die Gabe mit ihren vermeintlichen Entsprechungen, Liebe, Altruismus, Großzügigkeit, Uneigennützigkeit usw.
Politische Ökonomie und Soziologie Die Sozialwissenschaften ihrerseits entstanden in eben diesem Raum des allgemeinen Argwohns, der sich seit Hobbes und den französischen Moralisten durchgesetzt hatte. Ende des 18. Jahrhunderts im Fall der politischen Ökonomie, zu Beginn des 19. Jahrhunderts in dem der Soziologie. Was bei dieser
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La Rochefoucauld, Reflexionen oder Moralische Sentenzen und Maximen, in Fritz Schalk (Hg.), Die französischen Moralisten, Bremen 1980, S. 127, 129 und 122. Thomas Hobbes, Leviathan, Hamburg 1986, S. 60. Ebd., S. 81.
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Geburt der Sozialwissenschaften auf dem Spiel steht, wird schon auf den ersten Seiten von Adam Smiths Wohlstand der Nationen (1776) deutlich, das weithin als das erste Buch über wissenschaftliche Ökonomie angesehen wird. Darin schrieb Smith: »Erreicht er [der Mensch] auf andere Weise sein Ziel nicht, versucht er, die Gunst des Mitmenschen durch Unterwürfigkeit und Schmeichelei zu erlangen. Ein solcher Weg ist allerdings recht zeitraubend und deshalb auch nicht immer gangbar. In einer zivilisierten Gesellschaft ist der Mensch ständig und in hohem Maße auf die Mitarbeit und Hilfe anderer angewiesen, doch reicht sein ganzes Leben gerade aus, um die Freundschaft des einen oder anderen zu gewinnen.«14 Worauf diese Anprangerung der »Unterwürfigkeit« hier abzielt, ist die Gesamtheit der Gabe- und Gegengabebeziehungen, durch die man Freundschaften schließt. Sie sind nicht nur abscheulich, es ist erniedrigend, sie zu kultivieren, sondern sie brauchen obendrein Zeit. Ein Leben reicht dazu nicht aus. Die entstehende Wirtschaftswissenschaft präsentiert sich somit als die wissenschaftliche Erfindung, die es ermöglicht, Zeit zu sparen. Zeit, die, wie man seit Benjamin Franklin weiß, Geld ist. Was man aber weniger weiß, ist, dass man, um Zeit zu sparen, zunächst an der Gabe sparen, ja sie abschaffen muss. Fortan ist es vorbei mit all den Fragen über die verschiedenen möglichen Arten der Gabe oder der Liebe, über ihre Kombinationen und über ihr irdisches oder kosmisches Schicksal, über das, was sie uns hier auf Erden oder post mortem bringen können. Es ist eine von jeglicher Transzendenz befreite Gesellschaftsordnung, die es aufzubauen gilt. Sie gehorcht nur einem Motiv, nur einer Losung: Eigennutz. Der individuelle Eigennutz oder die Summe der Einzelinteressen, von deren Zusammenwirken man sich erhofft, dass sie, nach der Formel von Jeremy Bentham (1748-1832), dem Papst des Utilitarismus, zum »größten Glück der größten Zahl« führen wird. Die kanonische Formel für die neue Vernunft der Welt wird von Smith (1723-1790), wiederum am Anfang von Der Wohlstand der Nationen ausgegeben: »Nicht vom Wohlwollen des Metzgers, Brauers und Bäckers erwarten wir das, was wir zum Essen brauchen, sondern davon, daß sie ihre eigenen In-
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Adam Smith, Der Wohlstand der Nationen. Eine Untersuchung seiner Natur und seiner Ursachen, München 1978, S. 16.
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teressen wahrnehmen. Wir wenden uns nicht an ihre Menschen- sondern an ihre Eigenliebe, und erwähnen nicht die eigenen Bedürfnisse, sondern sprechen von ihrem Vorteil.«15 Im weiteren Fortgang von Der Wohlstand der Nationen erklärt Smith, dass der Markt als »unsichtbare Hand« funktioniert, eine weltliche Version der Vorsehung, die allgemeinen Wohlstand aus der Konkurrenz der Egoismen erzeugt. Bei näherer Betrachtung ist diese Formulierung bei Weitem nicht so originell und innovativ, wie oft behauptet wird. 1714 veröffentlichte Mandeville, auch als der menschgewordene Teufel (Man-Devil) bezeichnet, die vollständige Fassung seiner Bienenfabel mit dem Untertitel Private Laster, öffentliche Vorteile, in der er die folgende unmoralische oder amoralische Moral vertrat: »Seid so gierig, selbstsüchtig, verschwenderisch zu eurem eigenen Vergnügen, wie ihr nur sein könnt, denn dadurch werdet ihr das Beste für den Wohlstand eurer Nation und das Glück eurer Mitbürger tun«, wobei er sogar zu Diebstahl oder Prostitution ermunterte.16 Aber es ist möglich und sogar notwendig, viel weiter zurück zu gehen, um die Ursprünge dessen zu suchen, was ich die Axiomatik des Interesses nenne. Drei Jahrhunderte v. Chr. schrieb der chinesische Philosoph der Schule des Legalismus, Han Fei, in Opposition zu den Konfuzianern: »Wenn ein Arzt die Furunkel […] seiner Patienten aufschneidet, ohne mit ihnen verwandt zu sein, dann deshalb, weil das Interesse ihn dazu bringt, entsprechend zu handeln […]. Der Zimmermann (der Särge herstellt) hasst seine Mitmenschen nicht, er hat nur ein Interesse daran, sie sterben zu sehen.«17 Oder: »Altruismus erregt Hass: Eigeninteresse sorgt für Harmonie. Feindseligkeit und Konflikte bringen Eltern und Kinder gegeneinander auf, während man seinen Arbeitern nur eine nahrhafte Brühe vorsetzen muss, und schon wird man bestens 15 16
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Ebd., S. 17. Die Bienenfabel wurde 1729 um einen zweiten Band ergänzt. Sie sollte in der revidierten und mit einem Vorwort versehenen Version von Dany-Robert Dufour (La Fable des abeilles, Paris 2017) gelesen werden, für den die berühmte These von Adam Smith, die ich gerade erwähnt habe, nur eine beschönigende Version derjenigen von Mandeville ist und diese, unter dem Vorwand sie zu kritisieren, tatsächlich unterstützt. Die aufmerksame Neulektüre Mandevilles erlaubt es D.-R. Dufour, die ebenfalls sehr berühmte These Max Webers über die puritanisch-asketischen Ursprünge des kapitalistischen Geistes zu kritisieren oder zumindest zu relativieren. Eine Kritik und Relativierung, die in Beziehung zu setzen ist zu der von Colin Campbell und Charles Taylor entwickelten, auf die wir uns in Kapitel 10 beziehen. Han-Fei-Tse, Le Tao du prince, Paris 1999, S. 22.
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bedient.«18 Und schließlich: »Ein Fürst unterhält seine Untergebenen aus Berechnung, wie sie ihm aus Berechnung dienen. Daher ist die gemeinsame Grundlage ihrer Beziehung die Berechnung […]. Die Berechnung ist daher das einzige Bindeglied zwischen Fürst und Untertan.«19 Nichtsdestotrotz begann von dieser Zeit an ein neues Zeitalter, das sich, noch bevor es zum Zeitalter des Argwohns wurde, als das der Vorherrschaft der Wirtschaft über alle anderen Dimensionen der sozialen Existenz erweisen sollte, die bis dahin vorrangig zu sein schienen: Religion, politische Macht und die durch Gabebeziehungen besiegelten zwischenmenschlichen Bindungen, sei es im Bereich der Solidarität und Loyalität oder in dem der Unterwerfung unter Hierarchiehöhere, Adlige oder Priester.20 Es ist eine Gesellschaft außerhalb der Gabe, der Religion und der politischen Herrschaft, die sich zu erfinden beginnt. Ihr einziger Regulator und ihr einziger Kitt sollte im Prinzip das mehr oder minder gut kalkulierte materielle Interesse sein. Eine Gesellschaft, in der die »Interessen am Guten« definitiv den Sieg davontragen über die »Interessen an der Ehre«. Ist eine solche Gesellschaft, in der nur der individuelle Eigennutz herrschen würde, lebensfähig? Nein, antwortet die Soziologie, deren Anfänge anerkanntermaßen auf Saint-Simon (1760-1825), Vater des für die Industrialisierung Frankreichs so wichtigen Saint-Simonismus, und auf seinen Schüler Auguste Comte, Erfinder des Namens »Soziologie«, zurückgehen. Von vornherein begreift sich die Soziologie als das Andere der Wirtschaftswissenschaft, sowohl ihr Doppelgänger als auch ihr Rivale. Von der politischen Ökonomie entlehnt sie das Ziel einer rein objektiven und wissenschaftlichen Analyse der sozialen Beziehungen. Aber gegen diese wendet sie ein, dass sich soziale Beziehungen nicht allein auf Marktbeziehungen reduzieren, bzw. reduziert werden können und dürfen, und dass menschliche Subjekte unendlich viel kom18 19
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Ebd. Ebd., S. 23, Umgekehrt war Adam Smith viel weniger ein Verfechter des Eigennutzes, als gemeinhin behauptet wird. In seiner Theorie der moralischen Gefühle, die vor dem Wohlstand der Nationen geschrieben und nach ihm revidiert wurde, stellte er nicht den Eigennutz in den Mittelpunkt der menschlichen Beziehungen, sondern die »Sympathie«, die wir heute eher als Empathie bezeichnen würden. Im 16. Jahrhundert werden all diese Beziehungen noch in der Sprache der Gabe gedacht, wie der schöne Essay der amerikanischen Historikerin Natalie Zenon Davis (Autorin auch von Die wahrhaftige Geschichte von der Wiederkehr des Martin Guerre), Die schenkende Gesellschaft. Zur Kultur der französischen Renaissance, München 2002, in bewundernswerter Weise aufzeigt.
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plexer sind als die traurige und armselige Gestalt des Homo oeconomicus, auf der das gesamte Gebäude der Standardökonomie basiert.21 Natürlich sollte es jeder der großen Namen der soziologischen Tradition, Tocqueville, Marx, Durkheim, Weber usw., auf je besondere Weise und mit je unterschiedlicher politischer Zielsetzung sagen: Liberalismus im Falle Tocquevilles oder Webers, Kommunismus im Falle von Marx, republikanischer Sozialismus im Falle Durkheims. Aber dieser Widerstand gegen den wirtschaftlichen Reduktionismus, der in seiner großen Mehrheit sowohl von Historikern als auch von Philosophen und Ethnologen geteilt, unterstützt und entwickelt wurde, sollte bis in die 1970er und 1980er Jahre eine Konstante der Disziplin und in den Sozialwissenschaften insgesamt bleiben. Was geschah dann? Ein tiefgreifender Wandel in den Beziehungen zwischen den verschiedenen Disziplinen der Sozialwissenschaften. In diesen Jahren begannen die Ökonomen, die zwei Jahrhunderte lang ihren Untersuchungsgegenstand auf die Marktbeziehungen beschränkt hatten, ihre Erklärungsmodelle auf alle sozialen Aktivitäten, auf die Familie, auf das Wissen, auf die Politik, auf die Religion usw. anzuwenden. Mit anderen Worten, sie begannen, das Modell des Homo oeconomicus zu verallgemeinern und die Wirtschaftswissenschaft tendenziell zur allgemeinen Sozialwissenschaft zu machen, zu der die Soziologie trotz ihrer ursprünglichen Ambitionen nicht geworden war. Dazu genügte die These, dass wir uns in all unseren sozialen, familiären, amourösen, beruflichen usw. Beziehungen unter allen Umständen, bewusst oder unbewusst, als Käufer und Verkäufer verhalten, dass wir bestrebt sind, zum billigsten Preis zu kaufen und so teuer wie möglich zu verkaufen, auch wenn wir nicht immer und überall in Geld, sondern in Liebe, Macht oder Prestige bezahlen und bezahlt werden.
Der Essay über Die Gabe von Marcel Mauss und der MAUSS. Ein Mittelweg Was uns damals überraschte, ja verblüffte, mich und meine Freunde, die wir 1981 die Revue du MAUSS ins Leben riefen, war, dass dieser Hegemonialanspruch der Ökonomen überall in den anderen Sozialwissenschaften auf brei21
Über das Verhältnis von Utilitarismus, politischer Ökonomie und Soziologie lese man mit großem Gewinn das schöne Buch von Christian Laval, L’Ambition sociologique (SaintSimon, Comte, Tocqueville, Marx, Durkheim, Weber), Paris 2002.
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te Zustimmung traf. Überall, sei es in der Soziologie, der politischen Philosophie, der Biologie (aber weniger in der Geschichtswissenschaft oder der Ethnologie), fing man an, die Sprache der Ökonomen zu sprechen, die Theorie der rationalen Wahl, alias rational action theory. Oder, allgemeiner gesagt, das, was ich die Axiomatik des Interesses genannt habe. Das einflussreichste Buch des späten zwanzigsten Jahrhunderts in der politischen Philosophie, John Rawlsʼ Theory of Justice (1971), ist beispielsweise vollständig in dieser Sprache verfasst.22 Alles in allem war die allgemeine Tendenz zu stark. Auf diese Umwälzung der geistigen Arbeitsteilung sollte innerhalb weniger Jahre die Globalisierung folgen, d.h. die massenhafte Deregulierung, die globale Herrschaft der Märkte und mittlerweile zunehmend die Herrschaft der Finanzund Spekulationsmärkte. Denn wenn wir nur Wirtschaftssubjekte sind, darf uns nichts daran hindern, mit allen Mitteln und so schnell wie möglich so viel Geld wie möglich zu verdienen. Nur noch das zählt. Dumm gelaufen für diejenigen, denen das nicht gelingt. Die Revue du MAUSS setzte sich zunächst, wie gesagt, den wissenschaftlichen Widerstand gegen diesen ökonomistischen Vormarsch zum Ziel.23 Sie stützte sich in erster Linie auf den berühmten Essay über Die Gabe (1925) von Marcel Mauss, einem Schüler und intellektuellen Erben von Émile Durkheim, dem wichtigsten Inspirator der gesamten wissenschaftlichen Ethnologie in Frankreich. Zwei von Maussʼ Lektionen, neben vielen anderen, sind für jeden ernsthaften akademischen Kampf gegen die Axiomatik des Interesses absolut unerlässlich. Die erste lautet, dass »der Mensch nicht immer ein ökonomisches Tier, ja eine Rechenmaschine gewesen ist«. Die zweite ist, dass die frühen Gesellschaften (nennen wir sie so) nicht auf dem Markt oder auf Ver-
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Im ersten Kapitel werden diese Punkte etwas ausführlicher diskutiert. Der sich seit den 2000-2010er Jahren nicht mehr genau so präsentiert, wie ich es gerade in wenigen Worten und daher natürlich grob vereinfachend dargelegt habe. Die vorherrschende Sprache in der Sozialwissenschaft oder der moralischen und politischen Philosophie ist nicht mehr die der Rational-Choice-Theorie, der lingua franca der Ökonomen, sondern die des Dekonstruktionismus oder Dekonstruktivismus. Es geht darum, zu zeigen, dass alles »konstruiert« ist und daher nach Belieben dekonstruiert werden kann. Es ist jedoch nicht schwer, die Wahlverwandtschaften zwischen Homo oeconomicus und Homo deconstructivus zu erkennen. Marx und Engels haben es im Manifest der Kommunistischen Partei mustergültig gesagt. Unter der Herrschaft des Marktes löst sich alles in Luft auf, alles geht in Rauch auf. Alles wird dekonstruiert und muss dekonstruiert werden.
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trägen basierten, sondern auf dem, was Mauss die dreifache Verpflichtung24 zum Geben, Annehmen und Erwidern nennt. Kurz gesagt, sie basierten auf der Gabe. Auf der Gabe? Wie viele Missverständnisse und mehr oder weniger wohlwollende Fehlinterpretationen, wie viele Unterstellungen hat uns diese Erinnerung an die wesentliche empirische Entdeckung von Mauss nicht beschert!25 Damals war das Wort »Gabe« selbst nahezu unaussprechlich, fast obszön geworden. Pierre Bourdieu und ein großer Teil der Linken prangerten die Ideologie der Gabe im schulischen Bereich an. Zwar in einem anderen Verständnis des Wortes Gabe, das aber, wir werden sehen, von dem primären nicht völlig losgelöst war.26 Da wir die akademische Omnipräsenz der Axiomatik des Interesses kritisierten, unterstellte man uns, wie ich bereits sagte, dass wir menschliches Handeln durch Liebe und Altruismus erklären wollten.27 Dass wir eine Rückkehr zur Nächstenliebe vertreten würden, oder was auch immer. Einige Jahre später Schlug das Pendel in die umgekehrte Richtung aus und wir erlebten Anfang der 1990er Jahre eine massive Rückkehr des Nachdenkens über die Gabe im philosophischen Bereich. Und zwar im Rahmen der phänomenologischen Tradition, die von Husserl eingeleitet und von Heidegger fortgesetzt wurde. Seltsamerweise, wie wir sehen werden, machte diese philosophische Rückkehr der Gabe diese fast ebenso undenkbar wie ihre Ausgrenzung oder Verdrängung. Um der Entdeckung von Mauss ihre volle Tragweite zurückzugeben, mussten wir an zwei Fronten kämpfen, einer doppelten Undenkbarkeit der Gabe entgegentreten. Die erste ist leicht zu identifizieren. Sie resultiert 24
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Dieser Begriff der Verpflichtung würde lange Kommentare verdienen. Wir erinnern uns, dass Maussʼ Onkel und Mentor Émile Durkheim in den Regeln der soziologischen Methode soziale Tatsachen durch Zwang definierte, nicht so sehr durch physischen als durch moralischen Zwang, das Gefühl, dass man etwas tun muss, was von der Gesellschaft vorgeschrieben ist. Das Mauss’sche Thema der dreifachen Verpflichtung zum Geben, Annehmen und Erwidern nimmt offenkundig darauf Bezug, aber mit der Einführung der Gabe in den Durkheimismus räumt Mauss stillschweigend der individuellen Freiheit einen Platz ein, denn ohne Beteiligung der Freiheit kann es keine Gabe geben. Damit verweist der Ausdruck auch auf Rousseaus paradoxe Formulierung im Gesellschaftsvertrag: »Man wird sie zwingen, frei zu sein.« Natürlich vorbehaltlich wissenschaftlicher Interpretation und Diskussion. Ich gebe einen kurzen Überblick über die diesbezüglichen Debatten in Kapitel 1. Vgl. vor allem die Kapitel 2 und 12. So noch unlängst zum Beispiel ein Frédéric Lordon im ersten Kapitel seines Buches L’Intérêt souverain, Paris 2006.
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aus der Omnipräsenz der Axiomatik des Interesses, die, wie wir gesehen haben, damals selbstverständlich die gesamte Wirtschaftswissenschaft, aber auch einen großen Teil der Soziologie, der Biologie (insbesondere über die Soziobiologie) oder eine bestimmte Psychoanalyse usw. beherrschte. Wenn alles durch das Interesse erklärt werden kann, dann verblasst schon der bloße Gedanken an die Gabe. Die Gabe kann nur eine Maske des Interesses sein, eine Möglichkeit, bewusst oder unbewusst, »die Gunst des Mitmenschen durch Unterwürfigkeit und Schmeichelei zu erlangen«, wie Adam Smith sagte. Aber die phänomenologische Rehabilitierung der Gabe, die der Axiomatik des Interesses scheinbar radikal entgegengesetzt ist, sollte, unter dem Vorwand, das reine Wesen der Gabe enthüllen zu wollen, ebenfalls zu dem Schluss führen, dass diese definitiv nicht von dieser Welt sein kann. »Wenn ich gebe, dann gebe ich nicht«, schrieb der weltberühmte Verfechter der »Dekonstruktion«, der Philosoph Jacques Derrida, der meinte, dass wenn ich weiß, dass ich gebe, ich mich selbst geben sehe und daraus Ruhm oder narzisstische Befriedigung beziehe. Ich habe also ein Interesse daran, und da ich interessiert bin, bin ich kein wirklicher Geber. Somit erscheint ihm die Gabe als »Figur des Unmöglichen«.28 Mauss glaubte, er habe in der frühen Gesellschaft eine Gabe gesehen? Er hat sich getäuscht, behauptete Derrida. Es gibt keine Gabe, weil es in den von Mauss beschriebenen Praktiken eine Gegenleistung gibt, und diese Gegenleistung wird erwartet oder erhofft. Was Mauss für Gabe hielt, ist nur Tausch. Die wahre Gabe, um eine solche zu sein, müsse absolut uneigennützig, absichtslos, dem Opfer nahe sein. Ein anderer international bekannter Philosoph, Jean-Luc Marion, ging noch einen Schritt über diesen Ansatz hinaus29 , indem er erklärte, dass es für eine Gabe (nämlich eine »wahre« Gabe) kein Subjekt, das gibt, kein Objekt, das gegeben wird, und keinen Empfänger der Gabe geben dürfe. Wir werden schnell den Grund für eine solch verwirrende und eigentlich entmutigende Behauptung verstehen. Es sei jedoch gleich darauf hingewiesen, dass man sich von einem doppelten Inexistenzialismus30 , von den beiden symmetrischen Aussagen, die behaupten, dass die Gabe nicht existiert, befreien muss, um die wesentliche Entdeckung von Mauss voll zu würdigen. Die erste, die die Gabe auf die eine
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Jacques Derrida, Falschgeld: Zeit geben, 1, München 1993. Vgl. Donner la mort, Paris 1999. In Gegeben sei. Entwurf einer Phänomenologie der Gegebenheit, Freiburg i.Br./München 2015. Ich übernehme diesen treffenden Begriff von Marcel Gauchet.
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oder andere Form von Tausch, auf einen Kauf reduziert; die zweite, die im Anschluss an die Doktrin der reinen Liebe eine Gabe nur dort annimmt, wo ein radikaler Verzicht auf die Interessen des Gebers und/oder Unbewusstheit vorliegt – und sie deshalb in Wirklichkeit nirgendwo erblickt. Es ist jedoch wichtig, die Gründe für den Irrtum von so scharfsinnigen Köpfen wie Derrida oder Marion zu verstehen.31 Auf einer rein konzeptuellen Ebene, und wenn wir uns nicht mit den ethischen oder politischen Beweggründen des einen oder anderen aufhalten, ist er auf eine Verwechslung von Gabe und Gegebenheit zurückzuführen.32 Der deutsche philosophische Begriff Gegebenheit [Anm. d. Übers.: deutsch im Original], im philosophischen Französisch mit »donation« übersetzt, trägt der Tatsache Rechnung, dass »es etwas gibt statt nichts«, dass dieses Etwas da ist, als wäre es gegeben, von niemandem und für niemanden im Besonderen, und dass es daher als Gabe betrachtet werden muss. Ermöglicht wird diese Begriffsbildung, ja, sie drängt sich geradezu auf, wenn man weiß, dass man für »il y a« im Deutschen es gibt [Anm. d. Übers.: deutsch im Original] sagt. Innerhalb dieses Denkrahmens ist es offensichtlich möglich und für einige verlockend, sich ein großes Subjekt der Gegebenheit vorzustellen, Gott oder ein Äquivalent Gottes. Aber, wie der Physiker Laplace zu Napoleon sagte: »Wir benötigen diese Hypothese nicht«, und es steht jedem hier frei, sie zu verwenden oder nicht. Unsere Phänomenologen wenden missbräuchlich auf die Gabe an, d.h. auf eine Beziehung zwischen Subjekten, was nur für die Gegebenheit gültig sein kann, d.h. eine Beziehung ohne Subjekte. Ein fataler Irrtum.33 Das soll uns jedoch nicht dar31 32
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Ein Fehler, der zum Teil auch der Fehler desjenigen war, der als später Levinas bezeichnet werden kann. Und auch zwischen Interesse und Eigennutz. Eine Verwechslung, die für beide Inexistenzialismen gilt. Da durch Desinteresse an dem, was man tut, offensichtlich nichts erreicht werden kann, kommen beide Diskurse fälschlicherweise zu dem Schluss, dass Uneigennützigkeit unmöglich ist. Der von J.-L. Marion mit großer phänomenologischer Strenge entwickelt wird, aber unserer Meinung nach unangebracht ist. Man müsse sich, sagt er uns in Gegeben sei. Entwurf einer Phänomenologie der Gegebenheit, »um zur Gestalt der Gabe durchzustoßen, direkt an der Gegebenheit und nicht am ökonomischen Tauschakt […] ausrichten« (S. 205), und die »Gabe auf Gegebenheit und Gegebenheit auf sich selbst reduzieren« (S. 156). Und er fährt fort: »Die Reduktion von Gabe auf Gegebenheit und Gegebenheit auf sich selbst bedeutet demnach, die Gabe unter Absehung von der dreifachen Transzendenz, unter deren Einfluss sie bislang stand, zu denken: Gabe zu denken, indem man nacheinander die Transzendenz des Gabe-Empfängers, die Transzendenz des Gebers und schließlich die Transzendenz des Tauchobjekts einklammert.« (S. 156f.) Be-
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an hindern, von diesem Begriff der Gegebenheit selbst Gebrauch zu machen, wenngleich auf angemessenere Weise. Aber vorher müssen wir uns der Gabe im eigentlichen Sinne zuwenden und sie in ihrer menschlichen, allzumenschlichen Existenz studieren, ohne sie einerseits in Tausch, Vertrag und Markt, andererseits in Nächstenliebe, Altruismus, Opfer oder Gegebenheit aufzulösen. Dieser Aufgabe wollte sich die Revue du MAUSS widmen. Es ist unmöglich, hier zusammenzufassen, was in den mehr als 1500 seit 1981 erschienenen Artikeln, von denen viele recht lang und gehaltvoll sind, gedacht und entdeckt wurde. Ganz zu schweigen von den rund 60 Büchern, die im Rahmen der Reihe Bibliothèque du MAUSS veröffentlicht wurden. Um die Zeitschrift herum bildete sich ein informeller internationaler Zusammenhang aus Lehrern, Forschern, freien und nicht klassifizierbaren Autoren, Ökonomen, Anthropologen, Historikern, Soziologen, Philosophen, Essayisten usw., einige direkt empfänglich für den Versuch, alle Implikationen aus den Entdeckungen von Mauss zu ziehen (oder Autoren, die damit stark übereinstimmten wie Karl Polanyi, Hannah Arendt, Cornelius Castoriadis, Claude Lefort, André Gorz, Marshall Sahlins, Jan Huizinga, René Girard, Louis Dumont usw.), während andere schlicht und einfach von dem ihr anhaftenden Ruf intellektueller Qualität und Respekt vor dem Pluralismus angezogen wurden. Vom »Gabenparadigma«, das nach und nach aus dieser Arbeit hervorging, von dem Entschluss, soziale Beziehungen zu beobachten, indem man fragt, wie die dreifache Verpflichtung zum Geben, Annehmen und Erwidern je spezifisch funktioniert, werde ich in dieser Einleitung nur einige Elemente aufgreifen. Mauss erklärte, dass die im Essay über Die Gabe verwendeten Ausdrücke »›Geschenk‹ und ›Gabe‹ selbst nicht ganz exakt sind«, um gleich hinzuzufügen: »aber wir haben keine anderen«34 . Unsicher über die richtige Bezeichnung, spricht er manchmal von »échange-don«, manchmal von »donéchange« (Gabentausch), um deutlich zu machen, dass die Praktiken der Gabe sehr wohl im Rahmen dessen existieren, was man als frühe Gesellschaften bezeichnen kann, und dass sie weder auf Tausch und Tauschhandel noch auf
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halten wir gleichwohl die zentrale These J.-L. Marions im Kopf: »Was sich zeigt, gibt sich zuerst.« (S. 23) Sie wird uns in unserem Kapitel 9, das der Natur gewidmet ist, helfen, das zu vertreten, was wir einen methodologischen Animismus nennen. Marcel Mauss, »Die Gabe«, in ders., Soziologie und Anthropologie. Band II, Frankfurt/ Berlin/Wien 1978, S. 131. Auf der vorherigen Seite schrieb er im gleichen Sinne von dem, »was man so unzureichend mit dem Wort Austausch bezeichnet, des Tauschs oder der pemutatio von nützlichen Dingen«.
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radikale Uneigennützigkeit reduzierbar sind. Weder auf Egoismus noch auf Altruismus, wenn man so will. Es handelt sich hier um eine Realität sui generis, die durch nichts anderes als durch sich selbst erklärt werden kann. Was die Gabe inspiriert, ist ein Begriff, der »weder der einer ausschließlich freien und kostenlosen Leistung noch der des ausschließlich eigennützigen und utilitaristischen Produzierens und Austauschens ist«. Und er kommt zu dem Schluss: »Es ist hier eine Art Hybride aufgeblüht.«35 Das ist der Ausweg aus vielen Streitigkeiten über das Wesen der Gabe. Die Gabe wird nicht unbewusst gegeben, ohne Erwartung einer Gegenleistung. Man hofft, dass derjenige, dem man gegeben hat, erwidern, oder besser gesagt, seinerseits geben wird (einem selbst oder einem anderen), aber man ist sich dessen keineswegs sicher. Es ist diese Dimension der Ungewissheit und der Wette, dieser Handlungsspielraum, der die Gabe zwischen menschlichen Subjekten charakterisiert. Die Gabe ist nicht umsonst, aber es gibt eine Dimension oder einen Moment von Unbestimmtheit, wenn auch nur in Form eines Spielraums zwischen Geben, Annehmen und Erwidern. Werden wir noch etwas genauer. Zugleich Gabe und Tausch, Tausch und Gabe, enthält die von Mauss analysierte Gabe, die agonistische Gabe, ein Moment der Unbedingtheit und ein Moment der Bedingtheit, ein Zug um Zug, ein do ut des. Ein Moment der Unbedingtheit, da sie das Risiko in Kauf nimmt, dass der andere nicht erwidert. Sie verpflichtet den anderen nicht oder nur indirekt zur Gegenleistung. Es ist diese Dimension der Unbedingtheit, die das Bündnis besiegelt. Denn die Gabe ist ein Bündnisstifter. Sie sorgt dafür, dass man eher Freund als Feind wird. In diesem Sinne, weit entfernt von der Nächstenliebe, die erst viel später, in ihrem Gefolge, mit dem Auftreten der großen universalistischen Religionen, entstehen wird, ist sie ein genuin politischer Akt. Aber wenn man bei dem Bündnis nicht auf seine Kosten kommt, wenn im Rahmen der grundlegenden Unbedingtheit eine der Parteien sich benachteiligt fühlt, dann beginnt man, Rechnungen aufzumachen und zu begleichen. Das Regime der Gabe ist also weder das der strikten Unbedingtheit, wie es von den Verfechtern der reinen Liebe oder der reinen Gabe vertreten wird, noch das der allgemeinen Bedingtheit, von der allein diejenigen ausgehen, die nur auf Grundlage der Axiomatik des Interesses argumentieren können. Es ist das der bedingten Unbedingtheit.36 Beziehungsweise es gehorcht 35 36
Ebd., S. 131. All diese Punkte entwickle ich in Anthropologie der Gabe, Frankfurt a.M. 2008. Zur bedingten Unbedingtheit, vgl. dort Kapitel 4.
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weder dem alleinigen Eigeninteresse noch dem alleinigen Interesse für andere (aimance). Im Rahmen einer Verpflichtung, der sozialen Verpflichtung, zu geben, zu empfangen und zu erwidern, manifestiert es seine Kraft, seine Wirksamkeit, seine Macht nur dann, wenn es von der Freiheit und Kreativität des Gebers zeugt und wenn es im Gegenzug der Empfängerin die Freiheit lässt, zu erwidern oder nicht zu erwidern. Früher oder später, im gleichen Umfang, weniger oder mehr usw. zu erwidern.37 Diese Mauss’sche Auffassung der Gabe bietet einen sicheren, zugleich empirisch begründeten und (in seiner Mehrdeutigkeit) hinreichend geklärten Ausgangspunkt sowohl für die empirische Forschung in den Sozialwissenschaften als auch für die auf dem Gebiet der politischen und Moralphilosophie entwickelten Analysen. Im ersten Fall verweist sie auf einen gesellschaftlichen Zustand, in dem Recht, Wirtschaft, Politik, Religion, Verwandtschaft und Sozialität noch nicht auseinandergetreten sind und in dem sich die Gabe dann als das manifestiert, was Mauss ein gesellschaftliches Totalphänomen (oder -faktum) nennt. Der politischen und Moralphilosophie eröffnet sie die Möglichkeit, eine Art Urzustand der Moral – was Mauss als »Fels der unvergänglichen Moral« bezeichnete – und der Politik in Betracht zu ziehen. Aber was hat das mit den heutigen Gesellschaften zu tun? Einer der großen Fortschritte von MAUSS besteht darin, gezeigt zu haben, dass die Gabe keineswegs ein Randphänomen darstellt, das sich beispielsweise auf Weihnachts- oder Geburtstagsgeschenke beschränkt, sondern auch heute noch im Rahmen der primären Sozialität, der Gesamtheit der zwischenmenschlichen Beziehungen, in denen von der Familie bis zur Freundschaft oder der Welt der Kleinverbände die Persönlichkeit des Einzelnen wichtiger ist als das, was er tut, sehr präsent ist.38 Und dass selbst im Bereich der unpersönlichen und funktionalen Beziehungen, die theoretisch die Welt der sekundären Sozialität (des Marktes, der Wirtschaft, der Verwaltungen, der Wissenschaft usw.) regieren, da die Funktionen in Wirklichkeit immer von konkreten Personen ausgeübt werden, es weitgehend die Qualität der sie
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Wie bei allen menschlichen Handlungen gibt es auch bei der Gabe vier Hauptmotive, die in zwei sich überkreuzenden Paaren organisiert sind: einerseits Eigeninteresse und Interesse an anderen, andererseits Verpflichtung und Freiheit-Kreativität. Ich erläutere diese Analyse in A. Caillé, Théorie anti-utilitariste de l’action. Fragments d’une sociologie générale, Paris 2009, und werde in den nächsten Kapiteln darauf zurückkommen. Dieser Durchbruch wurde von J.T. Godbout initiiert. Vgl. J.T. Godbout (in Zusammenarbeit mit A. Caillé), The world oft the gift, Montreal 1998.
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verbindenden Gabe- und Gegengabebeziehungen ist, die ihre funktionale Wirksamkeit bestimmt.39 Von dieser Entdeckung ausgehend ist es möglich, das Gabenparadigma in den verschiedensten Bereichen zu entfalten, von der Medizin bis zur Wirtschaft, vom Sport bis zur Familie oder zum Vereinswesen usw.40
Vom einfachen zum erweiterten Gabenparadigma Um ihr ihre volle Tragweite zu geben, muss die Entdeckung von Mauss jedoch zunächst einmal präzisiert, erläutert und vervollständigt, aber auch erweitert und verallgemeinert werden. Mauss, der dem Reichtum und der Komplexität der sozialen Realitäten besonderen Wert beimaß, war allen spekulativen Begriffsbildungen gegenüber extrem misstrauisch. Als Feind falscher Abstraktionen war er nichtsdestoweniger ein Theoretiker von außerordentlichem Format, aber viele seiner theoretischen Annahmen blieben implizit, gleichsam in der Fülle des Tatsachenmaterials versteckt. Ein Teil der Arbeit von MAUSS sollte darin bestehen, eine ganze Reihe von Maussʼ Thesen, die als solche nie klar formuliert oder nicht vollständig entwickelt waren, vollständig sichtbar und explizit zu machen. Dies gilt zum Beispiel für die Verbindung zwischen der Gabe und dem Kampf für Anerkennung. Dass durch die agonistische Gabe, die Rivalität des Gebens, um die es in dem Essay über Die Gabe geht, Anerkennung gesucht wird, ist in vielen Passagen des Essays offensichtlich. Indem ich gebe, erkenne ich den Wert des Empfängers (oder seines Clans) an und bestätige gleichzeitig meinen eigenen Wert (oder den meines Clans). Aber diese Evidenz muss immer noch klar artikuliert werden, um sicherzustellen, dass die Reflexion über die Gabe mit der gesamten, heute so wichtigen Literatur, die sich mit den Kämpfen für Anerkennung befasst, in Verbindung gebracht wird. Und umgekehrt, um diese Debatte, die im Gefolge Hegels von Denkern wie Charles Taylor, Axel Honneth oder Nancy Fraser angestoßen wurde, zu bereichern, in-
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Was die Bücher von Norbert Alter zeigen, Donner et prendre. La coopération en entreprise, Paris 2009, und A. Caillé und Jean-Édouard Grésy, La Révolution du don. Le management repensé à la lumière de l’anthropologie, Paris 2014. Wie aus der Sammlung von Analysen hervorgeht, die Ph. Chanial in La Société vue du don. Manuel de sociologie anti-Utilitariste appliquée. Paris 2008, zusammengestellt hat.
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dem gezeigt wird, dass Anerkennung zuallererst die Anerkennung einer Gabe ist. Ebenso sollten wir nicht zögern, über die Ausführungen von Mauss hinauszugehen, wenn sie eindeutig unvollständig sind. Dies ist der Fall beim Thema der dreifachen Verpflichtung zum Geben, Annehmen und Erwidern. Dass Mauss sie identifiziert und benannt hat, ist eine echte wissenschaftliche Errungenschaft, die es ermöglicht zu verstehen, dass wir uns im Laufe unseres Lebens in vielfältige Gabe-Netzwerke eingebunden sehen, in denen wir abwechselnd Geberin, verschuldete Empfängerin oder mehr oder weniger von unserer Dankesschuld befreite Gegenleisterin sind. Aber bei genauerem Nachdenken wird schnell klar, dass dieser Zyklus nicht funktionieren könnte, wenn er nicht von einem vierten Moment in Gang gesetzt würde (das sich dem Register der sozialen Verpflichtung weitgehend entzieht, weil es auf die Schwäche des einzelnen Subjekts verweist), das Moment der Bitte, unabhängig davon, ob letztere explizit formuliert oder vom Geber einfach nur vorweggenommen oder erahnt wurde. Denn welchen Sinn hätte eine Gabe, wenn sie nicht einem Wunsch oder einem Bedürfnis des Empfängers entspräche? Der vollständige Gabezyklus ist folglich der des Bittens-Gebens-AnnehmensErwiderns (BGAE). Aber das ist der Zyklus, der sich abspielt, wenn alles halbwegs richtig läuft, d.h. wenn die Gabe wie ein Mechanismus funktioniert, der alle Fäden verknüpft, die die sozialen Akteure miteinander verbinden. Nennen wir ihn den symbolischen Zyklus der Gabe, wobei wir auf die Etymologie des Wortes Symbol zurückgreifen: was zusammenbringt. Dieser symbolische Zyklus existiert jedoch nur durch seinen oft unsicheren und stets zu erneuernden Sieg über den entgegengesetzten Zyklus, den diabolischen Zyklus (dessen, was trennt) des Ignorierens-Nehmens-Ablehnens-Behaltens (INAB). Mit dieser Klarstellung beginnen wir, über eine ansehnliche Zahl von Elementen einer elementaren Grammatik der sozialen Beziehungen zu verfügen.41 All dies ist durchaus denkbar im Rahmen dessen, was man als das einfache Gabenparadigma bezeichnen könnte, das perspektivisch auf einer Norm der Parität oder einfachen Reziprozität zwischen Gebern und Empfängern beruht. Damit die Gabe den Empfänger nicht beleidigt oder zerstört, statt ihm zu nützen – muss der Empfänger in der Lage sein, selbst zum Geber zu
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Systematisch auf die Analyse der Funktionsweise von Organisationen angewandt, in A. Caillé und J.-É. Grésy, La Révolution du don, a.a.O. Und mittlerweile erweitert auf das Gebiet der Psychologie in A. Caillé und J.-É. Grésy, Œil pour oeil, don pour don. La psychologie revisitée, Paris 2018.
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werden. Das ist vielleicht die erste Lektion des Essays über Die Gabe. Wenn wir aber wollen, dass das Gabenparadigma mit anderen Paradigmen oder anderen Strömungen des philosophischen und sozialwissenschaftlichen Denkens in einen fruchtbaren Dialog treten kann, oder besser noch, dass es als ihr größter gemeinsamer Nenner erscheinen kann, derjenige, in den – wie ich hoffe – alle anderen übersetzt werden können und dadurch klarer werden, müssen wir von einem einfachen Gabenparadigma zu einem erweiterten Gabenparadigma übergehen. Um die Theorien des Kampfes für Anerkennung in einen Dialog mit den Gabetheorien treten zu lassen, scheint es mir nicht unerlässlich, das einfache Gabenparadigma zu verlassen, auch wenn seine Ausweitung neue Einsichten bringt. Unmöglich ist hingegen, bei einem Begriff der einfachen Reziprozität stehenzubleiben, will man an die Care-Theorien anknüpfen, die in der heutigen Diskussion so wichtig sind, zumal der Care-Gedanke, jenseits der Reflexionen über das Verhältnis von Pflege, Fürsorge oder Aufmerksamkeit gegenüber anderen der feministischen Debatte neue Wege eröffnet. Warum und wie werden Frauen traditionell auf Pflegeleistungen festgelegt? Der Zusammenhang mit der Frage der Gabe ist hier offensichtlich. Einige Autorinnen versuchen, care als Arbeit zu verstehen, um die Festlegung von Frauen auf das, was sie entfremdet, zu vermeiden. Jedoch ist klar, dass Arbeit – vorausgesetzt, sie kann tatsächlich als Arbeit verstanden werden – nur dann wirksam, hilfreich oder heilsam sein kann, wenn sie eine Dimension der Gabe enthält. Aber diese Dimension der Gabe kann nicht in einer Logik der einfachen Reziprozität verstanden werden. Denn was kann ein neugeborenes Kind schon zurückgeben? Mehr noch, welche Gegenleistung kann von einem Kranken am Ende seines Lebens, von einem Menschen mit kognitiver Behinderung oder einem bettlägerigen alten Mann usw. erwartet werden?42 Die Gabe der Fürsorge, die man ihnen angedeihen lässt, muss jedoch nicht dazu führen, dass wir das Register der Mauss’schen Gabe verlassen, wenn wir bereit sind, im Sinne einer verallgemeinerten Reziprozität zu denken. In solchen Fällen kann ich darauf hoffen, dass das, was ich denen gebe, die außerstande sind, es jemals zu erwidern, mir zurückgegeben wird, wenn ich mich in der gleichen Situation wie sie befinde.43 Erste Ausweitung der Gabenzone.
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Zu diesem Punkt vgl. die bemerkenswerte Einführung von Ph. Chanial in La Société vue du don, a.a.O. Und »Don et care, une famille à recomposer«, Revue du MAUSS semestrielle, Nr. 39, 1. Halbjahr 2012. Vgl. Kapitel 6.
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Allerdings ist die Ausdehnung nicht ausreichend, um über eine ganze Reihe anderer Phänomene nachzudenken, die von entscheidender Bedeutung sind. Sagen Sportlerinnen und Sportler z.B. bei einem großen Spiel nicht, dass sie »alles gegeben« hätten? Dasselbe gilt für die Tätigkeit des leidenschaftlichen Künstlers oder der strengen Gelehrten, des Handwerkers oder der einfachen Angestellten, die sich ihrer Aufgabe »hingeben«, der Unternehmerin, des Landwirts oder des Managers, die ihre Stunden nicht zählen. Usw. All dieses Engagement ist eine Form von Großzügigkeit, die nicht oder nicht direkt mit der Gabe an andere verbunden ist. Es handelt sich hier um eine andere Art von Gabe. Eine Gabe an die zu leistende Aufgabe, an die Kreativität, an die Bewegung des Lebens selbst.44 An die Zukunft. Ich schlage vor, von Hingabe (adonnement) zu sprechen, um dieses Engagement in dem Bereich zu bezeichnen, den die Philosophin Hannah Arendt dem Handeln zuordnete, der Fähigkeit, etwas Neues zu erschaffen, etwas nie Gesehenes, nie Gehörtes, in dem sich die Fähigkeit des Menschen äußert, sich anderen in seiner Einzigartigkeit zu zeigen, Subjekt zu werden.45 »Der Wind wird günstig (adonne) für ein Segelschiff, wenn er in eine für die Fahrtrichtung günstige Richtung dreht, d.h. wenn er eher von achtern kommt«, heißt es im Dictionnaire de la marine. Wir geben uns hin (on s’adonne), wir kommen voran, wenn ein günstiger Wind uns treibt. Aber woher kommt dieser Wind? Wann entsteht er? Welcher Art ist er? Er resultiert aus 44
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Dies nennt der Dichter-Philosoph Henri Raynal »die Hingabe an das Unpersönliche«. Vgl. H. Raynal, Cosmophilie, Nantes 2016. Ich würdige den unschätzbaren Beitrag Henri Raynals zum Paradigma der Gabe und der Gegebenheit in »Henri Raynal, antiutilitariste absolu«, in Marie-Hélène Boblet und Belinda Cannone (Hg.), L’infini commence ici. L’œuvre d’Henri Raynal, Nantes 2018. Pierre Bourdieu benutzte den Begriff illusio, um sich auf die gleiche Realität zu beziehen, aber die Verwendung eines solchen Begriffs sorgte dafür, dass er seinen Gegenstand von vornherein verfehlt. Der Begriff illusio sollte (höchstwahrscheinlich als Folge der Kritik des MAUSS) den Bezug auf das Interesse ersetzen, das beim frühen Bourdieu allgegenwärtig war. Er meinte, dass man sich nicht auf einem bestimmten Betätigungsfeld engagieren kann, ohne sich auf das Spiel einzulassen, ohne in ludum (im Spiel) zu sein. Aber der Begriff illusio suggeriert von vornherein, dass alles Handeln illusorisch ist. Durch den Verzicht auf die Rhetorik des Interesses, ohne die unverzichtbare Unterscheidung zwischen Interesse für (leidenschaftliches Interesse) und Interesse an (instrumentelles Interesse) oder zwischen Interesse und Eigennutz vorgenommen zu haben, führt er den Gedanken fort, dass jedes Interesse für eine beliebige Tätigkeit letztlich nur die Maske des instrumentellen Interesses ist. Hier findet man den ihn inspirierenden Jansenismus wieder. Diese Kritik an Bourdieu führe ich in Kapitel 2 aus.
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einer Gabe, könnte man vielleicht sagen. Einer Gabe für die Malerei, für die Musik, für die Mathematik, für Fußball, Tennis, Skifahren, für alles, was man will. Dies ist eine neue Bedeutung des Wortes Gabe. Deren Beziehungen zur Mauss’schen Gabe voll und ganz ernst genommen werden müssen, wie der Dichter-Philosoph Lewis Hyde im Zusammenhang mit der Gabe des Künstlers verdeutlicht.46 Letzterer ist nur im eigentlichen Sinne ein solcher (zumindest vor dem Auftauchen des spekulativen Künstlers), wenn er mit der Gabe, die er erhalten hat, in der gleichen Weise umzugehen weiß wie man in der frühen Gesellschaft wissen musste, wie man ein kostbares Gut erwidert, nämlich mit einem Plus und vor allem ohne es für sich selbst zu behalten. Über die Herkunft solcher Gaben kann man trefflich streiten. Aber auf die eine oder andere Weise erkennt man, dass sie uns auf eine Dimension des Lebens verweisen, die über den Bereich der intersubjektiven sozialen Beziehungen, der Gabe zwischen Menschen, hinausgeht. Angefangen mit dem Leben selbst und allem, was dazugehört, Energie, Rhythmus, Anmut oder ihr Fehlen, das Graziöse oder sein Fehlen. Und in ihrem Gefolge, Charisma, Inspiration, Macht usw. An dieser Stelle gilt es, sich den Begriff der Gegebenheit wieder anzueignen, indem man ihn sozusagen auf die Füße stellt. Die Philosophen der phänomenologischen Schule47 führen uns, wie gesehen, in die Irre, indem sie vorschlagen, die Gabe nach dem Modell der Gegebenheit zu denken, d.h. einer subjekt- und absichtslosen Gabe, wodurch die Gabe zwischen Menschen undenkbar wird. Hingegen ist es wesentlich zu erkennen, dass uns unendlich viele Dinge, zweifellos die kostbarsten, gleichsam gegeben sind: das Leben, wie gerade erwähnt, aber auch die Natur, der Kosmos in all ihrer Vielfalt und sogar in gewissem Sinne die Pluralität der Kulturen, der Lebensformen und alles, was wir als Erbe erhalten.48 All das, bis hin zur gesamten Geschichte der Kunst, der Musik, der Literatur, der Wissenschaft, der Technik usw., ist uns in gewisser Weise gegeben, weit über das hinaus, was uns Freunde oder Verwandte, all jene, deren unmittelbare Empfänger oder 46
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Lewis Hyde, The Gift. Imagination and the Erotic Life of Property, New York 1979. Eine Übersetzung von etwa 40 Seiten dieses Buches findet sich in verschiedenen Ausgaben der Revue du MAUSS. Einige von ihnen. Das war zum Beispiel bei Paul Ricœur keineswegs der Fall, dessen Äußerungen über Gabe und Anerkennung den hier entwickelten sehr nahe kamen. Über dieses Verhältnis zur Natur vgl. Kapitel 8, in dem die These vertreten wird, dass genau diese Art, die Gegebenheit im Rahmen der Gabe zu denken (und nicht umgekehrt) unser Verhältnis zur Natur leiten und den eigentlich moralischen und politischen Teil des ökologischen Denkens inspirieren sollte.
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Erben wir sind, hinterlassen könnten. Auch wenn diese Gabe von niemandem, von keinem bestimmten Subjekt (oder allenfalls einer unendlichen und unbestimmten Vielzahl von Subjekten) stammt, auch wenn sie streng genommen nicht an uns gerichtet ist, müssen wir sie dennoch als solche betrachten, als eine Gabe, sie anerkennen und Dankbarkeit für sie empfinden, weil wir ohne sie nicht vollständig leben könnten. Ich schlage daher vor, die Gabe nicht als subjektlose Gegebenheit zu denken, sondern die (subjektlose) Gegebenheit als eine Quasi-Gabe.
Anwendungen des Gabenparadigmas Der gesamte zweite Teil dieses Buches ist der Untersuchung der Möglichkeiten gewidmet, die sich durch die Ausweitung der Gabenzone eröffnen, wie die Einbeziehung der Begriffe Hingabe und Gegebenheit sie ermöglicht. Gestatten sie uns zu erkennen, was man ansonsten nicht wahrnähme? Ich glaube, das tun sie. Warum spielen wir so gerne, so dass, wie der Dichter und Philosoph Friedrich Schiller in seinen Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen (1794) schrieb, »der Mensch nur spielt, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er nur da ganz Mensch ist, wo er spielt«, wenn nicht, weil wir uns auf das Spiel einlassen, uns ihm hingeben? So wie man sich, abwertend ausgedrückt, dem Alkohol oder einem Laster hingibt? Dasselbe gilt für den Sport. Aber auch für die Kunst, die Literatur, die Wissenschaft, das Reisen, Forschen, Kochen usw., alles, was die Würze des Lebens ausmacht. Wenn wir das Feld erkunden, das der Begriff »Hingabe« so erscheinen lässt, erkennen wir deutlich, dass menschliche Subjekte nur dann in vollem Umfang leben, nur dann ganz Mensch sein können, wie Schiller sagen würde, wenn sie aus sich selbst heraustreten, wenn sie sich einer Sache widmen (hingeben), die über sie hinausgeht. Wenn sie keinen konstruktiven Weg finden, dies zu tun, werden sie sich für die Zerstörung anderer oder ihrer selbst entscheiden.49 Wenn die Hingabe uns ergreift und mitreißt, dann deshalb, weil sie uns mit einer Dimension der Gegebenheit in Berührung bringt. Die Energie, die wir aufwenden, gibt uns ein Mehr an Energie zurück, das Leben wird uns
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Georges Bataille würde sagen, dass überschüssige Energie verbraucht werden muss. Es stellt sich die Frage, in welchem Register der Verbrauch zu erfolgen hat. Die großen Religionen verurteilen das Spiel ganz generell, weil sie möchten, dass die gesamte Hingabeenergie ausschließlich der Anbetung des Allmächtigen zufließt.
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dann geschenkt, und manchmal geraten wir in eine Form von Ekstase oder einen Zustand der Gnade. Aus diesem Grund ist der Sport, der die im Spiel enthaltene Gabe (oder das in der Gabe enthaltene Spiel, wie Kapitel 7 zeigt) vervielfacht, zur ersten, wenn nicht einzigen Weltreligion geworden.50 Die einzige Weltreligion, zusammen mit der des Konsums, dessen Einfluss auf uns schwer zu verstehen wäre, wenn wir die imaginäre Beziehung unterschätzen würden, die er der Gegebenheit induziert und die uns veranlasst, uns Waren oder Marken hinzugeben. Im Bereich der Kunst würde man von Inspiration sprechen. Das Interesse, Gabe, Hingabe und Gegebenheit in ihrer wechselseitigen Abhängigkeit zusammenzudenken, besteht darin, dass es uns erlaubt, uns mit Themen zu beschäftigen, die oft mit Emphase, auf mehr oder weniger mystische Weise, behandelt werden, ohne unsererseits in Mystik zu verfallen. Wie wir gesehen haben, ist die Mauss’sche Auffassung der Gabe eine bescheidene, die denen gegenüber, die sie als reine Liebe verstehen wollen, entschieden ihre »Mittelmäßigkeit« geltend macht. In Kapitel 11 entwerfe ich einige Merkmale dessen, was auf eine bescheidene Auffassung von Kunst hinauslaufen könnte. Sie beinhaltet, im Künstler nicht das reine Genie zu sehen, d.h. den Empfänger einer unvergleichlichen und unerklärlichen Gabe, den einzig Auserwählten einer höheren Instanz, der der Menschheit die ebenso einseitige Gabe seines Werks macht, die keine Gegenleistung ausgleichen kann. Vielmehr muss man die Künstlerin als jemand denken, die eine Gabe/Gegengabe-Beziehung zu der Gabe unterhält, die sie empfangen hat, jene, die ihr ermöglicht, sich hinzugeben, und dass sie gleichwohl in Gabe-Gegengabe-Beziehungen zu ihresgleichen involviert ist. Formulieren wir es noch anders. Die Begriffe Hingabe und Gegebenheit ermöglichen den Bruch mit dem Soziologismus, der Reduktion menschlicher Phänomeme auf reine Sozialbeziehungen, ohne dass ein Bruch mit der Soziologie oder, allgemeiner, mit der Sozialwissenschaft und der Philosophie notwendig wäre.51 Wie ich zu Beginn dieser Einführung angedeutet habe, 50 51
Vgl. Kapitel 10. Hier zeigt sich am deutlichsten die Nähe zu dem Ansatz, den der deutsche Soziologe und Philosoph Hartmut Rosa in seinem Buch Resonanz verfolgt. Die Weigerung, soziologische und philosophische Ansätze zu trennen, ermöglicht es, die Frage nach dem guten Leben wieder in die Soziologie zu integrieren. Wann leben wir gut? Wenn wir nicht nur mit anderen, sondern mit der Welt in Resonanz stehen bzw. treten, antwortet H. Rosa. Diese Formulierung ist treffend und aussagekräftig. Bleibt zu erklären, was
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ist der Grund dafür, dass Letztere sich der Gabe mit so viel Misstrauen oder Schwierigkeiten nähern und der Begriff geradezu nach Schwefel oder Ketzerei riecht, der, dass er sich fast unweigerlich auf die Religion bezieht. Diese Religion, die heute ein so massives Comeback erlebt, während man noch vor zehn oder zwanzig Jahren glaubte, sie sei am Ende, und die zu begreifen die Sozialwissenschaften sich so schwertun. Die Religion, die der Bereich der engsten Verbindung von Gabe, Hingabe und Gegebenheit schlechthin ist. In den Kapiteln 12 und 13 versuche ich zu zeigen, wie der Bereich des Religiösen (von Religion und Religiosität) denkbar wird, indem ich diese Begriffe in die richtige Reihenfolge und den richtigen Zusammenhang stelle. Und damit auch der Bereich der therapeutischen Wirksamkeit. Denn die Religion pflegt und heilt – manchmal – wie es auch die Medizin oder die Psychotherapien zu tun versuchen. Ein weiterer Begriff, der schwer zu handhaben ist, zweifellos weil er eine mehr oder weniger enge Beziehung sowohl zur Gabe als auch zur Religion unterhält, ist der der Macht. Diese Macht, die, wie Mauss zeigte, denjenigen zukommt, die in der Position sind, einseitige Gaben zu machen, weil die Empfänger nicht in der Lage sind, sie zu erwidern. Ebenso machen die von den universalistischen Religionen heraufbeschworenen Gottheiten den Menschen Gaben, die in keinem Verhältnis zu dem stehen, was die Menschen im Gegenzug leisten können. Deshalb haben sie Macht über sie und zwingen die Menschen zur Heteronomie. In ihrem Streben nach Emanzipation und Autonomie erweisen sich die Sozialwissenschaften oder die Philosophie letztlich im Umgang mit der Macht als ebenso verlegen wie mit der Gabe oder der Religion. Die Macht, von der man nicht genau weiß, worin sie besteht, stellt
Resonanz verursacht oder ermöglicht. Und hier ist es, wie mir scheint, das Gabenparadigma, das weiterführt. Wie wir in Œil pour oeil, don pour don. La psychologie revisitée (a.a.O.) erklären, liegt die Voraussetzung des Glücks (der Resonanz, wenn man so will) in zwischenmenschlichen Beziehungen in der Fähigkeit der Partner einer Beziehung, sowohl bitten als auch geben, annehmen oder erwidern zu können. Weder zu viel, noch zu wenig, und zum richtigen Zeitpunkt. Darin besteht die wahre und natürliche Großzügigkeit, und ich schlage vor, sie Gabefähigkeit 1 zu nennen. Aber die Anerkennung, die zwischen Gabepartnern entsteht, ist nur dann voll befriedigend, wenn sie auf etwas anderes abzielt, wenn sie jedem das Gefühl vermittelt, am Leben teilzuhaben oder mit ihm zusammenzuhängen, wenn sie für eine Form von Kreativität zeugt, die ich als Gabefähigkeit 2 bezeichne. Gabefähigkeit 2, die sich auf die Gegebenheit durch Hingabe(n) bezieht. Ich komme am Schluss auf die Beziehungen zwischen dem Gabenparadigma und der Soziologie von H. Rosa zurück.
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für sie das dar, was kritisiert werden und wovon man sich befreien muss, um endlich zur Autonomie zu gelangen. Und die Reaktion ist ungefähr die gleiche wie gegenüber Autorität und Charisma. Ich glaube, dass es dringend geboten ist, aus diesen Negationen herauszukommen und diese verschiedenen Begriffe in Beziehung zueinander zu setzen, und vor allem die Verwechslung von Macht und Herrschaft zu vermeiden, die nahezu die Regel ist, zumindest in der französischen Soziologie. Auch hier scheint mir das erweiterte Gabenparadigma Fortschritte zu erlauben.52
Zu diesem Buch Vielleicht ist es nicht nutzlos, zum Schluss noch eine Anmerkung hinzuzufügen, um den Geist zu verdeutlichen, in dem ich dieses Werk verfasst habe. Zunächst einmal wünsche ich mir, dass es für alle Leserinnen und Leser guten Willens, die nicht unbedingt über die wissenschaftlichen Diskussionen in der Philosophie oder Soziologie auf dem Laufenden sind, vollständig und direkt zugänglich ist. Und ich habe guten Grund zu der Annahme, dass dies ein vernünftiges Ziel ist, da die Revue du MAUSS seit ihrer Gründung von sehr unterschiedlichen Gruppen gelesen wird. Aber ich verfolge, wie erwähnt, in diesem Buch auch einen wissenschaftlichen Anspruch, auch wenn ich mich vor der Verwendung des Wortes Wissenschaft im Zusammenhang mit den Sozialwissenschaften und erst recht mit der Philosophie in Acht nehme. Ich verwende es hier nur der Kürze halber. Unnötig zu verheimlichen, dass das vom MAUSS geförderte Wissensprojekt nach und nach sehr ehrgeizig geworden ist. Vollkommen bescheiden, aber dennoch sehr ehrgeizig. Vollkommen bescheiden, da wir nicht vorgeben, a priori eine Antwort auf irgendetwas zu haben. Alles ist offen für empirische Untersuchungen, für konzeptionelle Vertiefungen und für den Dialog mit allen Denkschulen, allen Methodologien.53 Dies ist die eigentliche Grundlage der Sozialwissenschaften. Aber das Mauss’sche Projekt54 ist auch sehr ehrgei52 53
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Vgl. Kapitel 14. In La Sociologie malgré tout, Paris 2015, entwickle ich einen typologischen Ansatz für die verschiedenen methodologischen und erkenntnistheoretischen Vorgehensweisen, die in den Sozialwissenschaften möglich sind. Ich verwende das Adjektiv Mauss’sch, um zu bezeichnen, was das Werk von Marcel Mauss betrifft, und MAUSS’sch in Großbuchstaben, um zu bezeichnen, was der Arbeit des MAUSS entspringt.
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zig. Wie ich eingangs sagte, ist das vorherrschende Verstehensmodell in den Sozialwissenschaften in den letzten 30 oder 40 Jahren eines, das den ökonomistischen (ich nenne es »Axiomatik des Interesses«) oder, in jüngerer Zeit, den dekonstruktivistischen Erklärungstyp bevorzugt. Das ist gleichermaßen eine Niederlage des Denkens wie eine ethische Niederlage. Eine Niederlage des Denkens, denn die Erklärungen, die uns zu den Triebfedern der gesellschaftlichen Existenz und des individuellen Handelns angeboten werden, sind ausgesprochen dürftig. Eine ethische Niederlage, weil die neue herrschende Denkweise den Gedanken bekräftigt: greed is good55 , dass Gier zu fördern sei. Sofern es nicht das »Jeder ist sich selbst der Nächste« oder das verallgemeinerte »Rette sich wer kann« ist. Es ist leicht zu erkennen, wie diese Sicht der Menschheit nach und nach zur Stütze eines spekulativen Finanzkapitalismus wird, dessen globale Verwüstungen von Tag zu Tag eklatanter werden. In den 1980er und 1990er Jahren streckte die Soziologie die Waffen vor der dominant gewordenen Wirtschaftswissenschaft, ohne es wirklich zu merken. Und mit immer weniger Bewusstsein im Laufe der Jahre, da die Disziplin nach und nach ihre eigenen theoretischen, ethischen und (im weiten und allgemeinen Sinne des Begriffs) politischen Fragestellungen aufgab56 , um sie an die Philosophen outzusourcen, und sich selbst auf Umfragen und immer spezialisiertere Forschungsgebiete zurückzuziehen. Dasselbe gilt im großen Ganzen für die gesamten Sozialwissenschaften, die zunehmend in vielfältige Teilgebiete oder -disziplinen zersplittert sind. Um uns die Mittel an die Hand zu geben, die Gegenwart halbwegs richtig zu denken und Wege in eine Zukunft zu skizzieren, die weniger düster ist als die, die sich gerade abzeichnet, stehen wir also vor einer doppelten Herausforderung. Wir müssen eine gewisse Form von Einheit der Sozialwissenschaften (einschließlich 55
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Diese Formel (»Gier ist eine gute Sache«), die von der amerikanischen Essayistin Ayn Rand in Atlas shrugged popularisiert wurde, ist das Leitmotiv oder, wenn man so will, das Mantra des Neoliberalismus. 1991 kam eine für die American Library of Congress und The Book of the Month Club durchgeführte Studie zu dem Schluss, dass dieses Buch »das einflussreichste Buch über amerikanisches Leben nach der Bibel« sei. Mehr als sechs Millionen Exemplare waren bis dahin in den Vereinigten Staaten verkauft. Die endlosen Methodendebatten über das richtige Aussehen einer guten Feldstudie, die ein wachsendes theoretisches Vakuum nur schwer kaschieren können, und die systematisch konstruktivistisch-dekonstruktivistische Haltung, in die sich die so genannte kritische Soziologie allzu leicht flüchtet, und die ohne Weiteres mit einer axiologischen Scheinneutralität einhergeht.
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der politischen und Moralphilosophie) wiedergewinnen, ohne die Legitimität disziplinärer Spezialisierungen zu verleugnen. Diese Form der Einheit, die die klassische Soziologie mit starken Argumenten anstrebte. Anders als man glauben könnte, gibt es heute eine gewisse Form der Einheit in der Sozialwissenschaft, die sich als Verbindung einer ökonomischen Modellierung des immer noch vorherrschenden (und in der Gestaltung aller politischen Programme allmächtigen) Denkens, des Dekonstruktivismus und der disziplinären Hyperspezialisierung äußert. Das hilft uns allerdings nicht dabei, richtig zu denken und zu handeln. Aber, wie wir wissen, kritisiert man nur richtig, was man ersetzt. Eines der Ziele dieses Buches ist es, heterodoxen Ökonomen57 , ebenso wie Ethnologen, Historikern und Philosophen nahe zu legen, dass wir nicht zu den Vereinfachungen des Homo oeconomicus oder des transzendentalen Subjekts verurteilt sind und dass wir, wenn wir den ursprünglichen Charakter der Gabebeziehungen erkennen, alle beginnen können, auch von derselben Sache zu sprechen und es zu wissen. Es geht natürlich nicht darum, jede Denkschule aufzufordern, ihre eigenen Konzeptionen aufzugeben und sich wie ein Mann oder wie eine Frau dem Gabenparadigma anzuschließen. Vielmehr gehen wir am MAUSS die Wette ein, dass dieses Paradigma, da es zweifellos von Natur aus das interdisziplinärste ist, sich am besten für die Übersetzung anderer Paradigmen eignet. Umgekehrt ließe sich zeigen – wie ich oben in Bezug auf die Theorie der Anerkennung bzw. die Care-Theorie angedeutet habe –, dass der Nachteil der vorherrschenden Paradigmen in der Sozialwissenschaft oder der politischen und Moralphilosophie gerade die Nichtberücksichtigung der Gabendimension ist, die ihnen verschlossen zu sein scheint.58 Fast immer noch ein verbotener Zugang. Ich hoffe, mit diesem Buch bei der Aufhebung dieses Tabus helfen zu können. Und durch das, was der Philosoph John Rawls 57
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Meine Freunde, die »Regulationisten« oder die »Konventionalisten« zum Beispiel. Oder all jene, die sich aus Widerstand gegen die Herrschaft des ökonomischen Einheitsdenkens in der Association française d’économie politique zusammengeschlossen haben und versuchen, die Wirtschaftswissenschaft wieder in den Bereich der Sozialwissenschaften zurückzuholen. Roberto Marchionnatti und Mario Cedrini kommen in ihrem sehr interessanten Buch Economics as Social Science, London und New York 2017, nach einer sehr genauen und fundierten Analyse der Beziehungen zwischen Ökonomie und Anthropologie zu dem Schluss, dass die Zukunft der Ökonomie in einem im Lichte von Mauss und MAUSS neu gelesenen und interpretierten Keynes zu suchen ist. Dieses Argument wird in A. Caillé und F. Vandenberghe, Pour une nouvelle sociologie classique, Lormont 2016, entwickelt.
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in seinem Buch Politischer Liberalismus »übergreifenden Konsens« nennt, zur Entstehung einer Sozialwissenschaft beizutragen, die sich ihrer Einheit (einschließlich der Philosophie) bewusst und in Bezug auf die gleichen Wesensfragen einig ist, die jeder auf seine Weise stellt, gemäß seinem eigenen disziplinären oder ideologischen Werdegang. »Jeder auf seine Weise«, dieses Gebot gilt auch für die Lektüre dieses Buches. Ich habe es im Sinne einer gewissen Steigerung verfasst, aber es scheint mir, dass jedes der Kapitel auch getrennt gelesen werden kann, je nach vorrangigem Interesse des einzelnen Lesers. Obendrein haben sie einen ganz unterschiedlichen Status. Die Kapitel im ersten Teil entwerfen die allgemeinen Grundzüge dessen, was ich jetzt das erweiterte Gabenparadigma nenne. Aber eines der Ziele dieses Buches ist es zu zeigen, wie dieses Paradigma uns erlaubt, einen neuen Blick auf alle Dimensionen der sozialen Existenz zu werfen. Es gibt uns nicht nur Aufschluss über die zwischenmenschlichen Gabebeziehungen, sondern z.B. auch unser Verhältnis zur Natur, zu den internationalen Beziehungen, zum Konsum, zur Religion, zur Macht, zur Autorität usw., die alle hauptsächlich im zweiten Teil behandelt werden. Ich kann natürlich nicht beanspruchen, dass ich diese Themen erschöpfend behandelt habe. Es ist unmöglich, auf wenigen Seiten alles über so vielfältige und komplexe Themen zu sagen. Auch geht es für mich in diesen Kapiteln nur darum zu zeigen, wie man durch den Zugang über die Gabe wesentliche Dinge zu entdecken beginnt, Dinge, die sonst nicht wahrnehmbar, ja nicht einmal zu vermuten wären. Danach liegt es an anderen, diese Werkzeuge zu ergreifen und die Arbeit fortzusetzen. Ein Werk, das sich in den letzten drei, vielleicht schwieriger zu lesenden Kapiteln als ein Beitrag zur allgemeinen Soziologie präsentiert, jener allgemeinen Soziologie, die sich noch immer nicht konstituiert hat und dadurch dem Ökonomismus das Feld überlässt. Das erste befasst sich mit den Motiven des Glaubens, das zweite mit der Religion und das letzte schließlich mit Autorität und Macht. Glaube, Religion, Autorität, Macht, befinden wir uns hier nicht im Zentrum dessen, was die Sozialwissenschaft unberücksichtigt lässt oder unzureichend thematisiert? Eine letzte Klarstellung: Ich habe darauf geachtet, dieses Buch nicht mit Fußnoten und wissenschaftlichen Anmerkungen zu überfrachten. Die Fußnoten verweisen nur auf die Zitatquellen und auf die Titel, die als minimaler Hintergrund meiner Ausführungen unerlässlich sind. Ich habe nur das notwendige Minimum entwickelt, um Missverständnisse und Fehlinterpretationen zu vermeiden.
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I. Vom einfachen zum erweiterten Gabenparadigma
1. Ein obligatorischer Ausgangspunkt. Der Essay über Die Gabe von Marcel Mauss
Der 1924 erschienene Essay über Die Gabe von Marcel Mauss – ob man ihn nun als einen überlangen Artikel oder als ein kurzes Buch betrachtet – ist meiner Meinung nach der wichtigste Text in der Geschichte der Sozialwissenschaften. Und aus dem gleichen Grund wahrscheinlich auch der entscheidendste für ein richtiges Verständnis der wirklichen und letzten Fragen, um die es in der politischen und Moralphilosophie geht. Ganz zu schweigen von den Wirtschaftswissenschaften oder der Psychologie. Es ist nicht leicht, in wenigen Seiten einen Leser, der nichts über Marcel Mauss weiß, von der Bedeutung zu überzeugen, die ich ihm beimesse. Zumal keine Disziplin ihn eindeutig für sich in Anspruch nimmt. Obwohl zum Beispiel das Werk von Mauss für die Soziologie von größter Wichtigkeit ist, und er sich, wie sein Onkel Durkheim, als Soziologe verstand, wird er in den Soziologie-Lehrbüchern kaum als solcher berücksichtigt. Obwohl alle französischen Philosophen der Nachkriegszeit ihn gelesen hatten, insbesondere Jean-Paul Sartre, der ihm die wahrscheinlich treffendsten und verständnisvollsten Seiten seiner Entwürfe für eine Moralphilosophie gewidmet hat, taucht er in keiner Geschichte der Philosophie auf. Die Ökonomen wiederum ignorieren ihn fast komplett, auch wenn diejenigen, die sich für Karl Polanyi interessieren, ihn zwangsläufig gelesen haben werden und wenn die Arbeiten von George Akerlof oder von Samuel Bowles und Herbert Gintis, den Theoretikern der strong reciprocity in den Vereinigten Staaten, letztlich nichts anderes tun, als einige sehr partielle Aspekte dessen wiederzuentdecken, was der Essay über Die Gabe im Großen ausführt. Kurz gesagt, für alle Spezialisten der Geistes- und Sozialwissenschaften ist Mauss ein Ethnologe, und nichts weiter. Und obendrein ein Ethnologe der ganz besonderen Art. Als Gründer, mit Paul Rivet, des Institut d’ethnologie de la Sorbonne (1928), des historisch gesehen ersten Instituts in Frankreich, das professionelle Ethnologen ausbildet, und als Autor eines Handbuchs der Eth-
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nographie, das die Disziplin kodifiziert, hat er selbst keine »Feldforschung« betrieben, er ist kein Spezialist für irgendein Volk und würde daher von jeder zeitgenössischen ethnologischen Fakultät sofort abgelehnt werden. Was für ein Ethnologe ist er dann? Ein Schreibtischethnologe, der die gesamte ethnologische Literatur seiner Zeit gelesen hat, der in wer weiß wie vielen Sprachen spricht oder liest und dessen Studierende bewundernd sagten: »Mauss weiß alles.« Es ist, wie wir sehen werden, diese Fähigkeit, eine gigantische Menge an ethnographischem Material, das alle Regionen der Welt abdeckt, zu sammeln und zu synthetisieren, die dem Essay über Die Gabe seine unvergleichliche Breite verleiht. Und hierin liegt ein erster, wesentlicher Grund, warum dieser Text eines Ethnologen, der keiner ist, für die Soziologie, Philosophie oder Wirtschaft so wichtig ist. Denn all diese Disziplinen gehen zwangsläufig von einer anthropologischen Grundannahme aus, einer bestimmten Vorstellung des menschlichen Subjekts und seiner tiefsten Beweggründe. Dem Homo oeconomicus zum Beispiel in der Wirtschaftswissenschaft. Aber ihr Menschenbild, selbst im Fall der Soziologie, ist zumeist fast völlig spekulativ, eine vorgefasste, auf die Bedürfnisse eines bestimmten, für die Disziplin spezifischen Argumentationsstils zugeschnittene Sichtweise. Mit Mauss zeichnet sich zum ersten Mal eine Anthropologie ab, die nicht spekulativ, sondern empirisch ist und auf dem Studium von Dutzenden, ja Hunderten von Gesellschaften beruht. Und das ändert alles. Vorbehaltlich der Korrektheit des empirischen Materials, von dem er ausgeht, haben wir endlich einen halbwegs gesicherten faktischen Ausgangspunkt für die Untersuchung der Funktionsweise des Menschen in der Gesellschaft.
Marcel Mauss Aber wenn das wahr ist, warum ist Mauss dann doch so wenig oder so schlecht bekannt, wird die Leserin zu Recht fragen? Oder genauer gesagt, um die ausgezeichnete Formulierung eines Kommentators, Camille Tarot, aufzugreifen, warum ist er »ein prominenter Unbekannter« geblieben? Prominent, in der Tat, in der Geschichte der Ethnologie, wo er als Klassiker gilt, auch wenn die Ethnologen, die Erforscher spezieller Gebiete sind und sich systematisch jeder Verallgemeinerung verweigern, ihn nur mit Misstrauen und Distanz lesen. Aber weithin unbekannt oder eher verkannt, außerhalb dieses Feldes. Aus dem er in mancherlei Hinsicht herausgenommen zu werden verdient. Gebo-
1. Ein obligatorischer Ausgangspunkt
ren am 10. Mai 1872 in Épinal in einer jüdischen Familie, ist er der Sohn der Schwester von Émile Durkheim, dem Gründer der französischen Soziologenschule, dessen aufsässiger Schüler (der nie pünktlich seine Aufgaben abgibt), und intellektueller Erbe, der nach dem Tod seines Onkels 1917 mit der Aufgabe betraut werden sollte, die Leitung von L’Année sociologique, des zentralen interdisziplinären Organs der Schule, zu übernehmen. Es gilt also zu verstehen, dass sich Mauss, auch wenn er sich auf Ethnologie und vergleichende Geschichte der primitiven Religionen spezialisierte, dies im Rahmen einer allgemeinen Durkheim’schen Soziologie tat. Es ist daher nicht übertrieben zu sagen, dass sich in ihm die gesamte französische soziologische Tradition niederschlägt und ablagert, angefangen bei Saint-Simon und Auguste Comte und systematisiert von Durkheim, eine der drei großen soziologischen Traditionen, zusammen mit der deutschen (der von Max Weber oder Georg Simmel) und der amerikanischen (der Chicago School, Dewey und Talcott Parsons). Einer der Hauptgründe für die geringe Bekanntheit von Mauss in der Geschichte der Soziologie ist, abgesehen von seiner ethnologischen Spezialisierung, die Tatsache, dass er nie »ein richtiges Buch« geschrieben hat. Hunderte von Artikeln und Rezensionen, aber nie ein großes Buch.1 Nicht einmal seine Doktorarbeit über das Gebet wurde vollendet. Als habe er sich für immer eine Art jugendlicher Frische bewahren wollen, eine amateurhafte oder gar dilettantische Seite, eine Begeisterung für so viele Themen, dass es ihm unmöglich war, sich allzu lange mit einem bestimmten aufzuhalten. Seine Karriere war also brillant, aber unstet. Nach seiner Agregation in Philosophie schrieb er sich 1895 an der École pratique des hautes études ein – einem Zentrum französischer Gelehrsamkeit –, wo er unter der Leitung des großen Indologen Sylvain Levi, den er als seinen »zweiten Onkel« betrachtete, Sanskrit und Indologie studierte. 1901 erhielt er, obwohl er seine Dissertation nicht beendet hatte, den Lehrstuhl für die Geschichte der Religionen nichtzivilisierter Völker. Man muss in dieser Wahl eine Würdigung der DurkheimSchule und die Anerkennung der Bedeutung von L’Année sociologique sehen, die zwar von Durkheim geleitet wurde, dessen treibende Kraft aber Mauss war, zusammen mit seinem Freund und »Arbeitszwilling« Henri Hubert. Gemeinsam veröffentlichten sie zwei Texte, die noch heute Standardwerke auf ihrem Gebiet sind: »Essay über die Natur und die Funktion des Opfers« (1899) und
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Ich auch nicht… Dieses, vielleicht!
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»Entwurf einer allgemeinen Theorie der Magie« (1904)2 . Erwähnt sei noch ein weiterer erstaunlicher Text von Mauss, der zusammen mit Durkheim verfasst wurde: »Über einige primitive Formen von Klassifikation« (1905)3 , eine wahre Matrix der Elementaren Formen des religiösen Lebens, dem großen Werk Durkheims (1912), aber auch aller späteren strukturalistischen Studien, die eines Claude Lévi-Strauss oder eines Georges Dumézil über archaische Denkkategorien. Hinzu kommen viele weitere Artikel von großer Bedeutung.4 Dafür wurde er 1931, noch immer ohne abgeschlossene Dissertation, ans Collège de France gewählt, die renommierteste Hochschule Frankreichs. Diese musste er 1941 unter deutscher Besatzung aufgrund der antijüdischen Gesetze Vichys verlassen. Er starb 1950. Aber seine wichtigste Schrift, die in gewisser Weise alle anderen zusammenfasst, sie erhellt und im Gegenzug von ihnen erhellt wird, ist zweifellos der Essay über Die Gabe, der 1925 in L’Année sociologique veröffentlicht wurde.
Der Essay über Die Gabe Bevor wir etwas über den Inhalt dieses Buches sagen, sollten wir vielleicht auf eine überraschende Besonderheit hinweisen. Es ist sowohl sehr leicht als auch sehr schwer zu lesen. Und auch das erklärt zweifellos sein seltsames Schicksal als ein Buch, das gleichzeitig sehr bekannt, sehr berühmt und doch in Wirklichkeit sehr wenig bekannt ist. Es ist sehr leicht zu lesen, denn die Ausdrucksweise von Mauss, einem Liebhaber der Fakten und des Konkreten und Feind der Abstraktion, ist immer vollkommen einfach und transparent. Es gibt keine stilistischen Effekte. Was die Lektüre gleichwohl erschwert, ist
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In Marcel Mauss, Schriften zur Religionssoziologie, Berlin 2012, S. 97-218 und S. 243-404. Émile Durkheim, Marcel Mauss, Über einige primitive Formen von Klassifikation – Ein Beitrag zur Erforschung der kollektiven Vorstellungen, in Émile Durkheim: Schriften zur Soziologie der Erkenntnis, Frankfurt a.M. 1987, S. 257-284. Namentlich »Sociologie« (1901), mit Paul Fauconnet, »Über den jahreszeitlichen Wandel der Eskimogesellschaften« (1906), mit Beuchat [Marcel Mauss, Soziologie und Anthropologie I, a.a.O., S. 183-278], »Soziologische Würdigung des Bolschewismus« (1924) [Marcel Mauss, Schriften zum Geld, Berlin 2015, S. 184-215], »Die Techniken des Körpers« (1935) [Marcel Mauss, Soziologie und Anthropologie II, a.a.O., S. 199-220], »Eine Kategorie des menschlichen Geistes: Der Begriff der Person und des ›Ich‹« (1938) [ebd., S. 221-252].
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natürlich die große Vielfalt der wiedergegebenen Praktiken, die außerordentliche Fülle an ethnographischem Material, die ein wenig schwindelig macht. Aber all dieses Material ist auf der Grundlage klarer Fragen ausreichend strukturiert und geordnet, damit der Leser sich ohne allzu große Schwierigkeiten zurechtfinden und orientieren kann. Die andere Leseschwierigkeit rührt, paradoxerweise, gerade von der Einfachheit der Mauss’schen Schreibweise her, seiner Weigerung, abstrakt zu sein. Deshalb nimmt man bei der ersten Lektüre, ja selbst bei der zweiten, nicht so einfach wahr, dass hinter dieser enormen, scheinbar fast rein empirischen Darlegung tatsächlich eine äußerst reichhaltige und mächtige theoretische Ordnung steht, die sich aber nicht als solche zu erkennen gibt. Dies ist ein weiterer Grund für die relativ geringe Bekanntheit von Mauss: Er ist nicht der Autor eines expliziten soziologischen Systems, das sich leicht im Hörsaal vermitteln lässt. Nachdem ich etwa 40 Jahre lang in der Nachfolge von Mauss gearbeitet und versucht habe, einige seiner Entdeckungen in einer allgemeinen soziologischen (sagen wir: sozialwissenschaftlichen) Perspektive zu systematisieren, kann ich bezeugen, dass immer dann, wenn ich das Gefühl hatte, eine theoretische oder begriffliche Entdeckung gemacht zu haben, mir klar wurde, dass Mauss sie bereits gemacht und formuliert hatte, ich sie aber nicht gesehen hatte. Beziehungsweise, und hier liegt die paradoxe Schwierigkeit dieses Textes, die von seiner scheinbaren Einfachheit und Leichtigkeit herrührt: Mauss sagt so ziemlich alles, was es zu dem riesigen Thema, das ihn beschäftigt, zu sagen gibt, aber er sagt nicht, dass er es sagt. Erst wenn man es an seiner Stelle sagt, merkt man, dass er es schon geschrieben hat! Was sagt er uns? Was schildert er uns ausdrücklich? Der erklärte Zweck des Essays über Die Gabe ist, eine Art Archäologie des Tauschs und des Vertrags vorzunehmen. Er sammelt Daten aus der Antike, aber auch aus Skandinavien, Nordwestamerika oder Melanesien und stellt fest, dass am Ursprung menschlicher Gesellschaften nicht der Markt steht, also Kaufen und Verkaufen, Geben und Nehmen oder Tauschen. Ebenso wenig der Vertrag, und diese Entdeckung hat offensichtlich entscheidende Auswirkungen auf einen ganzen Teil der westlichen politischen Philosophie, die, zumindest von Hobbes bis John Rawls, über Locke, Rousseau Spinoza oder Kant, versucht, als Wurzel der Gesellschaft, zumindest normativ, einen ursprünglichen Gesellschaftsvertrag anzunehmen. Weder Markt noch Vertrag. Was dann? Die Gabe. Wie Mauss eingangs schreibt, »finden Austausch und Verträge in Form von Geschenken statt, die theoretisch freiwillig sind, in Wirklichkeit jedoch immer gegeben und erwidert werden müssen«. Um es prägnanter auszudrücken:
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Die archaische Gesellschaft beruht auf der dreifachen Verpflichtung zum Geben, Annehmen und Erwidern. Nicht auf Tausch, sondern auf Gabentausch (échange-don) oder Tauschgaben (don-échange), wie Mauss sagt, der zwischen beiden Begriffen schwankt. Nicht auf dem Vertrag, sondern auf dem, was die solidaristische Schule von Léon Bourgeois und Alfred Fouillée, die so großen Einfluss auf die Herausbildung des französischen Republikanismus Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts hatte, den Quasi-Vertrag nannte. Diese Logik der dreifachen Verpflichtung zum Geben, Annehmen und Erwidern arbeitet Mauss heraus, indem er sich insbesondere den Fällen zuwendet, in denen sie sich in der zugespitzten Form dessen äußert, was er totale agonistische Leistungen nennt. Warum »totale Leistungen«? Das archaische Gabensystem ist insofern total, als nicht einzelne Personen tauschen, sondern, über sie vermittelt, ganze Familien oder Clans. Es bildet auch das, was Mauss ein »totales soziales Phänomen« nennt, was bedeutet, dass sich durch dieses System alle eng miteinander verwobenen Dimensionen der Gesellschaft, seien sie religiös, rechtlich, moralisch, politisch oder wirtschaftlich, ausdrücken und sichtbar werden, und dass es die gesamte Gesellschaft »in Bewegung hält« und gewissermaßen mitschwingen lässt. Dieses System totaler Leistungen, in dem alles gegeben wird, nicht nur »Güter und Reichtümer, bewegliche und unbewegliche Habe, wirtschaftlich nützliche Dinge«, sondern auch »und vor allem Höflichkeiten, Festessen, Rituale, Militärdienste, Frauen, Kinder, Tanz, Feste, Märkte« usw.5 , wird agonistisch, wenn das vorrangige Ziel der Geber darin besteht, auf ostentative Weise zu zeigen, dass sie mehr und besser geben als ihre Empfänger und Rivalen. Wenn das Geben zu einem Kampf und sogar zu einem Krieg um Großzügigkeit wird. Im Wesentlichen widmet sich der Essay über Die Gabe allein dem Studium dieser agonistischen Gabe, und lässt deshalb die einfachen, nichtagonistischen totalen Leistungen bewusst außer Acht. Das, was man als geteilte Gabe bezeichnen könnte. Die drei von Mauss genannten Hauptbeispiele sind: 1. der berühmte Potlatch der Stämme des amerikanischen Nordwestens von Vancouver bis Alaska, beschrieben vor allem von F. Boas; 2. der Kula-Handel, der von den TrobriandInseln (und vom Osten Neuguineas) aus praktiziert wurde, über den B. Ma-
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Und auch, so könnte man hinzufügen, um die Nähe des Gabesystems zu dem des Krieges und der Rache zu verdeutlichen, Beleidigungen, Schläge, Wunden, Verzauberungen und Todesfälle.
