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German Pages [369] Year 2017
SC I E N T I A
R E LI G I O
Veronika Hoffmann Ulrike Link-Wieczorek Christof Mandry (Hg.)
Die Gabe Zum Stand der interdisziplinären Diskussion
VERLAG KARL ALBER
https://doi.org/10.5771/9783495817698
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Veronika Hoffmann Ulrike Link-Wieczorek Christof Mandry (Hg.) Die Gabe
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SCI E N T I A
REL I G IO
Band 14
Herausgegeben von Markus Enders und Bernhard Uhde Wissenschaftlicher Beirat Peter Antes, Reinhold Bernhardt, Hermann Deuser, Burkhard Gladigow, Klaus Otte, Hubert Seiwert und Reiner Wimmer
https://doi.org/10.5771/9783495817698 .
Veronika Hoffmann Ulrike Link-Wieczorek Christof Mandry (Hg.)
Die Gabe Zum Stand der interdisziplinären Diskussion
Verlag Karl Alber Freiburg / München
https://doi.org/10.5771/9783495817698 .
Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft
Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2016 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier ISBN (Buch) 978-3-495-48769-3 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-81769-8
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Inhalt
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Veronika Hoffmann, Ulrike Link-Wieczorek, Christof Mandry Die Gabe als Sprachphänomen: sich geben, als etwas anerkennen . . . . . . . . . . . . . . . . Risto Saarinen
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I. Gabe und Anerkennung: Konvergenz und Konkurrenz der Diskurse Gabe gegen Anerkennung? – Anerkennung als Gabe? . . . . . . Burkhard Liebsch
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Anerkennung: die Gabe der Freiheit Jürgen Werbick
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Strukturen der Gabe – Manifestationen der Anerkennung: Zu einer Theologie der Religion in der Moderne . . . . . . . . Knut Wenzel
92
II. Hingabe statt Tausch? Ökonomie und Anökonomie der Gabe Gabe der Freiheit, Schöpfungsfruchtbarkeit, Hingabe bis zur Stellvertretung. Anökonomie bei Emmanuel Levinas . . . . . . Kurt Wolf Positive Ökonomie als Promissio . . . . . . . . . . . . . . . . Bo Kristian Holm
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Inhalt
III. Geben aus vollen Händen? Großzügigkeit im Kontext von Religion Geben ist seliger denn Nehmen. Großzügigkeit als Habitus und Ressource . . . . . . . . . . . . Hans-Martin Gutmann
165
Verteile und schenke und suche nicht, die Gaben zu verrechnen: Grosszügig handeln im Islam . . . . . . . . . . . . . . . . . . Daniela Falcioni
179
Zwischen Mangel und Fülle. Gabetheologische Ansatzpunkte für eine Hoffnung auf Erlösung . . . . . . . . . . . . . . . . . Christine Büchner
198
Pandora: Vorsicht vor Gottes Freigiebigkeit! Ein religionswissenschaftlicher Vergleich kultureller Werte . . . Christoph Auffarth
222
(Gottes) Gute Gaben? Misslingen, Missbrauch und andere Probleme mit der Gabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Veronika Hoffmann
239
Überfülle und Erlösung. Trinitätstheologische, soteriologische und eschatologische Implikationen des Gabediskurses . . . . . Joachim Negel
257
IV. Ver-geben? Konflikt, Konfliktlösung und Machtambivalenzen in der Perspektive der Gabe Vom Glück des Gebens, des Verzeihens und des Vergebens. Phänomenologische Überlegungen zu drei elementaren Vollzügen personaler Interaktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Markus Enders Die (An-)Ökonomie der Gabe: Gegenwart in Liebe, Gebet und Vergebung . . . . . . . . . . . Claudia Welz
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Inhalt
Kann Gott unseren Schuldigern vergeben? Über die Schwierigkeiten der Vergebung . . . . . . . . . . . . Ulrike Link-Wieczorek
326
Führen Reparationen zu Versöhnung? Ausgewählte Beispiele aus der Geschichte . . . . . . . . . . . Tobias Weger
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Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einleitung Veronika Hoffmann, Ulrike Link-Wieczorek, Christof Mandry
1.
Das Forschungsfeld der »Gabe«
Geben und Empfangen, Schenken, Tauschen und Spenden, Zurückgeben und Weitergeben – diese Phänomene rücken seit etwa zwei Jahrzehnten zunehmend in das Blickfeld eines internationalen Diskurses, der sozialwissenschaftliche und philosophische, aber auch ethnologische, religionswissenschaftliche und historische Forschungen umfasst. Ein zentrales Thema dieses Diskurses ist die These von der Fundamentalität der Gabe für das Verständnis menschlichen Inder-Welt-Seins. Die Untersuchung menschlicher Gabepraktiken fördere wesentliche Einsichten in die soziale Beziehungsstruktur menschlicher geschichtlicher Existenz zutage und mit der Analyse von Gabestrukturen ließen sich grundlegende, kulturell jeweils unterschiedliche soziale und religiöse Bindungen und Verbindlichkeiten erhellen. Religionsphilosophische, theologische und ethische Aspekte sind in den letzten Jahren in vielfacher Weise bearbeitet worden, wodurch die Diskussion sehr umfangreich, teilweise jedoch auch unübersichtlich geworden ist. Diese Gesprächsfäden ausdrücklich aufzunehmen, ist die Absicht dieses Buches. Bereits bei dem französischen Soziologen und Ethnologen Marcel Mauss, dessen Werk »Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften« (1924/25) 1 einen zentralen Referenzpunkt dieser Debatte darstellt, wird die kulturelle Bedeutung des Gabephänomens unterstrichen. Mauss stellt an den Gabepraktiken archaischer Gesellschaften eine scheinbare Widersprüchlichkeit zwischen der offensichtlichen Freiwilligkeit der Gabe und der Tatsache fest, dass sie dennoch mit einer spezifischen Verpflichtung verbunden ist: Obwohl Gabevorgänge deutlich von ökonomischen Marcel Mauss, Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften, Frankfurt a. M. 2. Aufl. 1994.
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Tauschverhältnissen unterschieden werden, fordert eine gegebene Gabe stets eine Gegen-Gabe. Dieser Gabenverkehr dient in den vorstaatlichen Gesellschaften insbesondere der Herstellung und Sicherung von Allianzen zwischen sozialen Gruppen, z. B. Familien oder Clans, so dass eine Weigerung, in ihn einzutreten, eine Zurückweisung der Gebenden darstellt und erhebliche soziale Folgen nach sich zieht. Insgesamt umfassen und integrieren die ritualisierten, öffentlichen Gestalten des Gebens alle Dimensionen des sozialen Lebens und spielen eine entscheidende Rolle für die Identität des Gemeinschaftswesens. Zugleich symbolisieren sie auch die Beziehung der Menschen zur Natur, den Toten und den Göttern. Über diese ethnologischen Beobachtungen hinaus fügt Mauss seiner Studie Überlegungen zur Gabe in der modernen Gesellschaft hinzu, die wesentlich zur Dynamik der aktuellen Gabedebatte beigetragen haben. Denn er sieht in der Gabe ein universales, kulturtheoretisch fundamentales Phänomen: Trotz der Ausdifferenzierung in öffentliche und private Räume in modernen Gesellschaften und trotz der Privatisierung des Gebens habe die Gabe nach wie vor eine zwar weniger offenkundige, aber dennoch grundlegende Bedeutung für den Zusammenhalt der Gesellschaft. Mauss’ ethnologische Beobachtungen wurden insbesondere seit Beginn der 1990er Jahre vielfach ergänzt und weitergeführt. So haben Annette Weiner 2 und Maurice Godelier 3 darauf hingewiesen, dass es in vorstaatlichen Gesellschaften neben der Sphäre der Gabe auch eine Sphäre jener Dinge gibt, die man nicht gibt, sondern sorgfältig innerhalb der Gruppe bewahrt. Diese »unveräußerlichen Besitztümer«, Gaben der Ahnen oder der Götter, ermöglichen ihrerseits erst die menschlichen Gabepraktiken. Godelier schlägt von hier aus seinerseits den Bogen in moderne Gesellschaften und identifiziert Phänomene, denen wir Unveräußerlichkeit zuschreiben und die das friedliche Zusammenleben sichern, etwa Menschenwürde und Demokratie. Ein zentrales Thema der Gabediskussion ist somit in der Abgrenzung zwischen Tausch und Gabe zu erkennen, in denen grundlegende, meistens als Gegensätze wahrgenommene sozial-anthropologische Beziehungstypen gesehen werden. Dabei geht es nicht Annette B. Weiner, Inalienable Possessions. The Paradox of Keeping-While-Giving, Berkeley/CA 1992. 3 Maurice Godelier, Das Rätsel der Gabe. Geld, Geschenke, heilige Objekte, München 1999. 2
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Einleitung
nur um Kontinuitäten und Diskontinuitäten zwischen vorstaatlichen und modernen Gesellschaften, sondern letztlich auch um die Vorrangigkeit oder Abkünftigkeit von Individuum und Kollektiv bei der sozialen Konstitution. In grundsätzlicher Weise haben daher die beiden französischen Philosophen Jacques Derrida 4 und Jean-Luc Marion 5 die Gabe auf Grundfragen des menschlichen Wirklichkeitsverhältnisses bezogen. Derridas einflussreichem Essay zufolge sind die Bedingungen der Möglichkeit der Gabe zugleich die Bedingungen ihrer Unmöglichkeit. Denn die Gabe wäre nur in einer totalen Einseitigkeit denkbar, so dass jede Vermischung mit dem Tausch ausgeschlossen ist. Sie dürfte weder aufgrund von etwas, das der Empfänger getan hat, noch in der Erwartung einer Gegengabe gegeben werden, und das hieße letztlich: Gebender, Empfangender und Gabe dürften jeweils nicht als solche erkennbar sein. Bernhard Waldenfels 6 greift Derridas Kritik an einem Verständnis der Gabe als einem Tauschphänomen auf, will diese aber nicht in einem strikten Gegensatz zum Tausch, sondern als ein Überschussphänomen verstehen, das sich gerade im Tausch artikuliert. Das Ereignis des Gebens weist über das, was gegeben wird, und die in ihm sich manifestierende Ordnung des Gebens hinaus. Marion hingegen wählt als Ausgangspunkt die »Gegebenheit« (donation) als Art und Weise, in der alle Phänomene erscheinen. Diese reine Gegebenheit ist jedoch nur zu erreichen über eine radikale phänomenologische Reduktion, in der Geber, Empfänger und Gabe eingeklammert werden. Im Unterschied zu Derrida sieht Marion die reine Gegebenheit nicht nur als möglich, sondern als Grundcharakteristikum der Phänomenalität von Wirklichkeit an und nimmt dies zum Ausgangspunkt für einflussreiche religionsphilosophische Überlegungen. Bei aller Gegensätzlichkeit stimmen Derrida und Marion darin überein, dass die Gabe im radikalen Gegensatz zum Tausch zu verstehen sei. Dem stellt Pierre Bourdieu 7 die These entgegen, GabeJacques Derrida, Falschgeld, München 1993 (Zeit geben; 1); ders.: Den Tod geben, in: Anselm Haverkamp (Hg.), Gewalt und Gerechtigkeit. Derrida – Benjamin, Frankfurt a. M. 1997, 331–445. 5 Jean-Luc Marion, Étant donné. Essai d’une phénoménologie de la donation, Paris, 2. Aufl. 1998 (Épiméthée). 6 Bernhard Waldenfels, Das Un-ding der Gabe. In: Ders., Hans-Dieter Gondek (Hg.), Einsätze des Denkens. Zur Philosophie von Jacques Derrida, Frankfurt a. M. 1997, 385–409. 7 Pierre Bourdieu, Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grund4
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verhältnisse verschleierten nur die Tatsache, dass moderne Gesellschaften durch und durch von interessegeleiteter Reziprozität geprägt sind. Die Gabe stellt ihm zufolge die Miss- oder Fehlwahrnehmung eines ökonomischen Tauschverhältnisses dar, das durch die »verzögerte Reziprozität« der Gabe ermöglicht werde. Damit kristallisiert sich die Frage nach Einseitigkeit oder Wechselseitigkeit, Altruismus oder Eigennutz der Gabe im Zusammenhang mit der grundsätzlichen Logik menschlicher Sozialität als eine Kernfrage heraus. Ein weiterer Schwerpunkt der Debatte betrifft die Rolle der Gabe in der modernen Gesellschaft. Entgegen der verbreiteten These, mit der Ausdifferenzierung der Gesellschaft habe die Gabe gegenüber den Teilsystemen von Markt und Staat erheblich an Relevanz verloren und existiere nur noch auf der Schwundstufe persönlicher Schenkpraxis, sieht der französische Soziologe Alain Caillé 8 in ihr vielmehr ein »drittes Paradigma« in den Sozialwissenschaften neben Holismus und Individualismus. Caillé und sein Kollege Jacques T. Godbout 9 verstehen Geben, Empfangen und Zurückgeben als die dreifache Gestalt einer grundlegenden sozialen Praxis, durch die zwischenmenschliche Bindung und damit Sozialität entsteht. Deshalb sei es fatal, dass diese Praxis von der modernen Ökonomie marginalisiert zu werden drohe. Entsprechend hat sich in Frankreich um Alain Caillé eine lose Gruppe von Wissenschaftlern zum kapitalismuskritischen »mouvement antiutilitariste dans les sciences sociales (M.A.U.S.S.)« zusammengefunden. 10 Jüngst wird die Gabethematik vor allem in einen Zusammenhang mit Anerkennungstheorien gebracht. Anknüpfend an Hegels frühe Philosophie hat insbesondere Axel Honneth die Theorie der Anerkennung in den Mittelpunkt einer sozialphilosophischen und -ethischen Diskussion gestellt, die normative Fragen der modernen Gesellschaft auf den Zusammenhang von Intersubjektivität und So-
lage der kabylischen Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1979; ders.: Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns, Frankfurt a. M. 2004. 8 Alain Caillé, Anthropologie der Gabe. Hgg. und übers. von Frank Adloff und Christian Papilloud, Frankfurt a. M. 2008 (Theorie und Gesellschaft; 65). 9 Jacques T. Godbout, L’esprit du don. En collaboration avec Alain Caillé, Paris 2000 (La Découverte. Sciences humaines et sociales; 86). 10 Vgl. Stephan Moebius, Die Gabe – ein neues Paradigma der Soziologie? Eine kritische Betrachtung der M.A.U.S.S.-Gruppe. In: Berliner Journal für Soziologie 3 (2006), 355–370.
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zialität bezieht. 11 Gabetheoretiker knüpfen an diese Diskussion an, um von den Untersuchungen zur Gabe in archaischen Gemeinschaften den Bogen zu modernen Gesellschaften zu schlagen. So geht Marcel Hénaffs »Der Preis der Wahrheit. Gabe, Geld und Philosophie« 12 insbesondere auf den gleichzeitigen Freiheits- und Verpflichtungscharakter der Gabe ein. Dessen scheinbare Paradoxalität löst sich, wenn man die Gabe als Medium wechselseitiger Anerkennung von Personen versteht. Insofern nicht eigentlich das gegebene Gut im Mittelpunkt der Gabe stehe, sondern die Begegnung zwischen Geber und Empfänger, kann Hénaff die Gabe neu sowohl vom ökonomischen Warentausch als auch von einseitigen, altruistisch motivierten Hilfeleistungen abgrenzen. Durch Gabeereignisse als Vorgänge der Anerkennung werden soziale Beziehungen eröffnet und fortgeführt. Paul Ricœur nimmt im Schlussteil seiner letzten Monographie »Wege der Anerkennung« 13 Hénaffs Überlegungen auf und stellt sie in ein korrektivisches Verhältnis zu Axel Honneths Konzept des »Kampfes um Anerkennung«. Ricœur zufolge repräsentiert die Gabe Erfahrungen gelingender, nicht-berechnender Gegenseitigkeit, die zum geduldigen Bestehen der unabschließbaren gesellschaftlichen Anerkennungskonflikte motivieren. An den skizzierten Überlegungen wird deutlich, dass Phänomene und Theorien der Gabe erhebliche sozialphilosophische Implikationen und theologische bzw. religionsphilosophische Anknüpfungspunkte besitzen. Letztere sind seit längerem vor allem im Zusammenhang mit historischen Forschungen zur Gabe präsent, 14 Vgl. Axel Honneth, Der Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt a. M. 1992. Auf den frühen Hegel hatte sich bereits Ludwig Siep bezogen, vgl. Ludwig Siep, Anerkennung als Prinzip der praktischen Philosophie. Untersuchungen zu Hegels Jenaer Philosophie des Geistes, Freiburg 1975. Die aktuelle, weitverzweigte sozialphilosophische Diskussion knüpft zum einen an Honneths interaktionstheoretischen Ansatz an, zum anderen an Charles Taylors identitätstheoretisches Anerkennungskonzept (vgl. Charles Taylor, Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung, Frankfurt a. M. 1997). 12 Marcel Hénaff, Der Preis der Wahrheit. Gabe, Geld und Philosophie, Frankfurt a. M. 2009. 13 Paul Ricœur, Wege der Anerkennung. Erkennen, Wiedererkennen, Anerkanntsein, Frankfurt a. M. 2006. 14 Vgl. den Forschungsüberblick bei Arnoud-Jan A. Bijsterveld, The Medieval Gift as Agent of Social Bonding and Political Power: A Comparative Approach. In: Esther Cohen / Mayke Brechtje de Jong (Hg.), Medieval Transformations: Texts, Power, and Gifts in Context, Leiden 2001 (Cultures, Beliefs and Traditions; 11), 123–156. 11
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die die Abhängigkeit der jeweiligen kulturellen Gabepraktiken und Gabeverständnisse von den religiösen und theologischen Rahmenvorstellungen aufarbeiten – von der Gratuität der Gnade bis zur Verdienstlichkeit barmherziger Freigebigkeit. Für die Theologie gilt ihrerseits Entsprechendes: Auch hier finden sich in den letzten Jahren verstärkte Forschungsbemühungen, wobei gabetheologische Ansätze häufig einen außertheologischen Entwurf aufnehmen und ihn zur Grundlage für die Weiterführung theologischer Denkformen bzw. Problemstellungen verwenden. Je nach Bezugstheorie lässt sich zum einen eher eine Orientierung an phänomenologischen Ansätzen und eine Auseinandersetzung mit der Einseitigkeit einer »reinen Gabe« ausmachen oder, eher in jüngerer Zeit, eine Bezugnahme auf sozialwissenschaftliche Forschungen mitsamt einer Bereitschaft, Wechselseitigkeitsverhältnisse theologisch aufzuwerten. So wurden in einer ersten Phase besonders häufig Überlegungen von Derrida oder Marion aufgegriffen, so z. B. bei Josef Wohlmuth oder Robyn Horner, und nicht selten eine christliche »reine Gabe« scharf von allen Gestalten ökonomisch orientierten Tauschens abgegrenzt. 15 Der anglikanische Theologe John Milbank hingegen plädiert gerade gegen Marion und Derrida für eine Gabekonzeption, die auch im theologischen Bereich von grundlegender Wechselseitigkeit geprägt bleibt. Er greift zur Abgrenzung dieser Gabe von anderen Phänomenen Bourdieus Kriterium der »verspäteten Reziprozität« auf, deutet es aber grundlegend positiv um. 16 Oswald Bayer 17 wiederum reflektiert auf den Menschen als primordialen Empfänger, so dass auch die Ethik im Dativ beginne: mit dem, was uns gegeben ist. Die »kategoriale Gabe« Gottes ist es, die Josef Wohlmuth, Die theologische Bedeutung des neueren Gabendiskurses bei Emmanuel Lévinas, Jacques Derrida und Jean-Luc Marion. In: Michael Rosenberger, Ferdinand Reisinger, Ansgar Kreutzer (Hg.), Geschenkt – umsonst gegeben? Gabe und Tausch in Ethik, Gesellschaft und Religion, Frankfurt a. M. u. a. 2006 (Linzer philosophisch-theologische Beiträge; Bd. 14), 91–120; Robyn Horner, Rethinking God as Gift. Marion, Derrida, and the Limits of Phenomenology, New York 2001 (Perspectives in continental philosophy; 19). 16 John Milbank, Can a Gift be Given? Prolegomena to a Future Trinitarian Metaphysic. In: Modern Theology 11 (1995), 119–161. 17 Oswald Bayer, Ethik der Gabe. In: Veronika Hoffmann (Hg.), Die Gabe – ein »Urwort« der Theologie?, Frankfurt a. M. 2009, 99–123. Von Oswald Bayer stammt auch der erste und bisher einzige Eintrag »Gabe« in einem theologischen Standardlexikon: Art. »Gabe. II. Systematisch-theologisch.« In: Religion in Geschichte und Gegenwart 4. Aufl., Bd. 3, 2000, 445 f. 15
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dann eine Gegengabe im Lobopfer und eine Weitergabe an die Menschen ermöglicht und fordert. Im skandinavischen Raum haben vor allem Risto Saarinen 18 und Bo K. Holm 19 an einer lutherischen Theologie der Gabe gearbeitet, die Gottes Zuwendung in der Rechtfertigung nicht nur als Gottes Geben und des Menschen Empfangen denkt, sondern auch als Wiederherstellung einer Wechselseitigkeit von Gott und Mensch, die den Menschen seinerseits gebe-fähig macht. Die theologische und ethische Gabeforschung bleibt freilich deutlich in Bewegung. Auf Seiten der theologischen Ethik haben dazu v. a. die Studie von Martin Lintner beigetragen 20 sowie u. a. Überlegungen von Christof Mandry im Anschluss an Paul Ricœur 21, theologisch z. B. Arbeiten von Veronika Hoffmann 22 und Christine Büchner 23. Mittlerweile scheint auch die klare Orientierung an entweder Einseitigkeit oder Wechselseitigkeit einer komplexeren Verhältnisbestimmung zu weichen. An der Aufgabe, theologische und theologisch-ethische Fragestellungen und Theorieangebote zur Gabethematik stärker zu exRisto Saarinen, God and the Gift. An Ecumenical Theology of Giving, Collegeville/ Minn. 2005. 19 Bo Kristian Holm, Gabe und Geben bei Luther. Das Verhältnis zwischen Reziprozität und reformatorischer Rechtfertigungslehre, Berlin 2006 (Theologische Bibliothek Töpelmann; 134). 20 Martin M. Lintner, Eine Ethik des Schenkens. Von einer anthropologischen zu einer theologisch-ethischen Deutung der Gabe, Wien u. a. 2006 (Studien der Moraltheologie; 35). Vgl. auch jüngst die medizinethische und theologisch-ethische Diskussion in: Giovanni Maio (Hg.), Ethik der Gabe. Humane Medizin zwischen Leistungserbringung und Sorge um den Anderen, Freiburg i. Br. 2014. 21 Christof Mandry, Logik der Ethik – Logik der Gabe. Theologisch-ethische Überlegungen. In: Hans Joas / Michael Gabel (Hg.), Von der Ursprünglichkeit der Gabe. Jean-Luc Marions Phänomenologie in der Diskussion, Freiburg im Breisgau 2007 (Scientia et Religio), 234–251; sowie ders.: Das Denken der »Gabe« in der Ethik. Themen und Zugänge. In: Theologie der Gegenwart 55 (2012) 1, 12–28. 22 Veronika Hoffmann, Gabe und Opfer: Ambivalenzen der Wechselseitigkeit, in: Susan Gottlöber, René Kaufmann (Hg.), Gabe – Schuld – Vergebung. FS Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz, Dresden 2011 (Religionsphilosophie. Diskurse und Orientierungen; 4), 131–165; dies.: Rechtfertigung als Gabe der Anerkennung. In: Ökumenische Rundschau 60 (2011), 160–177; dies.: Skizzen zu einer Theologie der Gabe. Rechtfertigung – Opfer – Eucharistie – Gottes- und Nächstenliebe, Freiburg i. Br. 2013. 23 Christine Büchner, Wie kann Gott in der Welt wirken? Überlegungen zu einer theologischen Hermeneutik des Sich-Gebens, Freiburg im Breisgau 2010. Vgl. auch Bo Kristian Holm, Peter Widmann (Hg.), Word – Gift – Being. Justification – Economy – Ontology, Tübingen 2009 (Religion in Philosophy and Theology; 37). 18
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plizieren und in den philosophischen wie kultur- und sozialwissenschaftlichen Gabediskurs einzubringen, arbeitete von 2010 bis 2013 das an der Universität Erfurt angesiedelte Forschernetzwerk »Gabe – Beiträge der Theologie zu einem interdisziplinären Forschungsfeld« 24. Das vorliegende Buch basiert auf dessen Forschungs- und Vernetzungsaktivitäten und stellt diese in einen breiteren Rahmen, indem es eine größere Zahl von Forscherinnen und Forschern aus Ethik, Theologie und sozialtheoretischer Gabetheorie zusammenführt, um so das interdisziplinäre Gespräch zur »Gabe« substanziell voranzutreiben. Denn die gesteigerte Aufmerksamkeit auf das Thema der Gabe hat die Zahl der Forschungen und Veröffentlichungen in den einzelnen Disziplinen sprunghaft ansteigen lassen, während das disziplinenübergreifende Gespräch nicht in gleicher Weise geführt wurde. Das vorliegende Buch hat es sich daher zur Aufgabe gemacht, die beteiligten Disziplinen und theoretischen Zugänge in eine intensivere interdisziplinäre Bearbeitung hineinzuführen. Dabei soll das Gespräch zwischen den Disziplinen, das bisher entlang bestimmter Bruchlinien in Gang gekommen ist, ausgeweitet werden, ohne jedoch wiederum auf zu weitläufige und kaum noch diskursiv handhabbare Themenfelder zu geraten. Es wurde daher zum einen eine thematische Konzentration auf bestimmte, in mehreren Wissenschaften verhandelte Themen vorgenommen, zum anderen wurde der Schwerpunkt auf das Gespräch mit der Theologie gelegt. Als die vier Themenfelder des Buches wurden Grundfragen der Gabediskussion gewählt, die für die Theologie einschlägig sind, ohne jedoch bereits explizit oder gar vorrangig theologische Fragestellungen zu sein. Die Beiträge des Buches erörtern erstens Gabe und Anerkennung, zweitens Ökonomie und Anökonomie der Gabe, drittens Großzügigkeit und schließlich viertens die Verschränkungen von Macht, Vergebung und Versöhnung. Durch die unterschiedlichen Beiträge hindurch kommt in diesen Themenfeldern – und über sie hinaus – eine multiperspektivische Diskussion zu Phänomenen und Fragestellungen der Gabe zustande.
Vgl. Hoffmann (Hg.), Die Gabe, sowie die beiden aus der Arbeit des Netzwerkes hervorgegangenen Themenhefte: »Gabe und Rechtfertigung«: Ökumenische Rundschau, Heft 2/2011; »Gabe und Ethik«: Theologie der Gegenwart, Heft 1/2012.
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2.
Die Beiträge des Bandes
In den Band führt Risto Saarinen mit einer linguistischen Perspektive auf die Gabe ein – ein Aspekt, der bisher in der Debatte unterbelichtet geblieben war. Unter Rückgriff auf die kognitive Linguistik untersucht Saarinen exemplarisch zwei Fälle, in denen von den drei Positionen »Agens« – »Thema« – »Rezipient« zwei miteinander identifiziert werden. Zum einen kann dies zwischen Agens und Thema geschehen, was zu der im Gabediskurs häufig verhandelten Figur des »Sich-Gebens« führt. Saarinen plädiert hier dafür, deutlicher zwischen verschiedenen Formen z. B. des persönlichen und unpersönlichen Sich-Gebens zu differenzieren. Zum anderen fragt Saarinen, ob sich an der Identifizierung von Thema und Rezipient (»Sich-Empfangen«) eine semantische Theorie der Anerkennung festmachen ließe. Seine Vorschlag lautet, Anerkennung als Gabe der Identität zu verstehen, d. h. Anerkanntwerden heißt: sich aus der Anerkennung eines anderen empfangen. Auf diese Weise kann eine Semantik der Gabe einen Beitrag zur Klärung des Verhältnisses von Gabe- und Anerkennungstheorie leisten. An diese Fragestellung knüpft das erste Themenfeld Gabe und Anerkennung: Konvergenz und Konkurrenz der Diskurse an. Verbindungslinien zwischen Anerkennungs- und Gabediskurs werden bislang durchaus gezogen (Marcel Hénaff, Paul Ricœur), jedoch nicht ausführlich erörtert. So scheint zwar einsichtig, dass kollektiv-öffentliche wie private Gabevorgänge als Anerkennungsphänomene zu verstehen sind, nicht jedoch, welcher Stellenwert ihnen in modernen oder auch in vormodernen Gesellschaften wirklich zukommt. Zeigen Anerkennungstheorien eventuell auch soziale Aporien auf, die im Gabedenken weitergeführt werden können? Die drei Beiträge von Burkhard Liebsch, Knut Wenzel und Jürgen Werbick in diesem Abschnitt diskutieren, in welcher Weise sich beide Diskurse gewinnbringend aufeinander beziehen lassen. Interessanterweise schlagen dabei schließlich alle drei auf je ihre Weise vor, die Diskurse miteinander zu verschränken. Gabe und Anerkennung werden nicht als Konkurrenz, sondern letztlich in Konvergenz und gegenseitiger Kommentierung wahrgenommen, jeweils in spezifischer Funktion, ein gelingendes menschliches Zusammenleben zu gewährleisten. Burkhard Liebsch geht in seinem Beitrag »Gabe gegen Anerkennung – Anerkennung als Gabe?« die Zusammenhänge zwischen Gabe- und Anerkennungsdiskursen dezidiert sozialphilosophisch an, Die Gabe
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indem er sie als Diskurse über Phänomene im Zwischenmenschlichen ernst nimmt. Er versucht, der Logik der Verschränkung von Gabe und Anerkennung durch ein »chiasmatisches Verfahren« auf die Spur zu kommen. In zwei Denkrunden »Von der Gabe zur Anerkennung« und »Von der Anerkennung zur Gabe« zeigt er nicht nur auf, dass beide »Momente und Spuren des anderen« in sich enthalten. Entscheidend ist, dass er – in kritischer Absetzung von Honnethschen Motiven – beiden eine erfahrungsmäßige, geradezu biographische Verschränkung zuschreibt, in der die Gabe als primäre, bedingungslose und kampflose Anerkennung (etwa der Liebe der Eltern zu ihrem kleinen Kind) die Funktion bekommt, den (späteren) Kampf um Anerkennung kritisch zu beleuchten und in seiner Unerbittlichkeit zu relativieren. Die erste Gabe der Anerkennung enthält somit ein Potential der Bewältigung des endlosen Kampfes um Anerkennung, indem sie an das ursprüngliche bedingungslose Anerkanntsein erinnert. Es kann keine Frage sein, dass dies unmittelbar an die Theologie heranführt. Liebsch geht es freilich sehr konkret um die Klärung praktischer Fragen des menschlichen Zusammenlebens, und so schließt er mit zwei Fragen für die weitere sozialphilosophische Forschung: Wie kann die primäre Anerkennungsgabe so angenommen werden, dass sie den Kampf um Anerkennung von Anfang an mäßigt? Und: Wie können wir den Kampf um Anerkennung loslassen, ohne »geistigen Selbstmord« zu begehen, ohne uns aufzugeben? Diese Fragen, so schließt Liebsch seine Überlegungen ab, zeigen die »Grenzen eines aktivistischen menschlichen Selbstverständnisses«. Jürgen Werbick knüpft mit seinem Beitrag »Anerkennung: die Gabe der Freiheit« theologisch an diese Fragen an und beschäftigt sich mit der Freiheit im Gnadengeschehen. Damit nimmt er den innerkatholischen Diskurs über die Freiheit des Menschen im Gnadengeschehen auf und fragt, ob nicht auch in einer gaben-theoretischen Gnadenlehre letztlich, wegen der aus Wechselseitigkeit entstehenden Verbindlichkeit, der Freiheit zu wenig Raum bleibt. Zur »Entdramatisierung« dieser Frage setzt Werbick nun bei der Analyse der Struktur des Anerkennungsgeschehens als eines verwandten Phänomens an. Genauer als in der Gabe-Terminologie lässt sich im Sprachspiel der Anerkennung sagen: Der freie Wille der Selbstbehauptung ist immer dabei – darin liegt die Berechtigung der Theorie der Freiheit im Gnadengeschehen – aber er geht auf – wird »aufgehoben« (Hegel) – in einen Zustand jenseits des Entweder-Oder. Diese Dynamik ist 18
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Einleitung
mit dem Bild einer Wahl zwischen mehreren Alternativen nicht zu erfassen. Knut Wenzel beschäftigt sich in seinem Beitrag »Strukturen der Gabe – Manifestationen der Anerkennung« mit dem Zusammenhang von Moderne und Religion, den er schließlich mit Hilfe des Verhältnisses von Anerkennung und Gabegeschehen zu interpretieren sucht. Während er die Moderne charakterisiert sieht durch die »epochale Konzeptualisierung des Subjektereignisses«, kommt die Religion für ihre Voraussetzung zu stehen, nämlich für die »im Wort der Gnade von allen Verpflichtungen entbindende Vor-Bedingung« jenseits aller Logik des Zwecks. So bedingen sich Moderne und Religion gegenseitig – wobei interkonfessionell darüber zu streiten sein dürfte, ob die Rolle der Kirche adäquat beschrieben wird, wenn sie als »realgeschichtlich-universaler Distributor … göttlicher Heilsgnade« bezeichnet wird. Im Verhältnis von Anerkennung als Geschehen, in dem anderen Subjektivität eingeräumt wird, und Gabegeschehen als eben dem mehr oder weniger impliziten Inanspruchnehmen der Voraussetzung von bedingungsloser, unverfügbarer Gratuität spiegelt sich die gegenseitige Bedingung von Moderne und Religion. Dabei gelte es, die umfassende Gratuität der Gabe anerkennungstheoretisch eingefasst zu sehen, so dass das Subjekt in bedingungsloser Gratuität gerade nicht entmündigt, sondern bestärkt gedacht werden kann. In diesem Sinne sind Moderne und Religion aufeinander angewiesen. Das zweite Themenfeld Hingabe statt Tausch? Ökonomie und Anökonomie der Gabe widmet sich einem zentralen Problem der Gabetheorie. Die Diskussion um die ökonomische oder anökonomische Struktur der Gabe gehört zum Kernbestand der Gabe-Forschung. Schon Mauss’ Klassiker »Die Gabe« hat das Verhältnis von Gabe und Ökonomie thematisiert, und spätestens nach Derridas Forderung, jeden Rest von Ökonomie – von Tausch, von Rückgabe, ja von intentionalem Geben überhaupt – aus der Gabe zu löschen, muss sich jeder gabetheoretische Entwurf diesbezüglich positionieren. Die Fragen kreisen letztlich um den sozial-ontologischen Vorrang von Wechselseitigkeit oder Einseitigkeit und sind dementsprechend ebenso grundsätzlich wie umstritten: Ist Gabe eine Gestalt von Ökonomie oder ihr Gegenentwurf? Ist sie kapitalismuskritisch als Ansatz zu einer veränderten Ökonomie in Stellung zu bringen oder gehört sie in einer ausdifferenzierten Gesellschaft ausschließlich in den Bereich des Zwischenmenschlich-Privaten? Entwerten Dankbarkeit und GeDie Gabe
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gengabe die erste Gabe, oder lassen sie sie zu ihrem Ziel – der sozialen Bindung – kommen? Kurt Wolf plädiert mit Emmanuel Levinas für ein anökonomisches Gabeverständnis. Zwar hat Levinas begrifflich kaum von der Gabe gesprochen, er kann Wolf zufolge aber der Sache nach als derjenige gelten, der den Gabediskurs von der ethnologisch-soziologischen auf eine grundlegendere philosophische Ebene transformiert hat. Wolf zeigt, wie sich bei Levinas der Dativ des Gegebenseins (v. a. der Freiheit) und der Akkusativ der Aufforderung (der Verpflichtung gegenüber dem anderen, bis hin zur Stellvertretung) überkreuzen. Dabei wird das ursprüngliche Verhältnis von Subjekt und Anderem erweitert durch einen Drittbezug des Wir wie auf einen göttlichen Dritten, dessen anökonomische schöpferische Güte zur Güte befreit und herausfordert. Die Anökonomie der Gabe äußert sich so insbesondere in der Fruchtbarkeit, die gibt, ohne zurückzuerwarten. Wolf schließt mit einem vergleichenden Blick auf die Akzentuierung der Transzendenz der Gabe bei Levinas und die Betonung der Immanenz bei Michel Henry. Bo Kristian Holm hingegen plädiert dezidiert für eine »positive Ökonomie« der Gabe im Blick auf das Verhältnis von Gott und Mensch. Insbesondere gegen Berndt Hamms Beschreibung der Reformation als eines Denkens der »puren Gabe« fragt Holm zurück, ob es sich dabei nicht um einen Begriff handele, der mehr verschleiert als erklärt. Die von Hamm und anderen vertretene These, dass die Passivität der Rechtfertigung Wechselseitigkeit ausschließe, übersieht ihm zufolge die Einheit von Gott und Mensch, die bei Luther christologisch, bei Melanchthon trinitarisch formuliert werde. Bei Luther beobachtet Holm die Doppelstrategie, einerseits über die Ablehnung des juristischen Gerechtigkeitsbegriffs den Menschen als Empfänger zu betonen. Andererseits schreibt der Glaube als »creatrix divinitatis« den Menschen in eine »geschenkte Wechselseitigkeit« zwischen Gott und Mensch ein. Bei Melanchthon lässt sich zwischen dem externen Wort der gnädigen Annahme des Menschen durch Gott und dem internen Wirken des Heiligen Geistes unterscheiden. Gott gibt sich selbst und durch den Geist wird der Mensch zur Zustimmung befreit. Bei Luther wie bei Melanchthon sieht Holm folglich »Mehrfachbesetzungen« der Positionen von Geber und Empfänger durch Gott und den Menschen, die markieren, dass Gottes Geben konstitutiv für die Rechtfertigung ist, aber deswegen eine Wechselseitigkeit nicht ausschließen. 20
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Einleitung
Das dritte Themenfeld knüpft in differenzierender Weise an Aspekte des vorausgehenden an und untersucht unter der Überschrift Geben aus vollen Händen? Großzügigkeit im Kontext von Religion das in der Religionsgeschichte vielfach anzutreffende Motiv des überbordend reichhaltigen göttlichen Gebens. Die religions- und kulturwissenschaftlichen wie die theologischen Beiträge gehen einem ganzen Bündel von Fragen nach. Worin besteht die großzügige Gabe Gottes oder der Götter? In welcher Weise fungiert sie als Ideal oder als Motiv für menschliches Geben bzw. für menschliche Sozialbeziehungen und wie wandelt sich die Gestalt der Überfülle dabei gegebenenfalls? Lässt sich hier wiederum die Problematik von Einseitigkeit und Wechselseitigkeit wiederfinden, eventuell dynamisiert durch das Übermaß göttlichen Gebens? Schließlich sind auch ideologiekritische Einsprüche unumgänglich – etwa ob eine göttliche Gabe ausschließlich gut ist oder ob auch hier ein »vergiftetes Geben« zu befürchten ist und ob das religiöse Idealbild der grenzenlosen Freigebigkeit nicht auch dazu dienen kann, kalkulierend-ökonomische Sozialbeziehungen zu verdecken und zu legitimieren. Hans-Martin Gutmann stellt in seinem eröffnenden Beitrag zunächst drei Szenen vor Augen: In der neutestamentlichen Speisung der Fünftausend wird die Opposition von Geben und Kaufen markiert; der Film »Babettes Fest« zeigt den Überschwang eines Festes, bei dem nicht gespart wird (wobei, wie Gutmann anmerkt, ein solches Geben im Übermaß nicht ohne Ambivalenzen ist); und wiederum auf einem Fest, diesmal in Papua-Neuguinea, werden Nahrungsmittel verteilt – und zwar ausdrücklich als Gaben, auf die keine Gegengabe erwartet wird. Für Gutmann sind solche »reinen Gaben«, die nicht auf Reziprozität abzielen, unverzichtbar für menschliche Sozialität. Zugleich gibt es die reine Gabe nicht als isoliertes Phänomen, sondern, wie insbesondere Bernhard Waldenfels herausgearbeitet hat, nur im Kontext von Tauschbeziehungen. In einem zweiten Schritt beobachtet Gutmann an vier exemplarischen Textstellen, wie in der Bibel und der Theologiegeschichte mit der Frage nach Geben und Zurückgeben, nach Großzügigkeit und Reziprozität umgegangen wird. So wird in der Bergpredigt die Reziprozitätsregel zugleich vorausgesetzt und durchbrochen: Der von der Liebe Gottes geschaffene Beziehungsraum macht eine solche Durchbrechung möglich. Eine zweite Form einer solchen Durchbrechung – diesmal des Gewaltkreislaufs – zeigt sich am Kreuz. Das verweist wiederum auf die Figur des Opfers, das bereits alttestamentlich in seiner zentralen Bedeutung nicht Die Gabe
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auf Gewalt zielt, sondern auf die Gegenwart Gottes. Und schließlich stellen Luthers Bilder von der Ehe und vom wunderbaren Tausch die Großzügigkeit Gottes dar. Hier findet sich, so die abschließende These Gutmanns, auch eine gegenüber dem Kapitalismus alternative Möglichkeit, Individualität und Sozialität des Menschen zu verbinden, die nicht vom ökonomischen Gabentausch, sondern von der Bezogenheit – auf Gott wie den anderen – geprägt ist. Daniela Falcioni beobachtet in ihrem Beitrag konkrete islamische Gabepraktiken, nämlich die sadaqa, eine großzügige, ohne Erwartung einer Gegengabe gegebene Gabe an Bedürftige. In ihr wird mit der horizontalen eine vertikale Gabebewegung verbunden, was sich besonders deutlich in der Gestalt der Gastfreundschaft zeigt: Sie wird als sadaqa bedingungslos gewährt, weil der Gast als Gabe Gottes verstanden wird. Zugleich erhält Gott die Ehre, die ihm gebührt, indem man den Gast ehrt. Die Praktiken der sadaqa sind dabei im Einzelnen vielfältig, aber häufig an religiöse Kontexte angebunden. Dabei wurde auch die inzwischen im Gabe-Diskurs vielfach thematisierte Ambivalenz von Almosen wahrgenommen, die die Würde des Empfängers beschädigen können. Bestimmte Formen der sadaqa waren deshalb darauf angelegt, den Empfängern gerade zu einem Gewinn an Selbstachtung zu verhelfen, z. B. in der Stiftung von Gemeingütern wie Moscheen oder Schulen. In der Regel sind Gaben im Sinne der sadaqa allerdings spontane, informelle Gesten des Alltags. Daneben gibt es jedoch eine weitere islamische Form der Gabe, die stärker institutionell orientiert ist und die die Förderung der Gemeinschaft im Blick hat: den waqf. Hier handelt es sich um eine Stiftung für einen wohltätigen Zweck, sodass die entsprechenden Güter daraufhin gemäß einer Hadith weder verkauft noch verschenkt oder vererbt werden dürfen. Der waqf konnte einerseits der Allgemeinheit zu Gute kommen und stellte damit ein Mittel vor allem der politischen und sozialen Eliten dar, ihr soziales Prestige zu erhöhen. Daneben gab es den Familien-waqf, dessen Begünstigte Verwandte und Nachkommen waren. Er wurde zum Teil auch verwendet, um islamisches Erbrecht zu umgehen (beispielsweise im Blick auf Frauen oder Juden). Solche Stiftungen, so das abschließende Urteil von Falcioni, trugen einerseits zur extremen sozialen Ungleichheit im Osmanischen Reich bei. Andererseits bildeten sie jahrhundertelang den wichtigsten Pfeiler des Sozialsystems: die sadaqa, indem sie die solidarische Grundlage der Gesellschaft bildete, die waqf-Stiftungen, indem sie die wesentliche Infrastruktur schufen. 22
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Einleitung
Christine Büchner entwickelt in ihrem theologischen Beitrag »Zwischen Gabe und Fülle« eine kleine Dogmatik der Überfülle. Unter Bezug auf insgesamt vier Beispiel-Autoren – David Steindl-Rast, Jean-Luc Marion, Meister Eckhart und Simone Weil – öffnet sie uns die Augen dafür, dass inmitten von Begrenztheit und Gebrochenheit des Lebens das Phänomen von überraschender, unverfügbarer Fülle von Lebensmöglichkeiten erfahren werden kann, die häufig in einer nicht recht registrierten Selbstverständlichkeit untergeht. In theologischer Sicht wird in erhöhter Aufmerksamkeit dafür auch eine Gegendynamik empfangen gegen die vordergründig als bestimmend erlebte Struktur des Mangels in der Welt, in der um Ressourcen gekämpft, konkurriert, berechnet und verletzt wird. So wie die Dynamik der göttlichen Lebensfülle nur als Gabe und nicht als Folge menschlicher Berechnung Wirklichkeit werden kann, so sind auch Erlösung und Erfüllung unverfügbar, überraschend, unerwartet und nicht-gemacht. Trotzdem, so wäre vielleicht zu ergänzen, bleibt eine Aktivität im Empfangen dieser Gabe, wenn die Menschen in ihrem Leben auf sie setzen und ihr gar den Boden zu bereiten suchen, indem sie Hoffnung in sie setzen, ohne damit den Charakter der Asymmetrie des Empfangens der Gabe zu nivellieren. Und so endet der Beitrag mit einer »Spekulation« über das Geschehen der Gabe der Fülle Gottes, das nicht übergriffig auf den Menschen kommt, sondern eine partizipative Gegenseitigkeit ermöglicht, in der Gnade und Werk in Gottes Fülle aufgehoben sind. Der folgende religionswissenschaftliche Beitrag von Christoph Auffarth versteht sich auch als eine kritische Anfrage an bestimmte Tendenzen im christlich-theologischen Gabediskurs. So weist er darauf hin, dass zum einen bestimmte theoretische Hintergrundannahmen in Mauss’ Klassiker »Die Gabe« von Seiten der Religionswissenschaft in Frage gestellt werden (so im Blick auf den mit dem »Geist der Gabe« verbundenen Animismus) und dass zum anderen Gabepraktiken archaischer Gesellschaften nicht einfach in die Moderne übertragbar sind. Die archaischen Praktiken liest Auffarth sodann als geprägt durch eine verpflichtende Gegenseitigkeit in asymmetrischen sozialen Beziehungen. Nicht der ökonomische Wert der Gabe, sondern die soziale Stellung der Beteiligten ist entscheidend – der sozial Höhergestellte antwortet mit einer größeren Gegengabe. Wichtig ist zudem, dass im Sinn einer »generalisierten Reziprozität« die Gabe nicht sofort beantwortet wird. Diese Figur wird auch auf das Verhältnis von Göttern und Menschen angewandt, weshalb entgegen der anDie Gabe
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tiken christlichen Polemik gegen den »do ut des«-Charakter heidnischer Opfer das Opfer nicht als vom Menschen ausgehender Manipulationsversuch Gottes, sondern als Glied in einer bereits bestehenden Kette von Gaben und Gegengaben zu verstehen ist. Am Beispiel des Mythos der Pandora verdeutlicht Auffarth sodann, dass diese Lesart der Gabe auch zu ganz anderen Vorstellungen vom Geben der Götter führen kann, als sie im Christentum entwickelt wurden. Er stellt sie unter die Überschrift: »Nicht alles, was die Götter schenken, ist gut«. Auch im Pandoramythos hat die Gabe mit sozialen Strukturen zu tun, denn die Götter markieren damit ihre Überlegenheit über die Menschen. Das »Geschenk« der Pandora ist eine negative Gabe in Reaktion auf den Betrug des Prometheus an den Göttern. Der Mythos formuliert damit sowohl die Differenz zwischen Göttern und Menschen, die die Menschen anerkennen müssen, als auch die Ambivalenz einer (allzu) großzügigen Gabe: Wenn die Götter (scheinbar) im Überfluss geben, ist Vorsicht geboten! Mit der Ambivalenz des Gebens befasst sich ebenfalls Veronika Hoffmann, die mit ideologiekritischer Stoßrichtung die theologischen Verwendungen der Redeweise von den »Gaben Gottes« und die damit verbundene Immunisierungsgefahr untersucht. Wenn eine Gabe nicht notwendigerweise immer gut ist, weil die Intentionen des Gebers, die Umstände der Gabe und der Empfang beim Adressaten »stimmen« müssen, stellt sich die Frage, ob auch Gottes Geben erst dann gut ist, wenn diese Kriterien erfüllt sind – oder stellt hier bereits der Geber die Güte der Gabe sicher? Auf der Grundlage von Marcel Hénaffs Gabetheorie analysiert Hoffmann unterschiedlich gelagerte theologische Verwendungsweisen des Ausdrucks »Gabe Gottes« und arbeitet den interpretierenden Charakter dieses Theologoumenons heraus, dessen ambivalenzvermindernde Wirkung kritisch zu kontrollieren wäre. Joachim Negel beschließt den Themenbereich mit systematischtheologischen Überlegungen zur Thematik der Überfülle. Seine Ausgangsvermutung lautet, dass Geben und Empfangen auf einen umgreifenden Horizont einer Überfülle nicht nur abzielen, sondern von ihm her auch ermöglicht werden. Dann wäre Überfülle nicht als ein Seitenthema christlicher Gottesrede zu verstehen, sondern rückte ins Zentrum. Das lässt sich Negel zufolge bereits neutestamentlich belegen, beispielsweise in der johanneischen oder deuteropaulinischen Rede vom »Pleroma«, der göttlichen Überfülle, die sich in Christus zeigt. Von hier aus lässt sich in einem zweiten Schritt die Figur der 24
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Einleitung
Überfülle in den trinitätstheologischen Kontext weiterverfolgen: als verschwenderische innergöttliche Bewegung des Gebens und Empfangens, in der – ebenso wie im zwischenmenschlichen Bereich – wachsende Intimität und wachsende Andersheit korrelieren. Die Figur der innergöttlichen Kenose in der »Zeugung« des Sohnes durch den Vater schafft, wie insbesondere Hans Urs von Balthasar und in seiner Spur Jean-Luc Marion gedacht haben, den »Raum«, in dem sich Schöpfung und Heilsgeschichte ereignen können. Daraus folgend lässt sich drittens die Struktur dieser Überfülle in einer Grundspannung der Reich-Gottes-Botschaft Jesu wiederentdecken, nämlich derjenigen zwischen der Zusage bedingungsloser Vergebung auf der einen und den Forderungen der Bergpredigt auf der anderen Seite. Denn in beiden Fällen geht es um die Aufhebung der Äquivalenzlogik und um ein Leben aus der Fülle statt aus einer Mangelobsession. Wie das Reich Gottes selbst, so hat auch diese Überfülle, viertens, letztlich eine eschatologische Signatur. Negel beschließt seine Überlegungen mit dem Hinweis auf die Grundvollzüge der Kirche – Martyria, Diakonia, Liturgia – als genuine »Übungsfelder der Kultur der Überfülle«, denn Gottes Gabe werde nur dort wirklich empfangen, wo sie weitergegeben wird. Der vierte Themenbereich Ver-geben? Konflikt, Konfliktlösung und Machtambivalenzen in der Perspektive der Gabe greift die Beobachtung auf, dass sich in einer Reihe von Sprachen die Verbindung von Gabe und Vergebung (ver-geben, par-donner, for-give etc.) bis in die Begrifflichkeit eingeschrieben hat. In welchem Sinn wird jedoch hier »gegeben«? Wäre etwa vom gabetheoretischen Sonderfall eines »negativen Gebens« zu sprechen, das Schuld »wegnimmt«, ohne doch ein »Nehmen« im üblichen Sinn zu sein? Vor allem stellt sich hier noch einmal spezifisch die theologische Frage nach dem Zusammenhang von Gottes Vergebung und zwischenmenschlichem Vergeben. Es zeigt sich, dass auch für diese Frage eine Logik der Verschränkung der Gabetypen zu hilfreichen Konzeptionen führen könnte. Die Verbindung von Gabe und Versöhnung scheint zunächst unmittelbar einleuchtend. So ist die Praxis von Versöhnungsgeschenken, die gütlicher Konfliktlösung dienen sollen, quer durch Zeiten und Kulturen breit belegt. Zugleich tritt hier deutlich die Machtaffinität der Gabe ans Licht. Denn die Gabe kann z. B. dem Ausgleich von Über- und Unterlegenheit zwischen den an der Gabepraktik Beteiligten dienen, aber auch der Stabilisierung dieser Asymmetrie. Insgesamt handelt es sich nicht selten um hoch gefährliche und deshalb Die Gabe
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stark ritualisierte Vorgänge, die zugleich von Ambivalenz oder der Verdeckung tatsächlicher Machtstrukturen gekennzeichnet sein können. Das lässt sich auch im Blick auf Versöhnungsprozesse zwischen Völkern beobachten, z. B. im Kontext von Reparationen und Wiedergutmachtung(szahlungen). Seine einführenden Überlegungen zu den Phänomenen Verzeihen und Vergeben gründet Markus Enders auf eine formale Analyse von Gebeverhältnissen zwischen Personen. Solche Gebeverhältnisse umfassen eine vierstellige Relation zwischen einem Geber, einem Gegebenen, einem Empfänger und dem Gebevollzug; als personale Gebeverhältnisse schließen sie darüber hinaus immer die Selbstmitteilung des Gebenden ein, was sie als fundamentale Interaktionsbeziehungen kennzeichnet. Der Geber erscheint dem Empfänger nicht nur in der Gabe, sondern teilt sich ihm auch mit. Enders’ Analyse zufolge sind neben der Selbstmitteilung auch die Freiwilligkeit des Gebens und Empfanges sowie die Ausrichtung am Wohlergehen des Empfängers konstitutiv. Diese ideale, grundlegend reziproke Form des Gabeverhältnisses verteidigt Enders gegen Derridas Kritik, insbesondere gegen seine paradoxale Forderung, die Gabe müsse nicht-intentional und »unsichtbar«, also nicht phänomenal gegeben sein. Enders argumentiert anschließend für unterschiedliche Reinheitsgrade des Gebens und entwickelt eine Werthierarchie von Gaben, die sich am »Seinswert« des Gegebenen orientiert. Diese objektive Werthierarchie, an deren Spitze die Liebe steht, schlägt den Bogen zu den Interaktionen von Verzeihen und Vergeben. Während es sich Enders zufolge beim Verzeihen um subjektive Schuldverhältnisse handelt, bezieht sich das Vergeben darüber hinaus auch auf die objektive Seite von Schuld, nämlich den Verstoß gegen eine objektive Wertordnung. Da Vergeben letztlich nur Gott als dem Grund der Wertordnung möglich ist, ist zwischenmenschliches Verzeihen als Abbild der göttlichen Vergebensbereitschaft zu bewerten; beiden ist gemeinsam, dass es sich um interpersonale Akte handelt, in denen die Güte des jeweiligen Gebers zum Ausdruck kommt. Mit Derridas gabekritischen Thesen setzt sich auch Claudia Welz auseinander. Dabei stellt sie vor allem die in der Theologie verschiedentlich rezipierte Anökonomie der Gabe in den Mittelpunkt, die diese wesentlich von Tauschverhältnissen unterscheide. Diese klare Abgrenzung stellt Welz ausgehend von der Selbst-Gabe in der Liebe theologisch in Frage. Mit Bezug auf Kierkegaard argumentiert sie dafür, dass nicht Reziprozität, sondern Responsivität das Verhältnis 26
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Einleitung
zwischen Gott und Mensch zu kennzeichnen erlaube. An den Phänomenen des Gebets und der Vergebung zeigt sie, dass sowohl die Gabeals auch die Ökonomiemetapher hier an ihre Grenzen stoßen – jedenfalls, wenn man sie als Gegensätze betrachtet. Mit dem Bild einer »Kippfigur« illustriert Welz den Perspektivenwechsel, der zwischen beiden Modellen vorzunehmen ist und dann beiden aspekthaft ihre Aussagefähigkeit belässt. Bruch und Kontinuität zwischen dem alten (sündigen) Menschen und dem neuen (gerechtfertigten) Menschen werden missverstanden, wenn sie als einfache Simultanität von Sünder und Gerechtem behauptet werden; vielmehr sind sie nur aus den Blickwinkeln Gottes, der den Menschen sieht, und des Menschen, der sich selbst sieht, auszusagen. Den Gegensatz zwischen reiner, aber »unmöglicher« Gabe und reziprokem Tauschverhältnis wertet Welz daher als falsche Alternative; die theologische Problematik der Heilsökonomie muss dialektischer verstanden werden, um sowohl die Ungleichartigkeit als auch die Bezogenheit von Gott und Mensch einsichtig zu machen. Mit den Schwierigkeiten der Vergebung befasst sich Ulrike Link-Wieczorek. Den Schwerpunkt legt sie auf die Frage, wie angesichts der oftmals erheblichen Probleme, mit denen sich zwischenmenschliches Vergeben konfrontiert sieht, die religiöse Rede vom Vergeben Gottes verstanden werden kann, ohne abstrakt und erfahrungsfern zu scheinen. Wie die philosophische und sozialwissenschaftliche Diskussion zeigen konnte, stößt die Forderung nach Vergebung, die um des gesellschaftlichen Zusammenlebens willen notwendig erscheinen mag, insbesondere nach gesellschaftlichen Gewalttaten wie Bürgerkriegen oder Genoziden auf so viele Hindernisse sozialer, intergenerationeller, politischer und ethischer Art, dass Vergebung sich geradezu als »unmöglich« erweist. Wie kann angesichts dessen die Vergebung der Sünden durch Gott eine zwischenmenschliche Bedeutung haben? Link-Wieczorek zeigt, dass sich die grundsätzliche Ambivalenz zwischenmenschlichen Vergebens in der theologischen Konzentration der Vergebung auf ein bipolares Verhältnis zwischen Gott und Mensch widerspiegelt: Einerseits läuft die theologische Konzentration auf die Vergebungsinitiative Gottes Gefahr, die Schwierigkeiten zwischenmenschlichen Vergebens zu überspringen oder gar zu entwerten, andererseits trägt sie gewissermaßen der Erfahrung Rechnung, dass Vergebung eine »unmögliche Möglichkeit« für Menschen ist, die Gewalterfahrungen gemacht haben. Auf dieser Grundlage setzt Link-Wieczorek sich mit drei aktuellen theoDie Gabe
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logischen Vergebungstheorien auseinander, die sie gabetheoretisch analysiert. Wie sie zeigen kann, greift Milbanks Unterscheidung zwischen zwei vergebungstheoretischen Modellen, nämlich einem der »reinen Gabe« und einem Gabentausch-Modell, erheblich zu kurz. Weiterführend ist es vielmehr, die Verschränkung unterschiedlicher Gabenkreise zu denken, die den Gegensatz zwischen freier Gabe und Tausch unterläuft. Die im Glauben akzeptierte Bereitschaft Gottes, »im Überfluss« zu vergeben, wird auf der zwischenmenschlichen Ebene wirksam als die Begleitung der menschlichen Freiheit, die sich in unterschiedlicher Weise äußern kann – in der Vergebung ebenso wie in der Erkenntnis, (noch) nicht vergeben zu können. Gottes Vergebungsgabe umfasst den – offenen – Prozess menschlichen Vergebens, ohne ihn zu ersetzen. Entsprechend deutet Link-Wieczorek die im Gebet ausgesprochene Bitte um Vergebung an Gott als einen Appell, der die – menschliche Vergebungsmöglichkeiten umfassende – Gemeinschaft Gottes mit den Menschen vergewissert, die seine wesentliche Gabe ist. In dem geschichtswissenschaftlichen Beitrag von Tobias Weger geht es um politische Versöhnung und die Rolle, die dabei Wiedergutmachungsleistungen spielen. Auch hier stehen die Ambivalenzen des Lebens in Form von konkreten Machtverhältnissen und ihrer Durchsetzung im »Gabegeschehen Versöhnung« im Zentrum. Weger untersucht in einem historischen Durchgang durch die Jahrhunderte, ob und inwiefern die Wiedergutmachungsleistungen, die Kriegsparteien nach bewaffneten Auseinandersetzungen geleistet haben, zur Aussöhnung zwischen den beteiligten Völkern geführt haben. Er zeigt, dass die politische Praxis der Reparationen, die unterlegene Parteien an die Sieger zu zahlen haben, sich häufig nicht allein auf eine materielle Entschädigung für die Kriegsschäden beschränkt hat, sondern – insbesondere in der Moderne – auch eine moralische Komponente einschloss, nämlich ein Schuldeingeständnis für begangenes Unrecht. Insofern diese »Gaben« nicht freiwillig geleistet wurden, sondern den anderen Parteien auferlegt wurden und sie zudem auch zu deren ökonomisch-politischer Kontrolle dienen sollten, besteht die Verbindung zur Gabethematik vor allem in dieser moralischen Dimension: Befördern Reparationen und Schuldeingeständnisse die Versöhnung zwischen früheren Gegnern? Obgleich die Praxis der Reparationen sich bis in die Antike verfolgen lässt, ist die Idee der Aussöhnung, wie Weger zeigt, eine sehr junge Vorstellung, die außerhalb des Machtdenkens früherer Politik liegt. Die Reparationen, die Frank28
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Einleitung
reich und Deutschland bzw. Preußen im 19. und 20. Jahrhundert einander abverlangten, führten offenkundig nicht zur politischen Annäherung, sondern nährten nationalistische Ressentiments. Nicht nur die Reparationszahlungen, sondern gerade auch die Anerkennung der Alleinschuld am Ersten Weltkrieg waren wichtige Motive der Propaganda, die in Deutschland Hitler den Weg ebnete. Nach 1945 wurden neue Wege der Wiedergutmachung beschritten, die sich zunehmend auf individuelle Leistungen an Personen richten, die Opfer des Holocaust, der Zwangsarbeit oder anderer staatlich initiierter Verbrechen, etwa im Rahmen des Kolonialismus, wurden. Vor diesem aktuellen Panorama identifiziert Weger offene Fragen hinsichtlich der rechtlichen und (inter-)kulturellen Umstände und flankierenden Maßnahmen, innerhalb derer Entschädigungsleistungen einen Beitrag zur Aussöhnung und Friedenssicherung leisten können.
3.
Dank
Am Schluss dieser Einleitung soll der Dank stehen. Wir danken den Referentinnen und Referenten, den Teilnehmerinnen und Teilnehmern an der Abschlusstagung des DFG-Netzwerkes Gabe – Beiträge der Theologie zu einem interdisziplinären Forschungsfeld, die unter dem Titel »Von Gabentausch, Anerkennung, Macht und Versöhnung. Interdisziplinäre Forschungen zum Phänomen der Gabe« vom 19.–22. 08. 2013 in Erfurt stattfand und deren Vorträge den Kernbestand dieses Buches bilden. Wir danken unseren »Gefährtinnen und Gefährten« im Gabe-Netzwerk für die Zusammenarbeit, für den bereichernden theologischen Austausch und für das kollegiale Miteinander in den drei Jahren der ernsthaften und offenen gemeinsamen Arbeit: Christine Büchner, Marcus Held, Bo K. Holm, Joachim Negel und Jürgen Werbick. Schließlich danken wir den Herausgebern der Reihe Scientia et Religio, Markus Enders und Bernhard Uhde, für die Aufnahme des Buches in ihre Reihe, Lukas Trabert vom Verlag Alber sowie besonders Silvia Haase für die große Unterstützung bei der Redaktion des Bandes.
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Die Gabe als Sprachphänomen: sich geben, als etwas anerkennen Risto Saarinen
Das Wesen und der Geist der Gabe sind vom jeweiligen Diskussionskontext abhängig. So werden die religiösen Gaben leicht als Manifestationen vom Altruismus verstanden, während die politischen Gaben als mit egoistischen Interessen verbunden bezeichnet werden. Auch die akademische Diskussion um die Gaben gebraucht unterschiedliche Kontexte der Interpretation, die einige Perspektiven erleuchten können, andere aber im Schatten lassen. Seit Marcel Mauss sind es vor allem die sozialen und anthropologischen Kontexte, die die leitenden Verstehenshorizonte für die Gaben bieten. 1 Die große Bedeutung von sozialen und anthropologischen Dimensionen der Gabe will niemand bestreiten. Diese Dimensionen bieten schon an sich eine Pluralität von fruchtbaren Einsichten, die von Mauss bis zur heutigen Anthropologie von Maurice Godelier und Annette Weiner reichen. 2 Die philosophische Diskussion um Gaben benutzt die Einsichten von Anthropologie, geht aber darüber hinaus zu neuen Ufern, die auf unterschiedliche Weisen von Pierre Bourdieu, Jacques Derrida und Marcel Hénaff entwickelt worden sind. Hinter diesen neuen Ansätzen liegen vor allem das phänomenologische und das postmoderne Denken, aber auch andere philosophische Strömungen. 3 Diese Diskussion hat die höchst eigenständige Semantik und Pragmatik des Gabenaustausches hervorgehoben. Die Definition des Phänomens Marcel Mauss, Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften, Frankfurt 1994. 2 Maurice Godelier, Das Rätsel der Gabe. Geld, Geschenke, heilige Objekte, München 1999; Annette Weiner, Inalienable Possessions. The Paradox of Keeping-While-Giving, Berkeley 1992. 3 Pierre Bourdieu, Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage einer kabylischen Gesellschaft, Frankfurt 1979; Jacques Derrida, Falschgeld, München 1993; John D. Caputo / Michael J. Scanlon (Hg.), God, the Gift, and Postmodernism, Bloomington 1999; Marcel Hénaff, Der Preis der Wahrheit: Gabe, Geld und Philosophie, Frankfurt a. M. 2009. 1
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Die Gabe als Sprachphänomen
»Gabe« ist somit nicht nur Sache der Anthropologen, sondern auch eine philosophische Aufgabe. Die theologische Diskussion um Gaben hat einerseits die Einsichten anderer Wissenschaften importiert, aber darüber hinaus die reichen historischen Quellen der religiösen Texte neu entdeckt, so dass man heute detaillierte Gabendiskurse bei Seneca, Paulus und Augustin oder bei Luther und anderen Reformatoren wiederfindet. Als besonders ergiebig haben sich die theologischen Sonderformen der Gaben erwiesen, wie zum Beispiel Opfer, Erlösung, Schulderlass, Vergebung, das Übergeben der Tradition und die Lehre. 4 Diese Sonderformen sind nicht auf Anthropologie oder Philosophie reduzierbar, obwohl sie auch durchaus anthropologische oder philosophische Züge aufweisen. Neulich haben Christine Büchner und Veronika Hoffmann die Theologie der Gabe ausführlich entwickelt. 5
1.
Die sprachliche Dimension
Ich möchte eine weitere relevante Dimension der Gaben-Thematik skizzieren, nämlich die sprachliche oder linguistische Dimension. Diese Dimension ist in der bisherigen philosophischen und theologischen Diskussion vernachlässigt worden. 6 Meine These ist, dass ein konsistentes Verständnis von Gabe als Sprachphänomen viele Rätsel der anthropologischen, philosophischen und auch theologischen Diskurse erhellen kann. 7 Die Sprache des Gebens und der Gaben erscheint, so meine These, als eine rudimentäre oder grundlegende Semantik, zu der sich die anderen Dimensionen als »Realfächer« verRisto Saarinen, God and the Gift: An Ecumenical Theology of Giving, Collegeville 2005. Veronika Hoffmann (Hg.), Die Gabe: ein ›Urwort‹ der Theologie, Frankfurt a. M. 2009. John Barclay, Paul and the Gif, Grand Rapids 2015. 5 Christine Büchner, Wie kann Gott in der Welt wirken? Überlegungen zu einer theologischen Hermeneutik des Sich-Gebens, Freiburg i. Br. 2010; Veronika Hoffmann, Skizzen zu einer Theologie der Gabe: Rechtfertigung – Opfer – Eucharistie – Gottesund Nächstenliebe, Freiburg i. Br. 2013. 6 Dagegen haben die Linguisten eingehesen, dass die anthropologischen Gesetze der Reziprozität für die Sprache höchst relevant sind. Siehe z. B. Nicholas Evans, Alice Gaby, Stephen C. Levinson, Asifa Majid (Hg.), Reciprocals and Semantic Typology, Amsterdam 2011; Ekkehard König / Volker Gast (Hg.), Reciprocals and Reflexives, Berlin 2008. 7 Vgl. Risto Saarinen, The Language of Giving in Theology. In: Neue Zeitschrift für Systematische Theologie und Religionsphilosophie 52 (2010), 268–301. 4
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halten. Als Realfächer der Gabe müssen Anthropologie, Philosophie und Religion die sprachlichen Bedingungen des Gebens stets beachten. Diese These impliziert nicht, dass die vielen Einsichten dieser Dimensionen einfach in die Sprache des Gebens reduzierbar wären. Die Sprache ermöglicht und fördert gewisse Einsichten und schließt andere aus, aber sie kann nicht die reale, soziale Wirklichkeit ersetzen. Die Realfächer der Gabe haben durchaus ihren Eigenwert und eigene Rechtfertigungen. Die These von der Gabe als Sprachphänomen will aber die Rolle der Sprachtheorie in der Erhellung von Gaben hervorheben. Phänomenologische Philosophen wie Levinas und Ricœur denken oft assoziativ und berücksichtigen die sprachliche und begriffliche Grundstruktur der Argumente nur beiläufig. Ein sprachanalytischer Zugang kann hier Neues leisten. Im Rahmen dieses Beitrags kann ich nicht die schwierige Frage behandeln, inwieweit die Sprache an sich schon die soziale Wirklichkeit und die Lebenswelt reflektiert. Ich stütze mich auf die sogenannte kognitive Linguistik, der gemäß die meist gebrauchten Verben in den meisten Sprachen auffallend ähnlich sind. Diese Tatsache kann als Evidenz dafür genommen werden, dass die basale kognitive Struktur des Menschen so universal ist, dass die sprachlichen Explikationen dieser Kognition auch relativ universal sind. So könnte behauptet werden, dass elementare Verben wie »geben« in allen Sprachen ungefähr dasselbe bedeuten. Empirische Untersuchungen zu diesem Verb scheinen diese Behauptung zu bestätigen. 8 Schon die Schulgrammatik lehrt uns, dass der Satz um das grundlegende Verb, das Prädikat, herum aufgebaut worden ist. Die Verben haben unterschiedliche Valenzen, d. h. sie verlangen eine unterschiedliche Menge von sogenannten Argumenten, um einen vollständigen Satz zu bilden. Intransitive Verben verlangen zumeist nur ein Subjekt, während transitive Verben sowohl ein Subjekt als auch ein Objekt verlangen. Einige Verben sind darüber hinaus ditransitiv, d. h. sie nehmen zwei Objekte. In der linguistischen Literatur wird »geben« häufig als ein paradigmatisches Beispiel für die Ditransitivität benutzt. Auf Deutsch bezeichnet man das eine Objekt (was geJohn Newman, Give. A Cognitive Linguistic Study, Berlin 1996; ders., The Origin of the German es gibt Construction, in: J. Newman (Hg.), The Linguistics of Giving, Amsterdam 1997, 307–325. Weiter vgl. Pieter A. M. Seuren, Language in Cognition, Oxford 2009.
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geben wird) mit dem Akkusativ und das andere (wem gegeben wird) mit dem Dativ. »Geben« verlangt normalerweise die beiden Objekte, um sinnvoll und informativ zu sein. Während viele andere ditransitive Verben auch monotransitiv gebraucht werden können, ist »geben« zumeist ditransitiv. So hat »geben« normalerweise drei Argumente, die ich im Folgenden als »Agens«, »Thema« und »Rezipient« bezeichne. Im Akt des Gebens geschieht ein Transfer des Themas vom Agens zum Rezipienten. Darüber hinaus ist der Gebensakt paradigmatisch dadurch charakterisiert, dass der Agens und der Rezipient Personen oder wenigstens belebt sind, das Thema aber nicht. Im Normalfall vollzieht der Agens seinen Akt intentional; ob aber der Rezipient auch intentional empfängt, bleibt etwas unsicher. Diese Regeln sind nicht ohne Ausnahmen; bisweilen kann man z. B. seine Tochter zur Heirat geben; auf Französisch können die Fenster nach Süden geben; man kann auch den nicht-personalen Pflanzen Wasser geben. Wenn man aber die Majorität der Fälle klassifiziert und die figurativen Ausdrücke ausklammert, sind die Regeln normalerweise gültig. Im Akt des Gebens findet ein intentionaler Transfer des Themas vom personalen Agens zum belebten Rezipienten statt. Im Folgenden werde ich mich auf ein bestimmtes Phänomen der Ditransitivität konzentrieren. Dieses Phänomen kann als die Identität von zwei Argumenten bezeichnet werden. Ich werde allerdings allgemeiner von einer Identifizierung sprechen, da die beiden Argumente kaum im strengen philosophischen Sinne als miteinander identisch bezeichnet werden können. Genauer gesagt werde ich zwei Fälle beleuchten: erstens die Identifizierung des Agens mit dem Thema und zweitens die Identifizierung des Themas mit dem Rezipienten. Schon Augustin hat dieses Phänomen erkannt und analysiert, indem er den Versöhnungsakt Gottes untersucht. Wenn Gott seinen gottmenschlichen Sohn für uns gegeben hat, kann der Sohn alle drei Argumente füllen: als Gottmensch ist er der Agens, als Opfergabe das Thema, und als Gott der Rezipient dieser Gabe. Augustin diskutiert auch das eventuelle vierte Argument, nämlich die sogenannte Benefaktive oder den Nutznießer, für den etwas gegeben wird. Als Mensch kann der Sohn zu den Menschen gehören, die als Nutznießer des Versöhnungsaktes verstanden werden. 9 So konstatiert Augustin eine geDe trinitate 4, 14, 19. In der heutigen Linguistik werden die Benefaktiven übrigens ausführlich diskutiert. Einige Linguisten wollen die Möglichkeit der tritransitiven
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wisse Realidentität von allen vier Argumenten des Versöhnungsaktes: Der Sohn kann alle vier Plätze füllen. Die Realidentität des Sohnes hat aber unterschiedliche begriffliche Prägungen in den unterschiedlichen Argumenten. Veronika Hoffmann spricht an dieser Stelle von den Mehrfachbesetzungen. Diese Bezeichnung ist durchaus treffend, insbesondere wenn damit nur die Identifizierung von zwei oder mehreren Argumenten und nicht eine Pluralität von Platzhaltern innerhalb eines Arguments gemeint wird. 10 Um Missverständnisse zu vermeiden, spreche ich aber, meinem sprachtheoretischen Zugang folgend, von der Identifizierung von zwei Argumenten. Bei dieser Identifizierung werde ich im Weiteren zwischen Antezedens und Anapher unterscheiden: Das logische Subjekt der Aussage wird als Antezedens bezeichnet, während die Anapher zu diesem Subjekt mit dem Reflexivpronomen verweist. Diese Unterscheidung stammt aus der Linguistik; mein Gebrauch setzt voraus, dass das Antezedens die »Sache« bzw. das propositionale »topical subject« der reflexiven Aussage bezeichnet. 11 Obwohl die folgende Diskussion relativ technisch bleibt, bildet sie eine sprachliche Vorbedingung, eine Bedingung der Möglichkeit, für die sogenannten Realfächer der Gabe. Ich behandle zuerst die Identifizierung von Agens und Thema, danach die Identifizierung von Thema und Rezipient. Die dritte Möglichkeit, die Identifizierung von Agens und Rezipient, lasse ich außer Acht. 12 Die folgende Tabelle fasst den Gedankengang des gesamten Aufsatzes zusammen: Verben bejahen, die z. B. die Opferakte so charakterisieren, dass der Rezipient von den Nutznießern unterschieden bleibt. Vgl. z. B. Seppo Kittilä, A Typology of Tritransitives: Alignment Types and Motivations. In: Linguistics 45/3 (2007), 453–508. Andere sagen, dass im ditransitiven Gebensakt eine sogenannte »schwache Implikation« zwischen Rezipienten und Nutznießern zu konstatieren ist, vgl. Newman, Give, 51– 52, 95–97. Diese Diskussion hat m. E. ein beträchtliches theologisches Potential, das ich anderswo (Saarinen, Language) analysiert habe. Jetzt konzentriere ich mich aber auf einen anderen augustinischen Gedanken, nämlich den der Identifizierung von zwei Argumenten. 10 Vgl. Hoffmann, Skizzen, 504–505. 11 Für die herkömmliche linguistische Unterscheidung von Antezedens und Anapher vgl. z. B. Andrew Radford, Transformational Grammar, Cambridge 1995, 25–27, 115– 117. Zum »topical subject« vgl. z. B. Pieter Seuren, Language in Cognition 1, Oxford 2009, 101–110. 12 Diese dritte Möglichkeit ist an sich üblich, z. B. »ich gebe mir selbst ein Geschenk« bzw. »ich habe es von mir selbst als Geschenk bekommen«. Weil die beiden Argumente dieser Identität normalerweise als belebt dargestellt werden, sind diese Redeformen
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Agens- Thema- Rezipient- 4–6 ThemaobjektSubjekt objekt objekt Rezipientobjekt-Reflex (Anerkennungen?)
1 Agens-Antezedens: »Sich-Geben Jesu« »se donner au jeu« higher power
1Ag
1Ag
1Re
4Ag
4Re
4Re
2 Thema-Antezedens »es wird sich schon geben« »si se da il caso« presentative construction Th als Ag, begrenzter Re
2Th (3Th)
2Th 3Th
2Re 3Re
5Ag 6Ag
5Th 6Th
5Th (6Th)
3 Reduz. ThemaAntezedens »es gibt« kein Ag, univers. Re
4 Rezipient-Antezedens »He gives us to ourselves« »Der Geist erfasst die Menschen … so dass sie werden können … was sie sind: im Sich-Empfangen Sich-Gebende« (Büchner, Wie, 221) 5 Thema-Antezedens »sich erhalten« »receiving itself« Examen, Taufe anerkennen begrenzter Ag, Th als Re
6 Reduz. Thema-Antezedens »Mary gave a scream« »give respect« »Anerkennung geben« kein Re, univers. Ag
Fig. 1: Einige »Mehrfachbesetzungen« im Geben, dargestellt als reflexive Identifizierungen zwischen Antezedens (»Sache« der refl. Aussage) und Anapher (»sich« usw.)
2.
Die Identifizierung von Agens und Thema im Geben
Auf den ersten Blick scheint die Identifizierung von Agens und Thema relativ problemlos: Es geht um das bekannte Phänomen der Reflexivität, das als Sich-Geben ausgedrückt werden kann. Im biblischen und augustinischen Sprachgebrauch gibt der Sohn Gottes sich selbst für uns. Im Finnischen gebrauchen wir das reflexive Geben z. B. im Satz »Hän antautui opiskelemaan«, »er hat sich zum Studium ergeben«. Übrigens bedeutet das reflexive Geben (»antautua«) im Finnischen »aufgeben«: z. B. im Krieg bin ich im Akt des Aufgebens eindeutiger als die w. u. behandelten Identifizierungen. Im Deutschen sind sie mit Dativ gekennzeichnet und können deswegen von anderen Identifizierungen leicht unterschieden werden. Die Gabe
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sowohl der Agens als auch das Thema oder die Gabe, die dem Feind übergeben wird. Auf Französisch sagt man »se donner au jeu«, »er ergibt sich zum Glückspiel«. Alle diese Sätze sind Beispiele für das Sich-Geben. Nach John Newman sind solche Sätze in verschiedenen Sprachen oft mit der Idee eines höheren Einflusses oder possessiver Kontrolle verbunden. 13 Allerdings ist das Phänomen der Reflexivität komplizierter. Nach der Definition der Schulgrammatik sind reflexive Verben durch die Identität von Subjekt und Objekt gekennzeichnet. Wie ist diese Definition im Falle von ditransitiven Verben zu verstehen? Weil sowohl das Thema als auch der Rezipient zu den Objekten gehören, haben wir es mit zwei unterschiedlichen Reflexivitäten zu tun. Wir nehmen aber an, dass die Identifizierung von Agens und Rezipient relativ problemlos ist. Die Identifizierung von Agens und Thema ist allerdings schon je nachdem unterschiedlich, ob diese Identifizierung persönlich oder unpersönlich verstanden wird. Wenn sie persönlich ist, wie z. B. im Sich-Geben Jesu, wird der Agens gewissermaßen verdoppelt. Wenn sie aber unpersönlich ist, wie z. B. im Ausdruck »es begab sich«, könnte behauptet werden, dass das Thema sich verdoppelt. Wenn wir eine Unterscheidung zwischen Antezedens (Subjekt) und Anapher (Reflex) gebrauchen, können wir annehmen, dass im reflexiven Geben entweder der Agens oder das Thema die Rolle des logischen Subjekts einnimmt, während das andere Argument als dessen Reflex erscheint. Die Identifizierung von Antezedens und Anapher kann also unterschiedlich sein, je nachdem, ob der Agens oder das Thema als propositionales Antezedens verstanden werden. Hat diese theoretische Annahme auch praktische Relevanz? Nach dem generellen Paradigma des Gebens sind es Personen, die nicht-persönliche Themen geben. Bei dem agens-fokusierten SichGeben geht es darum, dass Personen Personen geben. Eine andere logische Möglichkeit wäre also: Themen geben Themen. Diese Möglichkeit ist nur scheinbar dadurch ausgeschlossen, dass der Agens belebt sein sollte. In Wirklichkeit, wie John Newman gezeigt hat, bilden
Newman, Give, 241–242. Newman (Give, 156–158, 240–242) behandelt zwei verschiedene Versionen von Reflexivität, die meinen Versionen »Agens-Antezedens« und »Thema-Antezedens« entsprechen. Viele von meinen Beispiel-Sätzen stammen aus Newman, Give; zugleich ist dieses Buch die Hauptevidenz für meine grundlegende These, dass man zwischen zwei Versionen des »Sich-Gebens« unterscheiden muss.