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linowski in Argonauten des westlichen Pazifiks berichtet; 3. der Austausch wertvoller Taonga-Güter unter den Maori Neuseelands. Der in der anthropologischen Literatur überaus berühmte Potlatch beeindruckt vor allem durch sein Ausmaß agonistischer Rivalität. Alles wird gewonnen oder verloren bei den Potlatchs, diesen großen Festen, bei denen jeder darauf abzielt, »seinen Rivalen flachzudrücken«, ihn »in den Schatten seines Namens zu stellen«, indem er mehr gibt als dieser. Dieses Spiel, bei dem derjenige gewinnt, der am meisten verloren zu haben scheint – nach einer Logik, die eng mit dem tödlichen Kampf für Anerkennung verbunden ist, den Hegel in seiner Herr-Knecht-Dialektik beschreibt – beruht, so Mauss, auf zwei Prinzipien: Kredit und Ehre. Kredit: Man erwidert nicht gleich, sondern später. So spät wie möglich und mehr als gegeben wurde. Und zwar umso mehr, je später erwidert wird. Nur diejenigen, die mächtig genug sind oder sich für mächtig genug halten, können so die Gegengabe aufschieben. Denn wer nicht mehr erwidert, verliert die Ehre – das Gesicht würde man im ganzen Mittelmeerraum, in Japan oder in China sagen6 –, das zweite Prinzip des Potlatch, und fällt unter die Macht seines Gebers, ja kann sogar sein Sklave werden. Wenn die Rivalität zwischen Ebenbürtigen immer heftiger wird, wenn jeder abwechselnd zu zeigen versucht, dass er immer noch mehr geben kann, geht es nicht mehr so sehr um Geben als um Zerstören, um die Vernichtung der teuersten Güter, um zu zeigen, dass man Subjekt des Begehrens und kein Bedürftiger ist, dass man jenseits des Nutzens lebt, gegen jeden Nutzen. Zweifelsohne ist diese Institution des Potlatch extrem, und als sie beobachtet wurde, befanden sich diese indianischen Gesellschaften – wie wir heute wissen – in einer Zeit großer Umbrüche, aber sie liefert dennoch eine wesentliche anthropologische Lektion: Die Gabe, die nicht (im Übermaß) erwidert werden kann, vernichtet denjenigen, der sie empfangen hat. Sie schafft einerseits Herren und andererseits Sklaven. Der trobriandische Kula ist bedeutend friedlicher, doch auch hier, bei diesem aristokratischen Handel, der die Trobriand-Inseln mit ihren Nachbarn verbindet, geht es um eine Form der Rivalität um der Ehre willen, da man,
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Mauss bemerkt im Zusammenhang mit dem Potlatch: »Der Kwakiutl- oder HaidaAdlige hat genau die gleiche Vorstellung vom ›Gesicht‹ wie der chinesische Mandarin oder Offizier.« Und er fügt hinzu: »sein Ansehen verlieren bedeutet […] seine Seele verlieren: es ist wirklich das ›Gesicht‹, die Tanzmaske, das Recht, einen Geist zu verkörpern, ein Wappen oder Totem zu tragen – es ist wirklich die persona, die auf dem Spiel steht und die man beim Potlatsch verliert« (S. 71-72).
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wenn man an der Reihe ist, die wertvollsten und begehrtesten Güter geben muss, jene vaygu’as, jene Halsketten oder Armreifen, die »aus dem hübschen Perlmutt der roten Spondylus-Muschel« gefertigt sind und sich nie im endgültigen Besitz von jemandem befinden. Denn sie müssen immer wieder in Umlauf und ins Spiel gebracht werden – wie zum Beispiel der Davis Cup – und ihr Wert steigt mit dem ihrer früheren Besitzer und den Umständen ihrer Weitergabe. Wie im Fall des Potlatch gibt es auch Formen des Handels mit Gebrauchsgütern, aber dieser utilitäre Handel, dieser gimwali, wird nur in den Pausen zwischen dem aristokratischen Handel toleriert und darf vor allem nicht mit diesem verwechselt werden. Für einen trobriandischen big man gibt es nichts Schlimmeres, als beschuldigt zu werden, sein kula »wie einen gimwali« zu betreiben. Sich kleinkrämerisch zu verhalten, würden wir heute sagen. Das Beispiel der Gabe kostbarer Maori-Güter, der taonga, spielt im Essay über Die Gabe eine besonders wichtige Rolle, da Mauss auf seiner Grundlage versucht, die Hauptfrage zu beantworten, die er gleich zu Beginn an dieses von der dreifachen Verpflichtung zum Geben, Annehmen und Erwidern beherrschte System der Güter- und Dienstleistungszirkulation stellt: »Welches ist der Grundsatz des Rechts und Interesses, der bewirkt, daß in den rückständigen oder archaischen Gesellschaften das empfangene Geschenk obligatorisch erwidert wird? Was liegt in der gegebenen Sache für eine Kraft, die bewirkt, daß der Empfänger sie erwidert?« Auf diese Frage antwortet er, indem er sich von den Worten eines MaoriWeisen, Ranaipiri, inspirieren lässt, die ihn zu der Schlussfolgerung führen, dass es einen »Geist der gegebenen Sache« gibt, ein hau, eine spirituelle, magische Kraft, ein mana, eine Energie, die sowohl segensreich als auch gefährlich ist, die jeden töten könnte, der das Empfangene für sich behalten würde, ohne es zu erwidern oder zurückzugeben. Dieser Geist der gegebenen Sache ist der des ursprünglichen Gebers. Die logische Konsequenz dieser Annahme ist, dass es in diesen Gesellschaften keine klare Trennung zwischen Personen und Dingen, zwischen Subjekten und Objekten gibt. Das archaische Universum ist ein durch und durch personalisiertes Universum. Daraus folgt, dass geben bedeutet, etwas von sich selbst zu geben, und dass man sich durch das Geben selbst gibt.
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Kommentare zu Marcel Mauss Ist das die richtige Antwort? War es überhaupt die richtige Frage? War es die einzig wichtige Frage? Wir werden uns nicht auf diese Debatte einlassen, die eine riesige Menge an Literatur hervorgebracht hat. Wie alle großen Texte, zum Beispiel die von Weber oder Marx, hat der Essay über Die Gabe unzählige Kritiken oder Widerlegungsversuche hervorgerufen, von den empirischsten bis zu den theoretischsten und gegensätzlichsten. In idealtypischer Weise lassen sich vier hauptsächliche Lesarten des Aufsatzes unterscheiden. Die ersten, die ökonomistischen, wollen in der Gabe nur eine Tarnung des wirtschaftlichen Interesses sehen, eine Form von gesellschaftlich instituierter Heuchelei. Andere, die man als »inexistentialistisch« bezeichnen könnte, weigern sich, in Bezug auf die von Mauss berichteten Fakten von Gabe zu sprechen, oder wollen ihre Existenz nur in bestimmten Regionen oder für sehr begrenzte Zeiträume anerkennen. Eine dritte Art der Interpretation erkennt die Realität der Gabetatsachen an, will in ihnen aber nur das Ergebnis einer tiefer liegenden und ursprünglicheren Realität sehen, nämlich Opfer, Tausch oder Schuld. Ich hingegen glaube, und dies ist die vierte mögliche Position, dass das von Mauss freigelegte System der Gabe als eine originäre soziale Tatsache anerkannt werden muss, die als solche durch nichts anderes als durch sich selbst erklärt werden und nicht auf tiefere Realitäten, etwa die Religion oder die Wirtschaft, bezogen werden kann, da sie es ist, die die anderen ins richtige Licht setzt. Aber eine solche Position, die dem Essay seine ganze Bedeutung verleiht, ist schwer zu halten. Sie muss erobert, regelrecht zurückerobert werden von den brillantesten Schülern oder Erben von Mauss, deren Ruhm den seinen teilweise überstrahlt hat, als hätten sie ihn »in den Schatten ihres Namens« gestellt. Die drei wichtigsten sind, um bei Frankreich zu bleiben, Claude LéviStrauss, Georges Bataille und Pierre Bourdieu. In einer Absetzung von Mauss in seiner Einleitung zu einer Sammlung von dessen Texten, darunter dem Essay über Die Gabe, hat C. Lévi-Strauss, einer der größten Anthropologen der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, Autor des Buches Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft, 1950 den Grundlagentext des späteren Strukturalismus verfasst; d.h. jener Strömung, die, ausgehend von Frankreich in den 1960er Jahren, über Denker wie Foucault, Lacan, Derrida, Lyotard, dann Baudrillard usw. unter dem Namen French Theory die amerikanischen Universitäten erobern sollte. Noch heute hängen viele der global dominierenden
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Strömungen in den Sozialwissenschaften mit dem zusammen, was man gemeinhin Poststrukturalismus nennt. Der Vorwurf, den Lévi-Strauss Mauss macht, ist ein doppelter. Erstens, die Worte eines Indigenen, Ranaipiri, ernst genommen und damit als Erklärung für die Gegenleistung den hau, eine spirituelle Kraft, angenommen zu haben, während es dieser sei, so Lévi-Strauss, der erklärt werden müsse. Zweitens, drei Verpflichtungen – Geben, Annehmen und Erwidern – zu unterscheiden, während es in Wirklichkeit, wie er uns sagt, nur eine einzige gebe, nämlich die des Tauschens. Folglich ist es allein die formale Struktur des Frauentausches, die zu erklären und zu formalisieren C. Lévi-Strauss sich zur Aufgabe macht. Brillant, aber um den Preis, wie sein erster zeitgenössischer Kritiker, der Philosoph Claude Lefort, sagen sollte, der »Ausblendung des Kampfes der Menschen«. Und, so könnte man hinzufügen, der Gabe selbst, die so im Tausch aufgelöst wird. Georges Bataille wiederum hat im Gefolge Hegels und Nietzsches eine bei der literarischen Avantgarde sehr einflussreiche Erotologie begründet, indem er, im Gegensatz dazu, auf der Dimension des Kampfes und der Zerstörung bestand, bis zu dem Punkt, dass er in der Gabe nur noch die agonistische Dimension der Vernichtung und der Zerstörung dessen sah, was er »den verfemten Teil« nannte.7 Pierre Bourdieu schließlich wollte in der Gabe das Mittel zur Akkumulation eines »symbolischen Kapitals« sehen, eines Prestigekapitals, das zugleich Maske, Moment und Umweg der Akkumulation ökonomischen Kapitals ist.8 Der Nachteil all dieser Lesarten ist, unabhängig von ihren jeweiligen Vorzügen, dass sie das Mauss’sche System der Gabe ungemein verflachen, indem sie es auf die formale Struktur des Tausches, auf Verschwendung oder auf das letztlich ökonomische Interesse reduzieren. Hingegen hat man alles zu gewinnen, wenn man Mauss voll und ganz ernst nimmt und deshalb die vordergründige Lektüre des Aufsatzes überwindet, um sein wahres theoretisches Gerüst zu enthüllen.
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Jacques Lacan seinerseits entwickelte eine strukturalistische Interpretation der Freud’schen Psychoanalyse, die sowohl von Lévi-Strauss als auch von Bataille inspiriert ist. Ich kritisiere diese Bourdieu’sche Auffassung der Gabe im folgenden Kapitel.
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Von Mauss zum MAUSS Seit fast 40 Jahren arbeitet die Revue du MAUSS an dieser Aufgabe und verknüpft sie eng mit ihrem Projekt des Kampfes gegen alle utilitaristischen und ökonomistischen Reduktionismen. Ihr Ziel ist nicht, oder nur am Rande, zum wissenschaftlichen Studium des Mauss’schen Werkes beizutragen, sondern um dessen aktuelle Bezüge herauszuarbeiten, seine theoretischen Leistungen zu verdeutlichen, als Beitrag zu einer Sozialwissenschaft, die sich der Probleme unserer Zeit annimmt. Als wir jedoch zum Essay über Die Gabe zurückkehrten, zunächst, um den Utilitarismus zu kritisieren, wurde uns allmählich klar, dass wir seinen Reichtum unterschätzt hatten und dass er, wie ein verborgener Schatz, alle notwendigen Grundlagen für eine allgemeine Soziologie enthielt. Zu dieser trägt die Zeitschrift bei, indem sie das von ihr so genannte »Gabenparadigma« entwickelt, d.h. eine Art und Weise, die Gesellschaft als das Ergebnis aller Entscheidungen ihrer Mitglieder zu geben oder eben nicht zu geben, zu betrachten. Oder zu nehmen. Als das Integral – im mathematischen Sinne – des Hin und Hers zwischen dem von Mauss entdeckten Zyklus des Gebens-Annehmens-Erwiderns und dem komplementären Zyklus des Nehmens-Verweigerns-Behaltens. Was jeweils, in jedem Augenblick, auf dem Spiel steht, ist eine Entscheidung, vom Krieg zum Frieden (oder umgekehrt), vom individuellen zum gemeinsamen Interesse (oder umgekehrt) überzugehen. Es ist natürlich unmöglich, hier, in diesem ersten Kapitel, die allgemeine Soziologie, die sich aus dem Essay über Die Gabe ableitet, en bloc darzustellen. Ich möchte hier nur einleitend ganz kurz vier Leitgedanken erwähnen. •
Der erste und vielleicht am schwierigsten zu verstehende Punkt ist, dass die von Mauss rekonstruierte Gabe nichts, zumindest anfangs, mit Nächstenliebe, Güte oder Altruismus zu tun hat. Sie ist in erster Linie ein politischer Akt, der politische Akt schlechthin, durch den man von Krieg und Feindschaft zu Bündnis und Frieden übergeht. Aber das Gegenteil ist ebenfalls richtig. Die Gabe ist politisch. Das Politische wiederum, d.h. das erzeugende Moment einer bestimmten Gesellschaft, ist nichts anderes als die Gesamtheit der soeben erwähnten Gaben und Gabenverweigerungen. Und eine Gesellschaft muss zunächst politisch instituiert sein, bevor sie überhaupt über Fragen der Nützlichkeit und der Produktion nachdenken kann.
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Der große Fehler aller ökonomischen, utilitaristischen oder rationalistischen Handlungstheorien (der so genannten Rational Choice-Theorien) besteht darin, dass sie voraussetzen, dass Menschen nur einem Motiv gehorchen, dem Eigeninteresse. Sie sind eindimensional. Der aufmerksame Leser des Essays über Die Gabe wird dort hingegen eine viel kraftvollere und überzeugendere vierdimensionale Theorie erkennen, die zeigt, dass wir nicht einem einzigen Motiv gehorchen, sondern vieren, die in zwei Gegensatzpaaren angeordnet sind: Eigeninteresse, gewiss, aber auch Interesse an anderen (Empathie) auf der einen Seite; (soziale und biologische) Verpflichtung und Freiheit-Kreativität auf der anderen. Und, wie Mauss in seiner »allgemeinen soziologischen und moralischen Schlußfolgerung« betont, müssen diese vier Motive präsent sein und in einem ausgewogenen Verhältnis zueinander stehen. Das ist, könnte man sagen, das einzige Mittel, um zum Mittelweg zu gelangen. Eines der größten Hindernisse für die Wahrnehmung von Mauss in der Soziologie ist die Tatsache, dass er seine Schlussfolgerungen in Bezug auf archaische Gesellschaften zieht. Er sieht, dass es in der modernen Gesellschaft noch Spuren dessen gibt und geben muss, was er als »edle Verschwendung« bezeichnet. Aber er führt diese Beobachtung nicht weit genug aus. Ein Gutteil der Arbeit des MAUSS sollte darin bestehen, zu zeigen, dass das Universum der Gabe auch heute noch allgegenwärtig ist.9 Zunächst innerhalb dessen, was wir »primäre Vergesellschaftung« nennen, jenes Bereichs der Familie, Nachbarschaft, Kameradschaft und Freundschaft, in dem die Persönlichkeit des Einzelnen wichtiger ist als seine funktionelle Effizienz. Aber auch innerhalb der »sekundären Vergesellschaftung«, in den Unternehmen oder der Verwaltung, wo Funktionalität mehr zählt als Persönlichkeit, bleibt die Logik der dreifachen Verpflichtung zum Geben, Annehmen und Erwidern entscheidend, weil Funktionen von Menschen, von Personen, ausgeübt werden. Und es sei erwähnt, dass primäre und sekundäre Vergesellschaftung nur im allgemeineren Rahmen des Politischen funktionieren und sich entfalten können, d.h. in der Gesamtheit dessen, was die Mitglieder einer politischen Gemeinschaft einander geben oder verweigern (bzw. rauben). Das vielleicht Wichtigste für Mauss waren schließlich seine moralischen und politischen Schlussfolgerungen. Indem er auf diese Weise die Welt Vgl. zum Beispiel den von Ph. Chanial zusammengestellten und eingeleiteten Band La Société vue du don. Manuel de sociologie anti-utilitariste appliquée, a.a.O.
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der archaischen Gabe freilegte, glaubte Mauss, den, wie er es nannte, »Fels der unvergänglichen Moral« freigelegt zu haben. Und das zu Recht, wie ich meine. Denn nur wer in das unsichere Spiel der Gabe eintritt, erhält Zugang zur Moral. Aber sie ist es auch, die die Politik inspirieren muss. Um diesen Punkt zu verstehen, muss man wissen, dass der junge Mauss ein Freund und enger Mitarbeiter von Jean Jaurès war, dem Führer des republikanischen Sozialismus in Frankreich, der 1914 ermordet wurde. Ein marxistischer Sozialismus, aber einer, der sich weigerte, die Moral auf wirtschaftlichen Determinismus zu reduzieren. Mauss blieb sein Leben lang ein sozialistischer Aktivist. Aber er war auch, und gerade im Namen seines Ideals, einer der frühesten und hellsichtigsten Kritiker der Exzesse des sowjetischen Bolschewismus. Seine »Soziologische Würdigung des Bolschewismus« (1924) entstand zeitgleich mit dem Essay über Die Gabe. In beiden Fällen geht es darum zu zeigen, dass man, wenn der Mensch nicht auf den Homo oeconomicus, auf eine kalte Mechanik des Eigennutzes, reduziert werden kann, nicht in das umgekehrte Extrem verfallen und ihn zwingen darf, altruistisch zu werden. Dies kann nur zu Gewalt und Massenmord führen. Das Geheimnis des Politischen und der Demokratie besteht darin, Lebensräume zu schaffen, in denen die Menschen lernen, »einander gegenüberzutreten, ohne sich gegenseitig umzubringen, und zu geben, ohne sich anderen zu opfern«. Diese Lektion ist aktueller denn je, gerade heute, wo es so dringend geworden ist, sie auf globaler Ebene anzuwenden.
Schlussfolgerung Diese Perspektive mag sehr fern und utopisch erscheinen.10 Aber es ist nicht sicher, ob wir noch andere vernünftige Wetten haben, die wir eingehen können. Damit wir eine Chance haben, sie zu gewinnen, müssen wir natürlich alle möglichen Implikationen des Gabenparadigmas berücksichtigen. Einige davon untersuchen wir in den folgenden Kapiteln. Es ist aber auch wichtig, sicherzustellen, dass sie potenziell allgemeinverständlich sind, da sie wesentliche Realitäten berühren, die alle Menschen in allen Gesellschaften erleben. Damit dies der Fall ist, damit sich die Lektionen von Mauss leicht übersetzen 10
Der sich die konvivialistische Bewegung (https://www.lesconvivialistes.org/) verschrieben hat.
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lassen und von allen gehört werden können, möchte ich hier als Hinweis die Tatsache erwähnen, dass Mauss in seinem Bemühen, »totale gesellschaftliche Tatsachen« zu denken, jedes soziale Phänomen in eine komplexe Gesamtheit einzubetten, dem radikalen dialektischen Immanentismus sehr nahe kommt, der für das chinesische Denken so charakteristisch ist. Darüber hinaus habe ich nichts zu einer Frage gesagt, die jedoch zweifellos die zentrale Frage in der Debatte über die Gabe ist: Was wird bei der Gabe letztlich gegeben? Nützlichkeit? Freundschaft? Feindseligkeit? Wer gibt wirklich: die Geberin oder der Empfänger? Auf diese Fragen gibt es keine gesicherten Antworten. Es hängt alles vom jeweiligen Kontext und von der Dosierung ab. Die Gabe kann das beste oder das schlimmste aller Dinge sein. Das Schlimmste? Konfuzius werden die Worte zugeschrieben: »Warum hasst ihr mich so? Ich habe euch doch nichts gegeben.« Alles ist hier Sache der Absicht, des Zeitpunkts, der Art und Weise und der Dosierung. Jedenfalls ist in letzter Instanz der eigentliche Gegenstand der Gabe wahrscheinlich die Energie, die Energie des hau oder des mana. Oder des Lebensatems, den die Chinesen Qi nennen. Die Beziehung zur Gegebenheit, wie wir in den nächsten Kapiteln sehen werden.
2. Was stimmt nicht mit der Gabe bei Bourdieu?
Bevor wir auf die Frage der Gegebenheit kommen, auf dem Umweg über die der Anerkennung, muss erläutert werden, auf welche Weise Pierre Bourdieu das Erbe von Marcel Mauss verrät, in dem Glauben, es zu aktualisieren. Bourdieu ist der meistgelesene und meistkommentierte Soziologe der heutigen Welt. Wahrscheinlich, weil er der einzige ist, der ein kohärentes und systematisches Ganzes von Konzepten und Analysen vorgelegt hat.1 Ein systematisches Ganzes, das im Übrigen, und weit über die Soziologie im engeren Sinne hinaus, auch Anthropologen, Ökonomen und Philosophen betrifft. Neben dem Erbe von Marx, Weber oder Durkheim beruft sich Bourdieu auch auf das von Mauss. Deshalb ist es für uns besonders interessant zu schauen, was er daraus macht. Die Veröffentlichung seines Seminars von 1992-93 am Collège de France unter dem Titel Anthropologie économique, bietet die Gelegenheit, auf sein Verständnis der Gabe und seine Aporien zurückzublicken.2 Mit der möglichen Ausnahme eines nachdrücklichen Hinweises auf Jacques Derridas Analysen in Falschgeld: Zeit geben gibt es darin nichts, was Bourdieu nicht bereits an anderer Stelle, in zahlreichen Texten, gesagt hätte. In mancher Hinsicht ist es nicht übertrieben zu sagen, dass die Frage der Gabe und damit die Frage nach dem Verhältnis von Interesse und Uneigennützigkeit im Zentrum seiner gesamten Soziologie steht, dass sie ihr Leitmotiv darstellt. Bourdieus vorrangige Botschaft in diesem wie in den anderen Büchern ist, dass er sich als Mensch und Humanist wünschen würde, dass etwas so Schönes wie die selbstlose Gabe möglich sei, dass ihm aber sein wissenschaftlicher Scharfsinn leider verbiete, daran zu glauben. Für ihn, wie für Derrida,
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Das trifft auch auf Niklas Luhmann zu, doch bietet sein ziemlich abstraktes Werk einen sehr viel weniger freundlichen und leichten Zugang. P. Bourdieu, Anthropologie économique. Cours au Collège de France, 1992-1993, Paris 2017.
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stellt die Gabe daher »die Figur des Unmöglichen« dar. Das Wünschenswerte schlechthin, aber, in einem symmetrischen und dramatischen Sinne, auch das Unzugängliche schlechthin. Ich habe bereits an verschiedenen Stellen erläutert3 , warum diese Auffassung nicht haltbar ist und warum die Spannung zwischen vermeintlichem Ideal und angenommenem Realismus, die Bourdieu so zusetzt, ja regelrecht quält, nur deshalb besteht, weil er sich eine falsche Vorstellung vom Ideal der Gabe macht und eine falsche Interpretation ihrer Realität liefert. Wenn es sich lohnt, darauf zurückzukommen, dann deshalb, weil etwas mehr als die ersten hundert Seiten der Anthropologie économique ausschließlich der Frage der Gabe gewidmet sind, die er zum wichtigsten Thema der Soziologie erklärt (womit man nur einverstanden sein kann). Er entwickelt eine der mächtigsten und ausgefeiltesten Theorien der Gabe, die aber so ziemlich alle Irrtümer enthält, die man in dieser Frage begehen kann. Gute Gründe, die Diskussion wieder aufzunehmen.
Ein von Mauss inspirierter Ansatz, aber von welchem? Bevor wir auf die Einzelheiten unserer Kritik eingehen, wäre es ungerecht, nicht darauf hinzuweisen, dass Bourdieus Ansatz, da er sich auf Mauss stützt, ernsthafte Ansprüche auf sein Erbe geltend machen kann. Zwei im Besonderen. Bourdieus gesamte Behandlung der Gabe kann als einfache Weiterentwicklung der berühmten Aussage am Anfang des Essays über Die Gabe4 angesehen werden: »Von all diesen sehr komplexen Themen und der Vielfalt der gesellschaftlichen Dinge wollen wir hier nur einen, zwar tiefgreifenden, doch isolierten Zug näher betrachten: nämlich den sozusagen freiwilligen, anscheinend selbstlosen und spontanen, aber dennoch zwanghaften und eigennützigen Charakter dieser Leistungen. Fast immer nehmen sie die Form des Geschenks an, des großzügig dargebotenen Präsents, selbst dann, wenn die Geste, die die Übergabe begleitet, nur Fiktion, Formalismus und soziale Lüge ist und es im Grunde um Zwang und wirtschaftliche Interessen geht.«5 3 4 5
Vor allem in Don, intérêt et désintéressement. Bourdieu, Mauss, Platon et quelques autres, Paris 1993. Den Bourdieu zu Recht als »einen der größten Texte der anthropologischen Wissenschaft, einen Grundlagentext« (S. 18) bezeichnet. M. Mauss, Die Gabe, a.a.O., S. 13.
2. Was stimmt nicht mit der Gabe bei Bourdieu?
Eine Behauptung, die sich leicht durch einen weiteren berühmten Satz von Mauss aus dem Entwurf einer allgemeinen Theorie der Magie ergänzen lässt: »Letztlich ist es immer die Gesellschaft, die sich selbst mit dem Falschgeld ihres Traums bezahlt.«6 Die weitere Unterstützung, die sich Bourdieu berechtigterweise bei Mauss holt, ist jene Passage aus dem Essay über Die Gabe, in der dieser schreibt, dass es »gerade diese Römer und Griechen [waren], die, möglicherweise den nördlichen und westlichen Semiten folgend, die Unterscheidung zwischen persönlichen und dinglichen Rechten getroffen, den Verkauf von der Gabe und dem Tausch getrennt, die moralische Verpflichtung und den Vertrag abgesondert […] haben«7 . Und er fügt hinzu: »Durch eine große Revolution haben sie jene veraltete Moral und jene allzu gefährliche und kostspielige Gabenwirtschaft überwunden, die so sehr von persönlichen Erwägungen durchsetzt und mit der Entwicklung des Marktes unvereinbar und im Grunde zu jener Zeit antiökonomisch war.«8 Was stimmt also nicht mit Bourdieus Mauss-Lektüre und den Folgerungen, die er daraus zieht? Zweierlei. Erstens sieht er nicht, will er nicht sehen, dass der Essay über Die Gabe im weiteren Verlauf und erst recht am Ende in eine ganz andere Richtung geht, bis hin zu dem Schluss, dass wir »zur edlen Verschwendung zurückkehren« müssen, mit anderen Worten, zu modernisierten und aktualisierten Formen der Gabe.9 Und obendrein will Bourdieu, das eine mit dem anderen erklärend, in der endlich zustande gekommenen Marktwirtschaft die verborgene Wahrheit der vormodernen Ökonomien finden, die Wahrheit der Gabe. Eine logische Schlussfolgerung, wenn man nur den ersten Mauss ernst nimmt, denjenigen, der von Heuchelei und sozialer Lüge spricht. Aber es ist eine sich selbst widerlegende Schlussfolgerung, wenn man, wie Mauss und wie Bourdieu selbst in vielen Passagen, die Idee vertritt, dass wir zur edlen Verschwendung, zur Gabe zurückkehren sollten. Warum dann bei Lüge und Heuchelei anknüpfen? Gibt es wirklich nur das bei der Gabe, und gibt es überhaupt wirklich Lüge und Heuchelei? 6 7 8 9
M. Mauss, Entwurf einer allgemeinen Theorie der Magie, in ders. Soziologie und Anthropologie II, a.a.O., S. 158. M. Mauss, Die Gabe, a.a.O., S. 105, zitiert bei Bourdieu, Anthropologie économique, S. 78. Mauss, ebd., zitiert bei Bourdieu, ebd., S. 79. Dieser Punkt wird besonders gut herausgearbeitet von Ilana Silber in ihrem Artikel (der eine Einführung in die hebräische Übersetzung des Essays über Die Gabe darstellt), »Sortilèges et paradoxes du don«, Revue du MAUSS semestrielle, Nr. 27, 1. Halbjahr 2006, insbesondere S. 41-42.
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Für die unauflösliche Verlegenheit, in die sich jeder Leser von Mauss zwangsläufig gestürzt sieht, der sich wie Bourdieu nur an die ersten Seiten des Essays über Die Gabe halten und versuchen würde, die folgenden drei Aussagen in Einklang zu bringen: 1. hinter der Gabe steht nichts als Heuchelei und soziale Lüge; 2. nur der Vertrag und der Markt sagen die Wahrheit über die wirtschaftliche Beziehung, ja über die menschliche Beziehung im Allgemeinen; 3. dennoch wäre es gut, zu Formen der edlen Verschwendung und der Gabe zurückzukehren,
kann man als symptomatisch die erstaunlich gequälten und gewundenen Aussagen auf S. 121 der Anthropologie économique erachten, die als eine Art Schlussfolgerung der der Gabe gewidmeten Lektionen erscheinen. »Angesichts solcher Dinge«, schreibt Bourdieu bewundernd über die kabylischen Ehrenpraktiken, die zur Rückerstattung10 dessen veranlassen, was man durch Feilschen hätte gewinnen können, »kann man nicht umhin, fasziniert zu sein von der ethischen, menschlichen Virtuosität, und da die Werte, die bei dieser Übung anerkannt werden, universell sind (ich glaube in der Tat, dass alle Gesellschaften das Ökonomische verdrängen, zumindest offiziell), kann man sich einer Art humanistischen Schauers nicht erwehren«. Das gilt auch für das Ideal.11 Unmittelbar danach erscheint jedoch seine Negation: »Aber der wissenschaftliche Realismus zwingt uns zu erklären, dass dieser humanistische Schauer auf wirtschaftlichen Gründen beruht, auf einer Ökonomie, die nicht die Ökonomie des Ökonomischen ist. Er gründet auf der Tatsache, dass es sich um Universen handelt, in denen man gewissermaßen zur Großzügigkeit verurteilt ist – was nicht bedeutet, dass Großzügigkeit deshalb nicht großzügig ist – so wie der Adel in moderneren Gesellschaften zur Großzügigkeit verurteilt ist.«
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»Freiwillig und spontan«, würde Mauss sagen. Gefeiert auch durch die Erwähnung dessen, was die Kabylen den buniya nennen, »den naiven, unschuldigen, guten Menschen, der nicht zählt, nicht rechnet usw.« (S. 90).
2. Was stimmt nicht mit der Gabe bei Bourdieu?
Aporien Wir wollen einen Moment lang bei diesen ziemlich widersprüchlichen oder bestenfalls verwirrenden Behauptungen verweilen. Die kabylischen Ehrenmänner würden also aus wirtschaftlichem Interesse ihr… wirtschaftliches Interesse opfern. Diese ganze ethische, universelle Virtuosität würde nur auf der Verdrängung des Ökonomischen beruhen. Doch was ist das für ein merkwürdiges Ökonomisches, das nur existieren und seine Ziele erreichen kann, indem es sich tarnt? Es ist, wie Bourdieu sagt, ein Ökonomisches, das »einer Ökonomie angehört, die nicht die Ökonomie des Ökonomischen ist«. Es fällt schwer, hier nicht eine Variante der vielen Versuche zu sehen, die marxistische These vom »in letzter Instanz bestimmenden« Charakter des Ökonomischen mit der offensichtlichsten Realität zu versöhnen. So kennen wir Althussers scholastische Erklärung, die besagt, dass in vormodernen Gesellschaften die Ökonomie bestimmt, dass eine andere Ebene als die Ökonomie, die Religion zum Beispiel, die dominierende Rolle spielt. Beziehungsweise die Behauptung des frühen Maurice Godelier, dass in den Verwandtschaftsbeziehungen die bestimmenden wirtschaftlichen Beziehungen realisiert werden. Jetzt haben wir »eine Ökonomie, die nicht die Ökonomie des Ökonomischen ist«. Aber wenn wir mit der neuerlichen Lektüre dieser Zitate fortfahren, sind wir noch nicht am Ende unserer Überraschungen. Wenn kabylische Ehrenmänner großzügig sind, dann in Wirklichkeit aus Verpflichtung, sagt Bourdieu auch (»es handelt sich um Universen, in denen man gewissermaßen zur Großzügigkeit verurteilt ist«). Man kann allerdings nicht behaupten, dass, wenn man gibt, dies sowohl aus Verpflichtung als auch aus wirtschaftlichem Interesse geschieht. Bourdieu nimmt hier eine heimliche Verschiebung zwischen zwei Erklärungsarten vor, die nichts miteinander zu tun haben. Eine marxistische Erklärung durch materielles Interesse und eine Durkheim’sche Erklärung durch soziale Verpflichtung, wenn man so will. Zwischen beiden müssen wir wählen oder zumindest erklären, wie sie zusammenhängen. Aber über diese obligatorische Großzügigkeit sagt uns Bourdieu des Weiteren, dass sie trotz allem großzügig ist – wirklich großzügig, möchte man hinzufügen, und nicht nur den Stempel der Lüge und Heuchelei trägt. Was können wir letztlich dieser Passage entnehmen, die Bourdieus gesamte Argumentation zusammenfasst? Dass vor dem Aufkommen der Marktwirtschaft die sozialen Beziehungen ohne Wissen der Akteure von einer Ökonomie beherrscht wurden, die zwar keine, aber letztlich doch eine war, und
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dass die Männer (sprechen wir vorerst nicht von den Frauen) einer Verpflichtung zur Großzügigkeit unterlagen, die zwar keine wirkliche Großzügigkeit war, weil verpflichtend, aber dennoch großzügig. Es ist klar, dass in der Argumentation etwas nicht stimmt. Etwas, das letztlich ziemlich leicht zu identifizieren und auf den doppelt künstlichen Gegensatz zurückzuführen ist, den Bourdieu aufmacht zwischen den subjektiven Gründen und Motivationen der Akteure einerseits und der Realität ihrer Beziehungen und Motivationen andererseits, wie er sie beschreibt. Ein doppelt falscher Gegensatz, denn einerseits sind die subjektiven Gründe der Akteure natürlich Teil der Realität, und andererseits irrt sich der gelehrte Soziologe hinsichtlich dessen, was er jedem der Pole des Subjektiven und des Objektiven zuschreibt, sowohl was die subjektiven als auch die objektiven Motivationen angeht.
Ein künstlicher Gegensatz Was den subjektiven Pol anbelangt, so glaubt Bourdieu, bei Jacques Derrida die treffendste Formulierung gefunden zu haben. »Die Bedeutung von Derridas Analyse«, schreibt er, »liegt in der Tatsache, dass sie in gewisser Weise die übliche Sicht der Gabe als reiner Selbstlosigkeit und gleichzeitig als Einfluss radikalisiert.«12 Man erinnert sich an Derridas These: »Wenn ich gebe, dann gebe ich nicht«, denn (mir) zu sagen »ich gebe« bedeutet, dass ich mich selbst als Geber sehe und daher einen narzisstischen Gewinn aus meiner Gabe ziehe, die somit nicht selbstlos ist. Wir wollen einige der von Bourdieu zitierten Sätze Derridas aufgreifen. »Damit es eine Gabe geben kann, darf es keine Reziprozität, keine Gegenleistung, keinen Tausch, keine Gegengabe oder Schuld geben.«13 Und: »Damit es eine Gabe gibt, darf der Empfänger nicht zurückgeben, erstatten, bezahlen, begleichen, einen Vertrag abschließen oder je Schulden aufgenommen haben.«14 Oder wiederum in Bezug auf den Empfänger: »Wenn er sie als Gabe anerkennt, wenn die Gabe ihm als solche erscheint, wenn sich ihm das Präsent als Präsent präsentiert, genügt diese einfache Anerkennung, um die Gabe zu annullieren.«15 Unter solchen
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P. Bourdieu, Anthropologie économique, a.a.O., S. 23. Ebd., S. 20. Ebd. Ebd., S. 21.
2. Was stimmt nicht mit der Gabe bei Bourdieu?
Bedingungen begreift man allerdings, dass die Gabe als Figur des Unmöglichen erscheint. Man könnte Derrida, wie es Bourdieu tut, das Verdienst zuschreiben, die gewöhnliche, gängige Auffassung der Gabe logisch zu Ende gedacht zu haben, da diese tatsächlich eine Dimension der Selbstlosigkeit enthält, insofern die gemachte Gabe nicht zwangsläufig eine Gegenleistung erwartet. Wenn man jedoch bei dieser gängigen Auffassung stehenblieben will – zumal es Bourdieu auch darum geht, die Subjektivität der Akteure wiederherzustellen –, dann gibt es immer noch einen gehörigen Abstand zwischen der nicht zwangsläufigen Erwartung einer Gegenleistung und gar keiner Erwartung. Und vor allem ist es falsch zu sagen, dass in der gängigen, von zweitausend Jahren Christentum geprägten Auffassung von Gabe, der unsrigen, die Gabe nur als solche wahrgenommen würde, wenn sie jeder Absicht entbehrt, wenn sie sich auf eine unmotivierte, grundlose, zwecklose und folglich sinnlose Handlung reduzieren ließe. Vielmehr wird sie als Opfer von etwas Kostbarem empfunden, das erfolgt, um dem anderen, den anderen, Liebe, Freundschaft oder Nächstenliebe zu bezeugen. Sie ist das Zeichen eines Interesses an anderen, das bei dieser Gelegenheit das Eigeninteresse überwiegt oder Eigeninteresse und Interesse an anderen vereint. Diese ganze derridaischbourdieusche Scholastik der radikalen Uneigennützigkeit beruht auf einer Verwechslung von Interesse und Eigennutz oder, entsprechend, von Desinteresse und Uneigennützigkeit. Um zur Uneigennützigkeit zu gelangen, d.h. der Unterordnung der Eigeninteressen unter umfassendere und über das Eigene hinausgehende Interessen, müsste man völlig desinteressiert sein, d.h. keine Motivation für irgendetwas haben, was offensichtlich und effektiv unmöglich ist.16 Sobald man aufhört, Desinteresse (Abwesenheit jeglicher Intentionalität) mit Uneigennützigkeit, nicht instrumentellem Handeln zu verwechseln17 , verliert diese Rhetorik des Unmöglichen ihren ganzen Zauber und man kann eine vernünftige Diskussion beginnen. In der korrekt interpretierten Gabebeziehung weiß die Geberin, dass es möglicherweise keine Gegengabe gibt und dass es entsprechend nur eine wirkliche Gegenleistung geben kann, wenn der Empfänger über eine gewisse Möglichkeit verfügt, sie nicht vorzunehmen.
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Bourdieu spricht daher von »einem Akt, der grundlos, unmotiviert, willkürlich, ohne jede Rechtfertigung außer dem reinen Willen zur Großzügigkeit sein will«, ebd., S. 19. Z.B. die Handlungen derer, die Amartya Sen rationale Narren (rational fools) nennt, die ihre persönlichen oder privaten Interessen einer Sache opfern, die über sie hinausgeht.
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Nachdem er sich auf Derrida gestützt hat, um das zu rekonstruieren, was die subjektiven, illusorischen Motivationen der Geberinnen und Geber sein sollen, entwickelt Bourdieu die Analyse dessen, was er für die objektive Realität hält. Hier ist seltsamerweise – und das mag seine Jünger überraschen – sein Referenzautor Gary Becker, Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften und vor allem Verfechter des verallgemeinerten neoklassischen Wirtschaftsmodells und damit Vorläufer des Neoliberalismus. »Ich schätze und bewundere ihn sehr«18 , schreibt Bourdieu, »sogar für seine Barbarismen, die so barbarisch sind, dass sie manchmal ganz geniale Probleme aufwerfen, die eine Eingrenzung innerhalb der eigenen Disziplin ausschließen.«19 Höchstwahrscheinlich in Anlehnung an G. Beckers Ansatz legte Bourdieu Wert darauf, seine Soziologie als »eine allgemeine Ökonomie der Praxis« zu präsentieren. Die Wahrheit aller menschlichen Beziehungen wäre das ökonomische Interesse und Kalkül. »Der Geist der Berechnung«, sagt er uns, »ist eine universelle anthropologische Disposition.«20 Vormoderne, d.h. vormarktwirtschaftliche Ökonomien oder Gesellschaften haben »als allgemeines und nicht auf bestimmte Bereiche beschränktes Gesetz die Verleugnung (ich sage ›Verleugnung‹ und nicht ›Verneinung‹) des Ökonomischen in dem Sinne, wie wir es verstehen, d.h. der Ökonomie als objektive Wahrheit des Gabentausches; es ist die Verleugnung des Gebens und Nehmens«21 . »Verleugnung«, »Verdrängung« – »die Wirtschaft, wie wir sie kennen, sollte die Verdrängung zu Fall bringen«22 –, der Bezug auf das ursprüngliche Freud’sche Schema ist klar genug. Letztendliche Bestimmung des Subjekts durch die sexuelle Libido im einen Fall, letztendliche Bestimmung des Subjekts und der Gesellschaften durch das wirtschaftliche Interesse im anderen.23 Gesellschaften, die Markt und Vertrag nicht deutlich den Weg bereiten und sich stattdessen mit den verschlungenen Pfaden der Gabe zufrieden geben, bewegen sich im Bereich der Unehrlichkeit, der 18 19 20 21 22 23
Albert Hirschman hat mich schon vor langer Zeit in einem privaten Gespräch auf diese Faszination Bourdieus für Becker hingewiesen. P. Bourdieu, Anthropologie économique, a.a.O., S. 79. Ebd., S. 48. Oder: »Becker hat für mich einen Vorteil: Er schreitet mit groben Stiefeln voran, aber er schreitet voran«, ebd., S. 79. Ebd., S. 48. Ebd., S. 51. Man wäre versucht, mögliche Bourdieuaner-Freudianer (Frédéric Lordon beispielsweise) zu fragen, wie sie diese beiden Bestimmungen in letzter Instanz miteinander verbinden.
2. Was stimmt nicht mit der Gabe bei Bourdieu?
Lüge, der Verdrängung, der Verleugnung. »Sie bezahlen sich selbst mit dem Falschgeld ihrer Träume.«
Und seine imaginäre Auflösung durch die Zeit Die gesamte Bourdieu’sche Analyse der Gabe, wie wir sie bisher rekonstruiert haben, lässt sich in einem Satz zusammenfassen: »Die objektive Wahrheit der Gabe ist der Tausch; die subjektive Wahrheit ist die Uneigennützigkeit.«24 Wie versöhnen Gesellschaften und Individuen, nach Bourdieu, die Illusion der nicht berechnenden Uneigennützigkeit mit der Realität des berechnenden wirtschaftlichen Interesses? Wir haben seine Antwort gesehen: durch Lüge und Verleugnung natürlich. Aber was macht die Lüge möglich? Mit anderen Worten: Was macht es den Akteuren möglich, nicht zu sehen, dass das, was sie erwarten, die Gegengabe ist? Diese Gegengabe, die die Illusion der Gabe in die Realität des Tausches verwandelt? Dieser magische Operator25 , dieser Illusionsgenerator ist, Bourdieu zufolge, die Zeit, der strukturelle Abstand zwischen dem Moment der Gabe und dem der Gegenleistung. Was Bourdieu in die Diskussion über die Gabe einführt, »ist das entscheidende Intervall, auf dessen Grundlage sich gelebte Erfahrung und wissenschaftliche Erfahrung versöhnen«26 , das was Derrida, wenn auch aus einer ganz anderen Perspektive, als Differänz (différance) bezeichnete27 , die Tatsache, könnte man hier sagen, dass die Gegenleistung strukturell aufgeschoben ist. »Um zur Lösung des Rätsels zu kommen […], muss die Gabe sowohl verschoben als auch verschieden sein (différé et différent); weil es ein Intervall gibt, in dem die Agenten als Gabe ohne Gegenleistung erleben können, was eine Gabe mit Gegenleistung ist. Sie können als diskontinuierliche Akte erleben, als eine Reihe von freien Entscheidungen, was ein Akt in einer Folge von obligatorischen Handlungen ist.«28
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P. Bourdieu, Anthropologie économique, a.a.O., S. 70. Bourdieu setzt dazu den Essay über Die Gabe in einen engen Zusammenhang mit dem Entwurf einer Theorie der Magie von Mauss (und Hubert). Ebd., S. 31. In Randgänge der Philosophie, Wien 1988, wo die Differänz als… nichtbegrifflicher Begriff präsentiert wird, der es ermöglicht, die Entstehung der Differenzen zu denken. P. Bourdieu, Anthropologie économique, a.a.O., S. 35.
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Aber wie wir sehen können, ist Bourdieu selbst mit seiner Erklärung durch Zeit und Differänz nicht wirklich zufrieden. Damit die Illusion der Gabe möglich wird, damit die Zeit ihr magisches Werk vollbringen kann, müssen die Akteure Teil »einer Folge von obligatorischen Handlungen« sein. Oder aber, schreibt er, vormoderne Gesellschaften müssen Menschen formen, die bereit sind zu geben, sie müssen Dispositionen zur Großzügigkeit erzeugen. Wir haben jetzt genug gesehen, um zu verstehen, warum Bourdieus »Lösung« für das Rätsel der Gabe keine ist, und das umso weniger, als sie nie mehr sein kann als die Lösung eines imaginären Problems, das nur existiert, wenn man einen künstlichen Gegensatz aufmacht zwischen einer falschen Analyse der subjektiven Motivationen der Gabenakteure und einer falschen Antwort auf die Frage nach ihren wirklichen Motivationen. Was die Lösung durch Zeit und Differänz betrifft: Welchem Ethnologen könnte Bourdieu weismachen, dass die Urheber einer Gabe sich nicht bewusst sind, dass es a priori eine Gegenleistung geben wird? In einer traditionellen Gesellschaft weiß jeder, dass eine Gegenleistung normalerweise erfolgen muss. Da gibt es keine Illusion oder Unehrlichkeit, keine Verdrängung oder Verleugnung, die man suchen müsste. Das Einzige, was man nicht weiß – denn es gibt einen wesentlichen Spielraum im Ablauf der Gabe – ist, wann und in welchem Umfang es eine Gegenleistung geben wird. Was die Erklärung mit den in der traditionellen Kultur verankerten Dispositionen zur Großzügigkeit betrifft: Abgesehen davon, dass sie auf einer völlig anderen Ebene liegt als die Erklärung durch den wirtschaftlichen Determinismus letzter Instanz und sich nicht in diesen auflösen lässt, tut sie sich schwer, über das Stadium der Tautologie hinauszugelangen, das in der Aussage besteht, dass, wenn es Praktiken mehr oder weniger ostentativer Uneigennützigkeit gibt, dann deshalb, weil die Gesellschaft dafür sorgt, dass sie existieren.29 Wenn man darüber nachdenkt, kann man sich schwerlich der Schlussfolgerung erwehren, dass alle Sackgassen, in die Bourdieu gerät, das Ergebnis seiner Unfähigkeit sind, sich aus der Axiomatik des Interesses zu befreien, aus der Versuchung, alles allein aus dem Spiel der Interessen zu erklären. Interessen obendrein, die auf das ökonomische Interesse letzter Instanz reduziert werden. Wahrscheinlich tritt in der kaum ausgeführten Analyse der
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Wahr und wichtig ist jedoch, und geht über die Tautologie hinaus, dass verschiedene Gesellschaften oder Kulturen Gabe und Großzügigkeit unterschiedlich wertschätzen, fördern und belohnen. Bleibt die Frage, warum. Aus wirtschaftlichen Gründen? Das ist zweifelhaft.
2. Was stimmt nicht mit der Gabe bei Bourdieu?
Stellung der Frauen im Zyklus der Gabe dieser utilitaristische Reduktionismus (wie soll man ihn sonst nennen?) am deutlichsten hervor.30 Bourdieu stellt fest, dass es in der Kabylei, seinem ethnologischen Forschungsgebiet, das er in Praktischer Sinn so exzellent beschrieben hat, die Frauen sind, die sich explizit mit der wirtschaftlichen Notwendigkeit auseinandersetzen und berechnen, wo die Männer sich der Verleugnung des Ökonomischen hingeben. Auch wenn dies sehr wahrscheinlich so ist, macht es keinen Sinn, diese Rollenverteilung als Mann/Frau-Gegensatz zu denken, der den Gegensatz von Illusion und Wahrheit überlagert, da in Wirklichkeit beide Geschlechter zusammenarbeiten, um das zu befriedigen, was in der Sprache des Interesses gesprochen, sowohl ihre gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen als auch ihre gemeinsamen Ehreninteressen sind.31 Aber am deutlichsten zeigt die Lösung des Rätsels der Gabe durch die Zeit ihre Grenzen in einer Passage, wo Bourdieu, um die Vorzüge seiner Lösung hervorzuheben, das Beispiel der »Beziehungen zwischen den Generationen, die üblicherweise nicht in der Logik von Gabe und Gegengabe gedacht werden«, anführt. Man erkenne darin »die spezifische Logik der Ökonomie des symbolischen Tauschs«. Und er fügt hinzu: »Sie beruht auf der Tatsache, dass der Moment des Gebens und der Moment des Empfangens durch eine Generation, manchmal mehr, getrennt sind, und dies ist einer der Gründe, warum philia, zum Beispiel die mütterliche Liebe, als Liebe ohne Gegenleistung erlebt werden kann, als Liebe, die nie zurückgezahlt wird und auch nicht dafür geschaffen ist, zurückgezahlt zu werden.« (S. 43) Wie können wir diese schwindelerregende Aussage verstehen? Was kann sie bedeuten, außer dass die Mutter nicht wüsste, dass es keine Gegenleistung geben wird, und dass sie deshalb eine Liebe ohne Gegenleistung geben kann, die sie nicht geben würde, wenn sie sich dessen bewusst wäre? Wenn sie nicht 30
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Auf S. 239 schreibt Bourdieu: »Manche meiner Leser (ich weiß nicht, wie sie das gemacht haben…) haben meine Arbeit als eine Art Utilitarismus beschrieben. Angesichts dessen, was ich Ihnen jetzt über meine Arbeit erzählen werde, werden Sie sich fragen, wie sie aus mir einen Utilitaristen haben machen können.« Die Herausgeber des Buches schreiben in einer Anmerkung: »P. Bourdieu denkt zweifellos vor allem an die Interpretationen seines Werkes durch den MAUSS und seinen Animator A. Caillé seit den 1980er Jahren.« Marylin Strathern, The Gender of the Gift: Problems with Women and Problems with Society in Melanesia, Berkeley, London 1988.
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wüsste, dass ihr (wiederum materielles? ökonomisches?) Interesse nicht auf seine Kosten käme? An solchen Aussagen lässt sich am besten ermessen, dass Bourdieu keine andere Motivation als das Eigeninteresse erkennen will. Er kann nur eine eindimensionale und damit tatsächlich utilitaristische Handlungstheorie annehmen.32
Schlussfolgerung Dass bei der Gabe wirtschaftliche Aspekte ins Spiel kommen, dass es auch wirtschaftliche Aspekte gibt, dass diese teilweise verneint, anderen Imperativen untergeordnet werden, ist kaum zu bezweifeln. Aber sie werden nicht im psychoanalytischen Sinne des Wortes verleugnet. Was Bourdieu, der sich ganz der Hoffnung verschrieben hat, eine tiefer liegende Realität zu enthüllen, die den Akteuren nicht bewusst wäre, nicht sehen will, ist, dass die Komplexitäten der Gabe in traditionellen Gesellschaften für niemanden ein Geheimnis sind.33 Jeder weiß genau, wofür er erwidert und dass, wenn wir die Sprache der Interessen sprechen wollen, in jede Gabe, in stets wechselnden und zum Teil unentscheidbaren Maßen, sowohl Prestige- und Anerkennungsinteressen vermischt mit Besitzinteressen (Interessen der Ehre und Interessen an Gütern, wie man im 17. Jahrhundert zu sagen pflegte), aber auch Freundschafts-
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Eine eindimensionale Theorie, die man, wie ich in der Einleitung und im vorhergehenden Kapitel gezeigt habe, durch eine vierdimensionale Handlungstheorie ersetzen sollte. Die andere starke These, die sich aus dem Essay über Die Gabe ableiten lässt, ist die, dass der menschliche Wunsch, über das Bedürfnis hinaus, ein Wunsch ist, als freier und großzügiger Geber anerkannt zu werden. Das erklärt den Kampf um die Ehre besser als dessen Reduktion auf eine verschleierte Strategie zur Anhäufung von ökonomischem Kapital über den Umweg einer Anhäufung von symbolischem Kapital. Wie man besonders gut in Emmanuel Panniers anthropologischer Dissertation sehen kann: Circulation non marchande et relations sociales dans un village du delta du fleuve Rouge (Nord du Viêtnam): donner, recevoir et rendre pour s’allier (Université Aix-Marseille, 2012). Die von Pannier beschriebenen vietnamesischen Bauern verfallen keineswegs in metaphysische Ängste angesichts der Frage der Uneigennützigkeit. Sie wissen genau, dass die Gabe immer hybrid ist (und sein muss), wie Mauss sagte, und dass es je nach den Umständen oder den Partnern mehr oder weniger Interesse oder Uneigennützigkeit, Verpflichtung oder Freiheit gibt, wobei die Norm selbstverständlich die der Freundschaft oder der freundschaftlichen Gefühle (der tình cảm) bleibt. Auf die Gefahr hin, dass sie natürlich später manipuliert und instrumentalisiert wird. Es gibt wenig Grund zu der Annahme, dass die kabylischen Bauern anders dachten.
2. Was stimmt nicht mit der Gabe bei Bourdieu?
interessen und sogar eine Dosis Spiel und Abenteuer eingehen. Was der im Ökonomismus befangene Bourdieu verkennt, ist, dass der primäre Aspekt der Gabe nicht ökonomischer, sondern politischer Natur ist. Wir geben nicht, um mehr zu bekommen, in der Hoffnung auf eine Gegenleistung, die größer ist als die ursprüngliche Gabe, wir geben, um Bündnisse zu schmieden, um Freunde zu finden. Erst wenn das Bündnis geschlossen ist, wenn sich Freundschaften oder Gemeinschaften stabilisiert haben, können wir anfangen, Rechnungen aufzumachen. Und außerdem ist es sehr gut möglich, dass jeder materiell dabei gewinnt, dank der Einführung der von Jacques T. Godbout analysierten Logik der positiven gegenseitigen Verschuldung.34 Ein einfacher Tausch würde dazu nicht reichen. Es ist merkwürdig, aber bezeichnend, dass Bourdieu sich nie auf die Autoren bezieht, die die eigentlich politische Funktion der Gabe betont haben, wie zum Beispiel Marshall Sahlins35 oder J.P.S. Uberoi36 . Alle Aporien der Bourdieu’schen Theorie der Gabe resultieren aus diesem anfänglichen Irrtum: die Gabe als einen maskierten ökonomischen Akt zu denken. Aber die Gabe ist kein ökonomischer Akt, sondern ein politischer Operator. Ein politischer Operator, der zwar wirtschaftliche und Anerkennungseffekte erzeugt, aber Effekte, deren wahren Status man nur dann richtig verstehen kann, wenn man sie auf ihre ursprüngliche Quelle zurückführt, das primäre Bündnis, ohne das es einfach keine Gesellschaft und keine sozialen Beziehungen gäbe. Sobald man aufhört, die Gabe in Begriffen der Ökonomie zu denken, verschwindet Bourdieus dramatisch inszenierter Gegensatz zwischen der Realität des Ökonomischen und den Illusionen und Lügen der Gabe. Gleichzeitig verschwindet der ihn verdoppelnde, erstaunlich evolutionäre Gegensatz zwischen warmherzigen und anziehenden, aber auf Heuchelei beruhenden traditionellen Gesellschaften und der modernen, kalten und entfremdenden Gesellschaft, die aber das Verdienst hätte, die zynische Wahrheit über die menschlichen Beziehungen zu enthüllen.37 Diese Scheingegensätze versetzen Bourdieu in eine Position, die wissenschaftlich, menschlich und politisch 34 35 36 37
J.T. Godbout, Le Don, la dette, l’identité, Homo donator vs. Homo œconomicus, Paris 2000. Marshall Sahlins, »The Spirit of the Gift«, in Stone Age Economics, London 1974. Politics of the Kula Ring, Manchester 1962. Es ist nicht unberechtigt zu sagen, dass die moderne Gesellschaft etwas offenbart, das schon in archaischen Gesellschaften vorhanden war, von ihnen aber nicht gesehen und gedacht werden konnte, vorausgesetzt wir verstehen, dass die umgekehrte Behauptung ebenfalls richtig ist. Jede Gesellschaft enthält Möglichkeiten, die nicht eingetreten sind, und Inhalte, die erst in anderen eintreten und freigesetzt werden.
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unhaltbar ist. Denn wie soll man die Herrschaft des Neoliberalismus kritisieren, wenn man sich auf die gleiche normative Anthropologie stützt – die von Gary Becker zum Beispiel –, die dem Neoliberalismus zugrunde liegt? Wie soll man für das Überleben oder die Wiederbelebung von Inseln der Sozialität eintreten, die durch die Rückkehr zur Gabe und die Ablehnung des Berechnens vor der Herrschaft des Marktes bewahrt wurden, wenn man ansonsten behauptet, dass dabei nur Lüge, Täuschung, Verdrängung, Verleugnung und Illusion am Werk seien. Es ist, als würde uns Bourdieu mehr oder weniger implizit sagen, dass das Bemühen um echte Wahrheit, das die Wissenschaft antreibt, sie zu der Behauptung veranlassen sollte, dass die Lüge der Wahrheit vorzuziehen ist.38 Das ist eine neue Variante des hermeneutischen Zirkels. In Wahrheit ist es nicht so sehr das Ökonomische, das von den traditionellen Gesellschaften verdrängt wird – auch wenn es ganz richtig ist, dass sie alles tun, um es an seinem Platz zu halten, es einzudämmen und zu verhindern, dass es auf den Rest übergreift –, sondern die Gabe, die von Bourdieu verdrängt und verleugnet wird. Alle seine Schriften und, mehr als alle anderen seine schönen Meditationen, wiederholen dieselbe Botschaft: Wenn die Gabe nur existieren könnte, wäre das großartig, aber es kann nicht sein. Sie ist und kann nur eine Illusion sein, die es zu überwinden gilt.39 Tristesse des Bourdieuanismus. Ich hoffe, ich habe den Anhängern Bourdieus eine Botschaft der Hoffnung überbringen können: aber ja, die Gabe existiert sehr wohl, sobald man aufhört, sie sich in den prächtigen, aber unpassenden Gewändern vorzustellen, die Derrida ihr anlegen und in denen Bourdieu sie majestätisch erstrahlen sehen möchte.
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Wie es z.B. von Frédéric Lordon, getreu dem Bourdieu’schen Ökonomismus, in L’Intérêt souverain, a.a.O., entwickelt und eingefordert wird. Die Spannung zwischen dem frühen Bourdieu, dem des Entwurfs einer Theorie der Praxis und der Feinen Unterschiede, und dem Bourdieu der Meditationen, die Spannung also zwischen demjenigen, dem es in erster Linie darum geht, die Illusionen der Gabe zu zerstreuen und ihre konstitutive Lüge aufzudecken, und dem Bourdieu, der die Gabe als die letzte Quelle eines möglichen Widerstands gegen den Neoliberalismus sieht, wird gekonnt analysiert und ans Licht gebracht von Ilana Silber in »Bourdieus Gift to Gift-Theory: An Unacknowledged Trajectory«, Sociological Theory 27:2, Juni 2009, und von Ph. Chanial in Kapitel 9 von La Sociologie comme philosophie politique. Et réciproquement, »La querelle du désintéressement. Double vérité du social et double vérité du don selon Bourdieu«, Paris 2011.
2. Was stimmt nicht mit der Gabe bei Bourdieu?
PS: Ich möchte nicht, dass dieses Kapitel als ein Frontalangriff auf Bourdieu und seine Soziologie gesehen wird, von der es nichts zu bewahren gäbe. Wenn es sich lohnt, auf ihre Mängel und Sackgassen hinzuweisen, dann deshalb, weil sie machtvoll ist. Sie zeigt alles, was man sehen kann, wenn man im Rahmen des argwöhnischen Denkens verbleibt, das für die Moderne so wesentlich ist, wie auch im Rahmen von Mauss zu Beginn seines Essays über Die Gabe. Aber sie verweist auch immer wieder auf ein Jenseits dieses Denkens, das sie nicht identifizieren kann. In diesem Jenseits ist das ökonomische Kapital nicht die Wahrheit des symbolischen Kapitals (das im Übrigen kein Kapital sein kann), oder allenfalls ist Letzteres die Wahrheit des ökonomischen Kapitals. Nichts ist die Wahrheit von nichts, alles ist die Wahrheit von allem. Bourdieu ist sich der Notwendigkeit eines Zugangs zu diesem Jenseits durchaus bewusst. In einer Art Selbstkritik schreibt er zum Beispiel, dass »die Soziologen sich sehr schwer tun, diese Verhaltensweisen (der Gabe) zu verstehen, über eine bloße Entmystifizierung hinauszugehen«40 . Er fügt sogar hinzu: »Man muss den Hang zu dieser Sichtweise überwinden, um zu verstehen, dass es Wahres im Falschen, Wahres im Schein gibt, dass die Illusion nicht illusorisch ist.«41 Um dieses Jenseits aber ernsthaft denken zu können, würde es nicht genügen, das Bourdieu’sche System auf die Füße zu stellen. Es müsste auch entsystematisiert werden, und dann ist nicht klar, was davon übrigbliebe. Dies ist zweifellos der Grund, warum Bourdieu auf halbem Weg stehen und in seinen Sackgassen stecken blieb.
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P. Bourdieu, Anthropologie économique, a.a.O., S. 63. Ebd., S. 64.
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3. Gabe und Kampf für Anerkennung
Wir haben es gerade gesehen. Wir können Bourdieu in seinem Versuch nicht folgen, die Anhäufung dessen, was er symbolisches Kapital nennt, als einen Moment und ein bloßes Mittel der Anhäufung von ökonomischem Kapital darzustellen. Oder, um es in einer anderen Sprache zu sagen, man kann den Kampf für Anerkennung nicht als einfaches Mittel oder bloße Auswirkung des Klassenkampfes betrachten. Zu Klassenkampf und Wirtschaftskonflikt kommt nun der Kampf für Anerkennung hinzu und ersetzt diese bisweilen. Ob es sich um Geschlecht, ethnische, kulturelle oder religiöse Minderheiten, Sexualität, aber auch um wirtschaftliche Konflikte handelt, alle wollen in erster Linie ihre individuelle oder kollektive Identität anerkannt und respektiert sehen. Ohne diese Anerkennung, die die Grundlage für Würde und Selbstachtung bildet, können wir nicht leben. Aber können Identität, Respekt und Anerkennung auf die gleiche Weise wie Wirtschaftsgüter produziert und verteilt werden? Eignen sie sich überhaupt dazu, gleichmäßig verteilt zu werden? Diese Fragen stehen seit zwei oder drei Jahrzehnten im Mittelpunkt der heftigsten Debatten der zeitgenössischen politischen und Moralphilosophie in den Vereinigten Staaten, Großbritannien und Deutschland1 – und natürlich auch im Mittelpunkt ganz konkreter sozialer Kämpfe für Anerkennung.2 Aber diese Debatten haben den Nachteil, das Problem der Anerkennung nicht mit der Frage der agonistischen Gabe – im Gefolge von Marcel Mauss – zu verknüpfen. Denn ist die Gabe nicht das Mittel, mit dem die Anerkennung des 1 2
Ausgehend von den Werken u.a. von Charles Taylor, Axel Honneth, Nancy Fraser und in Frankreich Tzvetan Todorov. Die Revolte der Gelbwesten kann und muss über ihre unmittelbaren wirtschaftlichen Anlässe hinaus als ein radikaler Kampf für Anerkennung verstanden werden, der gegen Eliten geführt wird, die sie nicht gesehen haben und nicht sehen wollten. Ein Kampf um Sichtbarkeit.
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Das Paradigma der Gabe
anderen sowohl in seinem Anderssein als auch in seiner Identität erfolgt?3 Ist die Rivalität in der und durch die Gabe – jeder will großzügiger sein als der andere – vom Kampf für Anerkennung zu trennen? Und umgekehrt. Doch wenn man so argumentiert, muss man dann nicht sagen, dass Anerkennung zuallererst bedeutet, als großzügig und generativ, frei und kreativ anerkannt zu werden, und dass man in dieser Eigenschaft wahrscheinlich auch geachtet werden und sich selbst achten will? Aber sollte die Anerkennung jenseits aller Rivalität und aller Kämpfe um die Zurschaustellung irgendeiner Art von Überlegenheit – und sei es in der Großzügigkeit – nicht auch im Sinne eines allen gewährten Rechts gedacht werden, des wesentlichen und vorrangigen Rechts der heutigen Gesellschaften, des Rechts auf Anerkennung? Erhaltene Anerkennung versus errungene Anerkennung, kurz gesagt. Was bedeutet das? Zielen diese beiden Formen der Anerkennung nicht in diametral entgegengesetzte Richtungen?
Marcel Mauss und die beiden Hegels Auf rein theoretischer Ebene ist die überraschende Tatsache, dass diese beiden potenziell gegensätzlichen Vorstellungen von Anerkennung – nennen wir sie errungene Anerkennung und gebührende Anerkennung – durch Hegel ihren begrifflichen Adelsbrief erhalten. Seit den Seminaren über Hegels Phänomenologie des Geistes, die Alexandre Kojève vor dem Zweiten Weltkrieg (von 1933 bis 1939) abhielt, ist das Thema des Kampfes für Anerkennung, die treibende Kraft hinter der berühmten Herr-Knecht-Dialektik, in Frankreich gut bekannt. Man kann sogar behaupten, dass über Georges Bataille, einem faszinierten Zuhörer von Kojève4 , und die Lacan’sche Psychoanalyse einerseits und über die phänomenologische Tradition andererseits, das gesamte Denken der französischen Intelligenz von der Nachkriegszeit bis in die 1980er Jahre (einschließlich des Strukturalismus, der ihm in anderer Hinsicht so fremd erscheint) durch die Kojève’sche Hegellektüre strukturiert ist.5 Erinnern wir 3 4 5
Wie Marcel Hénaff in Der Preis der Wahrheit. Gabe, Geld und Philosophie, Frankfurt a.M. 2009, hervorragend aufzeigt. Vgl. zu diesem Punkt das schöne und lehrreiche Buch von Jean-Michel Besnier, La Politique de l’impossible, Paris 1988. Seltsamerweise war es dann, wie wir wissen, Francis Fukuyama, der Denker des letzten Menschen und des Endes der Geschichte, der die Kojève’sche Hegellektüre wieder aufnehmen sollte.
3. Gabe und Kampf für Anerkennung
uns an den Ausgangspunkt: »Der Mensch«, schreibt Kojève als Kommentar zu Hegel, »›bewährt‹ sich als Mensch, indem er sein Leben für die Befriedigung seiner menschlichen Begierde, das heißt seiner auf eine andere Begierde sich richtenden Begierde, einsetzt. Eine Begierde begehren heißt aber, sich selbst an die Stelle des von der Begierde begehrten Wertes setzten zu wollen.« In diesem Kampf meiner Begierde mit der Begierde des anderen möchte ich »daß er meinen Wert als seinen Wert ›anerkennt‹, ich will, daß er mich als einen selbstständigen Wert ›anerkennt‹. Anders gesagt, jede menschliche […] Begierde ist letztlich eine Funktion der Begierde nach Anerkennung. […] Ohne diesen Prestigekampf auf Leben und Tod hätte es auf Erden niemals menschliche Wesen gegeben. Tatsächlich konstituiert sich das menschliche Wesen ja nur als abhängige Funktion einer auf eine andere Begierde gerichteten Begierde, das heißt – letztlich – einer Begierde nach Anerkennung.«6 Kojève fügt jedoch hinzu: »Wenn sich die menschliche Wirklichkeit als ›anerkannte‹ Wirklichkeit konstituieren soll, müssen beide Gegner nach dem Kampfe am Leben bleiben.«7 Und dafür muss einer der beiden Kämpfer, obwohl »ohne hierzu irgendwie ›prädestiniert‹ zu sein«, »vor dem anderen Angst haben, ihm gegenüber nachgeben und den Einsatz seines Lebens zum Zwecke der Befriedigung seiner Begierde nach Anerkennung ablehnen. Er muß seine Begierde aufgeben und die des anderen befriedigen: er muß ihn anerkennen, ohne von ihm anerkannt zu werden. Ihn so ›anerkennen‹ bedeutet aber, ihn als seinen Herrn ›anerkennen‹ und sich selbst als Knecht anerkennen und vom Herrn als solchen anerkennen zu lassen.«8 Es ist in der Tat schwer, diese Analysen nicht mit der Art und Weise in Verbindung zu bringen, in der Marcel Mauss in seinem Essay über Die Gabe das beschreibt, was er als »agonistische Gabe« bezeichnet, die in besonders zugespitzter und folglich sichtbarer Form beim Potlatch der Kwakiutl-Indianer des amerikanischen Nordwestens in Erscheinung tritt. Erinnern wir uns an einige berühmte Sätze aus dem Essay über Die Gabe:
6 7 8
Alexandre Kojève, Hegel. Eine Vergegenwärtigung seines Denkens, Frankfurt a.M. 2005, S. 24f. Ebd., S. 26. Ebd.
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Das Paradigma der Gabe
»Nirgendwo sonst hängt das individuelle Prestige eines Häuptlings und das Prestige seines Clans enger mit der Ausgabe und der Pünktlichkeit zusammen, mit der die angenommenen Gaben mit hohen Zinsen zurückgezahlt werden, so daß der Gläubiger zum Schuldner wird. Verbrauch und Zerstörung sind so gut wie unbegrenzt. Bei einigen Potlatsch ist man gezwungen, alles auszugeben, was man besitzt, man darf nichts zurückbehalten. Derjenige, der seinen Reichtum am verschwenderischsten ausgibt, gewinnt an Prestige. Alles gründet auf dem Prinzip des Antagonismus und der Rivalität.«9 Und etwas weiter: »In einigen Fällen geht es nicht einmal um Geben und Zurückgeben, sondern um Zerstörung […]. Man verbrennt […] Häuser und Tausende von Wolldecken; man zerbricht die wertvollsten Kupferplatten oder wirft sie ins Wasser, um einen Rivalen auszustechen, ›flach zu machen‹.«10 »Ein Häuptling«, so Mauss weiter, »kann seine Autorität […] nur dann aufrechterhalten, wenn er beweisen kann, daß er von den Geistern begünstigt wird, daß er Glück und Reichtum besitzt und von diesem besessen ist. Und seinen Reichtum kann er nur dadurch beweisen, daß er ihn ausgibt, verteilt und damit die anderen demütigt, sie ›in den Schatten seines Namens‹ stellt.«11 Neben der Verpflichtung, durch die Gabe zu rivalisieren, »muß die Erwiderung in würdevoller Form geschehen. Man verliert für immer sein ›Gesicht‹, wenn man nicht erwidert oder die entsprechenden Werte nicht zerstört. Die Sanktion der Erwiderungspflicht ist Schuldknechtschaft:«12 »Wie man sieht«, so Mauss abschließend, »richtet der Begriff der Ehre, der sich auch in Polynesien sehr heftig auswirkt und in Melanesien nie fehlt, hier wahre Verwüstungen an.«13 Und ganz allgemein: »Doch das Motiv dieser übertriebenen Gaben und dieser rücksichtslosen Konsumtion, dieser unsinnigen Verluste und Eigentumszerstörungen ist in keiner Weise uneigennützig. Zwischen Häuptlingen und zwischen Vasallen und Knappen etabliert sich mittels solcher Gaben die Hierarchie. Geben heißt seine Überlegenheit beweisen, zeigen, daß man mehr ist und höher steht, magister ist; annehmen, ohne zu erwidern oder mehr zurückzugeben,
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Marcel Mauss, Die Gabe, a.a.O., S. 65. Ebd., S. 65-67. Ebd., S. 71. Ebd., S. 78. Ebd., S. 68.
3. Gabe und Kampf für Anerkennung
heißt sich unterordnen, Gefolge und Knecht werden, tiefer sinken, minister werden. […] Der Erste, Schönste, Erfolgreichste, Stärkste und Reichste sein – danach strebt man.«14 Es ist klar, dass diese erste Konzeption der Anerkennung alles andere als politisch korrekt ist. Und es fällt auf Anhieb schwer sich vorzustellen, wie Hegel, von ihr ausgehend, beanspruchen konnte, die Fundamente einer Theorie des rationalen Staates zu legen, und Mauss versuchen konnte, »den Fels der unvergänglichen Moral« der Gabe freizulegen. Was hat die agonistische und aristokratische Anerkennungslogik, die nach Anerkennung einer Überlegenheit um jeden Preis strebt, gemein mit der zeitgenössischen, demokratischen Anerkennungslogik, die alle Unterschiede und alle Identitäten, aus denen sie sich ergeben, als gleichwertig anerkannt wissen will oder die sich zumindest weigert, bestimmte Positionen für minderwertig zu erklären, und die alle Identitäten der Gefahr der Missachtung entziehen möchte? Axel Honneth gebührt das Verdienst, die Debatte über Anerkennung in die zeitgenössische philosophische Arena zurückgebracht zu haben. Allerdings auf einer völlig anderen Grundlage als der von Kojève.15 Man sollte sich vom Titel seines Erstlingswerkes, Kampf um Anerkennung, nicht täuschen lassen: zwar besteht er auf der Notwendigkeit, die von Habermas – dem Honneth an die Spitze der Frankfurter Schule, Wiege und Refugium der kritischen Soziologie, folgte16 – verleugnete oder minimierte Dimension des Konflikts und der Behauptung wieder in die Kommunikationsethik einzuführen, doch geht es ihm keineswegs darum, die agonistische Rivalität in irgendeiner Weise zu legitimieren oder sie überhaupt nur ernsthaft in Betracht zu ziehen. Ausgehend von einer Neulektüre der Hegelschen Texte vor der Phänomenologie des Geistes von 1807 – insbesondere dem System der Sittlichkeit (1802-1803) und der Jenaer Realphilosophie17 (1803-1804) – und der Verbindung dieser Texte, die Hegels teilweise unvollendetes und nicht wieder aufgegriffenes Projekt freilegen, mit den Theorien des amerikanischen Philosophen und Soziologen George Herbert Mead (1863-1931), unterscheidet Honneth drei Sphären und drei Formen der Konstitution der persönlichen Identität und ihrer Anerkennung. Die erste basiert auf dem, was Hegel unter der Rubrik der Liebe analy14 15 16 17
Ebd., S. 133-134. Den er kaum erwähnt. Sein grundlegendes Buch zum Thema ist Kampf um Anerkennung, Frankfurt a.M. 1992. Dem inzwischen Hartmut Rosa gefolgt ist. Ins Französische übersetzt unter dem Titel La Première Philosophie de l’esprit, Paris 1969.
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Das Paradigma der Gabe
siert hat (einschließlich Familienbeziehungen und Freundschaft, kurz gesagt, der Sphäre dessen, was ich »primäre Vergesellschaftung« nenne), die zweite auf dem Gebiet des Rechts und die dritte auf dem Gebiet der Solidarität, die sich innerhalb der politischen Gemeinschaft entfaltet. Honneth schreibt: »Die verschiedenen Muster der Anerkennung, die bei Hegel voneinander abgehoben worden waren, lassen sich als die intersubjektiven Bedingungen begreifen, unter denen menschliche Subjekte zu jeweils neuen Formen der positiven Selbstbeziehung gelangen können. Der Zusammenhang, der zwischen der Erfahrung von Anerkennung und dem Sichzusichverhalten besteht, ergibt sich aus der intersubjektiven Struktur der persönlichen Identität: Individuen werden als Personen allein dadurch konstituiert, daß sie sich aus der Perspektive zustimmender oder ermutigender Anderer auf sich selbst als Wesen zu beziehen lernen, denen bestimmte Eigenschaften und Fähigkeiten positiv zukommen. Der Umfang solcher Eigenschaften und damit der Grad der positiven Selbstbeziehung wächst mit jeder neuen Form von Anerkennung, die der einzelne auf sich selbst als Subjekt beziehen kann: so ist in der Erfahrung von Liebe die Chance des Selbstvertrauens, in der Erfahrung von rechtlicher Anerkennung die der Selbstachtung und in der Erfahrung von Solidarität[18] schließlich die der Selbstschätzung angelegt.«19 Und umgekehrt: »[D]en drei Formen der Anerkennung entsprechen […] drei Typen der Mißachtung, deren Erfahrung jeweils als Handlungsmotiv in die Entstehung sozialer Konflikte einfließen kann.«20 Man erkennt die Umkehrung. Nicht der Wunsch, die Überlegenheit des eigenen Wunsches nach Anerkennung zu behaupten, ist der Ursprung des Kampfes der Menschen, sondern der Wunsch, der Missachtung zu entgehen, und zwar gerade gegen die unegalitäre Behauptung einer Überlegenheit. Gerecht oder ethisch empfehlenswert sind Gesellschaften, die ihren Mitgliedern erlauben, zu dieser dreifachen Anerkennung zu gelangen und so den drei Formen der Missachtung zu entgehen.21 18
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Mit anderen, vielleicht klareren Begriffen könnte man von der Anerkennung des eigenen Beitrags zur Arbeitsteilung oder von der Anerkennung der eigenen Wirksamkeit im Bereich der sekundären Vergesellschaftung sprechen. A. Honneth, Kampf um Anerkennung, a.a.O., S. 277-278. Ebd., S. 8. Der Übersetzer, Pierre Rusch, bemerkt (S. 8, Fn. 1), dass der Begriff »mépris« das neutralere deutsche Wort Missachtung nur unvollkommen wiedergibt und dass es vielleicht besser wäre, von »non-respect oder »non-reconnaissance« zu sprechen. Es geht
3. Gabe und Kampf für Anerkennung
Dialektisierung Es ist jedoch unmöglich, an einem allzu einfachen Gegensatz zwischen dem aristokratischen Ethos der agonistischen Anerkennung, das archaischen Gesellschaften eigentümlich ist, und dem demokratischen, egalitären Ethos der modernen Gesellschaft festzuhalten. Denn zunächst einmal sind – und darauf beharrt Mauss nachdrücklich – die archaischen agonistischen Leistungen nur dann verständlich, wenn man zeigt, wie sie sich vor dem viel allgemeineren Hintergrund der »totalen Leistungen« abheben, durch die das ganze Spektrum erwünschter Eigenschaften zwischen den Gruppen auf nicht-kompetitive Weise zirkuliert. Wenn der Kwakiutl-Häuptling jedenfalls seinen persönlichen Namen vergrößert, dann indem er sich in den Dienst seiner Gruppe stellt. Darüber hinaus führt dieser Kampf um Großzügigkeit, der geführt wird, um die eigene Großzügigkeit zur Schau zu stellen, letztlich zu dem paradoxen Resultat, dass Parität und Respekt zwischen den Gruppen entsteht, da sich die Folge vorübergehender und zyklischer Über- und Unterlegenheiten langfristig ausgleicht. Durch diese Praktiken, so Mauss unter Berufung auf die Tlinkit und Haida selbst (die den Potlatch mit den Kwakiutl praktizieren), »erweisen die beiden Phratrien einander Respekt«22 . Das System der agonistischen Gabe, das als genaues Gegenteil des modernen Rechts erscheinen mochte, entpuppt sich plötzlich als sein funktionales Äquivalent und sein primitiver Ersatz, da es wie dieses der Durchsetzung von Rechten und Pflichten im Namen einer Norm der Parität und Reziprozität dient. Außerdem hat bekanntlich Kojève-Hegels Beharren auf dem Kampf für Anerkennung keineswegs eine Verherrlichung der Aristokratie im Sinn, ganz im Gegenteil. »Im Gegensatz zum Herrn, der für immer in seiner ›herrischen‹ Menschlichkeit erstarrt, entwickelt und vervollkommnet der Knecht seine ursprünglich knechtische Menschlichkeit. Er erhebt sich zum redehaften Denken und erarbeitet den abstrakten Begriff der Freiheit; und er erschafft sich auch als freier und schließlich völlig befriedigter Staatsbürger, indem er die gegebene Welt durch seine im Dienste des Gemeinwesens geleistete Arbeit verwan-
22
hier in der Tat um eine sehr wichtige theoretische Frage, und es ist überraschend, dass sie nicht frontaler angegangen wird. Der Gegensatz von Anerkennung (NichtAnerkennung) ist in der Tat etwas ganz anders als ihr Gegenteil (Verachtung). M. Mauss, Die Gabe, a.a.O., S. 16.
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delt. Er, und nicht der Herr, ist damit der Mensch im eigentlichen Sinne, das Individuum, das frei die Geschichte erschafft.«23 Ebenso wird die Erfahrung der Solidarität, die nach Honneth den Zugang zur Selbstschätzung ermöglicht, an dem Grad bemessen, »in dem sie dazu in der Lage erscheint, zur Verwirklichung der gesellschaftlichen Zielvorgaben beizutragen«24 , und damit letztlich – nach einem Ansatz, der Mead entlehnt ist, der aber ebenso gut von Durkheim stammen könnte – nach seinen Fähigkeiten, seiner Teilhabe an der Arbeitswelt und seinen Leistungen. Indem sie sich auf diese Weise im Register der zugunsten der Gemeinschaft geleisteten Arbeit objektiviert, gelangt die Kategorie der Ehre, von dem totalen gesellschaftlichen Phänomen, das sie war, zunächst dazu, »in den Verwendungsrahmen der Privatsphäre abzusinken«, um sich am Ende des Prozesses in »Ansehen«, »Prestige« oder »soziale Wertschätzung«25 zu verwandeln. Aber die so begonnene Dialektisierung zwischen der agonistisch errungenen und der gebührenden Anerkennung beseitigt ihren Unterschied nicht und lässt mindestens drei wesentliche Fragenkomplexe weitgehend offen. 1. Zunächst, was sollen wir unter der Idee der Anerkennung als solcher verstehen und wie sollen wir ihr Verhältnis zum Wissen denken? In welchem Verhältnis steht sie zu Wertschätzung, Bewunderung, Neid, Dankbarkeit usw.? 2. Angenommen, Hegels Idee stimmt, dass der Mensch als wirklich menschliches (d.h. nicht animalisches) Subjekt zuallererst den Wunsch hat, anerkannt zu werden, was will er dann in sich anerkannt sehen: Seinen Wunsch selbst? Seine Handlungsmacht? Seine Schönheit? Seine Anmut? Seine Effizienz? Seine Nützlichkeit? Seine Großzügigkeit? Seine Gewalt? Seine Sanftmut? Usw. 3. Und von wem will er anerkannt werden, und in welchem Ausmaß und welchem Zusammenhang? Durch die ihm Nahestehenden, im Register der Liebe/Freundschaft? Durch das Gesetz? Durch die soziale Gemeinschaft? Durch alle Menschen? Aber diese an sich legitimen Fragen werden wahrscheinlich keine befriedigenden Antworten finden, wenn sie rein abstrakt
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Alexandre Kojève, Hegel. Eine Vergegenwärtigung seines Denkens, a.a.O., S. 264f. A. Honneth, Kampf um Anerkennung, a.a.O., S. 198. Ebd., S. 204.
3. Gabe und Kampf für Anerkennung
und spekulativ formuliert werden. Sie sind nur dann sinnvoll und mit Leben gesättigt, wenn man sie mit der allgemeineren und übergreifenden Frage – die wir gerade skizziert haben – verbindet, was von den uralten Formen der Anerkennung und der agonistischen Gabe innerhalb des modernen Systems der Anerkennung überleben kann und soll. Die Sozialwissenschaft im Allgemeinen und die Soziologie im Besonderen sollten uns bei der Beantwortung dieser Fragen helfen.26 Doch dazu müsste sich die Soziologie voll und ganz bewusst werden, dass ihr zentraler Gegenstand, in allen Schulen, die Frage nach den sozialen und historischen Determinanten des jeweiligen Wertes der verschiedenen sozialen Gruppen und Personen ist. Ein Wert, dem sie Anerkennung zu verschaffen versuchen, indem sie die besonderen Gaben, die sie für die Gemeinschaft erbringen, hervorheben und »geltend machen«. Im nächsten Kapitel werde ich aufzuzeigen versuchen, dass diese These allen großen soziologischen Schulen gemeinsam ist, dass sie sich aber dessen kaum bewusst sind, was sicherlich die Unfähigkeit der Soziologie erklärt, ihre Einheit zu denken und der problematischen Hegemonie der Wirtschaftswissenschaft über die Sozialwissenschaft wirksam entgegenzutreten. Umgekehrt wird uns dieser kleine Umweg über die Geschichte der Soziologie erlauben, die Zusammenhänge zwischen Anerkennung, sozialem Wert und Gabe zu klären.
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Fragen, die M. Hénaff, ein Freund und kritischer Begleiter des MAUSS, in Der Preis der Wahrheit. Gabe, Geld und Philosophie, a.a.O., stellt. Darin arbeitet er exzellent den inneren Zusammenhang zwischen Gabe und Anerkennung heraus, aber indem er seinen Geltungsbereich und seine Anwendung auf wilde Gesellschaften beschränkt, vor seiner Verwandlung in eine »moralische Gabe«, weigert er sich, den Fortbestand der Gabe in den heutigen Gesellschaften zu sehen. Für ihn gibt es keine historische Allgemeingültigkeit der Gabe und damit auch keine Möglichkeit eines Gabenparadigmas.