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viele Sprachen reichlich von Sätzen, in denen das Thema sozusagen sich selbst präsentiert, manifestiert oder produziert und dieser Akt mit dem reflexiven Geben sprachlich formuliert wird. Newman gibt z. B. die folgenden Beispiele: Deutsch: »Es begab sich, das …«, »Es wird sich schon geben«, Schwedisch: »Det ger sig nog med tiden«, Spanisch: »Si se da el caso«. 14 Wir könnten auch Sätze wie »Dieser Sachverhalt ergibt sich aus dem früher Gesagten« hinzufügen. Nach Newman sind solche Sätze »präsentative Konstruktionen«, in denen eine Situation oder ein Geschehen sich selbst präsentiert. 15 In den präsentativen Konstruktionen wird das Thema als logisch-semantisches Antezedens verstanden und das Reflexivpronomen als Anapher des Themas. Somit ist auf die propositionale Ebene die unpersönliche Version von »sich geben« von dem persönlichen Sich-Geben unterschieden. So repräsentiert z. B. das Wort »es« im Satz »es wird sich schon geben« logisch und semantisch das Thema, obwohl dieses Wort rein grammatisch den Platz des Agens nimmt. Das sogenannte »topical subject« dieses Satzes ist also das Thema des Gebensaktes, das in den präsentativen Konstruktionen mit Reflexformen hervorgehoben wird. Die propositionale Form des Satzes weicht in diesem Fall von der grammatischen Struktur ab. Um den Satz richtig zu verstehen, sollten wir nicht (der grammatischen Struktur gemäss) das Wort »es« personifizieren, sondern das Thema als propositionales Antezedens der reflexiven Form annehmen. Wir haben also zwei unterschiedliche Versionen der Identifizierung von Agens und Thema: das persönliche Sich-Geben, in dem der Agens im Fokus bleibt, und die unpersönliche präsentative Konstruktion, in der »sich geben« vor allem das Thema manifestiert. Die zweite Version ist für die Linguisten aufschlussreich, denn sie hat ähnliche semantische und pragmatische Aufgaben wie der unpersönliche und nicht-reflexive Gebrauch von »Geben«. Dieser Gebrauch ist prominent in einigen großen Sprachen, vor allem im Deutschen (»es gibt«) und Brasilianisch-Portugiesischen (»deu«). Bekanntlich haben viele Philosophen und Sprachhistoriker diesen Gebrauch zu erklären versucht. Ich werde nicht näher darauf eingehen, sondern zitiere die Schlussfolgerung von Newman: »One may therefore think of es gibt as putting some entity on an 14 15
Newman, Give, 158–160. Newman, Give, 159.
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imaginary stage for contemplation or comment. In so doing, attention is focused on that thing itself, rather than, say, its location somewhere. The effect is similar to what is achieved by the reflexive use of GIVE … The uses are similar in that neither of them postulates any other obvious entity as an energy source from which any emergence takes place.« 16 Ein Philosoph oder ein Theologe könnte viel mehr über diese Art von Epiphanie oder Postulierung eines Sachverhalts sagen. Die akademischen Denker sollen aber keineswegs die unpersönliche präsentative Konstruktion mit dem persönlichen Geben und Sich-Geben vermischen; sonst entsteht ein falscher Eindruck vom lebendigen Geber auch dort, wo sprachlich nur das unpersönliche Thema als Antezedens gemeint ist. 17 Insgesamt können wir also zwischen drei Versionen der Identifizierung von Agens und Thema unterscheiden: (1) die persönliche Reflexivität des Sich-Gebens, (2) die präsentativen Konstruktionen, in denen die sprachliche Reflexivität zur Manifestation des Themas gebraucht wird, (3) die es-gibt-Konstruktion, die diese Manifestation zu einer allgemeinen, abstrakten Existenz erweitern. Newman versteht den Unterschied zwischen (2) und (3) als Unterschied zwischen Präsenz und Existenz; 18 zugleich ist (3) aber eine Untergattung oder Verkürzung von (2). Von der kommunikativen Perspektive aus betrachtet können wir wichtige Unterschiede zwischen den drei Versionen des Gebens bemerken: Während (1) den Agens hervorhebt, betonen (2) und (3) das Thema. Ein Unterschied zwischen (2) und (3) kann vielleicht auch den Rezipienten betreffen: Während die präsentativen Sätze (2) mit reflexiven Geben noch einen begrenzten Rezipienten ausdrücken, umfassen die es-gibt-Sätze (3) alle möglichen Rezipienten und sind in dieNewman, Give, 163–164. Besonders in der Phänomenologie ist es relativ üblich zu sagen, ein Akt des Gebens setze einen persönlichen Geber voraus. Vgl. z. B. Büchner, Wie kann Gott in der Welt wirken?, 50–57; sie interpretiert vor allem Jean-Luc Marion. Generell würde eine solche Annahme bedeuten, dass im »Sich-Geben« die Geber-Gabe- bzw. Agens-Thema-Struktur zugleich als Antezendens-Anapher-Struktur zu verstehen wäre. Meine These ist aber, dass sowohl Agens/ Geber als auch Thema / Gabe als das propositionale Antezedens verstanden werden können. Meiner These gemäss entstehen zwei unterschiedliche propositionale Versionen des »Sich-Gebens«, nämlich die Agens-AgensVersion und die Thema-Thema-Version. Die Antezendens-Anapher-Struktur ist also von der Agens-Thema-Struktur logisch unabhängig. 18 Newman, Give, 162–163. 16 17
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ser Hinsicht universal gültig. Somit könnte behauptet werden, dass die es-gibt-Sätze keine begrenzten Rezipienten haben, obwohl das Verb »geben« im Prinzip ditransitiv ist. Es-gibt-Sätze sind dieser These gemäß faktisch monotransitiv und nur grammatisch ditransitiv. Sie werden vom Thema beherrscht: sowohl der Agens als auch der Rezipient sind beinahe verschwunden. Aber nur beinahe – der kleine Rest hält die Konstruktion noch lebendig, wenigstens im Deutschen und Brasilianisch-Portugiesischen.
3.
Die Identifizierung von Thema und Rezipient – Anerkennung?
Das bisher Gesagte bildet eine Einleitung zu meiner zweiten Frage, die wie folgt lautet: Kann man auch das Phänomen der Anerkennung im Rahmen des Gebens und der Gabe verstehen? Viele Philosophen, vor allem Marcel Hénaff und Paul Ricœur, haben eine bejahende Antwort zu geben versucht. Veronika Hoffmann hat diese Antworten theologisch erweitert, indem sie von der »Gabe der Anerkennung« spricht. 19 Im Allgemeinen spricht man sehr häufig vom Geben und Erhalten von Anerkennung, als ob die Anerkennung eine Art immaterieller Gabe wäre. Ich möchte diese Diskussionen analytisch weiterführen. Die sogenannte Anerkennungstheorie mit ihren unterschiedlichen Prägungen 20 ist so stark von den Sozialwissenschaften, Politologie und Psychologie beeinflusst worden, dass ich sie unter die sogenannten Realfächern zähle. Diese Annahme führt zu der Frage, ob es so etwas wie eine sprachliche oder semantische Theorie der Anerkennung geben kann. Während ich im Falle des Gebens und der Gabe von der Notwendigkeit einer solchen Sprachtheorie überzeugt bin, bleibe ich unsicher was die Anerkennungstheorie betrifft. Einerseits ist »anerkennen« keineswegs so grundlegend in der Sprache wie »geben«. Andererseits ist es durchaus hilfreich, das Verhalten der verschiedenen grammatischen Bestandteile dieses Verbs zu analysieren. Arto Laitinen hat hier wertvolle Arbeit geleistet. Eine gewisse Nähe Paul Ricœur, Wege der Anerkennung, Frankfurt 2004; Hénaff, Preis; Hoffmann, Skizzen, 280, 315. 20 Vgl. z. B. Simon Thompson, The Political Theory of Recognition, Cambridge 2006; er erläutert die Theorien von Axel Honneth, Charles Taylor und Nancy Fraser. 19
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zu Theorien der Gabe bietet auch Thomas Bedorfs These, derzufolge Anerkennung eine dreistellige Grundform hat, in der die sogenannte als-Qualifikation vom Anerkennenden zum Anerkannten übergeben wird. 21 Die folgenden Erläuterungen schlagen vorsichtig vor, dass eine ditransitive Grammatik der Anerkennung vielleicht möglich ist. Im Anschluss an Hénaff und Ricœur könnte behauptet werden, dass Anerkennung eine Gabe ist, die dem Rezipienten seine Identität verleiht. Rein grammatisch würde dies bedeuten, dass das Thema und der Rezipient eines solchen Gebensaktes identisch sind. Dann könnte man Anerkennung als solchen Gebensakt definieren, bei dem das Thema und der Rezipient identisch sind. Im Folgenden wird diese Einsicht erläutert. Der erste Einwand gegen diesen Vorschlag ist, dass eine solche Definition viel zu einfach ist, um die Komplexität des Anerkennungsverfahrens zu begreifen. Der zweite Einwand ist, dass »empfangen« nicht reflexiv gebraucht werden kann: man kann sich selbst geben, aber man kann sich selbst nicht empfangen. Rein grammatisch drücken die reflexiven Verben eine Identität von Subjekt und Objekt aus, aber hier geht es um die Identifizierung der beiden Objekte. Der dritte Einwand, den besonders Theologen formulieren, warnt vor der Mischung von Schöpfung und Anerkennung: Der Agens, der den Rezipienten die Identität schenkt, ist Gott im Akt der Schöpfung. Einige Theologen sagen, dass der theologische Akt der Rechtfertigung als neue Schöpfung einen solchen ditransitiven Gebensakt darstellt. 22 Solche theologische Akte seien aber etwas ganz anderes als der psychologische oder politische Akt der Anerkennung. Einen vierten Einwand bietet Bedorfs Gedanke von der »verkennenden Anerkennung«. Nach Bedorf sei es nicht möglich, dass das Thema »als etwas anerkennen« mit dem so anerkannten Rezipienten völlig identisch ist. Die als-Qualifikation bietet notwendigerweise etwas Neues; folglich können Thema und Rezipient bei einer Anerkennung nie identisch sein. 23 Arto Laitinen, Zum Bedeutungsspektrum des Begriffs ›Anerkennung‹ : die Rolle von adäquater Würdigung und Gegenseitigkeit. In: Hans-Christoph Schmidt am Busch, Christopher F. Zurn (Hg.), Anerkennung, Berlin 2009, 301–324; Arto Laitinen, Heikki Ikäheimo (Hg.), Recognition and Social Ontology, Leiden 2011; Thomas Bedorf, Verkennende Anerkennung, Berlin 2010. 22 Vgl. besonders die theologischen Beiträge in: Bo Kristian Holm / Peter Widmann (Hg.), Word – Gift – Being, Tübingen 2009. 23 Bedorf, Verkennende, 121–127, 146. 21
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Gegen den ersten Einwand sage ich pauschal, dass die Sprachanalyse zumeist einfache Erklärungen sucht. Darüber hinaus verweise ich auf den Unterschied zwischen Sprachtheorie und Realfächern: eine Sprachtheorie leistet nur den Anfang; die Realfächer sollen die volle Komplexität entfalten. Gegen den dritten Einwand bemerke ich, dass gewisse Weiterbildungen der Anerkennungstheorie, wie zum Beispiel Axel Honneths Gebrauch von Winnicotts Psychologie 24, schon einige Parallele zur Schöpfungslehre und zur Rechtfertigungslehre aufweisen. Die heteronome Konstitution des Person-Seins durch die Akte der Anerkennung kann auch theologisch im Rahmen der Schöpfung und Neuschöpfung diskutiert werden. Dieses Thema werde ich aber nicht weiter erörtern. Gegen den vierten Einwand wehre ich mich damit, dass mein Begriff »Identität« eigentlich nur sprachliche Identifizierung bedeutet. Zu Bedorfs Verkennungsthese komme ich noch im Schluss zurück. Mein Interesse richtet sich gegen den zweiten Einwand: ist es möglich, sich selbst zu empfangen, und wenn ja, wie kann dieses Phänomen sprachlich ausgedrückt werden? Wenn wir die allgemein gebrauchten sprachlichen Formen dieses Phänomens entdecken können, können wir auch das Phänomen besser begreifen. Ich weiß von keinem linguistischen oder philosophischen Beitrag, in dem dieses schon diskutiert worden wäre. Meine richtungweisende These im Folgenden ist, dass die oben diskutierte »Identifizierung von Agens und Thema« so etwas wie ein begriffliches Spiegelbild im Bereich der »Identifizierung von Thema und Rezipient« hat. Inwieweit diese Identität mit dem Anerkennungsverfahren zu tun hat, bleibt eine zusätzliche Frage. Meine These will aber auch vorschlagen, dass Anerkennung durch diese Identifizierung besser verstanden werden kann. Die endgültigen Antworten sind aber nicht einfach – schon die sprachliche Ebene ist relativ komplex, um von den Realfächern ganz zu schweigen. Das allgemeine Paradigma des Gebens setzt also voraus, dass das Thema vorwiegend unpersönlich, der Rezipient aber normalerweise persönlich ist. Dem früheren Verfahren gemäß unterscheide ich zwischen zwei verschiedenen Konzeptionen der Identifizierung, nämlich einer persönlichen (4) und einer nicht-persönlichen (5). Ich werde dann englische und deutsche Sätze zitieren, die eine Identifizierung von Thema und Rezipient produzieren. 24
Besonders in Honneth, Das Ich im Wir, Berlin 2010.
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Der erste Fall, die persönliche Identifizierung (4), ist nicht ganz üblich, aber doch relativ einfach zu belegen. Auf Englisch sagt man, insbesondere in religiösen Texten, »He gives us to ourselves«. Auch im Deutschen findet man Belege wie »er gibt uns uns selbst zurück/ zu erkennen«. Wenn wir darüber hinaus das Verb empfangen/receive betrachten, das nach Newman dieselbe semantische Basis wie geben/ give hat, sehen wir, dass der Ausdruck »receive yourself« im Englischen sogar relativ üblich ist. Neben den religiösen Texten kommt es in Liedern und Psychologie, vor allem in der self-help Literatur, vor. 25 Sogar die reflexive Substantivform »Sich-Empfangen« kann man im Deutschen bisweilen finden. Dieses Ergebnis ist aufschlussreich, weil es eine offenbare Parallele zu »Sich-Geben« darstellt. Auch hier geht es um einen höheren Einfluss oder eine Kontrolle, durch die die Person zu diesem Geschehen befähigt wird. Ob dieses Geschehen etwas mit der Anerkennung zu tun hat, kann diskutiert werden. Meine kurze These ist aber, dass es in religiösen und psychologischen Texten um eine Identitätsbildung geht, die gewisse Parallele mit dem Anerkennungsverfahren aufweist. Der zweite Fall, die Themen-Identifizierung (5), ist relativ kompliziert. Einfache Suchen mit dem unpersönlichen Typus »ein Thema diesem Thema zu geben« produzieren keine relevanten Sätze. Die grammatische Regel, der gemäß nur Lebewesen etwas empfangen können, scheint auch die metaphorischen Erweiterungen effektiv zu blockieren. Mit dem Verb receive/empfangen ist das Ergebnis etwas besser: der englische Ausdruck »receives itself« wird bisweilen in Hegelscher und postmoderner Philosophie sowie in der Psychologie gebraucht. Der deutsche Ausdruck »erhält sich« hat vielleicht zu diesem Gebrauch im Englischen beigetragen. Weil dieser Ausdruck im Deutschen das reflexive Empfangen zum Vorschein bringt, kann er vielleicht als metaphorische Ersatzform für den Typus »ein Thema diesem Thema zu geben« betrachtet werden. Allzu viele Schlussfolgerungen sollen aber nicht aus dieser Metapher gezogen werden, weil der Ausdruck ungefähr dasselbe bedeutet wie das englische Verb »keep«. Wir können auch bemerken, dass in einigen Anerkennungstheorien nur Personen anerkannt werden können. Für einen eventuellen dritten Fall (6) könnten wir wie folgt argumentieren: Wir haben aus Newmans Analyse gelernt, dass das theDiese und folgende Ausführungen stützen sich auf Internet-Suchen, bei denen die relevanten sprachlichen Wendungen gesucht worden sind.
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menzentrierte oder präsentative reflexive Geben auch ohne Reflexivpronomina ausgedrückt werden kann, nämlich mit der es-gibt-Konstruktion. Kann auch das reflexive Empfangen bzw. das Sich-Erhalten in der Sprache ähnlich mit dem Verb »geben« ausgedrückt werden? Eine derartige Konstruktion würde also das Thema betonen und es sozusagen präsentativ manifestieren. Dagegen bliebe der Rezipient im Schatten oder sogar ausgeklammert. Für die Kommunikation ist es vielleicht sekundär, ob der Rezipient letzten Endes identisch mit dem Thema ist: wenn das Thema alles beherrscht, kann man vielleicht sagen, dass das propositionale »Ziel« dieses Gebensaktes einfach das Thema ist – auch wenn ein nicht-persönliches Thema rein grammatisch kein Rezipient des Gebensaktes sein kann. 26 Wir suchen also so etwas wie ein Spiegelbild der es-gibt-Konstruktion. Es ist relativ leicht, Sätze zu finden, die solche Bedingungen erfüllen, z. B. im Englischen »Mary gave a scream«. Hier wird das Thema (scream) hervorgehoben, ein Rezipient ist nicht erwähnt, und das Ziel des Gebensaktes ist mit dem Thema identisch (scream). Für unsere Fragestellung ist es interessant, dass die Sätze der Anerkennungstheorie sehr häufig ähnlich gebraucht werden. Ich meine Sätze wie: »Anerkennung geben«, »give respect« usw. Eine einfache Internet-Suche mit Worten »Anerkennung geben« zeigt, dass diese Redewendung häufig ähnlich wie »Mary gave a scream« verwendet wird. Der Agens kann seine Beziehungen und die gesamte Umwelt dadurch stärken, dass er Anerkennung produziert und manifestiert. 27 Die Rezipienten der Anerkennung werden entweder beiläufig oder gar nicht erwähnt; das propositionale Ziel des Gebensaktes ist mit dem Thema eng verbunden. In gewöhnlichen Fällen hat der Anerkennungsakt einen instrumentalen Charakter (»Finnland hat Kosovo anerkannt, damit wir Stabilität dort aufbauen können«), aber besonders in der self-help Literatur findet man eher die Idee einer themenfokusierten Manifestation, bei der keine begrenzte Instrumentalität zu finden ist. In einer derartigen Manifestation ist das Thema der Anerkennung an sich im Fokus, weil sie dem Wohl des Agens und seiner Umwelt universal dient. Das Ziel eines solchen Aktes ist also einfach die Vermehrung von positiver Anerkennung. Newman, Give, hat übrigens auch ausführlich das Verhältnis zwischen »Ziel« und »Rezipient« in Gebensakten diskutiert. 27 Newman, Give, 148 verbindet »give a scream« mit »emergence« und »manifestation«. 26
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Der englische Ausdruck »give respect« belegt diesen Sinn (6) noch deutlicher. Man kann den Ausdruck faktisch monotransitiv verwenden, ähnlich wie in Sätzen »Mary gave a scream« und »es gibt einen Gott«. In diesen Sätzen wird das Thema produziert und manifestiert, der Rezipient aber gar nicht oder verdünnt erwähnt (»give respect to everybody«). Wir haben also ein Spiegelbild der es-gibtKonstruktion (3) gefunden, in dem die Identifizierung des hervorgehobenen Themas mit dem fast ausgeklammerten Rezipienten durch einen monotransitiven und nicht-reflexiven Gebrauch ausgedrückt wird. Interessanterweise ist dieser Gebrauch gerade im Kontext von Anerkennung und Respekt prominent. Dieser dritte Fall von Thema-Rezipient-Identifizierung (6) scheint somit tatsächlich mit dem Anerkennungsphänomen verbunden zu sein.
4.
Zwischenbilanz
Ich fasse kurz zusammen: Die ditransitive Struktur des Gebensaktes setzt normalerweise die Argumente von Agens, Thema und Rezipient voraus; dabei können zwei Argumente identisch belegt werden. Die Identifizierung von Agens und Thema erzeugt Reflexivität, die jedoch auf zwei unterschiedliche Weisen konzipiert werden kann. In der (1) persönlichen Reflexivität entsteht eine Konstruktion, die den Agens hervorhebt und einen Eindruck vom höheren Einfluss erwecken kann. Diese Reflexivität hat ein Spiegelbild in der (4) persönlichen Identifizierung vom Thema und Rezipient, die ebenfalls religiöse und psychologische Konnotationen hat. Der Gedanke von persönlicher Anerkennung kann auch mit dieser grammatischen Struktur verbunden werden. Allerdings sind beide Person-Identifikationen relativ seltene Sprachformen und bilden eher grammatische Ausnahmen. Der kommunikative Zweck dieser Formen besteht darin, die Persönlichkeit des Agens bzw. des Rezipienten hervorzuheben. Die (2) unpersönliche Reflexivität hebt das nicht-persönliche Thema hervor und klammert entweder den Agens oder den Rezipienten aus. Allerdings ist es schwierig, dieses Phänomen mit dem reflexiven Geben bzw. Empfangen auszudrücken, da diese Verben normalerweise Lebewesen als Agens bzw. Rezipienten voraussetzen. Anstatt deren sind bisweilen (3) metaphorische Extensionen gebraucht, die eine Emergenz, eine Manifestation oder eine Präsentation mit dem 44
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Verb »geben« ausdrücken. Der deutsche Ausdruck »es gibt« kann als solche Extension verstanden werden. Die Rolle von Agens und Rezipienten bleibt in diesen Extensionen rätselhaft: manchmal sind sie mit dem Thema identisch, aber bisweilen sind sie nur ausgeklammert oder mit dem Zweck des Gebensaktes gleichgesetzt. Wir haben im Weiteren untersucht, inwieweit die Akte der Anerkennung als solche Gebensakte verstanden werden können, bei denen das Thema und der Rezipient identisch sind. Wenn (4) diese zwei Argumente Personen sind, entsteht ein Eindruck von Anerkennung; allerdings sind solche Sätze nur selten in Alltagssprache gebraucht. Die (5) nicht-persönliche Identifizierung von Thema und Rezipient kann im Deutschen mit der reflexiven Form »sich erhalten« metaphorisch beschrieben werden. Wichtiger als diese Feststellungen ist aber, dass (6) Sätze wie »give respect«, »Anerkennung geben« sehr häufig als Manifestationen des Themas gebraucht werden, und zwar so, dass der Rezipient im Schatten bleibt und der Zweck dieses Aktes mit dem Thema eng verbunden ist. Als emergente bzw. präsentative Sprachformen weisen solche Sätze Ähnlichkeiten mit (3) der es gibtKonstruktion auf.
5.
Anerkennung: Sprachtheorie und Realfächer
Um dieses Ergebnis besser zu verstehen, können wir jetzt einen kurzen Blick auf die »Realfächer« der Anerkennung werfen. Die Anerkennung von unpersönlichen Fakten und Tatsachen ist ein vielseitiges Phänomen, das noch genauer untersucht werden soll. Unser Fall (5) kann dabei hilfreich sein, weil er das unpersönliche Thema als Antezedens verwendet. Betrachten wir kurz die folgenden Sätze: »Die katholische Kirche erkennt die evangelische Taufe an.« »Dein finnisches Examen wird von der Universität Erfurt anerkannt.« Der Gegenstand der Anerkennung ist in beiden Fällen keine Person, sondern ein Sachverhalt (Taufe, Examen). Wenn wir diese Anerkennungen als Gebensakte konstruieren, ist es m. E. durchaus möglich zu sagen, dass diese Sachverhalte die Rezipienten der Anerkennung sind. Aber die gleichen Sachverhalte bilden auch das Thema der Anerkennung, so dass eine gewisse Identifizierung von Thema und Rezipient postuliert werden kann. So geht es in diesem Anerkennungsakt um die »adäquate Würdigung«, die durch den Die Gabe
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Agens gegeben wird. 28 Weil aber auch das Thema der Anerkennung nichts anderes als die schon bestehende Taufe bzw. das schon bestandene Examen ist, könnten wir vielleicht sogar sagen, dass die Taufe bzw. das Examen »sich selbst empfängt«, weil diese Sachverhalte dadurch eine Bestätigung und Dauer erhalten, dass sie anerkannt werden. So formulieren wir normalerweise nicht, weil Sachverhalte nichts empfangen können. Wenn wir aber die Möglichkeit der Anerkennung von Sachverhalten zulassen, sind wir nicht weit von dem Gedanken, dass solche Anerkennungsakte die reale Identifizierung des Themas mit dem Rezipienten manifestieren. Eine derartige Interpretation ist relativ ähnlich mit der Bedeutung des deutschen Ausdrucks »sich erhalten«. Man könnte sagen, dass die Taufe bzw. das Examen auch im neuen Kontext unverändert bestehen bleibt und in diesem Sinne »sich erhält«. Dieser Gedankengang ist nicht zwingend, weil man auch die Würdigungsakte als separate Entitäten auffassen kann. Auch die begriffliche Identität kann unterschiedlich sein. Die katholische Kirche kann zum Beispiel sagen: »Nur wenn wir sie als katholische Taufe anerkennen, wird sie zur katholischen Taufe.« In einem solchem Fall kann die Anerkennung nicht als »sich erhalten« verstanden werden, sondern die Anerkennung verändert den Status des Anerkannten. Ich neige aber dazu zu sagen, dass eine derartige Interpretation eher selten ist und dass eine einseitige Anerkennung nicht notwendigerweise eine Statusveränderung mit sich bringt. Eher geht es um eine adäquate Würdigung, bei der z. B. die Taufe oder das Examen unverändert bleibt und im gewissen Sinne somit »sich selbst empfängt«, obwohl diese Tatsache sprachlich anders formuliert wird. Auf diese Art entsteht eine gewisse Korrespondenz zwischen der oben erläuterten reflexiven nicht-persönlichen Sprachtheorie der Anerkennung (5) und dem Realfach der Anerkennung als adäquater Würdigung. Diese Korrespondenz sollte noch eigens näher untersucht werden. Analog dazu neige ich dazu zu sagen, dass nicht jede Anerkennung eine Verkennung bedeutet. Häufig kann dies geschehen, wie in Bedorfs Beispiel »Israel als jüdischen Staat anerkennen«. 29 Ein sol-
Der Ausdruck »adäquate Würdigung« stammt von Laitinen, Rolle. Siehe ausführlicher Risto Saarinen, Anerkennungstheorien und ökumenische Theologie. In: Thomas Bremer / Maria Wernsmann (Hg.), Ökumene – überdacht. Reflexionen und Realitäten im Umbruch, Freiburg 2014, 237–261, bes. 251–253. 29 Bedorf, Verkennende, 118–121. 28
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cher Akt ist durch die als-Qualifikation so gefärbt, dass von einer Verkennung tatsächlich gesprochen werden kann. In anderen Fällen wird aber etwas so anerkannt, wie es ohnehin schon ist. Im ditransitiven Schema werden dann das Thema (als-Qualifikation) und der Rezipient (der nicht-persönliche Gegenstand der Anerkennung) wahrheitsgemäß miteinander identifiziert. Eine solche Würdigung setzt voraus, dass eine Identifizierung des Themas mit dem Rezipienten keine notwendige Verkennung impliziert. So ist es z. B. durchaus sinnvoll, eine Taufe als katholische Taufe, ein Examen als gültiges Examen oder die gleichen Rechte einer Minderheit auch dann anzuerkennen, wenn diese Sachverhalte auch ohne diesen Akt ontologisch oder juridisch bestehen. 30 Auf diese Art kann Anerkennung wie Gabe in dem Sinn ditransitiv sein, dass die als-Qualifikation des Anerkennungsaktes ähnlich wie das Thema eines Gebensaktes interpretiert wird. So verstanden gestaltet sich die Anerkennung als ein solches reflexives Geben, das sich als Identifizierung von beiden Objekten vollzieht. Wenn wir auf diese Weise sagen, dass die Semantik des Anerkennens aus drei Argumenten (Agens, Als-Thema, Rezipient) besteht, können wir auch denken, dass das Thema mit dem Rezipienten bisweilen identisch sein kann. 31 Im solchen Fall impliziert der Transfer des Themas keine Verkennung. Eine solche Interpretation ist eine Erweiterung von (5) in die Welt der »Realfächer«. Insgesamt denke ich aber, dass die Semantik der Anerkennung nicht als vollkommen eigenständige Parallele zur Semantik des Gebens konstruiert werden soll. Stattdessen soll das sprachliche Schema des Gebens als grundlegend betrachtet werden. Innerhalb dieses Bedorf, Verkennende, 125 vermutet, dass Sätze wie »Perlmann als Perlmann anerkennen« eine falsche Eigentlichkeit ausdrücken, wenn keine »rekognitive Differenz« zwischen den Argumenten bestehen bleibt. Hier denke ich also anders; eine Diskussion mit Bedorf, Verkennende, müsste noch eigens geleistet werden. Obwohl der Satz »Perlmann als Perlmann anerkennen« sprachlich erlaubt ist, könnte ein Bedorf-Anhänger sagen, der entsprechende phänomenologische Akt enthalte doch eine »rekognitive Differenz«. Ob ein solcher Akt aber immer und notwendigerweise eine Differenz enthält, ist m. E. fraglich. Eher geht es dabei um eine adäquate Würdigung, die keine falsche Eigentlichkeit mit sich bringt. 31 Auch wenn im Satz »x erkennt y als z an« y mit z identisch bleibt, kann es durchaus der Fall sein, dass x als Folge dieser Aussage sich ändert. Zum Beispiel: »Wenn die Kirche die Frauenordination als richtige Ordination anerkennt, bleibt sie nicht dieselbe Kirche wie früher.« Solche relativ komplexen Fälle müssten eigens analysiert werden. 30
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Schemas weisen tatsächlich einige »Mehrfachbesetzungen« bzw. reflexiven Identifizierungen interessante Parallele zum Phänomen der Anerkennung auf. Diese Parallelen sind oben erläutert worden. Dabei taucht Anerkennung bisweilen als paralleles ditransitives Schema der Identitätsbildung auf (4 und 5), manchmal aber eher als ein Platzhalter innerhalb des ditransitiven Gebensschemas (6). Wenn das Gesamtschema des Gebens wie ein großer Baum ist, kann Anerkennung als Mistel in diesem Baum verstanden werden. Sie kann unterschiedliche Gewächse bilden, die alle jedoch aus dem Stoff dieses Baums genährt werden.
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I. Gabe und Anerkennung: Konvergenz und Konkurrenz der Diskurse
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Gabe gegen Anerkennung? – Anerkennung als Gabe? Burkhard Liebsch
Wer gibt, um zu empfangen, gibt gar nicht. 1 Anerkennung geschieht […] durch die reine Annahme der Gabe. 2 Verletzung muß eintreten, denn das Bewußtsein muß auf dies Anerkennen gehen […]. 3 Am Ende […] möchte ich die Idee des Kampfes in all seinen Stadien in Frage stellen. 4
1.
Gabe vs. Anerkennung: nachmetaphysisch, sozialphilosophisch
Die Philosophie entdeckt die Gabe und die Anerkennung nicht erst in der Gegenwart. Beschreiben Platon und Aristoteles die theoria, die philosophische Lebensform, nicht als eine dem Menschen verliehene »Gabe«? 5 Und gibt nicht die philosophische Theorie ihrerseits zu denken? Manifestiert sie sich nicht als eine Form der Dankbarkeit, die das Gegebene anerkennt? 6 Wenn das Denken das Gegebene dankbar und anerkennend nachvollzieht, bewegt es sich dann letztlich auf der Spur des Seins als des »gebenden Einen«, das alles Seiende einend zusammenhält? Ist also das Sein die gebende Instanz oder die Gabe selbst (munus 7) – was die Philosophie anerkennend nachvollzieht, auch wenn von der ursprünglichen Gabe des Einen – im Doppelsinn des Seneca, De beneficiis, I, IV. Jean-Paul Sartre, Entwürfe für eine Moralphilosophie, Reinbek 2005, 646 (=EM). 3 Georg W. F. Hegel, Jenaer Realphilosophie. In: Frühe politische Systeme, hg. von Gerhard Göhler, Frankfurt a. M. 1974, 201–335, hier 322, Anm. 1 (= JR). 4 Paul Ricœur, Wege der Anerkennung, Frankfurt a. M. 2006, 234, 271 ff. (= WA). 5 Aristoteles, Nikomachische Ethik, Buch X (7); Platon, Philebos, 16c; Joachim Ritter, Metaphysik und Politik, Frankfurt a. M. 2003, 20, 44. 6 Vgl. Dirk Westerkamp, Via negativa, München 2006, 221. 7 Westerkamp, Via negativa, 153; Roberto Esposito, Communitas, Berlin 2004. 1 2
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genitivus subjectivus und des genitivus objectivus – nichts geblieben sein sollte als der Name? 8 Ist in diesem Sinne das Sein selbst das Gute – oder kommt uns dieses von einem Jenseits des Seins her zu? Von der Philosophie Platons und Aristoteles’ über den Neuplatonismus der Spätantike und der Tradition der Negativen Theologie zu Heidegger und von diesem ausgehend bis hin zu Derrida, Ricœur und Marion hat sich die Frage nach einem zweideutig gegebenen und gebenden Sein durchgehalten, das dankbar in Empfang zu nehmen und anzuerkennen, ja sogar zu lieben sein soll; und zwar ebenso »umsonst« (gratis oder vergeblich), wie angeblich das Gute von jenseits des Seins her in Empfang genommen worden ist. 9 Scheinbar emanzipiert von dergleichen theologischen Zumutungen lehrte Heidegger, das Sein sei nicht bloß als eine Gegebenheit, sondern als Gabe gegeben, die das Denken dankend und insofern anerkennend nachzuvollziehen habe, ohne freilich irgend jemandem Dank zu schulden. Das Sein ereignet sich demnach, indem »es gibt« 10; aber so, dass es in seiner Anonymität keine Spur eines gebenden Subjekts verrät, auf das sich Dankbarkeit und Anerkennung beziehen könnten. Offenbart sich im »es gibt« (das Levinas als il y a übersetzt 11) nicht das ausweglose Arbeiten einer finsteren Totalität? Oder lässt es sich emphatisch als eine Gabe begreifen, wie es Marion nahe gelegt hat? 12 So wenig wie Levinas will Marion eine unkritische Ontologie beerben, die darauf hinauslaufen würde, das Sein vorbehaltlos als Gutes zu affirmieren – so als sei es niemals verzeitlicht und geschichtlich gedacht worden 13, als ob es eine Theodizee-Kritik nie gegeben hätte und als ob nicht ein Rückfall in schlechteste Geschichtsmetaphysik drohen würde, die nicht zur Kenntnis nimmt, wie sehr Westerkamp, Via negativa, 203–208; Jacques Derrida, Über den Namen, Wien 2000. Vgl. die Diskussion in: John D. Caputo / Michael J. Scanlon (Hg.), God, the Gift and Postmodernism, Bloomington, Indianapolis 1999, 54–78. 10 Martin Heidegger, Platons Lehre von der Wahrheit, Bern 21954, 80; ders., Unterwegs zur Sprache, Pfullingen 61979, 192 f.; Wolfgang Janke, Existenzphilosophie, Berlin 1982, 202 ff. 11 Emmanuel Levinas, Die Zeit und der Andere, Hamburg 1984, 22, 26; Humanismus des anderen Menschen, Hamburg 1989, 138; Vom Sein zum Seienden, Freiburg i. Br. 1997, 69–78; Ethik und Unendliches, Graz / Wien 1986, 34 f. 12 Jean-Luc Marion, Étant donné, Paris 21998; ders., Reduktive ›Gegen-Methode‹ und Faltung der Gegebenheit. In: Michael Gabel / Hans Joas (Hg.), Von der Ursprünglichkeit der Gabe, Freiburg i. Br. 2007, 37–55, sowie ders., Eine andere ›Erste Philosophie‹ und die Frage der Gegebenheit. Ebd., 56–77. 13 Eugen Fink, Traktat über die Gewalt des Menschen, Frankfurt a. M. 1974, 220. 8 9
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desaströse Erfahrung 14 daran hat zweifeln lassen, ob es gut zu heißen ist, als Seiendes rückhaltlos dem Sein ausgeliefert zu sein. Allerdings scheint speziell Marion erhebliche Verwirrung gestiftet zu haben in der Rezeption seines Werkes, die nicht selten die folgenden Ebenen (I-IV) des Gabe-Diskurses miteinander kontaminiert: (I) Die ontologische Ebene des Sich-Zeigens bzw. der Phänomenalität als solcher, die einer hermeneutischen Rechtfertigung bedarf, insofern das Sich-Zeigen sich seinerseits nicht einfach »zeigt«. 15 (II) Die sozialphänomenologische Ebene von Akten und Prozessen des Gebens und speziell des Gebens von Gaben; und zwar explizit als Gaben. (III) Die kulturanthropologische Ebene der Beschreibung von spezifischen Ausprägungen von Gabe-Praktiken (etwa eines Ethos der Gastlichkeit wie der islamischen Praxis der sadaqa 16 – sei es mit oder ohne Worte, wie im Fall einer einladenden Geste). (IV) Die kulturgeschichtliche Ebene von Transformationen solcher Praktiken durch Prozesse der Moralisierung, der Politisierung, der Verrechtlichung und der Ökonomisierung. Gegen letztere speziell wird heute ein Diskurs der (reinen oder der nicht auf Gewinn berechneten) Gabe ins Spiel gebracht, von der man sich nicht selten eine an-ökonomische oder antiökonomische Kraft verspricht. Aber kann man sich in diesem Sinne auf eine Ontologie der Gebung (donation) berufen, die diese Ebenen nicht unterscheidet und suggeriert, im gegebenen Sein selbst liege der Sinn eines geschenkten und zur unberechneten Weitergabe bestimmten Gebens, das seinerseits weder sozialphänomenologisch, kulturanthropologisch und -historisch differenziert noch auch in seiner tief greifenden Ambivalenz bedacht wird – so als ob es generell gut zu heißen wäre, auch unfreiwillig oder gegen seinen Willen zum Empfänger einer Gabe gemacht zu werden? (Noch dazu einer Gabe, die im bloßen Erscheinen von irgendetwas ebenso liegen könnte wie in einer Untat, wenn wir den Begriff der Gabe derart ausweiten, dass er letztlich mit dem Gegebensein jedes Phänomens zusammenzufallen droht.)