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4. Soziologie als implizite Theorie des Kampfes um Anerkennung
Was der Essay über Die Gabe ans Licht bringt, ist, dass die treibende Kraft der Gabe – zumindest und ganz offensichtlich der agonistischen Gabe –, ihr primäres Ziel das Streben nach Anerkennung ist. Individuen und Gruppen – Individuen als Vertreter ihrer jeweiligen Gruppe – erkennen durch ihre Gaben den Empfänger als wertvoll an. Als würdig, anerkannt zu werden und im Gegenzug diejenigen anzuerkennen, die ihnen etwas gegeben haben. Der Wert der Gaben an andere, Freunde oder Feinde, Verbündete oder Rivalen, ist der Maßstab des Wertes, den man ihnen zuerkennt. Aber unter der Voraussetzung, dass die Empfängerinnen und Empfänger den Wert dieser Gaben anerkennen, dass sie ihre Dankbarkeit (also ihre »Anerkennung«) zeigen, ist es auch ihr eigener Wert, den die Geber auf diese Weise anerkannt sehen. Die Gabe fungiert somit als Operator der Anerkennung des Wertes sozialer Gruppen und Akteure schlechthin. Die Analyse dieser zentralen sozialen Tatsache, die elementar und konstitutiv für jede soziale Beziehung ist, sollte im Zentrum der Soziologie stehen und ihr Ausgangspunkt sein. Dies ist jedoch bei Weitem nicht der Fall. Oder besser gesagt, die Soziologie spricht eigentlich nur von Anerkennung, ohne aber wirklich zu wissen und zu sagen, dass sie es tut. Und sie stellt nicht die doch unerlässliche Verbindung her zwischen diesen Fragestellungen und der Frage der Gabe oder des relativen Wertes der verschiedenen sozialen Gruppen. Man wird einwenden, es sei schwierig, über die Soziologie zu sprechen, da sie so stark in rivalisierende Schulen, Methoden, Theorien und Paradigmen fragmentiert sei. Verglichen mit der vereinfachenden Sicht des Homo oeconomicus, auf der die ganze Standardökonomie basiert, lässt sich jedoch leicht zumindest eine Familienähnlichkeit zwischen diesen verschiedenen Theorien ausmachen. Ist es also möglich, einige Merkmale dieser Familienähnlichkeit zu identifizieren, die den verschiedenen Theorien sozialen Handelns gemein-
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Das Paradigma der Gabe
sam sind, die sich auf die Soziologie berufen oder ihr zugeschrieben werden? Und haben sie mit der Frage der Anerkennung zu tun? Um hoffen zu können, auf diesem unsicheren, schlüpfrigen und schlecht markierten Terrain Fortschritte zu machen, müssen wir zunächst versuchen, uns von einer immer wiederkehrenden Debatte in der Soziologie, die uns in eine Sackgasse führt, zu befreien und aufzuzeigen, wie uns die Problematik der Anerkennung dabei helfen kann. Die wichtigste Trennlinie innerhalb der soziologischen Tradition, der Hauptstreitpunkt in der Frage nach dem Status des sozialen Handelns, scheint der Gegensatz zwischen verschiedenen Varianten des methodologischen Individualismus und Holismus darzustellen, also zwischen Soziologien, die wie die Ökonomen das Handeln dem Pol der Freiheit und/oder der Rationalität der Individuen zuordnen, und solchen, die es im Universum von Sinn, Kultur und Werten ansiedeln. Es besteht keine Notwendigkeit, sich auf diese Debatte einzulassen, die für unsere Zwecke hier vorläufig mit der Feststellung entschieden werden kann, dass der Mangel der individualistischen Theorien des sozialen Handelns darin besteht, dass ihnen per definitionem das Moment der Sozialität, die eigentliche soziale Dimension des Handelns fehlt, und dass der umgekehrte Mangel der verschiedenen Holismen (Funktionalismen, Kulturalismen oder Strukturalismen1 ) darin besteht, dass ihnen die Dimension des Handelns, die Freiheit und die relative Unbestimmtheit des sozialen Handelns abgeht. Einer der Gründe für den heutigen Erfolg der Theorien des Kampfes für Anerkennung, die in ihrer aktuellen Form von Charles Taylor, Axel Honneth und Nancy Fraser initiiert wurden, liegt darin, dass sie, natürlich, dem Zeitgeist entsprechen (wir werden uns fragen müssen, warum), aber auch darin, dass sie den Weg zu einer wirksamen Überwindung dieses Gegensatzes zwischen Individualismus und Holismus aufzuzeigen scheinen. Als Ausgangshypothese zu formulieren, dass die sozialen Akteure um oder für Anerkennung2 1
2
Für die funktionalistischen Theorien existiert eine soziale Institution, zum Beispiel diese und jene Heiratsregel, diese und jene festliche Zeremonie usw., nur deshalb, weil sie funktional, d.h. nützlich sind, um entweder Bedürfnisse zu befriedigen oder zur Reproduktion der sozialen Ordnung beizutragen. Für kulturalistische Theorien ist die Erklärung in der Kultur zu suchen, d.h. in den besonderen Werten einer bestimmten Gesellschaft. Für den Strukturalismus, wie dem von Claude Lévi-Strauss, erklären sich soziale Praktiken aus der Verpflichtung, eine Strukturregel einzuhalten. Ich komme auf diese Unterscheidung in Kapitel 9 zurück. Der Kampf für Anerkennung findet im Rahmen eines mehr oder weniger gemeinsamen Wertesystems statt. Man kämpft darum, von Menschen anerkannt zu werden, von denen man glaubt, dass sie
4. Soziologie als implizite Theorie des Kampfes um Anerkennung
kämpfen, erlaubt uns in der Tat, sowohl dem Moment des Handelns – repräsentiert durch das Beharren auf dem Kampf – als auch dem Moment der Sozialität Rechnung zu tragen, da das Ziel, anerkannt zu werden, notwendigerweise das Ziel ist, von anderen als von sich selbst anerkannt zu werden. Den konkreten Anderen, denen man im Privatleben oder bei der Arbeit begegnet, und dem großen Anderen, dem verallgemeinerten Anderen, das die Kultur und die geteilten Werte verkörpern. Es ist ein Handeln im Hinblick darauf, sowohl für sich selbst als auch für andere, oder zumindest in ihren Augen, Sinn zu erzeugen. Ich möchte hier die Frage stellen, inwieweit und unter welchen Bedingungen es im Rahmen einer Problematik des Kampfes für Anerkennung tatsächlich möglich ist, dass die soziologische Tradition ein relatives Minimum an Einheit findet.
Anerkennung in der soziologischen Tradition Wir wollen sehr kursorisch und zur reinen Orientierung untersuchen, wie einige der Themen und Kapitel einer thematischen Geschichte der soziologischen Tradition aussehen könnten, um herauszufinden, welchen Platz in ihr die Frage der Anerkennung einnimmt, egal ob sie unter dieser oder anderen Überschriften erscheint. 1. Lange Zeit galten die beiden großen Bücher von Alexis de Tocqueville (18051859), Über die Demokratie in Amerika und Der alte Staat und die Revolution, eher als eine Angelegenheit der Philosophie oder der Politikwissenschaft als der Soziologie im eigentlichen Sinne. Doch je weiter das zwanzigste Jahrhundert voranschritt, umso mehr erwies sich sein Werk als prophetisch, und umso mehr mussten sich die Soziologen mit ihm beschäftigen. Es war bestrebt zu zeigen, dass sich alle Merkmale der modernen Gesellschaft aus der Leidenschaft für die Gleichheit und dem damit einhergehenden Individualismus ableiten. Auch wenn er nicht den Ausdruck Kampf für Anerkennung verwendet, ist klar, dass Tocqueville in mancher Hinsicht von nichts Anderem spricht. Der »Hass auf Privilegien«, den er in den Mittelpunkt der modernen Demokratie stellt, ist gleichbedeutend mit einer tiefsitzenden Weigerung, missberechtigt sind, Anerkennung zu verteilen oder zu gewähren. Der Kampf um Anerkennung verleugnet hingegen die instituierte Legitimität.
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achtet zu werden. Das Streben nach »Gleichheit der Bedingungen«, das die Menschen dazu bringt, sich ebenbürtig zu fühlen, anstatt durch Barrieren des Blutes, der Rasse oder des Standes getrennt zu sein, ist nicht der Wunsch nach Gleichheit der Besitztümer, sondern das Streben nach gleichem Respekt. Tocqueville ist in diesem Punkt mehr als deutlich. Als Aristokrat, der das Ancien Régime nostalgisch betrachtet, sich aber durchaus bewusst ist, dass nichts es zurückbringen kann und dass es keinen Sinn hat, sich der demokratischen Dynamik entgegenzustellen, hofft Tocqueville, der Liberale, nur, dass sie kanalisiert werden kann, um zu verhindern, dass sie in einen sanften Despotismus ausartet, der die Menschen erniedrigen würde, ohne sie zu foltern.3 Die demokratische Dynamik, die sich seiner Ansicht nach mit der Kraft einer von der Vorsehung geschaffenen Tatsache durchsetzt, kann daher leicht als das Ergebnis weniger des Klassenkampfes als vielmehr des Kampfes für Anerkennung interpretiert werden. Genauer gesagt, um es in einem anachronistischen Vokabular, dem Max Webers, auszudrücken, als Kampf zwischen »Statusgruppen«, definiert durch Art und Umfang des Ansehens, das sie genießen, durch den sozialen Wert, der ihnen zuerkannt wird, und nicht als Kampf zwischen sozialen Klassen, die durch ihren Platz in der Wirtschaft definiert sind. Die Wurzel der demokratischen Leidenschaft für Gleichheit bildet der Kampf der dominierten Statusgruppen, sich von der Statuslogik selbst zu befreien, um individuelle Anerkennung zu erlangen. Kurz gesagt, es geht darum, die Frage der Statusanerkennung zu überwinden und zu lösen, indem man Zugang zu einer gemeinsamen imaginären Gleichheit der sozialen Bedingungen erhält. Gleicher Respekt für alle Menschen also. 2. Tocquevilles theoretische Option ist somit das Gegenteil derjenigen von Marx (1818-1883), der den Lauf der Geschichte aus der Konfrontation wirtschaftlicher Interessen ableiten will. Natürlich wäre es nicht sehr schwer zu argumentieren, dass auch Marx nur von Anerkennung spricht, und zwar umso weniger, als sich sein Geschichtsbild eindeutig aus der hegelianischen Herr-Knecht-Dialektik ableitet. Das Proletariat, das sich all seiner Ketten entledigt und damit die gesamte Menschheit befreit, steht dem Hegel’schen Arbeiter sehr nahe, der durch seinen Einsatz in Arbeit und Wissenschaft dem
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»Käme es in den demokratischen Nationen unserer Tage zum Errichten des Despotismus, so besäße er andere Merkmale: er wäre ausgedehnter und milder, und die Entwürdigung der Menschen vollzöge er, ohne sie zu quälen.« (Über die Demokratie in Amerika, München 1976, S. 813).
4. Soziologie als implizite Theorie des Kampfes um Anerkennung
aristokratischen Kampf für Anerkennung ein Ende setzen wird. Es ist daher leicht, einen guten Teil der zentralen marxistischen Themen in die Sprache der Anerkennung zu übersetzen und zu integrieren. Übrigens deckt sich das teilweise mit dem, was zeitgenössische Theoretiker wie Axel Honneth und, noch deutlicher, Emmanuel Renault4 tun, die im Erlangen von Anerkennung das Äquivalent zum Ende der Ausbeutung sehen. Aber es ist dennoch klar, dass Marx den Klassenkampf nicht im Sinne des Kampfes für Anerkennung, als Kampf um Identität im Register des Seins, sondern im Sinne des Kampfes um Besitz, im Register des Habens begreift. Der marxistische Klassenkampf wird weniger durch den Wunsch nach Anerkennung motiviert, durch das Gefühl, Opfer einer Verkennung oder Missachtung zu sein, als durch den Wunsch, der Ausbeutung, dem materiellen Elend und der entfremdeten Arbeit zu entkommen. In vollkommenem Kontrast, aber auch in Ergänzung und Symmetrie zu Tocqueville, der den sozialen Konflikt als einen Kampf dominierter Statusgruppen betrachtet, die versuchen, den Statuskampf zu überwinden und abzuschaffen, tut Marx so, als sei der Kampf der Statusgruppen reduzierbar auf einen Kampf ökonomischer Klassen, der zu seiner eigenen Überwindung und Abschaffung tendiert. Aber in beiden Fällen ist das, was angestrebt, angekündigt und prophezeit wird, ein Jenseits des Kampfes. Ein Jenseits der Statuskämpfe bei Tocqueville, ein Jenseits des Klassenkampfes bei Marx. Das Merkwürdige an Marx ist, dass er uns dennoch eine sehr mächtige Theorie der Anerkennung liefert, vielleicht die mächtigste, die jemals erarbeitet wurde und die sich eindeutig von Hegel ableitet, aber es stellt sich heraus, dass dies die im Kapital entwickelte Wirtschaftstheorie ist, und dass sie sich als eine Theorie der Anerkennung nicht von Menschen, sondern von Waren darstellt. Es sind nicht die menschlichen Subjekte, sondern die Waren, die darum kämpfen, dass ihr Wert anerkannt wird, um ihn zu »realisieren«, wie Marx sagt. Wir werden uns fragen müssen, ob die von Marx entwickelten Instrumente, um die Anerkennung des Warenwerts zu denken, nicht besser für ein Nachdenken über die Anerkennung des Wertes von Subjekten geeignet wären. 3. Merkwürdigerweise finden wir unter allen großen Soziologen bei Émile Durkheim (1958-1917), dem Begründer und besten Repräsentanten der fran4
Zum Beispiel in L’Expérience de l’injustice. Reconnaissance et clinique de l’Injustice, Paris 2004.
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zösischen soziologischen Tradition, wahrscheinlich die wenigsten Elemente, die sich im Sinne des Kampfes für Anerkennung reinterpretieren lassen. Dies ist, wenn man darüber nachdenkt, eigentlich sonderbar, denn die Aufmerksamkeit, die er der Bedeutung von Symbolen im gesellschaftlichen Leben beimisst, hätte ihn direkt in diese Richtung führen müssen. Schreibt er nicht z.B. in Die elementaren Formen des religiösen Lebens: »So ist das soziale Leben unter allen seinen Aspekten und zu allen Augenblicken seiner Geschichte nur dank eines umfangreichen Symbolismus möglich.«5 Was sind nun das, was wir Symbole nennen, ursprünglich und in letzter Instanz, wenn nicht Zeichen der Anerkennung einer Gabe der Gastfreundschaft und des Bündnisses?6 Aber ganz darauf fixiert zu denken, was in der symbolischen Ordnung schlechthin, der Religion, das was zusammenführt und die Gesellschaft ausmacht, vernachlässigt Durkheim den Kampf der verschiedenen Gruppen, aus denen sie sich zusammensetzt und die miteinander streiten, die Kontrolle über die Symbolizität und damit über die Anerkennung zu erlangen. Viel mehr in diesem Sinne würde man bei seinem Schüler Maurice Halbwachs finden. Aber nach Durkheims Ansicht ist es die Gesellschaft als Ganzes und nicht diese oder jene ihrer Untergruppen, die sich selbst anerkennen muss, durch jedes und in jedem der Individuen, aus denen sie sich zusammensetzt, und sie tut dies durch die Religion. Religion, so sagt er uns, ist »vor allem ein Begriffssystem, mit dessen Hilfe sich die Menschen die Gesellschaft vorstellen, deren Mitglieder sie sind, und die dunklen, aber engen Beziehungen, die sie mit ihr haben«7 . Das einzige Subjekt, das nach Anerkennung verlangt, ist die Gesellschaft. Die Anerkennung der Subjekte und Gruppen, aus denen sich die Gesellschaft zusammensetzt, erscheint ihm nur als die Brechung, der Schatten, den diese erste allgemeine Anerkennung wirft. 4. Max Weber (1864-1920) erlaubt uns seinerseits, von zwei sehr unterschiedlichen Ansätzen aus in die Debatte über Anerkennung einzusteigen. Am bekanntesten ist derjenige, der zeigt, wie der Kampf der Statusgruppen – defi-
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Die elementaren Formen des religiösen Lebens, Frankfurt a.M. 1994 [1912], S. 317. Das symbolon war ein in zwei Teile zerbrochener Gegenstand, von dem jeder Partner der Gastfreundschaft eine Hälfte erhielt, die er an seine Erben weitergeben konnte. Letztere konnten sich durch die Wiederzusammenfügung der beiden Teile zu einem einzigen Ausgangsobjekt davon überzeugen, dass sie wie ihre Väter Verbündete waren. Vgl. A. Caillé, Anthropologie der Gabe, a.a.O., Kapitel VI. Die elementaren Formen des religiösen Lebens, a.a.O., S. 309.
4. Soziologie als implizite Theorie des Kampfes um Anerkennung
niert durch die Art und Menge der Ehre, die sie genießen – den Klassenkampf überlagert und sich diesem gegenüber verselbständigt, um die eigentliche Gesellschaftsordnung zu bilden. Letztere wird somit als das Feld des Kampfes für Anerkennung gesehen, auch wenn Weber dies nicht explizit in diesen Begriffen sagt. In gewisser Weise finden wir hier eine Synthese von Tocqueville und Marx, aber ohne die messianische Komponente, die bei letzterem durchscheint. Am vielversprechendsten ist jedoch der zweite Ansatz zur Anerkennung, der in der Weber’schen Religionstheorie zu finden ist. Tatsächlich gibt es bei Weber eine ganze, zu wenig bekannte Theorie der nicht nur formalen, sondern auch substantiellen Rationalisierung der Religion, d.h. der symbolischen Ordnung. Seiner Meinung nach entwickeln sich die Religionen, weil sie ständig nach neuen Gründen suchen müssen, um Leiden und Unglück zu erklären, indem sie ihnen einen Sinn geben und damit Gründe für die Hoffnung, sie zu überwinden.8 Sie müssen jeder sozialen Klasse, jeder Statusgruppe, aber auch jedem Einzelnen die Mittel an die Hand geben, um ihrem Handeln und ihrer Präsenz auf der Erde und darüber hinaus einen Sinn zu geben. Also Sinn und Wert zuerkannt zu bekommen. Diese Überlegungen sollten mit der bekannten Weber’schen Analyse der puritanischen Ethik verbunden werden, die eine Schlüsselfrage offenbart: Inwieweit tendieren die großen Universalreligionen nicht dazu, die Forderung nach Sinn und Wert in Begriffen der individuellen und/oder kollektiven Auserwähltheit zu beantworten. Im religiösen Sinne anerkannt zu werden, heißt das nicht letztlich, sich als individuell und/oder kollektiv auserwählt, d.h. anerkannt betrachten zu können, und zwar durch die höchste Instanz der Anerkennung, der Anerkennung aller möglichen Anerkennungen, die Figur der Gottheit, das verallgemeinerte Andere, das große Ganz-Andere, das vermeintlich alles Wissen transzendierende allwissende Subjekt? Die Religion erscheint so als eine Antwort oder besser gesagt, als die Antwort schlechthin auf alle Rätsel und Aporien der Anerkennung.9 5. Ist es möglich, die Hauptmerkmale einer amerikanischen soziologischen Tradition am Schnittpunkt einer starken Betonung von Feldforschung, Kulturanthropologie, Sozialpsychologie und einer mehrheitlich pragmatischen Philosophie zu identifizieren? Gemeinsamkeiten zu finden zwischen Charles 8 9
Dieser Punkt wird besonders gut herausgearbeitet von Stephen Kalberg in seiner unverzichtbaren La Sociologie historique comparative de Max Weber, Paris 2002, S. 232ff. Ich komme auf diese Themen in Kapitel 12 und 13 zurück.
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Cooley, Robert Park, George Herbert Mead, Talcott Parsons, dem symbolischen Interaktionismus von Erving Goffman und der Ethnomethodologie von Harold Garfinkel zum Beispiel? Die Aufgabe verspricht schwierig zu werden, aber es scheint kaum Zweifel daran zu geben, dass für fast alle diese Autoren die Frage der Anerkennung absolut zentral ist. Sie wird zwar auch hier nicht als solche benannt, aber worauf sonst beziehen sich letztlich alle Analysen der in dieser Tradition so oft wiederkehrenden Dialektik von »Status« und »Rollen«? Oder das Beharren Goffmans auf der gesellschaftlichen Verpflichtung, sich anderen im täglichen Leben zu präsentieren und zu repräsentieren, unerbittlich alle Beleidigungen, die ihm angetan werden, aufzuspüren und dafür zu sorgen, dass die Beleidigungen, die dem Selbst der anderen zugefügt wurden, wieder gutgemacht werden? Das Goffman’sche Subjekt unterliegt in gewisser Weise der gesellschaftlichen Verpflichtung, für die Anerkennung seines heiligen Selbst zu kämpfen und die Übergriffe auf das Selbst der anderen zu beheben. 6. Merkwürdigerweise ist der Autor, der dem Aufbau einer allgemeinen Soziologie auf dem Terrain der Anerkennungsproblematik mit Sicherheit am nächsten kommt, auch derjenige, der sich am meisten von ihr entfernt. Nämlich Pierre Bourdieu. Was die unvergleichliche Stärke von Die feinen Unterschiede ausmacht, ist die radikale Subversion, die das Buch nicht nur in die Theorie des ästhetischen Geschmacks einführt, sondern darüber hinaus und allgemeiner in die Theorie der Bedürfnisse. Wo der gesunde Menschenverstand und die klassische politische Ökonomie sie dem Register der Materialität zuordnen, zeigt Bourdieu hingegen, dass selbst die materiellsten Bedürfnisse, Essen und Trinken, letztlich sowohl in Bezug auf das, was konsumiert wird, als auch auf die Art und Weise des Konsums in die Notwendigkeit eingebettet sind, für die Anerkennung eines sozialen Status zu sorgen und sozusagen die soziale Natürlichkeit, die Selbstverständlichkeit jedes Status zu bestätigen. Letztlich ist die Bourdieu’sche Theorie des symbolischen Kapitals nichts anderes als die Theorie der Akkumulation eines Anerkennungskapitals. Das zeigt der Entwurf einer Theorie der Praxis (oder des Sozialer Sinn) immer wieder. Gehen wir noch weiter: Die schöne Analyse der Ehrenlogik – d.h. des Kampfes für Anerkennung – ist in diesen Werken nicht zu trennen von der akribischen Rekonstruktion der Denkkategorien, die das symbolische Universum der kabylischen Gesellschaft strukturieren, indem sie den Geschlechtern, dem Alter oder den verschiedenen sozialen Gruppen einen sozialen Wert a priori zuschreiben, je nach dem Platz, der ihnen im komplexen Geflecht der Gegen-
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sätze von Nord und Süd, trocken und feucht, heiß und kalt, innen und außen usw. zukommt. In denen wir sehen, dass das Wissen untrennbar mit der Anerkennung verbunden ist, dass die Kategorien des Denkens, die Formen der Klassifizierung, die es ermöglichen, über die Welt nachzudenken und sie zu erkennen, diejenigen, die sie würdigen, die kognitiven Kategorien und die axiologischen Kategorien ineinander greifen und eng miteinander verflochten sind. Die wissende und die Normen setzende Anerkennung. Doch wie wir wissen, tragen all diese schönen Analysen der sozialen Logiken der Anerkennung nicht dazu bei, Bourdieus Soziologie auf das Terrain einer allgemeinen Soziologie der Anerkennung zu stellen. Mit der Entscheidung, sein System im Sinne einer »allgemeinen Ökonomie der Praxis« und nicht einer allgemeinen Soziologie der Anerkennung zu denken, schließt sich Bourdieu der marxistischen Haupttradition an, die den Fragen des materiellen Habens Vorrang vor Fragen des sozialen Seins und seiner Anerkennung einräumt. So verlieren seine Entdeckungen viel von ihrer Kraft, indem er so tut, als würden sie die verborgene Logik der systemischen und quasimechanischen Reproduktion des Strebens nach Akkumulation von Besitz – wirtschaftliches Kapital, soziales Kapital, symbolisches Kapital – offenbaren, während sie, richtig gedeutet, tatsächlich zeigen, dass die Akkumulation dieser verschiedenen Kapitalien nur dann Sinn macht, wenn sie als Moment und Mittel des Kampfes für Anerkennung gedacht wird. Um es anders auszudrücken: das Bourdieu’sche Gebäude basiert, wie wir gesehen haben, auf der halb impliziten, halb expliziten These, dass der Besitz und die Akkumulation von ökonomischem Kapital die letztinstanzlichen Determinanten des sozialen Kampfes sind, der sich somit auf die Akkumulation verschiedener Kapitalarten, insbesondere soziales und symbolisches Kapital, reduziert, während Bourdieus Analysen ihre volle Bedeutung und Tragweite nur dann entfalten können, wenn sie in den Kontext einer symmetrischen These gestellt werden – was sie wieder auf die Beine bringen würde –, die besagt, dass die Akkumulation von »symbolischem Kapital« die eigentliche Determinante ist und dass die Akkumulation von ökonomischem Kapital als eines ihrer Momente und Mittel gedacht werden muss. Oder, genauer gesagt, der Kampf für Anerkennung muss als primäre und ursprüngliche soziale Tatsache und die Anhäufung (oder Verschwendung) der verschiedenen Arten von Kapital als Mittel und Moment dieses Kampfes gesetzt werden. Auch wenn es wahr ist, dass es angesichts der engen Verflechtung aller Komponenten des sozialen Handelns gefährlich ist, eine erste oder letzte Instanz isolieren zu wollen.
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Ist es möglich, in der eben skizzierten Richtung weiter voranzuschreiten und die Umrisse dessen zu zeichnen, was nicht so sehr oder nicht nur eine soziologische Theorie der Anerkennung wäre, sondern die Grundzüge einer allgemeinen soziologischen Theorie, im Sinne einer allgemeinen Theorie der Anerkennung? Dazu müssen wir jetzt die Schwierigkeiten identifizieren, mit denen Anerkennungstheorien konfrontiert sind.
5. Von einigen Schwierigkeiten der Anerkennungstheorien. Die Frage von Wert und Gabe
Verorten wir zunächst die beiden allgemeinsten Probleme, die durch die verschiedenen Anerkennungstheorien, die die zeitgenössischen Debatten strukturieren, aufgeworfen werden. Das erste ist, ob sie aus rein positiver und kognitiver Sicht eine echte Alternative zu den vorherrschenden Erklärungsmodellen bieten. Das zweite wirft die ewige Frage nach dem Übergang vom Positiven zum Normativen, vom Sein zum Seinsollen, vom is zum ought to auf: Kann man aus der Feststellung, dass die menschlichen Subjekte vor allem anerkannt werden wollen, ableiten, dass ihnen notwendigerweise die Anerkennung zuteil werden muss, nach der sie streben? Auf positiver Ebene wäre es durchaus denkbar, die Frage der Anerkennung zu einem einfachen Sonderfall zu machen, zu einer Teilmenge der allgemeinen Theorie der Nutzenmaximierung, der Theorie der rationalen Wahl oder dessen, was ich als Axiomatik des Interesses bezeichne. Es würde ausreichen, die Anerkennung als ein wünschenswertes Gut zu betrachten, das einen Nutzen oder eine Präferenz befriedigt, genauso wie andere wünschenswerte Güter, wie z.B. ein Auto, ein schönes Haus oder Prestige. In einem anderen Register könnte man sich, wie wir gerade gesehen haben, leicht eine umgekehrte Bourdieu’sche Soziologie vorstellen, die nicht das Interesse, die Logik der erweiterten Reproduktion des ökonomischen Kapitals, sondern den Wunsch nach Maximierung des symbolischen Kapitals zur Wurzel des Handelns erklärt. Doch selbst umgekehrt, und wenn man alles andere unverändert ließe, hätten wir es immer noch mit einer Axiomatik der Interessen- und Besitzmaximierung zu tun. Es stellt sich daher die Frage, ob die Anerkennungsproblematik an sich schon eine echte kopernikanische Wende vollzöge, die die
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Theorie des rationalen Handelns als Sonderfall der Anerkennung erscheinen ließe, oder ob diese letztlich den Theorien des rationalen Handelns subsumierbar und subsumiert bliebe.1 Um hier Fortschritte zu erzielen, wäre es notwendig, die eigentlich anthropologische Fragestellung weiterzuentwickeln. Es ist jedoch festzustellen, dass sich die aktuellen Debatten, im Anschluss an die Diskussion von Rawlsʼ Theorie der Gerechtigkeit und weitgehend in deren Kontext, viel mehr mit der normativen Frage, mit der Theorie der Gerechtigkeit, als mit der Anthropologie befassen. Merkwürdigerweise schlagen sie, wie wir gesehen haben, kaum eine Brücke zum alten Anerkennungsdiskurs, den Kojève aus seiner Interpretation der Herr-Knecht-Dialektik in Hegels Phänomenologie des Geistes ableitete – ein späterer Hegel als der, auf den Honneth sich bezieht – und der das französische Denken der Nachkriegszeit so stark beeinflusst hat, vermittelt insbesondere über Bataille und Lacans Neulektüre von Freud. Auf normativer Ebene stellt sich daher die Frage, inwieweit es zulässig ist, vom Sein zum Seinsollen zu gelangen. Denn im Gegensatz zu dem impliziten Postulat, das vielen zeitgenössischen Theorien der Anerkennung zugrunde liegt, scheint es nicht möglich, aus der unbestreitbaren Tatsache, dass menschliche Subjekte anerkannt werden wollen, abzuleiten, dass sie notwendigerweise gleichberechtigt und in allen ihren Forderungen anerkannt werden sollten. Als gäbe es gleichsam ein unantastbares Recht auf Anerkennung. Wenn sie sich nicht als fähig erweist, zu spezifizieren, was in der Forderung nach Anerkennung legitim ist und was nicht, läuft die Anerkennungstheorie große Gefahr, die Opferkonkurrenz anzuheizen sowie ein gegenseitiges Sichüberbieten in der unendlichen Erzeugung neuer Rechte auszulösen, das sich schnell als selbstzerstörerisch zu erweisen droht. Es sei auch darauf hingewiesen, dass gerade in dem Maße, wie die Anerkennung als unter die Theorie der rationalen Wahl subsumierbar gilt und sich eher in dem Wunsch zu haben als in dem Wunsch zu sein oder zu erscheinen ausdrücken lässt, die Forderung nach Anerkennung wahrscheinlich die Opferkonkurrenz anheizen wird. Beziehungsweise, um es mit den Worten von Nancy Fraser2 auszudrü-
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Es ist diese Frage, die den zentralen Kern meiner Théorie anti-utilitariste de l’action, a.a.O., bildet. In Umverteilung oder Anerkennung?, Frankfurt a.M. 2003, kritisiert Nancy Fraser eine gewisse Einseitigkeit von Honneth und versucht, Kämpfe um Anerkennung mit Kämpfen um Umverteilung zu verbinden.
5. Von einigen Schwierigkeiten der Anerkennungstheorien
cken: Wenn die Forderung nach Anerkennung als Forderung nach einem weiteren nützlichen Gut, vergleichbar mit anderen nützlichen Gütern, verstanden wird, dann begnügt sie sich mit einer besonderen Modalität des Kampfes um Umverteilung. Diese allgemeinen Schwierigkeiten lassen sich in vier komplementäre Fragenkomplexe unterteilen. Jeweils: Wer soll anerkannt werden? Von wem? Was soll anerkannt werden? Und schließlich, was bedeutet der Begriff Anerkennung überhaupt? 1. Wer will und wer muss eigentlich anerkannt werden? Einzelpersonen oder Gemeinschaften? Sind wir heute nicht Zeuge eines merkwürdigen Hin und Hers zwischen Individuen und Gemeinschaften? Wo wir glauben, überall individuelle Emanzipationskämpfe am Werk zu sehen, stellt sich heraus, dass diese Kämpfe tatsächlich zumeist im Namen einer mehr oder weniger realen oder imaginären Zugehörigkeitsgemeinschaft (Frauen, Schwule und Lesben, Juden, Schwarze usw.) ausgetragen werden. Wir wollen, ganz allgemein, vier Hauptfiguren der Subjektivität unterscheiden: die des Individuums, die sich nur auf dieses selbst bezieht; die der Person im Verhältnis zu privilegierten Anderen innerhalb der Primärgruppen; die des Gläubigen und/oder Bürgers, Mitglied einer Religion, einer Kirche oder einer politischen Gemeinschaft, im Verhältnis zu einem großen Anderen; und schließlich die des Menschen schlechthin, des Gattungsmenschen. Wer soll anerkannt werden: das einzelne Individuum, die besondere Person, der Gläubige/Bürger oder der Mensch im Allgemeinen? 2. Anerkannt von wem? Diese Frage verdoppelt sich um folgende: Von wem möchten oder sollen menschliche Subjekte anerkannt werden? Anerkennung hat offensichtlich nur dann Sinn und Relevanz, wenn die Subjekte, Institutionen oder Instanzen, von denen man Anerkennung erwartet, selbst anerkannt werden. Die Anerkennenden selbst müssen anerkannt werden. Und man muss davon ausgehen können, dass sie gut und fair anerkennen. Eine der möglichen Verzerrungen der gegenwärtigen Anerkennungsdebatte besteht darin, dass sie, oft zu sehr auf die Frage der Gerechtigkeit fokussiert, dazu neigt, sich von dem Feld zu entfernen, das Axel Honneth in Anlehnung an Hegel als das der Liebe (oder das, was ich primäre Vergesellschaftung nenne) und der Arbeitsteilung bezeichnet, um sich faktisch und implizit allein auf den politischen Bereich des Rechts auf gleiche Anerkennung in Form des Respekts zu konzentrieren. Doch selbst dort, wo es darum geht, die gleiche Würde der
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verschiedenen Bestandteile einer politischen Gemeinschaft, Einzelpersonen, Kulturen oder Religionen feierlich zu bestätigen, ist es zweifelhaft, ob das Gesetz ausreicht, um die gewünschte Anerkennung zu bewirken. In der Krise der französischen Vorstädte beispielsweise, die im November 2005 ausbrach, oder in der Krise der »Gelbwesten« ist klar, dass es nicht das Gesetz ist, das diskriminiert, und die Ursache für den Mangel an Anerkennung ist, die die Randalierer oder die Besetzer der Kreisverkehre empfinden. Es ist also nicht das Gesetz, das angegriffen wird, sondern auf diffuse Weise die französische Gesellschaft als Ganzes. Sprecher und Sprecherinnen von Gemeinschaften, die sich selbst als »rassisch« diskriminiert oder unsichtbar gemacht erleben, erklären, dass es, wenn sie den »staatlichen Rassismus« oder die Arroganz der gewählten Vertreter anprangern, in Wirklichkeit der strukturelle Rassismus oder der Elitismus der französischen Gesellschaft ist, die von ihr tolerierten Ungleichheiten, worunter sie leiden. Die Tatsache, dass man nur von einem Subjekt voll anerkannt werden kann, dem Anerkennung gewährt wird, ein anerkennungsfähiges Subjekt, führt zu einer Unterscheidung und einer Dialektik zwischen Kämpfen für Anerkennung und Kämpfen um Anerkennung, je nachdem, ob man die Anerkennung durch einen anerkannten Anerkennenden anstrebt oder ob man im Gegenteil durch die Anfechtung seiner Legitimation als instituierter Anerkennender beabsichtigt, die Spielregeln zu ändern, um seinerseits Anerkennender zu werden, Richter und Anerkennender, der denjenigen stigmatisiert, der uns missachtet hat. 3. Anerkennung von was? Das wirft sofort die Frage auf, was anerkannt werden und Gegenstand der Anerkennung sein muss, damit sich die Subjekte als solche konstituieren können. Bei dieser Frage geht es darum, was den Wert der Subjekte ausmacht, den Wert, den sie anerkannt sehen wollen. Damit führen wir einen Begriff ein, der zwischen Anerkennung und Subjekten vermittelt, den Begriff des Wertes, der in den aktuellen Debatten seltsamerweise nicht vorkommt. Eine gute Möglichkeit, die Unterscheidung zwischen der Umverteilungs- und der Anerkennungsproblematik neu zu formulieren, wäre zu sagen, dass erstere sich mit der Umverteilung von Gütern und Dienstleistungen befasst, die mit einem bestimmten wirtschaftlichen (d.h. Markt-)Wert ausgestattet sind, während letztere sich für die Umverteilung von Wertschätzungsbezeugungen gegenüber Personen interessiert. Die Einführung der Wertfrage eröffnet sogleich eine weitere: Kann es objektive oder zumindest objektivierbare Grundlagen für den Wert von Subjekten geben –
5. Von einigen Schwierigkeiten der Anerkennungstheorien
»Fundamentals«, wie Börsenanalysten sagen würden, für die sich die gleiche Art von Frage in einem völlig anderen Feld stellen – oder ist hier alles eine Frage von Willkür, reiner gesellschaftlicher Konstruktion und Mimikry? 4. Das führt uns schließlich zu der Frage nach dem Grad an Konsistenz des Anerkennungsbegriffs selbst. Ein großer Teil der aktuellen Diskussion konzentriert sich auf die Unterscheidung zwischen dem, was man als positive Anerkennung und als normative Anerkennung bezeichnen könnte, d.h. der wiederholten Identifizierung, der Akzeptanz einer Tatsache, eines Ereignisses oder einer Person einerseits und der positiven oder negativen Bewertung des betreffenden Ereignisses oder der betreffenden Person andererseits. Das Buch von Paul Ricœur, Wege der Anerkennung3 , ist weitgehend dieser ersten Diskussion gewidmet. Aber es ist klar, dass sich die soziologische und philosophische Anerkennungsproblematik im Wesentlichen im Rahmen des zweiten, des normativen Registers entfaltet. Aber was bedeutet es, wenn wir sagen, dass menschliche Subjekte den Wunsch haben, anerkannt zu werden? Folgt man dem von Honneth vorgeschlagenen Dreischritt – zwischen dem Selbstvertrauen, das wir im Bereich der Liebe suchen, dem Respekt, den wir im politisch-rechtlichen Bereich anstreben, und der Selbstschätzung, die wir aufgrund unseres Beitrags zur gesellschaftlichen Arbeitsteilung erlangen wollen –, stellt sich die Frage, ob es sich bei der Anerkennung tatsächlich um ein Konzept handelt, das Liebe, Respekt und Selbstschätzung restlos subsumiert. Beziehungsweise, ist Anerkennung als solche denkbar, im Allgemeinen, unabhängig von ihren besonderen Erscheinungsformen?4 Und worum geht es dann? Darf man schreiben: A = L + R + W (Anerkennung = Liebe + Respekt + Wertschätzung), und erschöpft sich dieses A in der Summe seiner Übersetzungen oder hat es eine eigene Konsistenz? Und weiter: Gibt es eine Hierarchie und eine lexikalische Ordnung zwischen A, R und W, oder stehen sie gleichberechtigt nebeneinander? Diese Frage nach dem Grad an Konsistenz und Homogenität des normativen Anerkennungsbegriffs ist umso wichtiger, als Liebe, bürgerliche Würde
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P. Ricœur, Wege der Anerkennung. Erkennen, Wiedererkennen, Anerkanntsein, Frankfurt a.M. 2006. Diese Frage erinnert an Moores Einwand gegen den klassischen Utilitarismus. Um behaupten zu können, dass das Gute dasjenige ist, was das Glück der größtmöglichen Zahl von Menschen maximiert, müsste man das Gute als solches definieren können, sonst gerät man in einen Zirkelschluss.
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und materielle und symbolische soziale Belohnungen auf umgekehrte Weise funktionieren. Das Recht erkennt die Würde aller Subjekte in gleicher Weise an und bekräftigt ihre gemeinsame Menschlichkeit, während die Liebe ein Subjekt auswählt und zu dem erklärt, das allen anderen vorzuziehen ist, und die materiellen oder symbolischen Entlohnungen den Grad der Überlegenheit eines Subjekts gegenüber den anderen bezeugt.5 Ist es dann möglich zu behaupten, dass das menschliche Subjekt in seinem Wunsch nach Anerkennung gleichzeitig und in gleichem Maße versucht, geliebt, respektiert und geschätzt zu werden? Und sonst nichts. Oder umgekehrt, dass er in seinem Wunsch, geliebt, respektiert und geschätzt zu werden, letztlich wünscht, anerkannt zu werden? Was ist die Wahrheit wovon? Ist Anerkennung die Wahrheit von Liebe, Respekt und Wertschätzung? Oder ist Liebe, wenn nicht Respekt oder Wertschätzung, die Wahrheit der Anerkennung?
Auf dem Weg zu einer Theorie des sozialen Werts Es ist offensichtlich unmöglich, all diese Fragen hier in einer einigermaßen systematischen und fundierten Weise zu beantworten, so komplex und miteinander verflochten sind sie. Aber vielleicht können wir versuchen, herauszufinden, was ihren lebendigen und sinnlichen Kern ausmacht, die zentrale Frage, um die sie sich drehen, die Frage, die der ganzen Debatte über Anerkennung ihren tieferen Sinn gibt. Mit einem Wort, in all diesen Diskussionen über Anerkennung können wir eine ganze Reihe von Antworten sehen, aber wir haben Schwierigkeiten zu erkennen, was die Frage ist. Nun, auch wenn sie in dieser Debatte kaum explizit formuliert wird, scheint es nicht allzu schwierig zu sein, sie zu identifizieren: Es ist wahr-
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Um in der Sprache Hegels zu bleiben, könnte man sagen, dass das Recht allgemeine Anerkennung, die gesellschaftliche Wertschätzung besondere Anerkennung und die Liebe einzigartige Anerkennung verleiht. Zu denken bliebe noch eine universelle Anerkennung, jenseits aller instituierten sozialen und historischen Rahmen. Vielleicht ist es die, die die Religionen verleihen. Eine Anerkennung, die gleichzeitig Liebe, Respekt und Wertschätzung ist, indem die Unterscheidung zwischen Individuum, Person, Gläubigem und allgemeinem Menschen überwunden oder sogar aufgehoben wird. Es ist merkwürdig, wenn man darüber nachdenkt, dass die Rolle der Religion in den Anerkennungsdebatten niemals vorkommt. Der Dschihadismus führt uns leider grausam vor Augen, wie gefährlich dieses Versäumnis ist. Ich komme auf diesen Punkt in Kapitel 13 zurück.
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scheinlich nichts anderes als die Frage, was den Wert menschlicher und sozialer Subjekte ausmacht, also den Wert von Individuen, Personen, Bürgern oder Gläubigen und letztlich den Wert des Menschen. Sie zeigt uns, dass, während die klassische politische Ökonomie als eine Theorie des Güterund Warenwertes konstituiert wurde, die Soziologie es nicht geschafft hat – weil sie es versäumte, die Frage der Anerkennung, um die sie sich seit ihren Anfängen dreht, explizit zu stellen, wie ich im vorigen Kapitel angedeutet habe –, die Frage aufzuwerfen, was den sozialen Wert von Gruppen und Individuen ausmacht. Und doch ist es genau diese Frage, die die Debatte über den Kampf für Anerkennung aufwirft. Darum zu kämpfen, anerkannt zu werden, bedeutet nichts anderes, als darum zu kämpfen, einen Wert zuerkannt, zugeschrieben oder verliehen zu bekommen. Aber welchen Wert? That is the question. Vielleicht ist es möglich, der Antwort näher zu kommen, indem man einen Moment bei dem Wort Respekt verweilt. Letzterer bezeichnet nach Honneth eine der drei Anerkennungsmodalitäten: jene Anerkennungsmodalität, die nach seiner Auffassung durch das rechtlich-politische System auf alle Mitglieder der Gesellschaft gleichmäßig verteilt werden muss. So wird das Wort von den Jugendlichen der französischen Vorstädte jedoch nicht verwendet. Wenn sie »Respekt« oder »totalen Respekt« sagen, um genau die Anerkennung zu bezeichnen, die sie einer Person zuschreiben, erkennt man, dass in dem Wort die drei Dimensionen der hegelianisch-honnethschen Anerkennung zugleich anklingen. Sicherlich, »Respekt« zu jemandem zu sagen, bedeutet, dass die Person der Sphäre der Missachtung, der Schande oder der Ausgrenzung entkommen ist und Zugang zur Sphäre der gemeinsamen Sichtbarkeit gefunden hat, dass sie fortan in den Augen aller, die zählen, sichtbar ist. Es bedeutet aber auch, dass das, was sie getan hat oder was sie ist, außergewöhnlich oder besonders genug ist, um mehr wert zu sein als das, was andere getan haben oder sind. Und schließlich ist es eine Art zu sagen, dass man sie genau dafür liebt. In diesem Sinne verwendet, umfasst das Wort Respekt die Wertschätzung und Liebe, die weit über den gleichen, allen anonym zustehenden Respekt hinausgeht. Allgemeiner und umfassender ausgedrückt bedeutet es, dass man der Person, der man seinen Respekt entgegenbringt, das Verdienst zuschreibt, seine Menschlichkeit verwirklicht zu haben, eine bestimmte Vorstellung davon, was den Inbegriff des Menschlichen oder den Menschen schlechthin ausmacht. Gehen wir noch einen Schritt weiter. Was wir dem Menschen gegenüber, zu dem wir »Respekt« sagen, ausdrücken, ist letztlich Dankbarkeit. Für das,
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was er getan hat und für das, was er ist. Hier berühren wir eine dritte wesentliche Bedeutung des Wortes Anerkennung, die in der weltweiten Debatte über Anerkennung kaum Erwähnung findet, wahrscheinlich weil diese dritte Dimension weder im Englischen noch im Deutschen erscheint.6 Anerkennung zu geben bedeutet nicht nur, sich zu identifizieren oder zu schätzen, es bedeutet auch und vielleicht zuallererst, Dankbarkeit zu empfinden und zu zeigen, also dankbar (reconnaissant)7 zu sein. Es genügt, diese dritte wesentliche Dimension der Anerkennung ernst zu nehmen und ein wenig bei ihr zu verweilen, um in die gegenwärtigen Diskussionen über die Anerkennung wieder die eigentliche anthropologische Dimension einzuführen, die in der alten Debatte, in der es um die Herr-KnechtDialektik ging, so präsent war. Wenn nun Anerkennung ein Ausdruck von Dankbarkeit ist8 , dann ist klar, dass man durch Anerkennen in das von Mauss so meisterhaft herausgearbeitete und analysierte Feld und Register der Gabe und Gegengabe eintritt. Anerkennen heißt zugestehen, dass es eine Gabe gegeben hat, dass man demjenigen, der sie gemacht hat, etwas schuldig ist, dass man in seiner Schuld steht und sich aufgefordert sieht, seinerseits etwas zu geben. Anerkennen heißt gewissermaßen, die Anerkennung einer Schuld oder zumindest einer Gabe zu unterzeichnen. Eine wirtschaftliche oder finanzielle Schuld anzuerkennen bedeutet, eine Schätzung des Geldwerts der eingegangenen Verpflichtung zuzulassen. Eine Person anzuerkennen bedeutet, ihren sozialen Wert einzugestehen und ihr als Gegenleistung etwas schuldig zu sein. Was macht diesen Wert aus, fragten wir? Die Antwort ist jetzt in ihrer Allgemeinheit nicht mehr allzu schwer vorstellbar. Was gesellschaftlich anerkannt wird, ist die Existenz einer Gabe. Was diesen Wert ausmacht, die Substanz des Wertes, hätte Marx über die
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Gleich zu Beginn des Vorworts seiner Wege der Anerkennung, a.a.O., kündigt P. Ricœur an, dass der dritte Ausdruck seines Weges repräsentiert wird durch die »Gleichung von reconnaissance und Dankbarkeit, die kaum in einer anderen Sprache als der französischen vorkommt« (S. 16). »Ich erkenne aktiv etwas, jemanden, mich selbst an, aber ich verlange, von anderen anerkannt zu werden. Und wenn ich das Glück habe, anerkannt zu werden, wird aus Anerkennung Dankbarkeit«, fasst er im Klappentext zusammen. Abgeleitet von reconnaître = anerkennen. Merkwürdigerweise wird diese enge Verbindung zwischen Gabe, Anerkennung und Dankbarkeit, deren Hervorhebung das Ergebnis der Wege der Anerkennung von P. Ricœur ist – der zu Recht die Auffassung vertritt, »daß es keine Theorie der reconnaissance gibt, die diesen Namen verdiente« – darin kaum behandelt, sondern nur angedeutet.
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Ware gesagt, ist die Fähigkeit der Person zu geben, und darüber hinaus die Beziehung, die sie zum Universum der Gabe unterhält. So lässt sich verallgemeinern, was der Ethnologe Claude Pairault 1966 in einer dem Dorf Iro im Tschad gewidmeten Studie schrieb: »Das Ansehen eines Häuptlings besteht, für ihn selbst wie für die Seinen, nicht darin, dass er viel besitzt, sondern dass er großzügig geben kann und zu geben weiß… Denn der Wert eines Individuums bemisst sich an seiner Fähigkeit zu geben: sein Blut einer zahlreichen Nachkommenschaft weiterzugeben, Familienmitgliedern oder unerwarteten Gästen Nahrung, Kleidung und Unterkunft zu geben, als Gegengabe zu erwidern, was man von jemandem empfangen hat, und ohne unmittelbare Gegengabe demjenigen zu geben, der sich angemessen präsentiert.«9 Wir sind jetzt in der Lage, zwei Hauptthesen zu formulieren: 1. Soziale Subjekte, individuelle oder kollektive, anzuerkennen, bedeutet, ihnen einen Wert zuzuschreiben. 2. Der Wert der sozialen Subjekte bemisst sich an ihrer Fähigkeit zu geben. Auf die Gaben, die sie gemacht haben oder machen könnten.
Es liegt auf der Hand, dass diese beiden Thesen, kaum dass sie formuliert sind, viele Fragen aufwerfen und viele Klärungen erfordern. Beschränken wir uns auf folgende Frage: In welchem Sinne sind die Gabe und die Fähigkeit zu geben als Maße für den Wert der Subjekte zu verstehen? Im Moment sind wir noch auf Vermutungen angewiesen: Der Wert der Subjekte hat mit der Gabe zu tun. Aber über welche Art von Gabe sprechen wir? Wir wollen zwei Hauptproblemgruppen unterscheiden: Die erste betrifft die Frage, ob der Wert der Subjekte in der Gesamtheit der Gaben liegt, die sie tatsächlich gemacht haben oder zu denen sie fähig oder imstande sind, in ihren Möglichkeiten des Gebens. Die potentielle oder die tatsächliche Gabe? Eine erste mögliche Antwort ist, dass für individuelle Subjekte alles vom Alter abhängt. Was bei einem kleinen Kind oder Jugendlichen geschätzt wird, ist das Versprechen, das er oder sie in sich trägt, das, was 9
Claude Pairault, Boum-le-Grand, village d’Iro, Institut d’ethnologie, 1966, S. 313, zitiert von Jean Gabriel Fokouo, Donner et transmettre. La discussion sur le don et la constitution des traditions religieuses et culturelles africaines, Zürich/Münster 2006, S. 11.
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wir uns vorstellen, was er oder sie später »geben« kann, während bei einem reifen Erwachsenen oder alten Mann sein Wert weitgehend in dem liegt, was er tatsächlich gegeben hat. Aber wir spüren deutlich, dass diese Antwort nicht ganz zufriedenstellend ist. Im Dualismus von der Fähigkeit zu geben und der tatsächlichen Gabe gibt es etwas, das über den Übergang von der Potenz zum Akt hinausgeht. In der Freude, die wir empfinden, wenn wir Kinder oder Jugendliche in der Blüte ihres Lebens beobachten, liegt nicht nur die Vorfreude auf die Gaben, die sie später erbringen werden, die Vorahnung des Erwachsenen, der sie sein werden, sondern eine Freude, die aus dem entsteht, was sie bereits geben, und was nicht in den Bereich der Präsente, Geschenke oder materiellen Leistungen fällt. Was geben sie dann? Wir wollen eine Antwort vorschlagen: reine Möglichkeit, Leben, Selbstlosigkeit, Schönheit, Anmut. Dies sollte uns veranlassen, zwischen zwei großen Modalitäten der Gabe zu unterscheiden, denen wir bereits in der Einleitung begegnet sind. Die erste bezieht sich auf die Art von Gabe, die Marcel Mauss analysiert hat: die zugleich freie und verpflichtende, interessierte und uneigennützige Gabe von Geschenken, die das Bündnis zwischen den Subjekten besiegelt, indem sie Feinde in Freunde verwandelt. Das Angebot von Gütern und Wohltaten. Nennen wir diese erste Art der Gabe die bündnisstiftende Gabe10 oder die Gabe von Wohltaten (von denen die mildtätige Gabe nur eine besondere Modalität ist). Sie wirft die Frage auf, ob das, was gegeben wird, um ein Bündnis zu stiften, einen intrinsischen Wert hat, ob das angebotene Gut dem Geber eine Freude bereitet, über die friedliche und freundschaftliche Absicht hinaus, die sie zum Ausdruck bringt. Hier zeigt sich eine andere Dimension der Gabe, die mit der ersten verbunden, aber nicht auf sie reduzierbar ist. Die Kreativität des Künstlers, die Schönheit oder Anmut der Kindheit oder Jugend, das Charisma des Subjekts, das wissen oder können soll, all das hat auch mit
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Diese Gaben an Gütern und Wohltaten sind von unendlicher Vielfalt: helfende Hände, Mahlzeiten, Einladungen, Ratschläge, Aufmerksamkeit, Fürsorge, care, Lächeln, finanzielle Hilfe, Bildung usw. Viele von ihnen beinhalten gegenseitige Hilfe und Zusammenarbeit. In diesem Register verblasst die agonistische Dimension der Gabe bis zur Unsichtbarkeit. Jedem liegt es am Herzen, als guter Kooperationspartner anerkannt zu werden. Das Interesse an anderen, die Freundlichkeit oder das Pflichtbewusstsein gehen entschieden über das Eigeninteresse hinaus. Über die Macht der Motivationen zur Zusammenarbeit, auch in der Tier- oder sogar mikrobiologischen Welt, lese man mit Gewinn das schöne Buch von Pablo Servigne, L’Entraide. L’autre loi de la jungle, mit einem Vorwort von A. Caillé, Paris 2017.
5. Von einigen Schwierigkeiten der Anerkennungstheorien
der Gabe zu tun. Aber man erkennt, dass es sich hier um eine andere Gabe handelt. Nicht so sehr um die Gabe, die das Subjekt, das eine Gabe hat, das begabte oder anmutige Subjekt, geleistet hat oder leisten könnte – auch wenn wir uns wünschen, dass das Versprechen, das der Künstler zu machen scheint, wahr wird –, sondern vielmehr um die Gabe, die es erhalten hat, von einem anonymen oder unsichtbaren Spender, die Gabe der Götter, der Musen, der Natur, die Gabe des Lebens, die Gabe des »So-Seienden«. Die Gabe, die bewirkt, dass etwas statt nichts ist. Diese Gabe hat mit dem zu tun, was die phänomenologische Tradition Gegebenheit nennt. Nennen wir sie also die Gabe als Gegebenheit. Und postulieren wir auf noch recht vage und vorläufige Weise, dass der Wert der Subjekte sich irgendwo an der Schnittstelle zwischen Gabe von Wohltaten11 und Gabe als Gegebenheit ansiedelt und ermittelt, ihrer unbestimmten Fähigkeit zu geben und ihren tatsächlichen Gaben. All dies sollte und muss weiter geklärt werden. Aber indem wir in ein und demselben theoretischen Raum die Frage der Gabe, die Frage nach dem Wert menschlicher Subjekte und ihres Kampfes für seine Anerkennung zusammenbringen, verfügen wir bereits über ausreichend solide Instrumente, um eine ganze Reihe von Bereichen zu erforschen, indem wir einen Zugang wählen, der sich von dem unterscheidet, der gemeinhin eingeschlagen wird.12
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Aber wir müssen sofort hinzufügen, um jede irenische Vereinfachung zu vermeiden, dass die Gabe von Wohltaten nur insofern einen Wert hat, als ihr Urheber auch nichts oder Böses bzw. Untaten hätte geben können. Folglich haben auch der Krieger und der Verbrecher ihre eigene Werteskala. Und werden wahrscheinlich als solche anerkannt im Kontext eines Kampfes um Anerkennung, der nicht über den Zyklus des Bittens, Gebens, Annehmens und Erwiderns verläuft, sondern über den diabolischen Zyklus des Ignorierens, Nehmens, Verweigerns und Behaltens. »Dieser Mörder ist so schön, dass der Tag vor ihm erbleicht«, sang Barbara. Sartres Stück Der Teufel und der liebe Gott ist ein Sinnbild für diese Umkehrbarkeit der Anerkennung im Sinne des Guten oder des Bösen. Vgl. insbesondere die Anwendung des Paradigmas der Gabe und der Anerkennung auf die internationalen Beziehungen in Kapitel 9.
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6. Gabe und Care
An dieser Stelle möchte ich einige Gedanken über die Beziehung zwischen Gabe und care vortragen und darüber, wie die Gabetheorien einerseits, die care-Theorien andererseits Licht auf einige der Probleme werfen können, mit denen Forscher im Allgemeinen sowie diejenigen, die im Gesundheitsbereich arbeiten im Besonderen, konfrontiert sind. Intuitiv spürt jeder die Bedeutung dieser Diskussion. Es ist in der Tat offensichtlich, dass wir mit Wissenschaft und Technik allein nicht heilen können. Oder mit Chemie, Geräten und Maschinen, wie ausgeklügelt und notwendig sie auch sein mögen. In jede medizinische Handlung fließt notwendigerweise ein wichtiger und manchmal sogar absolut entscheidender Anteil an Gabe und care ein. Aber wie sind diese Begriffe zu verstehen? Über welche Gabe und welche care sprechen wir? Allein die Tatsache, dass es das englische Wort care ist, das seit mehr als zehn Jahren in einer Reihe von philosophischen und soziologischen, ja sogar politischen Grundsatzdebatten Einzug gehalten hat, reicht aus, um das Problem zu verdeutlichen. Wenn wir dieses Wort nicht oder kaum übersetzen, liegt das nicht nur daran, dass die Haupttheoretiker – die überwiegende Mehrheit von ihnen sind Theoretikerinnen – Amerikaner und Amerikanerinnen sind, sondern auch daran, dass es schwierig ist, ein Äquivalent in anderen Sprachen zu finden. Im Französischen beschwört care eine ganze Reihe von Begriffen herauf – Pflege, Sorge, Aufmerksamkeit, Fürsorge, Mitgefühl, Wohlwollen usw. – die zwischen den Extremen der technischen Dimension der verabreichten Pflege und Altruismus, Nächstenliebe oder Barmherzigkeit schwanken. Das Wort Gabe spricht uns natürlich leichter an, aber es ist mit enormen Mehrdeutigkeiten behaftet, wie wir in der Einleitung zu diesem Buch dargelegt haben. Gehört es zum Bereich der Nächstenliebe, des reinen Altruismus oder dem, was man im achtzehnten Jahrhundert wohlverstandenes Eigeninteresse nannte? Auf die Seite der Liebe oder der Berechnung? Seit zweitausend Jahren oder mehr gibt es eine immense Literatur zu diesem The-
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Das Paradigma der Gabe
ma. Ich hoffe, dass die Leserin, die mir bis hierher gefolgt ist, begonnen hat, den Reichtum des Gabeansatzes zu ermessen, der sich aus dem Mauss’schen Essay über Die Gabe ableitet. Doch dieser Reichtum hat seine Grenzen, wie gerade das Nachdenken über care offenbart. Sie wären problematisch, wenn man bei dem stehenbliebe, was man als einfaches Gabenparadigma bezeichnen könnte. Hier möchte ich zeigen, wie das Nachdenken über care die Arbeit über die Gabe bereichert. Dann werde ich umgekehrt aufzuzeigen versuchen, dass die Care-Theorien erst dann ihre volle Bedeutung erlangen, wenn sie in der Sprache der Gabe neu interpretiert und in den Rahmen eines erweiterten Gabenparadigmas gestellt werden. Und zum Schluss werde ich versuchen, aus diesem theoretischen Gedankengang einige praktische Vorschläge abzuleiten.
Die Unzulänglichkeiten des eingeschränkten Gabenparadigmas und der Beitrag der Care-Theorien Was man das eingeschränkte (oder einfache) Gabenparadigma nennen kann, beschreibt einen Zustand des einfachen sozialen oder individuellen Gleichgewichts, das – im Prinzip, wenn auch nicht immer in der Praxis – durch die Gegenseitigkeit von Gaben und Anerkennungen gekennzeichnet ist. Auf lange Sicht halten sich Gaben und Gegengaben, gegebene und erhaltene Anerkennungen in etwa die Waage oder sollten es im Idealfall tun. Ein solches Gleichgewicht ist jedoch nicht nur nicht immer möglich, es ist nicht einmal immer wünschenswert. Der berühmte amerikanische Soziologe Alvin Gouldner hat dies vor rund fünfzig Jahren sehr gut gezeigt. In einem ersten Artikel aus dem Jahr 1960, »The norm of reciprocity«, stellte er auf sehr Mauss’sche Art und Weise die Universalität der Norm von Gabe und Gegengabe heraus. Immer und überall verlangt die Gabe nach einer Gegenleistung. Man ist immer verpflichtet, etwas zurückzugeben, auch wenn Art und Quelle dieser Verpflichtung zu klären bleiben. Mauss seinerseits sprach in diesem Sinne vom »Fels der unvergänglichen Moral«. Aber in einem zweiten Artikel, »The Importance of Something for Nothing« (1973), stellte Gouldner zu Recht fest, dass es in vielen Situationen, in denen eine zu große Asymmetrie zwischen Geber und Empfänger besteht, keine Gegenseitigkeit geben kann und darf. Dies ist z.B. der Fall in der Beziehung von Eltern zu ihren Kindern oder von körperlich gesunden Erwachsenen zu gebrechlichen alten Menschen. Dies ist ganz allgemein dann
6. Gabe und Care
der Fall, wenn wir uns in einer Situation der Schwäche, Anfälligkeit oder Verletzlichkeit befinden: krank, elend, deprimiert, ohnmächtig usw. In all diesen Fällen macht es für die Geberin keinen Sinn, vom Empfänger eine gleichwertige Gegenleistung zu erwarten. Zumindest nicht in absehbarer Zeit und in vergleichbarer Form. Derjenige, der in diesem Moment frei von Schwäche und Verwundbarkeit ist, muss dann einseitig geben, ohne eine Gegenleistung zu erwarten. Something for nothing. Die Norm, die hier zum Tragen kommt, ist das, was Gouldner Wohlwollen (benevolence) nennt.1 Um uns in unserem Zustand der Verwundbarkeit zu helfen, muss jemand wohlwollend sein, sich um uns kümmern. Auf dass somebody cares. Damit ist der Übergang zu den Care-Theorien vollzogen, die sich in den letzten etwa zwanzig Jahren zunächst in der feministischen Debatte und dann in einer ganzen Reihe anderer Bereiche herausgebildet haben. Aus einer umfangreichen Literatur greife ich hier nur zwei Hauptautorinnen heraus: Carol Gilligan und Joan Tronto.2 Die Begründerin dieses theoretischen Kontinents ist C. Gilligan. In Die andere Stimme bestritt sie die Schlussfolgerungen des berühmten Psychologen Lawrence Kohlberg, der in der Nachfolge von Piaget die Bildung des moralischen Empfindens untersuchte. Dies würde in sechs Stufen erfolgen. Die sechste, die höchste, ist seiner Meinung nach die abstrakteste und allgemeinste. Sie ist diejenige, die auf para-kantische Weise Handlungen der Verpflichtung unterordnet, so dass ihre Norm als allgemeingültig gelten kann. Kohlberg stellte fest, dass es viel mehr Männer als Frauen gibt, die diese sechste und letzte Stufe erreichen. Bedeutet dies, dass Frauen weniger moralisch (oder unmoralischer…) sind als Männer, wie Kohlberg dachte?
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Die Beziehung zwischen diesen beiden Gouldner-Artikeln und dem Mauss’schen Gabenparadigma wird von Ph. Chanial in seiner Einführung zum Sammelband La Société vue du don. Manuel de sociologie anti-utilitariste appliquée, a.a.O, hervorragend dargelegt. Carol Gilligan, Die andere Stimme. Lebenskonflikte und Moral der Frau, München 1982; Joan Tronto, Moral Boundaries. A Political Argument for an Ethic of Care, New York 1993. In Frankreich gibt es inzwischen eine sehr umfangreiche Bibliographie zu diesem Thema. Eine gute Einführung in die Debatte findet sich in der Revue du MAUSS semestrielle, Nr. 32, (herausgegeben von A. Caillé und Ph. Chanial), Paris, 2. Halbjahr 2008, und in Marie Garrau und Alice Le Goff, Care, justice et dépendance. Introduction aux théories du care, Paris 2010. Siehe auch Sandra Laugier, Pascale Molinier und Patricia Paperman (Hg.), Qu’est-ce que le care? Souci des autres, sensibilité, responsabilité, Paris 2009; Pascale Molinier, Le Travail du care, Paris 2013, und Frédéric Worms, Le Moment du soin, Paris 2010.
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Gilligans Antwort lautet, dass dies keineswegs der Fall sei, sondern dass Frauen eine andere Art von Moral entwickeln, die sich mit den besonderen Fällen und dem Leiden von Individuen befasst, die in ihrer Einzigartigkeit und nicht abstrakt, in ihrer Allgemeinheit, betrachtet werden. Frauen entwickeln, mit einem Wort, eine Care-Ethik. Alle nachfolgenden Care-Theorien gingen von dieser anfänglichen Analyse Gilligans aus, versuchten aber, sich von einer zu starken Assoziation des Weiblichen mit dem Emotionalen zu lösen, die den Frauen die Pflicht zur Pflege auferlegen und damit die herrschende Arbeitsteilung, die sie entfremdet, unterstützen würde. Der wichtigste Versuch in dieser Richtung ist der von Joan Tronto, die in Moral Boundaries zeigt, dass Care-Aufgaben sowohl Männern als auch Frauen zugewiesen werden können, solange Erstere geringe soziale Wertschätzung genießen: Arme, migrantische Arbeiter usw.3 Wenn Care-Aufgaben auf diese Weise entwertet werden, dann deshalb, weil sie uns unsere Verletzlichkeit und Abhängigkeit vor Augen führen. Ohne eine gewisse Blindheit gegenüber unserer Verletzlichkeit könnten die rationalen und autarken Subjekte, die wir sein wollen (die Homines oeconomici zum Beispiel), nicht als solche erscheinen. Da wir unsere Anfälligkeit und Abhängigkeit nicht sehen wollen, neigen wir dazu, all die Fürsorge, die wir erhalten und die es uns ermöglicht, sie zu überwinden, unsichtbar zu machen. Diejenigen nicht anzuerkennen, die sie bereitstellen.
Care als generische Tätigkeit und als Prozess Die theoretische Strategie von J. Tronto besteht, wie wir sehen, darin, die Care-Frage zu verallgemeinern, indem sie zeigt, dass sie uns alle betrifft, Männer wie Frauen. Dass wir alle potenzielle Care-Empfänger oder -geber sind. Daher ihre sehr allgemeine Definition von care: »Wir schlagen vor, dass care als eine generische Tätigkeit angesehen wird, die alles einschließt, was wir tun, um unsere ›Welt‹ zu erhalten, zu verewigen und zu reparieren, damit wir in ihr so gut wie möglich leben können. Diese Welt umfasst unseren Körper, uns selbst und unsere Umwelt, alles Elemente, die wir zu einem komplexen lebensförderden Netzwerk zu verbinden suchen.«
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Joan Tronto, Moral Boundaries. A Political Argument for an Ethic of Care, a.a.O.
6. Gabe und Care
Aber um von der »Unterwerfung der Frauen unter die Gabe« und care4 wegzukommen, will J. Tronto auch C. Gilligans Betonung von Affektivität und Altruismus minimieren und care eher als einen Prozess und, in gewissem Sinne, als Arbeit denken. Aus dieser Sicht wird care als ein Prozess mit vier Phasen beschrieben, die sich auf vier Arten von moralischen Einstellungen beziehen: •
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die des caring about (sich bemühen um), was die Anerkennung eines Bedürfnisses und die Notwendigkeit, darauf zu reagieren, impliziert. Dies setzt eine ethische Fähigkeit zur Aufmerksamkeit voraus; die des taking care of (sich kümmern um), das sich auf die (moralische) Verantwortung bezieht, auf das festgestellte Bedürfnis zu reagieren; die des care-giving (des Behandelns), das die Pflegepraxis umfasst. Es impliziert die Bereitstellung einer Kompetenz; und schließlich die des care-receiving (des Pflege Erhaltens), das sich für Tronto auf die Reaktion des Pflegebedürftigen bezieht und den Kreis in dem Sinne schließt, dass der Pflegebedürftige als einziger in der Lage ist zu sagen, ob die Pflege, die er erhalten hat, wirksam und relevant war. Die gute Pflege. Diese letzte Phase beinhaltet eine weitere wesentliche moralische Eigenschaft: die »Empfänglichkeit« (responsiveness). Mit anderen Worten, die Fähigkeit, wie wir in der Sprache des Gabenparadigmas sagen würden, die Bitte der verletzlichen Person zu hören. Den anderen zu verstehen, »indem man seine Position so wahrnimmt, wie er sie ausdrückt, und nicht, indem man sich überlegt, wie man selbst in einer solchen Situation reagieren würde (by considering his position as he expresses it, and not by considering how one self would react in such a situation)«5 , schreibt J. Tronto.
Diese Analysen sind äußerst anregend. Dennoch lassen sie uns in drei Punkten im Unklaren: •
Wenn man aus verständlichen Gründen die von Gilligan hergestellte Verbindung zwischen dem Weiblichen, care und dem emotionalen Bemühen
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Vgl. Elena Pulcini, »Assujetties au don. Réflexions sur le don et le sujet féminin«, Revue du Mauss semestrielle, Nr. 25, 1. Halbjahr 2005, und »Donner le care«, Revue du Mauss semestrielle, Nr. 39, a.a.O. J. Tronto, Moral Boundaries: A Political Argument for an Ethic of Care, a.a.O., S. 136.
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um andere in ihrer Besonderheit auflösen will, läuft man Gefahr, die Kraft der ursprünglichen Intuition zu verlieren. Trontos allgemeine Definition von care ist tatsächlich so allgemein gehalten, dass schwer zu erkennen ist, was nicht unter care fallen würde, bei der Arbeit von Richterinnen, Lehrern, Feuerwehrleuten oder sogar Soldaten oder Nukleartechnikerinnen, die Sicherheitssysteme überwachen usw. In dieser Definition verschwindet die Verbindung zwischen care und dem Weiblichen vollständig. Problematisch ist auch die Versuchung, care auf eine Arbeit oder gar eine »gnadenlose« Arbeit zu reduzieren.6 Auch hier sind die Beweggründe für diese Reduzierung verständlich. Einerseits soll durch die Behandlung von Frauen als Arbeiterinnen und nicht als natürliche Altruistinnen die starke, uralte Tendenz bekämpft werden, sie auf den häuslichen und emotionalen Bereich zu beschränken. Dementsprechend, und aus den gleichen Gründen, ist es verlockend, diese Arbeit von Mitleid und Affekten zu säubern, damit Frauen nicht in die Falle einer entfremdenden Pflicht zum Mitgefühl tappen. Aber man erkennt deutlich, dass diese Reduzierung von care auf eine Arbeit nicht bis zum Ende durchgehalten werden kann, es sei denn, man plädiert für eine radikale Dehumanisierung z.B. der Medizin und der Krankenhäuser. Wenn es zu einem Großteil die Dimension der Empathie ist, die heilt – wie das oft der Fall ist –, dann macht die Reduzierung der Care-Arbeit auf eine einfache Arbeit sie sicherlich zu einer besonders ineffizienten Arbeit! Denn Care-Arbeit ist noch weniger »rationalisierbar« als jede andere. Im Anschluss an die Analyse der im Essay über Die Gabe vorgeschlagenen Motive wollen wir sagen, dass die Pflege ebenso wenig auf das reduziert werden sollte, was ich in der Théorie antiutilitariste de l’action als aimance bezeichne, wie auf Arbeit und Eigeninteresse. Hier, wie bei allen anderem, gilt es, die richtige Balance zwischen Eigeninteresse und Interesse für andere, zwischen Verpflichtung (z.B. moralische Pflicht) und Kreativität-Freiheit (Freude an gut gemachter Arbeit) zu finden. Diese Wiedereinführung der Mauss’schen Kategorien – des Gabenparadigmas – in das Care-Paradigma ist umso notwendiger, als J. Trontos Analyse des vierphasigen Care-Prozesses unmittelbar an den Mauss’schen Zyklus des Gebens, Annehmens und Erwiderns erinnert. Zumindest geht
Patricia Paperman, »Pour un monde sans pitié«, Revue du Mauss semestrielle, Nr. 32, a.a.O., S. 167-184.
6. Gabe und Care
es darum, Pflege zu geben und zu erhalten. Aber die subtilen Beziehungen zwischen caring about, taking care, care-giving und care-receiving bleiben noch zu klären. Wie interagieren die vier Phasen des Care-Prozesses? Natürlich ist es unmöglich, eine allgemeine und endgültige Antwort auf diese Fragen zu geben, aber um ihrer Lösung näher zu kommen, müssen wir zum Gabenparadigma zurückkehren und es um die Beiträge der Care-Theorie ergänzen.7
Vom Care-Paradigma zu einem erweiterten Gabenparadigma Der Umweg über die Care-Theorien – ausgehend von Gouldners Artikel über das Wohlwollen – zeigt, dass im einfachen Mauss’schen Ansatz, der auf der dreifachen Verpflichtung zum Geben, Annehmen und Erwidern beruht, das Moment der Bitte fehlt. Ob durch Verwundbarkeit, Bedürfnis oder Wunsch motiviert, es ist klar, dass die Gabe bedeutungslos wäre, wenn sie nicht auf eine Bitte reagiert. Eine explizit gestellte oder einfach nur vorweggenommene oder vermutete Bitte. Darüber hinaus ist, wie die gesamte ethnologische Literatur belegt, in archaischen Gabebeziehungen die Bitte allgegenwärtig, und es ist unerlässlich, ohne den geringsten Vorbehalt darauf zu reagieren, alles zu geben – »von gelegentlicher Gastfreundschaft bis zu Töchtern und Gütern«, bemerkt Mauss8 –, um keinen Rückfall in Feindseligkeit und Krieg zu riskieren. Wir müssen also die Mauss’sche Formel vervollständigen. Der vollständige Gabezyklus, von seiner positiven Seite her betrachtet, ist der des Bittens, Gebens, Annehmens und Erwiderns, der nur dann seine volle Bedeutung erlangt, wenn er sich vom Hintergrund seines Gegenteils, dem Zyklus des Ignorierens, Nehmens, Verweigerns, Behaltens abhebt. Ausgehend von dieser Neuformulierung müssen die Care-Theorien systematischer fortgeführt werden. Es ist zum Beispiel klar, dass das caring about, die Sorge um den anderen und die Aufmerksamkeit, die man ihm schenkt, das Ergebnis einer Entscheidung ist, die Bitte der anderen nicht zu ignorieren. Diese Entscheidung selbst kann durch unterschiedliche Kombinationen aus Interesse an anderen, Pflichtbewusstsein oder Geschmack an der zu leistenden Arbeit
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Ich habe mir vorgenommen, hier die bereits zu diesem Thema vorgelegten Analysen von Ph. Chanial in »Don et care. Une famille à recomposer?«, Revue du MAUSS semestrielle, Nr. 39, a.a.O, fortzuführen. M. Mauss, Die Gabe, a.a.O., S. 140.
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Das Paradigma der Gabe
motiviert sein. Aber hier ist nicht der Ort, um diese Hypothesen auszuführen. Beschränken wir uns darauf, drei Punkte zu benennen, bei denen das erweiterte Gabenparadigma unserer Meinung nach ein starkes Licht auf das Care-Denken wirft. 1. Zunächst ist zu beachten, dass die ständige strukturelle Überlappung der Momente des Gabenzyklus dazu führt, dass man nie wirklich weiß, wer am Ende Geber oder Empfänger ist, derjenige, der gibt, derjenige, der empfängt, derjenige, der bittet, oder derjenige, der durch eine Gegengabe den ganzen Zyklus wieder in Gang setzt. Denn wenn der primäre menschliche Wunsch darin besteht, als Geber anerkannt zu werden, dann stellt der Ausdruck einer Bitte oder die Anerkennung, dass eine Gabe tatsächlich als solche anerkannt und nicht ignoriert oder abgelehnt wurde, an sich schon eine besonders kostbare Gabe dar: die Bestätigung dessen, der gegeben hat oder geben könnte, in seiner Großzügigkeit und Generativität. Dass er würdig und fähig ist, den Platz des Gabensubjekts einzunehmen. Und daher des Subjekts schlechthin. 2. Die relative Unbestimmtheit der Gabe hängt eng mit ihrer intrinsischen Ambivalenz zusammen. Eine außergewöhnliche Ambivalenz, die sich am besten anhand eines kurzen Textes von Mauss veranschaulichen lässt, der zeigt, dass in den altgermanischen Sprachen dasselbe Wort, gift, verwendet wird, um sowohl die Gabe im eigentlichen Sinne, in seiner wohltätigen Dimension, als auch das Gift zu bezeichnen.9 Was Leben erhält und was tötet. Genauso übrigens im Griechischen mit dosis10 oder pharmakon, aus dem unser gesamtes medizinisches Vokabular stammt: die Medikamentendosis, die Pharmazie. In der Medizin wie bei der Gabe (und umgekehrt) ist alles eine Frage der Dosierung, der Vermittlung und des Mittelwerts (daher das Wort Medizin). Die richtige Dosis heilt und bringt Leben. Zu viel oder zu wenig – Gaben, Medikamente, Pflege – tötet.11 Und zwar, weil die Gabe ein Anerkennungsoperator ist. Sie erkennt den anderen als Subjekt an. Aber als ein Subjekt, das
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M. Mauss, »Gift-Gift« (1924), in St. Moebius/Chr. Papilloud (Hg.), Gift – Marcel Maussʼ Kulturtheorie der Gabe, Wiesbaden 2006, S. 9-12. Vgl. Émile Benveniste, Indoeuropäische Institutionen. Wortschatz, Geschichte, Funktionen, Frankfurt a.M./New York 1993, S. 55. Vgl. Dominique Bourgeon und A. Caillé, »Du don comme médicament et symbole«, in Pratiques. Les Cahiers de la médecine utopique, April 2003. Nachgedruckt in Ph. Chanial (Hg.), La Société vue du don, a.a.O.
6. Gabe und Care
fähig ist, seinerseits zu geben. Derjenige, der sich als unfähig erweist, etwas zurückzugeben, annulliert sich selbst als Subjekt und fällt unter die Macht des Gebers. Daraus ergibt sich die zentrale Frage, die in der Debatte über care, Gabe und Wohlwollen aufgeworfen wird: Wie lässt sich vermeiden, dass dem Menschen, den seine Verletzlichkeit dazu verurteilt, nicht erwidern zu können, seine Dimension als Subjekt abgesprochen wird? 3. Wie lässt sich dann die Asymmetrie, die der Care-Situation innewohnt, mit der Symmetrie oder Parität in Einklang bringen, die die Mauss’sche Gabe impliziert? Wie können wir demjenigen, der nichts anderes tun kann, als Fürsorge zu erhalten, seinen Anteil an Menschlichkeit zuerkennen, d.h. seine Fähigkeit, ein Geber zu sein, und so einer Beziehung des bloßen Mitleids oder der Barmherzigkeit zu entkommen, die, indem sie den Empfänger der Fürsorge allein seiner Passivität zuordnet, große Gefahr läuft, ihn zu zerstören? Ein Teil der Antwort liegt in der relativen Unbestimmtheit der Gabe, die wir gerade erwähnt haben. Denn sie impliziert in der Tat, dass die Tatsache des Bittens und Empfangenkönnens an sich schon eine Gabe ist. Aber diese Beobachtung muss durch eine allgemeinere Rekontextualisierung der Gabeund Care-Situationen vervollständigt werden. Bei der Untersuchung der Eheund Verwandtschaftsformen in »wilden« Gesellschaften unterschied Claude Lévi-Strauss zwischen dem, was er den einfachen und den verallgemeinerten Frauentausch nannte. Beim einfachen Tausch gibt Clan A eine Frau, Schwester oder Tochter, an Clan B, der im Gegenzug eine seiner eigenen Frauen abgibt. Im verallgemeinerten Tausch dagegen gibt ein Clan A an einen Clan B, der an einen Clan C, dieser wiederum an einen Clan D, der schließlich an Clan A gibt. Gabe und Empfang sind getrennt. Die gleiche Analyse sollte in Begriffen des erweiterten Gabenparadigmas und der allgemeinen Reziprozität auf die Care-Beziehung angewendet werden. Sie zeigt, dass es möglich ist, eine Dimension der Reziprozität von Gaben und Anerkennungen auch im Falle einer radikalen Asymmetrie zwischen Pflegern und Gepflegten aufrechtzuerhalten. Denn selbst wenn es für den Pfleger unmöglich wäre, auch nur das Geringste von einer Pflegeperson zu erhalten, der es an allem, z.B. Sprache und Mobilität, gebricht, so bleibt doch die Tatsache bestehen, dass der Pfleger sich selbst in seiner eigenen zukünftigen Verletzlichkeit wahrnehmen und die Pflege antizipieren kann, die er in Anspruch nehmen muss und von anderen erhalten möchte, unter Wahrung seiner eigenen Subjektivität. Unter dieser Perspektive lassen sich die entgegengesetzten Klippen von Gleichgültigkeit oder Mitleid umschiffen.
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Das Paradigma der Gabe
Schlussfolgerung Ausgehend von der skizzierten Verbindung zwischen Gaben- und CareParadigma ist es möglich, in mehrere Richtungen weiterzugehen. Ich werde hier nur zwei davon erwähnen. Wie wir gesehen haben, hat sich die gesamte Care-Theorie aus C. Gilligans Überlegungen über die besondere Beziehung entwickelt, die Frauen aufgrund der von ihnen mobilisierten Affekte zu den Care-Tätigkeiten haben. Wir haben auch festgestellt, dass sich diese Reflexionen zugleich als wertvoll und hinderlich für die nachfolgenden feministischen Überlegungen erwiesen haben. Einer der wesentlichen Beiträge von J. Tronto verdient es, im Rahmen des Gabenparadigmas, das er eigentlich in Frage stellt, neu interpretiert zu werden. Denn innerhalb des einfachen und klassischen Gabenparadigmas bringt die Gabe dem Geber Anerkennung, Ansehen und Ehre. Das Gegenteil geschieht jedoch im Rahmen der Care-Tätigkeiten, die stattdessen missachtet und abgewertet werden. Der Grund dafür ist, erklärt Tronto, dass sie uns an unsere fundamentale Verwundbarkeit erinnern und da wir diese nicht sehen wollen, wollen wir auch all die Handlungen nicht sehen, die uns helfen, sie zu überwinden. Wir wollen care also nicht als Gabe, sondern als Arbeit wahrnehmen. Eine Arbeit, die umso weniger Anerkennung verdient, als sie gesellschaftlich abgewertet wird. Diese sehr tiefgründige Analyse muss in einen allgemeineren Rahmen gestellt werden, damit sie sowohl nuanciert als auch erweitert werden kann. Die anthropologische Beobachtung zeigt in der Tat, dass nicht nur die von den Frauen ausgeübten Care-Tätigkeiten nicht oder nur unzureichend anerkannt werden, sondern schon zuvor und grundsätzlicher die wesentliche Gabe, die sie erbringen: die Gabe der Kinder, die Gabe des Lebens, die fast nirgendwo offiziell als Gabe, sondern als eine einfache Naturtatsache wahrgenommen wird, während sich die Männer hingegen, insbesondere durch Initiationsrituale, den aktiven Teil der Zeugung und Empfängnis aneignen.12 Warum diese Verleugnung der Gabe der Frauen? Der Grund dafür ist wahrscheinlich, dass die Gabe des Lebens unermesslich ist und daher keine gleichwertige Gegengabe erhalten kann. Besser also, man verleugnet sie als Gabe. Auf jeden Fall, und das ist eine sehr schwerwiegende Änderung des einfachen Mauss’schen Gabenparadigmas, müssen wir anerkennen, dass nicht alle Gaben Ehre und Ansehen bringen, sondern nur männliche Gaben, 12
Vgl. A. Caillé, »Le triple don et la triple aliénation des femmes«, Revue du MAUSS semestrielle, Nr. 39, a.a.O. Und L. Scubla, Donner la vie, donner la mort, a.a.O.
6. Gabe und Care
die sowohl eine kriegerische und agonistische als auch eine friedensstiftende Dimension haben. Diejenigen, ganz allgemein, die beanspruchen, sich von der Natur, der Nützlichkeit und Notwendigkeit zu befreien. Diejenigen hingegen, die uns auf die Dimension als der Notwendigkeit unterworfene Naturwesen zurückverweisen, werden verleugnet oder herabgesetzt. Nicht als Gaben anerkannt. Auf der Grundlage dieses Dualismus lassen sich Hierarchien im Krankenhaus leicht organisieren. Die Chirurgen und die großen Ärzte, zumeist Männer, verfügen über das Ansehen, das den Meistern der Wissenschaft und Technik gebührt, denjenigen, die es ermöglichen, die Natur zu überwinden. Für Krankenschwestern und Pflegerinnen in der täglichen Betreuung bleiben dagegen nur untergeordnete Positionen. Die zweite Richtung, in die diese Analysen besonders vorangetrieben werden sollten, betrifft die Frage des Managements von Organisationen, die für die Gesundheitsversorgung zuständig sind. Allgemeine Überlegungen und Regeln, die für alle Organisationen gelten, lassen sich aus dem Gabenparadigma ableiten. In jeder Organisation ist es offensichtlich notwendig, eine effiziente Arbeitsteilung zu schaffen, die es jedem ermöglicht, zu wissen, was er zu tun hat, ohne jeden in ein zu starres Ablaufschema zu pressen, das es verbietet, die für das reibungslose Funktionieren des Ganzen notwendigen Initiativen zu ergreifen. Aber in jeder Organisation zeigt sich auch, dass die Gesamteffizienz von der Fähigkeit der Organisationsmitglieder zur Gabe und »Hingabe« abhängt. Nichts kann funktionieren, wenn sich die Mitglieder nicht ständig gegenseitig Hilfe, technischen Rat, emotionale Unterstützung, Beistand und Informationen aller Art geben.13 Aber ebenso wenig kann funktionieren, wenn sie nicht an ihre Arbeit, ihren ethischen und menschlichen Wert und ihre intrinsische Bedeutung glauben. Wenn sie, mit anderen Worten, nicht bereit sind, sich ihrer Arbeit hinzugeben, sich ihr voll und ganz zu widmen. Und doch sind, wie alle Studien zeigen, die medizinischen Care-Berufe diejenigen, in denen die Beschäftigten potenziell am glücklichsten sind, weil dort das, was Ökonomen als intrinsische Motivationen bezeichnen – was man aus Freude an der Ausübung dieser Arbeit und keiner anderen tut – die extrinsischen Motivationen, die Lohn- und Karriereinteressen, am weitesten überwiegen. Bei den intrinsischen Motivationen finden wir drei der vier Handlungsmotive wieder, die das Gabenparadigma identifiziert: das, was man aus Verpflichtung (d.h. Pflichtbewusstsein) tut, aus Interesse an anderen
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Vgl. Norbert Alter, Donner et prendre. La coopération en entreprise, Paris 2009.
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Das Paradigma der Gabe
und aus der Freude an der Freiheit-Kreativität. Die Leitung von Pflegeorganisationen muss daher besonderen Wert auf die Bedeutung dieser intrinsischen Motivationen legen, wobei zu berücksichtigen ist, dass sie nicht nur in den Beziehungen zwischen den Pflegenden, sondern auch und unmittelbar in den Beziehungen zwischen Pflegenden und Pflegepersonen zum Tragen kommen, da auch diese Beziehungen, wie die Verbindung von Gabenund Care-Paradigma zeigt, in höchstem Maße Gabe/Gegengabebeziehungen sind.14
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All diese Implikationen des Gabenparadigmas für das Management werden in A. Caillé und J.-É. Grésy, La Révolution du don, a.a.O. benannt und detailliert beschrieben.