Genau jener radikale Zweifel auf dem Grunde desaströser geschichtlicher Erfahrung hat Levinas dazu bewogen, sich aufs Neue darauf zu besinnen, wo das Geben bzw. die Gabe 17 und die Anerkennung, die Maurice Blanchot, Die Schrift des Desasters, München 2005. Vgl. v. Vf., Zeigen, Sagen und Verstehen. In: Olivier Abel / Paul Marinescu (Hg.), On the Proper Use of Phenomenology, Bukarest 2013, 117–142. 16 Daniela Falcioni, »Conceptions et pratiques du don en Islam«, in: Revue du Mauss 39 (2012), 339–360. 17 Über die Levinas jedoch in seinem Denken des Zeugnisses entschieden hinausgeht (Gott, der Tod und die Zeit, Wien 1996, 201 f.). 14 15
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Gabe als Anerkennung oder die Anerkennung als Gabe (wenn es sie gibt) sich zeigen 18; und zwar gemäß jenen methodischen Prinzipien, die er in den Ideen I Husserls expliziert fand, wo es heißt, es sei zu zeigen, »wie sich das Gegebene als Gegebenes gibt«. 19 Dem zufolge müssen sich auch die Gabe und die Anerkennung als Phänomene aufweisen lassen und dürfen nicht hypostasiert werden. Am Anfang steht also die Frage: gibt es Gaben, gibt es Anerkennung – und wenn ja, wie, wem und wo zeigen sie sich als solche? Die bei Levinas, aber auch bei Arendt und (mit Verweis auf beide) bei Ricœur 20 gegebene Antwort lautet: zwischen uns. So nimmt das Fragen nach Gabe und Anerkennung eine entschieden sozialphilosophische Wendung; und es hat den Anschein, als rücke die Sozialphilosophie geradezu zur Ersten Philosophie auf, die auch die Frage nach dem Sein und danach, was es bedeutet, ihm womöglich rückhaltlos überantwortet zu sein, allein von dem her beantwortet, was zwischen uns geschieht, ohne einer ein für alle Mal von woanders her vor-gegebenen Bestimmung folgen zu müssen. Insofern erweist sich jedoch schon Hobbes als erster proto-phänomenologischer Sozialphilosoph. Er unternimmt erstmals 21 systematisch den radikalen Versuch, zu beschreiben, was sich zwischen Menschen ereignet, ohne dabei auf irgendeine vor-gegebene archäologische oder teleologische Bestimmung ihrer Verhältnisse zurückzugreifen. Gewiss: Hobbes hat sog. »Vorläufer«, denen man ähnliche Motive zuschreiben kann. Und er leitet einen langen Prozess radikal ernüchterter Beschreibung erst ein, den nach ihm viele andere weiter vorangetrieben haben und in dem älteste Einsichten wieder entdeckt werden. Darunter die bereits in der aristotelischen Politik ansatzweise zur Sprache kommende Einsicht, dass zwischen uns wenigstens ein Geschehen von Anspruch und Erwiderung stattfinden muss, das es möglich macht, sein Wort zu geben und zu halten, d. h. etwas zu versprechen und Verträge zu schließen. Selbst wenn nicht jede Stimme
Vgl. Emmanuel Levinas, Totalität und Unendlichkeit, Freiburg i. Br. 1987, 103 ff. Emmanuel Levinas, Die Unvorhersehbarkeiten der Geschichte, Freiburg i. Br. 2006, 37–78, hier 48. 20 WA, 207, 324. Ricœur verweist auf das inter-esse bei Hannah Arendt, das noch zu wenig mit dem entre nous (so ein Buchtitel von Levinas) zusammen gedacht worden ist. 21 Allerdings ohne je das Zwischen als solches zu befragen, wie es erst in der Sozialphilosophie des 20. Jahrhunderts geschieht. 18 19
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in diesem Sinne »zählt« 22 und wenn nicht jeder versprechen »darf«, wie Nietzsche insistierte, der darin »das Menschlichste im Menschen« (WA, 171) entdeckt zu haben schien, fest steht doch, dass das Menschliche nur zwischen uns möglich wird. »Mit zweien beginnt die Wahrheit«, schrieb Nietzsche deshalb. 23 Ob und wie sich das Wahre jeweils bewahrheiten wird, steht dahin, denn es ist nicht einfach zu entdecken, sondern zu realisieren in einem offenen, geschichtlichen Prozess, der nicht mit einer bereits gegebenen Wahrheit, sondern nur damit beginnen kann, dass wir im Verhältnis zueinander im Wahren, d. h. der Zumutung radikaler Fraglichkeit des Wahren ausgesetzt sind. Mehr liegt darin zunächst nicht. Die moderne Sozialphilosophie geht über diese Einsicht freilich längst weit hinaus, indem sie darauf hinweist, wie diese Fraglichkeit konkret Gestalt annimmt. Von Hobbes über Hegel, Mead und Honneth bis hin zu Ricœur gibt sie die Antwort, es gehe uns im Modus einer notorisch strittigen Anerkennung darum, zu erfahren, was oder wer wir sind. Unser Leben, bedeutet das, gibt uns nicht auf natürliche Art und Weise vor, was oder wer wir sind; vielmehr steht es als soziales rückhaltlos auf dem Spiel, insofern es sich nur als von Anderen anerkanntes bewahrheiten kann. Hobbes weist auf Antriebe wie Konkurrenz, Misstrauen und Ruhmsucht hin, die seiner Meinung nach alle Menschen in einen Machtkampf um Anerkennung zwingen (WA, 209) – auch diejenigen, die nicht primär von solchen Antrieben beherrscht zu sein scheinen. 24 Es genügt, dass Andere ihnen Bedingungen des Anerkanntseins aufzwingen, die sie nicht ignorieren können. So internalisieren am Ende alle die fatale Vorstellung, mangels allgemeiner Anerkennung auf dem Markt öffentlicher Beachtung, Achtung, Reputation oder Wertschätzung drohe ihnen ein sozialer Tod. Hegel verwirft zwar in seiner Antwort auf Hobbes diese allein auf nachteilige Effekte mangelnder Anerkennung abstellende Theorie, radikalisiert aber den Gedanken des Angewiesenseins auf Anerkennung. In Wahrheit könnten wir nur als einander Anerkennende, die ihre Anerkennung gegenseitig anerkennen (und das auch wissen), wirklich Anerkennung erfahren. 25 Bloß eingebildete An-
Vgl. Jacques Rancière, Das Unvernehmen, Frankfurt a. M. 2002. Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke, hgg. von Giorgio Colli / Mazzino Montinari, München 1980, Bd. 5, 293; Bd. 3, 517. 24 Thomas Hobbes, Leviathan, Frankfurt a. M. 1984, 76. 25 Hegel, JR, 227; »Anhang«, ebd., 291–336, hier 325, 327. 22 23
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erkennung, die man sich als öffentliches Ansehen selbst zugute halten mag, reicht dafür nicht aus. Zwischen uns entbrennt so gesehen unvermeidlich ein sozialer Kampf um Anerkennung, da sich unser Leben nur als ein (gegenseitig) anerkanntes überhaupt bewahrheiten kann. Durch uns allein ist dieser Kampf auszutragen und, wenn überhaupt, zu entscheiden. 26 Dem ersten Anschein nach wird genau das durch eine zweite sozialphilosophische Theorietradition bestätigt, die über Mauss, LéviStrauss und Sahlins bis hin zu Callié, Hénaff und vielen anderen in Theorien der Gabe zur Geltung gekommen ist. 27 Scheinbar lehren alle diese Theorien, wie man durch wechsel- und gegenseitiges Geben nicht nur das sog. soziale Band immer wieder neu knüpft, sondern auch reziproke Anerkennung erfährt. Fügen sich diese Theorien also nahtlos in jene Sozialphilosophie der Anerkennung ein? Exemplifizieren sie sie nur, indem sie am Beispiel des gegenseitigen Gebens und des Austauschs von Gaben zeigen, wie Anerkennung gesucht wird, wie sie konkret geschieht und wie sie zum Ziel kommt? Setzen beide Theorietraditionen nicht ontologisch ein Mitsein (Heidegger) voraus, das sie nur unterschiedlich akzentuiert entfalten – als ein Gegeneinander im Kampf um Anerkennung respektive als ein Miteinander im gegenseitig bereichernden Austausch von Gaben? 28 Dieser erste Eindruck täuscht. Genauso, wie in der ersten Tradition schließlich die Frage unausweichlich wurde, was es heißt, in Wahrheit anzuerkennen (nämlich: einander gegenseitig anzuerkennen), so wurde auch in der zweiten Tradition die Frage unausweichlich, was es »wirklich« bedeute, zu geben. Hénaff bestätigt die alte Vermutung Senecas, »wirklich geben« heiße, ohne Erwartung von Anerkennung und Erwiderung jeglicher Art das Spiel einer Beziehung zu eröffnen. 29 So weist er auf eine radikale Asymmetrie hin, die nicht ohne weiteres ins Konzept einer generalisierten GegenseiIch knüpfe hier nur rekonstruierend an die skizzierten Positionen an, gerade nicht aber, um sie in dieser Form zu affirmieren. 27 Vgl. Burkhard Liebsch, Umsonst: Die Gabe als nachträglich zu bewahrheitende Gegebenheit. In: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 38/1 (2013), 29–59. 28 So gesehen wären Miteinander und Gegeneinander nur zwei »existenzielle« Variationen des einen ontologischen Existenzials, das in Sein und Zeit Mitsein heißt. Genau so legen es noch Esposito und Nancy aus. 29 Vgl. Jean Starobinski, Gute Gaben. Schlimme Gaben, Frankfurt a. M. 1994, 74. Allerdings dominiert im Werk Hénaffs letztlich eine Theorie der Gegenseitigkeit, in der das asymmetrische Geben aufgehoben sein soll. 26
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tigkeit passt; jedenfalls dann nicht, wenn die einseitige Gabe zunächst gleichsam »eine Brücke zu einem noch unsichtbaren Ufer« schlägt, wo man nicht weiß, ob und wie sie angenommen bzw. in Empfang genommen wird. 30 Gerade darauf lässt sich die asymmetrische, einseitige und vorbehaltlose Gabe ein, ohne im Geringsten auf eine Erwiderung abzusehen oder mit ihr zu rechnen. Genau das ist idealiter der Fall, wenn Andere beschenkt werden. Adorno ging so weit zu behaupten, »alle nicht entstellte Beziehung« sei in Wahrheit »ein Schenken«. 31 Dieses kann zwar wechselseitig erfolgen, aber seinem ursprünglichen Sinn nach ist es ein asymmetrisches, einseitiges Geschehen, das auf keine Gegen-Gabe spekuliert. Adornos Diktum markiert prima facie einen schroffen Gegensatz zu allen geläufigen Theorien der Anerkennung. Während diese in der Gegenseitigkeit eines erkämpften Anerkennens die Wahrheit sozialen Lebens erkennen, läuft die Apologie der einseitigen, asymmetrischen und verschenkten Gabe darauf hinaus, diese Wahrheit gerade nicht in sozialer Gegenseitigkeit zu sehen. Während Theorien der Anerkennung im Kern besagen, dass man nur im reziproken Einanderanerkennen die Wahrheit dessen erfahren kann, was oder wer man ist, besagen Theorien der einseitigen Gabe, diese Wahrheit werde gerade im einseitigen Sichgeben und Verschenken realisiert. Auf den ersten Blick schließt gegenseitige Anerkennung demnach einseitiges Geben ebenso aus wie sich letzteres einer Reziprozität widersetzt, die das Geben zu einem auf Erwiderung abzielenden Akt oder zu einer Gegen-Gabe machen muss. 32 Geben im Sinne einer einseitiMarcel Hénaff, Der Preis der Wahrheit, Frankfurt a. M. 2009, 405; ders., The Aporia of Pure Giving and the Aim of Reciprocity: On Derrida’s Given Time. In: Pheng Cheah / Suzanne Guerlac (Hg.), Derrida and the Time of the Political, Durham / London 2009, 215–234, hier 232. 31 Theodor W. Adorno, Minima Moralia, Frankfurt a. M. 1979, 47. Diesem Diktum wären zahlreiche Belege hinzuzufügen, die darauf hinauslaufen, in der Generosität den eigentlichen Sinn des Sozialen zu sehen. Vgl. Jean-Paul Sartre, Situations I, Paris 1947, 161. 32 Wie gesagt: auf den ersten Blick. Zweifellos hat gerade M. Mauss mehrfach darauf hingewiesen, wie es möglich ist, sich (zunächst einseitig) zu geben in einem gegenseitigen Austauschgeschehen, das die Erwiderung, Vergeltung oder auch Entgeltung von Gaben sogar zur Pflicht macht. Marcel Mauss, Die Gabe, Frankfurt a. M. 1984, 35 f., 145, 174. Wenn das Sichgeben an dieser Stelle nicht fragwürdig ökonomisiert gedacht werden soll, kann es nur bedeuten: sich auszuliefern (wodurch man nicht in seiner Substanz abnehmen muss, wie es den Anschein hat, wenn man das Sichgeben als eine Art Verlust eigener Habe und sogar der Selbsthabe deutet). 30
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gen Gabe würde demnach niemals im Tausch gegen Anerkennung oder um der Anerkennung willen erfolgen; und es bedarf scheinbar auch keiner Anerkennung. Letztere könnte demnach umgekehrt niemals die Form einer (einseitigen) Gabe annehmen. In Wahrheit scheint sie ja darauf angelegt zu sein, nur als gegenseitige und niemals als einfach verschenkte, sondern als unabdingbar erst zu erkämpfende wirklich werden zu können. So gesehen stehen Gabe und Anerkennung für zwei vollkommen gegensätzliche Auffassungen davon, um was es uns als sozialen Wesen zwischen uns in Wahrheit gehen muss. Entweder sind wir demnach darauf angewiesen, anerkannt zu werden und selbst anzuerkennen (wenn es sich bestätigt, dass Anerkennung in Wahrheit nur als gegenseitige möglich ist); oder wir realisieren echte bzw. nicht entstellte Beziehung nur dort, wo wir – einseitig, unberechnet, ohne Erwartung einer Gegenleistung, allein zugunsten Anderer und kampflos – etwas oder sogar uns selbst geben bzw. verschenken. Das aber impliziert umgekehrt, dass wir auf Andere als Empfänger angewiesen sind und dass wir selbst als Empfänger in Betracht kommen. Müssen diese aber nicht die ihnen zugute kommende Gabe als solche auch anerkennen? Kann es (gelungene) Gaben geben, denen die Anerkennung verwehrt bleibt, als solche gegeben und in Empfang genommen worden zu sein? Und kann umgekehrt Anerkennung je wirklich erkämpft bzw. abgenötigt werden? Bleibt sie nicht allemal Ausdruck der Freiheit des Anderen? Wird Anerkennung also nicht aus freien Stücken gewährt? Führt das nicht auf die Spur eines Gabe-Moments im Prozess der Anerkennung selbst? 33 Sollte sich diese Vermutung erhärten lassen, so wären wir dazu gezwungen, jenen schroffen ersten Gegensatz von Gabe und Anerkennung zu revidieren 34 und beide Begriffe gewissermaßen miteinander verschränkt zu denken, so dass es nicht völlig ausgeschlossen erscheint, die Gabe als Anerkennung und Anerkennung als Gabe zu begreifen, ohne den Gegensatz der Begriffe vollkommen aufzuheben.
Darauf hat schon Sartre aufmerksam gemacht (EM, 496). Genau das, meine ich, tut Hénaff wider Erwarten nicht, wo er Gabe und Anerkennung lediglich als analytisch differenzierte Typen sozialen Austauschs einander zuordnet. Vgl. Marcel Hénaff, De la philosophie à l’anthropologie. In: Esprit no. 2 (2002), 135–158; ders., Anthropologie der Gabe und Anerkennung. In: Journal Phänomenologie 31 (2009), 7–19.
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Gabe gegen Anerkennung?
2.
Gabe als Anerkennung und Anerkennung als Gabe? Parallelität, reziproke Interpretierbarkeit oder Identität
Auch wenn man zunächst an einem starken Gegensatz von (einseitiger) Gabe und (gegenseitiger) Anerkennung festhält, ist nicht zu übersehen, dass Prozesse des Gebens und des Anerkennens strukturelle Ähnlichkeiten bzw. Verwandtschaften aufweisen. Geben und Anerkennen geschieht zwischen uns; und zwar so, dass jemand jemandem (etwas) gibt und jemand jemanden anerkennt. In beiden Fällen können die Positionen und deren aktive oder passive Beteiligung in einem solchen Geschehen wechseln. Ich gebe, also kann mir gegeben werden. Ich werde anerkannt, also kann ich anerkennen. So erscheinen das Geben und das Anerkennen als aktive Formen des Handelns, der Empfang des Gegebenen und das Anerkanntwerden als Formen der Passivität. Wenn wir anerkannt werden und wenn wir Gegebenes empfangen, widerfährt uns Anerkennung respektive die Gabe. Aber wir müssen uns auch anerkennen lassen und das Empfangene annehmen. Denn weder kann Anerkennung gelingen, wenn das Anerkanntwerden nicht anerkannt wird, noch kann die Gabe gelingen, wenn sie nicht als solche in Empfang genommen und insofern anerkannt wird. So zeichnet sich eine Überkreuzung beider Begriffe ab: Der Empfang der Gabe anerkennt sie als solche; das anerkannte Anerkanntwerden kann es wie etwas Gegebenes bestätigen, das darauf angewiesen ist, dass es als solches realisiert wird. So kann die Passivität des Anerkanntwerdens in ein aktives, dieses Geschehen erst realisierendes Sichanerkennenlassen übergehen und die Passivität des Empfangs der Gabe in deren aktive, ebenfalls dieses Geschehen erst realisierende Inempfangnahme münden. Weder die Anerkennung noch auch die Gabe kann je durch einen Anerkennenden oder durch einen Gebenden allein gelingen. In beiden Fällen, so scheint es, steht das Gelingen so lange aus, wie die Anerkennung nicht in einem Sichanerkennenlassen und die Gabe nicht in deren anerkanntem Empfang kulminiert. Ob das Geben und das Anerkennen aber in diesem Sinne gelingen, kann sich nur in einem zeitlichen Prozess herausstellen, der die Anerkennung nachträglich dadurch bewahrheitet, dass ihr Adressat sein Anerkanntsein anerkennt und der Empfänger der Gabe sich als solcher realisiert. So kann niemand über das Geben und das Anerkennen souverän verfügen. Gaben und Formen der Anerkennung werden Anderen zugespielt, die sie durch ihre niemals zu Die Gabe
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erzwingende Antwort wahr machen müssen. Die Gabe, die nicht empfangen wird, läuft ebenso ins Leere wie eine Anerkennung, die nicht bewirkt, dass ihr Adressat sich anerkennen lässt. In zwischenzeitlicher Unbestimmtheit steht unweigerlich für mehr oder weniger lange Zeit dahin, ob die Gabe oder die Anerkennung in diesem Sinne gelingen werden. So entzieht sich die Zeit der Bewahrheitung der Gabe als (gelungener) Gabe und der Anerkennung als (gelungener) Anerkennung jeglicher einseitigen Beherrschung. Stets nur nachträglich werden wir wissen können, ob wir wirklich gegeben und anerkannt haben, wenn beides nicht allein von der zunächst gebenden und anerkennenden Instanz, sondern wesentlich davon abhängt, dass sie ihren Adressaten tatsächlich dazu bewegen kann, die Gabe oder die Anerkennung anzunehmen. So gesehen scheinen das Geben und das Anerkennen strukturell weitgehend ähnlich zu funktionieren: zwischen jemandem und jemand anderem, nach denen wir mit der Frage wer? fragen können; in einem Wechsel von aktiven und passiven Positionen; im Angewiesensein auf einen Adressaten, von dem her sich im Durchgang durch eine geschichtliche, mehr oder weniger lange unbestimmt bleibende Zwischenzeit nur nachträglich bewahrheiten kann, ob es zu einem Gelingen der Gabe und der Anerkennung überhaupt kommt. Diese strukturelle Verwandtschaft von Gabe und Anerkennung geht so weit, dass man daran denken könnte, den einen Begriff mit Hilfe des jeweils anderen zu rekonstruieren. 35 Wenn die Gabe, um gelingen zu können, selbst darauf angewiesen ist, als solche anerkannt zu werden, handelt es sich dann nicht im gelingenden Geben tatsächlich um eine Form der Anerkennung – wenn auch vielleicht um eine Anerkennung, die sich selbst nicht als solche erkennt, wie Ricœur vermutete (WA, 295)? 36 Zeigt sich nicht eine Form der An-
Es kann allerdings nicht ausbleiben, dass Äquivokationen ins Spiel kommen. Eine nicht auf jegliche Anerkennung verzichtende, vielmehr nach Anerkennung begehrende Gabe kann doch niemals auf eine nur zu erkämpfende Anerkennung abstellen. Und wenn umgekehrt in Anerkennungskämpfen ein Moment der Gabe festzustellen ist, so kann es sich nicht um eine erste freie Gabe handeln, die etwa eine Beziehung eröffnet. Im Geschehen der gegenseitigen Anerkennung »antwortet« die als Gabe gewährte Anerkennung ja stets schon auf einen vorgängigen Anspruch. 36 Darin muss keineswegs eine Misslichkeit bzw. ein Sichverkennen im pejorativen Sinne liegen. Denn die Praxis der Gabe erfolgt vielfach auf diskrete Art und Weise so, dass sie den Empfänger nicht beschämen muss. Zu diesem Zweck macht sie sich gleichsam unkenntlich und erfolgt inkognito, anonym oder in einer Selbstverständ35
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erkennung der Gabe als solcher im Modus eines dankbaren 37 Empfangs, der in einer »geheimnisvollen Rückerstattung« (Marcel 38) zur gebenden Instanz zurückkehrt und von dieser wiederum als Dank anerkannt zu werden begehrt? Wird umgekehrt Anerkennung, so sehr sie auch umkämpft sein mag, nicht stets aus freien Stücken gewährt? Deutet das nicht darauf hin, dass auch das gegenseitige Anerkennen wie ein Austausch von Gaben zu verstehen sein könnte, der sich aber typischerweise als solcher verkennt? Man könnte an dieser Stelle versucht sein, die strukturelle Parallelität bzw. Verwandtschaft von Prozessen des Gebens und des Anerkennens, die zu einer wechselseitigen Interpretierbarkeit von Prozessen des Gebens als Prozessen des Anerkennens (und umgekehrt) führt, bis zu einer Identitätsthese voranzutreiben, der zufolge Gabeprozesse nichts anderes sind als Anerkennungsprozesse (und umgekehrt). Dem steht auf den ersten Blick nur die Schwierigkeit entgegen, dass das Geben sich typischerweise nicht als ein Anerkennen realisiert und dass umgekehrt das Anerkennen sich kaum je auch als Geben begreift. Geben würde dessen ungeachtet, wenn wir der Identitätsthese folgen, eine Form der Anerkennung darstellen, auch wenn sich das Geben notorisch nicht so versteht und sich insofern selbst missversteht bzw. verkennt. 39 Und Anerkennen würde demnach bedeuten, zu geben, auch wenn es sich gerade nicht so versteht und sich auf diese Weise ebenfalls selbst missversteht bzw. verkennt. Doch diese Rechnung geht so einfach nicht auf, was nicht zuletzt an der kaum zu kontrollierenden Polysemie beider Begriffe liegt, die hier zur Diskussion stehen. Im Prozess der Anerkennung mag man dem Anderen Anerkennung zollen, schenken oder gewähren und insofern etwas »geben«. Aber das bedeutet keineswegs ohne weiteres, dass das Gegebene als Gabe gegeben wird. Zumal dann nicht, wenn man die Gabe als eine Art Geschenk, als Ausdruck der Großzügigkeit, lichkeit, die gerade keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen soll. Es ist ein Desiderat, diese Diskretion der Gabe zu bedenken. 37 Für Ricœur markiert die Dankbarkeit die Trennlinie zwischen der Gabe und der Welt der Waren (WA, 299). 38 Gabriel Marcel, Das grosse Erbe, Münster 1952, 24. 39 Vgl. zur Anerkennung der Gabe als Gabe WA, 287, sowie Paul Ricœur, Phénoménologie de la reconnaissance/Phänomenologie der Anerkennung. In: Stefan Orth / Peter Reifenberg (Hg.), Facettenreiche Anthropologie, Freiburg i. Br. 2004, 138–159, hier 156. Die Gabe
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der Generosität usw. deutet. An dieser Stelle gerät man unweigerlich in Konflikt mit der Tradition der vorherrschenden Anerkennungstheorien, die doch durchweg besagen, die Anerkennung müsse erkämpft werden, gerade weil sie niemals einfach »geschenkt« wird (was den Kampf überflüssig machen würde). Was auch immer im Kampf um Anerkennung wirklich »gegeben« wird, es wird diesen Theorien zufolge gerade nicht als Gabe (bzw. als Geschenk im engeren Sinne dieses Wortes) gewährt. Umgekehrt gerät auch eine Identifikation von Gabe und Anerkennung mit prominenten Theorien der Gabe in Konflikt, die auf dem absolut einseitigen Sinn eines »reinen« Gebens 40 insistieren, das angeblich nur dort gelingt, wo nichts und niemand zur gebenden Instanz zurückkehrt, auch keine Dankbarkeit oder eine die Gabe anders würdigende Erwiderung. So plausibel es demnach erscheinen mag, den zunächst sich aufdrängenden schroffen Gegensatz zwischen Gabe und Anerkennung unter Hinweis auf strukturelle Parallelen und auf eine Interpretierbarkeit von Gabeprozessen als Anerkennungsprozessen (und umgekehrt) zu unterlaufen, so wenig kann am Ende eine Identifikation von Gabe und Anerkennung überzeugen. Aussichtsreicher, scheint mir, ist ein chiasmatisches Verfahren, in dem man von spezifischen Formen der Gabe aus zu zeigen unternimmt, wie sie ein Moment der Anerkennung ins Spiel bringen; und umgekehrt würde ein solches Verfahren von spezifischen Formen der Anerkennung ausgehend zeigen, wie sie auf Spuren eines Geschehens des Gebens führen. Ein solches Verfahren verspricht funktionale Parallelen, eine gewisse innere Verwandtschaft von Prozessen des Gebens und des Anerkennens wie auch eine gegenseitige Reinterpretierbarkeit dieser Prozesse durch jene plausibel zu machen, nicht aber die Erwartung einer Identität von Gabe und Anerkennung einzulösen. Im Folgenden skizziere ich die Aussichten eines solchen Verfahrens auf zwei zunächst entgegen gesetzten, sich dann aber kreuzenden Wegen: von der Anerkennung aus zur Gabe und von der Gabe aus zur Anerkennung. Worin diese Wege sich treffen, markiert nicht etwa eine grundlegende Übereinstimmung, sondern einen tief greifenden Dissens in der Frage, wie wir Menschen ursprünglich zueinander stehen: entDieser Begriff der reinen Gabe taucht m. W. zuerst bei Bronislaw Malinowski auf, um dann bei Derrida zum vorherrschenden Maß des Gebens überhaupt zu avancieren. Jacques Derrida, Falschgeld. Zeit geben I, München 1993, 188 f.
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weder als Wesen, die sich (wie es Hegel lehrte) unvermeidlich verletzen müssen und nur im Kampf gegeneinander beweisen können, dass sie existieren und wer sie sind (JR, 322), oder als Wesen, die kampflos zur Welt kommen und nur auf diese Weise in ihr aufgenommen werden können. Steht hier die Gabe (des neugeborenen Lebens, der Verantwortung für es und seiner Aufnahme im Modus der Fürsorge) am Anfang, so insistieren die Apologeten des Kampfes auf der Unumgänglichkeit der Gewalt, die Einzelne unvermeidlich gegeneinander heraufbeschwören, seitdem es die menschliche Gattung gibt. Während die Gabe vor aller Gewalt bereits einen Horizont kampflosen Friedens zu eröffnen scheint, steht die Anerkennung dafür, wie man ihn möglicherweise zurückgewinnen kann, nachdem dieser Horizont durch unumgängliche gegenseitige Auseinandersetzungen bis hin zu Streit, Kampf und Krieg verdunkelt worden ist. In dieser Perspektive liegt es nahe, zunächst den Weg von der Gabe zur Anerkennung einzuschlagen, um dann zu sehen, wie sich von letzterer aus gewissermaßen ein Rückweg zur Gabe finden lässt.
3.
Von der Gabe zur Anerkennung
Bevor Hegel seine Theorie der Anerkennung entfaltet hat, die heute überwiegend als eine Theorie des Kampfs um Anerkennung ausgelegt wird 41, hatte er am Leitfaden der Ontogenese ein ganz anderes Paradigma der Anerkennung vor Augen: die Liebe – sowohl die Liebe zwischen den Eltern als auch die Liebe zu den Kindern, in der das radikalste Beispiel einer zunächst absolut einseitigen Gabe zu erkennen ist. 42 Sie gilt einem künftigen Kind, ohne Vorbedingungen geltend zu machen, und so, dass sie dessen eigenes, individuelles Leben Vgl. Jean Hyppolite, Études sur Marx et Hegel, Paris 1965, 182 f.; Alexandre Kojève, Hegel, Frankfurt a. M. 1975, 202–210; Charles Taylor, Hegel, Frankfurt a. M. 1978, 208 f.; Axel Honneth, Kampf um Anerkennung, Frankfurt a. M. 1994, 103 f. (= KA). 42 Vielleicht sollte man hier vorsichtiger von einem Moment absolut einseitiger Gabe sprechen, denn es ist nicht zu bezweifeln, dass sie Teil eines komplexeren generativen Verhältnisses ist, das nicht im Ganzen als grundlos, nicht motiviert und interesselos gelten kann (wie es bspw. Sartre von einer wirklichen Gabe verlangt, die ihren Namen verdient; EM, 645). Das aber bedeutet, dass auch die reinste Gabe im generativen Verhältnis in die Gefahr geraten muss, geradezu zu knechten (ebd., 648) und durch eine Ökonomie verzerrt zu werden. Im Übrigen verstehe ich das generative Verhältnis hier nur als ein hervorragendes (aber keineswegs einziges) Beispiel einseitiger Gabe. 41
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als das Leben eines bzw. einer Anderen bejaht, ohne ihm vorzugreifen. 43 Die Empfänger einer solchen Gabe existieren zeitversetzt; sie »kommen nach« den Anderen, denen sie ihr Leben (in einem vieldeutigen Sinne) zu verdanken haben. 44 Das aber bedeutet, dass sie sich lange Zeit überhaupt nicht als Empfänger einer Gabe begreifen können, die in keiner Weise auf Dank berechnet ist (bzw. sein muss), sondern sie für eine vom Tod skandierte Zeit freigibt, in der nichts mehr zur gebenden Instanz zurückkehren kann. Dieses einseitige Geben stiftet und instituiert die Subjektivität derer, denen es zugute kommt. Es lässt diese zur Welt kommen, affirmiert und bejaht deren Dasein so, dass die Nachkommen niemals mehr um ihr Dasein oder ihr Recht, da zu sein (d. h. auch: im Leben der Anderen aufgenommen zu werden und an ihm teilzuhaben), kämpfen müssen. So gewährt bzw. gibt die Aufnahme unter die Lebenden überhaupt erst Lebensmöglichkeiten, deren Eröffnung gar nicht erkämpft werden kann. Wem sie verwehrt werden, kann ein eigenes Leben nicht einmal beginnen. Selbstverständlich verstrickt sich auch eine im Zeichen unbedingter Liebe erfolgende Aufnahme unter die Lebenden in verwickelte Schicksale ihrer späteren Aufrechterhaltung – nicht zuletzt durch eine nicht unerschöpfliche Geduld, die als Ausdruck dieser Liebe eigentlich endlos bzw. unendlich sein sollte. Doch fundiert sie idealiter als eine einseitige Vorgabe im Geist friedlicher Aufnahme unter die Lebenden die Existenz der Nachkommen, ohne sie je zu einer GegenGabe zu nötigen. Für die ihnen erwiesene Liebe sind sie buchstäblich nichts, niemals und niemandem etwas schuldig. 45 Insofern kann man Zumindest ohne in fremdbestimmter Art und Weise seiner späteren Selbstbestimmung vorzugreifen. Vgl. Burkhard Liebsch, Leben im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit? In: Ulrike Kadi, Gerhard Unterthurner (Hg.), sinn macht unbewusstes, Würzburg 2005, 230–264. 44 Vgl. Tatjana Shchyttsova (Hg.), In statu nascendi, Nordhausen 2012. In dieses »verdanken« sollte man keine fragwürdige Emphase hineindeuten. Schließlich kann es auch Gründe für eine »Abrechnung« geben, wie sie der Sohn des Nazi-»Generalgouverneurs« Hans Frank vorgelegt hat (Niklas Frank, Der Vater. Eine Abrechnung, München 2001). 45 Ricœur spricht in diesem Zusammenhang allerdings von der Liebe als erstem Modell wechselseitiger Anerkennung; WA, 223. Sartre behauptet weitergehend, »die Gabe setzt Gegenseitigkeit der Anerkennung voraus. Doch diese Gegenseitigkeit ist nicht die Gegenseitigkeit von Gaben« (EM, 646). Zweifellos müsste man Momente der ein-, wechsel- und gegenseitigen Anerkennung zusammen denken, um der hier beispielhaft ins Spiel gebrachten Generativität wirklich gerecht zu werden. Schon 43
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in dieser Liebe eine »erste Gabe« erkennen, die jegliche Äquivalenzregel suspendiert und allenfalls noch eine »zweite erste Gabe« 46, niemals aber eine Rückgabe nach sich ziehen kann, die die erste Gabe aufzuheben oder gar zu annullieren vermöchte. Mit Ricœur kann man annehmen, dass diese »agapistische« Liebe »nur ein Begehren [hat]: zu geben«, und dass sie keinen Vergleich, kein Kalkül und keinen Preis kennt. Jeder, der in diesem Sinne gibt, ist in der »Welt des Kalküls und des Gleichgewichts verloren«. »Da er zur Rechtfertigung nicht imstande ist; weil er die Verpflichtung zur Gegengabe nicht kennt und nichts im Gegenzug erwartet« (WA, 280 f.), begnügt er bzw. sie sich damit, einseitig, vorbehaltlos, unbedingt und zugunsten Anderer und ihrer Zeit zu geben. Ricœur erinnert daran, dass Dostojewski denjenigen, der in einem solchen, scheinbar unschuldigen Sinne gibt, als Idioten beschrieben hat. Demnach wären in erster Instanz die Eltern die »Idioten der Familie« – was nicht ausschließt, dass auch Töchter und Söhne als solche erscheinen oder sich so fühlen können. (Man denke nur an Sartres Flaubert-Biografie. 47) Man sieht, wie sich hier fragwürdige Idealisierungen aufdrängen: Kann die Liebe wirklich als »unschuldig« gelten, wenn sie sterbliches Leben nach sich gezogen hat? Darf sie wirklich »ohne Aufmerksamkeit für sich selbst« sein, wenn sie Anderen zugute kommen soll? Kann oder sollte »das überströmende Herz auf seiten der Agape […] die Empfindung von Entbehrung« ausschließen (WA, 276 f.)? 48 Wird so nicht eine wirklichkeitsfremde und geradezu rücksichtslose Überwältigung durch Liebe beschrieben, nicht aber eine Gabe, die ihr Maß an ihren Empfängern haben müsste? 49 Muss sich Hegel wusste, dass sich im Kind die Liebe der Eltern manifestiert (JR, 225; Phänomenologie des Geistes, Frankfurt a. M. 41980, Kap. BB, VI, A, a). 46 Mit Recht, meine ich, kann gegen Mauss und Derrida gezeigt werden, dass ein Geben möglich ist, das nicht allein schon durch seine Annahme und Erwiderung zwangsläufig annulliert (und in diesem Sinne »vergolten«) wird. In diesem Verständnis spricht Ricœur auch von einer »zweiten ersten Gabe« (WA, 301; Ricœur, Phénoménologie de la reconnaissance, 158, sowie demgegenüber Sartre, EM, 648). 47 Allerdings hält sich Sartre an die Etymologie des Idiotischen (als idiotes galt in der griechischen Antike eine Person, die nicht öffentlich lebt), ohne daran zu denken, dass es darin liegen könnte, sich zu geben, zu verschwenden … Jean-Paul Sartre, Der Idiot der Familie, Reinbek 1977. 48 Vgl. Paul Ricœur, Geschichte und Wahrheit, München 1974, 240. 49 Vgl. Burkhard Liebsch, Zum Dank – oder nicht? In: Journal für Religionsphilosophie 2 (2013), 26–40. Die Gabe
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die Gabe nicht in der Tat als ein zuvorkommendes Zugehen auf Andere erweisen, die uns niemals einfach »nahe stehen«, deren Nähe vielmehr erst in einem sensibel an sie adressierten Verhalten zum Vorschein kommt (vgl. WA, 278, 288)? Was auch immer genau gegeben wird im Modus der Liebe, wenn nicht das Leben selbst (donum vitae), das eigene Selbst derer, die angeblich in der Gabe sich geben 50, oder wenigstens das Versprechen der Fürsorge 51 – am Beginn des Lebens steht – dem Sinn nach 52 – eine Gabe, die nicht nach dem Vorbild gegenseitiger, sondern nur radikal einseitiger Anerkennung des Anderen in seiner unberechenbaren und mit nichts zu verrechnenden Alterität begriffen werden kann. Aber es wäre weltfremd, zu glauben, die Gabe der Liebe, des eigenen Lebens oder jenes Versprechens könnte es vermeiden, in gegenseitige soziale Beziehungen einzugehen, die sich in der Familie und jenseits der Familie nach und nach ausbilden, bis sich Gleiche gegenüberstehen, die sich in mannigfaltigen Formen der Auseinandersetzung voneinander als individuelle und singuläre Wesen unterscheiden, sei es in Praktiken des freiwilligen, generösen und einseitigen Gebens, sei es in Formen aufgezwungenen, mit Anerkennung geizenden und gegenseitigen Kampfes. Unter dessen Vorherrschaft droht sich die Spur der Alterität der Anderen, denen die Gabe ursprünglich gilt, zu verlieren. 53 Die ursprüngliche, am Beginn des Lebens stehende Gabe gewährt eine unbedingte, vorbehaltlose Anerkennung eines künftigen, in seiner Alterität nicht absehbaren Selbst, so dass hier kein GegenEsposito, Communitas, 13, 186. Dem man genauer nachgehen müsste. Schließt es etwa nur ein, überhaupt für jemanden (noch fremden) zu sorgen? Basiert es als solches nicht auf einer unbedingten Aufnahme eines Fremden, als wer auch immer dieser sich »herausstellen« wird, und allen absehbaren und unabsehbaren Widrigkeiten zum Trotz? Handelt es sich um ein im Sinne Derridas übermäßiges Versprechen, das dennoch gehalten werden muss? 52 Tatsächlich besinnen wir uns auf diesen Sinn vielfach aber erst nachträglich, nachdem wir uns in Beziehungen verstrickt haben, die mehr oder weniger weit von ihm abweichen oder ihn gar verraten. Dann führt nur ein negativistischer Ausgangspunkt zur Rückfrage nach jenem Sinn und zwingt dazu, verfehlte Beziehungen daraufhin zu befragen, ob sie nicht ihren ursprünglichen Sinn verraten haben. So gesehen handelt es sich paradoxerweise um eine nachträgliche Ursprünglichkeit – und nicht um einen »authentisch« von Anfang an unmittelbar einsehbaren Sinn. 53 Demgegenüber erkennt Ricœur den »Höhepunkt der Alterität« erst in der Wechselseitigkeit; WA, 311; vgl. Paul Ricœur, Anders. Eine Lektüre von Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht von Emmanuel Levinas, Wien, Berlin 2015. 50 51
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satz zwischen Gabe und Anerkennung vorzuliegen scheint. Vielmehr begegnet die Gabe ihrem Sinn nach geradezu als eine Form höchster, einseitiger Anerkennung, die ihrerseits nicht »gegen Anerkennung« oder im Tausch für irgend etwas anderes erfolgt. Insofern hat sie radikal an-ökonomischen Charakter und lässt sich in keinem sozialen Austausch und in keiner Form der Gegenseitigkeit aufheben. Als ursprünglichste Form der Anerkennung kann diese Gabe zwar überhaupt nicht erkämpft werden; gleichwohl muss sie damit rechnen, sich später in gegenseitigen Beziehungen bewähren zu müssen, die sie geradezu zum Verschwinden bringen können, wenn sich Individuen gegenüber stehen, die in ihrer Selbständigkeit nichts mehr dem Anderen zu schulden scheinen und gegeneinander einen Kampf um Formen der Anerkennung aufnehmen, die gerade nicht mehr, wie jene erste Gabe, vorbehaltlos, bedingungslos und unwiderruflich möglich sind. Das gilt zweifellos für den modernen Markt, der auch ein Markt der sozialen Anerkennung oder Achtung ist (Luhmann), auf dem der »Preis« bzw. der relative Wert (Kant) des eigenen Selbst, des Ansehens und der Macht auf dem Spiel steht 54, wie es schon Hobbes beschrieben hat. 55 Dass man sich weitgehend an einem solchen Marktmodell orientiert hat, hatte zur Folge, dass sich jegliche Spur der Gabe und jedes an-ökonomischen einseitigen Gebens in diesem Markt verloren hat (WA, 289); und zwar so durchgreifend, dass selbst Marcel Mauss, der sie bekanntlich wiederentdeckt zu haben meinte, der Vorwurf nicht erspart blieb, sie vollkommen zu verkennen. Statt aber die zweifelhafte Berechtigung dieses vor allem von Derrida gegen Mauss erhobenen Vorwurfs 56 noch einmal zu untersuchen, möchte ich nun den Weg von der Anerkennung zur Gabe einschlagen, um zu sehen, ob er sich mit dem Weg von der Gabe zur Anerkennung kreuzt.
4.
Von der Anerkennung (zurück) zur Gabe
Zweifellos ist das Begehren nach Anerkennung unter anderen Titeln, als thymotisches Streben nach Auszeichnung und Ruhm, als nach reputation verlangendes desire oder als Bewusstsein der Ehre, das deren 54 55 56
Niklas Luhmann, Soziale Systeme, Frankfurt a. M. 21985. Hobbes, Leviathan, 67. Mauss, Die Gabe, 172 ff.; Derrida, Falschgeld, 37.
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Verletzung nicht dulden will, längst bekannt 57, bevor ihm Hobbes und Hegel eine ganz neue, radikale Wendung geben: Hobbes durch eine rückhaltlose Ökonomisierung der Anerkennung auf dem Markt sozialen Ansehens und politischer Macht, Hegel durch den Befund, im Gegensatz zu derart äußerlicher Anerkennung müsse es uns in Wahrheit auf ein nur in gegenseitiger Anerkennung zu bewährendes Selbstsein ankommen, das keine andere Stütze mehr zu haben scheint. Dass wir unser Leben bedingungslos auf einem sozialen Markt der Achtung und der Anerkennung zu bewähren haben, auf dem es rückhaltlos auf dem Spiel steht, so als ob man ihm ursprünglich überhaupt nichts schuldig sei und als ob es daraus keinen Ausweg gäbe, gilt von Hobbes über Marx bis hin zu Luhmann als ausgemacht. Auf dem Markt treten Individuen einander gegenüber, die vor allem Ansprüche gegeneinander haben und geltend machen. In einem komparativen und kompetitiven Leben müssen sie ständig darum kämpfen, sich mit ihren Ansprüchen gegen Andere durchzusetzen, wollen sie nicht zurückfallen und am Ende ihr soziales Leben und ihre Macht, durch die sie es allein sichern können, selbst aufs Spiel setzen. In diesem Existenzkampf schenken sie sich nichts und geben nur, wofür sie berechtigterweise einen Ausgleich und wenn möglich mehr erwarten können. 58 Demnach müssen wir auf Gedeih und Verderb sozial vermarktete und sich vermarktende Wesen sein. Wer nicht kämpft, hat schon verloren. So erscheint es kaum mehr denkbar, dass man vom Kampf um Anerkennung auch ablassen oder sich gar nicht erst für ihn interessieren könnte. In seiner Auseinandersetzung mit Hobbes setzt Hegel zwar nicht den Akzent auf die Vorteile des Anerkanntseins, sondern auf dessen Wahrheit, aber in diesem Punkt scheinen beide sich einig zu sein. Hegels Theorie zufolge muss jedes geistige Wesen unbedingt nach Anerkennung begehren, weil es nur als anerkanntes wirklich existieren kann. Auf Anerkennung zu verzichten, würde demnach bedeuten, geistigen Selbstmord zu begehen. 59 Und das Verlangen nach Anerkennung muss uns derart geradezu ausmachen, dass wir Hannah Arendt, Vita activa, München, Zürich 41985, 24; Francis Fukuyama, Das Ende der Geschichte, München 1992, Teil III; Honneth, KA, 199; Ludgera Vogt, Zur Logik der Ehre in der Gegenwartsgesellschaft, Frankfurt a. M. 1997. 58 Vgl. Hobbes, Leviathan, 76; Starobinski, Gute Gaben, 46. 59 Auch hier knüpfe ich an diese bekannten Thesen lediglich in rekonstruktiver Absicht an, ohne sie einfach zu affirmieren. 57
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unser Leben dafür einzusetzen bereit sind, das, solange es nicht tatsächlich anerkannt ist, nur unter Vorbehalt überhaupt Anspruch darauf hat, »Leben« genannt zu werden. Demnach hängt das Leben wie auch der Tod, den man für die eigene Anerkennung riskieren muss, radikal von Anderen ab, die sich ihrerseits in die gleiche Situation gestellt sehen, aber erst durch ihren Kampf miteinander (im Modus des Gegeneinander) zu der Einsicht gelangen müssen, die niemand von Anfang an haben kann: dass nur in der gegenseitigen Anerkennung, in der im Idealfall jeder das Anerkennen jedes Anderen realisiert und seinerseits anerkennt, menschliches Leben die ihm in Wahrheit angemessene Form finden kann. Zwar skizziert Hegel durchaus Bedingungen, unter denen man sich tatsächlich anerkannt finden mag (bspw. im Rechtsstaat 60), aber er weckt doch nagende Zweifel daran, ob und wie der Kampf um Anerkennung je zur Ruhe kommen kann. Verliert sich, fragt Ricœur deshalb, der Kampf um Anerkennung nicht in einem unglücklichen Bewusstsein, weil keine Klarheit darüber herrscht, worauf er letztlich hinaus will und was er wirklich erreichen kann (WA, 196)? Durch diese Überlegung gelangt Ricœur von der vermuteten »Unabschließbarkeit des Kampfes um Anerkennung zur Gabe« zurück (WA, 320). Verspricht etwa der Kampf um Anerkennung, was er niemals halten kann? Vereitelt gerade der Kampf, den wir unablässig führen, dass wir je erreichen, wozu wir Andere bewegen wollen? Und was wäre das letztlich? Wer sind überhaupt diese Anderen? Diejenigen, die uns nahe stehen, Mitbürger, Zeitgenossen oder alle Anderen im Horizont einer Welt-Bürgergesellschaft? Steht die rückhaltlose Anerkennung als Anderer bestenfalls am Anfang unseres Lebens, so folgen ihr im vergesellschafteten Leben doch nur noch höchst eingeschränkte, bedingte und nicht selten befristete Formen der Anerkennung für etwas (eine Leistung, Zugehörigkeit oder Mitgliedschaft mit all ihren nicht selten lächerlichen und hochtrabenden Auszeichnungen). 61 Im rechtsstaatlich formierten Leben schließlich wird Hegel, JR, 227 f., 233 f., 327. In der Regel spricht man in diesem Zusammenhang eher von Wertschätzung, die, im Gegensatz zur Erfahrung ursprünglicher Anerkennung im Geliebtwerden, ihren ökonomischen Charakter sprachlich ohne weiteres zu erkennen gibt. In Das Selbst als ein Anderer (München 1996) sah Ricœur noch im engen Zusammenhang von Wertund Selbstschätzung den entscheidenden Anstoß, durch den sich eine ursprünglich dyadische Anerkennung für plurale, gesellschaftliche Anerkennungsverhältnisse öffnen muss (ebd., 358).
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das Recht der Person anerkannt, aber individuelle Anerkennung gewährleistet es kaum je. Diese bleibt kontingenten, eher seltenen, exklusiven und mehr oder weniger prekären Beziehungen vorbehalten, ohne jemals die Frage des Anerkanntseins abschließend zu beantworten. Theorien der Anerkennung betonen mit Recht das Moment des Kampfes um Anerkennung, wo sie an negative Erfahrungen der Missachtung und der Ungerechtigkeit anknüpfen, die begründete Empörung hervorrufen und danach verlangen lassen, dass die in diesen Erfahrungen liegende Verletzung als solche anerkannt wird, damit für Abhilfe gesorgt werden kann. 62 Phänomenologisch ist das erste, wovon die Theorie der Anerkennung ausgehen muss, in der Tat die Verweigerung von Anerkennung seitens Anderer, die Anlass dazu gibt, sie einzuklagen. 63 Auf einem ganz anderen Blatt aber steht, ob das Leben der Einzelnen selbst, ja sogar ganzer Gruppen, Klassen und Kulturen insgesamt und durchgängig ein Kampf um Anerkennung sein muss und worauf dieser hinaus will. Ricœur zeigt sich speziell in diesem Punkt ratlos und schlägt deshalb vor, sich auf die Gabe zurückzubesinnen, nicht um sie utopisch gegen »den« Markt bzw. gegen »den« Kapitalismus in Stellung zu bringen oder um ökonomische Beziehungen durch Praktiken des Gebens zu ersetzen, sondern um vom ständigen Zwang, um Anerkennung kämpfen zu müssen, wenigstens zu entlasten. Explizit wird von Praktiken des Gebens nur eine »Aussetzung des Streits« erwartet (WA, 305). Prima facie geht es in der Auseinandersetzung, die Ricœur in diesem Sinne mit Honneth führt, wirklich nur darum. Tatsächlich importiert Ricœur aber in die Anerkennungstheorie implizit ihr bis heute weitgehend fremd gebliebene Momente (a-e). (a) Bei Honneth gilt die primäre Anerkennung im Modus der Liebe zunächst nur im Sinne einer »natürlichen Sittlichkeit« einem »emotional bedürftigen Wesen« bzw. einem natürlichen, ungebildeten Selbst (KA, 33 f., 64), dessen Individualität erst jenseits der familialen Liebe und des Rechts in einer gesellschaftlichen Solidarität (als der dritten Stufe des dialektischen Anerkennungsmodells) zum Tragen kommen soll. Wie verträgt sich aber WA, 239, 250 f., 258; KA, 39, 245, 259. Das bedeutet freilich nicht, dass umgekehrt jene negativen Erfahrungen immer die Bedeutung von Missachtung (und insofern verweigerter Anerkennung) haben. Für die Verachtung bspw. trifft das gewiss nicht zu. Vgl. Alfred Schäfer / Christiane Thompson (Hg.), Anerkennung, Paderborn, 2010.
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die Rede von einem solchen Selbst in der Semantik der »Totalität« mit einem starken Begriff der Alterität, die bei Ricœur schließlich auf die Spur einer unaufhebbaren Fremdheit führt? Denkt Honneth bei jener natürlichen Sittlichkeit nur an sog. »Blutsverwandte«? Dem steht gegenüber, dass Ricœur annimmt, jede willkommene Geburt sei im Grunde eine Adoption. D. h. das Entscheidende ist nicht die natürliche Verwandtschaft, sondern die unbedingte (gastliche) Aufnahme des Anderen wie eines ursprünglich Fremden (vgl. WA, 242, 313). (b) Im Verhältnis von »Interaktionspartnern« herrscht lt. Honneth ein Zwang zur Reziprozität (KA, 64), der sich mit einem asymmetrischen Verhältnis einer als Gabe zu begreifenden primären Anerkennung nicht ohne weiteres kurzschließen lässt. Was Honneth »starken Intersubjektivismus« nennt, kommt offenbar ohne befremdliche Alterität und ohne eine in der Reziprozität nicht aufhebbare Asymmetrie aus, wie sie in der einseitigen Gabe liegt. 64 (c) Dessen ungeachtet sollen verschiedene Anerkennungsformen (Liebe, Recht, Solidarität; KA, 35, 45, 146) quasi entwicklungslogisch auseinander hervorgehen. Vorbild ist offenbar wie bei Habermas das Piagetsche Modell der Dezentrierung (KA, 51), das bei Honneth nun für eine »Entwicklung« steht, in der ein ständiger Zuwachs an Vergesellschaftung, Individuierung und Autonomie zu bemerken sein soll (KA, 51, 269). Kommen aber nicht auch Gegenläufigkeiten in Betracht, die Zweifel wecken müssen an einem solchen, offenbar nicht in sich ambivalenten Fortschrittsdenken? (d) Am Ende steht demnach idealiter ein rundherum anerkanntes Wesen, das im Modus der Liebe seine Begierden (KA, 73), im Modus des Rechts seine berechtigten Bedürfnisansprüche (KA, 85) und im Modus der vollends individuierten Vergesellschaftung sein Begehren befriedigt findet, ein im Allgemeinen aufgehobenes Besonderes zu sein (KA, 95, 129). So scheint die Anerkennung von keinem Verkennen oder Verfehlen belastet, das diese Zielperspektive in Frage stellen könnte. 65 (e) Regen sich gewisse »Impulse«, die darauf angelegt seien sollen, sich von anderen zu unterscheiden (KA, 139), erst auf dieser (dritten) Stufe? Gilt die primäre Anerkennung nicht von Anfang an einem künftigen, Vgl. KA, 53; Burkhard Liebsch: Rez. v. A. Honneth, Verdinglichung, Frankfurt a. M. 2005. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 61/3 (2007), 393–397. 65 KA, 210; vgl. Judith Butler, Die Macht der Geschlechterordnungen und die Grenzen des Menschlichen, Frankfurt a. M. 2009, 219; Burkhard Liebsch, Verfehlte Anerkennung. In: Burkhard Liebsch / Andreas Hetzel / Hans R. Sepp (Hg.), Profile negativistischer Sozialphilosophie, Berlin 2011, 289–308; Alain Ehrenburg, Das Unbehagen in der Gesellschaft, Berlin 2012, 390 ff., wo verlangt wird, das Begehren nach Anerkennung zu entmystifizieren und es bes. von fragwürdigen Idealisierungen eines ungetrübten Selbstseins zu lösen. 64
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individuellen, aber nicht nur »besonderen«, sondern singulären Wesen, das als solches in überhaupt keiner sozialen Integrationsform bruchlos aufgehen kann? In diesem, von Ricœur mit Blick auf Levinas nahe gelegten Sinn von Anerkennung geht es nicht allein um das Hegelsche »Selbstsein in einem Fremden«, sondern als eines Fremden (vgl. KA, 154; WA, 237), in dessen Fremdheit Levinas eine Freiheit erkannte, die in keiner dem antiken »Ethos« nachzubildenden Sittlichkeit aufhebbar zu werden verspricht (KA, 275). Aus den genannten Punkten (a-e) ergeben sich Theorieprobleme, die auch Ricœurs Versuch betreffen, das Modell eines mit Mitteln symbolischer Gewalt und ständig umwillen eigener Identität ausgetragenen Kampfs um Anerkennung (KA, 139, 205; WA, 42, 310) durch eine friedlichere, agapistisch inspirierte Vorstellung guten Zusammenlebens zu ergänzen. 66
Ricœur führt »die tatsächliche Erfahrung des Gabentauschs als eine Art Waffenruhe in den endlosen Konflikten« und als »bevorzugte Gestalt der Friedenszustände« an (WA, 320), die noch etwas von jenem Geist der Agape ahnen lassen sollen, der uns in der ursprünglichen Aufnahme unter die Lebenden gestreift haben mag. So wird nicht im Kampf um Anerkennung nach Spuren der Gabe gesucht; wohl aber wird diese als ein Mittel der Befreiung gegen verkrampfte Kämpfe ins Feld geführt, die keine Aussicht darauf zu eröffnen scheinen, wie sie je enden können, und sogar in dem Verdacht stehen, Anderen abnötigen zu wollen, was in Wahrheit niemals zu erzwingen ist. Noch enttäuschender ist der Verdacht, zur Anerkennung würde es niemals kommen, wenn sie nicht erkämpft würde. An dieser Stelle bricht erneut ein scharfer Gegensatz zwischen Gabe und Anerkennung auf. Wenn Anerkennung nur (und zwar ständig) zu erkämpfen ist, wird sie insofern niemals gewährt; schon gar nicht als Gabe. Wenn umgekehrt das Geben auf ein einseitiges Gewähren oder Schenken hinausläuft, kann es niemals Folge oder Ausdruck eines sozialen Kampfes sein. Und wenn die Gabe nicht des Kampfes und der Gewalt bedarf, um Frieden zu stiften, muss sie sich einer polemogenen Koexistenz widersetzen, in der wir angeblich unser Leben aufs Spiel setzen müssen, um von Anderen eine schließlich wieder befriedende Anerkennung zu erreichen, die uns niemals kampf- und gewaltlos gewährt worden wäre. Doch wäre es schlechte Vgl. Burkhard Liebsch, Rez. v. Paul Ricœur, Wege der Anerkennung, Frankfurt a. M. 2006; ders., Vom Text zur Person, Hamburg 2005. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 60 (2006), Nr. 4, 609–615, sowie die Beiträge zur Anerkennung in Brigitta Keintzel / Burkhard Liebsch (Hg.), Hegel und Levinas, Freiburg i. Br. 2010.
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Utopie, von der Gabe, die in der unbedingten, womöglich von Liebe getragenen Aufnahme unter die Lebenden liegt, eine Anerkennung zu erwarten, die uns jeglichen Kampf um Anerkennung ersparen könnte. 67 Man mag in dieser Aufnahme eine vorbehaltlose Anerkennung künftiger Anderer sehen, die deren Dasein rückhaltlos bejaht, ohne Bedingungen zu stellen, doch verstrickt das spätere Leben unweigerlich in Bedingungen, die zu erfüllen sind, bevor jemandem Anerkennung für etwas (und womöglich nur widerstrebend, bis auf Weiteres oder auf Bewährung) gewährt wird. Diese bedingte Anerkennung wird niemals mehr für eine mangelhaft gewährte primäre, unbedingte und möglichst uneingeschränkt gewährte Anerkennung als singuläres Wesen entschädigen. Doch gerade ein solcher Mangel mag erklären, warum man sich auf einen Kampf um Anerkennung fixiert, der im Verdacht steht, niemals zum Ziel eines umfassenden Anerkanntseins zu gelangen und in der vorübergehend erreichten Anerkennung immer wieder das Verlangen nach erneuter Anerkennung aufkeimen zu lassen. 68 Während die primäre Anerkennung jeder, der zur Welt kommt, verdient, ohne sie sich eigens verdienen zu müssen, schiebt die sekundäre, bedingte Anerkennung das verdiente Anerkanntsein immer wieder und scheinbar endlos hinaus, ohne je versprechen zu können, die Verletzung und Gewalt aufheben zu könVgl. Paul Ricœur, Hegel aujourd’hui. In: Études théologiques et religieuses 49/3 (1974), 335–355, hier 347, wo Ricœur wie schon in seinem Freud-Buch (Die Interpretation, Frankfurt a. M. 1974) in psychoanalytischer Perspektive auf intergenerationelle Machtasymmetrien hinweist, die die Frage aufwerfen, wie man ausgehend von einer vertikalen Nicht-Gegenseitigkeit eine horizontale Reziprozität zwischen Gleichen erreichen kann, deren Willen kollidieren. Dieses Hegelsche Problem verfehlt zu haben, bemängelt der Autor (ebd., 348 f.) an seinem Frühwerk Le Volontaire et l’involontaire, Paris 1950. Analog, aber ohne direkte ontogenetische Parallele, wie sie Ricœur in jenem Text vor Augen hat, deutet er mit Blick auf Levinas die ursprüngliche Asymmetrie des Von-Angesicht-zu-Angesicht (in der die Gabe der Verantwortung für den Anderen liegen soll) so, dass sie durch eine »Gegenbewegung der Anerkennung« in einer sekundären Symmetrie »kompensiert« werden kann (Das Selbst als ein Anderer, 230 f.). 68 Wohl deshalb charakterisiert T. Todorov das Verlangen nach Anerkennung als unersättliches (Abenteuer des Zusammenlebens, Frankfurt a. M. 1998, 74 f., 96 ff.). Und er macht darauf aufmerksam, wie leicht es in pathologische Formen umschlägt, in denen auf verfehlte Weise nach Anerkennung gesucht wird. Das lassen vorherrschende Theorien der Anerkennung ihrerseits leicht verkennen, wenn sie die primäre und die sekundäre Anerkennung unter den gleichen Begriff fassen und damit einer Verwechselung asymmetrischer, überhaupt nicht zu erkämpfender und gegenseitiger Anerkennung Vorschub leisten. 67
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nen, die nach Hegel unvermeidlich in der negativen Erfahrung des Nichtanerkanntwerdens liegt. Deshalb, scheint mir, wendet sich auch Ricœur – nachdem er gegen Hegel und alle, die ihm bis heute folgen, die skeptische Frage gerichtet hatte, wann ein Individuum sich je wirklich anerkannt fühlen darf und ob das Verlangen nach Anerkennung »nicht unendlich« im Sinne der schlechten Unendlichkeit sein muss (WA, 272, 305) – wieder Theorien der Gabe zu und liebäugelt mit der Vorstellung einer kampflosen Wechselseitigkeit, in der Gaben auf Gaben folgen könnten, ohne dass sie sich je als Gegen-Gaben gegenseitig annullieren müssten. Die Pointe dieser Wendung liegt aber weniger darin, einen friedlichen Gabentausch in Betracht zu ziehen, nachdem der Kampf um Anerkennung sich erschöpft hat oder ziellos geworden ist. Und sie liegt auch nicht darin, dem ein- und wechselseitigen Geben nur eine kompensatorische Funktion zuzuschreiben, die bewirken könnte, dass der soziale Kampf, in dem einem buchstäblich »nichts geschenkt« wird, wenigstens vorübergehend aufhört. Die Pointe liegt vielmehr darin, den Sinn und die Notwendigkeit des Kampfes auf allen Ebenen in Frage zu stellen. 69 Und zwar eingedenk der Einsicht, dass wir ursprünglich nicht als Kämpfende, als Gegner oder sogar als potenzielle Feinde (wie es sich Hobbes vorgestellt hat), sondern selbst als Gaben und als Empfänger von Gaben zur Welt kommen, ohne davon ursprünglich zu wissen. Stets finden wir uns als »schon geboren« und »noch lebend« vor in einer geschichtlichen Zwischenzeit, die uns immer schon in Anerkennungskämpfe verstrickt hat, bevor wir jene primäre (wie mangelhaft im konkreten Fall auch immer realisierte) Anerkennungs-Gabe wiederentdecken können, die uns passiv ausmacht und die wir als »kompetente«, befähigte Teilnehmer am sozialen und politischen Leben, das unser Tun-Können herausfordert, notorisch vergessen. So steht keineswegs die Passivität gegebenen und gebenden Lebens am Anfang unserer Erfahrung, sondern die Krise erschöpfender und letztlich aussichtsloser, niemals im Anerkanntsein wirklich zur Ruhe kommender Anerkennungskämpfe, die angeblich unser geistiges Leben in Wahrheit derart ausmachen, dass wir nicht einmal im Traum daran denken sollten, von ihnen wenigstens vorübergehend abzulassen, sie zu suspendieren oder gar ganz aufzugeben. 70 69 70
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Siehe oben, Anm. 4. Vgl. Ehrenburg, Das Unbehagen in der Gesellschaft, 387 ff.
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Obwohl auch Ricœur in seiner Philosophie immer wieder ein Loblied auf den »fähigen Menschen«, den homo capax und das willentliche Tun-Können angestimmt hat, war auch er schließlich davon überzeugt, dass die Spur jener Passivität sich niemals derart verlieren kann, dass sie nicht angesichts erschöpfender Anerkennungskämpfe wieder in Erinnerung zu rufen wäre. So tauchen am Horizont der hier skizzierten Theorieentwicklung zwei Desiderate auf, die bislang zu wenig bedacht worden sind: zum einen die Frage, wie jene primäre Anerkennungs-Gabe so angenommen werden kann, dass sie von vornherein (und nicht erst durch die Erschöpfung unaufhebbarer Anerkennungskämpfe) den Kampf um Anerkennung mäßigt; zum anderen die Frage, wie man von diesem Kampf wieder lassen kann – sei es vorübergehend, sei es endgültig –, ohne dass das auf geistigen Selbstmord hinauslaufen müsste. Beide Fragen führen uns an die Grenzen eines aktivistischen menschlichen Selbstverständnisses und einer Philosophie des Tuns, des Könnens, der virilen Aktivität, die sowohl im »guten Empfang« (WA, 303) von Gegebenem als auch im Ablassen vom Kampf, in dem man einander nichts schenkt, auf eine lebensnotwendige Passivität stößt, von der sie keinen angemessenen Begriff hat.
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1.
Freiheit oder Ein-Bindung: ein Gabe-Dilemma
Ob Gabe oder Geschenk: nach dem, was man alltäglich erfährt, wird man sich schwer tun, sie mit Freiheit zusammenzubringen. Es mag sie ja irgendwie und irgendwo geben, die völlig selbstvergessene Gabe, die sich selbst noch vergisst und nichts erwartet, in keiner Weise verpflichtet. Aber von den Anfängen der Gabe-Theorie bei Marcel Mauss her müht man sich, den Appell der Gabe, der vielleicht nicht in ein verpflichtendes Schuldigsein (»dette«) verwickelt, aber auch nicht unbeantwortet bleiben darf 1, auf der Skala zwischen einbindender Verbindlichkeit und Verpflichtung zur Wechselseitigkeit einzuordnen. Und diese differenzierungsträchtige Verlegenheit scheint die Alltagsverlegenheiten genau widerzuspiegeln. Geschenke mögen die Freundschaft erhalten – und bringen sie doch mitunter ganz schön unter Druck. Klar, ich freue mich über ein Geschenk besonders dann, wenn ich spüre, es kommt von Herzen und geht zu Herzen, weil es mich mit dem beschenkt, was mich wirklich erfreut – und weil es ganz und gar nicht »nötig« war, einigermaßen unmotiviert und überraschend. Aber es setzt mich auch unter Druck: Werde ich »bei Gelegenheit« ebenso kreativ und einfühlsam sein, den Geber mit dem zu beglücken, was ihm zu Herzen geht? Es wird mir kaum gelingen. Wie stehe ich dann da? Ich kann mich natürlich auch fragen: Welche Erwartungen hat der Geber, der mich mit seiner Gabe wirklich beglückte, mit seiner Gabe verbunden? Ist seine Gabe so selbstvergessen gewesen, dass sie Vgl. Paul Ricœur, Phénoménologie de la reconaissance – Phänomelogie der Anerkennung. In: Stephan Orth / Peter Reifenberg (Hg.), Facettenreiche Anthropologie. Paul Ricœurs Reflexionen auf den Menschen, Freiburg / München 2004, 138–159, hier 159 bzw. als Kommentar: Veronika Hoffmann, Skizzen zu einer Theologie der Gabe. Rechtfertigung – Opfer – Eucharistie – Gottes- und Nächstenliebe, Freiburg / Basel / Wien 2013, 270–272.
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allenfalls und gerade von dem Motiv bestimmt war, mich zu erfreuen? Oder doch auch von dem Kalkül, mit mir gut oder noch besser zurechtzukommen? Und wie komme ich damit zurecht, dass ich diese »Nebenabsicht« spüre, sie vielleicht auch nur in die Gabe hineinprojiziere? Welche Verwicklungen und Verstrickungen doch der schenkende gute Wille mit sich bringen kann, weil er noch so gut sein mag und doch nie rein als solcher – total nebenabsichtslos – erwiesen wird bzw. kaum als solcher wahrgenommen werden kann! Aber Verwicklungen und Verstrickungen können ja positiv sein, wenn sie einbinden, Verbindlichkeiten begründen, die uns eine gewisse Erwartungs- und Verhaltenssicherheit geben. Die Gabeverhältnisse, die Marcel Mauss im Blick hatte 2, mögen eine soziale Eingebundenheit hervorgebracht haben, ohne die sich auskömmliche Lebensverhältnisse gar nicht stabilisieren und einigermaßen auf Dauer sichern ließen: die Gabe als Goodwill-Initiative, die eine Alternative zu mehr oder weniger gewaltsamen Selbstbehauptungs-Kämpfen eröffnet und anbietet, gar nahe legt. Man wirft das Netz einer sozialen Verbindlichkeit aus. Die Anderen müssen sich nicht darin verstricken; sie können das Netz zerreißen. Aber sind sie von der Gabe nicht doch schon ein wenig oder doch schon ziemlich »gefangen«? Im Netz gezähmter Selbstbehauptung gefangen, welches den initiativen Geber wie den ursprünglichen Empfänger der Gabe vielleicht auch noch in einen Wettbewerb um die größere Generosität verwickelt? Die Freiheit scheint bei dieser Einbindungs-Dynamik des Gabentauschs von Anfang an auf der Strecke zu bleiben oder gar nicht erst zum Zuge zu kommen, sich allenfalls in der Option zum Zerstören des von der Gabe ausgeworfenen Verbindlichkeits-Netzes anzumelden. Was sich in Gabeverhältnissen und Gabetheorien generell als kritisch erweist, ist das Verhältnis von Freiheit und Verbindlichkeit: Je mehr Verbindlichkeit, desto weniger Freiheit? – Freiheit nur da, wo sie sich der Verbindlichkeit und damit den Gabe-Verhältnissen entzieht? Für eine theologische Gabe-Theorie oder für theologische Versuche, sich auf philosophische wie sozialwissenschaftliche Gabetheorien zu beziehen, um genuin theologische Sachverhalte zu klären, wäre es wichtig, sich dieser dilemmatischen Alternative entziehen zu können. Und vermutlich wäre das auch über theologische Argumentationszusammenhänge hinaus wichtig, um zu einer GabeMarcel Mauss, Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften, dt. Frankfurt a. M. 1990.
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Theorie zu kommen, welche ein möglichst breites Tableau von GabePhänomenen würdigen kann. So nimmt sich dieser Beitrag vor, das Gabe-Dilemma Freiheit und/oder Verbindlichkeit durch Rekurs auf Prozesse und die Struktur von Anerkennung zu entdramatisieren.
2.
Kampf um Anerkennung?
Es erscheint freilich auch nicht besonders einleuchtend, Freiheit und Anerkennung zusammenzubringen. Der emblematische, auf Hegel zurückgreifende Titel von Axel Honneths Studie Kampf um Anerkennung 3 steht dem – jedenfalls auf den ersten Blick – deutlich im Wege. Honneths Absicht ist es aber gerade, einen »Prozess zugleich des Anwachsens von Gemeinschaftsbindungen als auch der Zunahme von individueller Freiheit« zu beschreiben 4 – und zwar in drei Dimensionen der Überwindung von Missachtung durch Anerkennung: durch interpersonale Liebe, durch rechtlich eingeräumten Respekt, durch sozial-solidarische Wertschätzung. Lässt sich der Konflikt, in dem Anerkennung jeweils gegen ihre Verweigerung erkämpft werden muss, tatsächlich in dem Sinne als Freiheitsgeschehen begreifen, dass Freiheit hier als das Eingehenkönnen von frei übernommener Verbindlichkeit in Sicht kommt und zur realen Möglichkeit wird? Oder bleibt die im Kampf – allenfalls – errungene Anerkennung gezeichnet von den Gewaltverhältnissen, in denen errungene SelbstGeltung sich auf neu verteilter, aber eben nicht überwundener Unterdrückung aufbaut? 5 Diese Fragen haben offenkundig ein elementares Freiheits-Dilemma zum Hintergrund, das sich gerade in theologischen FreiheitsAxel Honneth, Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte. Mit einem neuen Nachwort, Frankfurt a. M. 2010. 4 Ebd., 28. 5 Nicht unerwähnt darf bleiben, dass Honneth später selbst – mit Georg Lukács und über ihn hinaus – Anerkennung nicht mehr nur als konfliktiv errungene denkt, sondern gewissermaßen primordial in der ursprünglich anteilnehmenden Zuwendung von Aufmerksamkeit eröffnet sieht; vgl. ders., Verdinglichung. Eine anerkennungstheoretische Studie, Frankfurt a. M. 2005. Vgl. meinen Kommentar in dem Aufsatz: Worüber Größeres nicht gegeben werden kann. Von der Gabe und der Herausforderung der Anerkennung. In: Jürgen Werbick, Vergewisserungen im interreligiösen Feld, Berlin 2011, 297–316, hierzu 303 ff. Dieser Beitrag ist ebenfalls im Arbeitskontext des DFG-Netzwerkes zur Theologie der Gabe entstanden und verfolgt Fragestellungen, die sich vielfach mit dem hier Ausgeführten überschneiden. 3
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theorien aufdrängt. Wird Freiheit transzendental als Selbstursprünglichkeit, also aus sich selbst und nicht aus gegebenen Bedingungen entspringend gedacht, geraten alle Freiheitstheorien, welche auf kontingente Bedingungen von Freiheit rekurrieren und Freiheit als Befreiung denken wollen, in den Verdacht der Vordergründigkeit. Sie geraten zumindest in die Position einer bloß genetischen, das »Wesen« der Freiheit verfehlenden Theorie. Eine Befreiungsgeschichte kann allenfalls dazu führen, dass die Selbstursprünglichkeit von Freiheit konkret-folgenreich vollzogen werden kann. Sie bleibt in diesem Sinne dem Geschehen von Freiheit äußerlich, das nur dann als Geschehen von Freiheit gelten könnte, wenn es aus sich selbst und nicht aus gegebenen Bedingungen entspringt – und nur deshalb als Geschehen von Freiheit gelten kann. Die klare Unterscheidung von Geltung und Genese impliziert die Voraussetzung, dass das es selbst »Gewordene« bzw. es selbst Werdende – die Freiheit – nur zu dem werden kann, was es immer schon ist und sich in seiner Genese als es selbst erweist. Dann aber sagt die Genese nichts Relevantes darüber aus, was Freiheit in sich selbst ist. Vielmehr wird der Genese von vornherein diese Einschränkung zugeschrieben: Sie kann das Wesen gar nicht vollkommen, sondern allenfalls annäherungsweise realisieren; sie bleibt – als empirische Wirklichkeit – unvermeidlich hinter dem zurück, was Freiheit eigentlich, will heißen: in sich und aus sich selbst ist. Der Weg zu diesem Eigentlichen ist nicht über die Empirie, sondern allein über transzendentale Reflexion zu finden. Vor diesem Theorie-Hintergrund, der die empirisch gegebenen den transzendental abgeleiteten Bedingungen kategorial nach- und unterordnet, wird man einer Konflikt-genetischen Beschreibung von Freiheit mit äußerster Reserve begegnen; aber nicht nur vor diesem Hintergrund einer transzendentalen Reduktion. Führt man Freiheit auf gewährte und erkämpfte bzw. auf erkämpfte und vielleicht nur deshalb gewährte, eingeräumte Anerkennung zurück, so bleibt sie an ein unendliches Verlangen gebunden, welches mit dem Erreichten niemals zufrieden sein kann. Sie wird empfunden und gedacht in der »Form des ›schlechten Unendlichen‹«, bleibt – um mit Hegels Phänomenologie des Geistes zu sprechen – unglückliches Bewusstsein »in Gestalt einer unermüdlichen Forderung nach unerreichbaren Idealzuständen.« 6 Zur Freiheit könnte man immer nur unterwegs sein, an6
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getrieben von den nicht völlig überwundenen Verhältnissen und Erfahrungen der Missachtung, ohne tatsächlich zu wissen, wonach man sich in unendlichem Verlangen ausstreckt. Oder lässt sich dieses unendliche Verlangen (nach Anerkennung) vielleicht so beschreiben, dass sich in seiner »konfliktiven« Dynamik eben doch sein Gegenbild abzeichnet: durch Anerkennung gewährte, nicht mehr erkämpfte und in diesem Sinn erzwungene Anerkennung? Was Adorno im Bann des negativen Absoluten als das »ganz [?] Unmögliche« ansieht – an der »vollendete[n] Negativität« die »Spiegelschrift ihres Gegenteils« 7 abzulesen –, das mag einer Phänomenologie des Ringens um Anerkennung vielleicht doch nicht so unmöglich sein, eher möglich sein, als in transzendentaler Reflexion einen einigermaßen erfahrungsnahen Begriff von Freiheit zu konzipieren. Dass dem Begriff die Genese eingeschrieben bleibt, dass er im Grunde doch nicht mehr ist als die einigermaßen begriffene Genese, die als einigermaßen begriffene zumindest erahnen lässt, wohin sie unterwegs ist, von dieser Voraussetzung – oder soll man eher sagen: Hoffnung – gehen nicht nur bekennend-materialistische Konzepte aus, sondern auch hermeneutisch-phänomenologische Verfahren, wie man sie etwa bei Axel Honneth und deutlicher noch bei Paul Ricœur identifizieren kann. In dieser Spur können vielleicht doch einige Präzisierungen ins Freiheits- wie ins Anerkennungsverständnis eingetragen werden, die sich den vielfältigen, auch in diesem Band dokumentierten Beiträgen zum Gabe-Diskurs entnehmen lassen.
3.
Frei werden durch Anerkennung
Es erscheint gerade in theologischer Perspektive geboten – und problematisch –, Freiheit als Gabe zu denken. Die rechtfertigungstheologischen Auseinandersetzungen zwischen den Konfessionen, aber auch innerhalb der katholischen Theologie machen überaus deutlich, worin hier die Problematik liegt: 8 Kann sich die Freiheit nur in Selbstdt. Frankfurt a. M. 2006, 273. Bei Hegel vgl. Phänomenologie des Geistes, Werke in zwanzig Bänden, hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Bd. 3, Frankfurt a. M. 1970, 163–177. 7 Theodor W. Adorno, Minima moralia. Gesammelte Schriften 4, Frankfurt a. M. 1980, 281. 8 Vgl. Veronika Hoffmanns luziden Überblick. In: Dies., Skizzen zu einer Theologie der Gabe, 285–346.
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Anerkennung: die Gabe der Freiheit
ursprünglichkeit und Selbstgegebenheit gegeben sein, oder gründet sie als Menschen-Freiheit in einer Gabe, der sie sich verdankt – der Gnade der Anerkennung verdankt? Und: Realisiert sie sich auch noch gegenüber dem Angebot der Gnade als Freiheit, die sich öffnen oder verweigern kann? Oder wird sie in der Gnade und durch sie frei? 9 Phänomenologisch mag ein Hinweis von Paul Ricœur zu weiterer Klärung beitragen, der begriffsgeschichtlich-semantisch vielleicht problematisch ist, in der Sache aber auf einen wichtigen Zusammenhang aufmerksam macht. Im Deutschen wie im Französischen weist Anerkennen (reconnaître) einen kognitiven Bezug auf, der im Französischen noch deutlicher das Wieder-erkennen assoziiert. Ricœur kann deshalb seine Reflexionen zur Anerkennung mit Überlegungen zum identifizierenden Urteil ansetzen. 10 In welchem Sinne verweist Anerkennung der Sache nach auf (wieder-)erkennende Identifikation? Zumindest insofern: Anerkennung ist immer eine spezifische Weise des (Zu-)Erkennens, ein Urteil darüber: Das macht dich aus; es wird von mir gewürdigt; und so wirst auch du von mir gewürdigt, will heißen: in deiner unabdingbaren Bedeutung affirmiert. Wenn man weiter fragt: In der Bedeutung wofür?, so ergeben sich mehrere mögliche Ebenen der Würdigung: die Würdigung als Rechtssubjekt, das niemals nur als Mittel, sondern immer als Zweck in sich selbst – als Person – zu würdigen ist 11; die Würdigung deines Beitrags und so auch deiner Wichtigkeit für gesellschaftliche Leistungszusammenhänge; die Würdigung als für mich selbst, den Würdigenden, unabdingbar wichtig und höchst bedeutsam. Hier lassen sich ohne Weiteres die drei Dimensionen der Anerkennung bei Axel Honneth wiedererkennen. Anerkennung beruht auf meinem, deinem, seinem, ihrem oder auf einem generalisierten, würdigenden Urteil über den bzw. die jeweils als … Anerkannte(n). In diesem Urteil geschieht Identifikation, würdigende Identifikation. Diese setzt sich einer entwürdigenden Identifikation entgegen, vorenthaltener Anerkennung, einer Verkennung, welche den Anzuerkennenden in seinem Selbst-Sein missachtet. Wo und insoweit Anerkennung Realität wird, ist diese missachtende Verkennung überwunden – zumindest
Diese Frage diskutiert Veronika Hoffmann mit einleuchtender und in der Sache überzeugender eigener Positionierung mit Karl-Heinz Menke; vgl. op. cit., 328 ff. 10 Vgl. Ricœur, Phänomenologie der Anerkennung, 143 ff. 11 So ja die paradigmatische Formel bei Kant; vgl. ders., Kritik der praktischen Vernunft, Kants Werke. Akademie Textausgabe, Bd. V, Berlin 1968, 87. 9
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insofern, als sich der Anerkannte bei all der Überschwänglichkeit, die der Anerkennung innewohnen mag, in seinem Anerkanntwerden wiedererkennt, ja in einer Tiefe »wieder«-erkannt weiß, die ihm selbst Aufschluss gibt über sein Selbst-Sein, ihn womöglich für sein Selbst-Sein neu aufschließt. Gewährte Anerkennung erweist sich als Gabe, die mich freikommen lässt aus dem Gefängnis der Geringschätzung, in das ich mich ja oft genug selbst eingesperrt habe, aus dem Eingesperrtsein in verkennende, mein Selbst-Sein missachtende Identifikationen. Anerkannt werde ich als der, der in einer entwertenden Zuschreibung, einer mir zudiktierten Rolle – des »Sklaven«, Erfüllungsgehilfen, Drückebergers, Kunden, Sünders – nicht adäquat identifiziert ist, der mehr bedeutet, dem Anerkennenden unendlich mehr bedeutet, von ihm den Freiraum eines Bedeutens eingeräumt erhält, den ich tatsächlich mit mir selbst »in Besitz nehmen« darf. Das gilt gewiss für die unterschiedlichen Dimensionen der Anerkennung in unterschiedlicher Weise: der Freiraum geschützt durch rechtliche Vorgaben oder durch gesellschaftliche Solidarität, geöffnet durch mitmenschliches Wohlwollen. Die Gabe der Anerkennung ist die Gabe dieses Freiraums, die mir eine freilassende, mich aus meinem Festgelegtsein freigebende Identifikation eröffnet, weil in ihr ein Identifizieren geschieht, das mich zu meinem Selbst-Sein herausfordert und es in bestimmter Hinsicht – differenziert nach der sozialen Ebene, auf der diese VorGabe gegeben wird – auch ermöglicht: als Ermöglichung einer bürgerlichen Existenz, einer als wertvoll anerkanten Mitarbeit und Partizipation, als unersetzliches, unverlierbar wichtiges Selbst. Die Gabe des Gewährens geschieht nicht jenseits, »oberhalb« des konfliktbereiten Erringens des Selbst-Seins oder nach ihm, nach dem Kampf um Anerkennung. Aber sie kann selbst nicht errungen und in diesem Sinne erzwungen werden. Selbst-Sein will erkämpft und gewährt, ergriffen und geschenkt sein. Das Identifiziertwerden muss mein MichIdentifizieren stimulieren; meine Selbst-Identifikation muss darum ringen, das Identifiziertwerden mitbestimmen zu dürfen, sonst bin nicht ich es, der in der Anerkennung anerkannt und in seinem Selbst-Sein gewürdigt wird. Damit ist über die unabdingbare Wechselseitigkeit der Anerkennung – ich muss das Recht und die Möglichkeit haben, mich in meinem Anerkanntwerden wiederzuerkennen, anzuerkennen – die ganze Dramatik und das Risiko der Gabe ins Blickfeld zurückgekehrt. Die 82
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Anerkennung: die Gabe der Freiheit
Gabe der Anerkennung kann immer auch ein Danaergeschenk sein, das mein Selbst-Sein kolonisieren würde, statt es zu ermöglichen. So fordert sie mich zur Stellung-Nahme heraus, möglicherweise genau dazu, mich dem Idenitifiziertwerden – auch einem durchaus »wohlwollenden – zu entziehen. Ich bin um meines Selbst, um meiner Selbstbehauptung willen gefordert, mich dem »wohlwollend«-symbiotischen Übergriff zu entziehen. Wo ich mich dieser Forderung stelle, bin ich zur Freiheit der Selbstbehauptung herausgefordert, entdecke ich sie, da ich zu ihr herausgefordert bin. Dieser Freiheit aber setzen sich der oder die Anerkennende aus. Sie riskieren, dass ich mich ihrer Gabe verweigere und entziehe, dass ich nicht ihr Empfänger sein will, da sie mich in einer Weise identifiziert, in der ich mich nicht (wieder-)erkennen und nicht als ich selbst erkannt sehen will. Sie riskieren, dass mir nichts bedeutet, nichts bedeuten darf, was ihnen doch so viel bedeutet: dass sie mich anerkennen, aber eben auch: dass ich von ihrer »Gunst« lebe. Wenn ich nicht von ihrer Gunst leben will, leben kann, weil sie letztlich doch nicht mein Selbst meint und ihm zugute kommt, ist die Gabe, sind in ihr die Gebenden zurückgewiesen, zurückverwiesen auf ihr Selbst, darauf, dass sie mich als Empfänger ihrer Gabe brauchen und womöglich missbrauchen. Die Gabe der Anerkennung wirbt um das Empfangen. Und dieses Werben ist – je deutlicher es um interpersonale und nicht »nur« um rechtliche oder gesellschaftliche Anerkennung geht – vom Scheitern bedroht. Der Gebende/Anerkennende exponiert sich mit seiner Gabe. Ihm ist wichtig, dass seine Gabe/seine Anerkennung dem Empfangenden selbst wichtig sind, von ihm wertgeschätzt werden können als gute Herausforderung zu sich selbst. Entzieht sich der oder die Beschenkte dieser »Zumutung« des Geschenks, wird der Schenkende mit seiner Selbst-Investition und Selbst-Exposition in seinem Geschenk zurückgewiesen. Die Selbstbehauptung des bzw. der Beschenkten zeigt sich darin, dass er oder sie mit dem Geschenk »nichts anfangen« kann oder nichts anfangen will. In diesem Sinne wendet sie sich gegen den Schenkenden. Er ist mit der (wohlwollenden) Identifikation des bzw. der Beschenkten, wie sie in seinem Geschenk zum Ausdruck kommen und realisiert werden sollte, gescheitert – und damit in seinem Beziehungsangebot gescheitert. Anerkennung als … kann übergriffig sein und fordert dann Selbstbehauptung heraus: das Geltendmachen eines Selbst, das im Identifiziertwerden durch die Gabe (der Anerkennung) als entfremDie Gabe
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det, gar als missachtet erfahren oder auch nur erahnt wird und deshalb die Zurückweisung der Gabe verlangt, weil der so Anerkannte nicht Empfänger dieser Gabe sein will, nicht von dieser Gunst leben will. Die Freiheit, sich der Identifikation als … zu entziehen versteht sich nicht von selbst. Oft genug hat die Verkennung durch Anerkennung die Selbstbehauptung längst unterwandert und entmachtet. Auch der gute Wille kann, zwiespältig, wie er in Wahrheit so oft sein mag, machtlos und hilflos machen; gerade er. So ist der Kampf um Anerkennung in vielfältiger Brechung ein Ringen um Selbstbehauptung und Sich-selbst-Behaupten-Können, worin gleichwohl jene Anerkennung geschehen kann, die mich als mich selbst würdigt, da sie mich zu mir selbst herausfordert, mich für den Anderen so bedeutsam sein lässt, wie ich bedeutsam sein möchte – und das vielleicht zuvor noch gar nicht ermessen konnte. Der Kampf um Anerkennung geht um die Freiheit, ich selbst zu sein – und als solcher anerkannt, als unverlierbar bedeutsam gewürdigt zu werden. Diese Würdigung wäre das Geschenk, das mich vom Kämpfenmüssen befreit, weil es mich wirklich zu mir selbst frei lässt, frei lässt, der zu sein, der ich zuinnerst sein kann und sein soll. Und vielleicht genau in diesem Sinne geht es im Kampf um Anerkennung darum, vom Kämpfenmüssen befreit zu sein: zu einem Frieden, der unendlich mehr wäre als der Modus vivendi eines leidlich tragfähigen Kompromisses; der eben dies wäre: in ein Lebensverhältnis eingesetzt zu sein, in dem der Andere mir in seiner Anerkennung unzweideutig Geschenk sein kann und ich ihm ebenso unzweideutig zum Geschenk werden kann. Paul Ricœur spricht von Friedenszuständen der guten Wechselseitigkeit (mutualité) 12; im Deutschen mag man die Rede von Friedenszuständen für etwas kleinmütig halten, weil sie sich eben doch noch zu stark auf den Kampf bezieht, der nicht etwa überwunden, sondern nur sistiert wäre. Das biblische Schalom lässt noch erahnen, in welchem Sinne der Friede unendlich weit über das Aufhalten der kämpferischen Auseinandersetzung hinaus Geschenk ist: das Geschenk des Nicht-mehr-kämpfen-Müssens, gewährt in einer Initiative, mit der die Ebene der Selbstbehauptung, des Verteilungskampfes um das Genügende und einigermaßen Zufriedenstellende tatsächlich transzendiert wird, von einem Schalom, »der das bloß ge-
Paul Ricœur, Wege der Anerkennung, 273 f.; vgl. Veronika Hoffmann, Skizzen zu einer Theologie der Gabe, 264 f.