7. Der Geist des Spiels
Warum ein Kapitel über das Spiel in einem Buch, das dem Spiel gewidmet ist? Ich hoffe, die Leser davon überzeugen zu können, dass dies absolut notwendig ist. Was macht man, wenn man spielt? Wenn die spielerische Tätigkeit so schlecht verstanden wird und so schwer zu erfassen ist, dann deshalb, weil es nicht ausreicht zu sagen, spielen sei das, was diejenigen tun, die dieses oder jenes bestimmte Spiel (Tennis, Schach, Lotterie, Kasino, ein Theaterstück usw.) spielen. Denn man kann diese Spiele sehr wohl ohne jeden spielerischen Geist praktizieren. Und umgekehrt ist es durchaus möglich und oft sogar sehr empfehlenswert, eine spielerische Beziehung zu vermeintlich ernsthaften Tätigkeiten zu unterhalten. Bleibt also, den Geist des Spielens, den Geist des Spiels, in seiner ganzen Allgemeinheit zu charakterisieren. Ich möchte hier die zunächst zweifellos überraschende Hypothese vertreten, dass der Geist des Spiels nichts anderes ist als der Geist der Gabe, der sich im spielerischen Register entfaltet, und dass umgekehrt der Geist der Gabe natürlich nichts anderes ist als der Geist des Spiels, der sich im Register des Uneigennützigen entfaltet. Wir haben das Register des Uneigennützigen, das Register der Gabe, ausreichend charakterisiert, so dass es nicht notwendig ist, darauf zurückzukommen. Aber wenn wir nicht in einer Tautologie verbleiben wollen, müssen wir immer noch klären, was mit dem spielerischen Register gemeint ist. Spielen und Geben wären also nahe Verwandte? Diese Formulierung mag schockierend sein. Wenn wir uns an die gebräuchlichste und unmittelbar gegebene Bedeutung dieser beiden Begriffe halten, könnte es in der Tat keinen stärkeren Gegensatz geben als den zwischen Spiel und Gabe. Auf der einen Seite hätten wir Leichtsinn, ja Belanglosigkeit, das Überflüssige, den sinnlosen und unproduktiven Spaß, den Mangel an Ernsthaftigkeit. Beziehungsweise den Wunsch, den anderen zu besiegen und folglich zu vernichten, die Apotheose des Narzissmus. Auf der anderen Seite: die Nächstenliebe, den Al-
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Das Paradigma der Gabe
truismus, die Offenheit für Andersartiges, das Ernste und Tiefe der Gabe. Spielen oder geben, man müsse sich entscheiden. Und entscheiden zwischen dem am wenigsten empfehlenswerten, dem Spiel, und dem im höchsten Maße empfehlenswerten, der Gabe. So denken zumindest die meisten Religionen, die das Spiel anprangern oder verbieten, um die Gabe umso mehr zu preisen und vorzuschreiben. Aber das Gabenparadigma veranlasst uns dazu, die Dinge ganz anders zu betrachten. Insbesondere indem wir zeigen, dass die primären Bedeutungen, die wir spontan mit Spiel und Gabe assoziieren (Belanglosigkeit einerseits und Nächstenliebe andererseits), nur dann in ihrer Gegensätzlichkeit ihren vollen Sinn ergeben, wenn man sie in den besonderen Rahmen der von den großen Religionen vorgenommenen Aufteilung innerhalb der viel breiteren Register dessen, was man als »Spielen« und »Geben« bezeichnen kann, stellt. So wichtig er ansonsten auch sein mag, darf nicht vergessen werden, dass der Appell zu Barmherzigkeit und Nächstenliebe, der in den verschiedenen Weltreligionen übrigens höchst ungleich ausgeprägt ist, nur eine Interpretation und eine besondere historische Ausformung der von Marcel Mauss entdeckten dreifachen Verpflichtung zum Geben, Annehmen und Erwidern ist. Eine historisch verankerte Form des »Gebens«. Und die Spiele selbst bilden nur Fragmente des ursprünglicheren und umfassenderen Ganzen des »Spielens«.1 Wenn man sie nun in diesen allgemeineren historischen und anthropologischen Kontext stellt, fällt uns entgegen dem ersten Eindruck die erstaunliche Nähe zwischen Spiel und Gabe auf. Spiel und Gabe, die beide zweifellos in ihrem gemeinsamen Bezug zur Hingabe gedacht werden müssen, in ihrer Fähigkeit, die sie Praktizierenden dazu zu veranlassen, sich ihnen zu widmen. Was das Nachdenken über dieses doch so wichtige Thema erschwert, ist die Seltenheit großer Texte, die sich dem Spiel widmen, und die Verstreutheit der Diskurse über das Thema, die sich wechselseitig ignorieren. Was hat beispielsweise das Spiel in der Anthropologie von Gregory Bateson oder der Psychoanalyse von Donald Winnicott, bei Philosophen wie Eugen Fink, Kostas Axelos oder Hans-Georg Gadamer mit der Analyse der vielfältigen Formen des gesellschaftlichen Rollenspiels zu tun, das die goldenen Zeiten der amerikanischen Soziologie und Psychosoziologie von George Herbert Mead
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Wie Roberte Hamayon eindringlich nahelegt in Jouer. Une étude anthropologique à partir d’exemples sibériens, Paris 2012.
7. Der Geist des Spiels
bis Erving Goffman begründete?2 Ganz zu schweigen von empirisch-soziologischen Studien zu bestimmten Spielen, der Spieltheorie in der Ökonomie oder dem Nachdenken über das Agieren von Schauspielern im Theater oder Film. Wir erkennen die vielfältigen Verwendungen des Wortes. Das macht die Aufgabe nicht leichter. Um sich nicht gleich zu Beginn… eines Spiels zu verlieren, ist es am besten, stets von den beiden großen Texten auszugehen, die auch heute noch für das Thema maßgeblich sind: Homo ludens (1938) des niederländischen Historikers Johan Huizinga und Die Spiele und die Menschen des französischen Schriftstellers und Anthropologen Roger Caillois (1958).3 Es gibt vor allem zwei Punkte, die wir in J. Huizingas schönem Buch besonders beachten sollten. Zum einen erklärt er das Spiel nicht zu einer Dimension unter vielen der sozialen Aktivitäten im Allgemeinen und der Kultur im Besonderen, sondern zur Wiege der Kultur schlechthin. Diese These verdient es umso mehr, hervorgehoben zu werden, als sie, zweifellos zu stark, zu beunruhigend für viele Leser oder Interpreten, systematisch verzerrt oder abgeschwächt, bis zum Widersinn entstellt wurde. Während der Untertitel von Homo ludens »Das spielerische Element der Kultur« lautet, beklagte Huizinga, dass er allzu oft mit »Das spielerische Element in der Kultur« übersetzt wird. Gegen diese Verfälschung schrieb er: »Seit langem hat sich in mir zunehmend die Überzeugung verfestigt, dass die menschliche Zivilisation im Spiel, als Spiel, entsteht und sich entfaltet.« Und er fügte hinzu, dass es ihm nicht darum gegangen wäre, »den Ort des Spiels neben anderen Kulturphänomenen zu studieren, sondern zu untersuchen, inwieweit die Kultur selbst einen spielerischen Charakter aufweist«4 . Der andere wichtige Punkt ist, dass er mit Homo ludens, im Anschluss an Marcel Maussʼ Essay über Die Gabe, in dem es vornehmlich um die agonistische Gabe geht, das Spiel vor allem in seiner Dimension als agonistische Rivalität betrachtete.
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Alles in allem eine Ausführung von Shakespeares genialer Formulierung in As you like it (Akt 2, Szene 7): »All the world’s a stage and all, men and women, merely players. They have their exits and their entrances, their acts being seven ages.« (Die ganze Welt ist Bühne und alle Fraun und Männer bloße Spieler. Sie treten auf und gehen wieder ab, sein Leben lang spielt einer manche Rollen durch sieben Akte hin). Mittlerweile zu ergänzen um das Buch von Roberte Hamayon. Der beste Kommentar zu Huizingas Buch stammt von Jacques Dewitte, in J. Dewitte, La Manifestation de soi. Éléments d’une critique philosophique de l’utilitarisme, Paris 2010, Kapitel 7: »L’élément ludique de la culture. À propros de Homo ludens de Johan Huizinga«. Zitiert von J. Dewitte, a.a.O., S. 191.
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Was ihm Roger Caillois zum Vorwurf machte, der bekanntlich vier Arten von Spielen unterscheidet und postuliert, dass agôn nur eine davon ist: Spiele, die auf Wettkampf (agôn), Schein (Mimikry), Zufall (alea) beruhen sowie jene, die ein Schwindelgefühl vermitteln (ilinx).5 In vielerlei Hinsicht geht es bei allen Diskussionen über das Spiel – explizit oder implizit, bewusst oder unbewusst – darum, ob Huizinga oder Caillois Recht hat. Sagen wir es gleich vorweg: unbestreitbar sind die von Caillois vorgenommenen Unterscheidungen erhellend und erlauben es uns, Huizingas Anliegen in einen größeren Rahmen zu stellen. Dennoch darf man sich fragen, ob Huizinga uns nicht einen privilegierten Zugang zum Verständnis des spielerischen Geistes eröffnet. Dieser Geist des Spiels ist in den verschiedenen Dimensionen des Spielens und über alle Arten von Spielen hinweg präsent. So wie die von Mauss freigelegte agonistische Gabe, wie er selbst betont, bei Weitem nicht das Ganze der Gabe ausschöpft, aber Dimensionen offenbart, die wir sonst nicht sehen würden, so ist das Spiel keineswegs auf den âgon reduziert, wäre ohne ihn aber schwer zu verstehen. Kommen wir nun zum Kern der Sache.
Vor-Spiel Und was wäre dazu besser geeignet, als mit den Bemerkungen des Schriftstellers Denis Grozdanovitch zu beginnen, ehemaliger französischer (Junioren-)Tennis-, Squash- und Jeu de Paume-Meister, großer Schachfan und, in allen Dingen, um seine eigenen Worte zu gebrauchen, eine Art »professioneller Amateur«. Er schreibt folgendes: »Als Meisterschaftssportler mit siebzehn Jahren hatte ich eine ausgezeichnete Möglichkeit gefunden, meinen kindlichen Spieltrieb zu bewahren, nur merkte ich bald, dass gerade das spielerische Element sich aus dem Spitzensport zu verabschieden begann. Schon zu meiner Zeit wurde von einem Profisportler verlangt, eine Art Kampfroboter zu werden, ein Sieger um jeden Preis oder, um ihre übertriebene Terminologie zu verwenden, ein ›Killer‹ mit Siegeswillen um jeden Preis. Kurz gesagt, sich den Werten zu verschließen, die der Geist des Spiels vermittelt: Selbstlosigkeit, Zufälligkeit, Kame5
Für R. Caillois ist das Spiel eine freie (frei gewählte), abgetrennte (in Zeit und Raum begrenzte), unsichere, unproduktive (es produziert weder Güter noch Reichtum), geregelte (kein Spiel ohne Regeln) und fiktive (zu einer zweiten Wirklichkeit gehörige) Betätigung.
7. Der Geist des Spiels
radschaft, Jubel über die schöne Geste und Fair Play, mit anderen Worten: Freude in all ihren Formen.«6 In wenigen Zeilen erahnt man die Affinitäten zwischen dem Geist des Spiels und dem Geist der Gabe. Der Jubel über die schöne Geste, das Fairplay, all das könnte wie eine Erfindung aus jüngster Zeit erscheinen, die dennoch inzwischen ziemlich veraltet ist. Das bleiche Gespenst einer für immer verschwundenen aristokratischen Ethik (insbesondere der englischen Art). Man wird sich zweifellos vom Gegenteil überzeugen, wenn man liest, was der Anthropologe David Graeber uns über das Spiel der Tiere erzählt. Was! Tiere sollen spielen? Woher weiß man das? Wie kann man sich dessen sicher sein? Graeber stellt fest: »Die Existenz des Spiels in der Tierwelt gilt als eine Art intellektueller Skandal. Es ist sehr wenig erforscht, und diejenigen, die sich damit befassen, werden eher als Exzentriker betrachtet. Wie bei vielen spekulativen, vage beunruhigenden Vorstellungen muss man schwer zu erfüllende Kriterien einführen, um zu beweisen, dass das Spiel beim Tier existiert, und selbst wenn seine Existenz anerkannt wird, macht die Forschung meist ihre eigenen Entdeckungen zunichte, indem sie nachzuweisen versucht, dass das Spiel auf lange Sicht einen Überlebens- oder Fortpflanzungszweck haben muss.« Und er fährt fort: »Trotz alledem sind diejenigen, die sich mit diesem Thema beschäftigen, immer wieder gezwungen, zu dem Schluss zu kommen, dass es das Spiel bei den Tieren gibt. Und zwar nicht nur bei notorisch leichtfertigen Kreaturen wie Affen, Delfinen oder Hundewelpen, sondern auch bei unwahrscheinlichen Arten wie Fröschen, Elritzen, Salamandern, Winkerkrabben und sogar, so überraschend es scheinen mag, Ameisen – die nicht nur einzeln frivolen Aktivitäten nachgehen, sondern auch Scheinkriege organisieren, anscheinend zum reinen Vergnügen.«7 Aber im Grunde folgt D. Graeber einfach seinem anarchistischen Meister P. Kropotkin, der bereits in Gegenseitige Hilfe schrieb:
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Denis Grozdanovitch, »Quelques notes terribly ›vieux-jeu‹«, Revue du MAUSS semestrielle, Nr. 45, 1. Halbjahr 2015, S. 25. David Graeber, »À quoi ça sert si on ne peut pas s’amuser?«, Revue du MAUSS, ebd. S. 45.
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»Wir wissen jetzt, dass alle Tiere, zu beginnen mit den Ameisen, über die Vögel weg zu den höchsten Säugetieren, es lieben zu spielen, miteinander zu balgen, hintereinander herzurennen, einander zu haschen, einander zu necken usw. Und während manche Spiele sozusagen für die Jungen eine Vorschule für das richtige Benehmen im reiferen Lebensalter sind, gibt es wieder andere, die, abgesehen von ihren nützlichen Zwecken, zugleich mit Tanzen und Singen bloße Äußerungen überschüssiger Kraft sind – der ›Lebensfreude‹ und ein Wunsch, auf eine oder die andere Weise mit Individuen derselben oder anderer Arten zu verkehren – kurz, recht eigentlich eine Äußerung der Geselligkeit, die ein Charakterzug der gesamten Tierwelt ist.«8 Außerdem, so Graeber weiter, veranlassen uns heute nicht einige Physiker, das Spielprinzip – das Prinzip der spielerischen Freiheit – als »die wahre Grundlage der physikalischen Realität« anzunehmen? Zwar ist die Natur nicht nur ein Spiel oder etwas Gespieltes, aber bezeugt und symbolisiert nicht das »berühmte freie Elektron«, dass nicht jede Handlung oder Bewegung auf ein rationales und utilitaristisches Kalkül reduziert werden kann, dass Freiheit – Freiheit als Selbstzweck – nicht das Privileg des menschlichen Bewusstseins allein ist. Daher erscheint das Spiel nach dieser kühnen Hypothese nicht mehr als eine bizarre Anomalie in einer Welt, die zwangsläufig der Notwendigkeit unterworfen ist, sondern als Ausgangspunkt, »ein Prinzip, das nicht nur in allen Lebewesen bereits vorhanden ist, sondern auf allen Ebenen, wo wir das antreffen, was Physiker, Chemiker und Biologen ›selbstorganisierende Systeme‹ nennen.« Auch Jacques Dewitte erinnert in seiner großartigen Studie über Huizinga an diese Priorität des Spiels, auf die der niederländische Historiker bereits in Bezug auf Spiele in der Tierwelt hingewiesen hat.9 Wenn die Tiere bereits spielen – »die Tiere haben nicht darauf gewartet, dass der Mensch ihnen das Spielen beibringt«, betont Huizinga –, dann deshalb, weil die menschliche Kultur die Existenz eines primären Feldes voraussetzt, das nicht auf einfache Funktionalität und Nützlichkeit reduziert werden kann und an dem sowohl Tiere als auch Menschen teilhaben. Die Hypothese eines »Spielfeldes«, das der Kultur historisch oder phänomenologisch vorausgeht und von dem sie ausgeht, führt dann zur Anerkennung einer transzendenten – oder transzenden-
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Zitiert von D. Graeber, in ebd., S. 48 [hier zitiert nach Peter Kropotkin, Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt, Leipzig 1908, S. 49]. J. Dewitte, a.a.O.
7. Der Geist des Spiels
talen – Dimension des Spiels, die alle menschlichen Aktivitäten umfasst und einschließt und eine Freiheit andeutet, die über den Menschen hinausgeht und an der er teilhat, indem er sie zu einer Vielzahl von Spielen und Arten des »Spielens« ausgestaltet. Wie die Gabe, dieses »totale soziale Phänomen«, nach Mauss, offenbart das Spiel also gerade durch seinen Archaismus die anthropologischen Bedingungen, ohne die ein soziales Leben unmöglich wäre. Doch, so fragt Jacques Dewitte, ist das Spiel nicht dazu bestimmt, in unseren heutigen Gesellschaften zu einem bloßen Relikt zu werden, so sehr wie ihnen diese Allianz von Regel und Freiheit, die den Geist des Spiels (wie auch den Geist der Gabe) ausmacht, fremd geworden zu sein scheint?
Game/play: Ist Spielen gleich Spielen? Laut D. Grozdanovitch »hat sich das Spiel aus dem Spitzensport verabschiedet«. Da darf man sich fragen, ob man immer spielt, wenn man spielt, und was Spielen bedeutet. Ist der Geist des Spiels immer noch vorhanden, auch in den Spielen? Um die Stellung dieser Frage zu verstehen und uns eine Chance zu geben, sie zu beantworten, müssen wir erkennen, woran die Anthropologin Roberte Hamayon uns erinnert, wenn sie sagt, dass »das Französische nur ein Wort hat, wo das Englische zwei hat, play und game«, und diese Dualität ernst nehmen. Verwechseln wir also nicht das Spiel im Allgemeinen, oder besser gesagt das »Spielen«, mit den geregelten rituellen Konfrontationen, die voraussetzen, dass es einen Gewinner und einen Verlierer gibt. R. Hamayon bedauert die Tatsache, dass in Werken über das Spiel die agonistische Perspektive dominiert. Außer bei Roger Caillois, dem sie das große Verdienst zuschreibt, »im Gegensatz zu seinen Vorgängern den Akt des Spielens nicht auf Regeln zu gründen – was das kleine Mädchen, das mit Puppen spielt, aus der Sphäre des Spiels ausschließen würde«. Das andere Verdienst von Caillois besteht ihrer Meinung nach darin, zu zeigen, dass die vier von ihm unterschiedenen Spielprinzipien »Zweierpaare bilden«: einerseits agôn und alea, die auf Regeln basieren, und andererseits mimicry und ilinx, die »freie Improvisation voraussetzen«. Aus dieser Unterscheidung entwickelt Caillois die Idee, dass in der Geschichte das Agôn-alea-Paar das Mimikry-ilinx-Paar in den Hintergrund drängte. Aber warum? Warum dieser allgemeine Triumph des game über das play? Diese allgemeine »Gamifizierung« der heutigen Gesellschaft? Eine mögliche Antwort ergibt sich aus dem Nachdenken über den Aufstieg der virtuellen Spiele. Alle Spiele erzeugen eine virtuelle Realität. Virtuelle Spiele
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erzeugen eine Art doppelter Virtualität, eine Virtualität im Quadrat. Hinter dem Begriff der Virtualität verbirgt sich jedoch als Wurzel das Wort vir, von dem sich sowohl die Begriffe der Virilität als auch der vertue (Tugend) ableiten. Müssen wir im Triumph des game über das play den Triumph des Virilismus über das Weibliche sehen? Sicher ist auf jeden Fall, so R. Hamayon abschließend, dass wir das game vom play (der Darstellung, der Inszenierung), das es umrahmt, nicht loslösen können.10 Obwohl er Caillois viel kritischer beurteilt als Roberte Hamayon, kommt Sébastien Kapp auf der Grundlage einer ethnographischen Studie über Live-Rollenspiele (LR) zu einem ähnlichen Schluss. Abgesehen von dessen Evolutionismus wirft er R. Caillois vor, eine letztlich sehr abschätzige Sichtweise des Spiels zu entwerfen, die auf unhaltbaren Dichotomien beruht. Die beiden Spielarten, die Caillois als paidia (Fantasie- und fiktionale Spiele) bzw. ludus (geregelte Spiele) bezeichnet, sind von Natur aus unvereinbar: Spiele sind nicht geregelt und fiktiv, schreibt Caillois, sie sind vielmehr geregelt oder fiktiv. Damit, so S. Kapp, greift er ein klassisches Oppositionspaar auf: im Englischen game (geregelte Spiele und Sport) und play (theatralische und improvisierte Spiele); oder im Lateinischen bei Benveniste [1947]: ludus (Training) und jocus (Scherz).11 Nun zeigt S. Kapp, dass es bei Live-Rollenspielen »kein game ohne play gibt«; und umgekehrt, wäre man versucht zu sagen. Abschließend stellt das LR »bestimmte theoretische Annahmen über das Spielerische in Frage. Es versöhnt zunächst Regel und Fiktion, game und play, ludus und jocus. Weit davon entfernt, unproduktiv zu sein, erzeugt es Normen (Spielregeln), Elemente der immateriellen (Geschichten, Lebensberichte, imaginäre Beschreibungen), aber auch der materiellen Kultur (Masken, Kostüme, Requisiten). Es neigt nicht dazu, die versammelten Gemeinschaften in Gewinner und Verlierer zu unterteilen. Vor allem steht es in keinerlei Widerspruch zum Ritus. Ganz im Gegenteil, neue Forschungsansätze deuten darauf hin, dass fiktionale Spiele Teil eines Phänomens der Wiederverzauberung der Welt sind, da sie neue Verbindungen mit dem Wunderbaren, ja sogar dem Mystischen herstellen wollen, innerhalb einer Konstellation, in der die Fiktion an die Stelle des religiösen Glaubens tritt.«12 Beschließen wir diese erste Diskussion mit der These, dass das, was Wettkampfspiele (games) attraktiv macht, der Anteil des play ist, den sie enthalten.
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R. Hamayon, a.a.O. Sébastien Kapp, »Un jeu qui réconcilie les règles et la fiction: les jeux de rôle grandeur nature«, Revue du Mauss, a.a.O., S. 93. Ebd., S. 102.
7. Der Geist des Spiels
Was ist ein »legendäres Match« anderes als eines, in dem die Spieler zu Mitwirkenden einer Art Drama geworden sind, des ungewissen Kampfes gegen höhere Mächte, des Sieges der Guten und Schönen über die Bösen, oder umgekehrt, des Eingreifens des Zufalls, der dafür sorgt, dass alles auf Messers Schneide steht, von einem Zentimeter, einer Zehntelsekunde usw. abhängt. Denn es ist nicht nur das play, die mimicry, die wieder ins game eingefügt werden muss, sondern ebenso sehr das Glück, die alea, alles, was die glorreiche Ungewissheit des Sports ausmacht. Auf wessen Seite sind die Götter? fragen wir uns immer bei knappen Spielen oder Matches. Wie kann man Glück haben, wie kann man die Göttin Fortuna verführen, wenn nicht dadurch, dass man mit den unsichtbaren Wesenheiten in eine Beziehung des Bittens, Annehmens und Erwiderns eintritt?13 Wo wir die Nähe von Spiel und Gabe wiederfinden.
Die Schönheiten des Homo ludens Wir glauben, dass das oben Gesagte uns dazu führt, das Spiel mit einem völlig anderen Blick zu betrachten als demjenigen, den man ihm gewöhnlich vorbehält und in ihm nur Leichtfertigkeit, mangelnde Ernsthaftigkeit oder überflüssige Verdoppelung der Realität zu sehen.14 Weil es, wie die Gabe, die utilitaristischen und funktionalen Dimensionen des Daseins überschreitet und sich unterordnet. Weit davon entfernt, als einfacher Zeitvertreib ohne Herausforderung zu erscheinen, kann Spielen im Gegenteil das Beneidenswerteste in einem menschlichen Leben darstellen. Das hat der Philosoph und Dramatiker Friedrich Schiller in seinen Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen treffend formuliert: »Denn, um es endlich auf einmal herauszusa-
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Vgl. unten, Kapitel 13 zur Religion. Diese dem Spiel eigene Frage der Verdoppelung wird von J. Dewitte mit großer Originalität und Treffsicherheit unter dem Begriff der »originären Verdoppelung« neu formuliert. So erinnert er uns daran, dass, wenn wir immer um etwas spielen (Geld verdienen, Tore schießen, eine Meisterschaft gewinnen usw.), oder, im Falle von Zeremonien und Festen, um etwas zu feiern, »die Tatsache bestehen bleibt, dass wir das Spiel um seiner selbst willen suchen, und dass, um das Beispiel des Fußballs zu nehmen, wir das Spiel genauso spielen wie den Ball«. Oder, um das Beispiel der Poesie zu nehmen, diese »feiert nicht nur eine Person oder einen Gegenstand, sie feiert sich selbst als feierliche Tätigkeit«.
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gen, der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.« Aber auch hier muss man sich fragen, über welche Art von Spiel und Geist des Spiels wir sprechen. In mancher Hinsicht scheint keine Kultur so spielerisch zu sein wie unsere. Spiele und Sport sind allgegenwärtig, vor allem in Form eines verschärften agôn, der sich zur vorherrschenden Gesellschaftsund Managementform entwickelt. Es geht darum, wer die schönste Stimme hat, wer der beste Konditor, die beste Köchin, der beste Überlebende in prekären Verhältnissen, die beste Verführerin usw. ist. Oder, mit Hilfe von reporting und benchmarking, der konkurrenzfähigste Mitarbeiter, das effizienteste Team, das exzellenteste Forschungslabor usw. All dies mag spielerisch erscheinen, wenn wir uns nicht in Wirklichkeit am exakten Gegenpol jeder Form von Spiel befänden. Der Geist der Ernsthaftigkeit verdrängt die Ernsthaftigkeit des Spiels, da die permanente Bewertung mit dem Anspruch, die Leistung oder Effizienz jeder unserer Handlungen genau zu messen, keinerlei Spielraum mehr lässt. Beziehungsweise wir können, im Anschluss an Homo ludens, davon ausgehen, dass es sich um eine der aktuell sichtbarsten Äußerungen jenes »Puerilismus« handelt, den Huizinga, nach Dewitte, zum Kennzeichen der zeitgenössischen Kultur erklärte. Ein Puerilismus, der der Rivalität und Konkurrenz den Vorrang einräumt, während im Spiel, wie der Sportsoziologe Pierre Parlebas in seiner schönen Analyse der von Marcel Mauss und Johan Huizinga identifizierten Beziehung zwischen Spiel und Gabe schreibt, »das oberflächlich antagonistische Spiel in der Tiefe auf einem ›Infra-Spiel‹ der Solidarität beruht. Das sportliche Spiel ist ein erbitterter physischer Kampf, aber ein Kampf, der auf einer vertraglichen Vereinbarung, auf einer unterschwelligen Gemeinsamkeit beruht. Wenn Boxer, Rugby- oder Eishockeyspieler heftig aufeinanderprallen, dann geschieht dies im Namen eines Paktes, der eine friedliche Begegnung besiegelt. Der physische Bellizismus entfaltet sich auf einem kooperativen Infra-Spiel! Gabe und Gegengabe vermischen sich. Um die Sprache der Spieltheorie zu verwenden, ist die sportliche Konfrontation ein Nullsummenspiel, das auf einem Nicht-Nullsummenspiel basiert.«15 Und er fügt hinzu: »Von pädagogischen Interventionen erwünscht, ist Solidarität kein leeres Wort in den Praktiken der Rivalität und des Einverständnisses 15
Pierre Parlebas, »Mauss et le prince de Serendip«, Revue du MAUSS, a.a.O., S. 175.
7. Der Geist des Spiels
bei sportlichen Spielen, in diesen kriegerischen und freundlichen Praktiken, in denen Selbstachtung mit der Wertschätzung anderer glücklich verbunden werden kann.«16
Erste kurze Schlussfolgerung Ist es möglich, nach dieser Durchsicht der verschiedenen Typen von Spielen, der verschiedenen Arten des Spielens und der verschiedenen Denkweisen über das Spiel einen Geist des Spiels zu erkennen? Das ist keineswegs offensichtlich, so sehr unterscheiden sich die Register zwischen play und game, agôn und mimicry, illinx und alea usw. Und es ist keineswegs von vornherein ausgemacht, dass alle Mitwirkenden an einem Spiel auch wirklich spielen, d.h. sich im Einklang mit dem Geist des Spiels befinden. Nicht alle Mannschaften sind »spielerisch«, auch wenn es stimmt, dass im Verhältnis des Schwachen zum Starken das Antispiel, der Versuch, das Spiel abzutöten, als eine legitime Spielweise angesehen werden kann. Beziehungsweise, man kann völlig abwesend sein und rein mechanisch würfeln, Figuren bewegen, Karten offen legen, den Ball wegschlagen. Spielen indem man »Holz schiebt«, wie man beim Schach sagt. Oder, im Gegenteil, indem man so sehr gewinnen will, dass jegliche Freude dabei verloren geht. Ist das immer noch ein Spiel? Alles in allem lässt sich der Geist des Spiels zweifellos am besten charakterisieren, indem man seine Nähe zum Geist der Gabe und der Gegebenheit hervorhebt. Wir würden dann sagen, dass nur diejenigen Spielerinnen und Spieler wirklich spielen, die in ihrer Spielweise, d.h. in ihrer Art, »etwas anderes zu tun«17 , ein Ethos der Gabe und der Gegebenheit an den Tag legen. Im Anschluss insbesondere an die Analysen von Roberte Hamayon in Jouer lassen sich in der Tat drei starke Ähnlichkeiten zwischen Spiel und Gabe feststellen. 1. Spiel wie Gabe erhalten erst dann Wert und Bedeutung, wenn sie von der materiellen, utilitaristischen und funktionalen Realität getrennt sind.18 16 17 18
Ebd., S. 187. Was für Gregory Bateson das Wesen des Spiels ist. Um ihre Beziehung richtig zu verstehen, ist es notwendig, Gabe und Spiel zunächst in ein Verhältnis zu setzen zu zwei anderen Arten von Handlungen, denen sie sowohl nahe als auch fern stehen: Tausch und Ritual. So wie der Tausch den utilitaristischen Teil der Gabe darstellt und die Gabe den nicht- oder anti-utilitaristischen Teil des Tauschs,
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Sie entfalten sich in einem symbolischen (oder virtuellen, wenn man so will) Register, in dem die Absicht über dem Nutzen der materiellen Gabe steht (»es ist die Absicht, die zählt«) und das »Als-ob« des Spiels über dem Dargestellten. 2. Spiel wie Gabe stellt mit dem anderen eine Beziehung der Umkehrbarkeit her und schafft ein Bündnis oder eine Gemeinschaft durch den Nachweis eines Andersseins und einer Distanz. Sie erzeugen Freundschaft durch Rivalität. Der Gewinner könnte der Verlierer sein und umgekehrt. Die Empfängerin könnte die Geberin sein und umgekehrt. 3. Schließlich erzeugen Spiel wie Gabe ein Höchstmaß an Freiheitsspielraum (innerhalb der durch die Regeln auferlegten Einschränkungen), da das Ergebnis unbestimmt und unbekannt ist. Beide fallen in den Bereich des Risikos und der Wette. Der gute Geber ist derjenige, der das Risiko einer Gabe, die unerwidert bleibt, einzugehen weiß. Die gute Spielerin ist diejenige, die das Risiko zu verlieren in Kauf nimmt. So wie man bei der Gabe wissen muss, wie man richtig gibt, annimmt und erwidert, so muss man beim Spiel zumindest verstehen, sowohl ein guter Gewinner als auch ein guter Verlierer zu sein. In beiden Fällen geht es darum, großzügig zu sein. Großzügig im Bemühen wie im Geben. Und in beiden Fällen muss man, um die Schlussfolgerung des Essays über Die Gabe zu zitieren, lernen, »aus sich herauszugehen«19 .
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so repräsentiert und inszeniert das Ritual die Dimension der Verpflichtung, die dem Spiel eigen ist, und das Spielen den Anteil an Freiheit und Kreativität des Rituals. Es spielt sowohl mit als auch gegen das Ritual. Es ist dessen komplementäres Gegenteil. Vom Standpunkt der Gabe aus betrachtet, verkörpert das Ritual wiederum seine Dimension der Verpflichtung. Es repräsentiert die instituierte Gabe, den Pflichtteil der Gabe, und das Spiel verkörpert seinen Teil der Freiheit. Aber das Moment des Spiels ist auch das Gegenteil der funktionalen Nützlichkeit des Tausches. Daher seine übliche Charakterisierung als das nicht Ernsthafte, Vergnügliche, Leichtfertige. Aber Gabe und Spiel sind auch durch die Beziehung, die sie zu einer Dimension der Gegebenheit und Hingabe unterhalten, verbunden. Die Beziehung zwischen Gabe und Spiel wird vielleicht deutlicher, wenn wir mit James P. Carse zwischen endlichen und unendlichen Spielen unterscheiden. Er schreibt: »A finite game is played for the purpose of winning, an infinite game for the purpose of continuing the play« (»Ein endliches Spiel spielt man, um zu gewinnen, ein unendliches Spiel, um das Spiel fortzusetzen«, James P. Carse, Finite and infinite games, New York 2012, S. 3). Und er fügt hinzu: »Infinite players cannot say when their game began, nor do they care. They do not care for the reason that their game is not bounded by time. Indeed, the only purpose of the game is to prevent it from coming to an end,
7. Der Geist des Spiels
Es bleibt die Tatsache, dass wir von der Gabe oder dem Spiel nur »mitgenommen« werden, uns ihnen nur bis zum Herausgehen aus uns selbst hingeben, weil es ein Jenseits von Gabe und Spiel gibt, das in den Bereich dessen fällt, was, wie erwähnt, die deutsche phänomenologische Tradition Gegebenheit nennt, die Tatsache, dass eine ganze Reihe von Dingen, die zu den wertvollsten gehören (angefangen beim Leben selbst, bei der Natur, der Luft usw.), uns gleichsam gegeben sind. Sie sind da, aber sie werden von niemandem und an niemandem persönlich gegeben, sie stehen jenseits der Beziehung von Gabe und Spiel, die eine Allianz zwischen Personen herstellt. Dieser Bereich der Gegebenheit ist der der reinen Freiheit, der Gnade, der Anmut, ja des Glücks selbst, dessen, was von allein und ohne Anstrengung geschieht. In dem sich die ganze Kraft des Erfindungsgeistes und der Kreativität am offensichtlichsten und konzentriertesten entfaltet. Spiel und Kunst verschmelzen dann. Jeder Spieler wird auf seine Weise zum Künstler oder hofft, einer zu werden. Auch um an diesem Bereich der Gegebenheit und der Gnade teilzuhaben, und sei es auch nur flüchtig, wahrzunehmen, dass man sich gibt und spielt, dass man sich hingibt. Hingabe an das Spiel und die Gabe, Verlockung der Gabe und des Spiels vereinen sich.20 So sehr, dass man geneigt ist, große Geber wie Abbé Pierre, Joseph Wresinski oder Mutter Teresa als Spieler oder, besser noch, als Spitzensportler zu betrachten. Denn Spielen und Geben sind totale psychische Phänomene, die sowohl Körper als auch Geist mobilisieren (natürlich in unterschiedlichen Proportionen, je nach Spiel) und die stärksten Emotionen auslösen können. Und das reine Vergnügen, proportional zur Kombination aus Komplexität und Freiheit, das die Spielregeln ermöglichen, entsteht aus dieser Synergie und dieser endlich gefundenen Balance, wenn alles selbstverständlich ist. Wie bei jenem Pétanque-Spieler, einem außergewöhnlichen Werfer, der einfach sagt: »Was mein Auge sieht, führt mein Arm aus.«
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to keep everyone in play« (»Unendliche Spieler können nicht sagen, wann ihr Spiel begonnen hat, und es ist ihnen auch egal. Sie interessieren sich nicht dafür, weil ihr Spiel nicht zeitlich gebunden ist. Tatsächlich besteht der einzige Zweck des Spiels darin, zu verhindern, dass es zu Ende geht, dafür zu sorgen, dass alle im Spiel bleiben« (ebd., S. 6). Wie bei den unendlichen Spielen, so gibt man auch bei der Gabe, wie Claude Lefort in seinem schönen Artikel »L’échange et la lutte des hommes« (aufgenommen in Les Formes de l’histoire, a.a.O.) schrieb, nicht, damit der andere erwidert, sondern damit er seinerseits gibt. Bei der Gabe wie bei den unendlichen Spielen darf man keine Rechnung begleichen, die Schuld darf nie verschwinden, sondern nur ihren Platz wechseln. Manchmal bis zum Wahnsinn.
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All dies hilft uns, Schillers Aussage besser zu verstehen, dass der Mensch nur dort ganz Mensch ist, wo er spielt. Was man anders formulieren könnte, indem man sagt: Nur der Spieler genießt.21 Aber unter der Voraussetzung, dass er tatsächlich weiß, wie man spielt, wie man sein Spiel beherrscht, gewinnt und verliert, gewinnt oder verliert, was genauso schwierig ist wie geben, aber auch nehmen und erwidern zu können.22
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Wir kennen Lacans Formel: »Nur der Meister genießt«. Sie ist in mehr als einer Hinsicht fragwürdig. Eine Fortführung dieser Analysen findet sich in A. Caillé, »Jouer/donner/s’adonner«, Revue du MAUSS, Nr. 45, a.a.O.
8. Was gibt die Natur?
Welche Unterschiedlichkeit auch immer zwischen ihnen bestanden haben mag, allen traditionellen Kulturen ist gemeinsam, dass sie die Beziehungen zwischen den Menschen und den Wesen ihrer natürlichen Umwelt, den Tieren, Pflanzen, Bergen, Sternen, Geistern usw., als Gabe-GegengabeBeziehungen betrachtet haben. Es galt der Natur, d.h. allen nichtmenschlichen Wesenheiten, etwas zu geben oder zurückzugeben, damit sie ihrerseits weiterhin geben und sich fruchtbar und großzügig zeigen konnte oder um ihren Zorn zu besänftigen. Der vielleicht größte Einschnitt der modernen Kultur, parallel zum Aufkommen des Kapitalismus, war der radikale Bruch mit dieser Auffassung. Der Anthropologe Philippe Descola zum Beispiel wendet sich in diesem Punkt zu Recht gegen den Wissenschaftssoziologen Bruno Latour, ungeachtet ihrer vielen sonstigen Übereinstimmungen.1 Ja, im Gegensatz zu dem, was B. Latour schrieb, waren und sind wir immer noch modern2 , zumindest in einem gewissen Maße (auf das wir zurückkommen werden), und zwar gerade wegen der Art der Kluft, die die Moderne zwischen Natur und Mensch aufgerissen hat. Eine Kluft, die dazu führt, den Naturwesen jegliche Subjektivität abzusprechen, obwohl wir keine physische Diskontinuität zwischen ihnen und uns erkennen. Die Hypostase der Natur, ihre Verwandlung in Natura, Quelle aller romantischen Verehrungen und aller Legitimationen der etablierten Ordnung, ihre imaginäre Apotheose, ging Hand in Hand mit ihrer Abwertung. Sie wurde nur als eine Reihe träger Realitäten betrachtet, als eine bloße Ansammlung von Materie und Energie, und man hielt sie einerseits für eine »Dirne«, die 1 2
Zum Beispiel in Philippe Descola, Die Ökologie der Anderen. Die Anthropologie und die Frage der Natur, Berlin 2014. Vgl. Bruno Latour, Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Berlin 1995.
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Das Paradigma der Gabe
gerade gut genug war, um gebändigt, bezwungen und gnadenlos ausgebeutet zu werden (Bacon), und zu deren »Herrn und Besitzer« (Descartes) man sich aufschwingen musste. Und auf der anderen Seite, nun jeglicher Subjektivität beraubt, hörte sie auf, als mögliche Partnerin einer Gabebeziehung in Betracht zu kommen. Der nihilistische Dekonstruktivismus, der heute in der Philosophie und Sozialwissenschaft so dominant ist, vollendet dieses Werk der Entzauberung der natürlichen Welt, indem er jede Vorstellung von Natürlichkeit zurückweist. Die Ablehnung des Animismus3 , die mit dem Aufkommen des wissenschaftlichen Geistes einherging, hat dazu geführt, Tiere nur noch als Maschinen zu sehen, als unempfindliche oder zumindest ihres Schmerzes nicht bewusste Maschinen, und das Pflanzenreich ganz aus der lebendigen Welt zu verbannen. Erst recht kann es in dieser Perspektive keinen Geist des Ortes, der Wälder, Seen oder Berge geben. Und der Dekonstruktivismus verabscheut im Übrigen alles, was als »gegeben« erscheint. Heute können wir jedoch die perversen Auswirkungen einer solchen Sichtweise deutlich erkennen. Sie hat zu einem Raubbau an der Natur geführt, der sie ausgeblutet zurücklässt und uns an den Rand einer Energieund Umweltkatastrophe bringt. Und infolge dessen droht sie der menschlichen Existenz jeden Charme zu nehmen, sobald die Menschen keine andere Möglichkeit mehr haben, als in einer völlig künstlichen Welt zu leben.4 Wäre
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Wir unterscheiden hier, anders als Ph. Descola, nicht zwischen Animismus, Totemismus und Analogismus, weil der entscheidende Punkt unserer Meinung nach darin besteht, dass in allen drei Formen von Mensch-Natur-Beziehungen natürliche Wesenheiten als mit Subjektivität und Handlungsfähigkeit ausgestattet wahrgenommen werden. Bereits 1848 schrieb John Stuart Mill in seinen Grundsätzen der politischen Ökonomie: »Es bereitet keine große Freude, sich eine Welt vorzustellen, in der nichts mehr für die spontane Aktivität der Natur übrig bliebe, in der jedes Stück Land, das sich für die Produktion von Nahrungsmitteln für den Menschen eignet, kultiviert würde; in der jede Wüste zum Blühen gebracht, jede natürliche Wiese umgepflügt würde; wo jeder Vierbeiner und jeder Vogel, der nicht für den Gebrauch des Menschen gezähmt wird, als Konkurrent um seine Nahrung ausgerottet würde; wo jede Hecke, jeder nutzlose Baum entwurzelt würde; wo es kaum noch einen Ort gäbe, an dem ein Busch oder eine Wildblume sprießen könnten, ohne sofort im Namen des landwirtschaftlichen Fortschritts ausgerissen zu werden. Sollte das Land viel von dem Vergnügen verlieren, das es Objekten verdankt, die durch die ständige Zunahme von Reichtum und Bevölkerung zerstört würden und nur dazu dienten, eine größere Bevölkerung zu ernähren, die aber weder besser noch glücklicher wäre, so hoffe ich aufrichtig für die Nachwelt, dass sie sich mit dem stationären Zustand zufrieden gibt, lange bevor sie durch die Notwen-
8. Was gibt die Natur?
es dann nicht höchste Zeit, normativ und positiv zu einer donatistischen Konzeption des Verhältnisses zwischen Mensch und Natur zurückzufinden und die Natur als eine Gabenpartnerin zu betrachten, der gegenüber wir uns zur Gegenseitigkeit verpflichtet sehen? Die Gefahr, wird man einwenden, bestünde dann darin, zu einem Animismus zurückzukehren, der mit dem rationalen Verstand und der Wissenschaft kaum vereinbar ist. Und es fällt uns in der Tat schwer, mit der wissenschaftlichen Haltung und mit dem Aufruf zur Vernunft zu brechen. Aber wir dürfen Vernunft nicht mit Rationalismus, Wissenschaft nicht mit Szientismus verwechseln. Rationalismus und Szientismus sind nur die Verfallsform oder Perversion von Vernunft und Wissenschaft. Dies war lange Zeit schwer zu erkennen, da sich Wissenschaft und Vernunft weitgehend in dieser korrumpierten oder verkümmerten Form historisch durchgesetzt haben. Aus dieser im Übrigen immer größer werdenden Kluft zwischen Wissenschaft und Szientismus erwächst eine gewisse Hoffnung, zu einer gesünderen und ausgewogeneren Vorstellung der Beziehung zwischen Mensch und Natur zurückkehren zu können. Eine, wie sie sich beispielsweise in der Ethologie durchzusetzen beginnt, wo zahlreiche Werke, insbesondere die von Frans de Waal, den Beweis für das liefern, was von der »Wissenschaft« über Jahrhunderte hinweg so energisch und radikal bestritten wurde: Ja, Tiere haben nicht nur Empfindungen, sondern auch, zumindest die am weitesten entwickelten, Gefühle. Empathie. Ja, sie leiden nicht nur, sie wissen es auch. Und, abermals ja, sie sind zu Berechnungen und Strategien fähig, sowohl zur Konfrontation als auch zur Kooperation. Ja, sie sind daher, zumindest die am weitesten fortgeschrittenen unter ihnen, mit einer gewissen Form von Subjektivität ausgestattet.5
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digkeit dazu gezwungen wird.« (J.S. Mill, Grundsätze der politischen Ökonomie. Marburg 2016) Was einer Welt droht, die heute radikal entzaubert, ihrer natürlichen Magie beraubt ist, ist ihre Wiederverzauberung durch neue Technologien. Warum nicht, könnte man fragen? Das Problem ist, dass diese Wiederverzauberung untrennbar mit einer Allmachtsillusion verbunden ist. Eine Hybris, die z.B. in posthumanistischen Unsterblichkeitsphantasien gipfelt. Es sind seine Bücher über Empathie und tierische Intelligenz – z.B. Das Prinzip Empathie. Was wir von der Natur für eine bessere Gesellschaft lernen können, München 2011, Are We Smart Enough to Know How Smart Animals Are?, New York 2016; und zuletzt Mamas letzte Umarmung: Die Emotionen der Tiere und was sie über uns aussagen, Stuttgart 2020 – die F. de Waal weltberühmt gemacht haben. Aber gemäß der Perspektive, die wir hier einnehmen, wäre es angebracht, sich besonders für seine beiden ersten Bücher zu inter-
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Das Paradigma der Gabe
Im Sinne dieser Überlegungen scheint es angebracht, das Gabenparadigma zu testen, indem wir uns fragen, ob es möglich ist, es über den Bereich der zwischenmenschlichen Beziehungen hinaus auszudehnen und die Frage zu stellen, was uns die Natur gibt. Eine Frage, deren provokanter Charakter uns bewusst ist. Denn sie führt uns, Schritt für Schritt, logischerweise zu dem, was man einen Naturalismus oder einen methodologischen Animismus nennen könnte. Ist es aber nicht eine solche Perspektive, der wir all das zuordnen sollten, was rund um die politische Ökologie gesucht wird? Wir wollen versuchen, den Status dieser Frage zu klären.
Existiert die Natur? Es gibt viele triftige Gründe, der Frage »Was gibt die Natur?« jegliche Relevanz abzusprechen. Damit sie geben kann, müsste sie erst einmal existieren. Nun ist klar, dass schon das Wort »Natur« in der westlichen Welt eine lange Geschichte hat, dass es hochgradig mehrdeutig ist, dass es ständig seine Bedeutung ändert, dass es keine Entsprechung in anderen Sprachen oder anderen Kulturen hat. Kurzum, das Wort »Natur« selbst ist überhaupt nicht natürlich. Und wenn man es trotz allem verwenden wollte, wäre es dann nicht besser, es zu pluralisieren und viele Naturen oder natürliche Wesenheiten zu unterscheiden, anstatt zu versuchen, sie alle unter dem Begriff einer oder der Natur zu subsumieren? Angenommen, diese erste große Schwierigkeit wäre überwunden, müsste man sich nicht immer noch fragen, wie eine solche Wesenheit, das hypostasierte Ganze aller natürlichen Wesenheiten, überhaupt dazu käme, etwas geben zu wollen. Und uns im Besonderen. Man könnte allenfalls, wie manche einräumen werden, von Gegebenheit im Sinne der deutschen Phänomenologie sprechen, um, wie wir bereits ausgeführt haben, die Tatsache zu bezeichnen, dass es etwas gibt, das uns vorausgeht und uns übersteigt und dessen Urheber wir nicht sind, etwas anstelle von nichts, und gegebenenfalls die Natur an den Anfang dieser Gegebenheit, dieses Esgibt, setzen. Aber diese Gegebenheit ist nach Ansicht vieler ihrer Interpreten6 ,
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essieren, Unsere haarigen Vettern. Neueste Erfahrungen mit Schimpansen, München 1983, und Wilde Diplomaten. Versöhnung und Entspannungspolitik bei Affen und Menschen, München 1991. Zusammen bilden sie einen echten Essay über Die Gabe bei Affen, da diese durch die Gabe der Entlausung ständig von Aggressivität zu Freundschaft wechseln. Wie J. Derrida oder Jean-Luc Marion. Vgl. oben.
8. Was gibt die Natur?
wie wir gesehen haben, nur dann eine solche, wenn es kein gebendes Subjekt gibt, wenn streng genommen von keinem Subjekt etwas gegeben wird und wenn es kein Subjekt gibt, das empfängt. Nun ist diese Figur der reinen Uneigennützigkeit nicht die der Mauss’schen Gabe, auf die wir uns berufen.7 Impliziert diese nicht, wenn wir von einer Gabe der Natur sprechen wollen, dass die Natur, deren Existenz ansonsten ungewiss ist, uns etwas geben will, um mit uns ein Bündnis einzugehen, und dass wir umgekehrt ihre Absicht entschlüsseln und uns in die Lage von Empfängern versetzen können, die imstande sind, zurückzugeben, d.h. eine Gegenleistung zu erbringen? Eine fragwürdige Hypothese, zugegeben, zumindest in ihrem ersten Teil. Wir möchten jedoch vorschlagen, dass wir sie ernst nehmen und so tun, als ob die Natur uns tatsächlich etwas gäbe, damit wir mit ihr in eine Beziehung der Anerkennung und Dankbarkeit treten können. Um den Sinn und die Tragweite der Entscheidung zu verstehen, der Natur eine Fähigkeit zum Geben zuzuschreiben, müssen wir jede idyllische oder irenische Sichtweise von vornherein vermeiden. Die Mauss’sche Gabe, diejenige, die ein politisches Bündnis zwischen den Menschen stiftet, die Feinde oder Rivalen in Freunde oder Verbündete verwandelt, ist von Natur aus ambivalent. Als Stifterin eines möglichen Friedens und einer möglichen Zusammenarbeit ist sie immer imstande, in ihr Gegenteil umzuschlagen. Beziehungsweise, der Zyklus des Gebens-Annehmens-Erwiderns (oder Bittens-GebensAnnehmens-Erwiderns) ergibt nur Sinn vor dem Hintergrund seines Gegenteils, von dem er immer schwer abzulösen ist: dem Zyklus des NehmensVerweigerns-Behaltens (oder Ignorierens-Nehmens-Verweigerns-Behaltens). Was für die Beziehungen zwischen den Menschen gilt, gilt ebenso, wenn nicht noch mehr, für ihre Beziehungen zur Natur, die ihnen gegenüber nicht nur gute Absichten hegt und die sie ebenso gut ignorieren kann – wie zumeist –, ihnen nehmen – beginnend mit dem Leben –, sich ihnen verweigern und unfruchtbar bleiben kann, wie ihnen irgendetwas zu geben. Eher eine Stiefmutter als eine Dirne. In diesem Rahmen müssen wir die Hypothese einer Gabe der Natur ernst nehmen und so tun, als ob die Natur uns tatsächlich etwas gäbe, damit wir mit ihr in eine Beziehung der Anerkennung und Dankbarkeit treten können. Das ist die ganze Bedeutung des Naturalismus oder methodologischen Animismus, der sich hier abzeichnet.
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Die ihren Anteil an der Gegebenheit hat, sich aber keineswegs auf diese beschränkt.
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Das Paradigma der Gabe
Auf dass sie existiere Die Argumente, die wir gerade gegen die Idee einer möglichen Gabe der Natur angeführt haben, sind zwar relevant, aber letztlich nicht ausreichend. Die Tatsache, dass das Wort »Natur« viele Bedeutungen hat und nicht in allen Kulturen existiert, hindert uns nicht daran, »funktionale Äquivalente«8 dafür in allen Sprachen, Kulturen oder Religionen zu finden: »Naarjuk (Grosventre), das Riesenkind, Herr des Kosmos (Sila)«, zum Beispiel bei den Inuit. Der Kosmos, dessen Schöpfung, nach dem Dichter und Philosophen Henri Raynal, die Natur ist. Das Tao, oder, in einer völlig anderen Sprache, Gaïa. All diese Begriffe oder Vorstellungen, die etwas Größeres bezeichnen als die Wohnstätte und Zeitlichkeit der Menschen, das sie nicht geschaffen haben, aus dem sie vielmehr hervorgegangen sind, das sie umfasst und mehr oder weniger ihr Schicksal bestimmt. Und darüber hinaus, in einem eher empirischen Sinne, stellen wir fest, dass Philippe Descola zwar den Gegensatz zwischen Natur und Kultur, der im Zentrum der strukturalen Anthropologie von Levi-Strauss stand, verfeinert und dialektisiert, indem er vier Regime unterscheidet – Animismus, Totemismus, Analogismus und moderner Naturalismus –, ihn aber keineswegs zurückweist, sondern im Gegenteil zeigt, dass alle Kulturen entlang der angenommenen Beziehung zwischen Mensch und Natur strukturiert sind. Es gibt also sehr wohl eine gewisse Universalität, wenn nicht des Wortes, so doch zumindest des Naturbegriffs selbst. Aber ist es eine Natur? Können wir, immer und überall, über die Natur sprechen? Beziehen sich die allgemein gebräuchlichen Begriffe nicht auf eine unbestimmte Vielzahl von Existenzweisen und nicht auf eine einzige, homogene Wesenheit. Die Natur? Zweifellos, wenn wir von einem analytischen Standpunkt aus argumentieren. Aber wir brauchen auch synthetische Begriffe. Wenn Ökologen sich mit dem Erhalt der Natur befassen, dann beziehen sie in diesen Begriff die Vielfalt der Tierarten ebenso ein wie das Klima, die Landschaften oder die Bodenschätze – welche Gewichtung man auch ansonsten zwischen diesen verschiedenen Bestandteilen der Natur vornehmen mag – und jeder weiß, wovon die Rede ist. Die Behauptung, die Natur existiere
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Wie der indo-katalanische Philosoph Raimon Panikkar, der Theoretiker des Pluriversalismus, in Bezug auf die Menschenrechte argumentierte. Eine spezifisch westliche Erfindung, die jedoch in dem Maße universalisierbar (oder vielmehr pluriversalisierbar) ist, wie sie an »funktionale« oder »homomorphe Äquivalente« in anderen Sprachen und Kulturen anknüpft. Siehe Raimon Panikkar, Pour un pluriversalisme, Paris 2005.
8. Was gibt die Natur?
nicht, ist also möglich, aber kaum mehr als ein Hobby dekonstruktivistischer Intellektueller.
Grenzen der Akteur-Netzwerktheorie An dieser Stelle muss ein Wort zur Wissenschaftssoziologie und zur AkteurNetzwerk-Theorie gesagt werden, die von Michel Callon und Bruno Latour entwickelt wurden und weltweit so einflussreich sind, da unser Anliegen hier dem ihren sowohl nah als auch vielleicht fern steht. Fern, weil sie, wie uns scheint, auf halbem Weg stehen bleiben. Man muss ihnen allerdings, was die Nähe angeht, die Tatsache zugutehalten, dass sie auf eine Art und Weise, die paradox und kontraintuitiv erscheinen mag, gezeigt haben, dass bei jedem wissenschaftlichen Experiment und ganz allgemein in jeder sozialen Realität nicht nur Menschen und Instrumente oder leblose Dinge ins Spiel kommen, sondern auch das ganze Spektrum dessen, was sie als Nicht-Menschen, Mikroben, Jakobsmuscheln, Elektronen usw. bezeichnen. Alles Akteure oder Aktanten, jeder auf seine Weise. Dies erinnert stark an den methodologischen Animismus, den wir erwähnt haben. Aber so weit gehen unsere beiden Autoren nicht und würden sich wahrscheinlich aus zwei grundsätzlichen und miteinander verbundenen Gründen unserer Fragestellung, was die Natur gibt, nicht anschließen. Erstens würden sie sich höchstwahrscheinlich wegen ihres radikalen Anti-Holismus weigern, über die Natur zu sprechen. Für sie gibt es nur eine unendliche Anzahl von sich ständig verändernden Netzwerken zwischen Aktanten und keine mögliche und dauerhafte Stabilität der Netzwerke von Netzwerken. Die Natur kann also nicht existieren, ebenso wenig wie die Gesellschaft, die als eine zu bekämpfende und aufzulösende Illusion erscheint.9 Der zweite Grund ist, dass ihre Aktanten in Wirklichkeit 9
Wie B. Latour in Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft, Frankfurt a.M. 2007, argumentiert. Aber in seinem Buch Existenzweisen. Eine Anthropologie der Modernen, Berlin 2014, setzt sich B. Latour jedoch in Beziehung zu einem noch ganzheitlicheren Äquivalent der Natur, Gaïa. »Von nun an sind wird geladen, vor GAIA zu erscheinen«, schreibt er. »Gaia, jene merkwürdige Figur, die doppelt buntscheckig ist, da aus Wissenschaft und Mythologie bestehend, dient manchen Spezialisten dazu, die Erde, die uns umfaßt und die wir umfassen, zu bezeichnen, dieses Möbiusband, dessen Inneres und Äußeres wir gleichzeitig bilden, diesen wahrhaft globalen Globus, der uns bedroht, während wir gleichzeitig ihn bedrohen.« (S. 42) Gaia, die Erde, der Globus, der Kosmos, Sila, die Natur (und viele andere Möglichkeiten) usw. Wir halten es hier und in diesem
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Das Paradigma der Gabe
keine Subjektivität besitzen. Man weiß, dass sie handeln, in dem Sinne, dass sie eine Handlung ausüben, mit einer möglichen Wirksamkeit ausgestattet sind, aber sie sind keine wirklichen Akteure. Es ist die Vagheit in dieser Frage, die ermöglicht, Tiere oder Elektronen in gleicher Weise als »Aktanten« zu betrachten. So wird die Frage nach der Subjektivität umgangen und gleichzeitig die nach der Gabe. Denn es gibt keine Gabe ohne Subjekte, und umgekehrt gibt es kein Subjekt, es sei denn als Geber, d.h. mehr oder weniger bewusst offen für ein gewisses Anderssein und die Notwendigkeit, ihm zu entsprechen. Wir können nicht so tun, als ob Aktanten, die wir nicht voll und ganz als Akteure betrachten wollen, Geber und Geberinnen wären. Oder, wenn wir das tun, müssen wir den ganzen Weg gehen und sie auch als Geber/Nehmer in Betracht ziehen. Das ist die ganze Bedeutung des methodologischen Animismus, der unserer Meinung nach mit der bedingungslosen Anerkennung des Eigenwertes der Natur einhergehen muss. Aber handelt es sich um ein Subjekt der Gabe oder der Gegebenheit? Die Unterscheidung ist offenkundig fundamental. Und nur die Vorstellung, dass bestimmte Bestandteile der Natur, die Natur selbst, Urheber einer Gegebenheit sind, dass sie um ihrer selbst willen existieren, erscheinen, sich kundtun, und nicht für uns, ist a priori plausibel. Mit Ausnahme von Haus- oder Nutztieren, in Bezug auf die Jocelyne Porcher seit Jahren so brillant und eloquent nachweist, wie sie mit den Menschen in einer authentischen GabeGegengabe-Beziehung zusammenarbeiten.10 Es hat jedoch zweifelsohne seinen Grund, dass alle menschlichen Gesellschaften, in unterschiedlichem Maße, ihre Beziehungen zu ihnen als eine Gabe-Gegengabe-Beziehung betrachtet haben. Und es ist sehr wahrscheinlich, wir sagten es, dass auch wir gut beraten wären, dies zu tun. Sie so zu denken, als ob sie tatsächlich GabeGegengabe-Beziehungen wären. Aber damit dies verständlich ist, müssen wir noch die Idee der Gabe verdeutlichen, die wir hier gebrauchen wollen, und den Status des »Interesses« klären, das wir an einem methodologischen Animismus haben könnten.
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Stadium nicht für sinnvoll, explizite und begründete Unterscheidungen zwischen diesen Begriffen zu treffen, denn was uns vorrangig interessiert, ist, die Notwendigkeit zu verdeutlichen, unsere Beziehungen zu dieser Entität, »die uns umfaßt und die wir umfassen«, in Gabe-Gegengabe-Begriffen zu denken, egal welchen Namen wir meinen, ihm am Ende geben zu müssen. Vgl. zum Beispiel Jocelyne Porcher, Vivre avec les animaux. Une utopie pour le XXIe siècle, Paris 2011.
8. Was gibt die Natur?
Gabe und Anerkennung Erläutern wir kurz diesen heiklen Punkt. »Anerkennen« bedeutet, im Rahmen der von Hegel oder Axel Honneth entwickelten Anerkennungstheorien (vgl. oben), Existenzweisen als Subjekte zu identifizieren. Ihnen die Eigenschaft von Subjekten zuzuerkennen. Und ihnen als solchen Wert beizumessen. Sklaven können nur so lange ausgebeutet werden, wie man sie nicht als Subjekte anerkennt. Dasselbe gilt für die Erde und die Natur. Wir können uns nur in die Lage versetzen, sie auszubeuten, uns zu ihren »Herren und Besitzern« aufzuschwingen, solange wir sie als Dinge, als reine Materie wahrnehmen.11 Dies wird unmöglich, wenn wir ihnen Sensibilität und Subjektivität zuschreiben. Wenn wir zu ihnen sprechen, wie wir zu Menschen sprechen. Aber ist es nicht das, was die Menschheit schon immer getan hat und was wir immer noch tun, wie uns der Technikphilosoph Andrew Feenberg in seiner Kritik an Descola zu Recht in Erinnerung ruft?12 Wir sprechen mit unseren Hunden, Goldfischen, mit Moskitos, mit unseren Pflanzen, sogar mit Bergen oder Sternen usw. (auch wenn nicht jeder mit jedem spricht). Die Menschheit ist universell und phänomenologisch animistisch. Sollten wir das weiter bleiben? Aus Sicht der analytischen Wissenschaft sicherlich nicht. Aber aus Sicht einer generalistischen Ökologie wahrscheinlich ja, denn nur dann, wenn wir den Wesen der Natur, den Lebewesen zumindest, eine Quasi-Subjektivität zuschreiben, werden wir sie bedingungslos anerkennen, wertschätzen und bewahren können. Sie »auch als Zweck und nicht nur als Mittel« betrachten, um Kants berühmte Formulierung aufzugreifen. Sie nur innerhalb dieser Grenze ausbeuten und so in ihnen die Bedingungen für unser eigenes Überleben finden. Das ist die
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So schrieb Lefort in einem seiner ersten und sehr wichtigen Artikel, »L’échange et la lutte des hommes«: »Die Menschen, die geben, bestätigen sich wechselseitig, dass sie keine Dinge sind« (nachgedruckt in Les Formes de l’histoire. Essais d’anthropologie politique, Paris 1978). Die gesamte mittlerweile weithin bekannte und anerkannte Arbeit von Jocelyne Porcher besteht darin, den enormen Unterschied aufzuzeigen, der zwischen traditioneller Viehzucht und Massentierhaltung besteht. Im ersten Fall ist die Beziehung zwischen Züchtern und Tieren eine Gabebeziehung: zwar sind letztere zum Tode verurteilt, werden aber von ersteren gepflegt, versorgt, als Individuen wahrgenommen, mit Namen benannt. In der Massentierhaltung hingegen werden Tiere nur noch als Materie angesehen. Vgl. z.B. J. Porcher, Vivre avec les animaux, a.a.O. Andrew Feenberg, »Reflections on ›L’écologie des autres. L’anthropology et la question de la nature‹, de Ph. Descola (Quæ)«, Revue du MAUSS permanente, 16. Mai 2011, www.journaldumauss.net/./?Reflections-on-L-ecologie-des
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Das Paradigma der Gabe
Bedeutung des methodologischen Animismus, der sich aus dem Versuch ergibt, die Natur als Gabepartnerin zu betrachten.13 Er kann nur methodisch sein, denn wir können keine Animisten wie die Bororos, Buschmänner, Astrologen oder Paracelsus werden. Denn die Idee der Subjektivität selbst würde gewaltige Diskussionen erfordern, ebenso wie die Idee, dass sie eng mit der Fähigkeit zum Geben verbunden ist. Aber wir brauchen keine endgültigen Aufschlüsse über diese Fragen, um an den gesunden Menschenverstand der Menschheit anzuknüpfen und daraus Gründe für die Erneuerung des zerbrochenen Bündnisses mit der Natur zu ziehen, indem wir so tun, als ob sie tatsächlich sowohl Geberin als auch Subjekt wäre. Quasi-Geberin und QuasiSubjekt. Ist sie das wirklich? Jeder möge nach seiner eigenen Orientierung entscheiden.14 Dieser Entwurf eines methodologischen Animismus knüpft an die zeitgenössische Landethik an, die von Aldo Leopold15 , Pionier der Land ethic, und seines heutigen Erben, John B. Callicott16 . In einer solchen Perspektive schlägt Philippe Chanial vor, die Mauss’sche Gabenethik17 zu erweitern und neu zu formulieren, um die Frage zu klären, ob die Natur einen intrinsischen oder einen extrinsischen Wert hat. Mit anderen Worten: Sollen wir sie respektieren, weil sie an sich respektabel ist, weil sie um ihrer selbst willen geliebt zu werden verdient, oder wegen der Dienste, die sie uns leistet, wegen ihres Nutzens?18 Jedenfalls ist nicht sicher, dass die Natur wirklich (immer) gibt. Dennoch erlaubt das Gabenparadigma, über den rein instrumentellen und
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Aber vielleicht wäre B. Latour letztlich bereit, uns zu folgen, wenn wir glauben, was der Philosoph Stéphane Haber in seiner Critique de l’anti-naturalisme (Paris 2006) schreibt: »Im Zusammenhang mit dem, was B. Latour in Anlehnung an den Begriff von I. Stengers, Kosmopolitik nennt, erscheint diese Natur dann als ein Emergenzfeld möglicher Quasi-Kosubjekte, von partiellen Andersartigkeiten – also als eine Einladung, unser Konzept der gegenseitigen Intersubjektivität, ebenso wie die Bewegung der Anerkennung des Interaktionspartners, die ihm Leben verleiht, anzuwenden, aber auch flexibel zu erweitern.« Bis dahin, dass man sich zum Beispiel auf einen ontologischen Animismus beruft. A. Leopold, Ein Jahr im Sand County, Berlin 2019. J.B. Callicott, In Defence of the Land Ethic. Essays in Environmental Philosophy, New York 1989. Ph. Chanial, »La nature donne-t-elle pour de bon? L’éthique de la terre vue du don«, Revue du MAUSS semestrielle, Nr. 42, 2. Halbjahr. 2013. Das erinnert an den »Streit um die reine Liebe«, den wir in der Einleitung erwähnt haben.
8. Was gibt die Natur?
utilitaristischen Wert der Natur hinaus ihren intrinsischen Wert zu würdigen. Und selbst wenn wir nur auf metaphorische und auf sehr ambivalente Weise behaupten oder annehmen, dass die Natur (uns) gibt, sollten wir dann nicht heute, angesichts unserer entfesselten Fähigkeit zur Zerstörung und zum Raubbau ein neues Bündnis mit ihr herstellen – oder wiederherstellen? Die Wette auf die Gabe abschließen, diese paradoxe Wette, dass der Mensch seinen Aufenthalt und sein Glück auf Erden nur dann sicherstellen und die Früchte der Natur genießen kann, wenn er sie bedingungslos, aufrichtig und ohne Berechnung respektiert. Im Rahmen der der Maus’schen Gabe eigenen Logik der bedingten Unbedingtheit19 muss die viel diskutierte Frage nach dem Verhältnis zwischen intrinsischem und extrinsisischem Wert der Natur formuliert werden. Wir müssen sie an sich wertschätzen, um nachhaltig von ihren extrinsischen Leistungen profitieren zu können.
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Wie wir gesehen haben, ist eine der zentralen Thesen des Gabenparadigmas, dass wir ein Bündnis nicht auf den Schacher und das Zug-um-Zug gründen können. Dass der Vertrag nur deshalb tragfähig ist, weil »in dem Vertrag etwas mehr steckt als der Vertrag« (Durkheim). Wenn man sich nur nach Maßgabe dessen verpflichtet, was man mit Sicherheit erhält, dann kann jeder jederzeit betrügen, und Vertrag und Vertrauen zerstören sich selbst. Es gibt daher keinen tragfähigen Vertrag und kein tragfähiges Bündnis, es sei denn, es beruht auf einem ursprünglichen Vertrauensverhältnis, das über das Kalkül hinausgeht, ihm vorausgeht und es umrahmt. Auf einen Anteil von Undedingtheit. Aber in diesem von der Unbedingtheit gesetzten Rahmen muss jeder auf seine Rechnung kommen und hier erhält die Berechnung alle ihre Rechte zurück (siehe dazu A. Caillé, Anthropologie der Gabe, a.a.O., S. 108-121). Deshalb ist es angebracht, in Gabebegriffen umzuformulieren, was Michel Serres in Der Naturvertrag, Frankfurt a.M. 1994, in der Sprache des Vertrages darlegt.
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II. Anwendungen des erweiterten Gabenparadigmas
9. Anwendung des Gabenund des Anerkennungsparadigmas auf internationale Konflikte1
Es wäre bedauerlich, wenn der Essentialismus, die Vereinfachungen und das Ungefähre der von Samuel Huntington in seinem berühmten Kampf der Kulturen entwickelten Thesen uns daran hindern würden, uns der Realität zu stellen, aus Angst, es könnte so scheinen, als würden wir ihm auch nur teilweise Recht geben. Sicherlich sind schon Begriffe wie Zivilisation, Kultur, Religion, Ethnie, Nation usw. unscharf. Sie durchdringen, überlappen und verflechten sich je nach Autor oder Denkrichtung auf unendlich viele verschiedene Arten. Die Vorstellung, der einen oder anderen Form von Identität oder kollektiver Entität anzugehören, ist auch im Lichte des demokratischen Menschenrechtsideals problematisch, das sich weigert, die Subjekte in eine aufgezwungene Gesellschaftsordnung einzusperren. Und die Realitäten, die all diese Begriffe erfassen sollen, erweisen sich natürlich als noch weitaus instabiler und unsicherer als diese, historisch und geographisch gesehen, und ihre Grenzen sind weitgehend fragil und unbestimmt. Aber es wäre absurd, aus all diesen Unsicherheiten abzuleiten, dass »there is no such thing as society«, wie Margaret Thatcher sagte oder, wie »konstruktivistische« Soziologen oder Anthropologen, heutzutage politisch und wissenschaftlich korrekt, verbreiten, dass »Kulturen nicht existieren, es gibt nur Individuen«. Wir wollen den Inexistenzialismus nicht bis ins Absurde treiben. Und sei es nur, weil die betreffenden »Individuen« selbst zumeist
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Dieses Kapitel greift zurück auf einige Analysen von A. Caillé und Thomas Lindemann, »La lutte pour la reconnaissance entre acteurs collectifs«, Revue du MAUSS semestrielle, Nr. 47, 1. Halbjahr. 2016. Ich bin Thomas Lindemann zu großem Dank verpflichtet und stehe in seiner Schuld, dass er mir erlaubt hat, sie hier wiederzugeben.
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Das Paradigma der Gabe
laut verkünden, dieser oder jener Kultur, Religion, Region, diesem Land oder jener Nation anzugehören, dessen oder deren Anerkennung sie verlangen. Generell ist schwer zu übersehen, dass Al-Qaida, der IS oder Boko Haram im Namen ihrer Religion und/oder ihrer spezifischen Werte einen Kampf auf Leben und Tod gegen den Westen und die »Kreuzritter« führen, dass Buddhisten gegen die hinduistischen Tamil Tigers in Sri Lanka gekämpft oder die Rohingyas zur Flucht aus Burma gezwungen haben, dass das muslimische Bosnien seine Unabhängigkeit von den orthodoxen Serben gefordert hat, dass Sunniten gegen Schiiten kämpfen, oder dass auf einer anderen Ebene viele Schotten oder Katalanen usw. die Bildung eines unabhängigen Staates anstreben usw. Ein aktualisierter Marxismus würde nicht zögern, hinter all diesen Konflikten handfeste materielle Interessen zu erkennen, und das teilweise zu Recht, aber er läge vollkommen falsch, wenn er nur diese sehen wollte. Was also dann? Was kann die Intensität, die Gewalt, den Hass erklären, die diese Konflikte kennzeichnen? Wenn sie weit über reine Interessenkonflikte hinausgehen, dann deshalb, weil sie sich nicht allein oder in erster Linie aus Fragen des Habens und Besitzens ergeben, sondern weil es um die Identität, das Sein der betroffenen Subjekte selbst geht. Die Identität2 , wenn man so will, der an diesen kollektiven Identitäten beteiligten Individuen und Personen. Wenn zu bestimmten Zeiten und in bestimmten Fällen der Kampf zu einem Kampf auf Leben und Tod wird, dann deshalb, weil aus einem Kampf für Anerkennung ein Kampf um Anerkennung wird. Wir wollen uns hier fragen, unter 2
Über diesem verworrenen Identitätsbegriff lese man mit Gewinn die Klarstellung von Nathalie Heinich, Ce que n’est pas l’identité, Paris 2018, die reale Auswege eröffnet, indem sie vorschlägt, über alle Binarismen hinauszugehen – zum Beispiel die von Ricœur entwickelte Opposition zwischen Ipseität (der singulären, differenzierenden, »numerischen Identität«) und Identität (die assimilierende Identität, durch die man sich den anderen ähnlich fühlt) – und sie durch eine ternäre Konzeption zu ersetzen, die »Bezeichnung (durch andere), Darstellung (für andere), Selbstwahrnehmung (seiner selbst)« unterscheidet (S. 68). Zwischen, wenn man so will, »genannt werden« (z.B. Franzose, Homosexueller, Jude usw.), »sich nennen« oder »sich fühlen«. Identitätskrisen ergeben sich aus den Inkonsistenzen, die zwischen diesen drei Registern entstehen können. Diese Unterscheidungen sind recht aufschlussreich. Vielleicht sollte hinzugefügt werden, dass es jedes Mal um eine Einschätzung des Wertes der Subjekte geht. Und vielleicht wäre es angebracht, innerhalb jeder der drei Identitätsdimensionen zu zeigen, dass sie zwischen einem objektiven Pol (zum Beispiel einen französischen Personalausweis zu besitzen) und einem subjektiven Pol (mehr oder weniger leicht als Franzose bezeichnet zu werden oder sich selbst zu bezeichnen) schwanken.
9. Internationale Konflikte
welchen theoretischen Voraussetzungen es möglich ist, auf die Beziehungen zwischen Völkern, Nationen, Kulturen oder Staaten auszudehnen, was wir im ersten Teil über die Determinanten des Wertes von Einzelpersonen oder Gruppen gesagt haben.
Die Idee des Wertes als solche Erinnern wir uns an die ersten Ergebnisse, zu denen wir gelangt sind. Der primäre Wunsch der sozialen Akteure ist neben der Befriedigung ihrer Interessen, dass ihr Wert anerkannt wird.3 Letzterer ist proportional zum Wert der Gaben, die sie gemacht haben, machen oder machen könnten, nach Einschätzung der Gesellschaft, in der sie handeln, und zu den Gaben – Schönheit, Intelligenz, Beweglichkeit, Energie, Freundlichkeit, Inspiration usw. –, die sie gemeinsam erhalten haben sollen. Der Wert dieser Gaben hängt von den geltenden kulturellen Normen ab. Den herrschenden Werten. Das Wort Wert ist, wie wir wissen, hochgradig mehrdeutig. Was ist die Beziehung zwischen kulturellen Werten, dem Wert, von dem die Saussure’sche Linguistik handelt, und dem Wert im Sinne der Ökonomen?4 Kulturen definieren sich, laut Mauss, durch die Menge willkürlicher Entscheidungen, die sie treffen: die Art und Weise, wie sie Häuser bauen, Kopfbedeckungen und Schmuck tragen, essen, schlafen, ihren Körper bewegen, Werkzeuge benutzen usw. Der Levi-Strauss’sche Strukturalismus zeigte auf exemplarische Weise, wie diese Entscheidungen im differenziellen Gegensatz zu denen der benachbarten Kulturen getroffen werden. Wenn eine von ihnen lieber gebratenes Fleisch isst, dann eine andere rohes Fleisch, eine dritte gut abgehangenes Fleisch, während eine vierte sich entscheidet, es gekocht zu essen. Wenn eine sich als chthonisch versteht, verwurzelt in der Erde, dann eine andere als aquatisch, während eine weitere zum Feuer tendiert und eine 3 4
Und folglich, wenn man will, würdig zu sein, geliebt, respektiert und geachtet zu werden. Es war David Graeber, der zuerst systematisch auf diese konzeptuelle Triplizität hinwies und versuchte, darauf mit einer einheitlichen, marxo-maussschen Theorie zu reagieren, in Die falsche Münze unserer Träume. Wert, Tausch und menschliches Handeln, Zürich 2012. Unter den Wirtschaftswissenschaftlern ist der am weitesten fortgeschrittene Versuch, Wirtschaftstheorie und soziologische Theorie des wirtschaftlichen Wertes zu verbinden, zweifellos der von André Orléan in L’Empire de la valeur. Refonder l’économie, Paris 2011.
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vierte zur Luft usw. Kulturelle Werte zeichnen sich also durch ihren Oppositionswert im linguistischen Sinne des Wortes aus. Aber damit nicht genug. Im Rahmen der symbolischen Entscheidungen, die in Opposition zu denen der Nachbarn getroffen werden, ist es immer noch notwendig, über die Hierarchie der Werte zu entscheiden, die innerhalb einer bestimmten Gesellschaft oder Kultur gültig sind. In diesem zweiten Sinn verstanden, wollen wir annehmen, dass die Werte einer Gesellschaft (die ihre Kultur ausmachen) das Regelwerk sind, das definiert, wer wem was zu geben hat, wer was von wem zu empfangen hat und wie die Wertehierarchie dieser Gaben aussieht. Der Wert von Einzelpersonen oder Gruppen hängt, je nach den geltenden Werten, vom Wert der – als solche anerkannten – Gaben ab, die sie machen können oder müssen. Und umgekehrt.5 In einer traditionellen, vorindustriellen Gesellschaft ist der Wert der Güter, und damit der wirtschaftliche Wert, das Abbild des Wertes der Gruppen, die sie produzieren (oder konsumieren). Wenn also nach Aristoteles ein Architekt gesellschaftlich fünfmal mehr wert ist als z.B. ein Schuster, dann sollte seine Arbeit ihm auch fünfmal mehr einbringen. In einer globalisierten Marktgesellschaft erweisen sich für alltägliche Konsumgüter nur die Entscheidungen von eigenschaftslosen, weltweit austauschbaren Individuen als ausschlaggebend. Aber sobald wir uns vom Massenkonsum entfernen, bleibt die Wirtschaft eine Ökonomie der Singularitäten6 , in der die Hauptkomponente des Wertes der besondere Wert des Produzenten ist, sei es in Form der Marke, unter der er sich präsentiert, oder der Bilder, die mit seiner Nationalität verbunden sind: deutsche Qualität, französischer Chic, italienische oder spanische Sonne usw. Es besteht dann eine Überschneidung zwischen wirtschaftlichem und kulturellem Wert. Gesellschaften und Kulturen konkur-
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Ein sehr anschauliches Beispiel für diese Proportionalität zwischen dem Wert von Gruppen und dem Wert von Gütern liefert Maurice Godelier, der zeigt, dass in Neuguinea die Rindenumhänge, die die Yaoundanis gegen Salzstangen tauschen, fünfmal so viel Arbeit erfordern wie die der Baruyas. Alle wissen das und jeder findet das normal, weil man davon ausgeht, dass die Herstellung von Salzstangen magische Fähigkeiten, die Gabe der Magie, erfordert. Vgl. M. Godelier, »La ›monnaie de sel‹ des Baruya de Nouvelle-Guinée«, L’Homme, 1969, Band 9, Nr. 2, S. 5-37. Vgl. Lucien Karpik, Mehr Wert: Die Ökonomie des Einzigartigen, Frankfurt a.M. 2011. Siehe auch das jüngste Werk von Luc Boltanski und Arnaud Esquerre, Bereicherung: Eine Kritik der Ware, Berlin 2018.
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rieren miteinander, indem sie sich als Geber von etwas Einzigartigem und Unersetzlichem präsentieren. Es ist daher möglich, die These, die für individuelle oder kollektive Akteure innerhalb einer bestimmten Gesellschaft oder Kultur gilt, zu verallgemeinern. Durch die Einzelpersonen oder Gruppen, aus denen sie besteht, versuchen Kulturen, Gesellschaften und Staaten, ihren Wert Anerkennung zu verschaffen, indem sie den Anschein erwecken, etwas Spezifisches zu geben oder sich einer Gnade zu erfreuen, einer ganz besonderen Gabe, die nirgendwo sonst zu finden ist. Folgen wir nun den von Hegel und Mauss in der Frage des Kampfes für Anerkennung vorgezeichneten Wegen und wenden sie auf die internationalen Beziehungen an, wobei wir mit einigen Beispielen beginnen.7
Nicht-Anerkennung in internationalen Beziehungen Gehen wir von einer rein empirischen Fragestellung aus: Wie regeln internationale Akteure Anerkennungsfragen? Wir haben gesehen, dass die Anerkennung im gesellschaftlichen Leben weitgehend davon abhängt, was die Akteure 7
Anknüpfend an die anti-utilitaristische Handlungstheorie, die zwischen Eigeninteresse/Interesse für andere und Verpflichtung/Freiheit unterscheidet, werden wir sagen, dass es möglich ist, im Register des Eigeninteresses für seine wirtschaftliche oder militärische Macht, im Register des Interesses für andere für seine Empathie, seine Freundlichkeit, in dem der Verpflichtung für sein moralisches Gewissen, in dem der Freiheit für seine künstlerische, wissenschaftliche, technische usw. Kreativität anerkannt zu werden. Wir beschränken uns hier im Wesentlichen auf einige wenige Hinweise zu den Bestimmungsfaktoren des Wertes von Staaten. Die Analyse könnte und sollte jedoch auf die Frage nach dem Wert von Kulturen, Religionen, Zivilisationen usw. ausgedehnt werden. Sie alle sind, wie Individuen, im Prinzip in ihrer Würde gleich, aber sie versuchen dennoch, ihre Überlegenheit zur Geltung zu bringen. Axel Honneth hat begonnen, seine Theorie der Anerkennung auf die internationalen Beziehungen auszudehnen (vgl. »Anerkennung zwischen Staaten. Zum moralischen Untergrund zwischenstaatlicher Beziehungen«, in Das Ich im Wir. Studien zur Anerkennungstheorie, Berlin 2010, Kapitel 8; vgl. auch die englische Fassung in Th. Lindemann, Erik Ringmar, The International Politics of Recognition, London 2012), aber auch hier wieder aus einer primär normativistischen Perspektive, die sich mehr die Frage stellt, wie die Forderungen der verschiedenen Staaten nach Anerkennung befriedigt werden können, als dass sie nach den Motiven ihres Kampfes für Anerkennung fragt. Siehe auch Frédéric Ramel, Les Fondateurs oubliés. Durkheim, Simmel, Weber, Mauss et les relations internationales, Paris 2006.
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»geben« oder geben können. Ein Akteur, der mehr gibt als andere (entsprechend den Werten, die innerhalb eines Interaktionskreises geteilt werden), erwartet auch mehr Anerkennung. Im internationalen Leben sind viele der Werte, die festlegen, welche »Gaben« Anerkennung verdienen, Gegenstand von Rivalitäten und nicht teilbar, angefangen bei der militärischen Macht einer politischen Einheit.8 Und die Bestimmung des »Wertes« der anerkannten Akteure ist Gegenstand erbitterter Kämpfe im internationalen Leben. Wie in jedem Interaktionssystem gibt es auch in den internationalen Beziehungen Normen, die bestimmen, wer als relevanter Akteur »anerkannt« wird. Die grundlegendste Norm ist die diplomatische Anerkennung einer politischen Einheit, die ihren Mitgliedern bestimmte Rechte verleiht. Umgekehrt sind der Ausschluss aus dem Völkerrecht und die Missachtung der Souveränität die offensichtlichsten Zeichen der »Nichtanerkennung«.9 Die Anerkennung eines kollektiven Akteurs hängt unter anderem von der Einschätzung seiner Fähigkeit zum »Geben« ab. So wurden die kolonisierten Völker nicht als Akteure anerkannt, weil sie nicht über so beachtliche »Gaben« wie militärische und technische Macht verfügten. Sie galten als »zu Zivilisierende«, d.h. wurden in die Position von vermeintlichen Zivilisationsempfängern versetzt. Der Wert der Großmächte wurde hingegen an der Zahl der »zu Zivilisierenden« unter ihrer Kontrolle gemessen; ihrer Zwangsempfänger.10 Aber der wichtigste Maßstab für den Wert einer politischen Einheit war damals in erster Linie die militärische Macht. An seine Stelle ist mittlerweile das Kriterium der wirtschaftlichen Entwicklung getreten. Folglich wird der einfache »zivilisatorische« Beitrag von Akteuren ohne militärische oder wirtschaftliche Macht oft unterschätzt, wie in der berühmten Rede von Nicolas Sarkozy in Dakar. Die Bewertung des Wertes einer politischen Einheit hängt davon ab, ob sie in der Lage ist, ihre eigene Politik zu bestimmen und entsprechend ihrem 8
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Es sei darauf hingewiesen, dass man tatsächlich Leben geben oder Tod geben kann. Siehe in diesem Zusammenhang: Thomas Lindemann, Erik Ringmar (Hg.), The International Politics of Recognition, Boulder 2014. Und Lucien Scubla, a.a.O. Denken wir hier an die Probleme der Anerkennung der Palästinensischen Autonomiebehörde durch die UNO. Man lese dazu das Buch von Octave Manonni Psychologie de la colonisation und den sehr aufschlussreichen Kommentar dazu von François Vatin »Octave Manonni (1899-1989) et sa Psychologie de la colonisation. Contextualisations et décontextualisation«, Revue du MAUSS semestrielle, Nr. 37, op. cit. Natürlich war es diesen Zwangsempfängern erlaubt, so ziemlich alles zu nehmen…
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Geberpotenzial Einfluss auf andere Akteure auszuüben. Die Autonomie der staatlichen Akteure wird in den internationalen Beziehungen durch das Prinzip der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten bestimmt. Der Einfluss einer politischen Einheit wird durch ihren Status definiert, d.h. durch ihre relative Position in Bezug auf ihr Ansehen im Vergleich zu anderen Mitgliedern ihrer Gruppe. Nur durch ihre Fähigkeit, andere zu beeinflussen, kann eine politische Einheit ihre »Identität« nach außen tragen. Seit dem Wiener Kongress gibt es eine informelle Norm, nach der eine Großmacht Verantwortung übernehmen muss, die in etwa ihrem Machtpotential entspricht, das ihrerseits vor allem an ihrer militärischen, wirtschaftlichen und demographischen Macht (den ihr zur Verfügung stehenden Gaben, ihren Gegebenheiten) gemessen wird. In den zwischenstaatlichen Beziehungen liegt eine Nichtanerkennung des »Geberstatus« vor, wenn das tatsächliche Geberpotential geringer ist als der Grad der einem Staat eingeräumten institutionellen Verantwortung.11 Schließlich genießt eine politische Einheit nur geringe Anerkennung, wenn sie nur wenige Verbündete hat, wenige Besuche anderer Staatsoberhäupter erhält und diplomatische Beziehungen selten sind. Oder wenn sie kaum soft power hat, d.h. die Fähigkeit, ihre kulturellen Produkte und Werte zu verbreiten. Sie erhält nur wenige Sympathien und positive Urteile. Selbst wenn ein Akteur wegen seiner objektiven Handlungsfähigkeit und seiner Autonomie (die ersten beiden Stufen der hegelianischen Anerkennung) »anerkannt« wird, weckt er nicht unbedingt Sympathie, wie das für das heutige China gilt. In jedem Fall sind es die globalen Normen der »internationalen Gesellschaft«, die bestimmen, aufgrund welcher Gaben und welcher Handlungsund Gabemacht den Akteuren die größte Anerkennung zuteil wird.
Soziologie der internationalen Reaktionen auf Anerkennungsverweigerungen Die Anerkennungstheorien haben nicht wirklich analysiert, wie die Akteure konkret auf Anerkennungsverweigerungen reagieren. Ausgehend von der Mauss’schen Soziologie lassen sich drei Reaktionsformen der verkannten Akteure identifizieren. 11
In Ermangelung ausreichender effektiver Macht wird zum Beispiel der Frankreich zugestandene Status eines ständigen Mitglieds des Sicherheitsrats problematisch.
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In einer Mauss’schen Interaktionsperspektive kann die Anerkennung unter dem Gesichtspunkt der Gegenseitigkeit betrachtet werden. Je größer die Verweigerung der erhaltenen Gabe, desto stärker die Gegenreaktion. Nicht anerkannte Akteure können von dem Wunsch motiviert sein, sich zu rächen, andere zu verleugnen oder sogar zu zerstören, um ihre »Subjektivierung« (F. Fanon)12 zu erreichen. Die Reaktion einer politischen Einheit hängt in hohem Maße von der Intensität der erlittenen Nichtanerkennung ab. Politische Einheiten, die unsichtbar sind oder von anderen als Konsum- oder Ausbeutungsobjekte behandelt werden, können versucht sein, ein Narrativ der Selbstanerkennung zu konstruieren. Einige Kriege wie die Dekolonisierungskriege oder die der Hamas-Behörden (2006, 2010) können in diesem Licht interpretiert werden. Doch anstatt Widerstand zu leisten oder sich aufzulehnen, können Akteure, deren Macht zu geben nicht ausreicht, ihre Missachtung akzeptieren und verinnerlichen, ein Phänomen, das Bourdieu unter dem Aspekt der erlittenen »symbolischen Gewalt« analysiert. Geschwächte politische Einheiten werden daher dazu neigen, ihren bisherigen »kulturellen« Beitrag herabzustufen und ihre Forderung nach Anerkennung zu mäßigen. Dies geschieht insbesondere dann, wenn eine andere Macht ihr aufgrund ihrer sicherheitspolitischen »Hilfe« oder früherer Interaktionen eine gewisse Heteronomie auferlegt. Akteure aus einer nicht anerkannten, aber mächtigen Einheit werden leichter Wut empfinden als solche aus subalternen politischen Einheiten. Schließlich reagieren »Emporkömmlinge«, neu konstituierte und »aufstrebende« Akteure oft recht empfindlich für Ehrverweigerungen. Sie haben ihre Fähigkeit zum »Geben« gewissermaßen noch nicht »bewiesen«, und ihr früherer kultureller Beitrag wird oft bagatellisiert. Die Selbstaufwertung angesichts einer herabwürdigenden Haltung bedeutender Anderer kann auf zwei Arten erreicht werden: Einerseits können sich die Akteure auf übermenschliche Quellen der Anerkennung (insbesondere ihre Götter) berufen, andererseits können sie diejenigen, die sie herabsetzen, ihrerseits herabsetzen, indem sie stark abwertende Bilder des Feindes entwickeln. Diese haben auch die versteckte Funktion, Angriffe auf das Selbstwertgefühl zu kompensieren und irgendeine Form von mehr oder weniger herbeiphantasierter Handlungsmacht (wieder) zu finden. Es gibt zwei Varianten des selbstlegitimierenden Narrativs.
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Frantz Fanon, Die Verdammten dieser Erde, Frankfurt a.M. 2015 [1961].
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In der ersten, der des »Herrn«, beziehen sich die Autoritäten einer politischen Einheit auf eine heroische Erzählung: Sie behaupten, dass sie und ihre Bürger hehren Idealen (Gott, Geschichte, Rasse usw.) verpflichtet sind, selbst bei Strafe des Todes (Hegels berühmte Todesverachtung), im Gegensatz zu einem Gegner, der für feige und pervers erklärt wird. Ergänzend dazu beruft sich die »heroische« Version immer auf »Brüder« oder unschuldige Opfer, die geschützt werden müssen. Die zweite Variante ist die des »Sklaven«. Es sind die vergangenen Herrschaften und Knechtschaften, die ausgelöscht werden müssen, indem gezeigt wird, dass die früheren Herren nichts gegeben, sondern im Gegenteil alles genommen haben. Dass es die ehemaligen Sklaven sind, die tatsächlich alles gegeben haben. In einem solchen Narrativ definieren die Entscheidungsträger ihren Wert in Bezug auf ein »Schicksal«, einen besonderen Auftrag zur Rettung, Gerechtigkeit und Erlösung, den sie zu erfüllen hätten. In einer softeren Version können die Entscheidungsträger einer politischen Einheit ihre Legitimität auch ausschließlich aus ihrem wirtschaftlichen Wohlstand ableiten, wie im Falle Westdeutschlands oder Japans nach dem Zweiten Weltkrieg und Chinas heute. In der deterministischen Variante der Selbstanerkennung ist der »Feind« nicht unbedingt derjenige, der Aggressionen begangen hat. Er wird nach relativ abstrakten, religiösen oder pseudowissenschaftlichen Kriterien bezeichnet: der Ungläubige, die aufsteigende Macht usw.
Die Anerkennungsrituale in den internationalen Beziehungen Noch heute ist die vorherrschende Annahme in dem der Erforschung der internationalen Beziehungen gewidmeten disziplinären Bereich, dass diese durch einen Zustand der Anarchie gekennzeichnet seien. Diese Hypothese wird häufig in Anlehnung an Max Weber formuliert: In Ermangelung eines obersten Schiedsrichters und einer Monopolisierung legitimer Macht sind die politischen Einheiten vor allem verpflichtet, für ihre eigene Sicherheit zu sorgen, und zwar im Rahmen eines möglichen Krieges aller gegen alle. Unter bestimmten geographischen und technologischen Umständen begünstigt dieses Streben Nullsummenspiele, bei denen die Sicherheit des einen auf Kosten der Unsicherheit des anderen geht. Solche sicherheitspolitischen Dilemmata sind imstande, sich in Präventivkriege zu verwandeln. Diese »anarchischrealistischen« Hypothesen vernachlässigen einen wesentlichen Parameter der Weber’schen Auffassung politischer Ordnung: die Frage der Legitimation von
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Herrschaft. In vielerlei Hinsicht beruht der Zustand der Anarchie weniger auf der Nichtexistenz einer zentralisierten Macht und eines legitimen Gewaltmonopols als auf dem Fehlen einer gemeinsamen Legitimität. Was die internationale Sphäre gerade kennzeichnet, ist weniger die Vielzahl der Machtzentren (allein die Vereinigten Staaten sind für etwa die Hälfte der weltweiten Verteidigungsausgaben verantwortlich) als vielmehr die Schwierigkeit, sich darauf zu einigen, was in den internationalen Beziehungen als »gerecht« und »wertvoll« angesehen werden sollte, obwohl es eine ganze Reihe von Vermittlungsinstitutionen gibt, die gemeinsame Regeln festlegen: die UNO natürlich, aber auch die NATO, die Arabische Liga, der Internationale Strafgerichtshof, die Europäische Kommission und das Europaparlament usw. Den Anfechtungen dessen, was in den internationalen Beziehungen »legitim« ist, liegt insbesondere die ontologische Unsicherheit zugrunde: Wie werden mich andere in einem Umfeld, in dem es keine klaren Regeln gibt, wahrnehmen und behandeln? Welchen Platz sollte ich auf der internationalen Bühne einnehmen? Die Situation der ursprünglichen Begegnungen, die von Hegel in der Phänomenologie des Geistes und von Mauss im Essay über Die Gabe heraufbeschworen werden und bei denen sich die Akteure ihrer selbst noch nicht sicher sind, lässt vermuten, dass es in einer »anarchischen« Situation nicht nur um ihre physische Sicherheit geht, sondern ebenso sehr oder vor allem um ihr »Gesicht« (ihr symbolisches Überleben). Daher die Kämpfe auf Leben und Tod. Es besteht also nicht nur eine strategische Interdependenz zwischen den Akteuren, sondern auch eine symbolische Interdependenz. Alles, was die Akteure tun, kann dem Gesicht des anderen potentiell Schaden zufügen. In einer Konstellation heterogener Werte – wie sie die internationalen Beziehungen zumeist charakterisiert – sind Statuskonflikte fast unvermeidlich. Während im internen Bereich Sozialisationsinstanzen wie die Schule den Akteuren ihren »Platz« in einer Hierarchie zuweisen und legitimieren, hat ein solcher Sozialisationsmechanismus in den internationalen Beziehungen keine Entsprechung. Die spezifische Respektzuschreibung in den internationalen Beziehungen ist um so komplizierter, als eine Regierung, die die »Überlegenheit« einer anderen politischen Einheit anerkennt, ihre eigene politische Legitimität verlieren würde. Wie in den meisten Systemen sozialer Interaktion haben bestimmte Interaktionsriten die Funktion, das »Gesicht« der Akteure in der internationa-
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len Arena zu wahren.13 So ist die proklamierte Gleichheit der Souveränität zwar eine Fiktion, erlaubt es aber dennoch auch schwachen Akteuren, auf der heimischen Bühne eine gute Figur zu machen. Das diplomatische Protokoll, das sich insbesondere seit dem Wiener Kongress entwickelt hat, regelt minutiös den Vorrang bei diplomatischen Begegnungen und ermöglicht es, Ehrverletzungen zu vermeiden. Die Striktheit des diplomatischen Protokolls, die Reihenfolge der Reden, die Tischordnung, das Zeremoniell rund um den Empfang und die Behandlung des diplomatischen Personals entspringt der sehr realen Angst vor dem diplomatischen Affront, der nichts anderes als ein Angriff auf das Selbstwertgefühl der Akteure ist. Informellere Regeln haben auch die Funktion, symbolische Gewalt zu vermeiden oder soziale Verbindungen zwischen politischen Einheiten herzustellen. Auf internationaler Bühne zum Beispiel signalisieren Glückwünsche an eine gewählte Regierung, Beileidsbekundungen und die Teilnahme an Beerdigungen oder humanitäre Hilfe bei Naturkatastrophen ein Mindestmaß an Verpflichtung gegenüber anderen. Ebenso bilden materielle (»Reparationen«) oder symbolische Zugeständnisse (wie der Kniefall von Bundeskanzler Brandt in Warschau) Akte der Anerkennung, die soziale Bindungen schaffen können. Zu denken wäre auch an Sportveranstaltungen zwischen Nationen, die Rivalitäten auf friedliche Weise kanalisieren, so wie die Kwakiutl »wirkliche Kriege« zu entschärfen wussten, indem sie sich in den »Eigentumskriegen«, den Potlatchs, gegenseitig ihrer Größe versicherten. Der Zustand der Anarchie, der dem Kampf um Anerkennung in den internationalen Beziehungen innewohnt, wird also durch Interaktionsriten abgemildert. Diese Regelung ist jedoch zerbrechlich und kann in drei spezifischen Fällen in Frage gestellt werden. Es ist möglich, dass ein neuer Akteur in die Sphäre der internationalen Interaktion eintritt. Sehr oft fällt es solchen Newcomern schwer, einen »Platz«, eine Stellung zu finden, die ihrem Gabepotential entspricht. Das wilhelminische Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg ist ein typisches Beispiel dafür. Darüber hinaus werden die Interaktionsriten auch geschwächt, wenn die Werte, die die Anerkennung regeln, auf einer konkurrierenden oder sogar
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Erving Goffmans Analysen können und sollten weit über die persönlichen Beziehungen hinaus auf den Bereich der internationalen Beziehungen ausgedehnt werden. Persönliche Beziehungen bestehen nach wie vor, aber die beteiligten Akteure setzen weniger ihr eigenes Gesicht aufs Spiel als das der kollektiven Einheit, die sie repräsentieren.
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antagonistischen Dynamik beruhen. So waren die Führer der Großmächte vor dem Ersten Weltkrieg zunehmend davon überzeugt, dass sie mehr und mehr Kolonien benötigen, um ihren Großmachtstatus zu sichern. Nicht zuletzt wird es für internationale Akteure kompliziert, ihr »Gesicht« zu wahren, wenn neue Akteure mit sehr heterogenen Größenbezügen in das internationale System eintreten. Diese Heterogenität der »Größenordnungen« trifft häufig auf Akteure zu, die das System der »Größenordnungen« gewechselt haben, weil ihnen im Rahmen des vorherigen Wertesystems der Geberstatus verweigert wurde. Die beiden folgenden Beispiele zeigen, wie Akteure, die sich als »mächtig« und »Geber« wahrnehmen, aber nicht anerkannt werden, aus dem instituierten Größensystem ausbrechen, um eine Art Selbstanerkennung zu errichten.
Zwei Beispiele: Der Kampf um Anerkennung im wilhelminischen Deutschland und im heutigen Russland Das Deutschland Wilhelms II. litt wie das heutige Russland unter mangelnder Anerkennung innerhalb des Kreises der Großmächte. Auf der anderen Seite waren oder sind sie außerhalb dieses Kreises selbst voller Verachtung, insbesondere gegenüber kolonisierten oder Satellitenstaaten. Traditionelle Lesarten der Ursachen des Ersten Weltkriegs haben deren systemische und symbolische Aspekte zu oft vernachlässigt. Vor dem Ersten Weltkrieg basierten die Werte, die zur weltweiten Anerkennung führten, auf militärischer Gewalt, Herrschaft und kolonialen Besitztümern. Kurz gesagt, die Anerkennung innerhalb des Kreises der Großmächte war bedingt durch die Verachtung der »subalternen Völker« und die Fähigkeit, sie zu domestizieren.14 In einem solchen geistigen Kontext ist Anerkennung ein Nullsummenspiel. Je mehr einer »nimmt« und »herrscht« und je mehr einer anerkannt wird, desto weniger kann der andere nehmen und anerkannt werden. Innerhalb dieses Kreises der Großmächte wurde das Wilhelminische Deutschland immer weniger anerkannt, zumindest ab 1904. Deutschland war zwar ein sichtbares und anerkanntes Staatsgebilde, aber kaum in der
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Jack Levy, John Vasquez, The Causes of World War I, Cambridge 2014. Siehe auch eine Untersuchung, die wir (T.L.) derzeit mit Florian Grosset durchführen und die demnächst in englischer Sprache veröffentlicht wird. Siehe auch Thomas Lindemann, Darwinian Doctrines and the War of 14, Paris 2014.
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Lage, die Weltpolitik zu gestalten. Während zu Bismarcks Zeiten zwei große Kongresse in Berlin abgehalten worden waren (1877 und 1884), hatte sich der Schwerpunkt der Vermittlung dann allmählich nach Großbritannien (siehe die Londoner Konferenz 1913) und sogar nach Russland verlagert. Der diplomatische Status des Wilhelminischen Reiches stand nicht im Einklang mit seinem Machtpotential. Damals wurde die Größe einer »Großmacht« insbesondere an der Anzahl und Größe ihrer Kolonialbesitztümer gemessen. Deutschland hatte weniger Kolonien als Portugal oder Belgien, während sein Machtpotential 1913 in etwa dem Großbritanniens entsprach, das über ein riesiges Kolonialreich verfügte.15 Was seine »Sozialität« anbelangt, so sah sich Deutschland auf großen internationalen Konferenzen (insbesondere in Algeciras, 1906) zunehmend isoliert. Seit 1904 hatte es nur noch einen starken und legitimen Verbündeten, Österreich-Ungarn. Dieses Sozialitätsdefizit manifestierte sich auch in der Presse neutraler Länder wie der Schweiz oder den Vereinigten Staaten, wo Deutschland zunehmend als militaristisch und unberechenbar dargestellt wurde. Deutsche Kultur und Werte waren in Europa weit weniger verbreitet und populär als die Großbritanniens oder Frankreichs. Innerhalb des Kreises der Großmächte hatte die deutsche Macht weder einen Status noch eine »Sozialität«, einen Sympathiekoeffizienten, der ihrem – militärischen, wirtschaftlichen, technischen, wissenschaftlichen und kulturellen – Geberpotential entsprochen hätte. Was das heutige Russland betrifft, so muss man verstehen, dass die globalen Werte, die definieren, was eine kostbare Gabe ausmacht, heute weniger problematisch und restriktiv sind als vor dem Ersten Weltkrieg. Humanitäres Handeln oder die Einhaltung demokratischer Standards sind heute ein integraler Bestandteil des Wertesystems, das die internationale Anerkennung bestimmt. Allerdings ist das Wertesystem, das die Beziehungen zwischen den Großmächten regelt, heute heterogener als vor 1914, als monarchische Werte dominierten. Heute verläuft die Trennlinie praktisch zwischen autoritären
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Der Besitz von Kolonien war für die europäischen Mächte der klarste Maßstab für ihren Wert. Der französische Delegierte des Kongresses von Berlin (1895), Baron Alphonse de Courcel, schrieb so an seinen Minister: »Ein Akt der Entschlossenheit, des energischen Willens, und wir gewinnen unseren Rang in der Wertschätzung der Nationen zurück, ein neuer Beweis der Schwäche, und wir sehen uns auf den Rang Spaniens zurückversetzt.« Zitiert von Bertrand Badie, in Nous ne sommes plus seuls au monde, Paris 2016. Auszüge in Marianne, 4.-10. März 2016, S. 67.
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Mächten wie China und liberalen Mächten. Das heutige Russland ist zwar »sichtbar«, aber es hat nicht die Verantwortung, die seinem Machtpotenzial entspricht. Im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen ist es selten ausschlaggebend. Die meisten seiner Nachbarn sind der NATO beigetreten. Diese Erweiterung der NATO um die Staaten Osteuropas und die ehemaligen Republiken der Sowjetunion wurde ohne größere Konsultationen mit Russland beschlossen. Sein Machtpotenzial ist weitaus größer als der Grad seiner Beteiligung an der Weltordnungspolitik. Darüber hinaus hat Russland nur wenige Verbündete, und seine kulturellen Produkte sind in den westlichen Ländern immer noch wenig sichtbar. Der Russian way of Life ist nicht sehr attraktiv. Zurück zu Deutschland. Vertrauliche Äußerungen deutscher Beamter zeigen, dass diese mangelnde Anerkennung ihnen ernsthafte Sorgen bereitete. Die starken Reaktionen des Kaisers auf den »eifersüchtigen Hass« des »perfiden Albion« sind gut dokumentiert. In ähnlicher Weise waren führende Politiker wie Reichskanzler Bethmann Hollweg über die schwache politische Legitimität Deutschlands besorgt. Ein Teil der Öffentlichkeit und des Militärs (Moltke) kritisierte den beschämenden Rückzug der Regierung vor den anderen Mächten in den marokkanischen Angelegenheiten (1905 und 1911).16 In deutschen Regierungskreisen und darüber hinaus war es üblich, von Umzingelung, Erstickung oder Herabwürdigung der deutschen Macht zu sprechen. Diese Wahrnehmung einer Einschränkung, einer »lähmenden« Einkreisung schuf ein immenses Gefühl der Erniedrigung. Vor allem der Kaiser und Moltke fühlten sich in ihrer »Männlichkeit« und ihrer »Ehre« angegriffen. So kann man die Bemerkung des Kaisers an Krupp von Bohlen während der Juli-Krise nach dem Attentat von Sarajewo verstehen, dass er dieses Mal nicht nachgeben (oder die Hose herunterlassen) würde. In diesem Kontext der Nicht-Anerkennung der »wilhelminischen Macht« ab 1904 und erst recht nach 1907-1911 fabrizierten sich die deutschen Führer ein regelrechtes Narrativ der Selbstanerkennung. In Bismarcks Reden wurde Deutschland als eine Macht dargestellt, die wie andere entsprechend ihrem nationalen Interesse mit und gegen echte Partner handelt. Im Gegensatz dazu verrieten in der wilhelminischen Zeit die öffentlichen und privaten Reden der deutschen Führer zunehmend ein anderes Bestreben. Politiker wie Moltke und Wilhelm II. beriefen sich nun auf die Überlegenheit Deutschlands, auf das sozialdarwinistische Gesetz der Selektion durch Krieg oder auf die
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Ebd.
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intrinsischen Tugenden der berühmten deutschen Schneidigkeit. Im Zuge dessen, und dementsprechend, wurden die Bilder der anderen Mächte deutlich negativer. Was zu Bismarcks Zeiten als Interessenkonflikt erschien, wurde nun als erblicher Antagonismus inszeniert. Ab 1910 sprachen die deutschen Entscheidungsträger sogar von einem unvermeidlichen Krieg zwischen Deutschen und »Slawen«. Der Krieg selbst wurde nicht mehr als politisches Mittel, sondern als etwas Unvermeidliches oder sogar als »biologische« Notwendigkeit angesehen. Dieser kriegerische Determinismus hing mit der zunehmenden Isolation Deutschlands zusammen. Anerkennung durch Heldentum – die berühmte Todesverachtung – trat an die Stelle wirklicher Anerkennung. So ereiferte sich Kriegsminister Falkenhayn nach dem Ausbruch des Krieges: »Es wird herrlich, auch wenn wir zugrunde gehen.« Die Radikalisierung Russlands unter Putin in der Ukraine-Krise weist einige Parallelen dazu auf. Die Motive der russischen Führung veranschaulichen das Gewicht symbolischer Überlegungen bei der Entscheidung, die Russen in der Ukraine zu unterstützen. Der russische Präsident, Motorradfan und Träger des schwarzen Gürtels im Judo, stellte sich oft in männlicher Pose zur Schau, zeigte sich mit bloßem Oberkörper, ja sogar mit einem Tiger an der Seite, und oft in Uniform. Er wurde nicht müde zu betonen, dass Russland eine Großmacht bleibt und dass sein Land – im Gegensatz zum Westen – Qualitäten der Selbstverleugnung und des Opfergeistes besitze. Dennoch scheint dieser Diskurs in Russland so populär zu sein wie eh und je, und die Zustimmung zum Präsidenten in der öffentlichen Meinung hält sich auf einem sehr hohen Niveau.
Zur Gewalt von Al-Qaida und dem Islamischen Staat. Der Wunsch, als Geber von Leben… oder Tod anerkannt zu werden Ein weiteres dramatisches Beispiel für die Macht des Wunsches nach Anerkennung liefert der zeitgenössische islamistische Terrorismus. Al-Qaida und der Islamische Staat treiben die Umwandlung eines Kampfes für Anerkennung in einen Kampf um Anerkennung auf die Spitze. Es geht ihnen nicht mehr darum, von legitimen Autoritäten anerkannt zu werden, sondern sich selbst als einzige Legitimationsquelle auszugeben. Es ist leicht zu erkennen, dass dieser Kampf um Anerkennung aus einem Gefühl der Erniedrigung entsteht, das sich in sein Gegenteil verkehrt, aus einer Scham und einem Neid, die von Völkern empfunden werden, die lange Zeit kolonisiert und/oder be-
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herrscht wurden – nachdem sie selbst oft und noch länger Kolonisatoren und Herrscher gewesen waren – in Überheblichkeit und Verachtung. In ein Streben nach Allmacht. Was die Analyse jedoch besonders kompliziert macht, ist die Tatsache, dass sich in dem Krieg gegen den Westen, der insbesondere vom islamischen Staat geführt wird, nicht einfach Staaten, Kulturen oder Religionen gegenüberstehen, wie dies in der Vergangenheit der Fall war, sondern dass er Anhänger in westlichen Ländern findet, und zwar nicht nur bei Menschen muslimischer Herkunft, sondern auch bei »eingeborenen« Europäern, die sich seiner Sache anschließen. Wie ist das zu verstehen? Auch hier wieder ausgehend vom Paradigma der Gabe und der Anerkennung. Wie wir gesehen haben17 , ist die von Mauss analysierte Gabe ein politischer Operator. Sie dient dazu, zwischen Feinden und Freunden zu unterscheiden und Feinde zu Verbündeten zu machen. Man kann es aber auch anders sagen: Die Gabe ist ein Operator der Anerkennung. Indem ich gebe, erkenne ich den Wert desjenigen an, dem ich gebe, bestätige aber auch entsprechend meinen eigenen Wert als Geber. Ich bezeuge meine Großzügigkeit, meine Fähigkeit zu erzeugen und zu handeln, meine Generativität. Diese Gabe, als Operator der Anerkennung, ist zutiefst ambivalent. Wenn der Mensch, dem ich gebe, nicht mächtig genug ist, um seinerseits zu geben, dann vernichtet ihn meine Gabe oder unterstellt ihn meiner Macht, versetzt ihn in eine Position der Unterlegenheit. Es gibt also eine kriegerische Dimension der Gabe, eine kriegerische Dimension der Großzügigkeit und der Anerkennung, und dies umso mehr, als klar sein muss, dass damit die friedensstiftende Gabe, die ich mache, einen wirklichen Wert haben soll – eine Gabe, die ein Bündnis- und Friedensangebot ist –, ich sie auch hätte unterlassen können, und dass ich, anstatt Frieden anzubieten, genauso gut Krieg hätte führen können. Die Gabe des Lebens und die Gabe des Todes sind also eng miteinander verflochten, was einen Grad an Unsicherheit und Ambivalenz erzeugt, der so schwer auszuhalten ist, dass traditionelle Gesellschaften immer
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Die bisher beste Analyse des Dschihadismus, neben denen von Olivier Roy oder Gilles Kepel, stammt von Farhad Khosrokhavar in Le Nouveau jihad en Occident, Paris 2018. Seine Analysen, die sehr fein und nuanciert sind, zeigen die Kraft des Wunsches, zu geben, genauer gesagt, sich selbst zu geben. Vgl. zum Thema der Selbsthingabe von Dschihadisten seinen Artikel »La jeunesse féministe djihadiste et le désir du don«, in Revue du MAUSS, Nr. 52, 2. Halbjahr 2018.
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versucht haben, sie zu reduzieren, indem sie Männern vorrangig die Rolle von Todesbringern und Frauen die von Lebensspenderinnen eingeräumt haben.18 Diese wenigen Hinweise reichen meines Erachtens aus, um das Wesen dessen zu erfassen, was für diejenigen auf dem Spiel steht, die sich für den Dschihad entscheiden. Es kann nicht gesagt werden, dass man ihnen nicht genug gegeben hätte, nicht genug wirtschaftliche Ressourcen, nicht genug soziale Hilfe oder nicht genug Schulbildung, auch wenn es natürlich immer möglich ist, Defizite in diesen Bereichen auszumachen. Nein, was ihnen wirklich fehlte, war die Fähigkeit oder die Möglichkeit, als Geber von hinreichend gewürdigten Leistungen anerkannt zu werden. Da sie nicht in der Lage sind, das Gute, das Leben, zu geben, versuchen sie, sich großzügig und verschwenderisch in der Gabe des Bösen und des Todes zu zeigen. Anderen, aber auch sich selbst gegenüber. Deshalb macht es keinen Sinn, sie »Feiglinge« zu nennen, wie es in allen offiziellen Verlautbarungen nach den Anschlägen geschieht. Wenn sie nur Feiglinge wären, dann wäre alles unendlich viel einfacher! Wie können wir diejenigen als Feiglinge bezeichnen, die sich entschieden haben, in den Tod zu gehen? Das könnte man nur mit einem gewissen Anschein von Vernunft behaupten, wenn sie so sicher wären, dass die Anschläge, die sie begehen werden – bei denen sie wissen, dass sie ihr Leben verlieren werden – sie geradewegs in ein ewiges Leben unaufhörlicher Freuden führen werden, so dass sie in gewisser Weise kein Risiko eingehen. Eine bedenkenswerte Hypothese.19 Wenn wir dem Faden dieser Bemerkungen folgen, zeichnen sich die beiden wichtigsten Triebkräfte für die Wahl des Dschihadismus ab. Nämlich die Tatsache, dass es »überflüssige« Männer und Frauen gibt in den vielfältigen Kreisläufen von Gabe und Gegengabe, von Schulden und Forderungen, die eine Gesellschaft zusammenhalten. »Überflüssig« in dem Sinne, dass sie als Menschen angesehen werden, die nicht in der Lage sind, irgendetwas von Wert zu geben und als solche anerkannt zu werden. Es ist die gleiche Logik, die Pate stand bei der Geburt des Kommunismus, Faschismus und Nationalsozialismus, wie Hannah Arendt deutlich gezeigt hat. Nach der gleichen nihilistischen Dynamik, die den Totalitarismen eigen ist, mobilisiert der Dschi-
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Vgl. dazu Lucien Scublas sehr aufschlussreiches Buch, Donner la vie, donner la mort, a.a.O. Zum Beispiel anhand der schönen Bücher von Pierre Conesa, Guide du paradis, La Tourd’Aigues, 2004, oder Guide du petit djihadiste: à l’usage des adolescents, des parents, des enseignants et des gouvernants, Paris 2016.
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hadismus eine bestimmte Anzahl von Subjekten, die im Hinblick auf die in den westlichen Demokratien (oder Post-Demokratien20 ) geltenden Spielregeln »überflüssig« erscheinen. In ihrem Kampf für Anerkennung gescheitert, stürzen sich diese Subjekte in einen Kampf um Anerkennung, indem sie alle etablierten Anerkennungsinstanzen – Schule, öffentliche Dienste, Medien, demokratische Institutionen usw. bis hin zu Feuerwehr und Gesundheitswesen – imaginär ihrer Legitimität entheben, und stattdessen die alleinige Legitimität ihres absoluten Feindes behaupten sowie eines höchsten imaginären »Anerkenners«, der seinerseits seine treuen Diener anzuerkennen weiß – Allah. Der hier die gleiche Rolle spielt wie einst Hitler, Stalin, Mussolini oder Mao. Aber wenn man sich dementsprechend dazu entschließt, den Kampf für Anerkennung aufzugeben, den Wunsch, von den legitimen Autoritäten in seiner Herkunftsgesellschaft anerkannt zu werden, um in einen Kampf um Anerkennung einzutreten, dann auch deshalb, weil die Anerkennung, die man in dieser Gesellschaft erlangen könnte, keinen Sinn macht. Sie ist nicht attraktiv, sie weckt keinerlei Begeisterung. Bleiben wir vorerst im Rahmen Frankreichs. Ist das Land begehrenswert genug? Das springt nicht unbedingt ins Auge. Seit gut zwanzig Jahren haben ihre Eliten begonnen, ein englisches Kauderwelsch zu reden, und ihre Kinder gehen auf amerikanische Universitäten, um für viel Geld ihre Hochschulausbildung zu vervollständigen. Nach den Theorien des »Humankapitals« ist das eine gute Investition, da die auf diese Weise erworbenen Diplome mehr einbringen als sie kosten. Am anderen Ende der sozialen Skala sind die postkolonialen Bevölkerungen mit massivem Bildungs- und
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Sind unsere Demokratien immer noch Demokratien? Eine weitläufige Debatte. Der Begriff »Post-Demokratie« wurde von Colin Crouch, Postdemokratie, Frankfurt a.M. 2008, geprägt. Aber es gibt inzwischen eine sehr umfangreiche Literatur zu diesem Thema. Ich für meinen Teil vertrete die These, dass sie weitgehend in ein Regime umgeschlagen sind, das ich als »umgekehrten Totalitarismus« oder »Parzellitarismus« bezeichnen möchte. Fest steht jedenfalls, dass das Festhalten an den Werten der Demokratie, der Glaube an die Demokratie, überall stetig abnimmt. Eine kürzlich durchgeführte Umfrage zeigt, dass zwar in den USA immer noch 60 Prozent der Amerikaner glauben, dass die Demokratie das beste aller politischen Systeme ist, dass dieser Glaube aber inzwischen nur noch von etwas mehr als einem Drittel der unter 35-Jährigen geteilt wird. Der jüngste Aufstand der Gelbwesten in Frankreich, der zumindest anfänglich von mehr als 70 Prozent der Franzosen unterstützt wurde, ging von der Überzeugung aus, dass unser politisches System nicht oder nicht mehr wirklich demokratisch ist.
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Berufsversagen konfrontiert, hochgradig ghettoisiert und segregiert, diskriminiert, gefürchtet und verachtet von den Postkolonisatoren, den Erben der einstigen Siedler, die viel von ihrer Aura verloren haben, weil sie mittlerweile selbst darum kämpfen müssen, von den angelsächsischen Anerkennungsinstanzen anerkannt zu werden; oder zur Not von den deutschen. Aber die Frage stellt sich nicht nur in Bezug auf das, was ich hier als postkoloniale Bevölkerungen bezeichne. Sie betrifft auch einen nennenswerten Teil der so genannten einheimischen Jugend. Viele junge Hochschulabsolventen haben Mühe, ihren Platz zu finden. Dies gilt umso mehr für die NichtAbsolventen. Und erst recht für diejenigen, die aus den Vorstädten kommen, von denen mehr als 50 Prozent arbeitslos sind und die im Vereinigten Königreich oder in den Vereinigten Staaten oft besser aufgenommen werden als in Frankreich. Selbst die große Mehrheit der Migranten aus dem Nahen Osten weigert sich, nach Frankreich zu gehen, das sie allerdings auch nicht haben will. Natürlich spielt dabei die Arbeitslosigkeit eine wichtige Rolle. Die Tatsache, dass sich Frankreich, Rechte wie Linke zusammengenommen, als völlig unfähig erwiesen hat, hier auch nur die geringste Abhilfe zu schaffen, ist schon immens problematisch. Es scheint so, als würden sich die Insider, die Etablierten, die Eliten an der Macht, aber auch die, die ich die institutionellen Lohnempfänger nenne, sehr gut mit einer Situation arrangieren, die sie kaum bedroht, und bereitwillig akzeptieren, dass sich zwischen einem Drittel und inzwischen der Hälfte der französischen Bevölkerung in einer Situation absoluter Unsicherheit befindet. Aber es geht nicht nur um Arbeitslosigkeit und wirtschaftliche Stagnation. Wichtiger noch ist die wachsende Unfähigkeit Frankreichs, seine Geschichte zu erzählen, sich an seine Vergangenheit zu erinnern, in ihren Licht- und Schattenseiten, um daraus eine gemeinsame und inspirierende Zukunft zu gestalten. In gewisser Weise sagt dies alles über den Wunsch und die Mühe, ein vollwertiger Franzose zu sein. Die Schwierigkeit ergibt sich aus dem Blick, mit dem die beiden Bevölkerungen, die Teil desselben politischen Volkes sind, einander betrachten. Nennen wir sie jeweils das endogene Volk und das allogene Volk, wobei wir gleich klarstellen, dass sich diese Bezeichnungen nur auf Gefühle beziehen. Man kann sich selbst als Teil des einen oder des anderen sehen, während die Mehrheit der Menschen in einer objektiv vergleichbaren Situation glaubt, zum anderen zu gehören. Menschen aus ehemals kolonialisierten Ländern tendieren am ehesten dazu, sich als allogen zu fühlen, obwohl sie seit mehreren Generationen in Frankreich ansässig sind. Denn die Frage, die sich weiterhin stellt, die nicht nur ungelöst bleibt, sondern nicht einmal
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explizit formuliert wurde, lautet in diesem Fall, wer wem was gegeben und umgekehrt, wer wem was genommen hat. Wer ist wem etwas schuldig? Dieses Problem wurde in einer 2010 von Julien Rémy in Nanterre vorgelegten soziologischen Doktorarbeit perfekt erfasst und erläutert.21 Im Anschluss an J. Rémy können wir vier wechselseitige Wahrnehmungen oder Überzeugungen jeder der beiden Populationen in ihrer Beziehung zur anderen unterscheiden: • • • •
»Wir geben ihnen alles« oder »wir haben ihnen alles gegeben«. »Wir geben ihnen« oder »wir haben ihnen viel mehr gegeben, als sie glauben oder bereit sind, anzuerkennen«. »Sie geben uns (oder haben uns gegeben oder werden uns geben) viel mehr, als wir glauben.« »Sie nehmen uns alles weg« oder »sie haben uns alles weggenommen«.
Wenn ein Teil der Endogenen und ein Teil der Allogenen sich, spiegelverkehrt, der vierten Überzeugung anschließt, dann beschleunigt sich die Spirale von Hass und Rassismus gefährlich und wird unkontrollierbar. Wir haben dieses Erstarken der Extreme schon vor zehn Jahren gespürt. Die Rekrutierung für den Islamischen Staat und den Dschihad bildet diesbezüglich den Höhepunkt. Auf weniger spektakuläre Weise findet es einen ebenso bedeutsamen Ausdruck in der Tatsache, dass bestimmte Viertel für jeden Vertreter der Verwaltung oder der çefrans verboten sind und dass umgekehrt mehr als die Hälfte der Polizisten oder der Angehörigen der Streitkräfte für den Front National bzw. Rassemblement National stimmt.
Schlussfolgerung Fassen wir in wenigen Worten zusammen. Einzelne Subjekte möchten, dass ihr Wert und ihre Identität innerhalb ihrer primären Zugehörigkeitskollektive anerkannt werden: Familie, Nachbarschaft, Peer-Group usw. Letztere wollen ebenfalls, dass ihr Wert von einer umfassenden Gesellschaft oder Kultur anerkannt wird. Diese wiederum werden ganz oder teilweise durch Staaten vertreten, die ebenfalls die Anerkennung durch andere Staaten und asymptotisch durch die Weltgesellschaft anstreben. Eine Weltgesellschaft, die nur in einem 21
Vgl. die Vorstellung seiner Dissertation auf www.journaldumauss.net/./?La-France-etles-enfants-d
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potentiellen oder virtuellen Zustand existiert, deren Bild jedoch als höchster Bezugspunkt dient und in Ansätzen als universelles Publikum fungiert. Diese verschiedenen, individuellen oder kollektiven Identitäten – Individuen, Familien, Geschlechter, Dörfer, Regionen, soziale Klassen, Statusgruppen, Länder, Nationen, Kulturen, Religionen, Staaten usw. – passen natürlich nicht harmonisch zusammen und fügen sich nur in Teilen oder Fragmenten ineinander. Das ist die Quelle vieler Verkennungen (misrecognitions). Im gegenwärtigen internationalen System sind die Anerkennungswerte besonders heterogen. Ständig kommen neue Akteure ins Spiel, die nicht die von ihnen gewünschte Anerkennung ihrer Handlungsmacht, ihrer realen oder eingebildeten Großzügigkeit-Generativität erhalten. Das sind alles Gründe dafür, dass sich die Kämpfe für Anerkennung in Kämpfe um Anerkennung verwandeln. Bis eine neue Hegemonie triumphiert und dafür sorgt, dass sie allmählich und in etwa das gleiche Wertesystem teilen oder daran scheitern. Nach Festlegung dieser Prämissen müssen wir zur normativen Frage zurückkehren und uns fragen, welches Gleichgewicht zwischen all diesen teils legitimen, teils radikal illegitimen Forderungen nach Anerkennung gefunden werden kann. Im Anschluss an Maussʼ Essay über Die Gabe wollen wir annehmen, das diejenigen Forderungen auf internationaler Ebene legitim sind, die nach Anerkennung (Liebe, Respekt und Wertschätzung, wenn man das vorzieht) streben, indem sie sich auf das symbolische Spiel von Bitten, Geben, Annehmen und Erwidern einlassen. Durch den Versuch, anderen Kulturen etwas Einzigartiges zu geben, durch die Bereitschaft, von ihnen zu empfangen, ihre Gaben anzuerkennen und ihnen zurückzugeben, was man von ihnen erhalten hat. Illegitim sind diejenigen, die, weil sie Anerkennung erzwingen und lieber den Tod und das Nichts als Leben und Kreativität geben wollen, das diabolische Spiel des Ignorierens, Nehmens, Verweigerns und Behaltens spielen. Diejenigen, die sich für das radikale Böse entscheiden. Aber bereit zu sein, das Spiel des Bittens, Gebens, Annehmens und Erwiderns, das Spiel der Gabe, zu spielen, heißt zu akzeptieren, über den Kampf für Anerkennung hinauszugehen, ihn aufzuheben. Hegel zufolge sollte diese Aufhebung durch die Entstehung eines rationalen Staates erfolgen, der ehemalige Herren und ehemalige Knechte in der gleichen politischen Gemeinschaft zusammenfasst, die allen die gleiche und identische moralische, rechtliche und politische Würde zubilligen würde. Von der Entstehung eines rationalen Weltstaates sind wir jedoch weit entfernt, zumal es keineswegs sicher ist, ob dieser überhaupt wünschenswert wäre. Deshalb muss eine solche Aufhebung zunächst zwischen den Kulturen, Zivilisationen und Religionen
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beginnen. Wenn wir, mit Claude Lévi-Strauss annehmen, dass »Zivilisation die Koexistenz von Kulturen impliziert, die ein Höchstmaß an Vielfalt untereinander bieten, und eben aus dieser Koexistenz besteht«, dann ist klar, dass die aktuelle Herausforderung darin besteht, die Konvergenz der überkommenen Zivilisationen zu einer Metazivilisation zu ermöglichen, die wir dringend aufbauen müssen. Eine Metazivilisation, die die Koexistenz von Zivilisationen ermöglicht, die im Rahmen dieses Regimes der Koexistenz die größtmögliche Vielfalt untereinander bieten. Aber auf welche Erbschaft(en) kann eine solche Meta-Zivilisation sich berufen? Werden ihre Wurzeln hauptsächlich westliche sein? Das kann man so sehen. Aber diejenigen, die zu einem entschiedenen Ja tendieren, seien daran erinnert, dass schon die Behauptung, nur westliche Werte seien universell oder universalisierbar, sich in den Augen eines großen Teils der Menschheit als epistemologisch unhaltbar und praktisch unerträglich erweist. Daher der Appell beispielsweise der postcolonial oder subaltern studies, vor allem in Indien, »Europa zu provinzialisieren«. Doch ist heute, angesichts des oft schrillen Konzerts der Zivilisationen, schwer herauszufinden, aus welcher wichtige Beiträge zur Metazivilisation hervorgehen könnten. Wird der Islam in der Lage sein, seinen Antimodernismus zu überwinden? Und China seine uralte Bürokratie? Wird (das einst so vielversprechende) Brasilien aus Korruption, Gewalt und Ungleichheit herausfinden? Wird Indien wirklich die »größte Demokratie der Welt«? Usw. Eines ist sicher: der zu errichtende metazivilisatorische Universalismus wird pluralistisch, »pluriversalistisch« sein oder er wird nicht sein. Pluriversalistisch, d.h. fähig, universelle Werte, insbesondere die der Gabe, in der Sprache der jeweiligen kulturellen Tradition zu formulieren.
10. Konsum aus der Perspektive der Gabe
Wenn wir, worauf alles hindeutet, nolens volens auf eine Form von PostWachstumsgesellschaft zusteuern, eine Gesellschaft, in der ein beliebig großer Anteil dem individuellen Erfindungsreichtum und dem kollektiven Fortschritt überlassen werden kann, dies aber nicht durch eine stetige Steigerung des BIP – also der monetären Kaufkraft auf dem Markt – erreicht wird, dann müssen wir uns von vielen unserer Konsumreflexe befreien und andere Lebensstile erfinden. Also mit dem Konsumismus brechen, mit der Ideologie des Konsums und seinen Praktiken.1 Eine große Anzahl alternativer Konsumformen, die solidarischer, gemeinschaftlicher und funktionaler sind, werden fast überall auf der Welt erfunden. Aber ihr Status ist manchmal zweideutig, denn viele der kostenlosen Dienstleistungen, die wir als Verbraucher genießen, erweisen sich als Instrumente zur Gewinnung von Marktanteilen durch Startup-Unternehmen oder die großen Computer- und Finanzkonzerne, angefangen bei den Internetgiganten, die inzwischen reicher sind als viele, selbst große Staaten. Diese neuen, mehr als zweideutigen freien Dienstleistungen zerstören oder schwächen letztlich die traditionellen Zuwendungen und Solidaritäten, die durch öffentliche Dienste oder in Vereinsnetzwerken organisiert waren. Der Konsumismus ist das privilegierte Werkzeug des neoliberalen Kapitalismus und die vermeintliche Unentgeltlichkeit, die er zur Schau trägt, ist sein trojanisches Pferd. Es ist wichtig, ihn zu überwinden, aber einige seiner scheinbaren Überwindungsformen, die unter dem verlockenden Namen »Sharing Economy« präsentiert werden, tragen tatsächlich
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Der Aufbau einer Post-Wachstumsgesellschaft, d.h. einer Gesellschaft, die nicht alles dem Wachstum und damit der ständigen Erweiterung des Marktes opfert, ist das Herzstück des konvivialistischen Projekts.
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zu seiner Radikalisierung bei.2 Hier wie anderswo gibt es eine komplexe Dialektik zwischen guten, kämpferisch-antikonsumistischen Absichten und ihrer möglichen marktwirtschaftlichen Vereinnahmung. Zwischen dem Charisma der Solidarität und seiner institutionellen Routinisierung. Kurz gesagt, wir finden in ihren globalisierten Versionen die klassischen und unauflöslichen Gegensätze von Reform und Radikalität, Authentizität und Vereinnahmung wieder. Diese Bemerkungen sollen keineswegs von alternativen Verbraucherinitiativen abschrecken, ganz im Gegenteil, sondern andeuten, dass es nicht ausreicht, den Geist des Teilens und der Zusammenarbeit zu betonen, um garantiert aus der Dynamik der Grenzenlosigkeit, der Hybris, auszusteigen, die das Zentrum des gegenwärtigen Kapitalismus bildet. Ebenso wenig kann man sich damit begnügen, die bösen Kapitalisten anzuklagen, ohne unsere eigenen Konsumwünsche zu hinterfragen. Ohne sie würde der Wirtschaftsapparat sofort aufhören zu funktionieren. Daraus ergibt sich 2
Über die Zweideutigkeiten der Sharing Economy oder des kollaborativen Konsums kann man den ausgezeichneten Artikel von Jean-Laurent Cassely auf der SlateWebsite (www.slate.fr/story/90333/economie-collaborative-partage) lesen. Er schreibt zum Beispiel: »Nach Janelle Orsi, einer amerikanischen Anwältin, die sich auf diese Sharing-Fragen spezialisiert hat, haben die Unternehmen, die die Medien mit der Sharing Economy in Verbindung bringen, wie Airbnb, Lyft, Uber, Sidecar oder TaskRabbit, gemeinsam, dass sie nach einem klassischen Rechtsmodell (Privatkapital) arbeiten. Wie in einem Artikel der New York Times vom Juni über die Kontroversen um die Sharing Economy erläutert wurde, haben all diese Läden, die auf der Titelseite der Wirtschaftszeitungen stehen und eine etwas übertriebene Begeisterung wecken, gemeinsam, dass sie verleugnen, ein Unternehmen zu sein, und sich lieber als ›Gemeinschaft‹ oder ›Plattform‹ bezeichnen.« Neben dem Teilen der Wohnung (couchsurfing) »hat das Car-Sharing seine Wurzeln in einer alternativen Lebensweise, die sich allmählich verallgemeinert, industrialisiert und standardisiert hat. Couchsurfer und Rucksacktouristen, die das Pfeifchen kreisen lassen, sind durch Nutzer ersetzt worden, die über die Runden kommen wollen, indem sie ein Zimmer über Airbnb vermieten oder einen freien Platz in ihrem Auto für eine lange Fahrt anbieten.« Nathan Schneider (zitiert von J.-L. Cassely) kommt zu dem Schluss: »Dank dieser Plattformen ist das Teilen in städtischen Zentren in Mode gekommen. Die schöpferische Zerstörung des Kapitalismus mag unsere Gemeinschaften im Laufe der Jahrhunderte mit seinen Salven aus Individualismus, Konkurrenz und Misstrauen noch so sehr verwüstet haben, und nun will er uns einen Sinn für Gemeinschaft verkaufen.« Und er fügt hinzu: »Teilen […] könnte auch bedeuten, dass sich das Großkapital noch intensiver in unser Leben einschleicht, unsere gegenseitigen Beziehungen ausbeutet und jeden Versuch der Großzügigkeit in einen Akt des Konsums verwandelt.«
10. Konsum aus der Perspektive der Gabe
die entscheidende Frage: Was treibt den Wunsch zu konsumieren an? Was hat das mit dem Geist der Gabe zu tun? Denn kommt beim Konsum nicht eine Dimension der Gabe ins Spiel, mit all ihren Zweideutigkeiten und Ambivalenzen? Und sei es zunächst einmal nur eine Dimension der Gabe an sich selbst. Im Konsum einen Anteil von Gabe zu sehen, mag auch hier als Provokation erscheinen. Aber wissen wir am Ende wirklich, was beim Konsumieren ins Spiel kommt? Man kennt im Wesentlichen zwei Arten von klassischen Antworten auf diese Frage. Die erste betont die Notwendigkeit und Nützlichkeit. Wir konsumieren, was wir brauchen und was als nützlich erachtet wird. Die zweite beruft sich auf das Begehren in seinen verschiedenen Modalitäten: Distinktion, Zurschaustellung, Bestätigung eines sozialen Status, Unterwerfung unter eine symbolische, systemische Logik usw. (hier denken wir an Veblen, Goblot, Packard, Bourdieu oder Baudrillard). Der Konsum würde somit zwischen zwei Polen oszillieren, dem des Nützlichen und dem des Strebens nach Anerkennung. Nach Status. Aber was bedeutet das wirklich für die Akteure? Das ist die Frage, die die verfügbaren Theorien weitgehend im Unklaren lassen. Um eine erste Ahnung der Antwort zu erhalten, muss man, wie die Leserin inzwischen begriffen haben wird, die heute so mächtigen Anerkennungstheorien mit Hilfe des Gabenparadigmas neu interpretieren und annehmen, dass wir nicht im Abstrakten und Allgemeinen, sondern als Geber oder als Teilnehmer an einer Dynamik der Gegebenheit anerkannt werden wollen. Der erste Teil dieser Antwort wurde durch die Veröffentlichung des Buches der berühmten Anthropologin Mary Douglas3 und des Ökonomen Baron Isherwood The World of Goods. Towards an Anthropology of Consumption im Jahr 1978 eindrucksvoll erläutert. Darin wird aufgezeigt, dass eine unserer Hauptmotivationen für das Kaufen die Verpflichtung ist, unsere Rolle als Geber zu erfüllen: Freunde gut zu empfangen, Eltern oder Kindern zu helfen usw. Ein guter Akteur zu sein, ein guter Spieler im Zylus des Bittens-Gebens-AnnehmensErwiderns. Aber um voranzukommen, müssen wir noch in mindestens zwei Richtungen weiterdenken. Zunächst einmal müssen wir zeigen, dass wir uns durch unsere Konsumentscheidungen nicht nur einigen wenigen, sondern allen offenbaren, einer Art universellem Verbraucherpublikum, und nicht nur die 3
Unschätzbare Freundin des MAUSS, die sich gegen Ende ihres Lebens auf »our gift paradigm« bezog.
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Stellung zum Ausdruck bringen, die wir meinen, innerhalb der Gesellschaftsordnung (der Statuslogik) einzunehmen oder einnehmen zu sollen, sondern auch, und allgemeiner, die Art der Gesellschaftsordnung, die wir für wünschenswert halten. So gesehen scheint der Konsum eine entscheidende Komponente des Politischen zu sein. Darüber hinaus wollen wir im und durch den Konsum auch an der allgemeinen Dynamik der Gegebenheit, d.h. des Charismas, der Gnade, der Anmut, der Selbstlosigkeit, der Energie oder des Lebens im Reinzustand teilnehmen. Auf diesem Weg übersteigt der Konsum radikal das Bedürfnis und berührt zugleich das Kostbarste (und das Spiel), droht aber auch jederzeit in Maßlosigkeit, Hybris und Allmachtsphantasien umzuschlagen. Mit diesen beiden Wegen unterhält der auf den ersten Blick so trivial erscheinende Konsum4 in Wirklichkeit eigentümliche Beziehungen zum Politisch-Religiösen.5 Diese Zusammenhänge müssen ans Licht gebracht werden, wenn wir ernsthaft über die wirtschaftliche, ökologische, politische und moralische Verpflichtung nachdenken wollen, die sich sehr bald der gesamten Menschheit stellen wird: ihren Konsum einzuschränken. Beziehungsweise, aus der Konsumhybris auszusteigen, die die Welt in ihren wahrscheinlichen Untergang führt, ohne deshalb in Askese zu verfallen oder auf den Genuss von Gütern und einen moderaten Konsum zu verzichten.
Trugbilder des Konsums. Der Konsum als Gaben-Falle? Um zu verstehen, was hier auf dem Spiel steht, müssen wir zu den Anfängen des Konsumismus, also der Ideologie des Konsums und des davon abhängigen Sozialsystems zurückkommen. Dany-Robert Dufour, der uns in diesem Punkt einige markante Denkanstöße gibt, tendiert dazu, seine amerikanische Geburt auf den 31. März 1929 zu datieren, einige Monate vor dem Schwarzen Donnerstag am 24. Oktober. »Dadurch kann man sagen, dass die Lösung der Krise von 1929 paradoxerweise einige Monate vor dem eigentlichen Ausbruch
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Dies mag erklären, warum über Konsum in den Sozialwissenschaften so wenig reflektiert und analysiert wurde, insbesondere im Vergleich zu den Arbeiten über die Produktion. Vgl. unten, Kapitel 13.
10. Konsum aus der Perspektive der Gabe
der Krise ausgearbeitet wurde.«6 Das auslösende Ereignis am 31. März fand auf der Fifth Avenue während der New Yorker Osterparade statt: »Die Presse wird informiert, dass schöne junge Frauen torches of freedom entzünden würden. […] Und tatsächlich zünden sie vor der Menge der Fotografen und auf das vereinbarte Signal hin zum Erstaunen aller ihre Freiheitsfackeln an: Zigaretten. Nichts wäre heute banaler, aber damals, im Anschluss an dieses Ereignis, war es überall in den Vereinigten Staaten und auf der ganzen Welt Gesprächsthema.«7 Interessant an diesem Fall ist, dass diese Freiheitsdemonstration auf Betreiben von George Washington Hill stattfand, dem Präsidenten der American Tobacco Co. (Eigentümerin der Marken Lucky Strike und Pall Mall…), die bestrebt war, ihren potentiellen Markt zu verdoppeln, indem sie zeigte, dass auch Frauen rauchen können, oder besser noch, rauchen sollten. Zu diesem Zweck hatte G.W. Hall Edward Bernays, den Neffen Freuds und Erfinder der modernen Werbung, zu Rate gezogen. Da Bernays nicht in der Lage war, seinen Onkel zu konsultieren, fragte er einen der ersten amerikanischen Psychoanalytiker, Abraham Arden Brill, der ihm erklärte, dass »die Zigarette ein Phallussymbol ist, das die sexuelle Macht des Mannes darstellt: Wenn es möglich wäre, die Zigarette mit einer Form der Herausforderung dieser Macht zu verbinden, dann würden auch Frauen, die im Besitz eines eigenen ›Penis‹ sind, rauchen.«8 Dany-Robert Dufour führt auf diese Innovation die Entdeckung der einzigen Lösung zurück, die in der Lage ist, den Kapitalismus aus seinen chronischen Überproduktionskrisen zu befreien: »Die Demokratisierung des Genusses, indem man an den Rändern ein wenig sadistisch wird, oder besser gesagt, angesichts des vorherrschenden Puritanismus, kryptosadistisch.«9 Seitdem, so seine Schlussfolgerung, »wird jeder von uns vor allem als potentieller Konsument betrachtet, d.h. als Kandidat auf die Befreiung einer Leidenschaft oder die Befriedigung eines Triebes. Fortan ging es darum, für alle Klassen und Unterklassen, für alle Gruppen und Untergruppen, für ›alle Geschlechter‹ und Untergeschlechter ein Äquivalent für das zu schaffen, was für die Frauen getan wurde, um 6 7 8 9
Dany-Robert Dufour, »Le tournant libidinal du capitalisme«, Revue du MAUSS semestrielle, Nr. 44, a.a.O., S. 36. Ebd. Ebd., S. 37. Ebd., S. 38.
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sie endgültig vom männlichen Joch zu befreien: das Rauchen. Kurz gesagt, es ging darum, auf das Begehren eines jeden Menschen in seiner Rohform, dem Trieb, zu setzen, um ihm das Produkt zu bringen, das seine Befriedigung oder seine Befreiung gewährleisten sollte.«10 Das andere Mittel gegen die Wirtschaftskrise, neben der Mobilisierung mehr oder weniger sadistischer libidinöser Triebe zugunsten des Konsums, ist die Erfindung des geplanten Verschleißes durch Bernard London, die uns zwingt, ständig neue Produkte zu kaufen, obwohl die alten für unsere Bedürfnisse völlig ausreichend waren.11 Die Kopplung von Befreiung der Leidenschaften und geplantem Verschleiß bildet ein System: das System der Objekte und der Konsumgesellschaft, das Jean Baudrillard vor mehr als fünfzig Jahren analysiert hat.12 Serge Latouche, Verfechter des Postwachstums, kehrte 40 Jahre später zu seinen bestechenden Analysen zurück, die insbesondere die Vortäuschungen von Kostenlosigkeit und Gabe der konsumistischen Werbung betonten, und fasste sie wie folgt zusammen: »Wir befinden uns in einem Cargo-Kult des Glücks. Wie in den Gesellschaften der pazifischen Ureinwohner, die, durch das Eindringen des Westens gekränkt, durch den Bau von Scheinflughäfen Frachtflugzeuge voller Waren anziehen wollten, ist das Ritual immer zum Scheitern verurteilt, geht aber unvermindert weiter. Hier zeigt sich die ganze Perversität dieses utilitaristischen Anti-Utilitarismus. Für diejenigen, die es können, führt die Anhäufung von Zeichen in der Hoffnung, das versprochene ›wahre‹ Glück zu erreichen, nur zu immer neuer Enttäuschung. Für diejenigen, die das nicht können, ist es einfach die immer handfestere Frustration, die das übertriebene Konsumstreben der unteren Klassen nährt.«13
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Ebd., S. 38-39. Bernard London, Ending the Depression through Planned Obsolescence (1932). Übersetzt und veröffentlicht mit einem Nachwort von Serge Latouche, Paris 2013. Buch und Nachwort haben großes Interesse geweckt. Jean Baudrillard, Das System der Dinge. Über unser Verhältnis zu den alltäglichen Gegenständen, Frankfurt a.M. 2007 [1968] und Die Konsumgesellschaft. Ihre Mythen, ihre Strukturen, Wiesbaden 2014 [1970]. Serge Latouche, »Le consumérisme comme simulacre du don. Relire Baudrillard quarante ans après«, Revue du MAUSS semestrielle, Nr. 44, a.a.O., S. 92.
10. Konsum aus der Perspektive der Gabe
Denn einer der Widersprüche des Wachstums, so Baudrillard, besteht darin, »dass es Güter und Bedürfnisse gleichzeitig produziert, aber nicht im gleichen Tempo«. Daraus resultiert, was er »eine psychologische Verarmung« nennt, ein Zustand allgemeiner Unzufriedenheit, der »die Wachstumsgesellschaft als das Gegenteil einer Überflussgesellschaft definiert«14 . Aber Baudrillard zeigt, wie wir wissen, keinen möglichen Ausweg aus dem System der Objekte und Simulakren auf. Seine Position wird von Latouche treffend zusammengefasst, wenn er schreibt: »Da diese ›totale Ideologie‹ dem politischen Handeln keinen Ansatz liefert, warum nicht einen Pakt mit dem Teufel schließen und das Hier und Jetzt genießen, ohne sich von ihm täuschen zu lassen?«15 Wenn man sich weigert, einen solchen Teufelspakt zu schließen, dann muss man versuchen, die Analyse weiter voranzutreiben. Es besteht kaum Zweifel daran, dass eine Überbewertung des Konsums, der von Baudrillard beschriebene Konsumismus, in der Zeit nach 1929 als Mittel gegen die Krise und die strukturelle Tendenz des Kapitalismus zur Überproduktion erfunden wurde. Aber diese Verschiebung selbst muss im Rahmen einer breiteren und älteren historischen Perspektive gesehen werden. Die Leidenschaft für den Konsum, d.h. der Wunsch, immer neue Waren zu kaufen, kann nur verstanden werden, wenn man sie in Beziehung setzt zu dem unaufhörlichen Streben nach Neuheit und der Leidenschaft für Veränderung, die der Dynamik des Kapitalismus seit seinen Anfängen zugrunde liegt, wie es sowohl Hobbes als auch Marx so gut erkannt haben. Genauer gesagt, wie der Soziologe François Gauthier anhand der in Frankreich zu wenig bekannten Analysen von Colin Campbell zeigt16 , muss man, um die Herausbildung des modernen Konsumethos zu verstehen, ein doppeltes Hindernis überwinden. Das erste ist unsere Neigung zu glauben, dass der moderne Kapitalismus, diese Dynamik der (formalen) Rationalisierung und ununterbrochenen Akkumulation, sich im Wesentlichen nur im Bereich der Produktion und der Arbeit manifestiert und entfaltet hätte. Das zweite ist die, wiederum von Marx und Weber inspirierte, parallele Überzeugung, dass sie mit einer puritanischen Ethik des Protestantismus einherginge, die ausschließlich mit
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Zitiert von S. Latouche, ebd., S. 93. Ohne es zu erwähnen, greift Baudrillard hier das Durkheim’sche Thema der Anomie wieder auf. Für Durkheim können Bedürfnisse nur dann befriedigt werden, wenn sie durch eine höhere moralische Instanz begrenzt werden, die festlegt, wem was zusteht. Wer will ihm da nicht Recht geben? Ebd., S. 99. Colin Campbell, The Romantic Ethic and the Spirit of Consumerism, Oxford 1987.
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dem Utilitarismus gleichgesetzt wird, sei es dem des von Marx kritisierten Bentham oder dem von Benjamin Franklin, auf die Weber aufmerksam gemacht hat. Das hieße aber, die Komplexität der calvinistisch-puritanischen Ethik zu ignorieren, die eine Balance zwischen instrumenteller und akkumulativer Rationalität und einer Kultur der Affekte, der Emotionen und des Genusses herstellt, die in der Empfindsamkeit gipfelt.17 François Gauthier schreibt: »Das Aufkommen der Empfindsamkeit, d.h. der Lehre oder Praxis, Emotionen um ihrer selbst willen zu kultivieren und auszudrücken, hat dazu beigetragen, sie in den Rang eines moralischen Wertes zu erheben, der das Schöne mit dem Guten verbindet. Diese Empfindsamkeit wurde durch die für die Bourgeoisie bestimmte kulturelle Produktion, insbesondere die Literatur, weit verbreitet, die beispielsweise im 18. Jahrhundert dazu beitrug, die Liebe zwischen zwei Wesen als ausreichenden Grund für die Ehe zu rechtfertigen. In beiden Fällen, so Campbell, waren das Milieu, in dem sich diese Strömungen entwickelten, und ihre kulturellen Träger (cultural carriers) die Mittelschichten, also genau jene Klassen, die die Akteure sowohl der industriellen Revolution als auch der Entstehung eines im Wesentlichen bürgerlichen Lebensstils werden sollten.« Unabhängig selbst vom amerikanischen Protestantismus ist diese Aufwertung von Genuss und Emotion ein integraler Bestandteil des Ethos der europäischen Bourgeoisien. Diese Empfindsamkeit, so François Gauthier abschließend, »ging einher mit der Wertschätzung des Neuen und der Entwicklung einer ganzen Industrie, die sich der Befriedigung der Nachfrage nach neuen Erfahrungen und neuen kulturellen Produkten verschrieben hatte. Der Hedonismus erreichte seinen Höhepunkt mit der Romantik, die darüber hin-
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Die amerikanische Kultur in ihrer Besonderheit ist in Frankreich nur sehr wenig bekannt. Um all ihren Reichtum und ihre Komplexität zu würdigen und die Rolle zu ermessen, die der Puritanismus bei ihrer Gestaltung gespielt hat, ist es nützlich (wenn nicht unerlässlich) die beiden folgenden Bücher zu lesen: Stephen Kalberg, L’èthique protestante et l’esprit de la démocratie. Max Weber et la culture politique américaine, und Pierre Prades, De la sainteté à la santé. Puritanisme, psychothérapies, developpement personel, die beide 2014 im Verlag Le Bord de l’eau in der Bibliothèque du MAUSS erschienen sind. Vgl. auch unten Kapitel 12.
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aus die Gestalt des Künstlers zum Modell des perfekten modernen Subjekts erhebt.«18 Diese Kritik an der alleinigen Gleichsetzung der Moderne mit der instrumentellen Rationalität wurde auch von dem berühmten Philosophen Charles Taylor in seinem Buch Quellen des Selbst formuliert.19 Dort zeichnet er die Entstehung einer romantischen Ethik innerhalb der Moderne nach, die er als »eine Ethik der Authentizität und Expressivität« beschreibt. In seinem späteren Buch Die Formen des Religiösen in der Gegenwart 20 schreibt er: »Ich meine– die Lebensauffassung, die mit dem romantischen Expressivismus im späten 18. Jahrhundert aufkommt. Danach hat jeder von uns seine oder ihre eigene Weise, die Humanität zu verwirklichen, und es ist wichtig, den eigenen Weg zu finden und danach zu leben, anstatt sich mit einem Modell, das uns von außen, von der Gesellschaft oder den vorhergehenden Generationen, von den religiösen oder politischen Autoritäten, vorgegeben ist, der Konformität zu überlassen.«21 Sie führt im 20. Jahrhundert zu einem »expressiven Individualismus«. Dieser »ist zwar in manchen Milieus einflußreicher als in anderen – unter Jugendlichen stärker als unter Älteren und stärker unter denjenigen, die von den 60er und 70er Jahren geprägt wurden –, scheint aber insgesamt gesehen seit der Nachkriegszeit stetig auf dem Vormarsch zu sein.«22 Es sollte weiter über die scheinbar paradoxe Kombination von puritanischer Askese und Hedonismus nachgedacht werden, die zu einer moralischen Verpflichtung führt, nach Genuss zu suchen. »Man kann sagen, dass die puritanische Ethik, mit dem, was sie an Sublimation, Überwindung und Verdrängung (im moralischen Sinne) impliziert, den Konsum und die Bedürfnisse verfolgt«, schrieb Baudrillard, der vom »Zwang zum Genuss« sprach durch »intensiven Gebrauch von Zeichen, Objekten, durch die systematische Ausbeutung aller Genussmöglichkeiten«23 . Die protestantische Ethik und der Geist
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François Gauthier, »L’éthique romantique et l’esprit du capitalisme«, Revue du MAUSS semestrielle, Nr. 44, a.a.O., S. 58-59. Charles Taylor, Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität, Frankfurt a.M. 1996. Charles Taylor, Die Formen des Religiösen in der Gegenwart, Frankfurt a.M. 2002. Ebd., S. 74. Ebd., S. 79. Zitiert von Serge Latouche.
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des Kapitalismus reduzieren sich keineswegs auf eine utilitaristisch-kalkulatorische Rationalität, sie enthalten auch einen Teil Expressivität und eine andere Art von Hedonismus. Aber auch, wie Stephen Kalberg24 zeigt, einen Teil an Bürgersinn. Was die amerikanische Kultur stark gemacht hat, ist die Tatsache, dass diese Mischung es jeder dieser vier Komponenten ermöglicht hat, sich stärker als irgendwo sonst zu entwickeln. Aber je mächtiger jede von ihnen wird, desto schwieriger ist es für sie, von den anderen gemildert zu werden. Daher die Gefahr eines Übermaßes an Zynismus, Moralismus, apolitischer Haltung oder Pornographie. Dies weist auf das zentrale Problem hin, mit dem sich unsere Gesellschaften auseinandersetzen müssen, wenn sie die strukturelle Verlangsamung oder gar Stagnation des BIP und des Marktkonsums überwinden wollen. Der Konsumismus wurde erfunden, um einer solchen Stagnation oder gar Regression zu begegnen. Aber es wird immer deutlicher, dass das Heilmittel jetzt weitgehend wirkungslos geworden ist. Alles, was auf den Markt geworfen werden konnte, um neue Absatzmöglichkeiten zu schaffen, wurde schon auf den Markt geworfen, oder fast, sei es im öffentlichen Sektor, im Privatsektor oder im individuellen Konsum. Alle oder fast alle Wünsche, die mobilisiert werden konnten, wurden mobilisiert. Wir werden also gezwungen sein, uns der endlosen Sucht nach Konsum zu entwöhnen. Vom unbegrenzten Konsum. Von der Hybris des Konsums. Aber kann man sich der Hybris entwöhnen? Einen Unterschied zwischen einer guten, kreativen, lebensspendenden Hybris und einer schlechten, schädlichen Hybris machen? Genauer gesagt, können wir eine annähernd klare Grenze ziehen zwischen dem legitimen und daher notwendigen Konsum und einem neurotischen, dem Konsumismus innewohnenden Konsum? Eine Frage, die uns zwingt, das Nachdenken über die Herausforderungen des Konsums zu vertiefen.
Ambivalenzen. Glanz und Elend des Konsums Unseres Wissens nach gibt es keine soziologischen Studien, die die Thesen und Analysen von Pierre Bourdieu in seinem klassischen und weltberühmten Werk Die feinen Unterschiede aktualisieren würden. Sie zeigten, wie die Geschmäcker – »die vor allem Abneigungen sind«, wie Bourdieu betonte, Abneigungen der herrschenden Klassen gegenüber den Geschmäckern der be24
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10. Konsum aus der Perspektive der Gabe
herrschten Klassen –, die Geschmäcker beim Essen wie auch in der Kultur, im Sport usw., eng durch die Position, die man in einer zweidimensionalen sozialen Hierarchie einnimmt, modelliert werden (die erste Dimension wird durch das Gesamtvolumen des vorhandenen Kapitals bestimmt, die zweite durch die Struktur dieses Kapitals und insbesondere durch das Verhältnis zwischen wirtschaftlichem und kulturellem Kapital). Das liegt sicherlich daran, dass sich die Hierarchien in den letzten 40 Jahren enorm diversifiziert, pluralisiert und verkompliziert haben. Das hindert viele Essayisten nicht daran, eine Art populärer Soziologie oder Psychosoziologie zu betreiben, um einige der »geheimen Gesetze des Konformismus« aufzudecken, die viele unserer Konsumentscheidungen leiten. Es liegt auf der Hand, dass ein großer Teil von ihnen von dem Bestreben getrieben ist, sich einer Bezugsgruppe anzupassen und im Rahmen dieser Anpassungslogik die eigene Verschiedenheit herauszustellen. Die ganze Frage ist, wem wir ähneln und von wem wir uns unterscheiden wollen.25 Jede Soziologisierung der Konsumproblematik ist natürlich willkommen, da sie es uns erlaubt, über die Vereinfachungen der ökonomischen Standardtheorie hinauszugehen, die sich mit der Feststellung begnügt, dass Konsumenten »Präferenzen« haben, ohne erfahren zu wollen, woher sie kommen und wie sie gebildet werden, und dass sie von einem Nutzenkalkül getrieben werden, was auch immer man unter dem Begriff »Nutzen« versteht. Aber wenn wir schon soziologisieren wollen, müssen wir die Analyse noch einen Schritt weiterführen. Möglich wurde dies durch die Theorie, die 1979 von der Anthropologin Mary Douglas in Zusammenarbeit mit dem Ökonomen Baron Isherwood in ihrem Buch Die Welt der Güter (The World of Goods) entwickelt wurde. Die zentrale These wird von Mary Douglas selbst in einem späteren Kommentar zu diesem Buch treffend zusammengefasst:
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Eine operative Anwendung des Gabenparadigmas würde zeigen, dass sich hier wie anderswo die vier Hauptmotive für das Handeln überschneiden: Eigeninteresse/ Interesse an anderen (aimance) und Verpflichtung/Freiheit – Kreativität. Auf der ersten Achse gibt es einen Kompromiss zwischen dem Wunsch, wie andere zu handeln (aus aimance) und/oder sich ihnen zu widersetzen; auf der zweiten Achse gibt es einen Kompromiss zwischen sozialer Verpflichtung und Freiheit-Kreativität. Mit all den Täuschungen in Bezug auf Verpflichtung und Freiheit, die uns oft glauben machen, wir seien originell, während wir lediglich einer nicht klar wahrgenommenen sozialen Verpflichtung nachkommen.
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»In der Wirtschaftswissenschaft lautet die implizite Hypothese, dass der Ursprung der Bedürfnisse in der physischen und psychischen Konstitution des Individuums selbst liegt. In der Anthropologie geht man implizit davon aus, dass dieselben Bedürfnisse im Rahmen einer sozialen Interaktion definiert und standardisiert werden […] um es etwas einfacher auszudrücken, der Grund, warum jeder Mensch Güter begehrt (abgesehen von jenen, die mit physiologischen Bedürfnissen zusammenhängen), ist der Wunsch, seine Güter zu teilen, zu zeigen oder jemandem in Anerkennung ähnlicher Gesten, Geschenke oder Dienste, die man in der Vergangenheit erhalten hat, zu geben.«26 Wie der Konsumanthropologe Benoît Heilbrunn betont, geht es nicht mehr darum, sich für den Kaufakt zu interessieren, sondern »für eine ganze Kette bedeutsamer Praktiken, die im Wesentlichen mit Mechanismen der Eingliederung in ein Gefüge sozialer Beziehungen verbunden sind«. Und »das allgemeinste Ziel des Verbrauchers ist es, mit den Gütern, die er wählt, ein verständliches Universum aufzubauen«27 . Nun bedeutet der Aufbau eines verständlichen Universums, wie das gerade gelesene Zitat von Mary Douglas verdeutlicht: sich einzufügen und seine Rolle zu spielen, seine Teilhabe an den vielfältigen Netzwerken von Gabe und Gegengabe. In diesem Sinne bedeutet konsumieren geben. Oder, um es vielleicht genauer zu sagen, wir konsumieren, um Anderen zu geben. Oder manchmal auch sich selbst. Aber auch, um sichtbar zu machen, um sich hinzugeben. Damit kommt etwas ins Spiel, das sich nicht auf eine soziologische Analyse reduzieren lässt. Oder nicht so leicht. Das lässt sich gut nachempfinden und verstehen anhand der schönen Reflexion des Dichter-Philosophen Henri Raynal über die Koketterie, die er nicht in ihrem üblichen, negativen Sinne verstanden wissen will, die er vielmehr zu schätzen weiß. Er schreibt über sie: »Natürlich können bei der Wahl der Kleidung die Gepflogenheiten, der soziale Druck, die Berücksichtigung des Blicks anderer, der Wunsch, zu gefallen, die Freude, sich begehrenswert oder beneidet zu fühlen, eine Rolle spielen. Dies sind jedoch nur mögliche Bestandteile eines manchmal sehr einfachen, manchmal komplexen Aktes. Es ist zu einfach, dies allein mit Selbst26 27
Zitiert von Benedikt Heilbrunn, in »Le monde des biens ou la naissance de l’anthropologie de la consommation«, Revue du MAUSS semestrielle, Nr. 44, a.a.O., S. 119. Ebd., S. 119-120.
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liebe zu erklären. Eitelkeit und Narzissmus sind in dieser Hinsicht Schimpfwörter, die das Thema nur verschleiern. Verhindern, dass wir sehen, dass es eine Legitimität, eine Unschuld des Scheinens gibt.«28 Stattdessen müsse man diese Koketterie eher im Bereich des Poetischen verorten: »Poetisch nenne ich das, was bei der Zubereitung von Mahlzeiten oder der Einrichtung des Hauses dem Utilitären entgegensteht. Oder bei der Zusammenstellung eines Blumenstraußes. Soziologie und Psychoanalyse, die sich der Kleidung annehmen, verfehlen ihre Poesie.«29 In der Person der unschuldig Koketten ist das Leben selbst gegenwärtig geworden, »nicht ihr Leben: das Leben, das anonyme Leben, an sich«. Und Henri Raynal schließt: »Aus dieser glücklichen Gegenwart entsteht ein Gefühl der Dankbarkeit. Es handelt. Es ist ein Künstler, ein Dichter. Sein Aussehen geschmackvoll zu gestalten, bedeutet, das Leben zu ehren, von dem man erfüllt ist. Dass das Ego sich dann, wie es oft der Fall ist, einmischt und seine Beweggründe hinzufügt, kann nicht geleugnet werden, aber dies darf nicht zu Lasten der wesentlichen, tieferen Bewegung gehen, die eine Antwort auf eine Großzügigkeit ist und eine Übereinstimmung bezeugt, die eines Wesens mit dem Leben.«30 Wir sind hier in der Tat jenseits von Soziologie und Psychoanalyse. Aber auch jenseits dessen, was man als das einfache Gabenparadigma bezeichnen könnte, das die Motivationen und Handlungen menschlicher Subjekte auf bloße wechselseitige Beziehungen zu anderen Menschen reduziert, ohne zu sehen, dass diese ihren vollen Sinn erst in ihrer Beziehung zum Gegebensein der Welt erhalten, dessen, was, wie erwähnt, in der deutschen phänomenologischen Tradition Gegebenheit heißt, deren am unmittelbarsten spürbarer und fühlbarer Ausdruck das Leben ist. Wir konsumieren also nicht nur, um anderen oder uns selbst zu geben, sondern auch, und noch grundsätzlicher, um dem Leben etwas zurückzugeben, und zwar als Gegengegebenheit zur Gegebenheit. Um sich ihm hinzugeben.
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H. Raynal, »L’innocence du paraître«, Revue du MAUSS, Nr. 44, a.a.O., S. 127. Ebd. Ebd., S. 128.
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Sich einer Marke hingeben »Soziologie und Psychoanalyse, die sich der Kleidung annehmen, verfehlen ihre Poesie«, so Henri Raynal. Dies ist nicht zwangsläufig der Fall. Shopping is cheaper than a psychologist, lautet ein Werbeslogan, der suggeriert, dass der Konsum eine therapeutische Funktion haben könnte. »Aber weil der Kaufakt oft eine bewusst- und gedankenlose Wiederholung ist, muss er ständig erneuert werden […]. In diesem Sinne scheint es offensichtlich, dass ein solcher Konsum sehr teuer kommt und letztlich nur eine Scheintherapie ist«, schreibt die Psychoanalytikerin Elisabeth Conesa, die hinzufügt: »Wenn man mit der Logik eines zwanghaften und endlosen Konsums gebrochen hat, kann es eine tatsächliche Freude am Konsumieren geben. Und sie ist unbezahlbar, wenn sie jedem Menschen, entsprechend seiner Geschichte, erlaubt, mehr Leben zu erlangen und zu genießen. Mit anderen Worten: an seinem Weg der Individuation teilzunehmen und von ihm zu profitieren.«31 Hier stimmt die Psychoanalyse mit Henri Raynals Anliegen überein, einen gewissen Konsum in die Dynamik des Lebens selbst einzuschreiben, sofern es sich um einen Konsum handelt, der sich seiner selbst bewusst ist und damit der Hybris entgeht. Und es ist möglich, auch mit der Soziologie eine Form der Verständigung zu finden, wenn man sich der Frage der Gabe noch aus einem anderen Blickwinkel als dem von M. Douglas und B. Isherwood nähert. Ein scheinbar paradoxer Blickwinkel. Wir haben oben angemerkt, dass Bourdieus Analysen aufgrund der Zersetzung und Vervielfältigung überlieferter Hierarchien nicht leicht zu aktualisieren sind. In dem von Bourdieu analysierten sozialen Universum wurden Geschlecht, Alter, ethnische, religiöse, sexuelle und andere Identitäten nämlich immer noch den Klassen- oder Statusgruppenidentitäten subsumiert. Sie haben inzwischen eine relative Unabhängigkeit oder zumindest Selbständigkeit gewonnen, so dass jedes Subjekt, das durch eine je spezifische Kombination all dieser Identitäten gekennzeichnet ist, sich nun mehr in seiner Singularität versteht als in seiner Identifikation mit einer Statusgruppe, die sich eindeutig einer annähernd homogenen und von allen wahrgenommenen sozialen Hierarchie zuordnet. Identität wird weniger zur Identifikation mit einer Statusgruppe (»wir sind alle ähnlich«) als zur 31
Elisabeth Conesa, »Shopping is cheaper than a psychologist«, Revue du MAUSS, Nr. 44, a.a.O., S. 136.
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Behauptung einer irreduziblen Differenz. Weniger Identität als Ipseität, um es in der Sprache von Paul Ricœur auszudrücken.32 Im Zusammenhang mit dieser wachsenden Identitätsunsicherheit sind die einzigen mehr oder weniger stabilen Bezugspunkte die Familie, die Zugehörigkeit zur Peer-Gruppe33 und zu den Marken, die man bevorzugt. Ab Ende der 1960er Jahre kam es zu einer Revolution der Marketingprinzipien. François Gauthier stellt heraus: »In dem Maße wie die Mittelschicht wuchs, schien es den Amerikanern weniger darauf anzukommen, ihren sozialen Erfolg (und damit ihre Klassenzugehörigkeit) zu demonstrieren und mit ihren Nachbarn (den berühmten ›Joneses‹ der amerikanischen Literatur) zu konkurrieren, als vielmehr darauf, sich durch den Ausdruck ihrer persönlichen Identität zu profilieren. Man konsumierte nicht (mehr), um einem Klassenhabitus zu entsprechen, sondern um zu einem Selbst zu werden, um auszudrücken, was man ist – ein Leitmotiv, das die heutige Werbung massiv prägt.«34 Man will immer weniger einer bestimmten Klasse oder sozialen Gruppe zugeordnet werden, sondern immer mehr zeigen, was man selbst, als Individuum, wert ist. Dieser Wunsch ist natürlich weitgehend illusorisch, aber die Tatsache, dass er immer allgemeiner geteilt wird, macht ihn zu einer objektiven und realen Tatsache. Daraus resultiert ein tiefgreifender Wandel des Konsumuniversums, in dem die Werbung nicht mehr auf die Eigenschaften des Objekts (oder sogar auf das Objekt selbst) verweist, sondern auf die Marke, die als eine Person gesehen und erlebt wird, mit der man sich als Person identifizieren kann, indem man zu ihr eine Gabe/Gegengabe-Beziehung unterhält. »In einer Kultur der Authentizität und Expressivität (durch branding35 ) sind Marken Ressourcen und symbolische Mittel zum Aufbau des Selbst und Einbindung in soziale Bedeutungen geworden.«36 Da es immer weniger relevant wird, seinen lokalen, familiären, sozialen oder beruflichen Hintergrund zu betonen und geltend zu machen, bleibt als einziger positiver Identifikations-
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P. Ricœur, Das Selbst als ein Anderer, Paderborn 2005 [1990]. Vgl. Michel Maffesoli, Le Temps des tribus, Paris 1988. François Gauthier, »Les ressorts symboliques du consumérisme«, Revue du MAUSS, Nr. 44, a.a.O., S. 146-147. Alle Prozesse, die eine Bindung an eine Marke ermöglichen. F. Gauthier, »Les ressorts symboliques du consumérisme«, a.a.O., S. 149.
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faktor das Bekenntnis zu Marken. Jede Marke tendiert dann dazu, so Gauthier: »zu einem Medium des Zusammenseins und der Anerkennung zu werden, und sie muss als solches verstanden werden. Die Marke geht also weit über die Ware hinaus. Sie wird demonstrativ zur Schau gestellt. Sie soll von allen gesehen und anerkannt werden, insbesondere von denjenigen, die den gleichen Lebensstil teilen und alles, was dieser in Bezug auf Werte, Weltanschauung und Ästhetik impliziert. Die Konsumkultur ist eine Kultur der Sichtbarkeit, der gegenseitigen Darstellung und des Ausdrucks, die endlos wiederholt wird, um ständig in der eigenen Identität anerkannt zu werden. Es geht darum, sich ständig in seinen ästhetischen, relationalen und existentiellen Entscheidungen bestätigen zu lassen.«37 In dieser Beziehung zu Marken finden wir die oben erwähnte doppelte Dimension der Gabe wieder. Zunächst einmal die Dimension der zwischenmenschlichen Beziehung. »Die Beziehung zwischen einem Verbraucher und einer Marke zielt zweifellos vor allem darauf ab, ihn zu binden, denn die in Form einer Gabe konzipierte soziale Bindung verpflichtet und hat über den Warentausch hinaus Bestand«, schließt François Gauthier.38 Es gibt aber auch eine Dimension von Gegebenheit und Hingabe. Am Ende einer sehr interessanten Studie über die Beziehung junger Menschen zu den Marken schreibt die kanadische Soziologin Jocelyn Lachance: »Sich am Konsumismus zu beteiligen bedeutet, Zugang zur Gnade in Form von Überfluss und Präsenz zu erhalten. Es bedeutet, Teil von etwas zu sein, Teil des Flusses der Welt. Überall sprechen Werbung und Plakate den Verbraucher als Empfänger einer an ihn adressierten Gabe an.«39 Durch die Marke wird man zum Konsumenten-Weltbürger und nimmt am universellen Fluss der Welt teil.
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Ebd., S. 150-151. Ebenso zeigen zwei Spezialisten für Marketing-Analysen, Bernard Cova und Éric Rémy, dass Marketing ebenso wie Konsum »nicht ohne einen Anteil an Gabe funktionieren kann, unabhängig davon, ob dieser als ›verflucht‹ gilt oder nicht«. Sie sehen also die Marketing-Manager der Unternehmen – oder zumindest einige von ihnen – als regelrechte Gabeunternehmer an, die letztendlich dafür verantwortlich sind, den Wert der Verbindung auf den Markt zu bringen. Vgl. B. Cova und É. Rémy, »La consommation en clé de don«, Revue du MAUSS, Nr. 44, a.a.O. Jocelyn Lachance, »Le rôle de la marque chez l’adolescent hypermoderne«, Revue du MAUSS sémestrielle, Nr. 44, a.a.O., digitale Fassung, S. 170.
10. Konsum aus der Perspektive der Gabe
Schlussfolgerung Wie wir gesehen haben, ist die Reise durch die Welt des Konsums komplex und voller Überraschungen aller Art. Zwar hat sie uns kein sicheres, schlüsselfertiges Rezept geliefert, wie wir von einem auf Konsumismus basierenden sozioökonomischen System zur – konvivialistischen oder in die Barbarei zurückgekehrten – Gesellschaft von morgen gelangen können, in der wir lernen müssen, die Hybris des Konsums aufzugeben. Aber die zu erforschende Richtung ist nicht allzu mysteriös. Sie ist eine doppelte. Ich habe hier noch nicht vom mächtigsten Anreiz zum Konsum gesprochen, denn er ist der offensichtlichste und von der klassischen Soziologie, von Thorstein Veblen40 bis Pierre Bourdieu, über Edmond Goblot41 oder Vance Packard42 , am besten analysierte: der Wunsch, sich durch Konsum mit der nächsthöheren Statusgruppe zu identifizieren. Dieser Identifikationsprozess, keeping up with the Joneses, war relativ einfach und maßvoll, solange die sozialen Hierarchien relativ klar und festgefügt waren und hauptsächlich auf Vermögens- und Einkommensunterschieden basierten. Aber, wie wir gesehen haben, sind sie inzwischen in zahlreiche soziale Rangleitern zersplittert, und es sind all diese Leitern, die wir jetzt versuchen müssen, nach oben zu klettern. Darüber hinaus stehen die modernen Gesellschaften jetzt am Ende der von Tocqueville so gut beschriebenen demokratischen Dynamik. Sie ist gekennzeichnet durch den Triumph der imaginären Gleichheit der Bedingungen. Jeder ist imaginär mit allen gleich. Doch je mehr dieses Imaginäre der Gleichheit verstärkt wird und seinen Höhepunkt erreicht, desto mehr steht es im Widerspruch zu einer beispiellosen Explosion der Ungleichheiten im globalen Maßstab. Imaginär hat jeder Anspruch auf den Lebensstandard der zwei oder drei Dutzend Milliardäre, die allein soviel wie die ärmere Hälfte der Menschheit besitzen. Diese abgrundtiefe Kluft ist ein gigantischer Frustrationsbeschleuniger. Das erste Mittel gegen die Hybris des Konsums ist daher eine erhebliche Verringerung der Ungleichheiten.
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Thorstein Veblen, Theorie der feinen Leute. Eine ökonomische Untersuchung der Institutionen, Köln/Berlin, 1958 (Theory of the leisure Class, 1899). Edmond Goblot, Klasse und Differenz, Konstanz 1994 (La Barrière et le Niveau, 1925). Vance Packard, Die geheimen Verführer, Düsseldorf 1958 (The Hidden Persuaders); Die unsichtbaren Schranken, Berlin 1962 (The Status Seekers); Die große Verschwendung, Düsseldorf 1961 (The Waste Makers); Die Pyramidenkletterer, München 1962 (The Pyramid Climbers).