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nau Ausreichende transzendiert und das Volle, das nach vollem oder reichlichem Maß gemessene ›Genüge‹ bezeichnet«. 13
4.
Freiheit denken: genetisch oder transzendental
Zurück zur Ausgangsfrage nach der Freiheit: Dass der Kampf um Anerkennung sich dem Begriff der Anerkennung unabdingbar einzeichnet und ihn doch nicht »erschöpft«, hat womöglich Rückwirkungen auf das Denken der Freiheit – bis in gnadentheologisch-rechtfertigungstheologische Zusammenhänge hinein wird darauf explizit mit den abschließenden Reflexionen dieses Beitrags zurückzukommen sein. Die Frage ist schnell aufgeworfen, aber kaum allseitig befriedigend zu beantworten: Ist die transzendentale Bestimmung der Freiheit als Selbstursprünglichkeit in einem gründlichen Bedenken der Freiheit das letztlich und wesentlich zu Denkende, das also, was Freiheit als solche ausmacht? Oder zeigt sich das Entscheidende der Freiheit an ihrer konfliktreichen Genese, freilich als ihr Überschießendes, nicht letztlich aus ihr Abzuleitendes; um es mit Adorno und doch auch im Streit mit ihm zu sagen: als »Spiegelschrift ihres Gegenteils«, abgelesen an dem, was noch nicht Freiheit ist, sondern nach ihr verlangt? Blicken wir auf das zurück, was ich die Dramatik der Anerkennung genannt habe: dass die Anerkennung alltäglich, menschlich-allzumenschlich zwiespältig bleibt und dann nicht einfach dankbar angenommen werden darf, sondern in das Ringen um wirkliches Anerkanntwerden hineinzieht: in den Kampf um Befreiung von verkennender Identifikation. Hier wird die Freiheit zur Forderung an Geber und Adressaten der Gabe, einzulösen in einer Selbstbehauptung, die sich die verkennende Anerkennung als … nicht auferlegen lässt; in der Forderung an den Geber, das Selbst des Adressaten zu würdigen. Man könnte – vielleicht mit Hegel – sagen: Freiheit »entspringt« im Willen zur Befreiung, in der Herausforderung, mein Selbst gegen Verkennungen »hervorbringen« zu wollen, so dass es sich frei als es selbst in Beziehungen einer erfüllend-erfüllten mutualité einbringen und an erfülltem Leben – am Schalom – teilhaben Gillis Gerdeman, Stichwort šlm, in: Theologisches Wörterbuch zum Alten Testament, 6. Aufl. Bd. 2 (2004), 919–935, hier 928; vgl. Jürgen Werbick, Gnade, Paderborn 2013, 18 f.
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kann. Die Freiheit, die sich am Ringen um Befreiung abzeichnet, ist die Freiheit eines Selbstseinkönnens, das vom Kampf um Selbstbehauptung befreit ist, weil es nicht mehr erkämpfen muss, was ihm geschenkweise zuerkannt und gewährt ist, aber als Gewährtes auch ergriffen und realisiert werden muss. Selbstbehauptung kann von sich lassen, sie kann von sich befreit werden, wenn mir mein Selbst nicht durch verkennende Anerkennung streitig gemacht, wenn es vielmehr zu sich selbst hervorgerufen, in sich selbst als fruchtbar und unverlierbar bedeutsam anerkannt wird, was in mitmenschlichen Beziehungen eher eine in der Erfüllung immer wieder neu wachgerufene Sehnsucht bleibt. Der Wille der Selbst-Behauptung ist noch nicht freier Wille, weil er noch davon befreit werden muss, nicht eigentlich das Selbst zu wollen, sondern die Zurückweisung dessen, worin dieses sich nicht erkannt und anerkannt weiß (oder anerkannt ahnt). Gewährte Anerkennung müsste die Notwendigkeit, sich gegen sie zu behaupten, überholen können, da sie sich wirklich als Herausforderung zum Selbst-Sein herausstellt, zu einem Selbst-Sein-Wollen im Sich-selbst-Transzendieren auf den Schalom eines Lebens in Fülle hin. Und diese überholende Anerkennung müsste es aushalten, dass die so Anerkannten immer wieder neu für sich und miteinander herausbringen müssen, ob sie von dieser Anerkennung tatsächlich unendlich wohltuend in ihrer Selbstbehauptung überholt oder doch nur überrollt werden. Der Selbstbehauptungswille verschwindet nicht im freien Willen, der sich mit der Anerkennung des Selbst vom Kampf um das Selbstseinkönnen befreit und zum Wollen des Guten – eines Lebens in Fülle – inspiriert und herausgefordert weiß. Er ist in ihm »aufgehoben«; und man weiß seit Hegel, dass das auch »aufbewahrt« heißt. Nur ein Wille, der zum Selbstseinwollen »erwacht« ist, kann zum freien Willen werden: ergriffen von einer befreienden Leidenschaft 14 für das gute, und das heißt in der Tradition der Bibel: Gott-erfüllte Leben; hervorgerufen von einer Anerkennung, in der ihm das Berufensein zu diesem guten, Gott-erfüllten Leben zu-erkannt wird. Die Überlegungen bewegen sich auf der Grenze zum explizit theologischen Anerkennungs- und Gabe-Diskurs; und sie dürfen sich auch an dieser Grenze nicht von der Einsicht in die Dramatik der Anerkennung verabschieden. Wenn Gnade als das Ergriffen- und IdenIch beziehe mich auf: Peter Bieri, Das Handwerk der Freiheit. Über die Entdeckung des eigenen Willens, Frankfurt a. M. 2003, 424 ff.
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tifiziertwerden von einer Berufung zum erfüllten, weil Gott-erfüllten Leben in den Blick kommt, so wird dieses Ergriffenwerden gezeichnet bleiben von menschlicher Selbstbehauptung wenigstens insofern, als Glaubende und nach dem Glauben Suchende nicht davon loskommen, zwischen einer Befreiung zur Freiheit (vgl. Gal 5,1) durch das Ergriffenwerden von der Gnade und einem Übergriff zu unterscheiden, der mein Selbst verkennen, mich um mich selbst bringen würde. Zu dieser Unterscheidung und Entscheidung sind die Glaubenden und den Glauben Suchenden bleibend herausgefordert, überhaupt erst in die Lage versetzt. Gott ergreift die Menschen mit seiner Gnade so, dass sie sich entscheiden müssen: ob sie in dieses Ergriffen- und Berufenwerden einstimmen können, sich in ihm identifiziert sehen und deshalb mit ihm identifizieren können, weil sie sich darin zu ihrem Selbst herausgefordert sehen, oder ob sie in der Berufung einen Übergriff sehen. In diesem – vielleicht nur in diesem – Sinn ist die von Karl-Heinz Menke rechtfertigungstheologisch eingeforderte Entscheidungsfreiheit gegenüber der Gnade 15 theologisch zu unterstellen, aber eben in der durch die Gnade selbst provozierten und eröffneten Entscheidung, der Anerkennung durch die Berufung und in ihr zuzustimmen oder ihr zu widerstehen, da ich mich in ihr nicht wiedererkennen kann. So ist auch hier menschliche Freiheit nicht einfach selbstursprünglich. Ich stehe ja in der Gnade immer wieder neu in der Entscheidung, mich in der Berufung als mich selbst wiederzuerkennen und mich erst so von ihr ganz ergreifen lassen zu können. Und noch dieses Erkennen versetzt mich nicht außerhalb des Ergriffenseins durch die Gnade, des Eröffnetseins meiner Berufung. Dabei bleibt tatsächlich Geheimnis, wie es sein kann, dass sich mir in der Gnade das Verheißungsvolle meiner Berufung nicht so überzeugend mitteilt, dass ich »gar nicht anders kann«, als ihr zuzustimmen. Das vom Entscheidungsdruck befreite, gelassene »Gar-nicht-andersKönnen« ist mir hic et nunc nicht gewährt, obwohl mir doch gerade darin die Freiheit des Selbstseinkönnens in höchst-denkbarer Fülle gewährt wäre – nicht etwa darin, dass ich genauso gut auch anders könnte. Geheimnis bleibt, warum Gnade nicht diese eschatologische »befriedete« Gewissheit wirkt. Und die Ahnung bleibt, dass sich GeVgl. Karl-Heinz Menke, Gottes Handeln an uns ohne uns? Jüdisch perspektivierte Anfrage an einen binnenchristlichen Konsens. In: Catholica 63 (2009), 58–72, hier 59 f., 64. Vgl. meine Auseinandersetzung mit Menkes Position in: Jürgen Werbick, Gnade, 89–95.
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wissheit nur – mehr oder weniger – einstellen kann, wenn man die Berufung immer wieder neu wagt, die mir der Berufende zuerkannt hat. Die Ahnung bleibt, dass allein diese Gewissheit Menschen-würdig und Gottes würdig ist, nicht eine Gewissheit, die mit dem zu Wagenden schon fertig ist, bevor man sich auf es eingelassen hat.
5.
Verkennende Anerkennung: Berufung
Gnadentheologisch ist zu präzisieren, wie Anerkennung und Freiheit als Inbegriff der Gnade zu explizieren wären. Dazu hier nur so viel: Theologisch kommt das Mit-mir-sein-Wollen als höchste Form der Anerkennung in den Blick. Wer mich so anerkennt, dass er (oder sie) immer mit mir sein will, realisiert darin meine unverlierbare Bedeutung für ihn (oder sie): auf Gedeih und Verderb. Das Treueversprechen in der Ehe mag diese Unbedingtheitsdimension der Anerkennung menschlich – oft allzumenschlich – abbilden. Unbedingtheit der Anerkennung kann aber nie heißen, dass der (oder die) Anerkennende davon absieht, wer und wie ich bin. Das wäre ein abgründig falsches Verständnis von »bedingungslos«, so als wäre sein (ihr) Mit-mir-sein-Wollen nicht auch davon »motiviert«, dass er (sie) mich wertschätzt. Anerkennung geschieht zuhöchst als Mit-mir-sein-Wollen, in diesem Sinne als meine Erwählung zu dem, der dem Erwählenden unendlich viel bedeutet (ohne dass das andere abwerten oder ausschließen müsste). Ohne solche Wertschätzung müsste Anerkennung defizitär bleiben oder gar als Beleidigung empfunden werden. Dass das auch für Gottes Anerkennung gilt, ist theologisch keineswegs selbstverständlich. In rechtfertigungstheologischen Abhandlungen scheint Gottes »bedingungslose« Anerkennung gerade dadurch ausgezeichnet, dass sie sich von der in sich unmöglichen Wertschätzung des sich selbst entwertenden Sünders ablösen kann und dem von sich her schlechterdings nicht anerkennbaren, nichtswürdigen Sünder vergibt, so dass dieser dadurch – für sich selbst und für Gott – überhaupt erst anerkennungswürdig wird. Und dafür wird mitunter die Creatio ex nihilo als Analogie bemüht. Kann man rechtfertigungstheologisch auch anders sprechen, so dass die Gnadengabe der Anerkennung ihren Anerkennungscharakter unverkürzt behielte? Dass Gott sein Mit-mir-sein-Wollen nicht aufkündigt, auch wenn ich mich ihm entziehe, mein Leben also nicht davon bestimmen 88
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lasse, mit Ihm sein zu wollen, das ist die frohe Botschaft von einem »Geber«, der über mein »Desinteresse« hinaus unendlich an mir interessiert bleibt, der seine Erwählung aufrecht erhält, auch wenn ich ihr von mir aus nicht gerecht werde. Die Metapher des sich durchhaltenden Interessiertseins Gottes markiert den Wertschätzungsaspekt, der nie verlorengeht, aber von Gott gleichsam immer wieder »gerettet« und erneuert werden muss – gegen die Selbst-Entwertung des Menschen in der Sünde. Gott gibt meinem Weg, auf dem Er mit mir sein will, Bedeutung und Zukunft; eine unverlierbare Bedeutung auch dann, wenn ich selbst nicht mehr daran glauben kann; eine Zukunft, die ich niemals von mir aus haben könnte, die ich mir geradezu verderbe. Er gibt mir Zukunft und Bedeutung, weil diese Zukunft Mit-Ihm-sein-Dürfen bedeutet: mit Ihm sein dürfen, weil Er mit mir bleiben will. Weil Er mich dazu beruft, habe ich Zukunft, eine Zukunft, in der Seine Wertschätzung für mich nicht mehr von meiner Selbst-Entwertung durchkreuzt wird – in der sie zum Ziel kommt, da Gott mit mir zum Ziel kommt. Dass er mir Zukunft gibt, heißt nicht, dass er meine Vergangenheit als »Sünder« pauschal ablehnen, sie gleichsam durchstreichen müsste, damit ich bei ihm und durch ihn Zukunft habe. Er nimmt sie in seine Anerkennung hinein, da er mir die Treue hält und mich gerade so unendlich über mein Sündersein hinauskommen lässt. Gottes Anerkennung sieht mir unendlich mehr an, sie erkennt mir unendlich mehr zu, als es – sagen wir – einer »nüchtern-neutralen« Betrachtung womöglich berechtigt erschiene oder als ich es von mir aus »rechtfertigen« könnte. Sie sieht mir meine Zukunft an, die ich nur habe, weil Gott mit mir sein will. So ist Gottes rechtfertigende Anerkennung – mit Thomas Bedorf und Veronika Hoffmann gesprochen – »schöpferisch verkennende Anerkennung« 16; nicht die Verkennung, die mir die »verdiente« Wertschätzung verweigern und in diesem Sinne mein Selbst verkennen würde, sondern ein Verkennen, welches mir ein Mehr-Sein zuspricht, das ich ergreifen bzw. von dem ich mich ergreifen lassen darf: die Berufung zur Partnerschaft eines
Vgl. Thomas Bedorf, Verkennende Anerkennung. Über Identität und Politik, Frankfurt a. M. 2010; Veronika Hoffmann hat dieses Konzept höchst kreativ und überzeugend in die Rechtfertigungstheologie eingetragen und damit m. E. die klassischen Kontroversen deutlich entschärfen können; vgl. von ihr: Skizzen zu einer Theologie der Gabe, 320–326. Die folgende Skizze schließt sich an Veronika Hoffmanns rechtfertigungstheologische Überlegungen an.
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Gottes, der mein Sündersein nicht ignoriert, es aber nicht Grund dafür sein lässt, sich von mir abzuwenden. Gottes gnadenhaft verkennende Identifikation eröffnet dem Sünder die Freiheit des Gerechtfertigten, weil sie ihm Möglichkeiten eines Selbst-Werdens zuerkennt, die der Sünder nicht bzw. nicht mehr als seine eigenen wahrnehmen und ergreifen kann, die ihm aber – da sie sich ihm gnadenhaft erschließen – als die äußersten Möglichkeiten eines heilvollen Selbst-Seins und eines Lebens in Fülle wahrnehmbar werden. Die Gnade der Berufung gewährt ein Selbstseinkönnen – sie ruft es schöpferisch hervor, indem sie es zuerkennt –, welches durch das Mit-mir-sein-Wollen Gottes ermöglicht, aber eben doch als mein Selbst-sein-Können ergriffen und gelebt werden kann. Noch einmal wendet sich der Gedanke zu der von Menke aufgeworfenen Frage zurück: Realisiert sich menschliche Freiheit dann unabdingbar auch in der Freiheit der Wahl, mein Selbstsein-Können der göttlichen Gnade oder anderen Selbst-Herausforderungen verdanken zu wollen? Insoweit meine Berufung mir als die unvergleichlich verheißungsvolle Herausforderung zum Selbstwerden in Selbsttranszendenz einleuchtet, kann es zu diesem Unvergleichlichen keine gleichwertigen Alternativen geben, die ich »genauso gut« wählen könnte. Das Unvergleichliche wäre hier die rechtfertigende Gnade der schöpferisch verkennenden Anerkennung und Berufung. Die Vorstellung einer Wahl unter vergleichbaren Alternativen wäre wirklichkeitsfremd, könnte jedenfalls nicht von einem qualifizierten theologischen Begriff der Freiheit erfordert sein. Aber es kommt offenkundig vielfach vor, dass Menschen ihre Berufung nicht annehmen, weil sie diese – auf welcher Reflexionsstufe auch immer – nicht als die schlechthin verheißungsvolle Herausforderung für ihr SelbstWerden wahrnehmen können. Wenn sie diese Wahrnehmung nicht realisieren können, so müssen sie sich – theologisch gesehen – gegen ihre Berufung als Partner Gottes entscheiden können, auch wenn nicht mehr erklärbar ist, weshalb ihnen diese Wahrnehmung konkret biographisch nicht zugänglich ist. Sie können in und mit ihrer Berufung zur Gottesgemeinschaft nichts anfangen. So »können« sie diese nicht ergreifen: auf dem schmalen Grat freier Selbstsuche, auf dem sich letztlich Können und Wollen nicht mehr trennscharf unterscheiden lassen. Sie können mit der Gabe nichts anfangen und wollen sie deshalb nicht annehmen: eine rätselhafte Formulierung. Aber sie lässt sich offenkundig freiheitstheoretisch kaum in eine klarere, eindeutigere übersetzen. 90
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Anerkennung: die Gabe der Freiheit
Im Blick auf die Freiheits-begründende Berufung des Menschen durch das Mit-jedem-Einzelnen-sein-Wollen Gottes wäre dann die für das Denken von Freiheit hermeneutisch letztlich aufschlussreiche Frage nicht die, ob der Berufene sich »frei« entscheiden kann, sie oder eine alternative Option zu wählen, sondern die, ob er mit seiner Berufung zur Gottes-Gemeinschaft »etwas anfangen« oder eben nichts anfangen kann: ob er mit ihr und in ihr jene Herausforderung zum Selbstwerden wahrnehmen und dann auch ergreifen kann, zu der er, wenn er sie als solche wahrnähme, keine Alternative hätte. Wer wahrgenommen hat, wie Gott mit ihm das Selbstwerden anfängt, es so anfängt, dass es nicht aufhören wird, in Gott hinein anzufangen, dem öffnet sich die Freiheit, den ergreift die Leidenschaft, das Abenteuer seiner Berufung zu ergreifen und die Fülle eines Gott-erfüllten Lebens zu entdecken. Das scheint die Gabe zu sein, aus der die Freiheit des Selbstwerdenkönnens, des Selbstseindürfens geheimnisvoll entspringt: unverfügbar, nur zu erbitten und zu empfangen, zu erbitten in dem Gebet, das über jede Selbstbestimmung hinaus und schon von der Gnade ergriffen bittet: »fang mich neu an«! 17 Es ist die Bitte um eine Anerkennung, die mich in die Freiheit einsetzt, damit etwas anfangen zu können, dass Gott etwas mit mir anfangen kann. 18 Er lässt mich »gewähren« 19, indem er mir seine Gegenwart gewährt: nicht in Gleichgültigkeit »übergeht«, was von mir kommt, sondern annimmt und etwas unverlierbar Gutes mit dem anfängt, was ich ihm gewähre. Das also erbittet meine mir schon geschenkte, gewährte Bitte: dass er mich mit mir neu anfängt. Aber wer hätte das, worauf er sich mit dieser Bitte einlässt, schon so vor Augen, dass seine Bitte nicht immer noch ein abgründiges Wagnis bliebe?
Peter Handke, Versuch über den geglückten Tag, Frankfurt a. M. 1991, 59. Den Hinweis verdanke ich Katharina Del Re. 18 Sehr affirmativ behauptet der Titel eines meiner Bücher: Gott kann etwas mit uns anfangen. Widerworte gegen eine mutlose Verkündigung, Donauwörth 2006. Aber worauf sollte sich die Hoffnung des Glaubens sonst richten? 19 Noch einmal Peter Handke: »[M]ein Zeitwort wird ›gewährenlassen‹ gewesen sein« (Versuch über den geglückten Tag, 74). 17
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Strukturen der Gabe – Manifestationen der Anerkennung: Zu einer Theologie der Religion in der Moderne Knut Wenzel
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Einleitung: Gabe und Anerkennung als Kategorien der Deutung des Verhältnisses von Religion und Moderne
Gabe und Anerkennung: Das Verhältnis von Religion und Moderne ist wieder offen. Offen für Neubestimmungen, aber nicht arbiträr. Im Gegenteil: Vielleicht ist bald von einem notwendigen Verhältnis, oder von der Notwendigkeit eines Verhältnisses von Moderne und Religion zu sprechen. Denn auch wenn eine schlichte Identifizierung der Moderne mit dem Prinzip Fortschritt sowie dessen Säkularisierungsableitung aus dem Konzept Heilsgeschichte biblischer, jüdischchristlicher Provenienz als einigermaßen unterkomplexe Verhältnisbestimmung zu den Akten gelegt worden ist, bleibt doch eine strukturelle Identität zwischen der Moderne im Sinn eines normativ justierten Projekts und der Religion einer universalen Heilsverheißung festzuhalten. Der gemeinsame Glutkern lässt sich in der Spannung von Subjekt und Struktur fassen. In der Instanz des Subjekts wird die unableitbare Einzigartigkeit des Menschen, eines jeden Menschen, festgehalten; die damit verbundenen Würde-Rechte sind unteilbar; unter dem Prinzip der Struktur wird dementsprechend die egalitäre und universale Erschlossenheit sowohl der Geltung der Subjektwürde als auch der Zugänglichkeit der Subjektrechte verstanden. Idealtypisch verwirklicht sich die Strukturdimension säkular in den Institutionen des demokratisch verfassten Rechtsstaats und religionskörperschaftlich in der Institution der Kirche. Der damit veranschlagte Begriff von Kirche – Kirche als der realgeschichtlich-universale Distributor der dem Menschen in seiner inkommensurablen Rettungsbedürftigkeit zugewendeten göttlichen Heilsgnade – ist nicht weniger normativ gedacht als der hier vertretene Begriff von Moderne, jeweils auf die Gefahr hin, kontrafaktisch zu sprechen. Anerkennung: in den Alltagshandlungen, jemandem die Tür aufzuhal92
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Strukturen der Gabe – Manifestationen der Anerkennung
ten, den Vortritt zu lassen, das erste und letzte Wort, und überhaupt sie und ihn zu Ende sprechen zu lassen, in Handlungen des unwillkürlichen Zuhilfekommens, 1 in der auf Antwort nicht rechnenden Zuwendung, in der an einem ganzen Lebenskurs Maß nehmenden Selbstverpflichtung von Eltern gegenüber ihren Kindern, im Geben von Gründen 2 – in all diesem (das hier nur exemplarisch aufgeführt wird) verwirklicht sich die Basishandlung, andere Subjektivität einzuräumen, nicht als Verleugnung, sondern als Ausdruck eigener Subjektivität. Gabe: inmitten eines Zimmers mit Fenstern und Türen nach allen Seiten ein dunkler Tisch, darauf zu essen und zu trinken, das Lebensnotwendige, schön und freundlich dargeboten, in seiner opaken Fülle. Jenes, die Anerkennung, geschieht je jetzt, dieses, die Gabe, ist vorgängig. Anerkennung differenziert sich aus einem unmittelbaren Subjektereignis heraus; Gabe, das ist die in jenem Ereignis in Anspruch genommene Voraussetzung, dank derer es überhaupt zustande kommt. Kein gegenwartsproduktives Ereignis ohne vergangenheitsintensive Vorgängigkeit. Vergangenheit: nicht bloß lineares Prequel, vielmehr das uneinholbare Prä an aller Gegenwart, das Unvordenkliche, das Es war einmal oder das Als das Wünschen noch geholfen hat des Märchens, das Unsagbare, die Lieder ohne Worte Mendelssohn Bartholdys, Andersens Bilderbuch ohne Bilder, die nie gelebte Liebe, die unverwirklichbare Lebensmöglichkeit, das Desintegrale eines Lebens unter dem dünnen Firnis seiner Gegenwart: anerkennungstheoretisch nicht integrierbare, aber auch nicht preiszugebende Modulationen der Gabe. Wenn Moderne die epochale Konzeptualisierung des Subjektereignisses ist, ist Religion die Emphase der Voraussetzung: die den Mythos einholende Vor-Geschichte, die im Wort der Gnade von allen Verpflichtungen entbindende Vor-Bedingung, die aller Logik des Zwecks entgehende Wirklichkeit des Schönen (als gäbe es dies, in eins mit dem Wahren, dem Guten, in höchster Potenz …), die von keiner Ökonomie aufwägbare Abgründigkeit des Leids, die Namenlosigkeit des Verlusts … im Hellen wie im Dunklen, in den Höhen wie in den Gründen ist die Religion die Artikulation dessen, was in keiner Rechnung aufgeht, das Zwecklose,
Vgl. Heinz Robert Schlette, »Hier wohnt ein reicher Mann …«. Das Martinssymbol oder Schwierigkeiten mit der Barmherzigkeit. In: Orientierung 66 (2002), 217–221. 2 Vgl. hierzu Knut Wenzel, In Achtung vor den Menschen. Die Fundamentaltheologie in der Struktur ihrer gegenwärtigen Aufgaben. In: Glauben Denken. Theologie heute – eine Bestandsaufnahme, HerKorr Spezial, Februar 2008, 32–36, hier 33. 1
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Überflüssige, Unbrauchbare oder Ungebräuchliche, das Nicht-Handhabbare, Unidentifizierbare, das Verstörende, Überwältigende, Traumatisierende, und dann vielleicht das unendlich unberührt Lassende – dieser Bogen, diese Spannung, diese Alliteration des / ins Abseits ist Religion, insofern es durch sie als essentiell für all das deklariert wird, was ohnehin Sinn macht, was gebräuchlich ist. Die funktionierende Moderne (nicht erst die scheiternde) braucht den Begleit-Diskurs der Religion, um sie selbst sein zu können. Schwierig, belastet auch, und dennoch notwendig und chancenreich ist das Verhältnis von Moderne und Religion. Schwer zu fassen ist es auch deswegen, weil es unterlaufen wird von dem anderen und doch mit ihm in direktem Austausch stehenden Verhältnis von Subjekt und Struktur. Während die Moderne sich gerade als Epoche des Subjekts dechiffrieren lässt, zeigt sich wie in einer Kippfigur das Bild der Moderne als Struktur: Wohnmaschine, Autobahn, Algorhythmus, BIP. Und die Religion: Ritual, Hierarchie, Kanon, Dogma – im Schatten dieser lastenden Strukturbildungen: ein gesammeltes Antlitz in einer Kirche, ein betender Mensch vielleicht, ein sehnendes Herz, grübelnder Geist, ungesichert verlangend nach dem realen Absoluten. Im Begriffspaar von Anerkennung und Gabe erscheint dieses paradoxe Doppelverhältnis nicht substanzhaft gehärtet, sondern in funktionaler Verflüssigung. Das lässt es handhabbar werden. Dabei erscheint der Begriff der Gabe in seiner systematischen, normativ geschärften Verwendung nur dann vor der Gefahr einer gezielt betriebenen oder fahrlässig in Kauf genommenen Eintragung von Heteronomieverhältnissen in die Beschreibung der condition humaine gefeit, wenn er auf den Anerkennungsbegriff hin fortbestimmt wird. Als Anerkennungsgeschehen begriffen, hat die Gabe das Subjekt zum Empfänger, das auch unter diesem Vorzeichen der Gratuität unverfügbar bleibt. Die anerkennungstheoretisch eingefasste Gabe entmündigt, enteignet, entfremdet das Subjekt nicht, sondern ermuntert und bestärkt es. Auch der radikalst möglich gedachte christliche Begriff von Gnade denkt diese im letzten nicht als Zerstörung, sondern als Freilegung, Heilung und Vervollkommnung der »Natur« des Menschen in seiner Subjektivität, seiner ursprünglichen Anlage zum Guten. Um solche Emanzipationen – Freilegungen – des ursprünglich Menschlichen ist es der Moderne zu tun. Diese Emanzipation hat es mit vorsubjektiven Wirklichkeiten zu tun, die durchklärt, durchhellt werden müssen. Sie sind nicht abstreifbar; sie sind bleibend da. Sie sind vielmehr, auch in ihrer modernen, subjekt- oder autonomie-zentrierten Beanspru94
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Strukturen der Gabe – Manifestationen der Anerkennung
chung, unbeherrschbar, aber eben doch notwendig. Dies benennt und vergegenwärtigt die Religion. In ihrer ursprünglichen oder klassischen Fassung hat die Säkularisierungsthese eine normative Aussage hinsichtlich der Religion enthalten, nämlich dass durch die emanzipatorisch-gesellschaftlichen, die materiell-ökonomischen und die naturwissenschaftlichtechnischen Entwicklungen (in) der Moderne die Religion überflüssig werden würde. Seitdem der missverständliche Begriff einer postsäkularen Gesellschaft im Raum steht, ist wenigstens die empirische Seite jener These von der Modernisierung durch Religionsdiffusion verabschiedet worden. Man hat sich damit abgefunden oder es zumindest zur Kenntnis genommen, dass Religion auch unter den Bedingungen der Moderne nicht einfach verschwindet. Doch ist die klassische Säkularisierungsthese darin ernst zu nehmen, dass sie, vielleicht unausdrücklich, eine Frage mit sich führt: Wozu Religion? Nur dadurch, dass Religion nicht verschwindet (jedenfalls nicht gänzlich, nicht überall, nicht in gleicher Weise …), ist diese Frage nicht beantwortet. Auch das von Jürgen Habermas ins Spiel gebrachte Übersetzungsprogramm rechtfertigt Religion in ihrer Präsenz nicht als solche, sondern bloß in ihrer Funktion als zur Übersetzungs-Ausschöpfung anstehendes semantisches Sinn-Reservoir. Die tiefgreifenden Transformationsprozesse, die innerhalb der oder als die Moderne sich vollziehen und die mittlerweile von einer reflexiv gewordenen Moderne sprechen lassen, machen sich geltungstheoretisch darin bemerkbar, dass generell Selbstverständlichkeiten verschwinden und Begründungspflichten wachsen. Dies gilt auch für die Religion: Die Frage steht im Raum: Wozu noch Religion, angesichts und in der Moderne? Dass Religion fraglich geworden ist, wäre also nicht als Symptom einer spezifisch religions-diffusiven Säkularisierungsdynamik zuzurechnen, sondern im Zusammenhang allgemeiner Modernisierungsentwicklungen zu verstehen. Nun ist zum Zweck der Bestimmung des Begriffs »Moderne« eine ganze Reihe an Beschreibungsansätzen in Gebrauch; diese arbeiten zum Teil mit denselben Elementen, koordinieren sie aber anders und bewerten vor allem deren Verhältnis wie auch das Gesamtphänomen Moderne unterschiedlich. Definitionen oder Analysen der Moderne sind also kaum ausschließlich deskriptiv – und können für sich auch nicht beanspruchen, im Sinn einer deskriptiven Methodologie »objektiv« zu sein –; sie gehen vielmehr, ob nun ausdrücklich, implikativ oder verhohlen, bewertend vor. Die Gabe
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Den folgenden Überlegungen liegt ein normatives Verständnis von Moderne zugrunde. Dies ausführlich herzuleiten, ist hier nicht der Raum. Sicher aber steht es dem vor allem von Jürgen Habermas ins Spiel gebrachten Begriff des Projekts Moderne 3 näher als einem bloß epochalen Verständnis von Moderne. Erst recht nichts gemein hat dieses Verständnis mit einem anti-modernen Ressentiment, das sich auch in der Theologie wieder breit macht und sich auch in einer befreiungstheologischen Kritik am Eurozentrismus findet, die in einer fatalen Verirrung meint, gleich die komplette Aufklärung eskamotieren zu müssen. 4 Es findet sich in Entwicklungen der Selbst-Entdifferenzierung innerhalb der politischen Theologie, die die Dialektik der Aufklärung nicht mehr als genuine Denkfigur der Moderne mitzuvollziehen in der Lage sind. 5 Es findet sich in den hochkonjunkturellen Repristinationen des Barth’schen »Nein« zur Moderne – von der Radical Orthodoxy bis zu Thomas Ruster. Und jene Spielarten, die früher einmal postmodern genannt wurden und die sich mittlerweile ins Gestöber der Bezeichnungslosigkeit verabschiedet haben, sowie die theologischen Adaptionen einer irgendwie fromm gewordenen Spätphänomenologie à la Jean-Luc Marion, haben Begriff und Sache der Moderne ohnehin längst aufgegeben: Nicht dass sie diese einem bewussten und willentlichen Akt des Vergessens, einer damnatio memoriae, unterzogen hätten; die Moderne und ihr Anliegen, das Projekt Moderne, ist ihnen aus der Hand geglitten.
2.