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Da aber der Konsum zum Hauptmerkmal geschwächter sozialer Identitäten geworden ist, da die Beziehung zu Marken als Ersatz für unbefriedigende zwischenmenschliche Gabe/Gegengabe-Beziehungen dient und da viele von uns durch sie Zugang zu dem Gefühl erhalten, direkten Kontakt zum Leben zu haben, im Leben selbst zu sein, zur Gegebenheit und zur Hingabe, müssen wir eine Gesellschaft erfinden, in der der Reichtum der sozialen Beziehungen, die Gelegenheiten zur Begeisterung und Leidenschaft so groß sind, dass wir reichlich anderes zu tun haben, als nur daran zu denken, immer mehr zu kaufen. Eine Gesellschaft, die jedem das Gefühl gibt, immer intensiver zu leben.
11. Kunst/Gabe. Auf dem Weg zu einer bescheidenen Auffassung von Kunst
In einer Ausgabe der Zeitschrift Figures de l’art, die der Ästhetik der Gabe gewidmet ist1 , haben ihre Initiatoren und Koordinatoren, Jacinto Lageira und Agnès Lontrade, ausdrücklich versucht, anhand der Frage der Kunst »die mittelmäßige oder bescheidene Konzeption der Gabe«, die ich in diesen Begriffen mindestens seit der Veröffentlichung von Don, intérêt et désintéressement. Bourdieu, Mauss, Platon et quelques autres2 im Jahr 1994 vertrete, auf den Prüfstand zu stellen. Eine bescheidene Auffassung der Gabe zu vertreten, bedeutet, im Anschluss an Marcel Mauss davon auszugehen, dass die Gabe tatsächlich von dieser Welt ist, dass sie nicht nur möglich, sondern auch wirksam erscheint, wenn wir bereit sind, sie in all ihrer Unreinheit und Unvollkommenheit zu denken, als das Werk gewöhnlicher Männer und Frauen, und nicht nur Virtuosen. Inwieweit ist es also möglich, die aus den Analysen von Mauss und des MAUSS gezogenen Lehren auf den Bereich der Kunst auszudehnen? Das ist die Frage, die sich in aller Schärfe in dieser Ausgabe stellt, die einen Meilenstein bildet, sowohl hinsichtlich der Bedeutung der von den beiden Koordinatoren veranlassten Befragung als auch hinsichtlich der Qualität aller enthaltenen Artikel, die meiner Meinung nach ganz außergewöhnlich ist.
1
2
»Esthétique du don. De M. Mauss aux arts contemporains«, Figures de l’art, Nr. 28, Mai 2016. Mit wenigen Ausnahmen, die entsprechend gekennzeichnet sind, stehen die in diesem Kapitel zitierten Texte in dieser Ausgabe. A.a.O.
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Das Paradigma der Gabe
Erweiterung des Gabenparadigmas Im Gegensatz zu dem von J. Lageira und A. Lontrade umrissenen Projekt bestehen einige der von ihnen eingeladenen Autoren auf der grundsätzlichen Untauglichkeit der Mauss’schen Sicht der Gabe, auf das Gebiet der Kunst angewendet zu werden oder den Schwierigkeiten, die sich daraus ergeben. Die Kunst entspringe der »Gegebenheit« im phänomenologischen Sinne, allem, was aus dem hervorgeht, was ohne Ursache und ohne Subjekt vorhanden ist, der reinen konsumistischen Verschwendung im Sinne Batailles, und nicht der Reziprozität, die der Mauss’schen Gabe immanent ist. Eine solche Kritik mag legitim erscheinen, solange man bei einer sehr einfachen, zu einfachen Sicht des Gabenparadigmas stehen bleibt, die dieses auf den einfachen Gedanken einer Allianz zwischen Menschen reduziert. Zumal unter heutigen Menschen. Obwohl teilweise begründet, zeugt diese Kritik nicht von einer auch nur minimalen Kenntnis der Arbeiten des MAUSS. Denn es sei daran erinnert, dass das Gabenparadigma zeigt, wie Gesellschaften aus einem dreifachen, nicht bloß einfachen Bündnis gebildet werden: einem horizontalen, räumlichen Bündnis zwischen Kriegern, das den Übergang vom Krieg zum Frieden gewährleistet; einem longitudinalen, zeitlichen Bündnis, über die Frauen und die Gabe des Lebens, zwischen Vergangenheit und Zukunft, Vorfahren und Nachkommen, das den Übergang vom Tod zum Leben und von der Unfruchtbarkeit zur Fruchtbarkeit gewährleistet; und schließlich einem vertikalen Bündnis mit unsichtbaren Wesenheiten, Quelle des mana, des hau, von Glück oder Unglück. Quelle auch, würde man heute sagen, der Inspiration. Diese Inspiration analysierte Lewis Hyde in seinem wichtigen Werk The Gift. Imagination and the Erotic Life of Property3 , als eine Gabe an den Künstler, die er wie eine von Menschen erhaltene Gabe behandeln muss, eine Gabe, die verpflichtet, die er nicht für sich behalten kann und die er der menschlichen Gemeinschaft mit einem Plus, einem hau, zurückerstatten muss. Wie man sieht, ermöglicht bereits die einfache, von L. Hyde übernommene Mauss’sche Auffassung der Gabe als solche, eine Reihe von Aussagen über komplexe Themen zu machen, über das Religiöse und Sakrale (wie wir später sehen werden) und, warum nicht, vielleicht auch über den Bereich der Kunst. Allerdings ist es besser, mögliche Unklarheiten zu beseitigen, indem wir uns 3
L. Hyde, The Gift. Imagination and the Erotic Life of Property, a.a.O. Zum Thema der Gabe des Künstlers, siehe auch Nathalie Heinich, »Avoir un don. Du don en régime de singularité«, Revue du MAUSS semestrielle, Nr. 41, 1. Halbjahr 2013.
11. Kunst/Gabe
einerseits klar von einer allzu restriktiven Auffassung von Reziprozität lösen und andererseits den Stellenwert der Gegebenheit und des Unsichtbaren präzisieren. Das ist der ganze Zweck dieses Buches. In Kapitel 6 habe ich eine erste explizite Erweiterung des Gabenparadigmas vorgestellt, die notwendig wurde, um insbesondere eine Übereinstimmung mit allen aktuellen Care-Debatten herzustellen. Beim verallgemeinerten Gabentausch gibt A an B, der an C gibt, der an D gibt, der an A gibt. Der, um den Kreis zu schließen und zugleich von neuem zu beginnen, A ein vergleichbares Gut gibt. Im Falle der Heiratsregeln: eine Frau für eine Frau. Aber man kann und muss noch weiter verallgemeinern und an die Rückerstattung eines Gutes oder Dienstes denken, die ganz anderer Art sind als das ursprünglich gegebene, und manchmal unermessliche Gut. Das verallgemeinerte Gabenparadigma offenbart somit die Existenz einer Form von verallgemeinerter Reziprozität. Damit kann man manchen Einwänden gegen die Anwendung des Gabenparadigmas auf den ästhetischen Bereich begegnen, die geltend machen, dass bei letzterem, anders als beim »anthropologischen Geschenk«, nicht klar ist, von wem der Künstler empfängt und welchen konkreten Personen er gibt. Zumindest kann man sagen, dass er von allen vorherigen künstlerischen Generationen empfängt und dass er denjenigen seiner menschlichen Schwestern und Brüder gibt, die bereit sind, etwas von ihm anzunehmen, denn hier, wie bei der anthropologischen Gabe, ist es letztlich der Empfänger, der den Geber macht, indem er die Gabe als solche anerkennt. Aber wir müssen noch weiter gehen und uns fragen, was die Gabe gibt. Anerkennung, gewiss. Nützliche oder überflüssige Dinge, kein Zweifel. Auch Pflege und Wohlwollen. Freundschaft. Aber, und hier liegt der Anschluss zu einem Teil des phänomenologischen oder theologischen Anliegens, indem wir es von seinen mystischen und aporetischen Bestandteilen befreien, sie fungiert nur dann voll und ganz als Gabe, wenn sie sich als Gabe von mehr Leben oder Energie äußert, als etwas, das die Leidenschaften, Affekte und Gefühle beflügelt, als Weg zu Gnade, Anmut, Charisma, Schönheit, Güte, zum mehr als Nützlichen, zum richtigen Rhythmus, zur Eurythmie usw. Es reicht daher nicht ganz aus, hier von einem Bündnis mit unsichtbaren Wesenheiten zu sprechen, die als Doppelgänger von Personen, menschlichen oder tierlichen, gedacht werden, denn dann würden wir noch zu sehr im alleinigen Register des Politischen befangen bleiben. Es ist besser, ganz allgemein von einer Form der Kommunikation mit dem Unsichtbaren und darüber hinaus mit dem Kosmos zu sprechen. Es gibt also keinen wirklichen Grund, sich zwischen einem Denken der Gabe, als Mittel und Medium des Bündnisses, und einem Den-
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ken der Gegebenheit zu entscheiden, keinen Grund, das eine auf das andere zu reduzieren, indem man einen der beiden Pole im anderen auflöst. Vielmehr müssen wir an eine unbestimmte, sich ständig verändernde Verbindung zwischen Gabe und Gegebenheit denken – die Tatsache, dass es etwas gibt statt nichts, ein etwas, das zwar da ist, uns aber von keinem identifizierbaren Subjekt gegeben wurde –, wenn wir diese Kategorie der Gegebenheit verwenden, um alles zu bezeichnen, was vom Unsichtbaren oder zumindest vom Ungesehenen und Unbemerkten ausgeht. Vom Unbewussten, würden die Psychoanalytiker sagen.4 Die Frage nach dem Status der Kunst in Bezug auf das Gabenparadigma muss uns dazu führen, diesen Weg eines Zusammendenkens von Gabe und Gegebenheit im Rahmen eines verallgemeinerten Gabenparadigmas entschlossen zu beschreiten.
Auf dem Weg zu einer bescheidenen Auffassung von Kunst: von der Gabefähigkeit Wir müssen versuchen, im Rahmen dieses verallgemeinerten Gabenparadigmas Überlegungen zum Status von Kunst und Ästhetik und natürlich speziell zu ihrem Verhältnis zur Gabe anzustellen.5 Und man ahnt, da dieses Paradig4
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Ich schrieb in Don, intérêt et désintéressement: »Was den Wert einer Gabe über ihren materiellen Nutzen, ihren Zeichenwert und sogar über ihren Wert als Bindeglied hinaus ausmacht, ist die Tatsache, dass sie eine Dimension der Gegebenheit symbolisiert, dass sie eine Teilhabe am Universum des Grundlosen, des Unbedingten, des Lebens selbst bestätigt«, Don, intérêt et désintéressement, a.a.O., 2005, S. 282. Wobei es notwendig sein wird, sich von den wertvollen Analysen inspirieren zu lassen, die Damien de Callataÿ in der genannten Ausgabe von Figures de l’art präsentiert, über die chiasmatische Beziehung, die zwischen dem besteht, was er Werke der Güte und Werke der Schönheit nennt, auch wenn einige von ihnen diskussionswürdig sind: »Schönheit schmückt; Güte repariert. Schönheit ist ohne Warum; Güte ist zum Wohle der anderen. Das Kunstwerk exponiert sich, die Gabe drängt sich auf. Das Kunstwerk wird frei angeboten; die Gabe wird mit der Verpflichtung zur Annahme angeboten. Das Kunstwerk wendet sich an alle; Gaben sind nur für ihre Empfänger bestimmt. Das Kunstwerk erfordert die Aufmerksamkeit anderer, um wahrgenommen zu werden; die Gabe erfordert die Aufmerksamkeit des Gebers für andere, um durchgeführt zu werden. Das Kunstwerk hat eine singuläre Form; die Gabe hat eine banale Form. Das Kunstwerk als solches existiert nur, wenn es wahrgenommen wird; die Gabe drängt ihre Präsenz auf. Das Kunstwerk impliziert Verbindungen mit den Dingen der Welt; die Gabe impliziert Verbindungen mit anderen. Das Kunstwerk produziert Bedeutung, indem es das Unaussprechliche zum Ausdruck bringt; die Gabe produziert Bedeutung,
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ma versucht, eine bescheidene Sicht der Gabe vorzugeben, dass es zu einer bescheidenen Auffassung von Kunst führen müsste. Ich gestehe, dass ich mir nicht sicher bin, wie das aussehen könnte. Hier tut sich eine riesige Baustelle auf. Ich werde mich daher damit begnügen, einige schwache und unsichere Intuitionen oder Hypothesen vorzustellen. Vielleicht könnte man zunächst einmal sein Erstaunen darüber äußern, dass das Denken von Hannah Arendt, zu dem das Gabenparadigma viele Affinitäten aufweist, uns nichts über die Kunst sagt. Ihre berühmte, zu scharfe und zu dichotome (oder trichotome) Unterscheidung zwischen den drei Arten menschlicher Tätigkeit, Arbeit, Herstellen und Handeln, gibt uns eigentlich nichts an die Hand, um die Komplexität unserer Gesellschaften zu denken und den Standort der Kunst zu bestimmen. Es gäbe also auf der einen Seite die Arbeit, die sich auf die Reproduktion des biologischen Lebens beschränkt, dann das Herstellen, durch das dauerhafte Objekte in das menschliche Gedächtnis eingefügt werden, und schließlich das Handeln, das es den Menschen ermöglicht, etwas ganz Neues entstehen zu lassen, indem sie ihre Einzigartigkeit innerhalb einer menschlichen Gemeinschaft zur Schau stellen (Selbstdarstellung). Eines der Probleme, das diese Typologie aufwirft, besteht darin, dass das Herstellen von Arendt weitgehend im Register des Handwerks und damit des Nützlichen und der Zweck-Mittel-Relation gedacht wird. Kunst, wenn wir an dieser Typologie festhalten und sie gleichzeitig erweitern wollen, entspringt hingegen dem, was im Herstellen über den Bereich des Handwerklichen, des Nützlichen und des Funktionalen hinausgeht und dementsprechend die im Herstellen vorhandene Dimension des Handelns, den Anteil an Erfindungsreichtum und Einzigartigkeit zum Ausdruck bringt.
indem es auf latente Wünsche reagiert. Das Kunstwerk wird unabhängig von seinem Urheber; die Gabe bleibt so lange mit dem Urheber verbunden, wie der Begünstigte seine Schuld nicht beglichen hat. Das Kunstwerk ist wertvoll durch seine ästhetische Qualität; die Gabe ist wertvoll durch die Menge der befriedigten Bedürfnisse. Die Freude an einem Kunstwerk erfordert die aktive Teilnahme der Person, die es rezipiert; die Freude an einer Gabe wird passiv erlebt. Die Freude, die ein Kunstwerk hervorruft, wird durch sein Teilen mit anderen erhöht; die Freude, die eine Gabe hervorruft, erschöpft sich in ihrem Konsum.« (D. de Callatataÿ, »Les oeuvres de beauté et les œuvres de bonté«, S. 226) Die von D. De Callataÿ vorgeschlagene Unterscheidung zwischen Werken der Güte und Werken der Schönheit verweist auf eine allgemeinere Unterscheidung zwischen der Gabe, die eine Frage der Großzügigkeit ist, und der Gegebenheit oder Kreativität, die eine Frage der Generativität sind.
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In vielerlei Hinsicht gehört das Arendt’sche Handeln zur gleichen Ordnung wie die Mauss’sche Gabe. Beide unterbrechen die Wiederholung desselben und lassen ein radikal neues, unerwartetes, weil der Ordnung der Gründe, Ursachen oder eingeführten Interessen entzogenes Ereignis entstehen. Ein Gutteil der zeitgenössischen politischen Philosophie oder Soziologie vertritt die Ansicht, dass gute Politik diejenige ist, die es der größten Zahl von Menschen ermöglicht, ihre »Handlungsmacht« (nach Spinozas Formel), ihre agency, wie es heute heißt, durch die Entwicklung ihrer Fähigkeiten (capabilities) auszuüben. Die beste Übersetzung von agency ist wahrscheinlich »agentivité« (Handlungsfähigkeit). Aber wegen der engen Verbindung, die ich zwischen Gabe und Handeln sehe, und um die eigentlich ästhetische Dimension des Handelns besser zu definieren, schlage ich vor, als allgemeines politisches Ziel die Entwicklung der »Gabefähigkeit« (donativité) einer möglichst großen Zahl von Menschen zu benennen. Somit bleibt noch, die Besonderheit der künstlerischen Gabefähigkeit zu analysieren. Vielleicht können wir mit ihrer Definition beginnen, indem wir annehmen, dass sie alle Ausdrucksformen der Singularität des Selbst betrifft, die über den gegenseitigen Austausch von Worten oder die Bereitstellung nützlicher Gegenstände und Dienstleistungen hinausgehen und die darauf abzielen, sich selbst und anderen Affekte oder Empfindungen zu vermitteln, und zwar durch die Produktion materieller Objekte, die nicht auf ihre Funktionalität reduzierbar sind: Bilder, Töne, Bewegungen, Gesten, aber auch Worte, sobald sie aus dem Register des bilateralen Austauschs heraustreten und an ein unbestimmtes Publikum gerichtet werden, das nicht gezwungen ist, auf sie zu reagieren. In all diesen Registern wird die Gabefähigkeit grundsätzlich um ihrer selbst willen angestrebt und nicht wegen der nützlichen Wirkungen, die sie erbringen kann, angefangen mit dem Einkommen aus dem Verkauf des Werkes oder der Leistung. Sie ist an sich Quelle des Vergnügens für denjenigen, der sich ihr hingibt, in der Hoffnung, dass sie auch zu einer Quelle des Vergnügens für diejenigen wird, die sie empfangen, ihre Äußerungen hören oder betrachten. Um eine in Don, intérêt et désintéressement getroffene Unterscheidung aufzugreifen, überwiegt in der Kunst der Anteil, den das Interesse für, das leidenschaftliche Interesse, einnimmt, den Anteil, den das Interesse an, das instrumentelle Interesse, einnimmt. Durch diese Dominanz des Interesses für gegenüber dem Interesse an vollzieht sich der Umschlag von der handwerklichen Arbeit zur künstlerischen Tätigkeit, auch wenn in die gut gemachte Arbeit des Handwerkers ein offensichtlicher Anteil an ästhetischem Vergnügen
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eingeht und umgekehrt die vollendete künstlerische Tätigkeit einen großen Teil an repetitiver, mühseliger und handwerklicher Arbeit beinhaltet. Dasselbe gilt auch für das Spiel, mit dem, wie wir unter Bezug auf Johan Huizingas bewundernswerten Homo ludens gesehen haben, Kunst und Kultur mehr als eng miteinander verbunden sind, da sie vom Spiel und dem Geist des Spiels ausgehen. Umgekehrt können wir die eigentlich künstlerische Dimension des Spiels oder Sports klar erkennen. Manche Sportlerinnen und Sportler müssen als wahre Künstler angesehen werden. Ob man nun an einen McEnroe oder einen Federer im Tennis, einen Platini, einen Zidane oder einen Messi im Fußball usw. denkt. Wir könnten sogar zeigen, dass eines der zentralen Themen des Sports, dasjenige, das weltweit die bekannten Emotionen auslöst, dasjenige, das ein Spektakel spannend macht, der Kampf zwischen Künstlern und Arbeitern oder Handwerkern ist: zwischen denjenigen, die ihre Aufgaben perfekt erfüllen, sich konsequent an die Ratschläge oder Anweisungen des Trainers halten, die mit einem Wort das tun, was von ihnen verlangt wird, und den Künstlern, denjenigen, die das Unerwartete ins Spiel bringen, das alle festgelegten Pläne durcheinanderbringt, der inspirierte Absatzkick oder Hechtsprung, die unvorstellbare Ballannahme, der unfassbare Aufschlagreturn usw., die alle Zuschauer vor Begeisterung von den Sitzen reißen. Diese Dominanz des Interesses für über das Interesse an (intrinsischen gegenüber extrinsischen Motivationen, sagen Ökonomen heute) ist nicht allein den Künstlerinnen und Künstlern vorbehalten. Sie kann und sollte in allen Lebensbereichen, einschließlich der Arbeit, zum Ausdruck kommen. In Anlehnung an Nietzsches Formel, die Michel Foucault zu seiner Analyse der Selbstsorge inspirierte, liegt es an jedem Menschen, sein Leben zu einem Kunstwerk zu machen. Und zwar nicht so sehr im Hinblick auf das »Werden, was man ist«, was voraussetzen würde, dass man eine klar definierte Existenz, ein gesichertes Selbst hat, bevor man wird, sondern vielmehr, um endlich das zu sein, was man wird6 , offen für die Zukunft, d.h. für das Arendt’sche Handeln oder die Mauss’sche Gabefähigkeit. Wenn man sich in diese Richtung bewegt, muss man über die Möglichkeit nachdenken, die Trennung zwischen Künstlern und gewöhnlichen Männern und Frauen zu überwinden, wie es sich viele Kunstströmungen des zwanzigsten Jahrhunderts vorgenommen haben. Aber überwinden bedeutet nicht beseitigen oder abschaffen. 6
Vgl. Elizabeth Conesa, »Être ce que l’on devient«, Revue du MAUSS semestrielle, Nr. 38, 2. Halbjahr 2011.
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Es ist bekannt, dass die Gabe, nach M. Mauss, das Beste oder das Schlechteste aller Dinge sein kann. Mehrdeutig, ambivalent. Gift/Gift, Gabe oder Gift, was Leben schenkt oder tötet. Je nachdem, wie sie gegeben, angenommen oder erwidert wird, ist sie entweder wohltuend oder unheilvoll. Unheilvoll insofern, als sie nur darauf abzielt, die Überlegenheit des Gebers gegenüber dem Empfänger zu demonstrieren und diesen zu einem »Verpflichteten« zu machen, der nicht in der Lage ist, die empfangene Gabe gleichwertig zu erwidern. Von dem Moment an, in dem die Gabe das horizontale Register der einfachen oder allgemeinen Reziprozität zwischen Gleichgestellten verlässt, wird sie zu einem Medium wechselseitiger Herrschaft und Unterwerfung. Alle Hierarchien werden durch die Monopolisierung der Macht des Gebens, der Gabefähigkeit hergestellt. Wir können daher die außerordentliche Zweideutigkeit der Gestalt des Künstlergenies verstehen, das ebenfalls beansprucht, allein, durch sich selbst und aus sich selbst, wie der oberste Monarch oder der Hohepriester, als reiner Schöpfer zu gelten, als unermesslicher, unvergleichlicher Geber einer Gabe, die niemals von jemandem erreicht und erwidert werden kann. Hier stößt man wieder auf die Anthropologie und den Wunsch, eine Gabe oder einen Potlatch zu machen, der nicht erwidert werden kann. Eine Gabe ohne Replik, sozusagen.7 Die Besorgnis über diese vom Künstler geltend gemachte Position wird in dieser Ausgabe von Figures de l’art von Leszek Brogowski gut zum Ausdruck gebracht, der in ihr das Gegenteil des »gelungenen Gesprächs« nach HansGeorg Gadamer sieht. Das Gegenteil, könnte man auch sagen, einer gelungenen Gabebeziehung: L. Brogowski schreibt: »Der Künstler nimmt in der Regel die Position des Gebers ein, der so sehr darauf bedacht ist zu geben, dass er Gefahr läuft, nicht nur den Empfänger, sondern auch andere potenzielle Geber zu vernichten. Mit anderen Worten: Er gibt, ohne zu empfangen; er spricht, ohne zu hören, was ihn außerhalb
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Wir können hier nur auf die schönen Analysen von Bruno Viard in Les Poètes et les Économistes, Paris 2004, verweisen, die deutlich zeigen, wie ein gewisser, im neunzehnten Jahrhundert entstandener Kult des Künstlers mit dem triumphierenden Ökonomismus einhergeht. »Was Poesie und Ökonomie indes gemeinsam haben«, schreibt er, »ist die Verherrlichung. Die eine verherrlicht das Opfer, die andere das Interesse«. Das ist genau die gleiche Struktur, die wir in dem scheinbaren Gegensatz und der stillen Übereinkunft zwischen der von mir so genannten sakrifzialistischen und der ökonomistischen Auffassung der Gabe wiederfinden.
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der Sphäre des wirklichen Austauschs stellt. Der Künstler gibt, der Zuschauer empfängt: Es ist eine Einwegübertragung. […] Ich stelle also die Hypothese auf, dass dieses ganze kohärente Set von ästhetischen Konzepten – des Genies, des Werkes, der Schöpfung, der göttlichen Inspiration usw. – dahin gelangt ist, diese Praktiken des Exzesses, dieses Strebens nach Prestige und Ruhm unter dem Deckmantel von Großzügigkeit, zwecklosen Ausgaben oder Verschwendung begrifflich und politisch zu legitimieren. Die ästhetische Theorie war ihr Alibi; sie ist es immer noch hinsichtlich der Exzesse des Kunstmarktes.«8 Einer derart überzogenen Auffassung von Kunst und Künstler muss man in der Tat eine bescheidene Auffassung der Gabe wie der Kunst entgegensetzen. Es ist jedoch nicht möglich, der Frage der künstlerischen Begabung auszuweichen, die Lewis Hyde in seinen Überlegungen zum Verhältnis von Gabe und Kunst stellt. Es reiche nicht aus, so Hyde, bei der Analyse von Mauss in seinem kurzen Text Gift/gift stehen zu bleiben, bei der doppelten Bedeutung des Wortes Gabe in den altgermanischen Sprachen, Gabe und Gift, es müsse noch eine dritte grundlegende Bedeutung berücksichtigt werden, nämlich diejenige, die sich auf die Gabe eines Talents bezieht. Auf die Begabung für Mathematik oder Tanz oder Fußball oder Malerei oder Musik usw. Es ist leicht, die Gründe zu verstehen, aus denen sich Agnès Lontrade veranlasst sieht, in derselben Ausgabe der ganzen Rhetorik der künstlerischen Begabung so sehr zu misstrauen, Gründe, die sich mit den Kritiken an der Haltung des genialen Künstlers überschneiden, die wir gerade in der Formulierung von L. Brogowski kennen gelernt haben. So schreibt A. Lontrade: »Die These von der Inspiration und der angeborenen Gabe zur Schöpfung beinhaltet zwei Probleme: einerseits die Idee, dass der Künstler uneigennütziger wäre als der Rest der Menschheit und auf magische Weise eine Gabe empfangen würde, nicht in einem horizontalen, sondern in einem vertikalen und göttlichen Sinne; andererseits die Idee, dass die Schöpfung vor allem eine selbstbezügliche Sache sei, eine spirituelle Notwendigkeit, ohne die konkrete Absicht, den anderen anzusprechen, auf der Ebene des unkritischen und unpolitischen Hedonismus.«
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L. Brogowski, »Conditions de possibilité du don et extension du domaine de son économie«, in Figures de l’art, Nr. 2, 2016, S. 159-160.
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Und sie fügt, als Kritik an manchen Formulierungen von Jacques Godbout, hinzu: »Man kann also nicht ohne gewisse Schwierigkeiten behaupten, dass ›die Inspiration zu Werken führt, in denen der Künstler nur ein Instrument der von ihm empfangenen Gabe ist‹, noch kann man heute voll und ganz an einer mystischen Kunstauffassung festhalten, nach der ›die schöpferische Erfahrung die Trance und all jene ekstatischen Erfahrungen der Kommunikation mit einer anderen Welt ersetzt, die in allen Gesellschaften existieren‹.«9 Ich teile die Beweggründe für diese Kritik und gestehe zu, dass diese Formulierungen von J. Godbout in der Tat einigermaßen problematisch sind. Ich glaube jedoch nicht, dass wir darauf verzichten können, die ungleiche Qualität künstlerischer Produktionen anzuerkennen und sie nur einem bestimmten Arbeitsaufwand oder einem besonderen Maß an Aufmerksamkeit und Ernsthaftigkeit zuzuschreiben, das im Übrigen auch Gegenstand der Analyse sein müsste. Um zu erklären, warum einige Künstler und Künstlerinnen uns ansprechen und uns zutiefst berühren, braucht man nicht die Gabe der Musen oder irgendeiner Gottheit heraufzubeschwören, aber wir müssen zugestehen, dass einige, jenseits all der Mühen und des handwerklichen Könnens, das sie aufgewendet haben, stärker in den Genuss der Gnade gekommen zu sein scheinen als andere. Dass sie mehr am Universum der Gegebenheit und der Gabefähigkeit teilhaben. Diese Feststellung sollte uns dazu veranlassen, alle die im 20. Jahrhundert zahlreichen Projekte, die Distanz zwischen Kunst und Leben, zwischen Künstlern und Nicht-Künstlern abzuschaffen, mit Misstrauen zu betrachten. Denn ein solches Projekt droht ständig, im performativen Widerspruch zu enden, wenn die Kunst, wie das Spiel, tatsächlich durch ihre strukturelle Distanz zum Alltagsleben und zum Bereich der Arbeit am Nützlichen und Funktionalen gekennzeichnet ist. Zu wollen, dass alle gewöhnlichen Menschen zu jeder Zeit Künstler seien, läuft auf den Wunsch hinaus, dass sie ständig dem gewöhnlichen Leben entfliehen und in einen gesonderten Bereich eintreten, der es dann nicht mehr wäre. Hier erkennen wir die mächtige hyperbolische Versuchung, die z.B. Georges Bataille in umgekehrter Richtung so gut zum Ausdruck gebracht hat, alle Gegensätze – Interesse und Uneigennützigkeit, Verpflichtung und Freiheit – umzukehren, indem man sie jeweils über ihre
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A. Lontrade, »Le sentiment de soi et d’autrui«, a.a.O., S. 180.
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Grenzen hinaustreibt. Die Unterwerfung unter die Pflicht soll durch Überschreitung und Perversion in absolute Freiheit verwandelt werden. Das Nützliche soll sich in einen radikalen Anti-Utilitarismus verwandeln, der nur noch Konsum und reine Verschwendung kennen will. In diesem Prozess erlangt das Subjekt durch Lösung von sich selbst die absolute Souveränität und erreicht so den höchsten Nutzen, da es allein genießt, wie Lacan später sagen wird. Hier stoßen wir wieder auf die Position des Künstlers, der alle seine möglichen Empfänger durch das Übermaß seines Aufwandes vernichtet und dessen wahres Werk letztlich nur dieses Übermaß Wert besitzt. Wir wollen kurz auf den Status des bescheidenen Gabenparadigmas zurückkommen, um deutlich zu machen, dass es seine volle Bedeutung erst durch seinen relativen Gegensatz zu den beiden großen Traditionen annimmt, die das Erbe von Mauss beanspruchen und es, wie mir scheint, verraten: die Tradition des romantischen und hyperbolischen Erbes, vermittelt durch Bataille einerseits, und die szientistische Tradition, die vom Levi-Strauss’schen Strukturalismus so gut verkörpert wird, andererseits.10 Gegen den strukturalistischen Szientismus müssen wir all das geltend machen, was zur Subjektivität gehört, zum »Kampf der Menschen« (wie Claude Lefort es formulierte), zur Geschichtlichkeit, zum Politischen und zur Dichte des sozialen Gewebes – und zur Gegebenheit. Gegen den Hyperbolismus ist es notwendig, die gewöhnliche Existenz gewöhnlicher Menschen und gewöhnlicher Künstler, auch der größten, geltend zu machen, deren Werk nicht durch die bloße permanente Überschreitung und die schizophrene oder perverse Haltung Wert besitzt, sondern durch die Annahme eines überlieferten Erbes, durch die Eingliederung in eine Geschichte und eine Tradition, durch die Anerkennung einer zu begleichenden Schuld in einem stets neu zu findenden Gleichgewicht zwischen narzisstischem und/oder finanziellem Eigeninteresse und der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft und zwischen der Achtung eines Gefühls der Verpflichtung, am Universum der Gegebenheit teilzunehmen, in dem Freiheit und Kreativität ihren Ursprung haben. Sicherlich ändert sich die Definition des Künstlers mit jeder historischen Periode oder in jeder Kultur und begünstigt den einen oder anderen dieser vier Pole. Zum Beispiel durch das Beharren auf der Forderung nach Anpassung an eine herrschende ästhetische Norm oder durch die Reduzierung des Künstlers auf den Status des nützlichen Handwerkers. Oder 10
Die Lacan’sche Psychoanalyse versuchte, den unmöglichen Platz einzunehmen, der erlauben würde, die beiden zusammenzuführen.
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indem man ihn auffordert, zuerst für die Gemeinde, die Kirchen, Paläste oder kommunale Gebäude zu produzieren, deren Größe gepriesen werden muss. Oder aber, indem man nur das absolute schöpferische Genie, die reine Freiheit des Künstlers, verherrlichen will. Aber auf lange Sicht setzt der Fortbestand eines Kunstfeldes voraus, dass eine gewisse Balance zwischen diesen vier Geboten gefunden wird. Diese Klarstellungen sind wichtig, um die Kluft zu erfassen, die zwischen einer möglichen Mauss’schen Kunstauffassung, die noch gänzlich zu definieren ist, und den radikalen Konzeptionen des Lettrismus oder frühen Situationismus besteht, die vorgaben, von Mauss und dem Essay über Die Gabe inspiriert zu sein, woran uns Stéphane Massonet oder Frédéric Alix auf sehr instruktive Weise erinnern. Isidore Isou und Guy Debord, Hauptprotagonisten der Avantgarden nach dem Zweiten Weltkrieg, versuchten, so F. Alix, »im Kontext der 1950er Jahre theoretische und praktische Instrumente zu entwickeln, um am Sturz der Werte einer Gesellschaft teilzunehmen, die sie heftig verurteilten«. Besonders hervorzuheben ist die Verbindung der Lettristischen Internationale mit dem von Marcel Mauss definierten und von Georges Bataille erweiterten Konzept des Potlatch. Potlatch hieß im Übrigen die erste Zeitschrift, die Guy Debord in der Nachfolge von Isidore Isous Lettristischer Internationale gründete. Die vier gemeinsamen Merkmale dieser Denkströmungen sind: • • • •
die Infragestellung der Kunst als »getrennte« und spezialisierte Sphäre; die Ablehnung der von Henri Lefebvre kritisierten passiven Haltung des »Zuschauers«; die Abschaffung des privilegierten Status des Künstlers; die Ablehnung der Dauerhaftigkeit als Synonym für Konservatismus.11
G. Debord formulierte sein Projekt folgendermaßen: »Das Ziel der Lettristischen Internationale ist die Schaffung einer leidenschaftlichen Stuktur für das Leben. Wir experimentieren mit Verhaltensweisen, Formen von Dekor, Architektur, Urbanismus und Kommunikation, die geeignet sind, anziehende Situationen hervorzurufen.«12 11 12
F. Alix, in »Le lettrisme et l’internationale lettriste«, S. 108. »La ligne générale«, Potlatch, Nr. 14, 30. November 1954, in Potlatch 1954-1957, Paris 1996, S. 51. Zitiert von F. Alix, in »Le lettrisme et l’internationale lettriste«, a.a.O., S. 114 [hier zitiert nach Guy Debord präsentiert Potlatch, Berlin 2002, S. 73].
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»[Aus diesem Grund strebt die situationistische Kultur] natürlich eine kollektive und zweifellos anonyme Produktion an. Gegen die einseitige Kunst wird die situationistische Kultur eine Kunst des Dialogs und gegenseitigen Beeinflussung sein. Es ist jetzt schon so weit, dass die Künstler (und mit ihnen die ganze sichtbare Kultur) von der Gesellschaft vollkommen getrennt sind, wie sie auch untereinander durch Konkurrenz getrennt werden. Aber schon vor dieser Sackgasse des Kapitalismus war die Kunst im Wesentlichen einseitig und ohne Reaktion. Sie wird über diese abgeschlossene Ära ihres Primitivismus zugunsten einer vollständigen Kommunikation hinausgehen. Da jeder zum Künstler auf einer höheren Ebene wird – d.h. auf untrennbare Weise zugleich zum Produzenten und Konsumenten einer totalen kulturellen Schöpfung – wohnt man einer schnellen Auflösung des linearen Wertmessers der Neuheit bei. […] Wir führen jetzt das ein, was historisch der letzte Beruf sein wird. Die Rolle des Situationisten, des Berufsamateurs, des Anti-Spezialisten bleibt noch eine Spezialisierung bis zur Zeit des ökonomischen und geistigen Überflusses, in der jeder zu einem solchen ›Künstler‹ wird, wie es den Künstlern nicht gelungen ist – für die Konstruktion seines eigenen Lebens.«13 Wir bemerken hier das bereits erwähnte Streben nach Abschaffung der Trennung von Künstlern und Nicht-Künstlern und nach einer »vollständigen Kommunikation«. Man wäre fast versucht zu lesen: »nach einer vollständigen Kommunion«. Aber ein anderer Satz ist überraschend zweideutig: »Da jeder zum Künstler auf einer höheren Ebene wird – d.h. auf untrennbare Weise zugleich zum Produzenten und Konsumenten einer totalen kulturellen Schöpfung – wohnt man einer schnellen Auflösung des linearen Wertmessers der Neuheit bei.« Man könnte das als eine im Grunde willkommene Kritik am Kult der Neuheit um jeden Preis interpretieren, an der Aufforderung zur permanenten und ununterbrochenen künstlerischen Revolution. Aber das ist offensichtlich nicht so gemeint. So erfahren wir von F. Alix: »Isou verweigert in der Tat die Dauerhaftigkeit. Er möchte an der Zerstörung all dessen teilhaben, was eine Frage der Dauer, der Einschreibung in eine Tradition, einer Gewohnheit, einer Mode ist.« Dieser Hass auf alles Feststehende, fügt
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»Manifeste« du 17 mai 1960, Internationale situationniste, Nr. 4, Juni 1960, S. 37-38, in Bulletin de l’Internationale situationniste 1958-1969, Nr. 1-12, Paris 1997, S. 145-146. Zitiert von F. Alix, a.a.O., S. 115 [hier zitiert nach Situationistische Internationale 1958-1969, Band 1, Hamburg 1976, S. 154].
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er hinzu, findet sich auch im Bulletin der Situationistischen Internationale wieder, sehr gut zum Ausdruck gebracht von Constant Nieuwenhuys: »Der heutige Künstler tritt einer absoluten kulturellen Leere entgegen – keine Ästhetik, keine Moral, keine Lebensweise. Alles muss erfunden werden. In dieser schwierigen Lage verfügt er über eine große Kraft – und zwar darüber, dass er das Vorübergehende akzeptiert und das Leben als durch die Vergänglichkeit der Zeit begründet versteht. Unser wesentliches Schöpfungsbedürfnis kann nur durch dieses neue Verhalten befriedigt werden. Indem wir auf die festgesetzte Form verzichten, gewinnen wir alle Formen, die wir erfinden und dann verwerfen. […] Diese neue Haltung setzt auch voraus, dass wir auf das Kunstwerk verzichten. Uns interessiert die ununterbrochene Erfindung – die Erfindung als Lebensweise. Die individuellen Künste waren mit einer idealistischen Haltung, mit der Suche nach dem Ewigen verbunden.«14 Wie man sieht oder ahnt, besteht der wahre Horizont, das wahrscheinliche Ergebnis einer solchen Auffassung nicht so sehr darin, jedem zu ermöglichen, tatsächlich zum Künstler zu werden, sondern mindestens eine radikale Umwälzung aller Kriterien zu bewirken, die das Feld der Kunst bisher definiert haben, jenseits ihrer vielfältigen historischen Variationen und möglicherweise ihr schlichtes Verschwinden, wie S. Massonet bemerkt.15 Wir müssen uns allerdings hüten, vorschnell zu urteilen. In dieser Position liegen sowohl die Keime eines umgekehrten Totalitarismus wie einer wirksamen Demokratisierung der künstlerischen Praxis.
14
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Constant Nieuwenhuys, »Première proclamation de la section hollandaise de l’I.S.«, Internationale situationniste, Nr. 3, Dezember 1959, S. 30-31, in Bulletin de Internationale situationniste, 1958-1969, a.a.O., S. 98-99 [hier zitiert nach Situationistische Internationale 1958-1969, Band 1, Hamburg 1976, S. 105-106]. Wie S. Massonet zeigt, war sich Roger Caillois, eine Zeitlang Weggefährte von Bataille am Collège de sociologie, der nihilistischen Tendenz, die diese ganze Denkrichtung inspirierte, durchaus bewusst. Er versuchte, mit Hilfe einer erstaunlichen Öffnung zum Kosmos, eine ganze Ästhetik zu begründen. Eine Position, die, wie S. Massonet erklärt, Cailloisʼ verallgemeinerte Ästhetik dazu führt, »die Werke der Natur strukturell als eine allgemeine Figur zu betrachten, in der sich die Tätigkeit des Menschen ohne Privileg oder Ausnahme einfügt. Wenn er also natürliche Formen wie Schmetterlingsflügel betrachtet, vergleicht er sie gerne mit abstrakten, von der Natur geschaffenen Gemälden, die, genau wie die vom Menschen geschaffenen abstrakten Gemälde, keinen besonderen Nutzen haben.« Stéphane Massonet, »L’agonistique comme condition esthétique du don«, a.a.O., S. 95.
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Umgekehrter Totalitarismus Die Botschaft, die Isidore Isou und Guy Debord im Gefolge von Bataille, aber natürlich auch von Duchamp übermitteln und die einen deutlichen Einfluss auf viele Realisierungen der zeitgenössischen Kunst hat, ist in der Tat zutiefst zweideutig. Eine Zweideutigkeit, deren Status es richtig zu verstehen gilt. Das Streben nach Kommunikation, ja nach totaler Kommunion, hat starke Anknüpfungspunkte an das totalitäre kommunistische Trugbild, jede Trennung zwischen Hand- und Kopfarbeit aufzuheben, um so den vollendeten Kommunismus zu erreichen. Sie ist also ein gewisses totalitäres Bestreben, das in den Schriften von Isou, Debord oder Constant zum Ausdruck kommt. Doch gleichzeitig nimmt es eine umgekehrte Entwicklung zu der der klassischen Totalitarismen. Für letztere musste die Kunst dazu dienen, die unauflösliche Einheit von Proletariat, Rasse oder Staat zu festigen, indem sie allen unmittelbar zugänglich war durch ihre geforderte Anpassung an die geltenden ästhetischen Kanons und durch ihre Unterordnung unter die Weisungen der machthabenden Partei. Im Falle des Lettrismus oder Situationismus, aber auch eines Teils der zeitgenössischen Kunst, geht es im Gegenteil darum, diese Einheit durch einen Frontalangriff auf alle instituierten Mächte und das Bestehende zu suchen. Sie zu untergraben oder überschreiten durch eine permanente Innovation, die zum Selbstzweck geworden ist. Man darf sich fragen, ob diese inzwischen weitgehend banal gewordene Konzeption nicht weit davon entfernt ist, zu einer wirklichen Demokratisierung der Kunst beizutragen, und stattdessen nicht im Rahmen eines spekulativen FinanzNeoliberalismus zum Aufkommen einer Art umgekehrten Totalitarismus beiträgt. Damit stellt sich natürlich die Frage nach der Definition der Demokratie selbst. Ein großes Thema, das wir hier klären wollen, indem wir annehmen, dass es, wie auch immer man es betrachtet, keine lebensfähige Demokratie gibt, die nicht auf der Aussicht auf ein gewisses Gleichgewicht zwischen kollektiver Freiheit und individuellen Freiheiten beruht. Zwischen dem Gefühl der Teilnahme und Teilhabe an einem gemeinsamen politischen Schicksal und der Hoffnung auf individuelle Erfüllung. So gesehen können die Totalitarismen von gestern (und der radikale Islamismus von Al-Qaida von heute) als Entartungen der Demokratie analysiert werden, die zur Liquidierung der individuellen Freiheiten zugunsten einer zugespitzten und mörderischen Fantasie kollektiver Freiheit führen. Der Einzelne sieht sich gezwungen, seine Individualität dem Aufbau eines großen imaginären Körpers zu opfern,
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dem des Proletariats, der Rasse, der Gemeinschaft der Gläubigen oder des Staates. Doch selbst mit dem relativen Sieg der populistischen Parteien ist diese Gefahr in Europa noch nicht wirklich erkennbar.16 Diese Gefahr einer Rückkehr des gleichen Grauens. Aber vielleicht müssen wir uns einer anderen Gefahr stellen, die noch wenig wahrgenommen wird und, obwohl weniger mörderisch, genauso groß, wenn nicht größer ist. Sie besteht darin, dass unsere Gesellschaften in eine neue Gesellschaftsform unschlagen, oder seit geraumer Zeit bereits teilweise umgeschlagen sind, die als »umgekehrter Totalitarismus« bezeichnet werden kann. Oder, vielleicht genauer, »Parzellitarismus«.17 In dieser neuen Gesellschaftsform ist es die kollektive Freiheit und damit das Politische, das zugunsten der alleinigen individuellen Freiheiten geopfert wird. Freiheiten, die oft illusorisch sind für die Vielen, die nicht über die notwendigen materiellen und symbolischen Voraussetzungen für ihre Verwirklichung verfügen. In den »klassischen« Totalitarismen musste alles in den großen Körper des Staates, der Rasse oder der Partei eingehen, und zwar durch ein ständiges Werk der Verschmelzung von Wissen (des großen überragenden Wissens, das der oberste Führer verkündet), Macht und Haben. Die Kunst sollte als Symbol für diese Fusion dienen. Im umgekehrten Totalitarismus wird stattdessen alles auf Parzellen reduziert, die endlos getrennt oder neu zusammengesetzt werden, je nach den Bedürfnissen des Augenblicks: Parzellen des Wissens, Parzellen von Kollektiven und Institutionen, Parzellen von Subjekten und Identitäten usw. Parzellen der Kunst und der Kunstwerke, die nach Belieben zerstückelt und wieder zusammengesetzt werden können. Zum Beispiel in Form der von Isou oder Debord modellhaft vorgeführten récupération, die so gut mit allen Formen des Postmodernismus zusammenpasst. Das einzige anerkannte Wissen ist das Expertenwissen des Augenblicks, das von den Vertretern eines spezialisierten Teilbereichs des Wissens verkündet wird; alles, was in den Bereich des Gemeinsamen und Dauerhaften fällt, wird als obszön oder veraltet betrachtet, weil das einzige, was zählt, die sich ständig ändernde Entscheidung der Individuen ist. Aber diese selbst sehen ihre
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Die erste Version dieses Textes stammt aus dem Jahr 2014. Ich würde heute in diesem Punkt weniger kategorisch sein. Diese Theorie des Parzellitarismus habe ich in »Démocratie, totalitarisme et parcellitarisme«, Revue du MAUSS semestrielle Nr. 25, 1. Halbjahr 2005, entwickelt, sowie in »Un totalitarisme démocratique? Non, le parcellitarisme«, in A. Caillé (Hg.), Quelle démocratie nous voulons-nous?, Paris 2006.
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Identität ständig in Frage gestellt durch die Aufforderung, sich an irgendeiner Form von virtual life zu beteiligen, ihre eigenen Avatare zu werden. In dieser parzellitären Gesellschaftsform ist das einzige Gesetz die Aufforderung zur permanenten Revolution, die damit im höchsten Maße die zentrale Dynamik des Kapitalismus realisiert, die Marx im Manifest der Kommunistischen Partei so gut erfasst hat. Alles, was fest war oder zu sein schien, muss sich in Luft auflösen. Jede Kunstform drückt ihre Epoche aus oder nimmt sie vorweg. Was drückt die heutige aus? Es steht mir nicht zu, diese Frage zu entscheiden, und ich werde mich hüten, mich auf eine Debatte über den Status der zeitgenössischen Kunst einzulassen18 , zumal diese äußerst vielfältig ist, schon allein deshalb, weil sie mit einer immer noch lebendigen klassischen Kunst, vor allem in der Musik, oder einer modernen Kunst koexistiert. Ganz zu schweigen von den populären Künsten. Doch scheint es mir wenig zweifelhaft, dass bestimmte Formen der zeitgenössischen Kunst eng mit dieser parzellitären Dynamik zusammenhängen. Denn es wird nicht so sehr ein Kunstwerk präsentiert, als die singuläre, stets erneuerte Identität eines Künstlers, der, im Falle der heute bankfähigsten, die Provokation bis zur Zurschaustellung der unverblümtesten und zynischsten finanziellen Motivationen treibt, und sich ihrer rühmt, im frontalem Gegensatz zum klassischen Bild des selbstlosen Künstlers. So wie die klassischen Totalitarismen den Anspruch erhoben, als einzige in der Lage zu sein, die echte Demokratie zu verwirklichen, im Gegensatz zu rein formalen Demokratien, so präsentiert sich der Parzellitarismus als die Apotheose der Demokratie. Befreit er die Individuen nicht von all den sozialen Zwängen, die sie bisher noch einschränkten? Durch die Inszenierung seiner absoluten Willensfreiheit verwirklicht der zeitgenössische bankfähige Künstler in seiner Person diese Figur des völlig befreiten Individuums. Aber wer erkennt nicht, dass diese Figur der »Künstlerkritik«19 den spekulativen Finanzkapitalismus nicht im geringsten in Frage stellt, sondern vollkommen im Einklang mit ihm steht? Die Blase des zeitgenössischen Kunstmarktes, von der weltweit einige hundert Künstler profitieren, läuft mit der des Börsen- und Spekulationsmarktes völlig parallel. Auf dem Devisenmarkt
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Vgl. dazu das aufschlussreiche Buch von Nathalie Heinich, Le Paradigme de l’art contemporain, Paris 2014. Um den inzwischen berühmten Begriff zu verwenden, der von Luc Boltanski und Ève Chiapello in Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz 2003, geprägt wurde.
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Das Paradigma der Gabe
macht der Wert der Transaktionen mit realen Gütern und Dienstleistungen nur drei Prozent der gesamten Transaktionen aus. Man ist geneigt zu glauben, dass auf dem Kunstmarkt, wo bankfähige Künstler und Künstlerinnen eine mit den Tradern durchaus vergleichbare Rolle spielen, rein spekulative Finanzgeschäfte ebenfalls 97 Prozent des im Umlauf befindlichen Geldes an sich ziehen.
Schlussfolgerung: Auf dem Weg zu einer konvivialistischen Gesellschaft und Kunst? Niemand weiß, wie lange diese neoliberale und, wenn man meine Analyse akzeptiert, parzellitäre Weltgesellschaft noch Bestand haben kann. Sie birgt zahlreiche Katastrophen: wirtschaftliche, soziale, klimatische, ökologische, kriegerische und moralische. Sicher ist jedenfalls, ob es uns gefällt oder nicht, dass wir unser Bekenntnis zur Demokratie nicht mehr lange auf signifikante BIP-Wachstumsraten stützen können. Weil sie in den reichen Ländern kaum wiederkommen werden und weil sie im globalen Maßstab ökologisch nicht haltbar sind. Wir werden also, wie ich bereits gesagt habe, sehr schnell Postwachstumsformen der Demokratie erfinden müssen.20 Und folglich postliberale und postsozialistische Formen, da Liberalismus wie Sozialismus die demokratische Hoffnung auf die Perspektive einer ununterbrochenen materiellen Bereicherung für alle stützten. Der Konvivialismus, der dieses Streben nach einer Postwachstums- und post-neoliberalen Gesellschaft zusammenfasst, beruht auf vier Prinzipien: einem Prinzip der gemeinsamen Menschlichkeit; einem Prinzip der gemeinsamen Sozialität; einem Prinzip der legitimen Individuation; einem Prinzip der Beherrschung der Individuation. Er akzeptiert also die Berechtigung des Strebens nach Anerkennung der singulären Identität der Individuen, solange es nicht den Prinzipien der gemeinsamen Menschlichkeit und Sozialität widerspricht. In diesem Sinne ist er eng mit der Perspektive einer radikalen Demokratisierung der Kunst verbunden, die der größtmöglichen Zahl von Menschen Zugang zur Gabefähigkeit bietet.
20
Um diesen Punkt klarzustellen: Was stagnieren muss, ist das BIP-Wachstum, mit anderen Worten die monetäre Kaufkraft. Aber es gibt viele andere Formen des Reichtums, einschließlich des materiellen Reichtums, die nicht durch monetäre Kaufkraft erreicht werden können.
11. Kunst/Gabe
Und diese Verbindung ist eine zweifache, sowohl prinzipiell als auch praktisch. Prinzipiell, weil, wie wir gesehen haben, der Zugang zur Gabefähigkeit das erste positive Ziel ist, das den menschlichen Subjekten angeboten werden kann, und diese Gabefähigkeit integraler Bestandteil der künstlerischen Dimension des Handelns ist. Aber auch praktisch. Da die Priorität des Konvivialismus darin besteht, den Kampf für Anerkennung durch finanziellen Reichtum zu begrenzen, der für das Überleben des Planeten und unserer Welt katastrophal ist, müssen den menschlichen Subjekten andere Felder der Selbstverwirklichung eröffnet werden. Und diese Felder können keine anderen sein als die der Kunst, des Sports, der Wissenschaft, der Technologie und der Erfindung-Neuerfindung von Rahmenbedingungen des täglichen Lebens. Vielleicht können wir dann einige der erstaunlichen Intuitionen eines mehr als unwahrscheinlichen »sozialistischen« Künstlers, Oscar Wilde, wahr werden sehen, der in Die Seele des Menschen unter dem Sozialismus diesen Zugang aller zum Nutzlosen zum Kennzeichen eines endlich erreichten wahren Sozialismus erklärte. Aber damit sich eine solche Demokratisierung der Kunst, der die zeitgenössische Computertechnik viele Hilfsmittel bietet, tatsächlich entwickeln kann, muss die außerordentliche Menge an Werken, die fast überall und von fast allen produziert werden, sichtbarer und zugänglicher gemacht werden. Das bedeutet, ein für alle Mal mit dem grandiosen Bild der Kunst und des Künstlers zu brechen, und es wirklich zu tun und nicht nur in der zynischen Rhetorik der Künstler-Trader, die die Idealisierung der Kunst und des Künstlers auf die Spitze treiben, unter dem Vorwand, sie radikal zu dekonstruieren, und sich mit Hilfe des Spekulationsmarktes das Monopol auf legitime Sichtbarkeit und Gabefähigkeit anmaßen.
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12. »Daran glauben.« Zurück zur »Symbolischen Wirksamkeit«
In einem berühmten Text aus der Strukturalen Anthropologie1 schlug Claude Lévi-Strauss einen vielsagenden Begriff vor, »symbolische Wirksamkeit«, um ein zentrales Problem, vielleicht das zentrale Problem der Psychologie, der Psychiatrie, der Psychoanalyse und sogar teilweise der Medizin zu bezeichnen: Wie kann man erklären, dass Worte, aber auch Gesten, Haltungen, Beschwörungen ohne jeden physischen Kontakt heilen können? Und zwar nicht nur die Krankheiten der Seele, sondern auch die des Körpers. Und, allgemeiner gesprochen, was bewirkt, dass man daran glaubt, daran festhält, und dass »es funktioniert«? Eine gute Frage. Die Antwort steht noch aus. Die Überlegung von Lévi-Strauss nahm bekanntlich ihren Ausgang von der Analyse einer langen Beschwörung von 530 Versen, die ein CunaSchamane (aus Panama) sang, um Frauen bei schwierigen Geburten zu helfen. Es stellt in der Tat, schreibt er, »ein rein psychologisches Verfahren dar, da der Schamane den Körper der Kranken ja nicht berührt und ihm kein Heilmittel einflößt; […] wir würden sagen, dass der Gesang eine psychologische Manipulation [Hervorhebung durch L.-S.] der kranken Organe darstellt und daß die Heilung von dieser Behandlung erwartet wird.«2 Einen Grund für die Wirksamkeit dieser psychologischen Manipulation gibt Lévi-Strauss zu Recht an: »Der Schamane gibt der Kranken eine Sprache, in der unformulierte – und anders nicht formulierbare – Zustände unmittelbar ausgedrückt werden können.«3 Wenn dieser Artikel seinerzeit starken Eindruck machte, dann deshalb, weil er eine neue und bezeichnende Parallele zwischen der schamanistischen 1 2 3
Strukturale Anthropologie, Frankfurt a.M. 1967, S. 221. Ebd., S. 210. Ebd., S. 217.
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Das Paradigma der Gabe
Methode und der psychoanalytischen Behandlung zog, die beide dialogisch verfahren4 , und weil er die Richtung aufzeigte, in der das Geheimnis ihrer gemeinsamen Wirksamkeit zu suchen wäre. Diese ergäbe sich aus dem Einsatz der »symbolischen Funktion«. Wir wissen um das Schicksal der »symbolischen Funktion« im französischen Denken in den 1960er und 1970er Jahren, insbesondere bei den Schülern Lacans, bis zum Triumph der French Theory an amerikanischen Universitäten. Die Begriffe Symbolik oder symbolische Funktion und die Erklärung von Heilungen durch »symbolische Wirksamkeit« sind heute weitgehend aus der Mode gekommen. Das ist zum Teil bedauerlich, weil der Begriff der Symbolik Dimensionen und eine Tiefe enthält5 , die bei einigen seiner aktuell beliebteren Konkurrenten, dem Kognitiven oder dem Virtuellen beispielsweise, nicht immer zu finden sind. Insbesondere für Kognitivisten scheint die Wirksamkeit der Kognition keine anderen Erfahrungsebenen als die Kognition selbst zu implizieren. Allerdings hat uns Levi-Strauss in diesem Artikel und anderswo eine äußerst kümmerliche Interpretation der »symbolischen Funktion« hinterlassen, die sich kaum dazu eignet, bei der Beantwortung der von ihm aufgeworfene Frage behilflich zu sein. Während er die Erfahrungen und Erinnerungen der individuellen Geschichten ins »Unterbewusste« verbannt, will er das Unbewusste zum Agenten der symbolischen Funktion machen (und umgekehrt), einer symbolischen Funktion, schreibt er, die sich »bei allen Menschen nach denselben Gesetzen vollzieht; die sich in Wahrheit auf die Gesamtheit dieser Gesetze zurückführen läßt«6 . Doch dieses zum Agenten der symbolischen Funktion gemachte Unbewusste ist seiner Meinung nach »immer leer«. Auf Seiten des Unterbewussten haben wir »unartikulierte Elemente, die von außen kommen – wie Antriebe, Emotionen, Vorstellungen, Erinnerungen«. All das, was »das individuelle Lexikon« ausmacht, dieses Vokabular erlangt »nur insoweit Bedeutung für uns selbst und für die anderen […], als das Unbewußte [d.h. die »symbolische Funktion«, A.C.] es gemäß seinen Gesetzen formt und eine Rede daraus macht«7 . Diese Strukturgesetze, so fügt er hinzu, sind »für alle Individuen und Materien dieselben« und sind obendrein »nicht sehr zahlreich«8 . Und es sind diese rein formalen, leeren Strukturgesetze, die für
4 5 6 7 8
Mit der kranken Person oder mit ihrer Familie oder Verwandten. Und wäre es nur aufgrund seiner Mehrdimensionalität und relativen Unschärfe. Strukturale Anthropologie, a.a.O., S. 223. Ebd., S. 223f. Ebd.
12. »Daran glauben.«
die symbolische Funktion die entscheidende Rolle spielen sollen, denn »Das Vokabular ist weniger wichtig als die Struktur.« Beziehungsweise, »die Form des Mythos ist wichtiger als der Inhalt der Erzählung.«9 Lévi-Strauss schreibt somit die symbolische Wirksamkeit einer »primären Eigenschaft« des Symbols zu und legt eine Analogie zur Metapher nahe.10 Wenn man diese Seiten im Abstand von mehr als fünfzig Jahren wieder liest, kann man nur erstaunt sein über das, was offenkundig fehlt. Beginnen wir von vorn. Auf der einen Seite hätte man also das Unterbewusste, den Ort der Affekte und Vorstellungen, die für das Individuum und seine Geschichte spezifisch sind, und auf der anderen Seite die Strukturgesetze des Unbewussten (oder der symbolischen Funktion), die rein logisch, formal und leer, in allen Gesellschaften und Kulturen mit sich selbst identisch sind. Was bei dieser Rollenverteilung in den Hintergrund rückt, jedoch in Lévi-Straussʼ Darstellung der schamanistischen Heilmethode jeden Moment aufscheint, ist die entscheidende Rolle der Kultur und der gemeinsamen Vorstellungen des Schamanen und seiner Patientin. Und damit auch die Fähigkeit dieser gemeinsamen Vorstellungen – und nicht des allgemeinen, universellen Symbolismus –, auf Körper und Seele einzuwirken, durch Mobilisierung von Affekten und Empfindungen, wenn es denn in einem angemessenen rituellen Rahmen geschieht. Eben davon muss man ausgehen, will man die Beziehung zwischen Psychoanalyse (oder allgemeiner den Psychotherapien) und schamanistischer Heilung verstehen. Lévi-Strauss scheint uns dazu anzuregen, wenn er schreibt: »Durch den Vergleich mit der Psychoanalyse ist es uns gelungen, verschiedene Aspekte des schamanischen Heilverfahrens zu erklären. Vielleicht wird eines Tages umgekehrt die Untersuchung des Schamanentums dazu führen, unklare Stellen der Freud’schen Theorie zu erläutern.«11 Das Ziel ist lobenswert und legitim, aber um die Chance zu haben, es zu erreichen, darf man sich nicht, wie Lévi-Strauss, darauf beschränken, die Unterschiede zwischen analytischen und schamanistischen Heilmethoden,
9 10 11
Ebd., S. 224 Hervorhebung von L.S. Ebd., Ebd., S. 222.
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zumal in fragwürdiger Weise12 , aufzuzeigen. Vielmehr wäre es klüger, ihre Gemeinsamkeiten hervorzuheben. Erweitern wir also das Thema und fragen uns, ob es möglich ist, eine ganze Reihe von Merkmalen der »symbolischen Wirksamkeit« zu identifizieren, die nicht nur bei der schamanistischen Heilung und der Psychoanalyse auftreten, sondern bei allen Formen der Psychotherapie, der religiösen Unterstützung oder Linderung (bis hin zu Wundern), der Medizin, der somatischen oder anderen, sobald etwas anderes als die chemische Wirksamkeit von Medikamenten oder physische Manipulationen ins Spiel kommt. Kurz gesagt, und um den Titel des schönen Buches von Stefan Zweig zu zitieren, der in diesem Zusammenhang so treffend ist, alle Formen von »Heilung durch den Geist«. Um uns bei dieser Recherche den Weg zu weisen, ist es sinnvoll, dass wir uns genauer mit der Geschichte der Verwandlung des Feldes des amerikanischen Puritanismus in ein modernes psychotherapeutisches Feld befassen13 , da diese Geschichte den enormen Vorteil hat, dass sie es uns ermöglicht, Gemeinsamkeiten beider Felder zu erkennen, die zunächst in einer theologischen Sprache formuliert wurden, um dann, in einem zweiten Schritt, in die der Psychotherapie übersetzt zu werden. Sobald diese Geschichte rekonstruiert
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Aber in einem Falle«, schreibt Levi-Strauss, »handelt es sich um einen individuellen Mythos, den der Kranke mit Hilfe von Elementen aus seiner Vergangenheit errichtet, im anderen ist es ein gesellschaftlicher Mythos, den der Kranke von außen empfängt und der keinem früheren persönlichen Zustand entspricht.« (Ebd., S. 219) Was in diesem strukturalen Gegensatz höchst fragwürdig ist, ist zumindest die Ausblendung der Rolle des Analytikers. Der Patient konstruiert seinen »individuellen Mythos« nicht allein, und dieser wird nur dann wirksam, wenn er im Einklang mit einem von außen kommenden »sozialen Mythos« steht. Wie sie P. Prades in seinem Werk De la sainteté à la santé, Lormont 2014, erzählt wird. Eine Zusammenfassung der Thesen des Autors kann man unter folgender URL nachlesen: www.journaldumauss.net/./?Comment-pouvons-nous-etre-des In gewisser Weise ist dieses Buch eine Fortsetzung von Henri-Frédéric Ellenbergers Die Entdeckung des Unbewussten (Zürich 2011), aber mit viel mehr Aufmerksamkeit für die anglo-amerikanische Tradition, die in Frankreich weniger bekannt ist, als es scheint. Es wäre interessant, die Analysen in De la sainteté à la santé und die hier vorgestellten Analysen zu der wichtigen Arbeit von R. Horacio Etchegoyen, Fundamentals of Psychoanalytical Technique (London 2005) in Beziehung zu setzen, die eine vergleichende Darstellung der von den verschiedenen Analyseschulen verwendeten Techniken enthält. Das vorliegende Kapitel wurde im Anschluss an das Buch von P. Prades verfasst, das trotz (oder wegen?) seiner beträchtlichen Bedeutung nicht die ganze Aufmerksamkeit erhalten hat, die es verdient.
12. »Daran glauben.«
ist, wird es möglich sein, eine erste Bestimmung der für jede Form der symbolischen Wirksamkeit notwendigen Bestandteile vorzunehmen. Es wird sich zeigen, dass sie eine ganze Reihe von Bestandteilen mobilisiert, die durch das Gabenparadigma ans Licht gebracht wurden: eine Neugewichtung der Beziehung zwischen den Dimensionen der Unbedingtheit und der Bedingtheit in der Gabe, die Gabe selbst und der Zugang, den sie zur Gabefähigkeit eröffnet.
Negative symbolische Wirksamkeit Der Schwerpunkt liegt hier auf der Frage der Heilung durch Worte oder Gesten. Aber sie ist untrennbar mit ihrem Gegenteil verbunden: Was sind die Worte, die einen krank machen, die einen töten? Eine außergewöhnliche Analyse dessen, was als negative symbolische Wirksamkeit bezeichnet werden kann, liefert Marcel Mauss in seinem Artikel »Über die physische Wirkung der von der Gemeinschaft suggerierten Todesvorstellung auf das Individuum«14 . Es handelt sich nicht um die in archaischen Gesellschaften sonst häufigen Selbstmordfälle, sondern »um Todesfälle, die bei einer großen Zahl von Individuen auf eine brutale und elementare Weise einfach dadurch herbeigeführt werden, daß sie wissen oder glauben (was dasselbe ist), daß sie sterben werden. […] Wir berücksichtigen also nur die Fälle, wo das Wesen, das stirbt, sich nicht krank glaubt oder weiß, sondern nur glaubt, daß es aufgrund bestimmter kollektiver Ursachen sich in einem Zustand nahe am Tode befindet.«15 Dieser Zustand, fügt Mauss hinzu, »fällt allgemein zusammen mit einem durch Magie oder durch Sünde bedingten Bruch der Gemeinschaft mit den heiligen Mächten oder Dingen, deren Gegenwart normalerweise den einzelnen erhält«16 . Wenn westliche Ärzte die Möglichkeit haben, diese Personen zu untersuchen, die sich aufgrund eines Vergehens oder eines Fluches für verdammt halten, finden sie keinerlei organische oder anatomische Verletzungen irgendwelcher Art. Die Personen sterben jedoch sehr systematisch, innerhalb von ein oder zwei Monaten oder manchmal sogar innerhalb von zwei oder drei Tagen. »Ein Mensch, der sich behext glaubt, stirbt – das ist 14 15 16
Marcel Mauss, Soziologie und Anthropologie, Band II, a.a.O., S. 175-195. Ebd., S. 178-179. Ebd., S. 179.
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die brutale Tatsache, die ungezählte Male vorkommt«17 , fasst Mauss zusammen, der ansonsten, und im Gegensatz zu dieser psychischen Schwäche, die außerordentliche physische Robustheit der Aborigines, Papuas oder Maoris betont. Gleichwohl sind sie alle außerordentlich anfällig für die Möglichkeit einer plötzlichen Schwäche und sterben schnell an der »Todsünde«18 . Denken wir über die Bedeutung dieses Ausdrucks nach. Nicht im Jenseits, viel später, sondern im Diesseits und fast unmittelbar erweist sich die Sünde, die – freiwillige oder unfreiwillige – Verletzung des ungeschriebenen Gesetzes als tödlich. Greifen wir von den vielen Beispielen, die Mauss zitiert, nur eines heraus: Als sie 1835 von den Maoris erobert wurden, ging die Zahl der Morioris auf den Chatham Inseln rasch von 2.000 auf 25 zurück. Ihre Eroberer, die Maori, sagten: »Nicht durch die Zahl derer, die wir selbst getötet haben, sind sie derart zurückgegangen. Sondern, als wir sie zu Sklaven gemacht hatten, haben wir sie sehr oft morgens in ihren Häusern tot gefunden. Der Verstoß gegen ihr eigenes tapu (die Pflicht, Handlungen vorzunehmen, die ihr tapu entweihen würden) hat sie getötet. Sie sind ein von ihrem tapu außerordentlich beherrschtes Volk gewesen«19 Wäre es übertrieben zu sagen, dass die Morioris sehr »gläubig« waren oder, in einer moderneren Sprache ausgedrückt, dass sie »ein sehr symbolorientiertes, sehr im Symbolismus befangenes Volk waren«?
Von der Heiligkeit zur Gesundheit Wenn wir Schritt für Schritt die Entwicklung des Puritanismus von seinen sehr intellektuellen englischen Ursprüngen bis zu seiner emotionalen Wende in Amerika verfolgen, verstehen wir, dass die Entstehung des modernen psychotherapeutischen Feldes, im weitesten Sinne verstanden, als Resultat der fortschreitenden »Dekonversion« (und nicht der Säkularisierung) des amerikanischen Puritanismus gesehen werden muss, die es ihm erlaubte, allmählich die Rolle der Affekte bei der Verwandlung der Subjekte in Betracht zu
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Ebd., S. 184. Ebd., S. 190. Ebd., S. 194.
12. »Daran glauben.«
ziehen. Diese von Pierre Prades glänzend vertretene These untergliedert sich eigentlich in zwei Subthesen: a) Vor allem in den Vereinigten Staaten öffnet sich das Feld der Psychotherapien. Es integriert europäische Beiträge, aber die allgemeine Dynamik, insbesondere in ihrer Dimension des therapeutischen Optimismus, der sich weltweit durchsetzte, kommt aus den USA. b) Amerika verdankt diese vorherrschende Stellung der symbolischen Kraft des Calvinismus allen Wandlungen, die er durchlaufen hat, vor allem durch den Puritanismus, der durch seine Entwicklung zum empfindsamen Calvinismus ermöglichte, Glaube, Gefühle und Wille (Fühlen, Denken und Wollen) durch einen Bezug zum Glauben – der Glaube allein, sola fide – der rettet, in sich aufzunehmen und zu verbinden. Wenn es eine Welle gibt, die heute die ganze Welt überschwemmt, dann ist es sicherlich der in den Vereinigten Staaten geborene Kult der »Selbstentfaltung«. Aber der Kultur der Selbstentfaltung ging die Kultur der Psychotherapie voraus, die an der Wende vom neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert entstand, und ihr wiederum die Kultur des empfindsamen Puritanismus. Und noch weiter zurück der Covenant of Grace, der Bund der Gnade (oder Bundestheologie), der sich im Bekenntnis von Westminster (1646) formuliert findet, einem Gemeinschaftswerk der führenden englischen und schottischen Theologen. Die Entstehung des psychotherapeutischen Feldes (der Idee, dass Seele oder Körper durch Worte oder Symbole geheilt werden können, ohne Bezugnahme auf unsichtbare Entitäten) kann als Produkt eines transatlantischen Zusammenspiels angesehen werden, das angloamerikanische (puritanische Bekehrung, dann der optimistische Voluntarismus der Erweckungsbewegung) und kontinentaleuropäische (Mesmerismus, Hypnose, dann Psychoanalyse) Beiträge kombinierte. Gewiss, die Worte »Psychotherapie« und »Psychotherapeutik« sind in Europa entstanden und die Psychoanalyse im weitesten Sinne (die Freud’sche, Jung’sche oder Adler’sche, also die »Psychodynamik«) nahm eine wichtige Stellung beim Auftauchen des psychotherapeutischen Feldes ein, als Ausdruck des Phänomens. Aber der Nachweis der Rolle, die die Entwicklung des empfindsamen Calvinismus gespielt hat, führt zu einer erheblichen Relativierung der »kontinentaleuropäischen« Beiträge.20 Denn was sich im psychotherapeutischen Feld global durchgesetzt hat, ist der therapeutische Optimismus (der Lacanismus oder ein gewisser pessimistischer Freudianismus erscheinen im Weltmaßstab nur als provinzielle Eigen20
Zu dieser Interpretation siehe: P. Prades, De la sainteté à la santé, a.a.O., S. 317-321.
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heiten21 ) und dessen Wurzeln sind im Puritanismus zu suchen. Zumindest in einem gewissen Puritanismus, bei dem es sich nicht um den asketischen Calvinismus handelt, den Weber zur Quelle des kapitalistischen Geistes erklärte, sondern um einen empfindsamen Calvinismus, der sich, wie wir gesehen haben, auf die theologische Neuerung des Covenant of Grace zurückführen lässt. In dieser theologischen Neuausrichtung müssen wir nach dem Ursprung, dem Funken des Prozesses suchen, der zum Aufkommen eines optimistischen psychotherapeutischen Feldes, zur Hoffnung auf Heilung durch den Glauben führen sollte. Die ganze Frage liegt darin, wie man Zugang zum Glauben erhält und was einen dazu bringt zu glauben. Daran zu glauben. Vernunft oder Gefühle?
Die Bundestheologie oder Covenant Theology 22 Die ausgereifteste Formulierung der Bundestheologie findet sich im »Bekenntnis von Westminster« (The Westminster Confession of Faith)23 , einem Gemeinschaftswerk der führenden englischen und schottischen Theologen, die 1646 auf Initiative des Parlaments zusammentraten, und das in der Folge zum Bezugspunkt der presbyterianischen und der kongregationalistischen Kirchen werden sollte (für letztere nach einer Überarbeitung in der Savoy Declaration von 1658). Kapitel VII behandelt den »Bund Gottes mit den Menschen«. Hier die wesentlichen Punkte. »1. Der Abstand zwischen Gott und den Geschöpfen ist so groß, daß die vernunftbegabten Geschöpfe, obwohl sie ihm als ihrem Schöpfer Gehorsam leisten müssen, ihn doch niemals als ihre Seligkeit und ihren Lohn genießen können, wenn es nicht durch eine freiwillige Herablassung von Gottes Seite aus geschieht, die er nach seinem Wohlgefallen durch einen Bundesschluß zum Ausdruck bringt. 2. Der erste mit dem Menschen geschlossene Bund war ein Bund der Werke (Covenant of Works), in dem Adam und in ihm seiner Nachkommenschaft 21 22 23
Ebd., S. 13-14. Dieses Unterkapitel geht auf P. Prades zurück. The Westminster Confession of Faith, www.reformed.org/documents/index.html?mainfra me=www.reformed.org/documents/westminster_conf_of_faith.html oder auf deutsch: https://web.archive.org/web/20150214180329/www.apologet.de/wp-content/uploads/2 014/02/westminster_bekenntnis.pdf
12. »Daran glauben.«
unter der Bedingung eines vollkommenen und persönlichen Gehorsams das Leben verheißen wurde; 3. Der Mensch machte sich durch seinen Fall selbst unfähig, durch diesen Bund das Leben zu erlangen. So gefiel es dem Herrn, einen zweiten Bund zu schließen, der gewöhnlich der Gnadenbund (Covenant of Grace) genannt wird, durch den er Sündern Leben und Heil durch Jesus Christus umsonst anbietet, indem er von ihnen Glauben an ihn verlangt, damit sie gerettet werden, und indem er allen denen, die zum Leben verordnet sind, verheißt, seinen heiligen Geist zu geben, um sie zum Glauben willig und fähig zu machen; 4. Dieser Gnadenbund wird in der Schrift häufig mit dem Namen ›Testament‹ bezeichnet, was sich auf den Tod Jesu Christi, der das Testament gemacht hat, bezieht, und auf das ewige Erbe, mit allem, was darin als dazugehörig vermacht worden ist.«24 Jedem seinen Anteil am »Bund« (oder »Vertrag«, oder »Testament«, oder »Verpflichtung«, oder »Einwilligung«). Gott verspricht, den Auserwählten den Willen und die Kraft zum Glauben zu geben. Ihnen obliegt es, zu glauben, und durch diesen Glauben werden sie »gerechtfertigt« (von der Sünde befreit), nicht durch ihr Handeln (ihre »Werke«): »[A]lso nicht, indem er ihnen den Glauben selbst oder das Werk des Glaubens oder sonst irgendeinen evangelischen Gehorsam als ihre Gerechtigkeit anrechnet, sondern indem er ihnen den Gehorsam und die Genugtuung Christi anrechnet, wobei sie ihn durch den Glauben empfangen und sich auf Christus und seine Gerechtigkeit stützen. Diesen Glauben haben sie nicht aus sich selbst heraus, sondern er ist Gottes Geschenk.«25 So interpretiert die Bundestheologie die erste Formel der Reformation neu: sola gratia (nur die Gnade, Gottes Geschenk an die Auserwählten, sichert ihnen das Heil, indem sie in den Bund eintreten); sola fide (allein der Glaube an das Bundesversprechen ist die Bedingung für das Heil, nicht die Werke, denn der Mensch ist nicht mehr fähig, Gutes zu tun und dem ersten Bund entsprechend zu leben, nachdem Adam die ganze Menschheit in seinen Fall hineingezogen hat); sola Scriptura (Weder durch seine »natürliche« Vernunft
24 25
Bekenntnis von Westminster, Kapitel VII: »Von Gottes Bund mit den Menschen«. Ebd., Kapitel XI: »Von der Rechtfertigung«.
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noch durch die Sakramente einer Kirche kann der Mensch das Heil erlangen, sondern durch sein Verständnis, seine Annahme und Achtung des von der Heiligen Schrift offenbarten Bundesversprechens. Die Vernunft dient ihm nur dazu, und die Sakramente sind »Einrichtungen« [ordinances], die den Eintritt und Verbleib im Bund besiegeln, aber für sich allein keine Macht haben). Sukzessive Neuinterpretationen des Covenant haben zur Geburt der modernen Psychotherapie beigetragen, insbesondere über den empfindsamen Calvinismus von Jonathan Edwards (1703-1758), den Methodismus von John Wesley (1703-1791) und, in ihrer Nachfolge, der Mind-Cure. Dieser Begriff bezieht sich auf eine »Geistheilungs«-Bewegung, die hauptsächlich in den Vereinigten Staaten Mitte des 19. Jahrhunderts, im Zuge des zweiten Great Awakening, entstand und deren Hauptströmungen die Christian Science und der New Thought (Neugeist) waren. William James, der Freud und Jung bekanntlich in den Vereinigten Staaten traf, befand sich am Schnittpunkt der beiden Strömungen, der europäischen und der amerikanischen. Wenn man versucht, die allgemeine Entwicklungsrichtung des Puritanismus in wenigen Worten zusammenzufassen, scheinen sich fünf Hauptdynamiken abzuzeichnen: 1. Der Abschluss des Gegensatzes zwischen protestantischem Heil durch die Gnade und katholischem Heil durch die Werke, und die Ersetzung des letzteren durch ersteres, was zu einer absoluten Personalisierung führt, da man in diesem Rahmen nicht mehr bedingt durch das, was man tut, sondern bedingungslos durch das, was man ist, gerettet wird. Vorausgesetzt natürlich, dass man »jemand Gutes« ist oder wird. 2. Eine optimistische und voluntaristische Subjektivierung des Heils. Es ist nicht mehr nur die Gnade allein (sola gratia), die von Gott willkürlich gespendete Gnade, die rettet, sondern der Glaube, jener Glaube, der das Zeichen der Auserwähltheit und der Gnade ist (sola fide). Wenn nun die Gnade von einem willkürlichen Ratschluss Gottes abhängt, hängt der Glaube auch vom Gläubigen ab. Denn es genügt ihm, dass er glaubt. Das kann er und muss es folglich. Umgekehrt genügt die Tatsache, wirklich daran zu glauben, um zu beweisen, dass man zu den Auserwählten gehört. 3. Aber »wirklich daran zu glauben« bedeutet, dass man nicht nur mit dem Verstand, sondern auch mit dem Herzen, mit seinen Gefühlen und Affekten glaubt. Die Wahrheit liegt weniger im Konzept und Dogma als in den Affekten. Also sind es diese, die verändert werden müssen, indem Fühlen,
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Denken und Wollen (Emotionen, Kognitionen und Willensakte) neu verknüpft werden. In dieser Einführung des Fühlens in das Glauben werden Psychotherapien die Wurzel ihrer Wirksamkeit finden. 4. Diese Neuverknüpfung erfordert eine über die individuelle Person des Gläubigen hinausgehende aktive Eingliederung in die Gesellschaft; die Authentizität des Glaubens wird durch seine Umsetzung im Engagement für die Gemeinschaft bewiesen. Der Glaube ist also keine rein individuelle Angelegenheit. 5. Aber die allgemeinste und spektakulärste Dynamik ist zweifellos diejenige, die William James (den man als Begründer des modernen psychotherapeutischen Feldes ansehen kann, indem er die Mind-Cure mit den europäischen Psychologien zusammenführte) treffend resümierte, und die man wie folgt formulieren könnte: Solange man den Grund der Verzweiflung und Ohnmacht, den »Tiefpunkt der Verzweiflung«, wie Jonathan Edwards sagte, erreichen kann, kann man auch zum Gipfel der Hoffnung gelangen. W. James erklärt, dass der Katholizismus gut geeignet ist für optimistische Seelen, für die healthy-minded und once born, die nicht allzu viele Probleme haben. Für sick souls hingegen sind stärkere Heilmittel erforderlich, solche, die die twice born, die Doppeltgeborenen, hervorbringen. Für diese Menschen ist jede psychische Heilung wie eine zweite Geburt. Es sieht so aus, als ob der scheinbare Pessimismus des Calvinismus (es gibt nur sehr wenige Auserwählte, alles steht von jeher fest) dazu beigetragen habe, jenen übersteigerten Optimismus zu erzeugen, der so charakteristisch ist für die Kultur der Vereinigten Staaten mit ihrer Pflicht zum Optimistischsein. Am Ende dieser Reise erscheinen die zeitgenössischen Psychotherapien, in allen Formen und Tendenzen, als Endpunkt einer langen Entwicklung, die Bekehrung in Heilung und Heiligkeit in Gesundheit verwandelt hat, und damit als eine Art Quasi-Religion, als »säkulare Religion des Individuums«26 . Aber wenn »es funktioniert« und so lange es funktioniert, geschieht das dann in dem Maße, wie diese Psychotherapien Quellen ins Spiel bringen, die allgemeinen Quellen der symbolischen Wirksamkeit, Quellen, die für alle Formen der Heilung gelten, die über die Psyche verlaufen, egal ob durch den Schamanen, den Exorzisten, den Pastor (aber auch den Guru, den Zen-Meister usw.), 26
Vgl. A. Caillé, »Psychanalyse et théorie de la psyché. Une perspective sociologique«, Revue du MAUSS semestrielle, Nr. 37, a.a.O., S. 178.
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den Psychoanalytiker, den Coach oder den Spezialisten für Kognitions- und Verhaltenstherapien vorgenommen werden? Und wenn ja, ist es möglich, eine allen diesen Formen gemeinsame Invariante zu identifizieren, die ihre Wirksamkeit erklären würde?
Einige elementare Formen der symbolischen Wirksamkeit. Vom Glauben Es kann keine Heilung geben, ohne den Wunsch zu heilen. Keinen Wunsch zu heilen, ohne den Glauben an die eigene Fähigkeit zu heilen oder geheilt zu werden. Kein Glaube an diese Fähigkeit, ohne den Glauben an die Person und an den guten Willen und die Fähigkeiten des Therapeuten (es sei denn, man ist sein eigener Therapeut). Diesen Glauben, vom Christentum in Glaubensbegriffen umformuliert, hat der amerikanische Puritanismus radikalisiert und zugespitzt. Dieser Glaube ist zugleich körperlich, affektiv und geistig. Gesundheit und Heilung – d.h. die Rückkehr zur Gesundheit – können als das Ergebnis des richtigen Funktionierens oder der Wiederherstellung eines positiven Kreislaufs analysiert werden, in dem Gesundheit oder der Wunsch zu leben zum Glauben führt, der zu Gesundheit und Lebenslust führt. Beschreiben wir zunächst im Detail die Modalitäten dieses positiven Kreislaufs des therapeutischen Glaubens, bevor wir uns fragen, wie und nach welcher Dynamik der Zugang zu ihm möglich ist. Vom Glauben. Um zu heilen, muss man »daran glauben«. Dieser Begriff des »Glaubens«, der bei Weitem nicht in allen Sprachen zu finden ist, ist äußerst komplex. So komplex, dass es sogar fast widersprüchlich und selbst widerlegend ist. Denn man kann sagen, »ich glaube«, um anzudeuten, dass man sich seiner Sache nicht sehr sicher ist – »Nun, ich glaube schon« – oder im Gegenteil, dass man über absolute Gewissheit verfügt.27 Aber überall, zumindest
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Bezüglich der Unsicherheiten und der fehlenden Universalität des »Glaubens« wird man zwangsläufig zu einem bemerkenswerten Artikel von Roberte Hamayon greifen müssen, »L’anthropologue et la dualité paradoxale du ›croire‹ occidental«, Revue du MAUSS semestrielle, Nr. 28, 2. Halbjahr 2008, der eine sehr vollständige Darstellung dieser ganzen Diskussion enthält, die in der Anthropologie angestoßen wurde von Rodney Needham, Belief, Language and Experience, Oxford 1972 und Jean Pouillon, »Remarques sur le verbe ›croire‹«, in M. Izard und P. Smith (Hg.), La Fonction symbolique, Paris 1979.
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in unseren monotheistischen Kulturen, sind die drei Modalitäten des Glaubens in je spezifischen Kombinationen und Anordnungen zu finden, und sie erscheinen im Französischen durch die Unterscheidung zwischen croire que (glauben, dass), croire à (glauben in) und croire en (glauben an)28 , denen man noch das croire parce que (glauben, weil) hinzufügen kann. Die ganze Frage lautet, wie man es anstellt, dass diese verschiedenen Modalitäten des Glaubens dafür sorgen, dass man »daran glaubt«. Das croire à fällt in den Bereich der Hoffnung und des Wunsches.29 In der Verzweiflung glaubt man an nichts mehr. In der Hoffnung glaubt man an das Leben, die Liebe, die Zukunft usw. Das croire en fällt in den Bereich des Glaubens und Vertrauens.30 Man vertraut seinem Arzt. Man glaubt an Gott und seine Heiligen. Man glaubt an eine charismatische Person. Dieses Vertrauen in den Arzt oder, diesmal auf einer intensiveren Ebene, in eine charismatische Person mit außergewöhnlicher Heilkraft, die einer wer weiß wo herkommenden besonderen Gnade entspringt, lässt den Therapeuten als ein vermeintlich wissendes, ja aber auch wollendes und könnendes Subjekt erscheinen. Ein Subjekt, das heilen und Beschwerden beseitigen kann, weil es dies will und weil es weiß, wie es geht. Es will es, weil der Therapeut zutiefst wohlwollend ist, immer von guten Absichten beseelt, so abweisend und verwirrend es bisweilen auch wirken mag (wie bei Zen-Meistern oder Zauberern). Das Subjekt weiß, wie es geht, weil es in engem Kontakt mit einer sicheren Wissensquelle steht, sei es die Kommunikation mit den Geistern, die eifrige Konsultation der Veden, der Bibel oder 28
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Es ist J. Pouillon zu verdanken, die Aufmerksamkeit auf diese Unterscheidungen gelenkt zu haben. Vgl. J. Pouillon, a.a.O., S. 43-51. Hier werden Unterschiede betont, die in der Realität weniger stark ausgeprägt sind, z.B. ist das croire à dem croire en oft sehr nahe. Aber auch Angst: Wir glauben an weiße oder schwarze Magie, an Sterne, an gute oder schlechte Vorzeichen, an den Teufel, an die Hölle, an Geister usw. Roberte Hamayon beharrt zu Recht auf der Tatsache, dass das, was wir Glauben nennen, als solcher nur im Rahmen der so genannten »großen«, universalistischen Religionen zu finden ist. Anderswo sind wir nicht im Glauben, d.h. im unbedingten Glauben. Wir glauben daran, ohne daran zu glauben, oder ein wenig oder viel, und warten in erster Linie darauf, dass es funktioniert. Aber darauf warten, dass es funktioniert, kann man nur auf der Grundlage eines minimalen Vertrauens in die Macht des Vermittlers. Die universelle Voraussetzung für die therapeutische Wirksamkeit ist Vertrauen. In wirtschaftlicher Hinsicht könnten wir von einer »Vertrauensanlage« sprechen. Der Glaube wäre seine universalistische religiöse Modalität.