Moderne als Projekt
Worin dieses Projekt besteht? Im Kern in einer sehr kleinen Erzählung: der Erzählung von der Entdeckung der Möglichkeit, »ich« zu Vgl. Jürgen Habermas, Die Moderne – ein unvollendetes Projekt, Leipzig 1990. Vgl. etwa Paulo Süss, Mühselig-Beladene auf der Suche nach Erlösung. Szenarien und Perspektiven konfessioneller Migration in Lateinamerika. In: Wolfgang Gantke / Thomas Schreijäck (Hg.), Religionen im Kulturwandel zwischen Selbstannahme und Selbstaufgabe. Kontinental-kontextuelle Perspektiven, Berlin 2011, 49–70, bes. 49– 56. Die in diesem Zusammenhang entscheidende Aussage ist so ambivalent gehalten, dass die Haltung des Autors nicht entscheidbar ist: »Manche haben den Berg der Aufklärung und Säkularisierung überhaupt nicht bestiegen, haben die Moderne umgangen und reiben sich jetzt die Hände, weil sie, wie sie meinen, sich einen unnützen Weg erspart haben.« (Süss, Mühselig-Beladene, 50) 5 Vgl. hierzu Tiemo Rainer Peters, Mehr als das Ganze. Nachdenken über Gott an den Grenzen der Moderne, Ostfildern 22010. 3 4
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sagen. Beansprucht von so vielen Mächten, denen der Herrschaft, der Ökonomie, der Religion, der Familie …, die alle jeweils irgendwelche Dienste, Verpflichtungserfüllungen verlangen, entdeckt, sozusagen aus dem Gestrüpp der Forderungen heraus, sich die geforderte Instanz als Instanz. Zu entdecken, dass in dem betäubenden Getriebe der Macht, ihren Forderungen, ihrem Zugriff, ihrer Ausbeutung, ihrem Verbrauch … noch etwas ist, das in jenem Getriebe, in seinem Sog oder Gefälle, seinem Gelärm, seiner Funktionsweise, nicht aufgeht; zu entdecken, dass das gesamte Getriebe aber auf dieses etwas abzielt; zu entdecken, dass es eben dieses etwas ist, das hier entdeckt; so dass dieses nicht im Getriebe aufgehende »etwas« sich selbst in der Position oder Instanz des Entdeckenden einsetzt: in kompletter Entfremdung sich selbst zu entdecken, im selben Zug die Stelle des eigenen Selbst einzunehmen, nicht also mehr als bloßes Implikat im Getriebe der Macht mit getrieben zu werden – als Effekt der Dynamiken der Macht, seinen Ausbeutungen zu erscheinen –, sondern, in absolut anderer Logik/Dynamik/Struktur, mit sich selbst zu beginnen, einen Beginn in sich selbst zu sehen und zu setzen – dies heißt es, in die Moderne einzutreten. Fichtes Setzen des Ich 6 enthält einen realgeschichtlich gesetzten und immer und immer wieder zu setzenden, nie unbedrohten Akt des Widerstands gegen die Übermacht der Macht und ihren Lebens-Verschleiß. Die kleine Erzählung im Herzen der Moderne ist die Erzählung von der Entdeckung des Subjekts als Aufbietung des unverrechenbaren Ich gegen die Übermacht der Macht. Die Menschen der Arabellion traten in ihre eigene Moderne ein. Die Menschen in den ökonomisch-politisch-nationalistischen Stürmen Chinas ringen tagtäglich um so vielfältige Zugänge zu ihrer Moderne. Die Menschen des Westens können sich den Luxus eines Hinter-sich-zurück-Lassens der Moderne nicht leisten; sie haben vielmehr alles zu verlieren. Wer auf die kleine Erzählung der Moderne schaut, sieht, in all ihren Spielarten, keine Geschichte des Triumphs, sondern eine des Überlebens und Lebendig-sein-Wollens. Ein starker Begriff des Subjekts ist kein Begriff eines starken Subjekts. Menschlicher Überlebens-
Johann Gottlieb Fichte, Wissenschaftslehre 1794 I § 1, 7: »Dasjenige, dessen Sein (Wesen) bloß darin besteht, daß es sich selbst als seiend setzt, ist das Ich, als absolutes Subjekt. So wie es sich setzt, ist es; und so wie es ist, setzt es sich; und das Ich ist demnach für das Ich schlechthin und notwendig. Was für sich selbst nicht ist, ist kein Ich.«
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drang beinhaltet immer das Verlangen nach Lebendigkeit, nicht nach Vitalität, sondern nach Kultur: Lebendigkeit ist gestaltetes und gestaltbares Leben, ist das Ringen um das gute Leben, ist nicht bloß bios, sondern ethos. Diese kleine Subjekt-Erzählung im Herzen der Moderne, die eben auch eine Subjekt-Geschichte ist, stellt nun keine Verkürzung des Gesamtphänomens Moderne um ihre schillernde Vieldimensionalität auf eine mono-kausale Schwundentwicklung dar, zumal eine Subjektgeschichte sich ohnehin nicht als Kausalprozess erzählen lässt. Vielmehr erlaubt es diese Geschichte, wesentliche Entwicklungen, die als Moderne-signifikant gelten, zu einem (Be-)Deutungszusammenhang zu koordinieren: Die mit Max Webers Moderne-Diagnostik verbundene Entzauberung der Welt bezeichnet nicht die Austreibung alles Zauberhaften aus der Welt durch die Moderne. Dem steht mindestens entgegen, was Weber nicht im Blick hatte, dass hundert Jahre vor ihm ein anspruchsvolles Programm der Romantisierung oder Poetisierung der Welt als genuin moderne Entwicklung aufgelegt worden ist. Entzauberung und Romantisierung stehen nicht in schlichtem Widerspruch zueinander, sondern für eine Umkodierung der Bestimmungsverhältnisse: Nicht mehr eine numinose Wirklichkeit überwältigt das Ich; dieses hat vielmehr (prinzipiell) die heteronomen Mächte für sich depotenziert; die Poetisierung der Welt, wie sie die Frühromantik denkt, ist dann nicht Wieder-Einsetzung eines fremd-bestimmenden Zaubers der Welt, sondern Verwirklichung subjektiven Selbstvollzugs in dessen fruchtbarster Kreativität. Friedrich von Hardenberg, Bergbau-Ingenieur, konnte dieses Romantisierungsprojekt mit einer Perspektive der Versachlichung zusammendenken: Die Naturalisierung lässt die Welt zum LebensStoff werden, aber auch, siehe Hardenbergs Romanfragment Heinrich von Ofterdingen, zum Stoff wie zum Raum subjektiver Imagination: der Romantiker im Bergwerk, sowohl der Natur als auch der Seele. Die moderne Entdeckung der Möglichkeit, »ich« zu sagen, impliziert eine subjektive Distanzierung der Welt; das Subjekt »ist« nicht einfach in ihr, sondern bezieht sich auf sie. Es kann sie sowohl versachlichen als auch romantisieren. Die kleine Geschichte der Entdeckung des Ich im Herzen der Moderne exponiert dieses Ich auch nicht in völliger Vereinzelung; nicht nur, dass sich das romantische Subjekt der Weltdistanzierung im selben Moment auf die Welt als Ganze bezogen weiß und damit rechnen kann, dass unzählig viele andere sich ebenso auf dieselbe Welt beziehen, so dass die
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Doppelbewegung von Subjektivierung und (Welt-)Distanzierung dem romantischen Universalismus entspricht. Dieser signifikant moderne konstellative Universalismus – die Verwirklichung von Allgemeinheit ist weder als Prozess der Abstraktion noch als eine unendliche Stafette oder ein unendliches Netz intersubjektiver Kommunikation zu denken, sondern als das Ins-Verhältnis-Setzen des Subjekts zur Welt, zur Wirklichkeit an sich, und damit (prinzipiell) zu allen anderen Subjekten, die kraft subjektiven Selbstvollzugs sich in ein Verhältnis zur Welt setzen – dieser konstellative Universalismus ist modular gedacht: Er ermöglicht unmittelbare Begegnungen über die Vermittlung einer Struktur. Was hier sich als Subjektstruktur andeutet, gilt bereits für den Nahbereich der zwischenmenschlichen Verhältnisse: Löst sich doch in der Fichte’schen Aufforderungslehre der vermeintliche Solipsismus des Subjekts auf. Denn das Subjekt wird erst unter der Aufforderung eines anderen Subjekts zu sich selbst aktiviert. 7 Indem ein anderer sich an mich wendet, bin ich aufgerufen, als ich selbst ihm zu antworten, in meiner Antwort in die Position meiner selbst einzutreten, mich zu mir selbst zu bekennen, mich in meine Antwort zu investieren. Fichtes Aufforderungslehre ist demnach schon mit hinreichender Alteritätsenergie aufgeladen, um das Subjekt als ursprünglich beanspruchtes Ich, das je als moi auftreten zu lassen. In weiter Ferne, so nah! – Wim Wenders’ Film 8 bringt nicht nur ein modernes Lebensgefühl, oder eher eine Lebens-Sehnsucht zum Ausdruck; er veranschaulicht auch den Effekt des konstellativen Universalismus der Moderne: Da das Subjekt sich zur Wirklichkeit selbst in ein Verhältnis setzt, ist deren Totalität in ihrer ganzen Doppeldeutigkeit im Spiel: In ihrer Ausdehnung setzt sie Distanzen und überträgt doch alle Signale. Und dies in allen Rhythmen der Geschwindigkeit: Unendlich langsam wie eine Flaschenpost, die alle Weltmeere durchkreuzt hat und wie aus Zufall an Deinem Strand anlandet, Jahre, Jahrzehnte, Jahrhunderte sind vergangen, seit sie von wem auch immer an welcher Küste auch immer ins Meer geworfen worden war; so den Strömungen und den Zeiten anvertraut, konnte sie ihre Bedeutung zuerst bewahren, dann aufladen und schließlich offenbaren. – Bis hin zu den Weniger-als-Augenblicks-Übertragungen der Signale, die im Nu ihres Ortswechsels Kommunikation als Begegnung in der ZeitRaum Kontraktion wünschenswert erscheinen lassen. Die Koordination von Unmittelbarkeit (des Verlangens nach ihr) und unendlicher, die komplette Welt erschließender Vermittlung zeichnet die Moderne aus: Die Intensität des Unterwegsseins, die augenblickliche Gegenwart im Ausschreiten des Gesamts aller Wirklichkeit. Vgl. Axel Honneth, Die transzendentale Notwendigkeit von Intersubjektivität. Zum Zweiten Lehrsatz in Fichtes Naturrechtsabhandlung. In: Ders., Unsichtbarkeit. Stationen einer Theorie der Intersubjektivität, Frankfurt a. M. 2003, 28–48. 8 Mit dem er 1993 den »Himmel über Berlin« von 1987 fortsetzte. 7
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Auch die die Moderne auszeichnenden gesellschaftlichen Differenzierungsprozesse lassen sich subjekttheoretisch einordnen: Die Differenzierung der Gesellschaft in ihre Funktionssysteme, die nicht ineinander, aber auch nicht in einem Metasystem abgebildet werden können – Politik, Wirtschaft, Recht, Bildung, Religion … – kennt weder ein »System« Subjekt noch einen Subjekt-Ort in den Systemen. Auch spielt es keine Rolle in der Beschreibung der autopoietischen Abläufe in den Funktionssystemen. Und wenn die Subjekt ausschließende Autopoiesis auch für das Wie der Differenzierungsprozesse zu veranschlagen ist, so doch nicht mehr für das Warum. Freilich, die Formierung von Gesellschaft, mitsamt ihren systemtheoretisch zu beschreibenden Differenzierungsprozessen und Funktionsweisen, versteht sich irgendwie von selbst, nach Hobbes, Hegel, Arendt, Habermas, Rawls, etc. Und Luhmann scheint diesbezüglich der Theoretiker des sich von selbst Verstehenden zu sein. Was sich aber nicht von selbst versteht, ist die Entstehung einer Lage, die dann wie von selbst sich verstehende Abläufe generiert. Diese kritische Lage (die bestenfalls umschlägt in die Ausbildung einer Gesellschaft) entsteht durch das blanke und unvermittelte Zu- oder Nebeneinander subjektiver Selbstvollzüge und Selbstartikulationen, durch die Inkommensurabilität subjektiven Begehrens: The Pursuit of Happiness, garantiert durch die US-amerikanische Verfassung, ist eben nicht ausrechenbar. Die urtümlich Vielen müssen sich abstrakt, also nicht aus dem Subjekt selbst abgeleitet, koordinieren.
So könnte das Subjekt die systemtheoretisch nicht erfassbare Koordinierungsinstanz der Einzelsysteme sein, weil deren Ausdifferenzierung nicht aus dem Walten eines blinden Gesetzes des Sozialen herleitbar ist; 9 und wenn, dann deswegen, weil dieses Gesetz genau darin blind ist, dass in ihm das systemtheoretisch nicht darstellbare Bedürfnis der Subjekte zur Koordination ihrer Selbstvollzüge sich manifestiert – und zwar so, dass in Rückkoppelung zu diesen Ausdifferenzierungsprozessen auch das Ausdrucksbedürfnis der Subjekte sich komplexisiert: Was einmal als einfaches Bedürfnis nach Anerken»Gleich aber, welches soziale System man als Systemreferenz wählt: der (individuelle!) Mensch ist immer Teil der Umwelt des Systems. Kein Mensch kann derart in soziale Systeme eingefügt werden, daß seine Reproduktion (auf welcher organischen oder psychischen Systemebene immer) eine soziale Operation wird und durch die Gesellschaft oder eines ihrer Subsysteme vollzogen wird.« (Niklas Luhmann, Die Tücke des Subjekts und die Frage nach dem Menschen. In: Peter Fuchs / Andreas Göbel (Hg.), Der Mensch – das Medium der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1994, 40– 56, hier: 54). Vgl. in diesem Zusammenhang auch Luhmanns Diktum: »Im Übrigen ist nicht einzusehen, weshalb der Platz in der Umwelt des Gesellschaftssystems ein so schlechter Platz sein sollte. Ich jedenfalls würde nicht tauschen wollen.« (Luhmann, Die Tücke des Subjekts, 55).
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nung, nach Lebendigkeit, nach deren Erfüllung und Vollendung (und was in diesem Bogen noch alles zu nennen wäre) erkannt werden konnte, ist unter den Bedingungen einer reflexiv gewordenen Moderne, die auf allen gesellschaftlichen, politischen, kulturellen, künstlerischen, privaten … Ebenen jeden (Selbst-)Vollzug mit sich selbst, mit seinen Bedingungen, mit seiner Deutung durch Außenwahrnehmungen, mit der Möglichkeit seiner Fallibilität ins Verhältnis setzt, in keiner Eindeutigkeit mehr identifizierbar. Das Begehren des Subjekts bleibt im Durchgang durch diese Ausdifferenzierungen der Moderne nicht naiv, gleichwohl bleibt es erhalten. Die Gesellschaft will nichts; auf allen ihren Ebenen, in allen ihren Abläufen, hält sich aber das Begehren der Subjekte: Treibmittel gesellschaftlicher Prozesse, aus denen es Prägungen der Deformation, aber auch der Expression erfährt. Das Verhältnis zur Welt, in welchem das Subjekt sich setzt, ist demnach hochgradig komplex, denn es vollzieht sich in sofort exponential sich multiplizierenden Rückkoppelungen zwischen Subjekt, Welt und eben der Setzung dieses Verhältnisses selbst. Wenn also das ursprünglich sich in ein Welt-Verhältnis setzende Subjekt im Vollzug dieser Setzung in der soundsovieltesten Ableitung seiner ursprünglichen Selbstartikulation sich wieder begegnet, wird die Situation unübersichtlich, tendenziell chaotisch. Als würde eine überkomplexe Ordnung wieder dorthin umschlagen, von wo sie dem biblischen Schöpfungsmythos zufolge ihren Ausgang nahm: ins Chaos, das Un-Lebendige. Diese Komplexitätsentwicklungen, bei denen intrinsische Aspekte nicht mehr von den Welt- und Alteritätsverhältnissen getrennt werden können, zu koordinieren, entstehen Institutionen. Dass diese gerecht sein sollen 10, heißt, ein äußerstes Maß der Würdigung dieser Verhältnisse zu installieren.
Die kleine Erzählung im Herzen der Moderne wirft also in weitem Bogen das Netz von der Entdeckung der Möglichkeit, »ich« zu sagen, über die transzendentale Setzung und die realgeschichtliche Emanzipation des Subjekts, bis hin zur Ausbildung des wiederum realgeschichtlichen Ideals eines globalen Zusammenlebens in rechtsstaatlichen Verhältnissen, welches in eine zivilgesellschaftliche Kultur wechselseitiger Achtung eingebettet ist und auf republikanisch-demokratischen Verfassungsgrundsätzen aufruht. Auf allen Ebenen, in Zu Ricœurs Konzept der Ethik als Ausrichtung auf das gute Leben mit dem Anderen in gerechten Institutionen vgl. Paul Ricœur, Das Selbst als ein Anderer, München 1996. 207–246.
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all seinen Dimensionen ist dieses Projekt Moderne davon bedroht zu scheitern, sowohl durch externe als auch, was schwerer wiegt, durch interne Gründe. Es gibt nicht nur die Feinde der »offenen Gesellschaft« 11, sondern eben auch die »Dialektik der Aufklärung«. Droht schon die Abwehr von »äußeren« Feinden in eine Deformierung des Projekts Moderne umzuschlagen – ein Wissen übrigens, das die Jesustradition 12 mit der Psychoanalyse teilt, das Religion und Moderne verbindet –, so gilt die Gefahr der Deformierung in potenzierter Form für die »inneren« Bedrohungen: Ist es doch zunächst ein Prädikat der Moderne, auf die aus ihr selbst erwachsenden Bedrohungen ihrer selbst 13 mit der Ausbildung von Diskursen der Kritik und der Selbstkorrektur zu antworten. Doch ausgerechnet diese Reflexivität, diese (Selbst-)Kritik, erhöht das Krisenpotential der Moderne: Sehr bald, nämlich im Herzen der deutschen Aufklärung, artikuliert sich bereits ein Bewusstsein dafür, dass eine radikal gewordene Kritik ihre eigenen Fundamente aufzuheben, auszuhöhlen droht. 14 Wie, wenn die Moderne in der Konsequenz ihrer selbst – sich aufhöbe?
3.
Religion und Moderne im Verhältnis wechselseitiger Implikation
Die Geschichte der Moderne ist auch eine Geschichte des Versuchs, diese Entwicklung der Komplexisierung, Differenzierung, Reflexivisierung 15 wieder rückgängig zu machen oder zu überwinden zugunsten einer neuen – das heißt eher neu geschaffenen als wieder gefundenen – Bedeutungssubstanz der Einfachheit, all-integrativ, all-beS. Karl Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Erster Band: Der Zauber Platons, Tübingen 82003 (= Ges. Werke 5); ders., Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Zweiter Band: Falsche Propheten: Hegel, Marx und die Folgen, Tübingen 82003 (= Ges. Werke 6). 12 »Wer sein Leben zu bewahren sucht, wird es verlieren, wer es dagegen verliert, wird es gewinnen.« (Lk 17,33; 9,24; Mt 10,39; Joh 12,25) 13 Diese sind es, welche Max Horkheimer und Theodor W. Adorno als Dialektik der Aufklärung analysiert haben (1944). 14 Vgl. etwa zu Lessings Kritik einer radikalen Aufklärung Karl Heinrich Rengstorf, Lessings Ansatz in seiner theologischen Arbeit. In: Karlfried Gründer / Karl Heinrich Rengstorf (Hg.), Religionskritik und Religiosität in der deutschen Aufklärung, Heidelberg 1989, 101–112, hier: 104–107. 15 Zum Begriff von Moderne, wie er hier im Spiel ist, siehe Anthony Giddens, Konsequenzen der Moderne (1990), Frankfurt a. M. 1995. 11
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gründend, unter der Chiffre des kommenden Gottes, einer Neuen Mythologie. 16 Doch sind geschichtliche Ausdifferenzierungen nicht einfach per künstlerischer oder politischer Willensanstrengung umkehrbar, und ist ein Mythos als formativer Quellgrund aller Einbildungskraft nicht einfach per Einbildungskraft generierbar. Auch die Religion wird, selbst wenn sie das Verdikt der »Neuen Mythologie«, als entkräftet oder veruntreut ausgedient zu haben, einfach von sich abschüttelt, nicht in direkter Symmetrie die heilende Antwort auf die Scheiternsgefahr der Moderne bereithalten können und wollen. Zu sehr ist sie in ihren realen Verwirklichungsgestalten doch ihrerseits von den nämlichen Gefahren der Entplausibilisierung oder Pervertierung durch Über-Differenzierung ihrer doktrinalen, kultischen und jurisdiktionalen Bestimmungen bedroht. Zu sehr auch muss ihr, vielleicht sogar gegen den Augenschein des Verhältnisses Religion – Moderne, an der Lebendigkeit des Projekts Moderne gelegen sein. Hat doch »die Religion« im Ringen mit der Moderne – beide stehen im Fluss Jabbok, beide in der Position des Jakob, sie werden vom anderen nicht niedergerungen, lassen vielmehr von ihm nicht ab, ohne dass er sie gesegnet habe, und tragen bedeutungsvolle Versehrungen wie Wesensoffenbarungen davon 17 – ihren Bedeutungskern sich entdecken lassen: die Freiheit, Würde, Unvertretbarkeit, Absolutheit des Subjekts. So dass dieser religiöse Bedeutungskern durch die säkulare Verflüssigung der Moderne universale Verbreitung finden konnte. Während umgekehrt die Religion durch die Moderne Autonomie im Begriff vermittelt bekam. – »Die Religion« heißt hier: historisch zunächst das Christentum sowie das Judentum, in beiden Fällen im Modus ihrer Affizierbarkeit durch die Aufklärung und die Philosophie Kants. Mittlerweile ist der Islam auf der Spielfläche der Moderne erschienen, etwa in Gestalt des durchaus auch selbstbestimmt unternommenen und nicht nur durch die Umstände aufgenötigten Projekts der Ausarbeitung eines europäischen Islam. Die Religion hat, indem sie in die Jabbok-Konstellation mit der Moderne eingetreten ist, darauf gewettet, in ihrer Modernität erkannt zu werden. Denn in diesem Ringen wird die Moderne sie so
Vgl. hierzu Manfred Frank, Der kommende Gott. Vorlesungen über die Neue Mythologie, Frankfurt a. M. 1982; ders., Gott im Exil. Vorlesungen über die Neue Mythologie, Frankfurt a. M. 1988; ders., Mythendämmerung. Richard Wagner im frühromantischen Kontext, München / Paderborn 2008. 17 Vgl. Gen 32,23–33. 16
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wenig überwinden wie sie diese. Die Moderne hält der Religion stand, so wie diese jener. Genauso könnte man sagen: Die Moderne erkennt in der Religion Unintegrierbares, auf das sie gleichwohl angewiesen ist, so wie die Religion in der Moderne bedeutungsvolle Artikulationen des ihr (An-)Vertrauten erkennt. Wie kann es aber dazu kommen, dass Religion und Moderne wechselseitig einander bedeutsam werden und dennoch nicht ineinander integrierbar sind? Die Absolutheit des von der Moderne entdeckten Subjekts ist gerade nicht die der Macht, der Souveränität, sondern mit Fragilität und Bedrohtheit verbunden. Die bedeutungsvolle Entdeckungsgeschichte – Genese prägt hier Geltung – des Subjekts ent-ziffert dieses doch aus einer Geschichte der Viktimität. Festzuhalten ist mit dem Begriff der Absolutheit die Unüberspringbarkeit des Subjekts; seiner Absolutheit entspricht seine Rekurrenz: So wie es ab-gelöst ist von allen Bedingungen, so muss, zur Bestimmung dieser Bedingungen, stets auf es Bezug genommen werden. So mag es absolut sein in realer Schwäche, absolut in der Niederlage. Absolutheit des Sandkorns, der Resilienz, des unverrechenbaren Rests, der Bartleby’schen Komplettverweigerung, der permutativen Maskenidentität Bob Dylans, des Rimbaud’schen Je est un autre 18. Ein schwaches, ein höchst relatives Absolutes ist das Subjekt der Moderne. Die Position des »absoluten Absoluten«, die die Stelle Gottes ist, muss in der Moderne frei bleiben. Sie jedenfalls kann für deren Besetzung nicht aufkommen; sie kann, um des Subjekts willen, Gott nicht verantworten – und auch das Subjekt nicht an seine Stelle lassen. Treuhänderisch hält sie die Position Gottes frei. Das Subjekt in seiner Absolutheit muss nach Art der Moderne ohne Deckung eines »absoluten Absoluten« gedacht werden, das macht im Letzten seine Fragilität aus. 19 Die Moderne übt sich in einer Pragmatik des Absoluten, die horizontal gestimmt ist: eine Ausrichtung, die am ehesten im Begriff einer auf Reziprozität basierenden Kommunikation zu klären ist: bestimmt durch die Praxis der Anerkennung und deren Randbestimmungen der Solidarität am heißen und der Toleranz am kalten Pol.
Aus dem Brief an Paul Demeny vom 15. Mai 1871. Wenn, nach einem diagnostischen Wort von Georg Lukács, »transzendentale Obdachlosigkeit« Kennzeichen des modernen Romans ist, antwortet er auf sie mit horizontalen Einbettungen und bezeugt sie damit zugleich. Vgl. Georg Lukács, Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik (1916), Darmstadt-Neuwied 1982, 47.
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Die Religion übt sich in einer Pragmatik der Welt, die vertikal gestimmt ist: eine Ausrichtung, die am ehesten im Begriff einer auf Gratuität basierenden Kommunikation zu klären ist: bestimmt durch die Praxis des Danks mit den Randbestimmungen der Bitte am bedürftigen und des Lobpreises am gesättigten Pol. Nur eine ängstliche Umgangsweise mit der irreduziblen Differenz dieser Pragmatiken verkennt, dass sie sich wechselseitig implikativ enthalten 20 (doch auch nicht mehr), und spielt sie als unvereinbar gegeneinander aus. Dem religionsvertilgenden Säkularismus entspricht da symmetrisch der religiöse Integrismus in seinen Spielarten. Symmetrische Konfrontationen sind immer unfruchtbar. Ihre basale Bedeutungsstruktur lässt Religion und Moderne aber nicht darauf zusteuern. Die Moderne weicht vor dem »absoluten Absoluten« zurück (seiner Benennung, seiner Identifizierung, der Besetzung seiner Stelle), die Religion operiert mit einem Vorbehalt gegenüber oder angesichts »der Welt«. Religion und Moderne begegnen einander mit Zurückhaltung. Weder der Vorbehalt noch die Zurückhaltung sind jedoch letztlich und integral negativ bestimmte Haltungen. Vielmehr geben sie Raum; sie bezeugen Respekt. In Hinsicht auf die Religion lässt sich das mit Karl Rahners Deutung des asketischen Motivs der Weltflucht als eine Spiritualität der Weltfreudigkeit nachvollziehen. 21 Was die Moderne anbetrifft, kann deren Abstinenz, die Aussagen der positiven Religion betreffend, als genuin moderne Spiritualität oder als Hohlform einer modern formulierbaren Spiritualität aufgefasst werden. Das Verhältnis wechselseitiger Implikation, in dem Religion und Moderne zueinander stehen, realisiert sich in Kommunikation. Unter Kommunikation sei aber die Vollgestalt menschlichen Handelns verstanden: die Setzung eines neuen Anfangs in der Welt, als Kommentierung dieser Welt, in welcher Setzung das setzende Subjekt sich selber investiert, nämlich in eins als Selbst-Verständigung und als intersubjektive Mitteilung seiner selbst. Kommunikation ist jene Handlung, in welcher die Handelnden ihre Wirklichkeitsbearbeitung so intersubjektiv adressieren, dass sie sich selbst zum Gehalt ihres Handelns machen.
Die wechselseitige Implikation von Moderne und Religion im Substrat der Kommunikation besteht in der Verbindung von Inklusion (horizontal-weltlich) und Gelingen (vertikal-absolut). Insofern die Bei Licht besehen stellt diese Verhältnisbestimmung einer wechselseitigen Implikation von Religion und Moderne nur die systematische Aufnahme der pastoraltheologischen Bestimmung des Verhältnisses von Kirche und Welt im zentralen vierten Kapitel der Pastoralkonstitution Gaudium et spes über »Die Aufgabe der Kirche in der Welt von heute« dar. 21 Vgl. Karl Rahner, Die ignatianische Mystik der Weltfreudigkeit (1937). In: Ders., Schriften zur Theologie III, Einsiedeln / Zürich / Köln 1956, 329–348. 20
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horizontale Pragmatik der Moderne aber gelingensorientiert, eignet ihr ein absolutum; 22 insofern die vertikale Pragmatik der Religion universal-inklusionsorientiert ist, hat sie ein eminent weltliches Moment. 23 Wird aber die Orientierung auf das gelingende Leben nicht in den Verkürzungen einer therapeutischen Ökonomie oder einer philosophischen Glücks-Beratung stillgelegt, sondern unter den Leitstern des Absoluten gestellt, kann sie sich nicht prinzipiell dem Artikulationsfeld der Religion verschließen, die die Bedeutungsverdichtungen des Heils, der Vollendung, der visio beatifica, des Bei-Gott-Seins bereithält. Hier könnte ein Religions-Implikat der Moderne liegen. Umgekehrt ist die die Moderne bestimmende Entdeckungsgeschichte des Subjekts als der eigentlichen menschlichen Instanz jenseits aller kulturellen, ethnischen, sozialen, politischen, religiösen und auch gender-politischen Bestimmungen das Prinzip der All-Inklusion schlechthin, und hat zumal in den Prinzipien der französischen Revolution – Freiheit, Gleichheit, Solidarität – griffigen Ausdruck gefunden. Dies wäre das Moderne-Implikat der Religion. Dieser Umgang mit Religion und Moderne setzt voraus, dass beide weder als soziale Systeme noch als semiotische Texturen noch auch als Ableitungen metaphysischer Prinzipien hinreichend erfasst werden können, sondern als normative Projekte zu denken sind. Auch wenn der Projekt-Begriff unter den exploitiven Bedingungen einer Praktikumsgesellschaft missbraucht wird und in Misskredit gebracht worden ist, stimmt er hier: Religion und Moderne sind konDies ist es, was mit dem verfassungs-verbrieften Recht des Pursuit of happiness gemeint ist. 23 Insbesondere in seiner Mahlpraxis erschließt sich Jesu Lehrpraxis als unbedingte Anerkennung des Anderen: Jesus praktiziert dies als wahrnehmendes und annehmendes Aufsuchen der Menschen in ihren jeweils konkreten Lebenssituationen; diese sind durch radikale, an die Wurzel gehende, Beschneidungen der Lebendigkeit der Menschen gekennzeichnet: körperliche und seelische Krankheit, Hunger, Angst, Armut, gesellschaftliche Verachtung, Geschlechterdiskriminierung, Tod, aber auch: Überheblichkeit, Selbstzufriedenheit, Misstrauen, Macht. Jesus praktiziert die unbedingte Anerkennung des Anderen, indem er – ganz unwillkürlich und unprogrammatisch – die Menschen in diesen Situationen der Depravation in der Vollgestalt ihres entfalteten Menschseins wahrnimmt: als gesunde, wohllebende, vertrauensfähige, anerkannte, gleichberechtigte Menschen. Die Diskrepanz zwischen der real depravierten Lebenssituation dieser Menschen und Jesu wertschätzendem Blick auf sie schildern die Evangelien als Dynamik der wunderhaften Heilung, Sättigung, Totenerweckung, Gemeinschaftsbildung, die von Jesus ausgeht. 22
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zeptualisierend-pragmatische Ausgriffe auf das, was sein soll, das wir aber nicht kennen. Beide haben für den Weg dahin Leitvorstellungen ausgegeben, die sich für die unverkürzte Versinnbildlichung der eigenen Anliegen als unbrauchbar erwiesen haben (wenn sie auch faktisch lange in Gebrauch waren und es wie in einem Nachglühen noch sind). Dass aber lineare Fortschrittsmodelle im Fall der Moderne und antithetische Jenseits-Diesseits- oder Zeitlichkeits-Ewigkeits-Konfrontationen im Fall der Religion krass ungenügend sind, um beider Anliegen zum Ausdruck zu bringen, spricht nicht schon gegen diese. Allerdings sind die shortcomings dieser Leitideen doch auch wieder spezifisch, äußert sich in ihnen nämlich eine Vergessenheit ob der implikativen Gegenwart der jeweils anderen Ordnung: Eine Moderne, die in der Vorstellung linearen Fortschritts verfangen ist, erreicht nie die unüberholbare, also absolute Geltung ihres Bedeutungsanspruchs; eine Religion, die ganz auf die Antithese von Jenseits und Ewigkeit fixiert ist, erreicht nie den Kontext, in den und um dessentwillen sie doch spricht: diese Welt in ihrer Hiesigkeit und Zeitlichkeit. Der Problem- ist zugleich Bedeutungsanzeiger: Die Überbetonungen des Jenseits dort und des Diesseits hier verweisen aufeinander. Zu Überbetonungen kommt es, wo Verlust- oder Defizitängste herrschen. Die Moderne befürchtet, dass von der Jenseitsorientierung der Religion das Diesseits verschlungen wird, und legt auf es die Betonung um so mehr; die Religion befürchtet, dass das Diesseits zu einem Kerker wird, wenn in der Orientierung der Moderne auf es jede Jenseitssensibilität verdunstet, und betont diese um so mehr. Wenn zuvor die horizontale Pragmatik der Moderne als eine Pragmatik des Absoluten und die vertikale Pragmatik der Religion als eine Pragmatik der Welt bezeichnet worden ist, so um damit der in der wechselseitigen Implikation sich anzeigenden Überkreuzung von Religion und Moderne Ausdruck zu verleihen.
4.
Gabe und Anerkennung: Zentralworte der Kommunikation
Wer von einem Tempel- oder Kathedralenberg oder von Capitol Hill hinab in die Straßen der Stadt steigt, wird dort weder die Ausgangsorte seines Gangs noch deren Verhältnis in proportional getreuer Ableitung dargestellt finden. Das Implikationsverhältnis von Religion Die Gabe
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und Moderne bildet sich in Kommunikation nicht als solches ab, selbst wenn es diese prägt, sondern in verschobenen und entkoppelten Verhältnissen. Wenn also die Praxen und Konzeptualisierungen von Gabe und Anerkennung als hervorragende Repräsentationen von Religion und Moderne – der Anliegen von Religion und Moderne – in Kommunikation identifiziert werden können, so stehen Verschiebung und Entkoppelung dafür, dass der Nexus zwischen Religion und Moderne einerseits sowie Gabe und Anerkennung andererseits nicht zwingend und eindeutig ist. In der Praxis der Gabe kann die vertikale Orientierung der Religionspragmatik wiedererkannt werden; in der Praxis der Anerkennung kann die horizontale Orientierung der Pragmatik der Moderne wiedererkannt werden. Doch hat die Anerkennung in sich selbst, in ihrer prädiskursiven Unbedingtheitsstruktur, ein absolutes, ein »vertikales« Moment; und hat die Gabe in sich selbst, in ihrer Ökonomie des Tauschs, ein distributives, ein »horizontales« Moment. 24 Was sich aber wiederholt, ist das Verhältnis wechselseitiger Implikation. Nichts Zwingendes und nichts Eindeutiges hat das Verhältnis zwischen den beiden Begriffspaaren, so dass fraglich ist, ob die Gabe als ein Zentral- oder »Urwort« der Religion 25 und die Anerkennung als ein Zentralwort der Moderne gelten kann. Sind sie nicht eher als Zentralworte der Kommunikation anzusehen, Worte, in denen Kommunikation reflektiert, was (in) ihr geschieht? – So aber, dass diese Worte im Doppelhorizont der Normativität von Religion und Moderne unter Spannung geraten und ihren Bedeutungsradius entfalten. Normativität heißt, wenigstens im Zusammenhang des Projektcharakters von Religion und Moderne, eben nicht, zu wissen, wie es ist, sondern nicht zu wissen, wie es ist, aber zu wissen, dass in dem, was ist und war und sein wird, etwas ist, auf das es ankommt. Der Bedeutungsreichtum, der die Horizontbögen von Religion und Moderne ausfüllt – wobei der Bogen der Religion vielleicht nur aus Anciennitätsgründen weiter ausgreift, reicher gefüllt ist –, besteht nicht aus einem Schatz des Wissens über den absoluten Gehalt menschlicher Kommunikation; vielmehr entspricht er in seiner Fülle einem dies-
Vgl. hierzu Paul Ricœur, Gedächtnis, Geschichte, Vergessen (2000), München 2004, 731–737, aber auch schon: Marcel Mauss, Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften (1923–24), Frankfurt a. M. 1990. 25 Vgl. Veronika Hoffmann (Hg.), Die Gabe. Ein »Urwort« der Theologie?, Frankfurt a. M. 2009. 24
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bezüglichen Nichtwissen. Der Bedeutungsstoff, die Kultur von Religion und Moderne, hält nicht ein Wissen fest, sondern legt ein Nichtwissen aus. Verdinglichung ist es, die Auslegung des Nichtwissens für die Registratur eines Wissens zu halten. Die These sei gewagt, dass die biblische Tradition voll der Figuren der Verneinung ist, verstreut über die gesamte Breite ihrer Diskursstruktur, vom Motiv über die Fabel bis zur Konzeption. Ein biblischer Kanon der Verneinungen müsste mindestens das Folgende enthalten: Die antlitzlose Stimme, erklingend aus einem brennenden Dornbusch, der nicht verbrennt (Ex 3,14); das Säuseln des Winds (und nicht der Donner oder das Erdbeben oder das Feuer) (1 Kön 19,3–13); die Zerschlagung jeder identitären Versuchung der Menschen durch Gott (Gen 11, 1–9); 26 das agnostische Buch Kohelet; der prophetische Einspruch, bis hin zu Hoseas Namensallegorik (lo-ami); die Verneinung des Negativen in der Setzung des Schöpfungs-Ja; Jesu »Denkt nicht« (Mt 10,34); seine bedeutungsvolle Zurückweisung des Verlangens nach Zeichen (Lk 17,20); die heil-volle Identifikationsverweigerung des Auferstandenen (Mt 25); die Selbst-Vergegenwärtigung des göttlichen Logos unter Sklaven-Gestalt (Phil 2). – Wieviel Zeit und Kraft wird es die Religion gekostet haben, um zu ihrem Kern des Nicht-Wissens vorzudringen; und wieviel Bedeutungsaufwand fordert es ihr ab, die Herausforderung des Nicht-Wissens zu bewältigen?! Die Moderne andererseits gilt als die Epoche der Verneinungen, der Alternativen, der Uneindeutigkeit, des Zitats und des Sekundären, des Künstlichen, des Zweifels und scheint damit ohnehin nah am Nicht-Wissen, es zu umspielen. So wird in Pico della Mirandolas Rede über die Würde des Menschen 27 diese gerade über die Ermangelung jeder Möglichkeit zur Identitätsangabe konstituiert: Im Zentrum des Nicht-Wissens steht ausweislich dieses Urtexts der Moderne das Subjekt-Verhältnis von Gott und Mensch.
So ist also das Nicht-Wissen, sowohl in der Moderne wie in der Religion, nicht einfach nichts. Es steht nicht unter dem Zeichen des Beliebigen, Gleichgültigen, sondern des Absoluten. Unter dem Absoluten wäre im Kontext von Kommunikation die Exponierung jenes Geltungsgrads zu verstehen, der in eigentlich jedem Kommunikationsakt, sofern dieser nicht bloß Informationsaustausch und SignifikatiVgl. Christoph Uehlinger, Weltreich und »eine Rede«. Eine neue Deutung der sogenannten Turmbauerzählung (Gen 11,1–9), Freiburg (CH) / Göttingen 1990 (= OBO 101); ders, Art. Turm(bau) zu Babel. In: Neues Bibel-Lexikon 3 (2001), 935– 937. 27 Pico della Mirandola, Oratio de hominis dignitate / Rede über die Würde des Menschen (1486). 26
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on, sondern die Hineinverwicklung der Kommunizierenden selbst, ihre Selbst-Investierung, in die Kommunikation ist, für die in diesem Akt involvierte, evozierte, thematisierte Wirklichkeit erhoben wird. Kommunikation kann nur gelingen – nicht dadurch, dass Verständigung funktioniert, sondern –, wenn die in ihr aufgerufene Wirklichkeit als unbedingt geltend, wertvoll, unaustauschbar, unverlierbar reklamiert werden kann: nicht der gerade in Blick genommene Wirklichkeitsausschnitt, schon gar nicht der Blick selbst, sondern – Wirklichkeit als solche, in ihrer Hiesigkeit, Konkretheit, Materialität, insofern sie gerade kommunikativ im Spiel ist, vergegenwärtigt wird. Der hier reklamierte Geltungsgrad ist also gar nicht graduell abstufbar; er hat seine eigene Skalierung, bestehend aus einem einzigen, unableitbaren Wert, dem des Absoluten. Das Absolute ist keinem einzelnen Aspekt der Wirklichkeit integrierbar oder mit ihm identifizierbar; das Absolute ist der Zugang zur Wirklichkeit schlechthin. Im Diskurs der Liebe, der wahrscheinlich menschen-möglichsten Arbeit an der Verwirklichung des Absoluten, ist dies in der Gedichtzeile Richard Wilburs ausgedrückt: Love calls us to the Things of this World. 28 Religion und Moderne realisieren diese »Un«Wirklichkeit des Absoluten unterschiedlich: die Moderne, indem sie das Absolute im Bereich des Prinzipiellen belässt, wenn sie es nicht überhaupt beschweigt, übergeht, leugnet; die Religion, indem sie das Absolute als einen all-erschließenden und je konkreten Zugang zur Wirklichkeit bedenkt oder behandelt, der selbst eminent wirklich ist. Die Bestimmung einer unwirklichen Wirklichkeit, einer wirklichen Unwirklichkeit, ist aber die Bestimmung von Transzendenz. Transzendenz steht zum Begriff der Wirklichkeit nicht im Verhältnis des Kontrasts, sondern der Differenzierung, unter welcher Differenzierung Wirklichkeit freilich in ein Verhältnis gespannter Selbstbezüglichkeit versetzt wird: Das Absolute als All-Zugang zur Wirklichkeit soll selbst real sein und doch kein Teil von ihr. Muss aber, soll dies »irreale« Moment mit realisiert sein, ein unverkürzter (vollständiger) Gottesbegriff nicht auch die Verneinung Gottes mit enthalten, die Bestreitung einer Realisierung des prinzipiell Absoluten? Die damit vorgeschlagene Bestimmung des Absoluten ist selbst nicht absolut, sondern relational. Sie entlässt deswegen sowohl eine vertikale als auch eine horizontale Pragmatik, die aber ineinander verschränkt sind. Wenn al28
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In: Richard Wilbur, Collected Poems 1943–2004, London / Baltimore 2005, 331.
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so die Pragmatik der Religion als eine vertikale, aufs Absolute bezogene zu gelten hat, dann deswegen, weil sie eben darin welt-erschließend ist, sich auf Welt bezogen weiß; und wenn die Praxis der Moderne als eine horizontale, auf die Welt bezogene zu gelten hat, dann deswegen, weil sie die Erschließungskapazität des Absoluten zur Anwendung bringt. In der Verschränkung von vertikaler und horizontaler Ausrichtung, die nicht identisch ist mit dem Verhältnis von Absolutem und Welt, sondern dieses »ins Werk setzt«, erscheinen Religion und Moderne als Exponenten eines zusammenhängenden Bedeutungskomplexes. Im Verhältnis von Absolutem und Welt ist die Moderne die Transzendenz der Religion und die Religion die Materialisation der Moderne.
5.