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des Koran oder auch lange Jahre, die es in den Hörsälen einer medizinischen Fakultät verbracht hat. In Kontakt, mit anderen Worten, mit einem heiligen oder magischen Wissen. Durch seine Präsenz oder seine Bereitschaft, sich der Bitte anzunehmen, spielt es die Rolle des Vermittlers zwischen dem menschlich-allzumenschlichen Leiden und einer Quelle des Heils. Das »croire que«, das Glauben, das von vermeintlich rationalen Annahmen und einem Wissen ausgeht – »Ich glaube, dass zwei und zwei vier ergeben«, sagt Don Juan zu Sganarelle – ist ein absolut notwendiger Bestandteil des »croire à«, ohne dass es kein »croire en« geben kann. Was die historische Variabilität der Modalitäten der symbolischen Wirksamkeit ausmacht, ist natürlich in erster Linie die historische Variabilität der Formen des legitimen »Wissens, dass«. Wer hat ein Monopol darauf? Und wenn es kein Monopol gibt, sondern im Gegenteil eine Konkurrenz legitimer Wissensbestände, wie orientiert sich der Patient und wie schafft er es, zwischen ihnen zu wählen? In jedem Fall gibt es keine mögliche Heilung ohne ein Mindestmaß an »rationaler« Gewissheit, ohne dass der Patient die Fähigkeit besitzt, sich selbst oder seinen Angehörigen die mutmaßlichen Fähigkeiten des gewählten Therapeuten und die wahrscheinliche Wirksamkeit der von ihm verschriebenen Mittel zu erklären. Das »Glauben, dass« berührt sich also auf Engste mit dem »Glauben, weil«. Wenn man sich entschieden hat, sich an diesen statt an jenen Therapeuten zu wenden, dann deshalb, weil man »gute Gründe« hatte, es zu tun. Weil man hinreichend an ihn geglaubt hat. Aber kognitive und rationale Gründe allein erweisen sich bald als unzureichend, so dass das Weil an einem bestimmten Punkt die Bedeutung ändert, gemäß der berühmten Formel, die dem heiligen Augustinus zugeschrieben wird: »Credo non quod sed quia absurdum«. Ich glaube, weil es absurd ist. Statt aus einer Überlegung zu folgen, geht der Glaube ihr voraus. Er ist Entscheidung, keine logische Schlussfolgerung, Entscheidung zu glauben, trotz fehlender oder unzureichender Gründe, es zu tun. Entscheidung, das Glauben an, das Glauben in und das Glauben, dass bis zur Ununterscheidbarkeit zu einem sich selbst verstärkenden Kreislauf des Glaubens zu verschmelzen: Ich glaube, weil ich glaube an, ich glaube in, ich glaube, dass. Ich glaube, dass, weil ich glaube an. Ich glaube an, weil ich glaube in. Ich glaube in, weil ich glaube, dass usw. Daran glauben und empfinden. Aber dieser sich verstärkende Kreislauf des Glaubens ist noch nicht stark genug, um die symbolische Wirksamkeit auszulösen,
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weder in der Religion noch in der Therapie. Und genau zu dieser Schlussfolgerung gelangte der empfindsame Calvinismus, im Gegensatz zum theologischen Rationalismus. Es reicht nicht aus, die Gründe für das Glauben, dass, das Glauben an, das Glauben in aneinanderzureihen. An das Heil durch Werke, durch Glauben, durch Gnade, durch die Heilige Schrift zu glauben. Nichts geschieht, nichts kann funktionieren, solange die Empfindungen, Gefühle, das, was die Theologen des 18. Jahrhunderts »Affektionen« nannten, und was wir Emotionen nennen, nicht berührt und mobilisiert werden. Der ganze Körper. Nur dann werden wir in der Lage sein, wirklich »daran zu glauben«. Zugang zum Register dessen zu finden, was nicht mehr so sehr Gläubigkeit (croyance) als Glaube (Foi) ist. Oder besser gesagt, um zu vermeiden, die Dinge nur in der Sprache des Christentums zu formulieren, im Register dessen, was man als Trauen (fiance) bezeichnen könnte. Aber dieses Register ist dann nicht so sehr das der Kognition allein, sondern das des Empfindens. Es ist nicht oder nicht mehr in erster Linie der Verstand, der daran glaubt, es ist der ganze Körper, der die endlich entdeckte Wahrheit und Evidenz fühlt und erfährt und der zustimmt. Solange der Körper »es nicht spürt«, nicht zustimmt, kann sich nichts ändern. Aber dann erzeugt dieses Einverständnis, diese Zustimmung eine neue innere Realität, das, was die christliche Tradition Metanoia nennt, einen Wechsel des Standpunkts, der in einem therapeutischen Kontext bereits das Zeugnis eines »Besseren« ist, das bestätigt, dass man »daran glauben« musste, und ein Ansporn, weiterzumachen.
Die zirkuläre Verstärkung des Glaubens durch den praktischen Syllogismus31 Diese Dynamik der zirkulären Verstärkung wurde von dem puritanischen Theologen William Perkins herausgestellt, der die Umsetzung des Covenant of Grace als eine »Goldene Kette des Heils« beschreibt, wobei ein voluntaristischer praktischer Syllogismus einen anderen, dieses Mal optimistischen, praktischen Syllogismus nach sich zieht.32 Der voluntaristische Syllogismus wird wie folgt formuliert: 31 32
Dieses Unterkapitel verdankt sich P. Prades. P. Prades, De la sainteté à la santé, a.a.O., S. 146-189. Siehe W. Perkins, The Golden Chain of Salvation or The Description of Theology, John Legat, Cambridge, 1600, http://openlibra ry.org/books/OL14010015M/A_golden_chaine_or_the_description_of_theologie.
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• • •
»Diejenigen, die glauben, werden gerettet werden« (das ist die allgemeine Verheißung des Evangeliums); »Ich fürchte mich vor Tod und Verdammnis« (das ist die Angst, die der Gläubige persönlich empfindet); »Darum glaube ich« (genauer gesagt, möchte ich glauben: dies ist der Glaubensakt).
Es folgt der optimistische Syllogismus: • • •
»Diejenigen, die glauben, werden gerettet werden« (dies ist immer noch die Verheißung des Evangeliums); »Ich fühle in mir die Zeichen, die Zeugnisse meines Glaubens« (dies ist die Hinwendung des Gläubigen zu dem, was er fühlt); »Darum bin ich gerettet« (das ist die Bestätigung des Heils, die eine tiefe Genugtuung verschafft).
Diese miteinander verknüpften Syllogismen erzeugen nacheinander Voluntarismus und Optimismus, wobei der eine den anderen bereichert. Aus optimistischem Voluntarismus wird voluntaristischer Optimismus. Jeder neue Schritt ist eine neue Herausforderung, die es anzunehmen gilt, nach der Maxime: »Wenn du fühlst, dass du kannst, musst du auch«, und jeder Fortschritt im Glauben ist ein neues »Zeugnis«, eine Ermutigung zum Weitermachen.
Die Harmonisierung der Register Oder in einer anderen Sprache ausgedrückt, eine symbolische Wirksamkeit kann es erst dann geben, wenn eine gewisse Kongruenz zwischen Empfindungen (heiß, kalt, trocken, nass, Schmerz, Unbehagen, Vergnügen, Wohlbefinden usw.), Gefühlen (Liebe, Hass, Selbst- oder Fremdachtung usw.) und Vorstellungen (Bilder, Töne, Worte, Sprache) erreicht ist. Um C. LéviStraussʼ Aussage zu verallgemeinern, könnte man sagen, dass der Therapeut (und nicht nur der Schamane) »dem Kranken eine Sprache zur Verfügung stellt, in der unformulierte und anderweitig nicht formulierbare Zustände unmittelbar ausgedrückt werden können«. Eine verbale Sprache, zweifellos, aber auch eine der Gesten und des Verhaltens. Die Behandlung mit Worten (und Gesten und der Haltung) funktioniert also in dem Maße, wie sie zu dem wird, was man im Anschluss an Marcel Mauss als totale psychische Tatsache bezeichnen könnte. Mauss, so wird man
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sich erinnern, stellte die archaische Gabe als eine totale soziale Tatsache dar, mit der Begründung, dass sich in ihr zugleich Dimensionen und Probleme der Ökonomie, der Politik, des Heiligen, des Spiels usw. unauflöslich vermischen und dass sie die gesamte Gesellschaft in Bewegung setzt. Die Behandlung durch Worte (und manchmal auch und gleichzeitig durch Töne und/oder Bilder) vermischt ebenso unauflöslich und sobald sie »anzuschlagen« beginnt: Empfindungen, Gefühle, Emotionen, Leidenschaften, Vorstellungen, Rationalisierungen usw. Sie ist gleichzeitig biologisch, individuell und sozial. Norbert Elias hat in den zwei Bänden seines großartigen Werkes Über den Prozess der Zivilisation sehr gut gezeigt, wie am Ende dessen, was er den Zivilisationsprozess nannte, die Konflikte, die sich einst im Verhältnis der einzelnen Subjekte untereinander abspielten, allmählich verinnerlicht wurden und sich nun im Inneren des Subjekts, im Verhältnis zwischen seiner Selbstdarstellung und seiner Darstellung der anderen entfalten. Der moderne Patient muss daher in der Lage sein, diese beiden Konfliktarten, seinen inneren und seinen äußeren Konflikt, im selben kohärenten Diskurs zu formulieren und zu denken. Und die Mittel für ihre Lösung finden. Man ermisst also das Ausmaß der dem Therapeuten zufallenden Aufgabe. Es ist notwendig, dass er dem Subjekt hilft, gleichzeitig nach innen und nach außen zu arbeiten. In sich einzutauchen und wieder herauszufinden. Um wieder herauszufinden.33 Nach innen muss der Therapeut dem Patienten die Worte anbieten, die es ihm erlauben, eine »psychologische Manipulation des kranken Organs« – Knoten im Bauch, zugeschnürte Kehle, verspannter Rücken, ständig gereizte Haut, wild schlagendes Herz usw. – vorzunehmen und die unbeherrschbaren Leidenschaften oder Emotionen erträglich zu machen, indem er mit dem Patienten daran arbeitet, eine Erzählung von sich selbst zu entwickeln, die all diesen Beschwerden einen Sinn gibt und sie überflüssig macht. Aber jeder Psychoanalytiker oder Psychotherapeut, unabhängig von seiner Richtung, erlebt Sitzung für Sitzung, dass es nicht ausreicht, intellektuell und diskursiv Sinn zu erzeugen. Solange mit diesen neuen Worten keine neuen Empfindungen und Gefühle verbunden sind, verschwinden die Hemmungen nicht. Die Funktion der Übertragung besteht darin, alle diese Register auf einmal zu aktivieren und zu synchronisieren.
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Und ganz allgemein, vor allem aber in der Psychoanalyse, sich seiner Vergangenheit zuzuwenden, um sich besser der Zukunft öffnen zu können.
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Die Übertragung Wenn es eine Sache gibt, die allen Schulen der Psychoanalyse gemeinsam ist, dann ist es die Betonung der entscheidenden Rolle der Übertragung. Ohne Übertragung kann für den Analysanden nichts besser laufen. Wir wissen, dass die Psychoanalyse mehr und mehr in Frage gestellt wird und dass man ihre Unwirksamkeit im Vergleich zu den Neurowissenschaften und den kognitiven Verhaltenstherapien (KVT) oder vielen anderen Therapien, seien sie psychologischer oder pharmazeutischer Natur, behauptet. Es ist daher ein echter Knüller, der die Situation völlig verändert, wenn man Jonathan Shedlers Artikel The Efficacy of Psychodynamic Psychotherapy liest, der im Februar-März 2010 in The American Psychologist veröffentlicht wurde, und seine Vorstellung durch Pierre Prades in Nr. 38 der Revue du MAUSS semestrielle34 , die ich hier wiedergebe. Dieser Artikel, der auf der Zusammenstellung und Untersuchung einer sehr großen Zahl empirischer Analysen beruht, liefert paradoxerweise den Beweis für die überlegene therapeutische Wirksamkeit der psychodynamischen, d.h. aus der Psychoanalyse abgeleiteten Psychotherapien, gegenüber allen ihren Konkurrenten. Und dies unter Rückgriff auf den statistischen Beweisapparat, der nach Ansicht ihrer Verächter das Urteil ihrer Nutzlosigkeit begründen sollte. »Es ist daher… erstaunlich, dass die durch diesen Artikel bestätigte Wirksamkeit der Psychoanalyse gerade auf dem Terrain ihrer Kritiker erbracht wird, was im Widerspruch zum Inserm-Bericht steht, der zu dem Schluss kam, dass KVTs bei den meisten psychischen Störungen wirksamer sind, wobei die Wirksamkeit psychoanalytischer Therapien nur für ›Persönlichkeitsstörungen‹ anerkannt wird. Im Gegensatz dazu kam Shedler zu dem Schluss, dass psychodynamische Therapien wirksamer seien, was dem zuwiderlief, was schließlich zu einem regelrechten Gemeinplatz geworden war. Aber die Bedeutung seines Artikels beschränkt sich nicht darauf. ›The Efficacy‹ ist nicht nur der Grad der Wirksamkeit einer Methode im Vergleich zu anderen, es ist auch das ›Wirksame‹ (efficace) der Psychotherapie, der Grund für ihre Wirksamkeit. Und genau in diesem Punkt hält Shedlers Studie Überraschungen bereit. Nicht nur, dass die psychodynamischen Therapien mindestens ebenso wirksam sind wie andere Therapien, sondern die Wirksamkeit dieser an-
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P. Prades, »L’efficacité des thérapies ›psychodynamiques‹: une validation empirique de la psychanalyse?«, Revue du MAUSS, Nr. 38, a.a.O., S. 51-63.
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deren Therapien, insbesondere der KVTs, würde sich aus der Tatsache ergeben, dass ihre kompetentesten Praktiker ›Wirkprinzipien‹ aus der psychodynamischen Theorie und Praxis, d.h. der Psychoanalyse, verwenden.«35 Das »Wirkprinzip« einer Behandlung ist nicht notwendigerweise das, was die Theorie behauptet. Dies ist bei den KVTs der Fall, schreibt Shedler, wo die heute verfügbaren Daten zeigen, dass die Veränderungsmechanismen nicht die von der Theorie vertretenen sind. Nach einer Zusammenstellung empirischer Studien zu diesem Thema, die 2007 veröffentlicht wurde, scheint es, dass die Veränderungsfaktoren in den KVTs, welche es auch sein mögen, keine »Kognitionen« sind. Andere Studien aus dem gleichen Zeitraum kommen mit anderen Methoden zu den gleichen Schlussfolgerungen, schreibt Shedler, und gehen sogar noch weiter. Das gilt insbesondere für eine 1996 veröffentlichte Studie, die die Wirksamkeit kognitiver Therapien überprüfte, die nach dem Protokoll von Aaron Beck durchgeführt wurden, dem Referenzautor für kognitive Therapien innerhalb der gesamten KVT. Diese Wirksamkeit war 1979 empirisch anerkannt worden, aber es stellte sich im Nachhinein heraus, dass die Beweise für die Wirksamkeit dieser Antidepressionstherapien auch belegten, dass diese Wirksamkeit zum Teil auf psychodynamische Methoden zurückzuführen ist. In dieser Studie wurden drei Variablen anhand eines Korpus von wörtlichen Mitschriften von Therapiesitzungen gemessen. Die erste Variable bewertete die Qualität der »therapeutischen Allianz« zwischen dem Therapeuten und seinem Patienten. Das zweite betraf die Anwendung des Beckschen Modells durch den Therapeuten, d.h. die Arbeit an den kognitiven Verzerrungen, von denen angenommen wird, dass sie depressive Affekte verursachen. Die dritte Variable, experiencing, bewertete die zunehmende emotionale Beteiligung der Versuchsperson an ihrer Erfahrung der therapeutischen Situation, von der einfachen Wahrnehmung äußerer Elemente bis zur Bewusstwerdung intimer Gefühle und Bedeutungen, die bis dahin implizit geblieben waren und zu einem vertieften Verständnis ihrer selbst führten. Shedler macht darauf aufmerksam, dass die erste und dritte Variable das Wesen des psychoanalytischen Prozesses zusammenfassen. Die »therapeutische Allianz«, die als ein unspezifisches Element gilt, das den meisten therapeutischen Methoden gemeinsam ist, leitet sich seiner Ansicht nach direkt
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Ebd., S. 52.
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aus der Übertragung ab, die die Psychoanalyse seit Jahrzehnten in den Mittelpunkt ihrer Theorie und Praxis stellt. Was das experiencing betrifft, so verweist der bloße Bezug auf die Bewusstwerdung bis dahin implizit gebliebener Gefühle direkt auf die Anfänge der Psychoanalyse. Aus der Studie ging hervor, dass die therapeutische Allianz und die Intensität der emotionalen Erfahrung des Patienten ein gutes therapeutisches Ergebnis erwarten ließen, im Gegensatz zur Einhaltung des Programms, das sich auf kognitive Verzerrungen konzentrierte. Daher ist es in der Psychotherapie unmöglich, die Übertragung auszusparen. Durch die Übertragung – oder ihr Äquivalent in anderen Therapieformen – kann der Patient eine erste Abstimmung im Verhältnis zwischen dem Selbst und dem Anderssein vornehmen und so ein akzeptables und erträgliches Selbstbild und Selbstgefühl rekonstruieren, sobald das, was keinen Sinn (mehr) ergab, (wieder) welchen erhält.36 Anerkannt werden, sich selbst anerkennen, letztlich.37 Der Therapeut würde dabei die Figur des Andersseins darstellen. Aber wie weit? Wie weit und in welchem Ausmaß wird er dem Patienten ermöglichen, aus sich herauszufinden? Eine der häufigen Grenzen der Psychoanalyse ist das, was Robert Castel den Psychoanalysmus nannte. Was wir genauso gut als Familialismus bezeichnen könnten, die Neigung zu glauben, dass sich alles allein im innerfamiliären Bereich abgespielt hat. Obwohl der Psychoanalyse gegenüber sehr aufgeschlossen, kritisierte Norbert Elias im gleichen Sinne das Menschenbild, der unter den »Psychos« aller Art dominiere, das Bild des Homo clausus, eines in sich selbst gefangenen Subjekts,
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In der Therapie geht es nicht nur um das »Selbstbild«, die Vorstellung, die Noesis oder das »Glauben, dass«. Die Regulierung der Beziehung zwischen dem Selbst und dem Anderssein ist auch (und vielleicht vor allem) eine affektive Regulierung (Linderung eines Leidens, Gefühl der Harmonie usw.). Zu sagen, dass die Übertragung nur die Umarbeitung von Vorstellungen ermöglicht, und dadurch die Lösung von Konflikten, ist ein wenig der Standpunkt der KVT: Indem man Kognitionen korrigiert, wirkt man auf Emotionen ein. Aber das bedeutet, die Frage nach der symbolischen Wirksamkeit zu umgehen. Freud selbst erkannte, dass er mit der »Übertragung« nur das Geheimnis der »Suggestion« »wiederentdeckt« hatte. Sein Ehrgeiz war es später, dieses Rätsel aufzuklären. Die Realität therapeutischer und religiöser Erfahrungen besteht darin, dass sie das Selbstgefühl und nicht nur das Selbstbild eines Menschen verändern. Vgl. den ersten Teil.
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das von der Vielfalt der sozialen Kontexte, in die es sich einzufügen und zu leben hat, wenig oder gar nicht betroffen wäre.38 Die Erzählung seiner selbst, die der Patient mit Hilfe seines Therapeuten zu konstruieren hat, darf sich jedoch nicht darauf beschränken, seinen Platz in einer Familiengeschichte zu definieren. Sie muss ihm auch in einem viel allgemeineren Sinne ermöglichen, sich seine Zukunft innerhalb der großen und komplexen Gesellschaft vorzustellen. Wenn nicht, in einem mehr metaphysischen Sinne, innerhalb des Kosmos. Mit den Worten von C. Lévi-Strauss gesprochen, muss diese Erzählung es ermöglichen, individuellen und gesellschaftlichen Mythos zu verknüpfen. Die endlich gefundenen Worte des Subjekts müssen den Worten des Stammes begegnen und mit ihnen halbwegs übereinstimmen. Der Therapeut kann daher nicht darauf verzichten, wenn schon nicht zu sagen, so doch zumindest verständlich zu machen, wie die gute Gesellschaft seiner Meinung nach aussehen sollte. Der Stamm oder die Stämme, die es auszuwählen gilt. Derjenige, dessen Anerkennung erreicht werden soll. Aber welchen Stamm, wird man zu Recht fragen? Ein guter Stamm ist in einer komplexen Gesellschaft wie der unseren so schwer zu finden wie der gute Therapeut, der richtige Therapeut. Sicher ist jedoch, dass es keinen positiven therapeutischen Kreislauf geben kann, der das Subjekt nicht potenziell in eine oder mehrere soziale Zugehörigkeitsgruppen einfügt. Das Subjekt muss wissen, wen es lieben und von wem es geliebt werden möchte. Am Schnittpunkt von englischem belief und deutschem belieben bedeutet »daran glauben«, wie die Etymologie perfekt demonstriert39 , lieben. Man kann nur glauben, was man liebt. An das, was man liebt. Die Rolle des Therapeuten besteht darin, sich beliebt zu machen, aber gleichzeitig dem Patienten zu erlauben, sich aus dieser Liebe zu lösen, um sie auf andere zu übertragen, mit denen man eine Beziehung der Gruppenzugehörigkeit eingehen möchte. Man will »dabei sein«. Daran zu glauben, heißt dabei zu sein.
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Norbert Elias, Au-delà de Freud. Sociologie, psychologie, psychanalyse, Paris 2010. Woran der Anthropologe Rodney Needham erinnerte, der in dem zitierten Werk die drei Etymologien des Glaubens in den europäischen Sprachen vorstellte: das Glauben als Liebe des belief oder germanischen belieben, das Glauben als Kredit oder Forderung des lateinischen credo, das Glauben als Beitritt oder Verpflichtung des griechischen pistis.
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Eintritt in den positiven therapeutischen Kreislauf Das oben Gesagte hat unserer Meinung nach eine Reihe von Bedingungen beschrieben, die für eine Heilung notwendig sind. Damit es gut läuft, damit »es funktioniert«. Aber diese Bedingungen bilden ein System. Sie setzen sich gegenseitig voraus. Wenn man glaubt in, wenn man glaubt an, wenn man glaubt, dass, dann kann man auch glauben, weil, daran glauben, den Glauben haben, und Affekte, Empfindungen und Vorstellungen – individuelle wie kollektive – in einer Dynamik des Lebens, der Freiheit und der Kreativität verschmelzen, in der Gabefähigkeit. Ja, aber was tun, wenn diese »Wenns« nicht vorhanden sind? Welchen Weg muss man gehen, um in den positiven therapeutischen Kreislauf einzutreten? Zwei Hauptwege, eher komplementär als gegensätzlich, scheinen möglich zu sein: der der Gabe, der asymmetrischen Allianz, einerseits, und der des Spiels, der Symbolik und der Metaphorisierung andererseits.
Bund, Gabe, unbedingte Unbedingtheit und Opfer Was die Geschichte der Wandlungen und Neuformulierungen der Bundestheologie und des Covenant of Grace zeigt, die über mehr als zwei Jahrhunderte hinweg zur Herausbildung eines therapeutischen Optimismus geführt haben, in der Therapie wie auch in anderen Erfahrungen, bei denen die Symbolik eine Rolle spielt, ist die Bedeutung eines Moments der Unbedingtheit und Asymmetrie in der Beziehung des Patienten zu seinem Therapeuten und zu der Legitimierunginstanz, die er verkörpert. Die Existenz dieser Asymmetrie ist offensichtlich, sobald man annimmt, dass gegenüber dem Patienten, der leidet und seine Anfälligkeit bloßstellt, der Therapeut sich in der Position des vermeintlich Wissenden, Wollenden und Könnenden befindet, insofern er oder sie an der einen oder anderen Form von bedingungsloser Gnade teilhat. Dies gilt, in unterschiedlichem Maße, für jede Art von therapeutischer Beziehung (aber auch für pädagogische oder Autoritätsbeziehungen). Das besonders Interessante im Fall des Covenant of Grace ist, dass er gleichzeitig auf besonders klare, gleichsam zugespitzte Weise diese anthropologische und symbolische Notwendigkeit betont, dass es ein Moment der Asymmetrie und der Unbedingtheit gibt, damit die zwischen Menschen gebildeten Bündnisse Bestand haben, und dass er zugleich das Feld der modernen Psychotherapien begründet, die zutiefst individualistisch und demokratisch geprägt sind.
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Indem sie die Logik der Reformation und damit der Abspaltung von allen konstituierten Autoritäten auf die Spitze treiben, vertrauen Bundestheologie und Puritanismus dem Einzelnen selbst die Aufgabe an, heilige Texte und Schriften im Hinblick auf sein eigenes Heil zu interpretieren. Er kann und darf nur glauben, was er zu glauben beschließt. Ja, aber um gerettet zu werden, muss er akzeptieren, der Nutznießer einer bedingungslosen, radikalen und primären Gabe zu sein. Einer unvergleichlichen Gabe, der Gabe seines Heils. Eine schärfere Spannung zwischen Autonomie und Heteronomie kann man sich nicht vorstellen. Zwischen Individualismus und Holismus, zwischen radikaler Immanenz und Transzendenz. Zwischen einer – utilitaristischen – Vertragslogik »Ich glaube an dich nur in dem Maße, wie es mir nützt« – und einer übervertraglichen Logik: »weil du mir bedingungslos gegeben hast, so glaube ich bedingungslos an dich. Und an mich.« Formulieren wir das allgemeiner: Um an einer gewöhnlichen sozialen Existenz teilnehmen zu können, die aus einer Vielzahl von Gabe/Gegengabeoder Zug-um-Zug-Beziehungen besteht, muss man sich von einem Moment oder einer Instanz des Unbedingten inspirieren lassen, die sie begründet und ohne die, wenn jeder nur in der Hoffnung geben will, mehr zu erhalten, als er gibt, keine Vertrauensbeziehung möglich wäre. Beziehungsweise, derjenige, der nach einer Form von Heilung sucht, leidet, weil er in gewöhnlichen Gabebeziehungen nicht auf seine Kosten gekommen ist, entweder, weil er ein Tabu verletzt hat, das ihn zur Vorstellung des Todes verurteilt, oder weil er das Gefühl hat, dass er immer in der Schuld steht, dass er zu viel erhält, ohne erwidern zu können, oder im Gegenteil, dass er immer zu viel gibt, dass er nie bitten kann, oder im Gegenteil, dass er stets der Bittende ist usw. In die von Mauss analysierte Gabebeziehung geht stets ein Teil von Unbedingtheit ein, der für die Beziehung konstitutiv ist, und ein Teil von Tausch und Berechnung. Ein Moment von Unbedingtheit und ein Moment von Bedingtheit. Man geht nur eine Bündnisbeziehung ein, wenn man sich dem Wagnis der Unbedingtheit stellt, aber man ist nicht an diese Beziehung gebunden, wenn man darin nicht auf seine Kosten kommt. Oder wenn das Ergebnis immer ungünstig ist. Das menschlich und gesellschaftlich tragfähige Modell ist das der bedingten Unbedingtheit.40 Man gehört bedingungslos zu dieser oder jener sozialen Formation. Zu seiner Familie, zu diesem oder jenem Stamm. Aber im Rahmen dieser primären, jeder Berechnung entzogenen Unbedingtheit und Zugehörigkeit, ist es legitim, zu erhoffen und zu fordern, 40
Auch hier kann ich nur auf Kapitel IV meiner Anthropologie der Gabe, a.a.O., verweisen.
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was einem zusteht, und sich von der Loyalitätspflicht zu befreien, wenn das, was einem zusteht, nicht da ist. Eine solche bedingte Unbedingtheit ist zweifellos ein gemeinsames Merkmal so unterschiedlicher menschlicher Erfahrungen wie Magie, Religion, Therapie und Spiel.41 Man kann die Hypothese aufstellen, dass psychische Störungen, zumindest viele von ihnen, das Resultat eines Ungleichgewichts zwischen Unbedingtheit und Bedingtheit sind. Entweder ist man zu viel oder zu wenig bedingungslos geliebt worden. Oder, im Gegenteil, radikal gehasst worden. Oder aber, man ist immer nur auf eine Weise geliebt worden, die an Bedingungen geknüpft war, solange man sich gut benahm, gute Schulnoten hatte usw.42 Der Covenant of Grace inszeniert eine absolut asymmetrische und bedingungslose Gabe (und in diesem Fall eine Liebe), die, anstatt das Subjekt in unendliche Dankbarkeit und ein fatalistisches Ohnmachtsgefühl zu versetzen, ihm seine volle Freiheit gibt. Er schafft den Covenant of Works, das Heil durch Werke, nicht ab, sondern macht ihn möglich und wirksam als Zeugnis der empfangenen Gnade. Der moderne Therapeut (aber auch schon der traditionelle Hexer oder der hinduistische Opfergeber) steht mit dem Patienten in einer vertraglichen Beziehung eines freien Individuums zu einem anderen freien Individuum. Aber durch diesen bedingten Vertrag verpflichtet er sich, einen Moment der Unbedingtheit zu verkörpern und so dem Patienten zu 41
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In unserem Überblick über die allgemeinen Formen der symbolischen Wirksamkeit in der Therapie erhellen sich die verschiedenen Arten von Praktiken wechselseitig. Es ist möglich, in der Person des Psychotherapeuten bestimmte Züge des Schamanen oder des Priesters zu finden. Umgekehrt ist es schwer, die entscheidende Bedeutung dieses Moments der Unbedingtheit verstehen zu wollen, ohne sich auf die Erfahrung des Säuglings oder Kleinkindes zu beziehen, das nur im Rahmen einer ursprünglichen und bedingungslosen Bindung, begleitet von einem ebenso bedingungslosen Vertrauen, an die Mutter leben und sich entwickeln kann. Hier spielt die Psychoanalyse die Rolle des Vorreiters, indem sie die fundamentale Rolle der Mutterliebe hervorhebt. Wir verstehen dann besser, warum »glauben« (belief ) »lieben« (belieben) bedeutet. Andererseits scheinen sich diese Momente der Unbedingtheit und Bedingtheit in magischen, religiösen, therapeutischen und vielleicht spielerischen Erfahrungen »syllogistisch« zu verbinden: Sie sind nur aus einem apriorischen »glauben in« möglich, das noch kein bewusstes »Weil« beinhaltet, also aus einem asymmetrisch-unbedingten Moment. Ebenso ist der bedingt vertragliche Tausch erst ab einem Gründungsmoment möglich, der die Vertragsparteien als mögliche Partner setzt. Dieser ganze Ansatz wird in A. Caillé und J.-É. Grésy, Œil pour œil, don pour don, a.a.O., entwickelt und systematisiert.
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helfen, das verlorene oder noch nie erreichte Gleichgewicht zwischen Unbedingtheit und Bedingtheit (wieder) herzustellen. Am Ende der Therapie sind die Rechnungen beglichen, und wenn alles gut gegangen ist, bleibt für den ehemaligen Patienten nur noch die Dankbarkeit für den Moment der Unbedingtheit, in dessen Genuss er gekommen ist. Um den Anspruch erheben zu können, in den Genuss der Gnade, des Versprechens auf Gesundheit, Glück und Heil zu kommen, die von der transzendenten Instanz bedingungslos ausgehen, muss man sich entschließen, ihr im Gegenzug oder im Voraus eine Gabe zu machen, die so transzendent ist wie ihre eigene – unvergleichlich mit gewöhnlichen Gaben. Hier muss die eine oder andere Art von Opfer ins Spiel kommen. Ein Verzicht auf etwas Kostbares. Sein Erstgeborenes zum Beispiel bei den Phöniziern oder auf der Osterinsel. Die erlittenen Qualen während der Initiationsriten. Die erahnte Möglichkeit des eigenen Todes. Das Opfer seines ersten Lebens, um in einem zweiten Leben wiedergeboren zu werden. Oder, prosaischer, die ansehnlichen Honorare, die man seiner Psychoanalytikerin zahlt.
Spiel, Symbolik und Metapher Was der Artikel von C. Lévi-Strauss glänzend aufzeigt, ist die Tatsache, dass der primäre Antrieb der symbolischen Wirksamkeit die Fähigkeit des Therapeuten ist, die Beschwerden mit Worten zu belegen, sie zu benennen. Dem Diskurs und dem Bereich der Vorstellung zugänglich zu machen, was bis dahin »unausgesprochen und unaussprechlich« war. Wie lässt sich diese diskursive und dialogische Ordnung bezeichnen, in der Patient und Therapeutin gemeinsam eintreten? Werden wir von einer symbolischen Ordnung (oder Funktion) sprechen? Aber wie ist das zu verstehen? Ist dieser Ausdruck nicht mit zu vielen Unklarheiten behaftet?43 Sprechen wir über den Bereich der Vorstellung, jenen Bereich, in dem es darum geht, etwas präsent zu machen, das nicht da ist und das nicht da sein sollte? Den Bereich der Metaphern? Ein weitläufiges Thema! Fest steht auf jeden Fall, dass die Begegnung und der Dialog zwischen Patient und Therapeut nur über eine gemeinsame Sprache und Kultur
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Vgl. Vincent Descombes, »L’équivoque du symbolique«, Revue du MAUSS semestrielle, Nr. 34, 2. Halbjahr 2009. Aber ist nicht auch diese Zweideutigkeit das, was seine Stärke ausmacht? Ganz gleich, wie man es definiert, das Symbol erscheint immer mehrdimensional, »geschichtet«. Kein Wunder, dass seine Definitionen es ebenfalls sind…
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stattfinden kann. Sprache und Kultur, die sich eng überschneiden und deren Beherrschung es ermöglicht, durch eine Mischung und ein Spiel von Zeichen, Symbolen, Metaphern und Vorstellungen virtuelle Entitäten hervorzurufen.44 Ein »Spiel« mit Zeichen, Symbolen, Metaphern und Vorstellungen (den Signifikanten bei den Lacanern), das Wort ist nicht zu stark. Denn es handelt sich wirklich um eine Form von Spiel. Wir haben zuvor an die starke These von Johan Huizinga erinnert, der zufolge sich menschliche Kulturen durch das Spiel gebildet haben. Alle Therapien haben mit Spielen mindestens die folgenden Elemente gemeinsam. Wie diese finden sie in einer bestimmten Zeitlichkeit und Räumlichkeit statt, abgesondert vom gewöhnlichen Leben. Sie können sich nur innerhalb eines Rahmens entfalten und wirksam sein. Letzterer definiert die Regeln dessen, was zu sagen oder zu tun erlaubt, empfohlen oder verboten ist. Ein Teil der Behandlung besteht im Übrigen darin, die Spielregeln und -rituale zu erlernen. Wenn die Festlegung des Rahmens – die Vorgabe (framing) – so wichtig ist, dass sie als einer der wesentlichen Faktoren der symbolischen Wirksamkeit erscheint, dann deshalb, weil sie es dem Patienten ermöglicht, endlich zu erfahren, welches Spiel gespielt wird. Verloren in der Komplexität des Lebens, allzu oft Verlierer in den vielen Spielen, die es zu spielen gilt – ein guter Vater sein, eine gute Gattin, ein guter Sohn, eine gute Hausfrau oder eine Führungskraft, die die gläserne Decke durchbrochen hat usw. – und deren Regeln ihm immer undurchsichtiger erscheinen, findet er dort ein Spiel der Spiele, ein Spiel, das alle anderen metaphorisch zusammenfasst und verdichtet und ihm die Hoffnung gibt, es endlich eines Tages beherrschen zu können. Sobald diese Regeln verstanden, erlernt und verinnerlicht sind, kann das Spiel ernsthaft beginnen, und sowohl beim Patienten als auch beim Therapeuten kann sich ein gewisser Einfallsreichtum entwickeln. Es gibt Platz zum Spielen. Ein Raum der Freiheit-Kreativität. Der Spontaneität. Alles, was im gewöhnlichen Leben verloren gegangen war oder niemals existiert hatte. Wenn die Therapie erfolgreich abgeschlossen ist, wird der Patient wissen, wie er das Spiel des Lebens zu spielen hat, und zwar umso besser, wenn er es versteht, sich Raum zum Spielen zu gönnen.
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Es ist diese vernünftige Idee, die der Ethnopsychiatrie und dem Ansatz eines Tobie Nathan Kraft verleiht. Was sie jedoch ernsthaft erschwert, ist die Tatsache, dass sich die Kulturen und Sprachen nun zunehmend vermischen und verschränken.
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Schlussfolgerung Sicherlich, um die Merkmale herauszuarbeiten, die allen wortbezogenen Formen der Therapie gemeinsam sind, mussten wir etwas überspitzen und eine Reihe von Dimensionen außer Acht lassen. Was ist das Gemeinsame zwischen einem banalen Besuch beim Hausarzt oder einem ein- oder zweimal konsultierten Psychologen und dem Rückgriff auf den Schamanen, den Dorfzauberer, den Exorzisten oder, auf einer anderen Ebene, mit dem langen Werdegang des buddhistischen Mönchs oder des Analysanden? Zwischen der Wunderheilung innerhalb eines Augenblicks – »Herr, sprich nur ein Wort, und ich werde gesund« – und der langsamen Entwicklung des Analysanden? Die Unterschiede sind offensichtlich. Aber es scheint uns, dass wir in all diesen Fällen, in offensichtlich sehr unterschiedlichen Proportionen und nach sehr unterschiedlichen Modalitäten und Zeitlichkeiten, alle Komponenten der symbolischen Wirksamkeit finden, die hier identifiziert wurden: die Verbindung der verschiedenen Formen des Glaubens im »Daran glauben«, der Glaube, die pistis der Evangelien.45 Ein Glaube, der die Überschneidung von Fühlen, Denken und Wollen, die Harmonisierung des Biologischen, des Psychischen und des Sozialen voraussetzt, dank der Vermittlung eines Therapeuten, der wissen, wollen und können soll, der fähig ist, Anerkennung zu geben, eine Authentifizierung des Selbst zuzulassen, in einer Dialektik von Unbedingtheit und Bedingtheit, von Transzendenz und Immanenz, mit der Fähigkeit, die Krankheiten mit Worten (oder Gesten) zu belegen. Hinzu kommt die Bedeutung des Rahmens und der Spielräume, die es zu erobern gilt. All dies sind Komponenten dessen, was man als therapeutische Relationalität bezeichnen könnte. Denn ist es letztlich nicht die Beziehung, die heilt? Die symbolische Wirksamkeit ist dann eine Frage der relationalen Wirksamkeit. Aber nicht jede Beziehung heilt. Um wirksam zu sein, muss sie die von uns identifizierten Aspekte aufweisen. 45
Pistis (Vertrauen, Treue, Verpflichtung) ist der griechische Begriff der Evangelien, der mit »Glaube« übersetzt wird, so wie das Verb pisteuein mit »glauben« übersetzt wird. Siehe Hebräer 11:1: »Es ist aber der Glaube (pistis) eine feste Zuversicht dessen, was man hofft, und ein Nichtzweifeln an dem, was man nicht sieht.« Needham weist darauf hin, dass dies nicht die Begriffe sind, die von den Griechen in hellenistischer Zeit verwendet wurden, um sich auf den Glauben an heidnische Götter (theous nomizein) zu beziehen, der die Anerkennung einer offensichtlichen Tatsache war. Damit betont er die Einzigartigkeit des Glaubens in der jüdisch-christlichen Tradition. Siehe: R. Needham, Belief, Language and Experience, a.a.O., S. 47.
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Selbst angenommen, dass diese wenigen Bemerkungen es ermöglicht haben, die Triebkräfte der symbolischen Wirksamkeit besser zu verstehen, bleiben noch viele Fragen zu vertiefen. Mindestens zwei wesentliche. Zunächst einmal haben wir angedeutet, dass es den Kanälen, durch die Worte, Symbole, »Triebrepräsentanzen« wirken, gelingt, sich an den Körper zu heften, neue Empfindungen zu vermitteln, das Gefüge der Gefühle und Leidenschaften zu verändern – diese Kanäle sind in der emotionalen Dimension der Erfahrung zu suchen. Um die Frage nach der symbolischen Wirksamkeit wirklich beantworten zu können, müssen wir die gesamte psychophysische Rhythmologie, die gesamte Energetik des Subjekts beschreiben können.46 Was die »Wirkprinzipien« anbelangt, die zu einer gewissen Wirksamkeit der verschiedenen Psychotherapien, auch über die Vielfalt ihrer jeweiligen theoretischen Grundlagen hinaus, führen, so können nur Hypothesen aufgestellt werden. Im Sinne der hier vorgestellten Ideen wird es jedoch logisch sein, davon auszugehen, dass das Wirkprinzip die Gabebeziehung ist, die der Therapeut aufzubauen weiß, eine Gabebeziehung, die zumindest für eine gewisse Zeit notwendigerweise asymmetrisch ist, da sie einen Moment der Unbedingtheit aufweisen muss. Dies impliziert noch keine bestimmte psychotherapeutische Technik. Denn man kann in den Gabezyklus nicht auf die gleiche Weise eintreten, mit jemandem, der im Bitten verharrt und mit jemandem, der z.B. im Geben oder in der Pflicht zum Erwidern gefangen ist. Ganz zu schweigen von denen, die sich in der Gleichgültigkeit, Verweigerung oder Gewalt des Nehmens befinden. Und die Gabe genügt sich keineswegs selbst, bei Weitem nicht. Um Zugang zu ihr zu erhalten oder zu ihr zurückzukehren, wird es zweifellos auch notwendig sein, auf Verhandlungen, Verweis auf die Regeln, ja sogar auf Macht und bestimmte Formen von Gewalt zurückzugreifen, wie es zum Beispiel die Zen-Meister tun.47 Es ist, wie man 46
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Dem Historiker und Philosophen Pascal Michon verdanken wir, in Anlehnung an Henri Meschonnic auf die Bedeutung des Rhythmus bei der Strukturierung von Gesellschaften und menschlichen Subjekten aufmerksam gemacht und die Bedeutung hervorgehoben zu haben, die M. Mauss diesem Rhythmus beimaß. Schrieb letzterer nicht: »Der Mensch ist ein rhythmisches Tier?« Siehe P. Michon, Éléments d’une histoire du sujet, Paris 1999, oder Marcel Mauss retrouvé. Origines de l’anthropologie du rythme, Paris 1. Aufl. 2010, 2. Aufl. 2015. Es wäre äußerst faszinierend, eine Typologie der verschiedenen psychotherapeutischen Techniken im Hinblick auf ihre implizite Beziehung zum Gabezyklus zu erstellen, wobei einige sich zum Beispiel weigern, auf die Bitte zu antworten und den Therapeuten als Empfänger darzustellen, während andere hingegen ihre Empathie betonen
12. »Daran glauben.«
sieht, Platz für eine Vielzahl von therapeutischen Ansätzen. Aber es scheint nicht allzu gewagt zu sein, die Hypothese aufzustellen, dass der gute Therapeut derjenige ist, der sich auf die eine oder andere Weise vom Geist der Gabe inspirieren lässt. Letztendlich jedoch, und das macht die psychotherapeutische Beziehung so spezifisch, muss der Patient, damit er vollen Zugang zum Gabezyklus, zu seiner eigenen Gabefähigkeit 48 erhält, und abwechselnd Bittsteller, Geber, Empfänger oder Gegenleister sein kann, die Gabe/Gegengabe-Beziehung zu seinem Therapeuten verlassen. So dass er die Rechnungen mit ihm begleicht, was ihn nicht daran hindern soll, ihm seine Dankbarkeit zu bewahren, aber fortan auf Distanz. Was heißt, Zugang zu seiner eigenen Gabefähigkeit zu erhalten? Natürlich mit anderen in eine Dimension wahrer Großzügigkeit (Gabefähigkeit 1) einzutreten, in dem Wissen, was es bedeutet, zu geben und zu empfangen, aber auch Zugang zu einer Form von Kreativität oder, sagen wir, Generativität zu erhalten (Gabefähigkeit 2). Dazu muss man lernen, das zu sein, was man wird. Aber, ob im Vorhinein oder Nachhinein, bedeutet es auch und vielleicht zuallererst, in eine Gabebeziehung mit sich selbst einzutreten. Das beinhaltet, nach der Formel des Philosophen Paul Ricœur, »sich selbst als einen anderen«49 zu betrachten. Aber ein anderer, dessen Freund man zu werden versucht, wenn man es nicht schon ist. Mit dem man also Gabebeziehungen unterhalten kann. Kurz gesagt, mit dem man wiederum bitten, geben, annehmen und erwidern kann. Ansonsten haben wir uns hier auf die Bestandteile der Heilung durch Worte und Symbole konzentriert. Aber was ist mit Heilung gemeint? Kann ein Dschihadist, der sich für geheilt hält, weil er im Begriff steht, Dutzende von Menschen zu töten, nachdem er seinem therapeutisch-neuen Vordenker gelauscht hat, wirklich als geheilt betrachtet werden? Das sollte uns, jenseits der therapeutischen Frage, veranlassen, uns ganz allgemein mit den Triebkräften
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usw. Für eine solche Arbeit wäre uns das bemerkenswerte und enzyklopädische Buch von Horacio Etchegoyen, Fondements de la technique psychanalytique, Paris 2005, eine große Hilfe. Ich glaubte, diesen bereits im vorigen Kapitel über die Kunst verwendeten Neologismus prägen zu müssen, um sowohl die Fähigkeit des Subjekts zu bezeichnen, richtig zu bitten, zu geben, zu empfangen und zurückzugeben (Gabefähigkeit 1), als auch sich Tätigkeiten zu widmen, die es zu einem Moment der Gegebenheit (Gabefähigkeit 2) in Beziehung setzen. Hartmut Rosa würde von seiner Fähigkeit sprechen, in Resonanz zu treten. P. Ricœur, Das Selbst als ein Anderer, a.a.O.
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des Glaubens zu beschäftigen. Wetten wir jedenfalls, dass der Einstieg über die Frage der symbolischen Wirksamkeit zumindest eine gute Einführung in die Frage nach dem Status der Religion ist, die wir im nächsten Kapitel behandeln werden.
13. Eine Rückkehr zur Religion. Grundzüge einer allgemeinen Soziologie
Einer der Hauptgründe dafür, dass es der klassischen Soziologie nicht gelungen ist, einen Grad an Klarheit und paradigmatischer Vereinheitlichung zu erreichen, der mit dem vergleichbar wäre, den die Wirtschaftswissenschaften – im Guten wie im Schlechten – erlangt haben, ist ihre Unfähigkeit, eine minimale Definition und Theorie der Religion zu finden, die von allen großen grundlegenden Schulen dieser Disziplin akzeptiert und cum grano salis geteilt werden kann. Sie alle, und sogar der Marxismus auf seine Weise, sind sich jedoch darin einig, dass die Religion – oder religiöse Vorstellungen und Überzeugungen – eine entscheidende Rolle bei der Bildung, dem Funktionieren und der Entwicklung von Gesellschaften spielt. Aber mit Ausnahme Durkheims hat sich keiner an eine halbwegs kohärente Definition von Religion herangewagt. Auffallend ist zum Beispiel, dass ein Max Weber, der doch den größten Teil seines grandiosen Werkes der Betonung der entscheidenden Rolle der Religion bei der variablen Stellung wirtschaftlicher Praktiken in verschiedenen Gesellschaften widmete, dies kategorisch ablehnte. Ich für meinen Teil habe in Kapitel VI meiner Théorie anti-utilitariste de l’action einen Versuch unternommen, aber ich muss zugeben, dass er selbst bei meinen engsten Freunden keine Wirkung hatte. Ich schließe daraus, dass er unhandlich und jedenfalls nicht leicht anwendbar war. Die Versuchung ist also groß, in die theoretische und epistemologische Entmutigung einzustimmen, die seit langem ein Kennzeichen der Soziologie ist. Mehr oder weniger explizit scheint sie uns zu sagen: Ja, Religion spielt eine Schlüsselrolle in der gesellschaftlichen Existenz, aber wir wissen nicht, was sie ist, und es ist nutzlos oder unmöglich, dies herausfinden zu wollen. Umso nutzloser und unmöglicher, hören wir immer öfter, als die Idee und das Wort der Religion selbst verdächtig sind. Da sie lateinischen Ursprungs sind, würden sie nur im Kontext des Christentums Sinn machen, und jeder Versuch, sie zu univer-
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salisieren, kann nur von einem abzulehnenden Ethno- oder Eurozentrismus herrühren.1 Dieses Eingeständnis der Ohnmacht schien vor zwei oder drei Jahrzehnten keine großen Folgen zu haben, da die vorherrschende Gewissheit war, dass sich alle Gesellschaften, wenn auch in unterschiedlichen Geschwindigkeiten, in einem Prozess zunehmender Säkularisierung befinden, einer »Abkehr von der Religion«. Es spielte deshalb keine Rolle, wovon man sich genau abkehrte, sofern es denn der Fall war. Eine solche theoretische Ungeniertheit ist heute nicht mehr wirklich angebracht, da wir Zeuge eines Comebacks religiöser Leidenschaften sind, die wir für immer überwunden zu haben glaubten. Es ist daher unmöglich, die Frage nach dem Wesen der Religion einfach abzuschreiben. Wenn wir in Übereinstimmung mit dem modernen agnostischen Geist in diesem Comeback eine Rückkehr des Verdrängten sehen wollen, ist es nunmehr von größter Wichtigkeit zu wissen, was verdrängt worden ist und warum. Und warum diese Verdrängung gescheitert ist. Man spürt sehr wohl, dass es nicht ausreichen wird, das Untersuchungsfeld auf das Christentum oder auf die so genannten großen Religionen, die Weltreligionen, zu beschränken. Es liegt auf der Hand, dass bei dem, was wir Religionen nennen, etwas von universeller Tragweite auf dem Spiel steht. Wie können wir diese universelle Dimension begreifen und gleichzeitig der unendlichen Vielfalt dieser Erscheinungsformen gerecht werden? Zu dieser Frage möchte ich einige Antwortelemente beisteuern, indem ich mich auf das Gabenparadigma beziehe, d.h. das allgemeinsoziologische (asystematische…) System, das sich aus Marcel Maussʼ Entdeckung der Universalität der dreifachen Verpflichtung zum Geben, Annehmen und Erwidern ableiten lässt. Es sei im Übrigen darauf hingewiesen, dass der von Marcel Mauss im Essay über Die Gabe verfolgte Ansatz, wenn er richtig verstanden wird, einen ersten Schritt darstellt, um der methodologischen und erkenntnistheoretischen Schwierigkeit zu begegnen, die darin besteht, die Universalisierung eines in einer bestimmten Kultur entstandenen Begriffs vorzunehmen. Das Problem ist in der Tat dasselbe für die Gabe und für die Religion.
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Vgl. zum Beispiel in Nr. 40 der Revue du MAUSS semestrielle, 1. Halbjahr 2017, meine Debatte mit Michael Singleton. Siehe auch, von Albert Piette, Le Fait religieux. Une théorie de la religion ordinaire, Paris 2009, und unlängst das Kapitel über Religion in dem von Pierre Legendre herausgegebenen Buch Un tour du monde des concepts, Paris 2015. In der angelsächsischen Welt ist der in diesem Bereich meistzitierte Autor Talal Asad.
13. Eine Rückkehr zur Religion
Niemand war aufmerksamer gegenüber der unendlichen Vielfalt der Kulturen als Mauss, niemand war relativistischer, da für ihn das Wesen der Kulturen ihre »Willkür« ausmachte, eine als natürlich gesetzte und eingeforderte Willkür. Doch was Mauss durch eine ganze Reihe von Beispielen aus allen Orten und allen Zeiten zu demonstrieren suchte, war eine gewisse Universalität der Gabe, in dem er den »Fels der unvergänglichen Moral« sah. Jede Kultur definiert Geber und Empfänger anders, oder was gegeben oder empfangen werden soll und wie zu es geben und anzunehmen ist. Aber sie alle unterwerfen ihre Mitglieder der dreifachen Verpflichtung des Gebens, Annehmens und Erwiderns. Aber handelt es sich um eine »Gabe«? Ist das das richtige Wort? wird man zweifellos fragen. Nein, antwortete Mauss, fügte aber bekanntlich hinzu: »Aber wir haben kein anderes.« Dasselbe gilt für die Religion.2 Wenn ich über die Gründe nachdenke, warum meine Überlegungen zur Religion so undurchsichtig und wenig überzeugend geblieben sind oder erschienen, so schien mir, dass einer davon auf einen gewissen Mangel an Systematik zurückzuführen ist oder vielmehr darauf, dass ihre Systematik zu begrenzt, zu sehr auf den Bereich der Religion allein beschränkt ist. Oder noch einmal, wenn ich anfangs dachte, sie seien zu abstrakt, so glaube ich jetzt, dass sie nicht abstrakt genug waren. Denn man kann das Religiöse nur verstehen, wenn man es in ein klares Verhältnis zum Politischen, Wirtschaftlichen und Verwandtschaftlichen setzt, die ebenfalls sehr abstrakte Begriffe sind. In all diesen Punkten erbringt das Gabenparadigma in seinem gegenwärtigen Zustand gewisse Einsichten, aber es ist nicht ausreichend systematisiert, um den spezifischen Ort des Religiösen hervortreten zu lassen. Es muss daher zugleich vervollständigt und systematisiert werden, um den Zugang zur Religion zu vervollständigen und besser zu systematisieren.
2
Zur Veranschaulichung: Die Tatsache, dass es im Türkischen kein Wort für das gibt, was wir Gabe nennen, verhindert nicht, dass es Rituale obligatorischer Großzügigkeit gibt. Von Maussʼ Ansatz im Essay über Die Gabe könnte man sagen – auch wenn er ihn nicht explizit als solchen darstellt –, dass er weder induktiv noch deduktiv, sondern abduktiv ist. Er ist nicht deduktiv, weil er nicht von einem spekulativen und apriorischen Begriff der Gabe ausgeht; er ist nicht induktiv, weil er nicht durch eine bloße Anhäufung empirischer Beispiele auf die Existenz der Universalität der Gabe schließt, sondern er ist abduktiv, weil er, ausgehend von einer bestimmten Anzahl von Fällen, einen Sprung in die Verallgemeinerung vornimmt, dessen Fundiertheit nur durch das Licht, das er auf andere empirische Fälle wirft, bezeugt werden kann.
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Das Gabenparadigma systematisieren, um den Ort der Religion besser hervorzuheben Gehen wir also davon aus, dass Gesellschaften nach vier Hauptdimensionen strukturiert und organisiert sind, die wir als das Wirtschaftliche, das Politische, das Verwandtschaftliche (oder Anthroponomische) und das Religiöse bezeichnen werden.3 Diese vier Dimensionen werden in ihrem weitesten Sinne verstanden, und es ist wichtig, sie von ihren historisch variablen Realisierungen in Form von Wirtschaft, Politik, Verwandtschaft und Religion zu unterscheiden. Beim Wirtschaftlichen geht es um die Aneignung der Natur durch Technik, darum, Bedürfnisse zu befriedigen und von Knappheit (Mangel) zu Überfluss zu gelangen. Beim Politischen geht es um die Konfrontation mit der Feindseligkeit – den Sie/Wir-Gegensatz –, um Feindschaft in Freundschaft zu verwandeln. Das Politische definiert die räumlichen Grenzen der Gesellschaft, verstanden als der Raum, in dem Freundschaft oder zumindest Verständigung über Feindschaft, Gleichgültigkeit oder Konflikt siegt. Dieser Raum ist auch der des Hier im Gegensatz zum Anderswo, oder des ›Unter uns‹ im Unterschied zum ›Gegen sie‹. Es ist der Raum, der vor Feindseligkeit durch die eine oder andere Form von Macht geschützt ist. Beim Verwandtschaftlichen geht es um eine andere Art von Naturbezug als beim Ökonomischen, um die Generationenfolge. Wo das Politische die Gesellschaften in ihre Räumlichkeit einfügt, fügt das Verwandtschaftliche die sozialen Subjekte in ihre Zeitlichkeit ein. Durch die Strukturierung der Beziehung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – gestern, heute und morgen – erzeugt das Verwandtschaftliche Leben durch Sexualität. Beziehungsweise, es erzeugt Fruchtbarkeit durch Überwindung der Sterilität.4 3 4
Wir werden bald eine fünfte hinzufügen… Das Verwandtschaftliche ist vielleicht nur ein Sonderfall, wenn auch ein besonders wichtiger, von dem, was Daniel Bertaux das Anthroponomische nennt, um die zugleich biologische, soziale und kulturelle Produktion und Reproduktion des Menschen zu bezeichnen (vgl. Daniel Bertaux, Destinations personnels et structure de classe. Pour une critique de l’anthroponomie politique, Paris 1977). Diese Produktion und Reproduktion erfolgt traditionell im privilegierten Rahmen der Familie, kann aber auch von der Schule, dem Krankenhaus usw. vorgenommen werden. Im Rahmen des Anthroponomischen sind die Care-Tätigkeiten angesiedelt. Dieses Konzept des Anthroponomischen erscheint uns viel zufriedenstellender als das Foucault’sche Konzept der Biomacht.
13. Eine Rückkehr zur Religion
Das Religiöse wiederum befasst sich mit der Beziehung zum Unsichtbaren und zum Kosmos und zu den unsichtbaren Wesenheiten, die diese repräsentieren. Mit Hilfe von Symbolen erweitert es die räumlichen und zeitlichen Grenzen über das Hier und Anderswo einerseits und über das Gestern und Morgen andererseits bis zum Unendlichen. Durch die Öffnung zum Unbegrenzten und Unbestimmten, zu einer Übernatur, ist es bestrebt, eher Gunst als Unheil, Glück, Gnade, Mana oder Charisma zu erzeugen.
Substantielle und formale Definitionen Diese minimalen Definitionen sind substantielle oder, wenn man so will, substantivische Definitionen.5 Sie bezeichnen Dimensionen des In-GesellschaftSeins, die in ihrer größten Allgemeinheit und damit in ihrer größten Universalität verstanden werden. Diese Allgemeinheit oder Universalität ist natürlich abstrakt. Sie äußert sich nie als solche, sondern immer nur in historisch besonderen Formen. Was wirklich existiert, ist nicht das Wirtschaftliche, sondern es sind konkrete Ökonomien oder Wirtschaftssysteme, die je nach den verwendeten Produktionstechniken und der Art der Beziehungen der Menschen in der Produktion, extrem unterschiedlich sind. Was wirklich existiert, ist nicht das Verwandtschaftliche im Allgemeinen, sondern es sind klar definierte Verwandtschaftssysteme, matrilineare, patrilineare, gemischte usw. Es gibt nicht das Politische im Allgemeinen, sondern nur spezifische Machtsysteme – die Politik. Und es gibt auch nicht das zeitlose, universelle und
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Selbst angenommen, Letzteres habe eine halbwegs identifizierbare Bedeutung, bezieht es sich nur auf eine historisch besondere Modalität des Anthroponomischen. Der Ansatz, der hier verfolgt wird, kommt dem des Anthropologen, Historikers und Ökonomen Karl Polanyi recht nahe, der zwei Konzepte der Ökonomie unterschied: die substantielle oder substantivische (substantive) Ökonomie und die formale Ökonomie. Der erste Begriff, der hier in sehr weitem Sinne verwendet wird, bezieht sich auf die Befriedigung materieller Bedürfnisse. Der zweite, so Polanyi, würde nur für eine Marktwirtschaft gelten, in der Knappheit und Mittel-Zweck-Berechnungen herrschen. Es erscheint uns vernünftiger, die verschiedenen Arten bestehender Wirtschaften, und nicht nur die Marktwirtschaft, als historisch und gesellschaftlich mögliche soziale Formen der substantiellen Wirtschaft darzustellen. »Substantivisch« ist die für das Französische gewählte Übersetzung von substantive in Les Systèmes économiques dans l’histoire et dans la théorie, Paris 1975, Neu herausgegeben unter dem Titel Commerce et marché dans les premiers empires, Lormont 2018. Substantiell wäre korrekter im Französischen.
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ewige Religiöse, sondern besondere Religionen, die sich je nach Art, Anzahl und Hierarchie der unsichtbaren Wesenheiten, mit denen sie im Bunde stehen, voneinander unterscheiden: eine Unendlichkeit? Ein paar privilegierte unsichtbare Wesenheiten in dieser Menge? Nur eine? Verwechseln wir also nicht das Wirtschaftliche und die Wirtschaft (die Wirtschaftssysteme), das Politische und die Politik (die politischen Systeme), das Verwandtschaftliche und die Verwandtschaft (Verwandtschaftssysteme), das Religiöse und die Religion. Wir müssen uns jedoch davor hüten, anzunehmen, dass die Konzepte des Wirtschaftlichen, Verwandtschaftlichen, Politischen oder Religiösen wegen ihrer Abstraktheit auf keine Realität verweisen würden. Im Gegenteil, die Realitäten, die sie bezeichnen, sind außerordentlich präsent und aktiv, schon allein dadurch, dass sie die Unvollständigkeit und Unzulänglichkeit der konkreten Systeme offenbaren, die sich dazu berufen fühlen, sie zu verwirklichen. Da die Wirtschaft nie ganz in der Lage ist, Knappheit zu verringern und Überfluss zu produzieren, ist keine konkrete Wirtschaft, kein bestimmtes Wirtschaftssystem jemals den Anforderungen des Wirtschaftlichen gewachsen. Die Politik ist nicht allein Sache der instituierten Macht. Wenn nicht alle Mitglieder einer Gesellschaft bei der Wahl der einzugehenden Bündnisse oder der zu bekämpfenden Feinde übereinstimmen, dann wird kein politisches System, kein Machtsystem in der Lage sein, den Konflikt und den Krieg aller gegen alle zu vermeiden.6 Legalität und Legitimität werden für immer voneinander getrennt sein. Jedes Verwandtschaftssystem hat Fehler, die dazu führen, dass die eine oder andere Partei verprellt wird, Männer oder Frauen, Empfänger oder Geber von Frauen usw. Was für die einen Fruchtbarkeit ist, ist für die anderen Sterilität, zumindest vorübergehend. Da schließlich kein Glaubenssystem, keine instituierte Religion wirklich und endgültig das Glück oder den Trost bringen kann, den es verspricht, ist jedes insgeheim davon bedroht, durch andere Überzeugungen herausgefordert oder ersetzt zu werden, d.h. durch andere Arten, das Religiöse zu interpretieren und Bündnisse mit den unsichtbaren Wesenheiten einzugehen.
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Die Entscheidungen der Politiker oder Politikerinnen, der Mächtigen, können nur dann wirksam sein, wenn sie den Bestrebungen der Regierten entsprechen, die sie im Übrigen mitgestalten.
13. Eine Rückkehr zur Religion
Vier Bündnis- und Gabensysteme In jedem dieser vier Register geht es darum, Bündnisse zu schmieden. Bündnisse, Vereinigungen, As-Soziationen, das Gemeinsame usw., so wie man möchte. Witrschaftlich ein Bündnis mit der Natur, um Überfluss zu produzieren. Wiederum ein Bündnis mit der Natur, um Fruchtbarkeit zu erlangen, die Verlängerung des Lebens über den Tod hinaus durch Nachkommenschaft. Bündnisse mit Freunden gegen Feinde im Falle des Politischen, um Frieden und Harmonie zu erreichen. Bündnisse mit den unsichtbaren Wesenheiten, um Pracht, Glück (oder die Abwesenheit von Unglück), Gnade, Macht, Erfolg, Charisma, Mana, Baraka, Erlösung, Auserwähltheit usw. zu erlangen. Der Essay von Mauss über Die Gabe beschreibt auf außerordentlich suggestive Weise, wie die Gabe Bündnisse zwischen Menschen besiegelt. Er zeigt, dass sie der politische Operator schlechthin ist. Um zu einer allgemeinsoziologischen Sicht zu gelangen, ist es jedoch notwendig, ihre Analyse auf zwei Arten zu vervollständigen. Zunächst indem man den Anwendungsbereich der dreifachen Verpflichtung zum Geben, Annehmen und Erwidern über das Politische hinaus auf die drei anderen Register erweitert: das Wirtschaftliche, das Verwandtschaftliche und das Religiöse. Und dann, indem man den Geltungsbereich der dreifachen Verpflichtung erweitert und besser kontexualisiert. Zunächst einmal kann die Gabe keinen Sinn machen, wenn sie nicht auf eine Bitte (ein Bedürfnis, einen Mangel, einen Wunsch) reagiert oder wenn sie diese nicht vorwegnimmt. Es ist daher notwendig, wie wir in den ersten Kapiteln sagten, den Zyklus der dreifachen Verpflichtung zum Geben, Annehmen und Erwidern durch Berücksichtigung des Moments der Bitte zu vervollständigen. Andererseits kann der Zyklus der Gabe ebenfalls keinen Sinn ergeben, wenn man nicht versteht, dass es ihn vielleicht nicht gibt. Jede Gabe gilt als solche nur, wenn sie auch hätte unterbleiben können. Man muss also zeigen, dass der Zyklus der Gabe, der symbolische Zyklus des Bittens, Gebens, Annehmens und Erwiderns, der das Bündnis begründet, stets mit der Realität oder der Möglichkeit seines Gegenteils koexistiert, dem diabolischen Zyklus – demjenigen, der trennt oder die Feindschaft erhält – des Ignorierens, Nehmens, Verweigerns, Behaltens. In jeder der vier Dimensionen der sozialen Existenz, der wirtschaftlichen, der politischen, der verwandtschaftlichen und der religiösen, sehen wir also diese doppelte Beziehung am Werk, die symbolisch-diabolische Doppelhelix des Bittens-Geben-Annehmens-Erwiderns (BGAE) und des Ignorierens, Nehmens, Verweigerns, Behaltens (INVB). In
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einer Jäger- und Sammler- oder Gartenbauökonomie zum Beispiel steht man in einem Verhältnis des Bittens, Gebens, Annehmens, Erwiderns zur Natur. Es gibt zwar eine Entnahme, ein Nehmen – Tiere werden getötet, Pflanzen geerntet – aber eine Entnahme, die sofort durch eine Gegenleistung entschädigt und entschuldigt wird. In einer modernen Wirtschaft, die in der Natur nur unbelebte und theoretisch unerschöpfliche Materie sehen will, ignorieren wir ihre Forderungen, wir nehmen und behalten, ohne daran zu denken, dass es irgendetwas zu erwidern gäbe. In der Beziehung zu den Vorfahren oder Nachkommen ist die gleiche Variabilität zu beobachten wie in der Beziehung zu unsichtbaren Entitäten. In jeder der vier Dimensionen des sozialen Seins schätzt oder entwertet jede Kultur diesen oder jenen Moment des symbolischen oder diabolischen Zyklus. Man bittet die Ahnen um etwas oder man ignoriert sie. Man verehrt oder man fürchtet sie. Und dasselbe gilt für das Verhältnis zu den unsichtbaren Wesenheiten. Wir geben ihnen in der Hoffnung, dass auch sie etwas geben oder erwidern können. Einige Kulturen z.B. bevorzugen das Nehmen, Erobern oder Rauben, andere das Annehmen (wie in den Cargokulten), wieder andere die ostentative oder moralische Gabe, weitere das Bitten usw. Die Kombination der acht möglichen Hauptmomente des symbolischen oder diabolischen Zyklus in jedem der vier Register der sozialen Existenz gibt bereits eine Vorstellung von der gigantischen kulturellen Variabilität, die mit dieser Begriffsreihe idealtypisch erfasst werden kann.
Überlappungen der Bündnissysteme Es ist im Hinblick auf das Vorausgehende leichter zu verstehen, warum es immer unmöglich war, sich auf ein Konzept der Religion oder überhaupt auf ein allgemeinsoziologisches Konzept zu einigen. Das liegt daran, dass nicht zwischen substantiellen Konzepten – das Religiöse, das Politische, das Verwandtschaftliche, das Wirtschaftliche – und historisch variablen formalen Konzepten – Religionen, Machtsysteme, Verwandtschaftssysteme, Wirtschaftssysteme – unterschieden wurde. Bei Diskussionen über das Wesen und die Funktion von Religion war unklar, ob man von Religion oder vom Religiösen sprach – beziehungsweise, dritter Begriff, über die Religiosität, d.h. das individuelle Verhältnis der Gläubigen zum Unsichtbaren. Erschwerend kommt hinzu, dass bestimmte Funktionen des Religiösen z.B. nicht von der/den instituierten Religion(en), sondern von der Politik, der Verwandtschaft oder der Wirt-
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schaft erfüllt werden können. Wie Max Weber verdeutlicht hat, ist es möglich, das Heil eher in der Wirtschaft zu suchen – das Heil durch die Ökonomie als Nachfolge der Heilsökonomie – als in der Religion. Aber es ist auch möglich, es in der Politik zu suchen, wie von den so genannten säkularen Religionen, Kommunismus, Nationalsozialismus, Faschismus, vorgeschlagen. Und umgekehrt sind in archaischen Ökonomien die ersten eingesetzten Techniken der Religion entlehnt: Opferriten, Hexerei, Beschwörungen, Gebete usw. Ebenso hat die politische Macht von jeher religiöse Rechtfertigungen gefunden. Umgekehrt können sich Religionen nur dann durchsetzen, wenn sie eine wirtschaftliche, politische oder anthroponomische Rolle spielen.7 Und sie benutzen den jedem dieser Register eigenen Wortschatz. So wird eine Gottheit unter den Zügen des Monarchen oder des Heerführers erscheinen, eine andere, noch häufiger, unter denen des Vaters oder des Sohnes oder der Mutter. Die Gläubigen oder Kirchgänger sind Teil einer Tradition, sei es die ihrer Vorfahren oder die von verehrten Gestalten oder Wesenheiten. So klar die substantielle Unterscheidung zwischen dem Religiösen, dem Politischen, dem Verwandtschaftlichen (Anthroponomischen) und dem Ökonomischen ist, wie wir glauben, so sehr vermischen die konkreten Institutionen, die mit ihrer Realisierung betraut sind, die Register. Es ist daher nicht verwunderlich, dass man, wenn man versucht, Religion auf der Grundlage der bestehenden Religionen zu definieren (bei denen nicht einmal sicher ist, ob sie diesen Namen verdienen), zu keinem Ergebnis kommt, da jede einerseits eine andere Wahl der unsichtbaren Wesenheiten trifft, mit denen sie ein Bündnis eingeht, und weil jede andererseits das Register der Religion anders mit dem der Politik, der Verwandtschaft und der Wirtschaft kombiniert.
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Max Weber unterschied so die eigentlich wirtschaftlichen Phänomene (Handlungen, Institutionen) von ökonomisch wichtigen Phänomenen – die einen bedeutenden Einfluss auf die Wirtschaft haben – und wirtschaftlich bedingten Phänomenen. Diese Unterscheidung wird von Julien Freund in seiner Sociologie de Max Weber, Paris 1966, S. 133, gut herausgearbeitet. In diesem Sinne ist es auch möglich, zwischen eigentlich religiösen (zum Religiösen und/oder den Religionen gehörigen) sozialen Realitäten, solchen, die eine wichtige religiöse Rolle spielen (mit wichtigen Auswirkungen auf das Religiöse und/oder die Religionen), und durch das Religiöse und/oder die Religionen bedingte soziale Realitäten zu unterscheiden.
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Die vier Dimensionen des Bündnisses Um den Status und die Tragweite der Unterscheidung zwischen den vier grundlegenden Dimensionen der sozialen Existenz – dem Religiösen, Politischen, Verwandtschaftlichen und Wirtschaftlichen – vollständig zu erfassen, sind noch zwei Reihen von Anmerkungen erforderlich. Jede entfaltet sich, wie wir gesagt haben, durch eine Gabe/Gegengabe-Beziehung, aber eine Beziehung, die jedes Mal eine andere Richtung nimmt: horizontal für das Politische (hier/dort), diagonal8 für das Verwandtschaftliche (vorher/nachher), vertikal nach oben für das Religiöse (über die konkreten raumzeitlichen Beschränkungen hinaus Richtung Himmel), vertikal nach unten für das Ökonomische (Richtung Erde).9 Darüber hinaus ist es wichtig zu verstehen, dass das Religiöse und das Politische einerseits, das Verwandtschaftliche und das Wirtschaftliche andererseits nicht auf der gleichen Ebene liegen. Das Verwandtschaftliche und das Wirtschaftliche können sich nur innerhalb einer bestimmten Gesellschaft entfalten. Sie setzen deren Existenz voraus. Das Religiöse und das Politische hingegen konstituieren Gesellschaften. Sie sind deren Begründer. Sie funktionieren nicht innerhalb einer instituierten Gesellschaft. Nach außen gewandt – die Feinde, Sie; die unsichtbaren Wesenheiten, der Kosmos –, definieren sie die Grenzen der Gesellschaft, verstanden als die Gesamtheit derjenigen, die nicht Sie, sondern integrale Bestandteile des Wir sind. Nicht die anderen, dort, nicht die unsichtbaren Wesenheiten, die Anderen aus dem Jenseits, sondern die ganz konkreten sichtbaren Menschen (oder diejenigen, die es noch bis vor kurzem waren).10
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Longitudinal, wenn man das vorzieht. Die horizontale, politische Beziehung ist räumlich, die anthroponomische (verwandtschaftliche) Beziehung ist zeitlich, die religiöse Beziehung ist überzeitlich und überräumlich, die wirtschaftliche Beziehung ist unterzeitlich und unterräumlich. Diese mehrdimensionale Typologie der Gabenetzwerke wurde vorgeschlagen von A. Caillé (in »À propos de Maurice Godelier, L’énigme du don«, L’Homme, Nr. 142, April-Juni 1997, nachgedruckt in A. Caillé, Don, intérêt et désintéressement, a.a.O., 2005) und von Camille Tarot, »Don et grâce, une famille à recomposer« (in Gifts and Interests, Louvain 2000, S. 146, nachgedruckt in Revue du MAUSS semestrielle, Nr. 32, a.a.O.), gefolgt von JeanPaul Willaime (»La religion, un lien social articulé au don«, Revue du MAUSS semestrielle, Nr. 22, 2. Halbjahr 2003). Die prominenten Vorfahren, die Heroen, gehen nach Maßgabe ihrer Sakralisierung von der diagonalen in die vertikale Dimension über. So konnten zum Beispiel »Marx, Engels, Mao« zu wahrhaften Gottheiten werden.
13. Eine Rückkehr zur Religion
Das Religiöse, die Religiosität und die Religion Hier sind zwei weitere Klarstellungen zum Begriff des Religiösen erforderlich. Wir haben es zunächst als ein Bündnis mit dem Unsichtbaren definiert, das mit dem Ziel geschlossen wurde, Unheil – Unglück, widriges Schicksal, Unfruchtbarkeit, Tod, Wunden usw. – zu vermeiden und Glück und Gunst zu erlangen.11 Aber diese Beziehung kann sowohl von Einzelpersonen als auch von Kollektiven hergestellt werden. Im Falle der Individuen werden wir daher von ihrer Religiosität sprechen, um ihre Beziehung zur Unendlichkeit und Unsichtbarkeit dessen, was sie übersteigt, zu bezeichnen, aus der sie ihre En-
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Diese Formulierung könnte leicht in einem utilitaristischen Sinne interpretiert werden. Beschwört der Ausdruck »mit dem Ziel« nicht unmittelbar eine instrumentelle Zweck-Mittel-Relation, eine Kosten/Nutzen-Rechnung herauf? Das tut sie nicht. Oder besser gesagt, die utilitaristische Dimension ist sekundär im Vergleich zu einer anderen, die sie völlig übersteigt. Denn der Kosmos und das Unsichtbare sind unvergleichlich viel größer und mächtiger als das einzelne Subjekt, das sich in der bescheidenen Hoffnung an sie wendet, auf seine Kosten zu kommen. Aus diesem Missverhältnis entsteht das Gefühl des Numinosen, das mysterium tremendum (Rudolf Otto, von Jung aufgegriffen), das »ozeanische Gefühl« (von Freud nach Romain Rolland benannt), die (nicht auf bestehende Religionen reduzierbare) »religiöse Erfahrung« von William James usw. Alles Möglichkeiten, Religiosität zu benennen. Diese geht allen möglichen instrumentellen Nutzungen voraus. Wie könnte man etwas erwarten, eine höchste Gabe, bedingungslos und ohne jede wirklich mögliche Gegenleistung, wenn nicht von etwas, von einem Wesen, das völlig jenseits von einem liegt, dem man sich bedingungslos beugen muss? Selbst auf die Gefahr hin, diese Unbedingtheit gegen eine andere einzutauschen, wenn man feststellt, dass man nichts zurückerhält. Eine weitere Subtilität der bedingten Unbedingtheit! Nehmen wir zum Thema Religiosität die sehr wenig spiritualistischen oder mystischen Analysen des berühmten Rechtsphilosophen Ronald Dworkin. In seinem Religion ohne Gott (Berlin 2014) zeigt er, dass es religiöse Atheisten gibt. Atheisten, die, wie Einstein, nicht an Gott glauben, die sich aber dennoch »zutiefst religiös« nennen, weil sie in dem, »was wirklich existiert […] die höchste Weisheit und die strahlendste Schönheit« (Einstein) sehen. Im Anschluss an Einstein schlägt Ronald Dworkin vor, dass die religiöse Haltung bestimmt ist dadurch, »zwei Werturteile für objektiv wahr zu halten«, und zu glauben an »den intrinsischen Wert des Lebens und die intrinsische Schönheit der Natur« (S. 20). Nun ist es durchaus möglich, diese beiden Urteile zu unterstützen, ohne an irgendeinen Gott oder an den einen Gott zu glauben. Ebenso zeugt die kraftvolle kosmophile philosophische Poesie eines Henri Raynal von einer tiefen Religiosität, die nicht auf bestehende Religionen reduzierbar ist. Vgl. H. Raynal, Cosmophilies, a.a.O. Und dasselbe gilt in seinem Cosmos für den militanten Atheisten Michel Onfray.
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ergie, ihren Enthusiasmus oder ihre Verzweiflung, ihre Fähigkeit, sich hinzugeben, schöpfen. Religion hingegen bezieht sich auf die Beziehung zum Unsichtbaren einer Gemeinschaft, die sich als solche gerade durch das Gemeinsame dieser Beziehung definiert. Man könnte sie als das Integral, im mathematischen Sinne des Wortes, der Religiositäten der Mitglieder einer Gesellschaft charakterisieren.12 Dasselbe gilt für die Politik. Jedes Mitglied einer Gesellschaft hat seine persönlichen Freundschaften und Feindschaften. »Einer liebte die Tommies, der andere die Teutonen«, sang Brassens. Jeder weiß, wem er geben will, von wem er annehmen will, wen er ignorieren, von wem er nehmen will usw. Das Politische ist das Integral all dieser Entscheidungen, die von den Mitgliedern einer Gesellschaft getroffen werden, die sich als solche durch eine gemeinsame Definition dessen konstituiert, wer Teil des Wir ist – derer, denen wir geben, denen wir etwas schulden und von denen wir etwas empfangen – und wer die Anderen sind. Das Religiöse und das Politische scheinen also eng miteinander verbunden zu sein, so dass das instituierende Moment jeder Gesellschaft als politisch-religiös bezeichnet werden kann.13
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Das Integral, das heißt, sagen wir, die Plus-Minus-Summe. Es besteht natürlich ein dialektisches Verhältnis zwischen dem Religiösen, der Religion und der Religiosität. Das Religiöse existiert konkret nur in seiner Gestaltung durch bestimmte Religionen. Ebenso kann sich Religiosität (andere würden von Spiritualität sprechen) nur auf Grundlage und im Rahmen überlieferter Überzeugungen entwickeln, die man übernimmt oder von denen man sich trennt. Auch hier ist, wie überall, eine gewisse ReversibilitätKomplementarität zwischen Individuellem und Kollektivem am Werk. So ist es möglich, das Religiöse als die Religiosität einer bestimmten Gesellschaft und die Religiosität als das Religiöse des Individuums darzustellen. Ich bin in diesem Punkt uneins mit M. Gauchet, für den die Tatsache, dass das Politische und das Religiöse historisch stets eng miteinander verbunden waren, nicht bedeutet, dass sie wesensgleich und untrennbar wären. Die vier Titel, aus denen sich seine Tetralogie L’Avènement de la démocratie zusammensetzt, deuten die mögliche Entstehung einer rein politischen Gesellschaft an, d.h. einer Gesellschaft, die frei von Religion, völlig autonom und sich selbst gegenüber transparent wäre. Eine Variante, kurz gesagt, des rationalen Staates von Hegel. Es gibt also kein Politisch-Religiöses für ihn. Vgl. M. Gauchet, »Le politique et le religieux. Douze propositions en réponse à A. Caillé«, Revue du MAUSS semestrielle, Nr. 22, a.a.O. Nachgedruckt in A. Caillé (Hg.), Qu’est-ce que le religieux?, Paris 2012.
13. Eine Rückkehr zur Religion
Religionen, im transhistorischen Sinne des Begriffs, sind die instituierten Systeme von Überzeugungen und Praktiken, die die Beziehung zwischen dem Religiösen und den Religiositäten gewährleisten.14
Sprache, Symbolik und Metasymbolik Beenden wir diese Untersuchung vorgängiger Konzepte, die für jedes mögliche Nachdenken über religiöse Phänomene – und, allgemeiner, für jede mögliche Allgemeinsoziologie – notwendig sind, indem wir an etwas Offensichtliches erinnern. Eine primäre Evidenz, die wir bis jetzt außer Acht gelassen haben. Wir haben vier grundlegende Dimensionen des gesellschaftlichen Seins unterschieden. Aber es versteht sich von selbst, dass keine von ihnen entstehen könnte, ohne benannt und ausgesprochen zu werden. Diese vier Dimensionen werden durch eine fünfte, umfassende Dimension zusammengehalten, die allgemeinste von allen: die Sprache. Damit meinen wir nicht nur die verbale Sprache, die Sprache der Worte, sondern das gesamte Spektrum der Kommunikationsmittel. Also einschließlich der Sprache der Gesten, Töne, Bilder bis hin zur Sprache des Körpers.15 Unterscheiden wir also neben dem Religiösen, dem Politischen, dem Verwandtschaftlichen und dem Wirtschaftlichen eine fünfte Dimension, die für jede soziale Existenz unerlässlich und die Voraussetzung für alle anderen ist, das Sprachliche, das von den verschiedenen bestehenden oder möglichen Sprachen jeweils anders interpretiert wird. In der verbalen Sprache lassen sich mindestens zwei Hauptkomponenten unterscheiden: Zeichen und Symbole. Zeichen haben eine mehr oder weniger nützliche und pragmatische Denotationsfunktion. Sie bezeichnen die Realitäten der Welt, die in ihrer Diskontinuität erfasst werden. Sie haben eine
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In gleicher Weise muss man im politischen Register zwischen dem Politischen, der Politik (das in einer bestimmten Gesellschaft eingerichtete politische Feld) und den umgesetzten Politiken unterscheiden. Zwischen, um es auf Englisch zu sagen, the political, politics and policies. Zu dieser dreifachen Unterscheidung in Bezug auf die Religion, vgl., ergänzend zu diesem Kapitel, François Gauthier, »Religieux, religion, religiosité«, Revue du MAUSS semestrielle, Nr. 49, 1. Halbjahr 2017. Man kann sagen, dass menschliche Gesellschaften Teil einer doppelten Hülle oder doppelten Membran sind, nämlich der von Natur und Materialität einerseits, Sprache und Bedeutung andererseits. Zwei sich gegenseitig transzendierende Membranen, die eine verschachtelte Hierarchie zueinander unterhalten.
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Das Paradigma der Gabe
Bedeutung. Symbole sind »Zeichen von Zeichen«, wie Kant sagte. Sie ermöglichen es, die Beziehungen, die Verbindung, zwischen den diskontinuierlichen Realitäten und den sie denotierenden Zeichen zu denken, zu sehen oder zu hören. Mit einer Konnotationsfunktion ausgestattet, ergeben sie Sinn. Zu sagen, dass sie Sinn ergeben, bedeutet, dass sie Emotionen wecken. Emotionen, d.h. Verzweigungen von Gefühlen und Empfindungen, die Leidenschaften auslösen: Freude oder Traurigkeit, Verlangen oder Abneigung, Liebe oder Hass, Stolz oder Scham, Begeisterung oder Entmutigung, Geschmack oder Ekel usw. Die Zeichen verbinden sich untereinander, sie verbünden sich gewissermaßen, um Symbole zu bilden, entweder unter dem Aspekt des Signifikanten, Rhythmus, Assonanzen, Alliterationen usw., oder unter dem des Signifikats. Nehmen wir an, dass das, was Emotionen und Willensäußerungen hervorruft, die Begegnung von Ereignissen mit Symbolen ist, Symbolen, die ihrerseits die – symbolischen oder diabolischen, d.h. harmonischen oder disharmonischen – Gabe/Gegengabe-Beziehungen symbolisieren, die das Religiöse, das Politische, das Verwandtschaftliche und das Wirtschaftliche regieren. Die Emotionen im Wirtschaftlichen entstehen beim Übergang von Mangel zu Überfluss, von Armut zu Reichtum, von Elend zu Luxus oder umgekehrt; im Verwandtschaftlichen durch die harmonischen oder disharmonischen Beziehungen zu Eltern oder Kindern, die dafür sorgen, dass das Leben von Generation zu Generation fortdauert oder, im Gegenteil, erlischt; im Politischen beim Übergang vom Krieg zum Frieden, von der Feindseligkeit zur Eintracht oder umgekehrt; im Religiösen durch Glück oder Unglück, das Gefühl, der Gnade teilhaftig zu werden oder in Ungnade gefallen zu sein. Eine Kultur kann definiert werden als die Gesamtheit aktiver Symbole, die innerhalb einer Gesellschaft die jeweiligen Positionen von Gebern und Empfängern festlegen. Die bestimmen, wer was, wem, wie, zu welchem Anlass usw. geben oder empfangen soll. In den frühen Gesellschaften unterscheidet sich die Kultur nicht oder kaum von der Religion, da die Definition der Rollen menschlicher Geber und Empfänger – beginnend mit den Rollen von Mann und Frau – eng mit der Definition der Gabebeziehungen verbunden ist, die es mit den unsichtbaren Wesenheiten einzuhalten gilt. Angesichts dessen versteht man besser die entscheidende Rolle, die die Religionen im Leben der Gesellschaften und in der Geschichte spielen. Weil Religion die Beziehung zum Kosmos und zum Unendlichen ist, ist sie auch der Moment extremer Emotionen und der Beziehung zur möglichen Unendlichkeit der Bedeutung. Symbole, so sagten wir, sind Zeichen von Zeichen.
13. Eine Rückkehr zur Religion
Man könnte sagen, dass Symbole im Bereich des Religiösen Symbole von Symbolen sind. Was in ihnen gesucht wird, ist die Bedeutung der Bedeutung. Oder, in einem anderen Register, die auf die Spitze getriebene Emotion, die Emotion, nach der die Mystiker oder die Praktizierenden von Besessenheitskulten streben.16 Aber in einem Register wie im anderen strebt man nach der höchsten aller Anerkennungen, der Anerkennung, die über alle möglichen menschlichen Anerkennungen hinausgeht, der Anerkennung, die alle Zweifel an der eigenen Identität ausräumt und endgültigen Frieden verschafft. Sicherlich kann sich dieses Verhältnis zur Unendlichkeit der möglichen Bedeutungen auch außerhalb der Religion abspielen. In der Philosophie, in der Kunst oder in der Literatur, wenn diese Bereiche ihre Unabhängigkeit von der Religion errungen haben. Aber wenn sie mit den allgemeinsten Symbolen umgehen, nehmen sie eine quasi-religiöse, sakrale Dimension an. Wir verfügen nunmehr über eine schlüssige theoretische Standortbestimmung des Religiösen. Was uns für sich genommen noch nicht erlaubt, direkt etwas Wesentliches über die tatsächlichen Religionen und die von ihnen aufgeworfenen Probleme zu sagen. Aber wir fangen an, ihre Grammatik zu verstehen. Es bleibt noch, ihre Syntax, Semantik und Pragmatik zu analysieren. Ein Haufen Arbeit, bei dem wir zwangsläufig auf die Frage der Gabe zurückkommen werden.17 Zum Beispiel, indem man dem Weg folgt, den Camille Tarot bereits vor fünfundzwanzig Jahren auf exzellente Weise eröffnet hat, als er vorschlug, das Erscheinen der großen Weltreligionen als Ergebnis einer dreifachen Dynamik zu denken, der Universalisierung (man muss über den 16
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Man erkennt hier den Unterschied zwischen Theologen und Mystikern, zwischen Intellektuellen, die versuchen, den Glauben zu rationalisieren, und denen, für die der Glaube nur einen Wert hat, wenn er gelebt wird, und für die der Beweis nur zählt, wenn er mit Gefühl und Empfindung einhergeht. Um weiter zu gehen und konkret zu werden, müsste man die gesamte Geschichte der Religionen zurückverfolgen und zeigen, wie sich die vielfältigen Gestalten des Religiösen in die von uns identifizierten Kategorien zurückübersetzen lassen (mit der Auflage, sie durch eine solide Typologie unsichtbarer Wesenheiten zu vervollständigen). In gewisser Weise wäre dies eine Rückkehr zum strukturalistischen Projekt, aber es wäre ein viel komplexerer Strukturalismus als der historische (der im Übrigen glaubte, auf die Betrachtung des Religiösen verzichten zu können oder zu müssen). Ein Entwurf dieser Arbeit, die sich anhand der Klärung der Verbindung zwischen dem Politischen und dem Religiösen, den Religionen und der Religiosität mit der Frage nach dem Status der säkularen Religionen befasst, findet sich in dem vollständigen Artikel, aus dem dieses Kapitel hervorgegangen ist, »Du religieux. Esquisse d’une grammaire en clé de don«, Revue du MAUSS semestrielle, Nr. 49, a.a.O.
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Das Paradigma der Gabe
Kreis der bekannten Personen hinaus geben), der Radikalisierung (man muss wirklich geben und nicht bloß zum Schein) und der Verinnerlichung (der einzige Weg, um sicherzustellen, dass man wirklich gibt und nicht bloß, um damit zu prahlen) der von Mauss entdeckten dreifachen Verpflichtung zum Geben, Annehmen und Erwidern.18
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C. Tarot, »Repères pour une histoire de la naissance de la grâce«, Revue du MAUSS semenstrielle, Nr 1, 1. Halbjahr 1993.
14. Macht, Herrschaft, Charisma und Führung
Wie können wir Macht- und Herrschaftsverhältnisse denken? Autorität, Prestige, Charisma, Einfluss, Befehlsgewalt usw.? Zu diesen so entscheidenden Themen gibt es eine enorme Literatur, die aber je nach Disziplinen, Denkrichtungen, Gruppen oder Autoren äußerst unterschiedlich und wenig gefestigt ist, selbst im Hinblick auf das Vokabular. In der Soziologie und Politikwissenschaft ist die bekannteste und populärste Typologie nach wie vor die von Max Weber in seinem Buch Wirtschaft und Gesellschaft, der bis heute vollständigsten und (in ihrer Antisystematik) systematischsten Abhandlung über die allgemeine Soziologie, ein Jahrhundert nach ihrer Entstehung. Ausgehend von einer Unterscheidung zwischen Macht, der Möglichkeit, seinen Willen gegen alle Widerstände durchzusetzen, und Herrschaft, der Möglichkeit, eine Entscheidung dank der Anerkennung ihrer Legitimität durch die Gehorchenden durchzusetzen, unterscheidet Weber drei Arten legitimer Macht oder Autorität (vgl. unten): die traditionale Macht, die bürokratische (oder rational-rechtliche) Macht und, die berühmteste der drei, die charismatische Macht oder Autorität. Im ersten Fall beruht der Gehorsam auf dem Glauben an die Heiligkeit uralter Traditionen. Im zweiten Fall hängt er von der Position ab, die der Befehlsgeber in einer (vermeintlich) rationalen Organisation einnimmt, und von den Vorrechten, die diese Position ihm verleiht. Im dritten schließlich gehorcht man einer singulären Person, weil sie als außergewöhnlich gilt und mit übernatürlichen, übermenschlichen oder zumindest außerordentlichen Kräften und Eigenschaften ausgestattet ist.
Drei Grenzen der Weber’schen Machttypologie Diese Typologie ist auch heute noch wertvoll und aufschlussreich. Aber sie leidet unter drei Einschränkungen.
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Das Paradigma der Gabe
Zunächst konzipiert, um die historische Besonderheit moderner Organisationsformen verständlich zu machen und zu einer vergleichenden historischen Makrosoziologie beizutragen, wo sie sich als sehr effektiv erweist, ist sie nicht flexibel und detailliert genug, um ein präzises Verständnis der Funktionsweise heutiger Organisationen – Unternehmen, Verwaltungen, Verbände usw. – zu vermitteln, die alle der einen oder anderen Form von bürokratischer Legitimität entspringen. In der historischen Soziologie wirkt sie in Verbindung mit anderen Kriterien Wunder, indem sie ermöglicht, zum Beispiel im Bereich der traditionalen Macht, Gerontokratie, Patriarchat und Patrimonialismus und im Bereich der charismatischen Autorität den Magier, Priester oder König von Gottes Gnaden zu unterscheiden. Webers Analyse der Bürokratie bleibt schließlich einer der obligatorischen Bezugspunkte in der Organisationssoziologie. Aber die Bedingungen der organisatorischen Effizienz sind heute ganz andere als die von Weber benannten. Vor allem aus diesem Grund brauchen wir eine Machttypologie und eine Reihe von Konzepten, die vollständiger und flexibler sind. Darüber hinaus erzeugt die Tatsache, dass die Übersetzungen der zentralen Begriffe Macht und Herrschaft sehr unterschiedlich sind, ein Gefühl von Unklarheit, das durch ein gewisses Schwanken bei Weber selbst noch gefördert wird. So wird beispielsweise Herrschaft zwar meist mit domination ins Französische übersetzt, aber man findet auch autorité oder pouvoir, und in den amerikanischen Übersetzungen, manchmal vom gleichen Autor zu verschiedenen Zeiten, imperative control, rulership, authority, domination oder leadership. Macht wird dort mit power und im Französischen mit puissance übersetzt. Diese relative Unbestimmtheit wird zweifellos durch die Tatsache gefördert, dass Weber selbst (beiläufig) die Möglichkeit ins Auge fasst, ein anderes Wort als Herrschaft, nämlich Autorität, zu verwenden. Und dies ist umso verständlicher, als er sich überhaupt nicht für die Macht interessiert, die er vielleicht vorschnell als »soziologisch amorph« abqualifiziert, um seine ganze Aufmerksamkeit auf die verschiedenen Legitimationsmodi der Herrschaft zu richten. Es stellt sich also die Frage, wer und aufgrund welcher Autorität zum Befehlen legitimiert ist. Es findet also eine Art Überschneidung, ein Zusammenwachsen von Herrschaft, Autorität und Legitimität statt.1
1
In welchen Tätigkeitsbereichen ist es legitim, von Herrschaft zu sprechen? Weber zögert nicht, ihre Manifestation in der Wirtschaftsordnung zu analysieren, aber da er bestrebt ist, die Kategorie der Herrschaft der rein politischen Ebene vorzubehalten, sträubt er sich dagegen, von wirtschaftlicher Herrschaft zu sprechen. Wirtschaftliche
14. Macht, Herrschaft, Charisma und Führung
Schließlich ist es, wie Raymond Aron bereits festgestellt hat, überraschend, dass Weber nicht versucht, seine drei Idealtypen von Autorität mit seinen vier Idealtypen sozialen Handelns in Beziehung zu setzen: traditionales Handeln, affektives Handeln, zweckrationales Handeln und wertrationales Handeln.2 Die ersten drei entsprechen in etwa der traditionalen, charismatischen oder bürokratischen Autorität. Aber keine Form der Macht entspricht dem wertrationalen Handeln. Wir wollen hier versuchen, diese drei Grenzen zu überwinden, indem wir explizit und mit einer gewissen Systematik die Machtanalyse mit einer ebenfalls axiomatischen Handlungstheorie verbinden, der von Marcel Mauss inspirierten anti-utilitaristischen Handlungstheorie, die Ähnlichkeiten mit der Weber’schen Typologie aufweist, auch wenn sie sich in einigen Punkten von ihr abhebt. Daraus wird sich eine sehr viel flexiblere und umfangreichere Typologie ergeben, die aber dennoch, so hoffen wir, überschaubar und daher nützlich bleibt.
Einige Voraussetzungen Die anti-utilitaristische Handlungstheorie unterscheidet, wie wir gesehen haben, vier Beweggründe, die in zwei Gegensatzpaaren angeordnet sind: Eigeninteresse und Interesse an anderen (oder aimance oder Empathie) auf der einen Seite und Verpflichtung und Freiheit-Kreativität (oder Generati-
2
Macht kann ein Mittel oder eine Wirkung von Herrschaft sein, sie fällt nicht mit ihr zusammen. Erst recht weigert er sich, in anderen Bereichen von Herrschaft zu sprechen und Macht all jenen zuzuschreiben, »denen das Gesetz Rechte verleiht«, was es ermöglichen würde, zum Beispiel zu argumentieren, dass ein Arbeiter aufgrund seiner Rechte Macht über seinen Arbeitgeber ausübt. »Bei einem [so] weiten Begriffsumfang wäre aber ›Herrschaft‹ keine wissenschaftlich brauchbare Kategorie. Eine umfassende Kasuistik aller Formen, Bedingungen und Inhalte des ›Herrschens‹ in jenem weitesten Sinn ist hier unmöglich.« Wir sind hier weit entfernt von der Entscheidung eines Michel Foucault, der im Gegensatz dazu überall Macht und Herrschaft sieht. Zu dieser Diskussion und zu Webers hier wiedergegebenen Zitaten siehe Catherine Colliot-Thélène, Le Désenchantement de l’État, de Hegel à Max Weber, Paris 1992, S. 205-209. Was uns betrifft, so bleiben wir hier bei einer Analyse der Macht innerhalb von Organisationen. Raymond Aron, Hauptströmungen des modernen soziologischen Denkens, Reinbek 1969, Reinbek 1979, S. 226ff., zitiert von Philippe Raynaud, Max Weber et les dilemmes de la raison moderne, Paris 1987, S. 160ff.
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Das Paradigma der Gabe
vität) auf der anderen, wobei jeder dieser vier Beweggründe offensichtlich Momente seines Gegenteils oder seiner Ergänzungen annehmen kann. Das kollektive Handeln, die Koordination zwischen sozialen Akteuren, ist nach der gleichen vierfachen Polarität organisiert. Im Bereich des Eigeninteresses ist das Koordinationsinstrument der Vertrag, im Bereich der Verpflichtung das (moralische, juristische usw.) Gesetz, im Bereich des Interesses an anderen – Sympathie, und im Bereich der Freiheit-Kreativität – Leidenschaft. Wir finden hier in etwa die vier Weber’schen Typen wieder, aber leicht verschoben, da sich das Charisma auf die Leidenschaft bezieht. Die von der Macht gestellte Frage lautet, wer diese oder jene Form der Koordination der Akteure durch Interesse, Gesetz, Sympathie oder Leidenschaft umsetzt. Wer schafft es, ein bestimmtes kollektives Gleichgewicht zwischen instrumentellem Interesse und Zuwendung, zwischen Verpflichtung und Freiheit-Kreativität herzustellen? Wer entscheidet im Namen wovon? Wer macht es möglich, etwas zu veranlassen, was nicht spontan geschehen wäre? Aber sollten wir hier von Macht, Herrschaft oder Autorität oder Führung usw. sprechen? Und warum? Viele Optionen sind möglich, aber es ist vor allem wichtig, eine klare Unterscheidung zwischen dem Register der Macht und dem der Herrschaft zu treffen. Mit dem Bezug auf Max Weber im Kopf schlagen wir vor, entgegen dem in Frankreich üblichen Sprachgebrauch Herrschaft mit pouvoir (und nicht domination) und Macht mit domination, ja sogar domination violente (gewaltsame Macht) zu übersetzen. Wesentlich ist, Macht und Herrschaft nicht zu verwechseln, um nicht zu signalisieren, dass jede Form von Machtausübung, gleich welcher Art, der Herrschaft entspringt, also einer unerträglichen Asymmetrie zwischen den Akteuren. Unter denen es nur Herrschende und Beherrschte gäbe. Keine Herrschaft liegt vor, wenn die Macht über die Akteure, die Fähigkeit, sie dazu zu bringen, zu tun, was sie spontan nicht getan hätten, ihre gemeinsame Handlungsmacht, ihre Macht zu, vergrößert, und noch weniger, wenn sie sich im Modus der Macht mit entfaltet. Auch keine Herrschaft liegt vor, wenn die Werte, in deren Namen ein Befehl erteilt wird, sowohl von denen, die sie geben, als auch von denen, die sie empfangen, geteilt und respektiert werden. Noch weniger Herrschaft, wenn diejenigen, die an einem Tag das Kommando haben, an einem anderen Tag zum Gehorsam aufgefordert werden, wie zum Beispiel beim Machtwechsel politischer Parteien, die mal in der Mehrheit, mal in der Minderheit sind, oder bei den Leitern eines Verbandes, einer Universität usw. Das Machtverhältnis wird im Rahmen einer gewissen Horizontalität der sozialen Beziehungen und eines Geistes der Reversibilität und
14. Macht, Herrschaft, Charisma und Führung
Reziprozität ausgeübt, was nicht von Ungefähr an die Maus’sche Gabe erinnert. Was hingegen die Herrschaft charakterisiert, ist die Vertikalisierung der Macht, die jetzt definitiv von oben kommt, die Verstärkung einer radikalen Asymmetrie zwischen denen, die befehlen, und denen, die gehorchen, das Fehlen oder der Verlust eines Gefühls der gemeinsamen Menschlichkeit und der gemeinsamen Sozialität. Und der entsprechende Verlust an Geist der Gabe. Entweder gibt es nichts mehr, was an die Gabe erinnert. Oder sie nimmt die Form der vergifteten Gabe an, die der Vernichtung dient und bei der es, nach einer schönen Formulierung von Philippe Chanial, darum geht, »zu geben, damit der andere nicht erwidern kann«. Beginnen wir also damit, eine Typologie der Machtbeziehungen zu skizzieren, die es uns erlaubt, auf idealtypische Weise vier Typen von Leitern – den Verwalter, den freundlichen Chef, die Direktorin und die Erneuererin – und zwei Typen von Mächtigen, den Manager und die Führerin, zum Vorschein zu bringen. Wir definieren Leiter als diejenigen, die die Koordination unter den Mitgliedern des Kollektivs gewährleisten, damit das Kollektiv normal funktionieren kann. Und die Mächtigen sind diejenigen, die Autorität haben, weil sie die Handlungsfähigkeit des Kollektivs erhöhen, und zwar durch zwei mögliche Formen der Macht, Kompetenz und Legalität beim Manager oder Charisma bei der Führerin.
Typologie der Macht: Leiter und Mächtige Ausgehend von den Polen des kollektiven und individuellen Handelns werden wir vier Arten von Leitern unterscheiden: •
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Im Bereich des Eigeninteresses, der instrumentellen Rationalität und des Vertrags (wir finden Webers legal-rationale Macht wieder), der Verhandlung, ist derjenige, der Macht hat, der Verwalter. Man gehorcht ihm, weil man glaubt, dass er derjenige ist, der auf Grundlage gemeinsamer Ziele die bestmögliche Kombination von Mitteln zu erreichen weiß. Im Bereich des Interesses für andere und der Sympathie (hier findet sich Webers affektives Handeln wieder), ist der freundliche Chef derjenige, der Einfluss ausübt, die Macht hat. Man gehorcht ihm, weil man ihn mag, und man mag ihn, weil er einen mag, »er ist menschlich« und weiß die besonderen Schwierigkeiten und Probleme eines jeden zu berücksichtigen.
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Das Paradigma der Gabe
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•
Im Bereich der (moralischen, rechtlichen, wirtschaftlichen) Verpflichtung, ist diejenige, die das Gesetz anwendet, die Macht hat, die Direktorin (wir sind ganz nah an der traditionalen Macht von Weber). Man gehorcht ihr, weil sie die Grundwerte der Organisation verkörpert und als einzige einen allgemeinen Überblick hat. Im Bereich der Freiheit-Kreativität, der Generativität (wir finden hier eine abgeschwächte Form von Webers charismatischer Macht), ist diejenige, die erneuert, in Angriff nimmt, die Macht hat, die Erneuererin. Man gehorcht ihr, oder besser, man folgt ihr, weil sie Elan hat, weil sie den Ausbruch aus den Routinen zulässt, weil sie Hoffnung bringt, indem sie die Verwirklichung von Möglichkeiten in Aussicht stellt.
Es liegt auf der Hand, dass jeder Leiter es verstehen muss, die vier Handlungsbereiche, die vier mögliche Legitimationsmodalitäten darstellen, miteinander zu kombinieren und in unterschiedlichen Ausmaßen ein wenig Direktor, ein wenig Freund, ein wenig Verwalter und Erneuerer zu sein. Wenn er es gut macht, erhöht er die Handlungsmacht des Kollektivs. Er wird ein Mächtiger. Man gehorcht ihm, weil er Autorität besitzt. Diese Autorität bewirkt, dass er nicht mehr an die Gründe, ihm zu gehorchen, an die Quellen seiner Legitimität erinnern muss.3 Es sei mit der Philosophin Hannah Arendt daran erinnert, dass auctoritas vom lateinischen augere kommt, was soviel wie erhöhen bedeutet.4 Autorität besitzt diejenige, die die Handlungsmacht des Kollektivs erhöht, indem sie sich selbst dazu autorisiert.
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Oder mehr oder weniger implizit durchblicken zu lassen, dass er gegen Widerspenstige Sanktionen verhängen könnte: Entlassung, Rüge, Ablehnung von Beförderungen, Lohnerhöhungen oder Prämien, schwarze Listen usw. Woran uns Hannah Arendt in ihrem berühmten Artikel »Was ist Autorität?«, in Zwischen Vergangenheit und Zukunft, Übungen im politischen Denken I, München 2016 [1994], S. 160, erinnert.
14. Macht, Herrschaft, Charisma und Führung
Es gibt zwei Haupttypen von Mächtigen, die mit Autorität ausgestattet sind: den Manager und die (An)Führerin. Der Manager kombiniert und verbindet die vier Handlungsbereiche, wobei er ihrer funktionalen gegenüber ihrer menschlichen Dimension den Vorzug gibt und eher im Bereich des Vertrags und des Rechts als im Bereich der Sympathie und der Kreativität funktioniert. Um es in Webers Sprache auszudrücken: Seine Autorität ist in erster Linie rational-legal. Die Führerin hingegen kombiniert und verbindet mehr Personen als Funktionen. Sie setzt auf Sympathie, Kreativität und Leidenschaft: Ihre Autorität ist charismatisch. Der Manager hat eine eher administrative als politische Rolle, er verwaltet Dinge, Gründe und Funktionen. Die Führerin hat eine eher politische als administrative Rolle. Sie mobilisiert Menschen, Ideen und Leidenschaften. Um jede Zweideutigkeit zu vermeiden, ist es notwendig, noch zwischen der instituierten Autorität und der tatsächlichen Autorität zu unterscheiden. Es ist letztere, die der Manager oder Führer, wie hier beschrieben, unter Beweis stellt. Ein Verwalter, ein Chef, eine Direktorin und sogar eine Erneuererin, wenn er oder sie hoch genug in der Hierarchie steht, werden von der Institution natürlich mit einer gewissen Autorität ausgestattet. Mit dem Recht, Befehle zu erteilen. Aber dies ist eine vermutete, nicht zwangsläufig eine tatsächliche Autorität. Denn diese muss nachgewiesen werden. Formulieren wir es anders. Jeder Verwalter, Direktor oder Chef hat eine Befehls- und Entscheidungsmacht, die ihm eine gewisse Autorität verleiht. Eine vermeintliche oder
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Das Paradigma der Gabe
angenommene Autorität. Allerdings ist diese Autorität an seine Funktion, nicht an seine Person gebunden. Eine Person mit institutioneller Autorität, die aber über keine persönliche, kreative Autorität verfügt, wird dazu neigen, autoritär zu sein. Oder zu verschwinden.5
Ein Mächtiger werden Wie wird man Mächtiger (Manager oder Führerin) und gewinnt Autorität? Was macht den Mächtigen zu einer Person, der man folgt, der man sein Vertrauen und seine Energie schenkt? Die Antwort liegt in der Dynamik der Gabe, wie man sie im Anschluss an die Entdeckung von Marcel Mauss denken kann. Wenn der Mächtige und insbesondere der Führer überzeugt, dann deshalb, weil er voll und ganz in seiner Rolle oder Mission aufgeht, die untrennbar mit seiner Person verbunden ist. Er gibt sich voll und ganz hin, indem er von seiner Person gibt, in Übereinstimmung mit der These von Mauss, dass geben immer bedeutet, etwas von sich selbst zu geben.6 Versuchen wir, noch weiter 5
6
Man müsste die Arendt’sche Auffassung von Autorität diskutieren, der der vorliegende Text sehr nahe kommt, sich aber zugleich in einem zentralen Punkt von ihr entfernt. Zu Beginn ihres Artikels über Autorität schreibt Arendt: »Da Autorität immer mit dem Anspruch des Gehorsams auftritt, wird sie gemeinhin für eine Form von Macht, für einen Zwang besonderer Art gehalten. Autorität jedoch schließt gerade den Gebrauch jeglichen Zwanges aus, und wo Gewalt gebraucht wird, um Gehorsam zu erzwingen, hat Autorität immer schon versagt« (ebd., S. 159). Indem wir eine klare Unterscheidung zwischen Macht und Herrschaft treffen, auch wenn wir sie später dialektisieren müssen (vgl. unten), folgen wir dem Ansatz von Arendt, weisen aber dem Bereich der Macht zu, was sie dem der Autorität zuschreibt, und zwar vor allem deshalb, um der Autorität einen Platz einzuräumen, den Arendt ihr tendenziell verweigert. Denn bereits in den ersten Zeilen ihres Artikels spricht sie vom »Autoritätsverlust der modernen Welt« (ebd. S. 159). Dies ist unbestreitbar, wenn man wie sie an der Vorstellung festhält, dass Autorität mit der Verwurzelung in der Tradition verbunden ist, was in Rom der Fall war, wo die Inhaber der auctoritas vermeintlich von den Vorfahren, die an der Gründung Roms beteiligt waren, den maiores, abstammten (ebd., S. 188). Aber es ist klar, dass sowohl der Manager als auch der Führer eine Autorität haben, die »weder die Befehlsform noch irgendwelche Zwangsmittel benötigt, um sich Gehör zu verschaffen« (ebd. S. 189). Autorität hat ihren Ursprung im Charisma, das sowohl das Charisma der Effizienz, der Zukunft und der Innovation als auch das der Tradition sein kann. Es war die Lektüre der Dissertation von Benjamin Pavageaus La Logique du don dans le développement d’une identité de leader (die am 30. November 2015 in Nantes unter der Leitung von Mathieu Detchessahar und Pierre-Yves Gomez verteidigt wurde), die uns
14. Macht, Herrschaft, Charisma und Führung
zu gehen, indem wir an Lewis Hydes scharfe Analysen der Beziehung zwischen Künstlern und Gabe erinnern, die wir bereits in Kapitel 11 diskutiert haben.7 Der Künstler, so Hyde, ist, wie wir uns erinnern, jemand, der das Gefühl hat, eine Gabe erhalten zu haben (die Gabe des Malens, die Gabe des Schreibens, der Musik usw.). Auf diese Gabe bezieht er sich ebenso wie die Mitglieder einer frühen Gesellschaft, die eine Gabe erhalten haben. Sie können sie nicht für sich behalten. Sie müssen sie unbedingt in Umlauf bringen, sie dem ursprünglichen Geber oder, was wahrscheinlicher ist, einem anderen Subjekt geben und mehr geben als das, was sie erhalten haben. Stellen wir daher die Hypothese auf, dass diejenige zur Führerin wird, an Autorität gewinnt, die das Gefühl hat, eine persönlich an sie gerichtete Gabe erhalten zu haben und sich durch diese Gabe verpflichtet fühlt. Sie macht die Gabe ihres persönlichen Engagements in ihrer Rolle, und wenn sie die anderen mit sich zieht, dann deshalb, weil sie diese Gabe nicht ablehnen können und sich ihrerseits durch sie verpflichtet fühlen. Dasselbe gilt für den Manager, der für seine Effizienz und seine Aufopferung für die Organisation bewundert wird. Autorität funktioniert also auf die gleiche Weise wie die Gabe. Derjenige erlangt sie, der etwas über seine Funktion hinaus gibt. Der Verwalter, wie der freundliche Chef, die Direktorin oder die Erneuererin, machen ihre Arbeit. Der Manager und insbesondere der Führer machen mehr als nur ihren Job. Dieses »Mehr«, diese zusätzliche Dimension ist genau das, was die Gabe auszeichnet. Die Zunahme der Handlungsmacht des Kollektivs ist das Ergebnis der Gabenzirkulation unter den Mitgliedern des Kollektivs und ihrer Hingabe. Der Mächtige ist derjenige, der als Vorbild an Hingabe dient.
Die Momente der Entscheidung Die Koordination der Akteure durch die Macht ist also letztlich eine Koordination durch die Gabe, die durch den symbolischen Zyklus des Bittens-GebenAnnehmens-Erwiderns und die Dynamik der Hingabe bestimmt wird. Dies bedeutet nicht, dass alle Entscheidungen durch frei vereinbarte Gaben getroffen werden, sondern dass diese einen bedeutenden Platz im Leben der Orga-
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veranlasst hat, Führung als einen Schlüssel zur Gabe zu betrachten. B. Pavageau zeigt, wie der Zugang zum Status eines Führers durch Überengagement und »Selbstgabe« erreicht wird. L. Hyde, Imagination and the Erotic Life of Property, a.a.O.
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nisation einnehmen müssen. Wo die Gabe – die als Quasi-Vertrag analysiert werden kann – nicht oder nicht mehr ausreicht, muss man in den Bereich der Diskussion, der Verhandlung und des Vertrags eintreten.8 Diese Diskussion kann nur im Rahmen einer Berufung auf die Regeln der Organisation stattfinden. Und wenn diese Berufung ihrerseits nicht ausreicht, dann muss entschieden werden, und das kann nur derjenige tun, der mit der Befehlsgewalt ausgestattet ist, der Leiter.9
Wenn nichts funktioniert, wenn die Gaben nicht zirkulieren, wenn die Verhandlungen ebenso scheitern wie die Berufung auf die Vorschriften, wenn die Befehle unwirksam bleiben, führt die Situation zu einem Rückgang der Handlungsmacht aller, weil sich die Leiter als schlechte Manager, schlechte Direktoren erweisen, nicht als Freunde, sondern als Feinde aller und unfähig zur Innovation. An der Stelle eines Managers tritt eine wetterwendische Gestalt und an die Stelle der inspirierenden Führerin jemand, die Initiativen und Leidenschaften erstickt. Aus dem symbolischen Zyklus des Bittens-GebensAnnehmens-Erwiderns und der Dynamik der Hingabe fallen wir in den diabolischen Zykus des Ignorierens-Nehmens-Verweigerns-Behaltens und in die
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Vgl. A. Caillé und J.-É. Grésy, La Révolution du don, a.a.O., Kapitel 9. Derjenige, der in der Entscheidungsposition ist und das kann ein Verwalter, ein Direktor, ein freundlicher Chef, ein Erneuerer, eine Managerin oder eine Führerin sein.
14. Macht, Herrschaft, Charisma und Führung
Dynamik der Entmutigung, des Jeder für sich oder des Beutemachens.10 Als Folge besteht die Gefahr des Umschlags in das Register der Herrschaft.
Die vier Arten der Herrschaft Man verlässt die Ebene der Immanenz, sobald der Unterschied zwischen dem Inhaber der Macht und denen, die sich ihr beugen müssen, unumkehrbar geworden ist. Man hat dann eine Monopolisierung der Macht einerseits, eine Pflicht zur Unterwerfung andererseits. Man betritt den Bereich der Herrschaft, die sich von der Macht durch den Verlust oder das Fehlen von Gegenseitigkeit und Reversibilität unterscheidet. Während die Koordination durch Macht nach der Logik der Gabe funktionierte, fällt die Herrschaft in den Bereich des Nehmens. Wer in der Machtbeziehung als Leiter auftrat, nimmt hier die Züge eines Herrschenden an. Der seine Herrschaft nach vier Modalitäten ausüben kann: •
•
•
•
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Im Bereich des rationalen Interesses regiert die Bürokratie (der Chef erteilt einseitig vermeintlich rationale und universell gültige Befehle): es herrscht der Bürokrat, der von Einzelfällen nichts wissen will, der die Vorschriften anwendet, weil es Vorschriften sind, und mit dem zu diskutieren oder zu verhandeln außer Frage steht. Im Bereich des Interesses für andere regiert der Klientelismus (der Chef macht einseitig bindende Geschenke): Es herrscht der Pate, der eine freundschaftliche und affektive Beziehung inszeniert, vermeintlich auf Augenhöhe, die aber in Wirklichkeit der bedingungslosen Zustimmung des Klienten unterworfen ist und nur unter Androhung von Repressalien funktioniert. Im Bereich der Verpflichtung regiert die reine Gewalt (der Chef verfügt einseitig Schläge, den Tod): der Despot. Der geringste seiner Befehle muss exekutiert werden, auf die Gefahr hin, dass man selbst exekutiert wird. Im Bereich der Kreativität regiert die Ideologie, die symbolische Gewalt (der Chef gibt einseitig verbindliche oder obligatorische Überzeugungen vor): es herrscht der Ideologe, derjenige, dessen Überzeugungen nicht zur
Diese Typologie der Formen der Macht müsste durch eine symmetrische Typologie der Formen des Gehorsams vervollständigt werden.
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Das Paradigma der Gabe
Diskussion stehen und denen man sich ohne das geringste sichtbare Zögern anpassen muss. Das Äquivalent des Managers ist der Großwesir. Das Äquivalent zum Führer ist der Hegemon. Beide tragen zu einer Zunahme der Herrschaft bei. Wenn die Herrschaft seit langem etabliert ist, wenn sie natürlich und legitim erscheint, wenn sie nur in bestimmten Gebieten ausgeübt wird und in anderen Freiheiten lässt – wie es oft in Imperien der Fall ist, die sich darauf beschränken, Tribute zu erheben, ohne die beherrschten Gemeinschaften zu zerstören – dann wird stellenweise der Zyklus des Bittens-Gebens-Annehmens-Erwiderns wiederbelebt, in einer hybriden Mischung mit dem des Ignorierens-NehmenVerweigerns-Behalten.
Entscheidungen im System der Herrschaft Aber in einem reinen Herrschaftssystem lassen sich die Entscheidungsmodalitäten wie folgt darstellen:
14. Macht, Herrschaft, Charisma und Führung
Kleine Dialektik von Macht und Herrschaft Zur Herrschaft kommt man durch Eroberung, in einem Verhältnis der Fremdheit gegenüber dem anderen und der Feindseligkeit. Dieses Verhältnis der Fremdheit-Feindlichkeit besteht zwischen verschiedenen Völkern, Stämmen und Gesellschaften, kann aber genauso gut innerhalb ein und derselben Gesellschaft herrschen. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts wurde die Arbeiterklasse in Frankreich und anderswo nicht als Teil der Gesellschaft betrachtet und blieb daher aus Prinzip Gegenstand der Ausbeutung und Knechtung. Und selbst innerhalb von Gesellschaften, die so demokratisiert sind wie die westlichen, bleiben viele soziale Beziehungen Herrschaftsverhältnisse. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn ein Unternehmen, oft ein ausländisches, ein anderes über einen Leverage-Buyout-Mechanismus aufkauft, mit dem einzigen Ziel, es zu zerlegen und innerhalb kürzester Zeit maximalen Gewinn zu erzielen. Umgekehrt kann ein traditioneller Hegemon ein bloßer struktureller Plünderer sein oder eine zivilisatorische Rolle spielen. Und in vielen Fällen ein zivilisierter Zivilisator, wie es bei den Mongolen in China der Fall war oder bei den Römern, die die griechische Kultur übernahmen und adaptierten. Wenn die Herrschaft Fuß fasst und legitim wird, lässt sie Nischen der Macht bestehen und nimmt selbst Züge der Macht an. Umgekehrt kann die Horizontalisierung der Machtverhältnisse, die Ablehnung von Hierarchien, die so charakteristisch für heutige Organisationen ist, als eine Tarnung von Herrschaftsverhältnissen erscheinen. Wann befinden wir uns also in einem Machtverhältnis und wann in einem Herrschaftsverhältnis? Das Kriterium ist ein zweifaches. Wo der Zyklus des Bittens-Gebens-Annehmens-Erwiderns und die Dynamik der Hingabe dominieren, wo die Handlungsmacht aller zunimmt, wird das Kommando mehr im Register der Macht als in dem der Herrschaft ausgeübt. Dort, wo der Zyklus des Ignorierens-Nehmens-Verweigerns-Behaltens dominiert und wo die Handlungsmacht aller abnimmt, befindet man sich entweder im Reich der Herrschaft oder… der Ohnmacht.
Kurze Rückkehr zu Weber Wir haben hier herausgearbeitet, was Max Weber reine Typen nannte. Die Wirklichkeit besteht aus der unendlichen Vielfalt ihrer Kombinationen, Hybridisierungen und Inversionen. Die Namen, die wir diesen verschie-
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Das Paradigma der Gabe
denen Typen gegeben haben, sind natürlich diskussionswürdig, und dies umso mehr, als ihre Bedeutung mit der Entwicklung der Sprache und ihrer Konnotationen variiert. Aus diesem Grund müssen wir uns vor vorschnellen Übersetzungen und »falschen Freunden« in Acht nehmen. Das englische power kann nicht automatisch durch Macht übersetzt werden (und umgekehrt). Selbst wenn man davon ausgeht, dass die Namen, die hier den verschiedenen Figuren von Macht und Herrschaft zugewiesen werden, aktuell relevant sind, werden sie es in einigen Jahren vielleicht nicht mehr sein. Wichtig ist jedoch der Platz, den sie in der allgemeinen Struktur einnehmen, die wir in stilisierter Form dargestellt haben.
Unwandlungstabelle mit Weber’schen Konzepten
An Stelle einer Schlussfolgerung
Ist es notwendig, eine Schlussfolgerung zu einem Werk wie diesem zu verfassen, dessen Verdienst, wenn überhaupt, darin besteht, fast alle möglichen Themen zur Diskussion zu stellen, indem man einfach vorschlägt, sie aus einem anderen Blickwinkel und von einem anderen Zugang her zu betrachten, als den üblicherweise gewählten, nämlich den Zugang über die Gabe? Wahrscheinlich nicht. Doch am Ende dieser Reise, da ich all diese Seiten ein letztes Mal durchlese, bevor ich sie an meinen Verleger schicke, und mich frage, welchen Status sie haben, scheint es mir möglich zu sein, zwei sehr unterschiedliche Antworten auf diese Frage zu geben, zwei gegensätzliche, aber letztlich ergänzende Antworten. Wir kennen den berühmten Satz von Hegel, der am Anfang der Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821) steht. Die Philosophie (»die Eule der Minerva«), die alles grau in grau malt, »beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug«. Erst im Nachhinein erfasst sie die tatsächliche Realität der historischen Phänomene, die mittlerweile vergangen sind. Was würde Hegel heute sagen, da die Welt sich nicht mehr am Einbruch der Dämmerung befindet, sondern vielleicht ein paar Minuten vor Mitternacht, im Herzen der Finsternis? Eine erste Sichtweise dieses Buches wäre, es als einen Beitrag zur Soziologie und ganz allgemein zu den Human- und Sozialwissenschaften zu sehen, in der Hoffnung, dass diese genügend Fortschritte machen werden, um uns eines Tages vielleicht entscheidende Erkenntnisse über die Triebkräfte des gesellschaftlichen Lebens und die Tiefen der menschlichen Seele zu liefern. Kurz gesagt, es ginge darum, gewöhnliche Wissenschaft zu betreiben, science as usual, wie andere business as usual betreiben. Aber haben wir dafür noch die Zeit, in einer Epoche, in der die Geschichte sich beschleunigt, in der die Beschleunigung selbst sich beschleunigt und zu einer Deformation aller bewohnten oder bewohnbaren Räume und aller instituierten historischen Bezugspunk-
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Das Paradigma der Gabe
te führt? Ist es überhaupt sicher, dass es Soziologie oder Anthropologie in zehn oder zwanzig Jahren noch geben wird? Viele kluge Köpfe in diesen Disziplinen zweifeln daran. Ist es also nicht ein im voraus verlorener Kampf, eine allgemeine Soziologie oder Anthropologie anzustreben? Und ist es dafür nicht ohnehin schon zu spät? Welchen Sinn hat es beispielsweise, sich, wie wir es tun, nach den Quellen des Glaubens, nach dem Wesen der Religion (oder vielmehr des Religiösen) zu fragen, nach der richtigen Art und Weise, die Beziehungen zwischen Macht, Herrschaft und Autorität usw. zu denken? Es wäre vielleicht besser, schnellstens etwas zu unternehmen, auf der Welle zu surfen und zu versuchen, nicht das Gleichgewicht zu verlieren und sich nicht umwerfen zu lassen von den riesigen Brechern, die sich am Horizont zeigen und immer bedrohlicher auftürmen: die Gefahr einer großen, unkontrollierbaren Finanzkrise, eine legitime, aber chaotische Revolte der Völker gegen Ungleichheiten, die bis vor kurzem noch unvorstellbar waren, ein Klimawandel, der Migrationsströme auslöst, die nicht mehr wissen, wohin sie sich wenden sollen, Fortschritte in der künstlichen Intelligenz, die die Gefahr einer Spaltung der menschlichen Spezies in gewöhnliche und transhumane Menschen beinhalten usw. Gewöhnliche Wissenschaft zu betreiben, science as usual, als ob nichts geschehen wäre, oder schnellstens etwas zu unternehmen, dringende Lösungen für die sich abzeichnende finanzielle, wirtschaftliche, soziale, politische und ökologische Krise zu suchen, auf der Welle der Beschleunigung zu reiten in der Hoffnung, einen rettenden Strand zu finden1 , sind im Grunde wahrscheinlich keine unvereinbaren Optionen. Durch den Nachweis, dass das, was menschliche Subjekte antreibt, sowohl der Wunsch ist, als gute Spieler im Zyklus des Bittens-Gebens-Annehmens-Erwiderns anerkannt zu werden, als auch der Wunsch, sich Tätigkeiten zu widmen, die ihnen Zugang zu Momenten der Gnade, zum Kontakt mit dem Universum der Gegebenheit ermöglichen, scheint mir, dass dieses Buch einen Kompass bietet, der uns helfen 1
Man denke hier an das schöne Buch von B. Latour, Où Atterrir? Comment s’orienter en politique, Paris 2018 [dt.: Das terrestrische Manifest, Berlin 2018]. Es beschreibt perfekt die Abspaltung der globalisierten Eliten, die, um es in der Sprache des Konvivialismus auszudrücken, sich eindeutig dafür entschieden haben, mit den Prinzipien der gemeinsamen Menschlichkeit und der gemeinsamen Sozialität zu brechen. Doch ermahnt Latour uns zwar zur Landung, sagt uns aber nicht wirklich, wo und wie. Es scheint mir, dass der Konvivialismus (https://www.lesconvivialistes.org/ und https://convivialism.or g/) eine etwas klarere Vorstellung von den möglichen Stränden hat, an denen wir anlegen können, und von den Mitteln, um dorthin zu gelangen.
An Stelle einer Schlussfolgerung
sollte, auf die Herausforderungen des Transhumanismus zu reagieren, uns den aufziehenden Gefahren zu stellen und uns die Möglichkeitsbedingungen für eine humanere Welt vorzustellen. Das ist jedenfalls meine Hoffnung.
Gabe und Resonanz. In Anlehnung an die Soziologie von Harmut Rosa. Auf dem Weg zu einer Synthese? Ich wollte das Buch an dieser Stelle beenden, als mich zwei Monate vor seinem Erscheinen die Lektüre eines aktuellen Artikels von Hartmut Rosa, der seinen in Resonanz entwickelten Ansatz verallgemeinert und auf die politische Philosophie erweitert, zu den folgenden Überlegungen inspirierte. Ich glaube, dass sie den Vorteil bieten, eine ganze Reihe der unter dem Vorzeichen des Gabenparadigmas vertretenen Themen und Ideen zu überprüfen, indem sie aus einem anderen Blickwinkel und unter der Perspektive eines möglichen Allgemeinheitsgewinns der Soziologie betrachtet werden. Die Soziologie zerfällt heute, wie wir wissen, in eine unübersehbare Zahl von Schulen, Unterschulen, Strömungen, Methodologien, Epistemologien und »Felder«. Schon vor mehr als fünfzig Jahren bemerkte Raymond Aron, dass das einzige, worin die Soziologinnen und Soziologen sich einig sind, in der Tatsache besteht, dass sie sich nicht einig sind, was Soziologie ist oder sein sollte. In einem solchen Kontext ist es daher besonders erfreulich, die erstaunliche Kongruenz festzustellen, die zwischen zwei soziologischen Schulen besteht, zwei Paradigmen, die sich unabhängig voneinander entwickelt haben: das Resonanzparadigma – nennen wir es so –, das Hartmut Rosa im Rahmen der kritischen Soziologie der Frankfurter Schule, einer der wichtigsten existierenden soziologischen Schulen, theoretisch konzipiert hat, und das Gabenparadigma, das seit etwa 40 Jahren rund um die Revue du MAUSS im Anschluss an Marcel Maussʼ Essay über Die Gabe erarbeitet wird und dessen letzte Erweiterungen ich in diesem Buch vorgestellt habe. Werten wir diese Kongruenz, diese Resonanz zwischen den beiden Paradigmen als ein Zeichen der Hoffnung. Nein, die Soziologie ist nicht zwangsläufig dazu verdammt, endlos von einer Idee zur anderen, von einem System zum anderen zu wandern, ohne je in der Lage zu sein, ihre Grundlagen zu stabilisieren. Ich möchte hier einen ersten, fast stenografischen Überblick über die Entsprechungen zwischen den beiden Paradigmen geben. Sie sprechen im We-
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sentlichen von derselben Sache, sagen mehr oder weniger dasselbe, aber in unterschiedlichen theoretischen Vokabularen, die sich meiner Meinung nach direkt ergänzen und gegenseitig erhellen. Diese Komplementarität war mir bereits aufgefallen, als ich Resonanz: Eine Soziologie der Weltbeziehung las.2 Aber sie wurde mir noch deutlicher bei der Lektüre eines aktuellen Artikels von H. Rosa, »The Responsive Society. Listening as the Essence of the Common Good«.3 Weltweite Bekanntheit erlangte Hartmut Rosa mit der Veröffentlichung und den zahlreichen Übersetzungen seines schönen Buches Beschleunigung4 , das eines der wesentlichen Merkmale der fortgeschrittenen Moderne, das sich unter dem Namen Gesetz der dynamischen Stabilisierung zusammenfassen lässt, brillant herausgearbeitet hat: »Die moderne Gesellschaft«, so H. Rosa, »zeichnet sich dadurch aus, dass sie nur in der Lage ist, sich auf dynamische Weise zu stabilisieren, d.h. dass sie systematisch auf (wirtschaftliches) Wachstum, Verdichtung (kultureller) Innovation und (technische) Beschleunigung angewiesen ist, um ihre Struktur zu erhalten und zu reproduzieren.« Wer mit dieser permanenten Beschleunigung nicht Schritt hält, ist heute dazu verurteilt, seine Stellung, seinen Beruf, seinen sozialen Status und sein Einkommen zu verlieren. Aber erst mit Resonanz, das schnell in viele Sprachen übersetzt wurde, erwies sich H. Rosa als ein Allgemeintheoretiker von großer Bedeutung. Er gilt heute als Hauptvertreter der vierten Generation der Frankfurter Schule. Jeder der drei vorhergehenden hat unsere Erwartungen beim MAUSS nicht erfüllt oder uns zu Vorbehalten veranlasst. Die erste, die von Adorno und Horkheimer, verlor sich in einer apokalyptischen Sicht der Moderne, die keinerlei
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Hartmut Rosa, Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Frankfurt a.M. 2016. Man findet eine gute Zusammenfassung in H. Rosa, Remède à l’accélération: impressions d’un voyage en Chine, Paris 2018. Beitrag zum Symposium »The Art of Listening. Deaccelerating Our Way of Life«, Geisteswissenschaftliche Fakultät Utrecht, 30. Januar 2019. Eine Übersetzung dieses Artikels erschien unter dem Titel »La société de l’écoute. La réceptivité responsivité comme essence du bien commun«, in La Revue du MAUSS semestrielle, Nr. 53, 1. Halbjahr 2019. H. Rosa, Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt a.M. 2005. Gefolgt von Beschleunigung und Entfremdung – Entwurf einer Kritik spätmoderner Zeitlichkeit, Frankfurt a.M. 2013. Eine gute Zusammenfassung der in diesen beiden Büchern entwickelten Thesen findet sich, in eher literarischer und direkt formulierter Form, in Remède à l’accélération: Impressions d’un voyage en Chine et autres textes sur la résonance, a.a.O.
An Stelle einer Schlussfolgerung
Raum für die Hoffnung ließ, die von ihr diagnostizierten Katastrophen abzuwenden. Mit Jürgen Habermas erfolgte nahezu der Umschlag ins Gegenteil, mit der Hoffnung, dass endlich eine rationale und transparente Kommunikation zwischen menschlichen Subjekten guten Willens hergestellt werden könnte. Die Bedeutung des Konflikts wurde auf ein Minimum reduziert.5 Hingegen nahm die dritte Frankfurter Schule unter der Leitung von Axel Honneth mit der scheinbaren Betonung des Konflikts, des Kampfes für Anerkennung, ihren Aufschwung. Die Nähe zu den Reflexionen des MAUSS über die agonistische Gabe schien damals bedeutsam. Aber sie erwies sich aus zwei wesentlichen Gründen als teilweise illusorisch. Zunächst einmal, weil Honneth, der, wie wir gesehen haben, dem Hegel des Systems der Sittlichkeit (18021803) – und der Jenaer Realphilosophie – den Vorzug gab gegenüber dem der Phänomenologie des Geistes von 1807, letztlich wenig Wert legte auf die konflikthafte Dimension des Kampfes für Anerkennung und stattdessen nach den normativen Bedingungen suchte, unter denen dieser Kampf nicht oder nicht mehr stattfindet. Der zweite Grund ist, dass Honneth trotz gewisser Ansätze nicht versucht hat, seine Überlegungen mit dem Gabenparadigma zu verbinden, was ihn daran hinderte zu erkennen, dass der Kampf für Anerkennung ein Kampf darum ist, als Geber anerkannt zu werden. Geber von Leben oder Tod, von Segen oder Schaden, in jedem Fall aber Geber. Mit dem Ansatz von H. Rosa hingegen werden all diese Vorbehalte überwunden. Versuchen wir, die Übereinstimmungen und die Modalitäten einer möglichen Übersetzung des einen Paradigmas in das andere zu bestimmen.6
Erste Resonanzen Ein erster und wichtiger Faktor der Gemeinsamkeit, die zwischen den beiden Paradigmen besteht, ist die Weigerung, philosophische und soziologi5 6
Aber einige der Säulen des MAUSS hatten und haben immer noch starke Sympathien für Habermas. Man nennt sie, bzw. sie nennen sich selbst, »Habermaussianer«. In dieser Schlussfolgerung, die als bloße Orientierung gedacht ist, gebe ich nur sehr wenige Zitate und bibliographische Verweise an. Ich verzichte, mit wenigen Ausnahmen, darauf, die Quelle der Zitate von H. Rosa zu benennen, da ich nur sehr allgemeine Formulierungen verwende, die sich in mehreren seiner Texte finden. Im zweiten Teil stammen alle Zitate aus dem Artikel »The Responsive Society«, a.a.O. Was die von mir zusammengefassten Positionen der MAUSS betrifft, so beziehen sie sich, sofern nicht anders angegeben, auf sehr viele Texte und auf verschiedene Kapitel des vorliegenden Buches.
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sche Tradition zu trennen – als wären sie zwei radikal unvereinbare Denkwelten – und die Soziologie im Namen einer illusorischen und missverstandenen »axiologischen Neutralität« von ihren normativen Fragen zu säubern. Eine axiologische Neutralität als Beschwörungsformel, deren hauptsächlicher Nutzen und Funktion eigentlich darin besteht, viele Soziologen davon abzuhalten, etwas anderes lesen zu müssen als das, was in engstem Zusammenhang mit ihrem vermeintlichen Zuständigkeitsbereich steht. Der erste Vorstoß, zu dem sich H. Rosa selbstbewusst bekennt, besteht in der Erklärung, dass die Soziologie etwas über die Determinanten des »guten Lebens« zu sagen hat und haben muss, darüber, woraus es besteht und was ermöglichen könnte, es zu erlangen. Die Soziologie wagt sich damit auf ein Feld vor, das der angestammte Platz der Philosophen oder Psychologen zu sein schien. Der zweite Durchbruch in Resonanz ist die Betonung der Notwendigkeit der Unterscheidung zwischen einer Logik der Anhäufung von Ressourcen, die vermeintlich den Zugang zum »guten Leben« ermöglichen – Geld, Macht, sozialer Status, Persönlichkeitscoaching usw. – und dem, was das Leben tatsächlich gut macht, mit anderen Worten eine »gelungene Weltbeziehung«. Diese Unterscheidung ist von radikal anti-utilitaristischer Inspiration. Der dritte, entscheidende Durchbruch liegt natürlich in der Einführung des Konzepts der Resonanz. Eine gelungene Weltbeziehung ist eine, in der die Welt mitschwingt, in der sie für uns Sinn macht. Nicht nur ein intellektueller oder zerebraler, sondern auch ein emotionaler und körperlicher Sinn. In dieser gelungenen Beziehung spricht die Welt zu uns und berührt uns. Sie setzt unsere Ideen, Gefühle und Körper in Bewegung. Der Erfolg dieses Resonanzkonzepts beruht auf der Tatsache, dass es nicht nur oder nicht in erster Linie ein Konzept ist. Es spricht alle an, es bezieht sich auf die gelebte Erfahrung eines jeden.7 Ein entfremdetes Leben hingegen ist eines, in dem nichts tönt, spricht oder schwingt. Entfremdung ist das Gegenteil von Resonanz.8 Benennen wir die Dinge nunmehr in der Sprache des Gabenparadigmas. Ein gelungenes Leben ist eines, in dem unsere Beziehung zu anderen zunächst einmal hinreichend harmonisch ist. Dazu müssen wir wissen, wie wir
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Es war sogar ein zentraler Begriff der Hippie- und Post-Hippie-Bewegung, bei der es darum ging, gute Schwingungen (good vibes) zu haben. Es musste unter den Teilnehmern »fließen«. Brauchen wir wirklich diesen Begriff der Entfremdung, dessen Verwendungen Rosa vielfach sehr klug kritisiert? Darüber wäre zu diskutieren.
An Stelle einer Schlussfolgerung
uns richtig in den Zyklus des Gebens einfügen, der uns zu anderen in Beziehung setzt, insofern wir sie als Personen betrachten und von ihnen auch als Personen betrachtet werden wollen (und nicht nur als Mittel zur Akkumulation von Ressourcen). Dieser Gabenzyklus, den Mauss mit seiner Entdeckung der »dreifachen Verpflichtung zum Geben, Annehmen und Erwidern« freilegte, die seiner Meinung nach die Grundlage der sozialen Beziehungen in archaischen Gesellschaften bildet, besteht in Wirklichkeit, wie ich schon sagte, aus vier Phasen: nicht nur aus Geben, Annehmen und Erwidern, sondern auch aus explizitem oder implizitem, ausgesprochenem oder unausgesprochenem Bitten, denn wenn die Gabe keine Bitte, kein Bedürfnis, keinen Wunsch befriedigen würde, liefe sie ins Leere. Wenn wir, statt zu bitten, uns vernichten oder im Gegenteil fordern würden, kann die Gabe nicht funktionieren. Wenn wir zu viel geben, so dass wir den Empfänger erdrücken, oder wenn wir alle unsere Gaben berechnen, dann gibt es auch keine Gabe. Ebenso wenig, wenn wir nicht annehmen oder erwidern können. Manche Subjekte stecken im Moment des Bittens fest, andere können nur geben oder annehmen, wieder andere schließlich wollen immer schuldenfrei sein. Für all diese – um zur Sprache der Resonanz zurückzukehren – schwingt die Welt nicht. Und wenn es wirklich keine Resonanz gibt, dann kann die Versuchung groß sein, in das der Gabe entgegengesetzte System, das »diabolische« System, zu wechseln und zu ignorieren statt zu bitten; zu nehmen statt zu geben, zu verweigern statt anzunehmen, zu behalten statt zu erwidern. Wenn es das Subjekt hingegen versteht, je nach den Partnern der Beziehung und den Momenten mal Bittender, mal Geber, mal Empfänger, mal Gegenleister zu sein, dann werden wir in der Sprache der Gabe sagen, dass er eine erste Stufe der Gabefähigkeit, die der wahren Großzügigkeit, erreichen konnte.9 Aber die Gabebeziehung funktioniert, wie die Resonanz, nicht nur im horizontalen Register der Beziehungen zwischen Menschen. Ergänzend zu dieser horizontalen Beziehung unterscheidet Rosa zwischen diagonalen und vertikalen Beziehungen. Erstere sind Beziehungen zur Welt der materiellen Dinge. Sie entspringen einer poetischen Einstellung. Sie betreffen die Bereiche Arbeit, Bildung, Konsum, Sport usw. Vertikale Beziehungen hingegen sind Beziehungen zur Welt als Ganzer, »zur Existenz oder zum Leben als Ganzes«, zu allem, was »als eine das Individuum überschreitende Totalität empfunden« wird.
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Diese Analysen werden in A. Caillé und J.-E. Grésy, Œil pour oeil, don pour don. La psychologie revisitée, a.a.O., entwickelt.
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Es ist interessant zu beobachten, dass auch der MAUSS schon lange zwischen horizontalen, diagonalen und vertikalen Beziehungen unterscheidet.10 Horizontale Beziehungen betreffen die Beziehungen zwischen uns und anderen, dem Hier und dem Anderswo. Sie führen zu Krieg oder Frieden, Freundschaft oder Feindschaft (oder Neutralität). Diagonale Beziehungen, Beziehungen zwischen Generationen, Vergangenheit und Zukunft, Leben und Tod oder Unfruchtbarkeit. Vertikale Beziehungen, nach oben gerichtet, sind Beziehungen mit unsichtbaren Wesenheiten und dem Kosmos, nach unten gerichtet, Beziehungen zur materiellen Welt. Sie erzeugen Glück oder Unglück, Überfluss oder Mangel. Jede dieser Beziehungsarten kann als Gabe/Gegengabe-Beziehung betrachtet werden. Wie wir sehen können, ist die gegenseitige Übersetzung der beiden Paradigmen hier möglich, auch wenn sie sich nicht unmittelbar aufdrängt. Aber das ist sicherlich nicht das Wesentliche. Es liegt in dem, was uns mit dem Gabenparadigma erlaubt, das Äquivalent dessen zu denken, was H. Rosa mit seinem Begriff der Resonanz so gut erfasst. Eine gelungene Gabebeziehung erzeugt Resonanz. Umgekehrt ist eine Beziehung, die Resonanz erzeugt, zweifellos eine gelungene Gabebeziehung. Aber es geht nicht nur um Beziehungen zwischen Menschen. Dieser Punkt ist von entscheidender Bedeutung. Sie legitimiert die Kritik, die Rosa an seinen Lehrmeister Honneth richtet. Nicht alles in unserem Leben dreht sich nur um zwischenmenschliche Beziehungen, und wir suchen nicht nur Anerkennung von Seiten der anderen. Wir suchen auch Resonanz in unseren Beziehungen zum Leben, zur Natur, zur Kunst, zum Sport usw. Diese Kritik ist berechtigt. Wenn alle menschlichen Subjekte nur danach trachteten, von anderen menschlichen Subjekten anerkannt zu werden, dann besteht die große Wahrscheinlichkeit, dass sie in der Hegel’schen Herr-Knecht-Dialektik versinken – jener entscheidenden Passage in der Phänomenologie des Geistes, die Honneth seltsamerweise absolut nicht berücksichtigen will –, oder in der von René Girard analysierten mimetischen Rivalität. Was es möglich macht, ihr zu entkommen, ist die Öffnung zu anderen Dimensionen der Existenz, all jenen, die die phänomenologische Tradition unter dem Begriff der Gegebenheit denkt. Eine ganze Reihe von Dingen, die eigentlich wesentlichen und kostbarsten, sind uns gleichsam gegeben: die Welt, die Natur, das Leben, die Inspiration, die Anmut, die Schönheit usw. Alle Dinge, die von niemandem und an niemanden gegeben 10
Vor allem unter der Feder von A. Caillé, C. Tarot, F. Gauthier oder J.-P. Willaime.
An Stelle einer Schlussfolgerung
werden, zu denen wir uns aber verhalten müssen, als ob sie uns gegeben wären, und deshalb im Register der Mauss’schen Gabe liegen.11 Wenn uns das gelingt, wenn wir diese Gegebenheit als eine Gabe schätzen und als solche in Empfang nehmen können, dann können wir damit beginnen, etwas zurückzugeben in Form einer Hingabe12 , einer Hingabe an die Kunst, an den Sport, an das Leben selbst. Wir werden kreativ, jeder auf seinem Niveau und nach seinen Möglichkeiten. Wir erhalten Zugang zu einer anderen Form der Gabefähigkeit, nämlich der Gabefähigkeit 2, der zweiten Art der Gabefähigkeit. Die Gabefähigkeit 1 ist das Feld der Großzügigkeit, die Gabefähigkeit 2 ist das Feld der Generativität, der Freiheit-Kreativität. Diese beiden Bereiche sind komplementär. Der Zugang zu einer bestimmten Form der Kreativität ermöglicht es uns, Misserfolge oder Schwierigkeiten in unseren Beziehungen zu anderen zu überwinden und umgekehrt. Wie wir sehen können, liegen in der Reflexion über die Quellen des guten Lebens Gaben- und Resonanzparadigma eng beieinander. Sie ergänzen sich. Vielleicht könnte man es so formulieren: Das Resonanzparadigma sagt uns besser, klarer und deutlicher, worin das gute Leben besteht, das Gabenparadigma, wie man es erlangen kann. Aber in diesem Stadium bezieht sich die Reflexion hauptsächlich auf die individuelle Ebene. Es wäre seltsam, wenn eine soziologisch inspirierte Reflexion hier aufhören würde.
Ausweitung der Resonanz auf die politische Ebene Viele Elemente waren bereits in Resonanz vorhanden, aber Hartmut Rosas Artikel »The Responsive Society. Lstening as the Essence of the Common Good«, hat das Verdienst, sie in äußerst verdichteter und anschaulicher Weise zusammenzufassen und damit einen aufsehenerregenden Einstieg in das Feld der politischen Philosophie zu schaffen. Was Rosa uns vorschlägt, ist, kurz gesagt, seine Überlegungen zum guten Leben auf die Ebene der politischen Gemeinschaften zu erweitern. Für eine politische Gemeinschaft, oder eine
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Der Irrtum der französischen Phänomenologen J. Derrida oder J.-L. Marion besteht, wie wir gesehen haben, darin, dass sie versuchen, die Gabe als eine Form von Gegebenheit zu denken und daraus logisch zu folgern, dass die Gabe »die Form des Unmöglichen« ist, während umgekehrt das, was der Gegebenheit entspringt, in der Sprache der Gabe gedacht werden muss. Dieser Begriff ist dem der illusio, den P. Bourdieu als Ersatz für den Begriff des Interesses vorgeschlagen hat, bei Weitem vorzuziehen.
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»politische Körperschaft«, wie er es nennt, wird das Leben gut, wenn Resonanz ins Spiel kommt. Damit sie Resonanz erzeugt, ist es notwendig, dass sie nicht als das Ergebnis eines allgemeinen Handelns wahrgenommen wird, bei dem jeder nur seine eigenen Interessen vertritt, sondern dass ihre Mitglieder über ihre eigenen Interessen hinaus von einem Bemühen um das Gemeinwohl geprägt sind. Und das Gemeinwohl, sagt uns H. Rosa, »kann nur dann angestrebt und erreicht werden, wenn es einer politischen Körperschaft gelingt, Resonanzbeziehungen oder genauer gesagt Resonanzachsen herzustellen, erstens zwischen den Mitgliedern der Gemeinschaft, zweitens mit den gemeinsamen Institutionen und Praktiken der kollektiv gelebten Welt und drittens mit ihrer Vergangenheit und Zukunft. Schließlich erfordert sie eine rezeptive Offenheit – die Fähigkeit, zuzuhören und auf eine transformative Weise zu reagieren – gegenüber der als äußerlich, als das Andere der Gesellschaft wahrgenommenen Welt.«13 Und er ergänzt: »Zusammenfassend schlage ich vor, dass das Gemeinwohl, verstanden als ein gelungener demokratischer Prozess, als eine Resonanzbeziehung gesehen werden muss, d.h. eine Beziehung, die auf der Fähigkeit, dem Willen und der Praxis des Zuhörens und Reagierens beruht, und zwar in einer Weise, die a) selbsttransformierend und b) unvorhersehbar und offen ist.« Bevor diese zentrale These ein wenig ausführlicher beschrieben und ihre mögliche Übersetzung in die Sprache der Gabe untersucht werden kann, muss vorab klargestellt werden, warum sie wichtig ist. Zunächst einmal befindet sie sich entschieden auf einem völlig anderen Terrain als die Gerechtigkeitstheorien, die von Rawls bis Habermas, über Nozick, Dworkin und viele andere die politische Philosophie auf ein Terrain geführt haben, das sich letztlich als wenig fruchtbar erweist. Um es auf den Punkt zu bringen: Es ist unwahrscheinlich, dass sich diese Gerechtigkeitstheorien, was immer sie auch denken mögen, dem Utilitarismus entziehen können. Erstens, weil sie zumeist auf einem Menschenbild beruhen, das nur eine mehr oder weniger komplexe Variante der Figur des Homo œconomicus darstellt, und zweitens, weil sie sich naturgemäß schwer tun, eine buchhalterische Sicht dessen zu vermeiden, was jedem Menschen zukommt. Der israelische Philosoph Avishai Margalit hat deutlich gezeigt, dass sich eine »gerechte« Gesellschaft als vollkommen 13
Ich gebe die Kursivierungen des Autors wieder.
An Stelle einer Schlussfolgerung
unmenschlich, als »unanständig« erweisen könnte. Anstatt zu versuchen, die unmöglich zu findenden Kriterien einer gerechten Gesellschaft zu definieren, sollte man besser fragen, wie eine anständige Gesellschaft aussehen könnte. Wagen wir eine erste Verallgemeinerung: Eine anständige Gesellschaft ist eine, in der es Resonanz gibt. Diese Gesellschaft, sagt Rosa, ist eine demokratische Gesellschaft, die von der Suche nach dem Gemeinwohl angetrieben wird. Genauer gesagt ist es eine Gesellschaft, in der man zuhören und reagieren kann. Eine Gesellschaft also, in der man nicht umsonst spricht, in der die Worte eines jeden eine Wirkung haben und in der die Verflechtung der Worte aller eine Verwandlung der Gesellschaft und jedes einzelnen ihrer Mitglieder mit unvorhersehbaren Ergebnissen bewirkt (Rosa spricht von Unverfügbarkeit und Ergebnisoffenheit). Ich habe gerade die prinzipielle Überlegenheit dieses Ansatzes gegenüber den Gerechtigkeitstheorien betont. Er übertrifft auch die Theorie von Habermas. Bei Habermas geht es darum, durch die »unverzerrte« (not distorted) Diskussion eine rationale Grundlage für Gerechtigkeitsnormen zu suchen. Hier ist das Ziel viel weiter gefasst. Es geht nicht nur, nicht einmal in erster Linie darum, eine gewisse Übereinstimmung von Ideen oder Konzepten zu erreichen, sondern darum, Herzen und Körper zum Leben zu erwecken und in Bewegung zu bringen. Nicht unbedingt in Eintracht und Harmonie. Rosa besteht zu Recht darauf: Die Resonanz, die Schwingungen können durch Konsonanz, aber auch durch Dissonanz entstehen. Man kann sagen, dass Rosa Habermas verallgemeinert und übertrifft. Aber man darf sich fragen, ob das Gabenparadigma nicht auch hier eine nützliche Ergänzung darstellt. Zumindest ist klar, wie man in Bezug auf die Gabe das Thema umformulieren kann, dass in der »responsiven« Gesellschaft, in der es Antworten und Antwortgeber gibt, man gehört wird. Damit dies geschehen kann, müssen Worte wie Gaben aufgenommen werden, so dass »sagen gleich geben ist«.14 Sie müssen ebenso wie Güter und Dienstleistungen den Zyklus des Bittens-Gebens-Annehmens-Erwiderns durchlaufen. Andernfalls werden Worte ignoriert, genommen, verweigert und erhalten nie eine Antwort. Aber das Problem sollte sich nicht allein auf die Verbreitung von Worten und Reden beschränken. Allgemeiner ausgedrückt: In der Resonanzgesellschaft, die lebt, die schwingt, haben alle, oder zumindest die größte Zahl, die Fähigkeit zu geben und ihre Gaben als solche anerkannt zu sehen. Das Gerechtigkeitskriterium des Utilitarismus besteht bekanntlich darin, das 14
Vgl. Nr. 50 der Revue du MAUSS semestrielle, a.a.O.
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Glück der größtmöglichen Zahl zu maximieren. Die anti-utilitaristische Maxime zielt darauf ab, die Anzahl und Qualität der Gabekreisläufe zu maximieren. Diese Formulierung ist zweifellos präziser als die von Amartya Sen, auch wenn sie ihr nahe kommt. Die capabilities der größtmöglichen Zahl entwickeln, ist in der Tat ein gerechtes Ziel, aber die capability und Fähigkeiten, was zu tun, wenn nicht als Geber und/oder Schöpfer anerkannt zu werden? Allgemeiner noch, in der anti-utilitaristischen Perspektive des MAUSS, wird das Politische, das politische Gemeinschaften formt, als ein Integral der Gaben gesehen, d.h. der Entscheidungen der Mitglieder der Gemeinschaft, Verbündete und nicht Feinde oder Gleichgültige zu sein und diese Bündniswahl durch Gaben zu konkretisieren. Gaben, die nicht nur aus Worten bestehen, sondern auch aus Gütern, Dienstleistungen, Kreationen und Verpflichtungen. Hingaben. Diese Gaben fügen sich ein in den Kontext der Gaben vergangener Generationen – sie bilden die Tradition – und sie sind die Grundlage für die Gaben an künftige Generationen. Hier begegnen wir wieder dem Anliegen von H. Rosa, der sagt, dass die Resonanzbeziehung mit der Vergangenheit und der Zukunft hergestellt werden muss. Aber für ihn muss darüber hinaus die interne Resonanz mit einer externen Resonanz gekoppelt werden, eine Fähigkeit zum gegenseitigen Zuhören nicht nur innerhalb der politischen Körperschaft, sondern auch nach außen, zu Fremden. »Meine These (und meine Hoffnung)«, schreibt er, »ist, dass eine Gesellschaft nach außen nicht ungerecht, gewalttätig, repressiv oder zerstörerisch sein kann, wenn sie ihre innere Resonanzfähigkeit bewahren möchte.« Vielleicht müsste man diese Formulierung etwas differenzieren, denn mit der Globalisierung und dem Entstehen von eindeutig multikulturellen Gesellschaften ist das Äußere teilweise im Inneren präsent. Hier schließt eine Formulierung des MAUSS an die von Rosa an: »Ein gutes politisches System ist eines, das versucht, das Maximum an kulturellem Pluralismus zu fördern, das mit seinem eigenen Fortbestand vereinbar ist. Beziehungsweise eines, das die größtmögliche Vereinbarkeit zwischen dem Recht auf Verwurzelung und dem Recht auf Entwurzelung, zwischen der rechtlichen Gleichheit der Kulturen und faktischen Ungleichheiten ermöglicht.«15
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A. Caillé und Ph. Chanial, Nachwort zu F. Fistetti, Théories du multiculturalisme. Un parcours entre philosophie et sciences sociales, Paris 2009, S. 190.
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Was die Resonanz mit der Natur betrifft, ein weiteres Thema von H. Rosa, so kann sie das Ergebnis einer Gabe/Gegengabe-Beziehung sein. Eine Beziehung, die sich vielleicht über einen »methodologischen Animismus« herstellt. Schließlich fasst H. Rosa im dritten und letzten Teil seines Artikels seine Diagnose über den Zustand unserer Gesellschaften zusammen und verfeinert sie. Er spricht von »einer schweren Krise der Demokratie«. »Das Wesen dieser Krise«, schreibt er, »besteht darin, dass die drei Dimensionen der Resonanzachsen – die soziale (zwischen den Bürgern), die materielle (mit der gelebten Welt) und die vertikale (mit der Vergangenheit) – in Gefahr sind, zum Schweigen verurteilt zu werden, oder bereits zum Schweigen gebracht worden sind.« Es ist hier nicht möglich, einen Dialog über diese Diagnose zu führen, die wir als solche weithin teilen können. Sagen wir einfach, dass das, was H. Rosa unter Bezug auf das Gesetz der Beschleunigung, das zum Gesetz unserer Welt geworden ist, brillant analysiert, in Beziehung zu dem gesetzt werden könnte, was ich für den Umschlag der demokratischen Gesellschaften in den letzten etwa 30 Jahren in Formen eines »umgekehrten Totalitarismus« oder »Parzellitarismus« halte. Unter dem Regime des Parzellitarismus löst sich alles, was eine gemeinsame Ordnung darstellt, in Parzellen auf, in Parzellen von Subjekten, in Parzellen des Wissens, in Parzellen der Macht, in Parzellen von Kollektiven. Übrig bleiben tendenziell nur Elementarteilchen, die einer Brown’schen Bewegung folgen. Der globale Umschwung hin zu starken, autoritären oder neofaschistischen Rechtsbewegungen ist eine Reaktion auf diese Parzellierung.16 Ich muss allerdings zugeben, dass ich sehr beeindruckt war, wie H. Rosa sich von der systematischen Reaktion der Intellektuellen auf diese »populistischen« oder rechten Auswüchse abhebt. Er stellt zu Recht fest, dass die Intellektuellen von den Volksmassen nicht mehr gehört, geschweige denn verstanden werden, weil sie selbst nicht mehr zuhören und verstehen können. Ich schließe mich dem Satz an: »Resonanz bedeutet, dass man nicht immer so tun kann, als wüsste man mehr oder wüsste es besser als die ›betrogenen Massen‹, die korrupten Wirtschaftseliten oder die machthungrigen Politiker.« Er geht sogar so weit zu schreiben:
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Karl Polanyi hatte in The Great Transformation deutlich gezeigt, dass die Faschismen als Reaktionen auf die Herrschaft des selbstregulierten, entfesselten Marktes verstanden werden können.
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»In dieser Hinsicht ist es eine sehr unangenehme Feststellung, dass sich die sozialwissenschaftlichen Eliten des liberalen Westens einig sind – wie zahlreiche Publikationen und Konferenzen belegen –, dass die Argumente von Leuten wie Trump oder Putin, die Meinungen von Führern wie Xi Jinping oder Modi und die Positionen von Erdogan, der iranischen Regierung oder Duterte nicht ernst zu nehmen sind. Wir dürften diesen Personen nicht einmal zuhören, erstens, weil wir bereits vorher wissen, dass sie autoritäre, diktatorische, totalitäre oder kriminelle Stimmen sind, und zweitens, weil ihr kategorischer Widerstand gegen jeden Versuch einer Verständigung es unmöglich machen würde, sie zu erreichen.« Diese Behauptung steht in völliger Übereinstimmung mit der »MAUSS’schen Ethik der konvivalistischen Debatte«, die ein Prinzip des dialogischen Wohlwollens vertritt. Dieses Prinzip gebietet uns anzunehmen, dass diejenigen, die wir ablehnen, bis zum Beweis des Gegenteils, a priori genauso intelligent und moralisch sind wie wir. Sie sollten daher nicht von vornherein wegen ihrer vermeintlichen Dummheit oder Unmoral disqualifiziert werden.17 Tatsache bleibt, dass unsere Gesellschaften, versunken in dem, was der Historiker François Hartog als Präsentismus bezeichnet, kaum noch in Resonanz mit ihrer Vergangenheit und ihrer Zukunft stehen. Rosa ist der Ansicht, dass wir noch immer die Möglichkeit haben, auf horizontale Resonanzen zu bauen, indem wir die Demokratie durch mehr Partizipation, Repräsentation (was voraussetzt, dass die Gewählten ihren Wählern wirklich zuhören) und Synchronisierung wiederbeleben: »Die Demokratie kann sich nur dann als Resonanzsphäre etablieren, wenn es ihr gelingt, die Wachstums- und Beschleunigungskräfte, die mit dem Modus der dynamischen Stabilisierung einhergehen, zu blockieren und so die Grundstrukturen des Gemeinwesens, der Zukunft, des materiellen und institutionellen Umfelds zu gestalten und sich wieder anzueignen sowie die Resonanzachsen zu aktivieren.« Aber ist dies möglich, und wie? Die Diskussion dieser Vorschläge würde eine minimale Darstellung des Konvivialismus voraussetzen, dem Rosa übrigens prinzipiell zustimmt. Dies 17
Vgl. A. Caillé, www.journaldumauss.net/./?Elements-d-une-ethique-Maussienne-dela-discussion-convivialiste Ein mögliches hyperwohlwollendes Prinzip des dialogischen Wohlwollens könnte uns zu der Hypothese veranlassen, dass sie intelligenter und moralischer sind als wir…
An Stelle einer Schlussfolgerung
ist nicht der richtige Ort dafür. Aber ich möchte den anderen zentralen Vorschlag von H. Rosa aufgreifen: Angesichts der allgemeinen Fragmentierung unserer Gesellschaften in Gruppen, die durch unterschiedliche Beziehungen zur Beschleunigung (und auch, wie man hinzufügen muss, zur Deterritorialisierung) getrennt sind, die nicht mehr miteinander sprechen, die nicht mehr an dieselben Wahrheiten glauben, wird es dringend notwendig, ein Diskussionsforum einzurichten, dessen Neutralität und Bemühen um die Wahrheit unbestreitbar sind. Rosa schreibt: »Dieser Resonanzbereich ist ohne die politische Institutionalisierung hinreichend starker öffentlich-rechtlicher Sender und die Zusicherung von Orten physischer Begegnung der Bürger ganz einfach nicht zu realisieren. Die Rolle einer solchen Sphäre demokratischer Resonanz besteht darin, diese sozialen ›Multiversen‹ zu verbinden und zu vereinen, erstens durch die Schaffung und Wahrung eines Raums des gemeinsamen Wissens und zweitens durch die Einrichtung eines Forums für Partizipation und demokratischen Austausch, das als Treffpunkt für alle gesellschaftlichen Gruppen, Milieus und Schichten dienen kann.« Ich stimme diesem Vorschlag zu, und deshalb überlasse ich am Ende dieses Vergleichs zwischen den beiden Paradigmen, dem der Gabe und dem der Resonanz, das letzte Wort Hartmut Rosa. Ich hoffe, dass die hier begonnene Übersetzungsarbeit dazu beitragen kann, beide zu bereichern.
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Das Paradigma der Gabe
Silber, Ilana, »Sortilèges et paradoxes du don«, Revue du MAUSS semestrielle, Nr. 27, »De l’anti-utilitarisme. Anniversaire, bilan, et controverses«, 1. Halbjahr 2006. ―, »Bourdieu’s Gift to Gift Theory: An Unacknowledged Trajectory«, Sociological Theory, Bd. 27, Nr. 2, Juni 2009. Smith, Adam, Der Wohlstand der Nationen. Eine Untersuchung seiner Natur und seiner Ursachen, München 1978. Strathern, Marylin, The Gender of the Gift: Problems with Women and Problems with Society in Melanesia, Berkeley/London 1988. Tarot, Camille, »Repères pour une histoire de la naissance de la grâce«, Revue du MAUSS semestrielle, Nr. 1, »Ce que donner veut dire«, 1. Halbjahr 1993. ―, »Don et grâce, une famille à recomposer ?«, in Gifts and Interests, Leuwen, nachgedruckt in Revue du MAUSS semestrielle, Nr. 32, »L’amour des autres. Care, compassion et humanitarisme«, 2. Halbjahr 2008. Taylor, Charles, Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität, Frankfurt a.M. 1996. ―, Die Formen des Religiösen in der Gegenwart, Frankfurt a.M. 2002. ―, »La consommation et la radicalisation de la culture moderne de l’authenticité et de l’expressivité«, Revue du MAUSS semestrielle, Nr. 44, »Consommer, donner, s’adonner«, 2. Halbjahr 2014. Terestchenko, Michel, Amour et désespoir, de François de Sales à Fénelon, Paris 2000. Tesnière, Lucien, Grundzüge der strukturalen Syntax, Stuttgart 1980. Tocqueville, Alexis de, Über die Demokratie in Amerika, München 1986. Tronto, Joan, Moral Boundaries. A Political Argument for an Ethic of Care, New York 1993. Uberoi, J.P.S., Politics of the Kula Ring, Manchester 1962. Vatin, François, »Octave Manonni (1899-1989) et sa Psychologie de la colonisation. Contextualisation et décontextualisation«, Revue du MAUSS semestrielle, Nr. 37, »Psychanalyse, philosophie et science sociale«, 1. Halbjahr 2011. Veblen, Thorstein, Theorie der feinen Leute. Eine ökonomische Untersuchung der Institutionen, Köln/Berlin, 1958. Viard, Bruno, Les Poètes et les Économistes, Paris 2011. Waal, Frans de, Unsere haarigen Vettern. Neueste Erfahrungen mit Schimpansen, München 1983. ―, Wilde Diplomaten. Versöhnung und Entspannungspolitik bei Affen und Menschen, München 1991.
Bibliographie
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Danksagungen
Dieses Buch, das habe ich oft genug gesagt, ist weitgehend das Ergebnis eines kollektiven Abenteuers, das nun seit fast vier Jahrzehnten andauert. Ich kann nicht alle diejenigen nennen oder auch nur zählen, die auf die eine oder andere Weise dazu beigetragen und mein Denken bereichert haben. Ich sollte die etwa hundert ehemaligen und gegenwärtigen Mitglieder der Association du MAUSS erwähnen, ohne die die Zeitschrift einfach nicht hätte erscheinen und am Leben erhalten werden können. Und auch die rund tausend Autorinnen und Autoren, die wir veröffentlicht haben. Bei Weitem nicht alle von ihnen sind unbedingt Anhänger des Gabenparadigmas, aber sie alle waren bereit, mit uns in einen Dialog zu treten, und sie alle haben mir erlaubt, Fortschritte zu machen (na ja, ich hoffe es…). Mein besonderer Dank gilt jedoch Ahmet Insel und Philippe Chanial. Ohne Ahmet hätte ich nie die Ausgaben der Revue du MAUSS trimestrielle fertigstellen können, und ohne Philippe nicht die der Revue du MAUSS semestrielle, zu deren gutem Geist er mehr und mehr wird. Seit langem schon schreiben wir gemeinsam die Präsentationen der einzelnen Ausgaben, die unserem Wunsch entsprechend sehr detailliert und präzise sein sollen. Denn es gilt, den Autorinnen und Autoren, die wir einladen, gerecht zu werden, während wir uns gleichzeitig fragen, wie wir ihr Anliegen in den Rahmen des Gabenparadigmas einordnen können, wenn es sich als möglich erweist. Einige Kapitel dieses Buches (6, 7, 8 und 10) verdanken diesen gemeinsam verfassten Präsentationen viel. Ich kann Jacques T. Godbout nicht genug dafür danken, dass er den ersten Anstoß zur Anwendung der Mauss’schen Überlegungen zur Gabe auf die zeitgenössischen Gesellschaften gegeben hat, oder Anne-Marie Fixot dafür, dass sie (fast) von Anfang an bis heute aktiv und intellektuell am Abenteuer des MAUSS beteiligt war. Dasselbe gilt für Serge Latouche, dem ich in einer alten, freundschaftlichen, immer verspielten und fruchtbaren Rivalität verbunden bin. Die warmherzige Präsenz und die ständige Unterstützung von Roberte
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Das Paradigma der Gabe
Hamayon, trotz oder wegen einiger ihrer Zweifel am Gabenparadigma, waren für mich eminent wertvoll. Und was soll ich sagen über die Freundschaft oder eher Seelenverwandtschaft (um seine Sprache zu sprechen) von Michel Terestchenko und der intellektuellen Kameradschaft von Bruno Viard? Nicht zu vergessen Marcel Hénaff, der uns gerade verlassen hat. Trotz einiger theoretischer Meinungsverschiedenheiten, die manchmal heftig waren, antwortete er stets auf alle Aufrufe des MAUSS. Er war ein lieber Freund, den wir im Frühjahr 2018 verloren haben. Ebenfalls sehr präsent in der Geschichte des MAUSS waren zu diesem oder jenem Zeitpunkt, oder sind es immer noch, und haben zu seiner Entwicklung und seinen Überlegungen beigetragen: Gerald Berthoud, François Fourquet (†), Pascal Combemale, Paul Jorion, Christian Laval, Jean-Claude Michéa, Chantal Mouffe, Philippe Rospabé (†), David Graeber (†). Jean-Louis Cherlonneix, ein bemerkenswerter Spezialist der griechischen Philosophie, der in der Blüte seiner Jahre starb, konnte mich darin bestärken, dass meine Ausflüge auf dieses Gebiet nicht vergeblich waren und dass, ja, der Utilitarismus tatsächlich der Geschichte angehört. Zusammen mit Christian Lazzeri, einem Leser, Freund und Wegbegleiter des MAUSS seit seinen Anfängen, der auch davon überzeugt war, dass die Frage des Verhältnisses zum Utilitarismus die zentrale Frage der politischen und Moralphilosophie ist, haben wir an der Universität Nanterre das SOPHIAPOL (Laboratorium für politische Soziologie, Philosophie und Anthropologie) gegründet, das zweifellos auch heute noch einer der aktivsten Orte der theoretischen Debatte in Frankreich ist (ich sage das, weil fast das ganze Verdienst Christian und seinen Philosophenkollegen gebührt). Sein erstes Forschungsprogramm befasste sich mit der Frage des Kampfes für Anerkennung, die wesentliche Passagen des ersten Teils dieses Buches einnimmt. Jean-Édouard Grésys Enthusiasmus, seine Überzeugung, dass der Moment der Bitte in den Mauss’schen Gabezyklus integriert werden müsse, erlaubte es uns, im Anschluss an Norbert Alter, den ich ebenfalls grüße, eine meiner Meinung nach originelle und… richtige Herangehensweise an das Funktionieren von Organisationen zu entwickeln. Und erst kürzlich einen ersten Abstecher des Gabenparadigmas auf das Gebiet der Psychologie zu unternehmen. Anerkennung schulde ich auch Thomas Lindemann, der mich ermutigt hat, das Paradigma der Gabe und der Anerkennung auf den Bereich der internationalen Beziehungen anzuwenden (und auf den einige Seiten von Kapitel 9 zurückgehen), und Pierre Prades, der eine Menge Ideen und historisches
Danksagungen
Material in meine Überlegungen zur symbolischen Wirksamkeit eingebracht hat. Oder vielmehr, der sie angeregt hat. Wenn der MAUSS inzwischen ein gewisses internationales Publikum hat, dann verdankt es dies der Qualität und der Energie derjenigen unserer Freunde, die in ihren jeweiligen Ländern als seine Vermittler fungieren: Paulo Henrique Martins in Brasilien, Francesco Fistetti und Elena Pulcini (†) in Italien1 , Frank Adloff in Deutschland, Ilana Silber in Israel und den Vereinigten Staaten, Marc Humbert und Osamu Nishitani in Japan, Zhi Je in China und Frédéric Vandenberghe, ebenfalls in Brasilien, aber auch auf der ganzen Welt. Dieses Buch ist zu einem großen Teil auch ihr Buch.
1
Im Anschluss an den früh verstorbenen Alfredo Salsano, dem ich hier gedenken möchte. Auch unserer Freundin Elena Pulcini gedenke ich an dieser Stelle, sie verließ uns viel zu früh im Jahr 2021.
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Soziologie Naika Foroutan
Die postmigrantische Gesellschaft Ein Versprechen der pluralen Demokratie 2019, 280 S., kart., 18 SW-Abbildungen 19,99 € (DE), 978-3-8376-4263-6 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4263-0 EPUB: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4263-6
Maria Björkman (Hg.)
Der Mann und die Prostata Kulturelle, medizinische und gesellschaftliche Perspektiven 2019, 162 S., kart., 10 SW-Abbildungen 19,99 € (DE), 978-3-8376-4866-9 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4866-3
Franz Schultheis
Unternehmen Bourdieu Ein Erfahrungsbericht 2019, 106 S., kart. 14,99 € (DE), 978-3-8376-4786-0 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4786-4 EPUB: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4786-0
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Soziologie Sybille Bauriedl, Anke Strüver (Hg.)
Smart City – Kritische Perspektiven auf die Digitalisierung in Städten
2018, 364 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-4336-7 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4336-1 EPUB: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4336-7
Weert Canzler, Andreas Knie, Lisa Ruhrort, Christian Scherf
Erloschene Liebe? Das Auto in der Verkehrswende Soziologische Deutungen 2018, 174 S., kart. 19,99 € (DE), 978-3-8376-4568-2 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4568-6 EPUB: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4568-2
Juliane Karakayali, Bernd Kasparek (Hg.)
movements. Journal for Critical Migration and Border Regime Studies Jg. 4, Heft 2/2018 2019, 246 S., kart. 24,99 € (DE), 978-3-8376-4474-6
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