Strukturen der Gabe
Das Geschehen der Gabe hat eine anonyme Verfassung. Schon bei Mauss handeln ganze Gesellschaften, und wenn Einzelpersonen, dann als deren Repräsentanten, kraft Amtes. Die Frage, wie modernefähig ein Begriff, dessen Entdeckungsgeschichte ihn genealogisch an archaischen Gesellschaften haften lässt, eigentlich sein kann, einmal beiseite lassend, bleibt immerhin, aus dieser geltungstheoretisch durchaus relevanten Genese des Gabe-Begriffs die Einsicht der Nähe der Gabe zum Pol der Struktur und ihre Ferne zum Pol des Subjekts zu gewinnen. Ein gegenwartssensibler Gabediskurs wird also dessen sich bewusst sein, dass er ein subjekt-distantes Angebot macht. Gemäß der Gabe zu handeln heißt, einer Ordnung zu folgen, einer Struktur zu entsprechen. Diese Struktur- oder Ordnungsontologie scheint mir für das gesamte Bedeutungsfeld der Gabe zu gelten: in der horizontalen Dimension des Gabentauschs ohnehin; hier wird eine intersubjektive, gesellschaftliche und, in der Opfergabe des Kults, kosmische Ökonomie der Entsprechungen, der Balance bedient. Doch ist die Ontologie der Ordnung auch in der vertikalen Dimension einer Praxis der Gabe anzutreffen: Die eigene Existenz, die Wirklichkeit schlechthin als Lebendigkeit, unter dem Vorzeichen oder Vorbehalt der Gratuität anzusehen bedeutet, diese Realitäten jeweils einer größeren Ordnung der Ermöglichung ein- oder unterzuordnen. Dem Argument des Psalmisten für eine absolute Lebenszuständigkeit Jahwes, die auch am Tod der Menschen keine Grenze finden darf – »die Toten können Dich nicht loben« (Ps 115,17) –, ist zu entnehmen, dass die Praxis des Lob-Danks nicht zunächst Artikulation eines Bewusstseins der Verdanktheit, sondern vor allem die Die Gabe
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Selbst-Einrückung in eine übergeordnete Ordnung des Lebens ist. Dass Ordnung nicht nur »etwas« mit Leben »zu tun« hat, sondern eine entscheidende Kategorie zur Bestimmung von Lebendigkeit ist, stellt eine Grundidee biblischen Schöpfungsdenkens dar. Lebendigkeit wird dabei, in Absetzung zu bloßer Vitalität, als lebbares, gestaltbares Leben verstanden, in welchem die Lebenden, es sich aneignend, sich entfalten und verwirklichen können. 29 Gott schafft, indem er das, was da ist, das Ungesonderte, die Wüste, das Chaos, die bloße Materie, in eine Ordnung der Ermöglichung von gestaltet-gestaltendem Leben – und darin: zu einer Ordnung der Lebendigkeit – gestaltet. 30 Schöpfung ist Lebens-Ordnung im Kontext der Welt schlechthin, so, wie die Tora Lebens-Ordnung in der Sphäre menschlichen Zusammenlebens ist. Zwischen Schöpfung und Gesetz besteht biblisch eine Kontinuität der Lebens-Ordnung. 31 Durch diese Kontinuität verbindet sich aber die Gabe in ihrer biblischen Resonanz (nicht nur in ihr freilich) mit der Gerechtigkeit. Die vertikale Dimension der Gabe wird im Schöpfungsdenken als Vor-Gabe konzeptualisiert, die wiederum als Ordnung ausgelegt wird. Diese Ordnung ist normativ, nicht deskriptiv, sie ist abundant: Ihre Setzung ist im Rezitativ »… dass es gut war« des Schöpfungslieds Gen 1,1–2,4a greifbar. Allem Sollen voraus ist schon die Gabe des »Gut-Seins« gesetzt, jedes Sollen erst sowohl ermöglichend als auch anstrengungslos werden lassend. Die Vor-Gabe der guten Schöpfung ist die Ermöglichung »Gut-Seins« bei gleichzeitiger Entlastung von einem »Gut-Sein-Müssen« zugunsten eines »Gut-Sein-Könnens«. Die Gabe der Schöpfung ist schon Gabe, ist unverdienbare Vor-Gabe; sie beraubt den Menschen nicht der Würde der Selbst-Verwirklichung des Humanums, stellt aber den Modus Die Unterscheidung zwischen Leben und Lebendigkeit hat entscheidende Bedeutung in einer Debatte, die sowohl um die rechte Interpretation von Walter Benjamins heiklem Essay zur Gewalt als auch zugleich um das rechte Verständnis des darein involvierten biblischen Lebens-Begriffs geführt worden ist. Sigrid Weigel hat hier überzeugend sowohl vor allem Giorgio Agamben als auch Jacques Derrida eine zu kurz greifende Deutung Benjamins nachgewiesen, die vor allem darin fehl geht, dass sie den biblischen Lebens-Begriff (auch im Verständnis Benjamins) von »Lebendigkeit« auf »Vitalität« herunterkürzt. 30 Das »ex nihilo« hängt dann nicht mehr am Material der Schöpfung – dieses geht dem Ordnungshandeln voraus, und der Schöpfungsbericht gibt keine Auskunft über seine Herkunft –, sondern am freien Selbstentschluss Gottes: Diesem nämlich geht nichts voraus, was ihn binden könnte; er ist unbedingt, und in diesem Sinn ist die aus ihm entstehende Wirklichkeit »ex nihilo«. 31 Vgl. hierzu ausführlicher Knut Wenzel, Gott in der Stadt. Zu einer Theologie der Säkulariät. In: Michael Sievernich/Knut Wenzel (Hg.), Aufbruch in die Urbanität. Theologische Reflexionen kirchlichen Handelns in der Stadt, Freiburg 2013 (= QD 252), 330–389, hier: 361–368. 29
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solcher Selbst-Verwirklichung von einem Müssen in ein Können um. Doch auch das gnadenermöglichte Können muss frei angenommen werden und ist also ein Sollen. 32 Wie sehr die Lehrpraxis Jesu in diesem schöpfungstheologischen Rahmen zu verstehen ist, zeigt sich auf der Basis tiefenstruktureller Konvergenzen der zuvor skizzierten gabetheoretischen Interpretation des Schöpfungsdenkens mit der philosophischen Auslegung der Gebetslehre Jesu durch Michael Theunissen. 33 Bei Jesus gibt es keinen kausalverursachenden Zusammenhang zwischen der Gebetsbitte und ihrer Gewährung. Auf diese Einsicht lässt Theunissen seine Durcharbeitung der Philosophie des subjektiven Selbstvollzugs von Kierkegaard zu Heidegger zulaufen – als deren Überbietung. Nicht weil der Mensch bittet, gewährt Gott; dieses würde ein weder Gott noch dem Menschen geziemendes Konditional enthalten: Nur wenn der Mensch bittet, gewährt Gott. Und: Was den Menschen retten würde, die Gnade Gottes, das muss er sich erst durch ein rechtes Bitten verdienen. Jesu Ermunterung zur an Gott adressierten Bitte, zum (Bitt-)Gebet also (Mt 7,7), hat doch eine andere Stoßrichtung: Indem ihr bittet, werdet ihr entdecken, dass Gott schon (immer) gegeben hat. Die Bitte erwirbt keine Gabe, sondern lässt erkennen, dass diese schon immer gegeben ist, und beWenn sich an dieser Stelle ein gnadentheologischer Punkt der Unbestimmbarkeit zeigt, geht dies weder zulasten des Gabe-Modells noch ist von ihm Heilung zu erwarten. Unbestimmbar ist, im Zentrum der Gnade, die Differenz zwischen dem gnadenhaften Ermöglichtsein noch des »Sollens« der Annahme der Gnade, das dann kein Sollen mehr ist, und der (notwendig zu denkenden) Eigentätigkeit des Subjekts in der Annahme der Gnade, welcher dann eben doch ein Aspekt des »Sollens« eignet; »Sollen« ist hier gebraucht als Chiffre der adressierbaren oder appellierbaren autonomen Handlungsinstanz des Menschen. Ich halte es für unwahrscheinlich, dass diese Unbestimmbarkeit (oder Bestimmungsaporie) durch weitere progressive Differenzierungs-, Ableitungs-, Interpretations-, Konzeptualisierungsschritte etc. theoretisch gelöst werden kann. Auf die Gefahr hin, in einen Regress zu verfallen, würde ich eher den Weg zurück zu den Konstitutionsbedingungen des Menschen einschlagen: Wenn das, was Karl Rahner transzendentale Erfahrung genannt hat, als jene basale oder fundamentale Dimension subjektiven Selbstvollzugs aufgefasst werden kann, in welcher der Mensch sich in seiner Subjektivität als solcher so erfährt, dass die transzendentalen Bedingungen der Subjektexistenz im Erfahrungsraum dieser Existenz selbst gegenständlich werden, wenn also Subjekt und Sein in eins erfahren werden, dann liegt jener Unbestimmbarkeitspunkt im Fundament des Menschseins schon vor. Kann dies vernünftig ausargumentiert werden? Vielleicht nicht; vielleicht sind wir hier auf den mystischen Diskurs verwiesen, als einen jener Platzhalterdiskurse, die in der einen oder anderen Weise im Spiel halten, was in strikter Vernünftigkeit nicht (noch nicht oder überhaupt nie) formulierbar ist, aber auch keinesfalls verloren gehen oder der Vernunft unerreichbar werden darf. 33 Vgl. zum Folgenden Michael Theunissen, O aitōn lambanei. Der Gebetsglaube Jesu und die Zeitlichkeit des Christentums. In: Ders., Negative Theologie der Zeit, Frankfurt a. M. 1991, 321–377. 32
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reitet den Bittenden dazu, die Gabe auch identifizieren und annehmen zu können. Auch in dieser Analyse der Gebetslehre Jesu wird eine VorgabeStruktur entdeckt, die ebenfalls nicht entfremdend, sondern entlastend ist, die (in der subjekttheoretischen Wendung, in welche Theunissen Jesu Gebetslehre versetzt) das Subjekt nicht seiner Freiheitsautonomie beraubt, sondern von der Pflicht, sich selbst zu vollziehen, es selbst zu sein, entlastet.
Die Gabe unter dem Vorzeichen der Struktur zu betrachten, rechtfertigt sich also insbesondere im Resonanzhorizont des Schöpfungsdenkens, zumal wenn dieses kosmologisch ausgerichtet ist oder die Aussagekraft seiner kosmologischen Semantik noch einigermaßen gelten lässt. Die Merkmale einer übergreifenden Ordnung, in die der Mensch sich einzugliedern aufgefordert ist, und der vielfältigen und am Ende kosmischen Balancen, die durch eine Ökonomie der Gabe zu bestätigen oder wiederherzustellen sind, prägen so Verständnis und Praxis der Gabe. Aber auch eine pneumatologische Beanspruchung oder Verstofflichung der Gabe verstärkt zunächst deren Strukturdimension, insofern Gott, der Geber aller Gaben, sich im Geist als jene Gabe universalgeschichtlich präsent macht, als die er sich in und durch Jesus aus Nazaret geschichtlich-kontingent identifizierbar gemacht hat. 34 Was auch immer Religion sonst noch sein kann, empirisch reduziert sie sich für viele auf die real existierenden Religions-Körperschaften. Die Kirche, Religions-Körperschaft des Christentums, ist ihrem Selbstverständnis nach realisierte Gabe-Struktur; muss sie sich doch im Licht des Stiftungsgedankens als sich selbst gegeben verstehen, wie sie auch in ihren Selbst- oder Grundvollzügen, insbesondere, doch nicht ausschließlich, in dem der leiturgia, die Gabe der Gnade vermittelt. Struktur der Gabe in diesem ekklesial-sakramentalen Sinn bedeutet: das Amt im sakramentalen Geschehen als Markierung des extra nos der Gnade 35; der gesamtkirchliche Ritus als allgemeine Erschließung der sakramentalen Gnade; die Gestalthaftigkeit der Sakramente als sakramentale Zuwendung der Gnade in die konkreten Lebenssituationen der Menschen. Der integralen VersinnZur theologischen Notwendigkeit der Wahrung der Identität des Wirkens des Heiligen Geists mit dem Heilswerk Jesu Christi vgl. Yves Congar, Der Heilige Geist, Freiburg 1982. 35 Es ist die christologische Dimension des Amts, die in der komplexen amtlichen Handlungsstruktur zur Darstellung kommen soll, »in der Kirche auch vollmächtig ihr gegenüber zu handeln«. Medard Kehl, Die Kirche. Eine katholische Ekklesiologie, Würzburg 1992, 433. 34
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bildlichung dieser dynamischen Gegenwart der Gnade – zwischen Unverfügbarkeit und unbedingter Zugesagtheit, zwischen allgemeiner Zugänglichkeit und konkret-situativem Nahesein – dient die ekklesial-sakramentale Struktur der Gabe. Nun werden aber in dem hier verfolgten Konzept Gabe und Anerkennung nicht antithetisch angeordnet. Musikalisch wären sie zwei Tonarten, die zur Durchführung einer Komposition zur Verfügung stehen. Beide Tonarten werden gebraucht; auch die, in welcher eine jeweilige Sequenz gerade nicht gesetzt ist, ist da; der Wechsel von einer zur anderen ändert die Komposition, hebt aber deren Identität – deren syntagmatische Stimmigkeit – nicht auf. Gabe und Anerkennung sind Konzeptualisierungen von Kommunikation, als solche weder aufeinander reduzierbar noch auseinander deduzierbar, vielmehr Explikationen der Möglichkeiten von Kommunikation. Es kann deswegen nicht Wunder nehmen, wenn durch die Struktur der Gabe die Manifestation der Anerkennung durchscheint. In einem revisionären Wiederaufsuchen der zuvor angesteuerten Kreuzungspunkte der biblisch-christlichen Überlieferung lässt sich erkunden, wie die Struktur auf das Subjekt hin transparent wird, wie sie unterm Subjektprinzip sich verflüssigt: So hat das Schöpfungsdenken schon priesterschriftlich eine Transformation vom Kosmologischen ins Heilsgeschichtliche erfahren; wenn Jesu Gebetslehre eine tiefenstrukturelle Identität mit dem Schöpfungsdenken aufweist, so wäre dies hier doch vollständig zur Motivierung personaler Haltungen beansprucht; ähnlich verwirklicht das pneumatologische Prinzip sich durch personale Haltungen; die Kirche schließlich hat, vorbereitet durch die liturgische Bewegung, auf dem II. Vatikanischen Konzil das Prinzip der actuosa participatio als ekklesiales Prinzip der Subjektivierung des kirchlichen Selbstvollzugs entdeckt. Insbesondere trifft die Subjekttransparenz der Struktur der Gabe aber auf die Praxis der Vergebung zu. Die strukturelle, Gabe-verfasste Dimension der Vergebung ist greifbar etwa im Sakrament der Buße. Sie ist säkular greifbar in der Einbettung der Vergebung im prozessualen Institut der Wahrheitskommissionen, wie sie in Südafrika, Guatemala und andernorts eingerichtet worden sind – Vergebung hier als letzte, äußerste, unerzwingbare, supererogatorische Tat der Opfer, als aus der radikalen Un-Souveränität der Opfer-Position aufsteigende Möglichkeit einer Struktur (jener der Wahrheitskommissionen), die einer dysfunktionalen, mindestens partiell also struktur-losen Gesellschaft implementiert wird, zu deren Heilung.
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Und eben hier beansprucht die Struktur (der Gabe) die keiner Struktur unterworfene Dimension der Manifestation (der Anerkennung). Unausrechenbar, unerzwingbar, unableitbar und komplett unwahrscheinlich ist die Selbstüberwindung oder -überschreitung des Opfers zu einem dann doch wieder souveränen, aber anders souveränen, Akt der Vergebung. – Die Sakramentalisierung der Vergebung darf nicht für deren Mechanisierung stehen, sondern bedeutet deren All-Notwendigkeit. In der Vergebung erfüllt die Struktur der Gabe sich in einem willkürlichen, also strukturlosen Akt. Denn nur ein Subjekt kann einem anderen Subjekt vergeben. Jenes investiert sich ganz in diesem Akt und nimmt dieses im selben Akt ganz – komplett und absolut – wahr. In der Vergebung wird, um es mit einer bedeutungsvollen Verschiebung, durch welche Paul Ricœur die Gabe durch die Anerkennung interpretiert, zu sagen, der Täter in seiner ursprünglichen Anlage zum Guten wahrgenommen. 36 Das kantische Idiom, dessen Ricœur sich hier bedient, macht klar, dass hier die Strukturen der Gabe auf die Manifestationen der Anerkennung hin durchsichtig werden; eine bisher geltende Symmetrie von Gabe und Anerkennung erhält einen Drall hin aufs Subjekt. Durchsichtig wird, exemplarisch in der Vergebung, die Gabenstruktur auf die im Akt der Anerkennung manifest werdende Subjektdimension; die Manifestation der Anerkennung wird aber nie durchsichtig auf die Struktur der Gabe, auch wenn sie ihrer bedarf. Diese Drift zum Subjekt scheint mir auch die Antwort auf die Frage nach dem Wozu der Religion in der Moderne zu enthalten. Wenn im Herzen der Vergebung Anerkennung geschieht und diese den Täter ursprünglicher erkennt als dieser sich gegenwärtig selbst weiß, nämlich in seinen ursprünglichen Möglichkeiten zum Guten, zur unverkürzten Verwirklichung seiner selbst; und wenn diese selbst insofern anerkennungsbestimmt ist, als Subjektivität real sich nur vom anderen Subjekt her erfüllen kann: dann zeigt Anerkennung sich in ihrer fundamentalethischen Dimension. Axel Honneth bevorzugt an dieser Stelle den Begriff der vorethischen Dimension
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Vgl. Paul Ricœur, Gedächtnis (Anm. 21), 757.
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der Anerkennung, um die Absolutheit des Anerkennungsgeschehens zu exponieren. 37 Fundamentalethisch bedeutet nicht: Ethik begründend, im Feld des Ethischen diesem einen Grund liefernd. Von der Gabe kann man womöglich unter Absehung des Subjekts sprechen, oder dieses taucht nur am Rand der Gabeperspektive auf. Die Perspektive der Anerkennung meint hingegen nicht zunächst eine Struktur, ein Gesetz, eine Ordnung. Sie wirft vielmehr einen sowohl unmittelbaren als auch bestimmten Blick auf das Subjekt: als der Anerkennung fähig und bedürftig. Vielleicht ist die menschliche Handlungsfähigkeit, die Bestimmung des Menschen als homme capable, erst vollständig in dieser Doppelbestimmung erfasst, die in der Anerkennung zusammenkommt: fähig, den anderen als solchen, komplett und unbedingt anzuerkennen; bedürftig, selbst im Licht solcher Anerkennung zu leben. In der Doppelbestimmung zu lieben und geliebt zu werden – der Liebe fähig und bedürftig zu sein – besteht die Vollbestimmung menschlicher Handlungsfähigkeit. Die fundamentalethische Dimension der Anerkennung besteht also darin, dass hier das Subjekt im Vollzug seiner selbst ansichtig wird. Nun gehört aber, ausweislich schon des Wortbestands der das Bedeutungsfeld der Anerkennung markierenden Begriffe, eine Erkenntnisdimension zur Anerkennung. Diese als einen der »Wege der Anerkennung« ausgearbeitet zu haben, ist das Verdienst der Anerkennungstheorie Paul Ricœurs. 38 Der systematische Anknüpfungspunkt dieser Erkenntnisdimension in der Anerkennungstheorie Axel Honneths wird in der zuvor genannten vorethischen Einordnung der Anerkennung zu sehen sein: Als solche nämlich stellt Anerkennung die fundamentale Prägung der Wahrnehmung von Wirklichkeit dar: des Anderen, meiner selbst, der Welt. Anerkennung als ein vorethisches, fundamentalsubjektives Geschehen heißt hier: Wahrnehmung von Wirklichkeit um ihrer selbst willen, nicht instrumentell, nicht verdinglicht. Gegenstand der Anerkennung in ihrer Erkenntnisdimension wäre also Wahrnehmung von Wirklichkeit um ihrer selbst willen, in ihrer Nicht-Gegenständlichkeit. So gefasst, hat Anerken-
Vgl. Axel Honneth, Verdinglichung. Eine anerkennungstheoretische Studie, Frankfurt a. M. 2005. 38 Vgl. Paul Ricœur, Wege der Anerkennung. Erkennen, Wiedererkennen, Anerkanntsein, Frankfurt a. M. 2006. 37
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nung als Erkenntnis keine epistemische Seite, bildet kein Wissen aus, höchstens ein Wissen um die Nicht-Wissbarkeit an-erkannter Wirklichkeit. Anerkennungserkenntnis ist nicht verobjektivierbar, schlägt sich nicht nieder in einem Wissen, das sich selbst zum methodischen Gegenstand wird. Hinsichtlich der Erkenntnisdimension ist Anerkennung demnach bestimmbar als Wahrnehmung von Wirklichkeit als Wirklichkeit, von einer bestimmten Wirklichkeit in ihrem Wirklichsein. Auf den ersten Blick scheint diese Bestimmung Anerkennung von der strikten Bindung an Personalität zu entfernen, wie sie Stanley Cavell vorgenommen hat, was wiederum von Honneth übernommen worden ist. Honneth selbst hat allerdings eine interessante Lockerung dieser strikten Personalitätsbindung ins Unbestimmte vorgenommen, indem er in seiner Verdinglichungsstudie, gewissermaßen als Kur der Verdinglichungsdrift, die Anerkennung der Wirklichkeit selbst, der Welt selbst eingeführt hat. Damit diese Öffnung ins Unbestimmte nicht selbst unbestimmt wird – und also beliebig, nichtssagend – muss ihr ein Personalitäts- oder besser Subjektfokus eingetragen werden. Wird dieser an der Adresse solcher auf Welt schlechthin geöffneter Anerkennung angesetzt, hat das die Beiziehung eines schöpfungstheologischen Denkrahmens zur Folge: Wenn Anerkennung auf Wirklichkeit schlechthin zielen kann und zugleich strikt personal verfasst sein soll, muss, soll nicht die Welt selbst personalisiert werden, ein Schöpfergott in solchem Anerkennungsakt adressiert werden. 39
Der subjekttheoretische Fokus kann aber auch anders angesetzt werden, nämlich beim Anerkennenden selbst. Die Qualifizierung der Anerkennung als vor- oder fundamentalethisch lässt sie vom Handelnden her erschlossen sein; Anerkennung ist ein Handeln, aber ein fundamentales, eines, das dem (ethischen) Feld der Klassifizierung der Handlungen vorausgeht, nicht aber der normativen Dimension des Handelns. Vielmehr ist Anerkennung fundamentalethisch, insofern dieses Handeln gewissermaßen näher am Quell von Normativität angesiedelt ist: Anerkennung ist nicht durch einen Handlungsgegenstand bestimmt, sondern durch den Handelnden selbst. Sie kann deswegen auch von gewissen anderen Handlungen schwer abgehoben werden (führt doch die Unterscheidung von Handlungen auf das Feld des Ethischen), die ebensowenig durch einen Gegenstand als
Vgl. zu dieser Lösungsmöglichkeit Knut Wenzel, Theologische Implikationen säkularer Philosophie? Vom »Kampf um Anerkennung« zur Anerkennung unbedingten Anerkanntseins. In: TheoPhil 86 (2011), 182–200.
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vielmehr durch den Handelnden selbst bestimmt sind: Glauben, Lieben, Hoffen, (Selbst-)Bezeugen, Letting Go. Fundamentalhandlungen, mit denen die Anerkennung sich überschneidet, die ineinander fließen, weil der sie bestimmende Unbestimmbarkeitspunkt der homme capable als handelndes Subjekt ist. In diesen Handlungen vollzieht das Subjekt sich selbst; unter diesen Handlungen ist das Subjekt in der ununterbrochenen Tätigkeit seines Selbstvollzugs antreffbar. In der Anerkennung von Wirklichkeit als wirklich ist das anerkennende Subjekt. Subjektbezogen ist also der Akt der Anerkennung nicht ursprünglich deswegen, weil er sich notwendig an ein anderes Subjekt richtet, sondern weil er als Selbstvollzug eines Subjekts vollzogen wird. Am Grund des Vollzugs seiner selbst berührt sich das Subjekt mit Wirklichkeit schlechthin, begegnet es der Wirklichkeit schlechthin, realisiert es das Wirklichsein der Wirklichkeit als Ge-Gebenheit des eigenen Selbstvollzugs. Wenn auf diese Weise der Akt der Anerkennung dem angenähert worden ist, was Karl Rahner transzendentale Erfahrung nennt, ist von solcher Anerkennung noch einmal die Bejahung von Wirklichkeit zu unterscheiden. Anerkennung ist nicht einfach Affirmation, auch im intersubjektiven Verhältnis nicht. Das Subjekt, das dem Wirklichsein der Wirklichkeit als Implikation des eigenen Sein-Könnens gewahr wird – und dies anerkennt –, kann stets noch Stellung nehmen zu dieser Wirklichkeit. Auch die religiöse Klage – etwa des Eröffnungsverses von Psalm 22 oder der radikalen Ungetröstetheit Rachels (Jer 31,15) – einerseits und andererseits das moderne Insistieren auf der subjektiven Unbefriedigbarkeit durch welches weltliche Erfüllungsangebot auch immer – (I can’t get no) Satisfaction – sind fundamentalsubjektive Akte der Anerkennung, die ausdrücklich keine Affirmation einer real begegnenden Wirklichkeit enthalten. Dieselbe Unterscheidung zwischen Anerkennung und Affirmation wird schließlich auch in der Vergebung vollzogen: Anerkennt doch der Vergebende den Menschen im Täter, während er sein Schuldigsein nicht bejaht.
Alltäglich vollzieht sich die Anerkennungshandlung – das Wiederfahrnis der Begegnung mit oder des Gewahrwerdens der Wirklichkeit als Wirklichkeit bzw. in ihrem Wirklichsein – in Gestalt der Begegnung mit einer konkreten Wirklichkeit, intensiv in der Anerkennungsbegegnung mit einem anderen Subjekt. Daher auch die hohe Plausibilität der Bindung von Anerkennung an das Schema der Intersubjektivität. In solcher konkreter, gar intersubjektiver Anerkennungsbegegnung kommt es freilich zur Verdeckung der Anerkennung als Gewahrwerden der Wirklichkeit in ihrem Wirklichsein. Wo dies aber als solches erfahren wird, nennt dies die Religion mystische Die Gabe
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Erfahrung und die Moderne ästhetische Erfahrung. 40 Mystische und ästhetische Erfahrung »gehören« nicht der Religion bzw. der Moderne. Auch soll die unterschiedliche Bezeichnung nicht nahelegen, dass es sich um zwei völlig voneinander differente Erfahrungen handelte. Im Gegenteil scheinen sie mir ihren Identitätspunkt in dem zu haben, was mit Karl Rahner transzendentale Erfahrung genannt werden kann. Religion und Moderne haben aber nun einmal Deutungsmuster unter dem Titel des Mystischen bzw. des Ästhetischen zur Bestimmung dieser Erfahrung(-sdimension, -squalität) ausgebildet. Diese sind nicht deckungsgleich, aber strukturverwandt genug, um eine Tiefenidentität zu vermuten. Wenn diese auf den Begriff der transzendentalen Erfahrung gebracht werden kann, ist damit keine Position gewonnen, von der her ein Wahrheitsentscheid in der Deutungsrivalität zwischen mystischer und ästhetischer Interpretation der Erfahrung des Absoluten bzw. der absoluten Erfahrung möglich oder gar zwingend wäre. Wichtig ist vielmehr, dass sowohl die Religion als auch die Moderne eine Erfahrungsdimension identifizieren und zu sich in Beziehung setzen, die sie zugleich als nicht formalisierbar, unoperationalisierbar, unverfügbar gelten lassen müssen.
7.
Das Wozu der Religion: unverkürzt verwirklichte Subjektivität
Mit der mystischen und der ästhetischen Erfahrung – um nicht wieder zu sagen: mit dem Subjekt – denn welcher Instanz sonst sollte diese Erfahrung zugeschrieben werden können –, ist also sowohl der Moderne als auch der Religion etwas Unintegrierbares eingeschrieben, das sie erkennen und anerkennen können, wenn nicht müssen. Wo Moderne und Religion dieses Unintegrierbare bekämpfen, richtet dieser Kampf sich nicht gegen Fremdes, sondern ihnen jeweils Bekanntes. So muss die Moderne noch in ihrer reduziertesten, deformiertesten Form das Subjekt adressieren, auch wenn sie es nur noch als Quell ausbeutbarer Was Letzteres anbetrifft, beziehe ich mich auf den von Christoph Menke ausgearbeiteten Begriff ästhetischer Erfahrung, dessen Koordinaten mit den Namen Johann Gottfried Herder, Friedrich Nietzsche, Theodor W. Adorno und Jacques Derrida angegeben werden können. Vgl. Christoph Menke, Kraft. Ein Grundbegriff ästhetischer Anthropologie, Frankfurt a. M. 2008.
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Leistungsfähigkeit, verführbarer Konsumwilligkeit wahrnehmen will. Dass dieses selbe Subjekt, um Quell verwertbarer Leistungen sein zu können, zunächst unverfügbar, unverrechenbar sein können muss, eigene Quellen zweckfreier Lebendigkeit hat und diese sich ihm etwa in der ästhetischen Erfahrung erschließen, und dass dies alles ebenfalls konstitutiv zur Moderne gehört, kann sie nur um den Preis der Selbstverstümmelung vergessen oder bekämpfen. Was die Religion anbetrifft, gehört die Spannung zwischen Struktur (Körperschaft, Ordnung, Amt und Nomos) einerseits und mystischer Erfahrung andererseits zu ihrer Grundausstattung. Die Bekämpfung des Mystisch-Religiösen durch die Ordo-Religion begegnet immer wieder (von der Verurteilung Meister Eckharts über die Verbrennung Marguerite Poretes bis zur aktuellen Bekämpfung des Sufismus durch den so genannten orthodoxen Islam 41). Die Religion wird aber nur überleben, wenn es ihr gelingt, die – einen Aspekt der Nicht-Identität tragende – Spannung zwischen Ordo-Religion und mystischer Religiosität, zwischen Struktur und Manifestation, zwischen Sozialität und Subjekt, zwischen Gabe und Anerkennung aufrecht zu erhalten. Die christliche Mystik des Mittelalters hat in einem solch identitätsbildenden Maß aus den spätantiken Quellen des (Neu-)Platonismus geschöpft, 42 dass in den Umbrüchen der Doppelepoche von Neuzeit und Moderne ihr Untergang zu erwarten gewesen wäre. Das Gegenteil ist geschehen: Es kommt zu Neuaneignungen des mystischen Paradigmas, in Spanien nicht nur bei Teresa von Avila und Johannes vom Kreuz, sondern auch bei Ignatius von Loyola; Port Royal ist zu nennen; und mit dem Pietismus langt dieses Paradigma im Herzen der Aufklärung an, wenn auch in einer anderen Kammer als der des Rationalismus. Und jenseits artikulierter Religionsdiskurse lassen sich in der Kunst der klassischen Moderne und seither viele Rückgriffe auf das Paradigma der Mystik (von denen auch manche in die Esoterik daneben greifen) nachweisen; zu Rainer Maria Rilke und Robert Musil etwa ist dies erschlossen; 43 und die Präsenz des Johannes vom Kreuz und der Teresa von Avila im Werk Peter Handkes ist unübersehbar. 44 Unter den Bedingungen von Neuzeit und Moderne, so könnten Im Modus der teilnehmenden Beobachtung beschreibt Navid Kermani dies in seinen Reisen in eine beunruhigte Welt: Navid Kermani, Eine Reise zu den Sufis. Pakistan, Februar 2012. In: Ders., Ausnahmezustand. Reisen in eine beunruhigte Welt, München 2013, 73–103. 42 Vgl. aus der Fülle der Literatur hierzu nur Loris Sturlese, Homo Divinus. Philosophische Projekte in Deutschland zwischen Meister Eckhart und Heinrich Seuse, Stuttgart 2007. 43 Vgl. Martina Wagner-Egelhaaf, Mystik der Moderne. Die visionäre Ästhetik der deutschen Literatur im 20. Jahrhundert, Stuttgart 1989. 44 Vgl. Knut Wenzel, Mystik ohne Kanon: Peter Handke, Der Bildverlust oder Durch 41
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solche Neuaneignungen einmal definitorisch zusammengefasst werden, steht das mystische Paradigma für die gleichzeitige Exponierung des Subjekts und der Seinserfahrung. Im Zentrum solcher moderner Mystik-Rezeption steht der deutsche Idealismus, Fichte und vor allem Schelling. Die innertheologische Debatte zwischen monistischen und differenztheoretischen Denkansätzen, welche beide sich auf den deutschen Idealismus beziehen, steht symptomatisch dafür, dass die Denkbarkeit des mystischen Propriums – die Differenzeinheit von Subjekt und Sein – noch keineswegs ausgehandelt ist. 45
Im Licht dieser Entwicklung lässt sich die mystische Erfahrung als Implikat der Moderne in der Religion begreifen. Dies nicht nur hinsichtlich des Subjekts in seiner Unüberspringbarkeit, sondern auch deswegen, weil die Mystik als Diskurs sich von der Artikulation (oder Betrachtung oder Erörterung) der Erfahrung des Absoluten hin zur Reflexion des Ausbleibens dieser Erfahrung, des Nicht-Statthabens dieser Begegnung, der Trauer über den Verlust des Absoluten entwickelt hat. 46 Es gibt eine Mystik der Abwesenheit, des Vermissens, der Trauer. Die sich hierin zeigende Melancholie resultiert aber nicht aus Resignation (oder bewirkt sie); sie ist vielmehr ein spezifischer Ausdruck von Liebe. Dass Religionen sich unter den jeweiligen sozialen, politischen, ökonomischen … Bedingungen in ihrer empirischen Materialität verändern, lässt sich leicht, vielleicht sogar ein bisschen wohlfeil, an aktuellen, weltweiten Prozessen und Ereignissen plausibilisieren. Die These, dass Religionen nicht intrinsisch gewaltförmig sind, sondern dies erst durch Extremisierungsreaktionen auf den politisch-ökonomischen Druck der Globalisierung werden, hat gegenwärtig unter dem Eindruck der Tagesnachrichten höhere Evidenz als die noch unlängst lebhaft diskutierte These Jan Assmans von der Gewaltförmigkeit monotheistischer Religionen, die die Wahrheitsfrage in die friedsame Welt des Polytheismus gebracht haben. – Hiervon unterschieden ist eine andere Fragestellung, die ich als Hypothese formulieren möchte: Religion transformiert sich in ihren Selbstkonzeptualisierungen unter dem Einfluss der normativen Optionen der Moderne. Die Moderne ist skeptisch hinsichtlich einer selbstverständlichen, sozusagen natürlichen die Sierra de Gredos. In: Gregor Maria Hoff (Hg.), Auf Erkundung. Theologische Lesereisen durch fremde Bücherwelten, Mainz 2005, 71–89. 45 Vgl. zu dieser Debatte Magnus Lerch, All-Einheit und Freiheit. Subjektphilosophische Klärungsversuche in der Monismus-Debatte zwischen Klaus Müller und Magnus Striet, Würzburg 2009 (= BDS 47). 46 Vgl. Michel de Certeau, Mystische Fabel. 16. bis 17. Jahrhundert, Berlin 2010, 7– 23.
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Präsenz und Verfügbarkeit des Absoluten, kann zugleich aber nicht davon ablassen, dieses Absolute in Anspruch zu nehmen: etwa, wenn es um Würde-Begründungen geht, um Verfügbarkeitsentziehungen oder um Erfüllungsversprechungen. Dieser gebrochene Rekurs der Moderne aufs Absolute wirkt zurück auf die Religion, ablesbar etwa an einer Renaissance der Negativen Theologie.
Es mag an der Zeit sein, diese Transformationen des Glaubens und der Religion, wie sie vor allem mit einer Säkularisierungsentwicklung in Verbindung gebracht werden, die als spezifisch für Europa angesehen werden, vom Makel des Defizitären freizusprechen. Nicht Glaubensschwachheit könnte sich hierin artikulieren, sondern eine Glaubensdiskretion: Der gebrochene Rekurs aufs Absolute artikuliert religiös sich im Verzicht darauf, die Welt in ihrer konkreten, stofflichen, endlichen, zerbrechlichen und widersprüchlichen Hiesigkeit – in ihrer Immanenz – mit einem absoluten Anspruch zu belasten: mit dem Anspruch auf ein erfülltes Leben, das endgültig unverloren sein wird, mit dem Anspruch auf das also, was Kant noch einmal unter dem Begriff der Glückseligkeit aufnimmt, und das weder einer antik-paganen oder postmodernen Vorstellung vom Glück entspricht, weil dies die Brüchigkeit und Schuldversehrtheit realen Lebens nicht aufnimmt, sondern verdrängt, ausscheidet, konterkariert, und das genausowenig synonym mit den Begriffen des Jenseits und der Unsterblichkeit ist, weil diese geradezu antithetisch zur Welt in ihrer Hiesigkeit und Zeitlichkeit gebildet werden. Der Anspruch auf Glückseligkeit ist in seiner Legitimität unmittelbar evident, insofern es personale, reflexe Lebendigkeit – den Menschen – gibt. Ihn dennoch nicht dieser Welt in ihrer strukturellen Endlichkeit aufzulasten, wird in der christlichen Tradition immer wieder als Welt-Flucht, Welt-Verachtung, oder gar als Ent-Weltlichung gefasst. Aber ist dieser christliche Welt-Vorbehalt nicht auch als Ent-Lastung der Welt (in ihrer Endlichkeit) von dem (legitimen) Anspruch auf Verwirklichung erfüllter Existenz zu verstehen, und enthält er dann nicht einen eminenten Akt der Anerkennung, ist solcher Welt-Verzicht nicht im Kern ultimative Welt-Anerkennung? Glaube triumphiert dann nicht mehr im Pathos letzter Gewissheit, er tritt mit einer sich der Welt zuwendenden Diskretion auf. Und geschieht solche Anerkennungals-Ent-Lastung im (gebrochenen) Rekurs aufs Absolute, ist der ursprüngliche Anspruch auf Glückseligkeit keineswegs preisgegeben. Doch wird seine Erfüllung unter dem Vorbehalt der Selbst-Zuwendung des Absoluten gesehen. Erfüllte Existenz wird so der Logik der Die Gabe
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Herstellung entzogen und in die Perspektive der Gabe gerückt. Dies ist es, was die Religion der Moderne anbieten kann: ein Verständnis des Sich-Ausstreckens auf Glückseligkeit – des Verlangens nach Anerkennung –, das dieses aus der Zwangslogik der Produktion löst, ohne es dabei preiszugeben. 47
Vgl. ausführlicher zu diesen letzten Gedanken: Knut Wenzel, Europa. Archipel der Moderne – und eines melancholischen Glaubens. In: Gregor Maria Hoff (Hg.), Europa. Entgrenzungen (Salzburger Hochschulwochen 2014), Innsbruck 2015, 11–48.
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II. Hingabe statt Tausch? Ökonomie und Anökonomie der Gabe
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Gabe der Freiheit, Schöpfungsfruchtbarkeit, Hingabe bis zur Stellvertretung. Anökonomie bei Emmanuel Levinas Kurt Wolf
Obwohl Levinas selten ausdrücklich von Gabe spricht – eher von Gebung (donation) und Geben –, kann er als der phänomenologische Begründer der Philosophie der Gabe gelten, deren anökonomische Aspekte er betont, wodurch er ihre Primordialität profiliert. Er hebt die Gabe von einer ethnologisch-soziologischen Ebene (besonders Mauss und Nachfolger) auf eine philosophische Metaebene. Dort dient ihm eine Sozialontologie der Interpersonalität als Grundlage für eine Erste Philosophie, die er Ethik nennt. Zur Beschreibung der Erscheinungsweisen dieser »Ethik als Erste Philosophie« bedient er sich der Phänomenologie. Levinas vertritt eine Metaphysik des Guten, die unter Einbeziehung der Idee des Unendlichen darüber hinaus in eine Religionsphilosophie übergeht. Er lehnt trotz seiner Kritik einer monistischen abendländischen Tradition Ontologie nicht von vornherein ab, sondern spricht häufig von der »Schwere des Seins« – hebr. kabod, d. h. religiös von »Herrlichkeit« und ihrer Epiphanie im menschlichen Antlitz. Ontologie ist für ihn darum in erster Linie Sozialontologie. Von diesen metaphysischen/ ontologischen/ phänomenologischen Prämissen her ist seine Philosophie der Gabe zu sehen. Sie hat Vorgänger in der Seinsphilosophie der 50er und frühen 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts: im heideggerschen »Es gibt Sein«/ »Es gibt Zeit«, in Frankreich bei dem zu jung verstorbenen Claude Bruaire, der in der Tradition der »philosophie de l’esprit« (Lesenne, Lavelle) von der unendlichen Mitteilbarkeit des Geistes als Gabe des Seins spricht sowie in Deutschland in der neothomistischen Seinsgabe bei Ferdinand Ulrich. Allesamt sind sich einig in der primären Anökonomie der Gabe. 1 Zur Vorgeschichte vgl. meinen Aufsatz »Gabe«, Sozialontologie und Religionsphilosophie. In: Münchner Theologische Zeitschrift 59 (2008), 256–269; ders., Philosophie der Gabe. Meditationen über die Liebe in der französischen Gegenwartsphilo-
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Neu ist aber in der phänomenologischen Übernahme der Gabephilosophie die starke Betonung der Verleiblichung, die zu einer ganzheitlichen Sichtweise des anderen Menschen und des göttlichen Anrufs im Antlitz des Anderen führt. Im folgenden werden nun paradigmatisch drei Formen der Anökonomie der Gabe geschildert, die für Levinas fundamental und für die Weiterentwicklung der Philosophie der Gabe wichtig sind: 1. die Einsetzung der Freiheit, 2. die Schöpfungsfruchtbarkeit und 3. die Hingabe bis zur Stellvertretung.
1.
Gabe der Freiheit
Da Levinas Ethik als Erste Philosophie begreift, ist für ihn die Herkunft der Freiheit von grundlegender Bedeutung. In einer Art »Metaethik« geht Levinas der Frage nach, wie Freiheit entsteht und was ihr Grund ist. Zuerst beschreibt er sie als phänomenale Gegebenheit. Das transzendentale Subjekt ist ihrer zunächst als unbegrenzte Spontaneität bewusst, die alles seiner Herrschaft unterwerfen will. In ihrer scheinbar grenzenlosen Expansion begegnet diese auf Totalität bedachte Freiheit jedoch einem doppelten Widerstand: einem leibhaften Anstoß als Schranke und einer ihren Spielraum begrenzenden Aufforderung, einem gleichsam elastischen, aber Norm gebenden Anruf, 2 sich selbst zu begrenzen. In dieser Beschränkung ihres Könnens und im Angesprochensein wird sie sich zugleich bewusst, dass sie ihre Existenz nicht völlig frei gewählt hat und sie sich selbst bis zu einer gewissen Grenze »aufgenötigt« ist, ja dass sie in einem sprachlichen »universalen« Zusammenhang steht, der sie mit dem Anderen ihrer selbst verbindet (114). Sie wird sich ihrer verleiblichten antwortenden Individualität (76) bewusst und wird in den Stand versetzt, »Ich« zu einem »Du« (44) zu sagen, das initiativ offenbar das Gleiche kann und ebenfalls offen ist zu einem noch unbestimmten verbindenden Dritten (435). sophie, Stuttgart 2006; ders., »Gabe der Freiheit, Gabe der Liebe«. In: Susan Gottlöber / René Kaufmann (Hg.), Gabe, Schuld, Vergebung, FS für Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz, Dresden 2011 (Religionsphilosophie. Diskurse und Orientierungen; 4), 361–383. Zur Fortentwicklung s. Claude Romano, Il y a, Paris 2003, 15 ff. (Geben als Metakategorie ist mehr als Werden), sowie Marcel Hénaff, Die Gabe der Philosophen, Bielefeld 2014 (Frz. Le Don des Philosophes, Paris 2012), 20 f. 2 Vgl. Emmanuel Levinas, Totalität und Unendlichkeit, Freiburg / München 1987, 92 f., 287. Seitenangaben im Folgenden in Klammern im Text.
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Gabe der Freiheit, Schöpfungsfruchtbarkeit, Hingabe bis zur Stellvertretung
Erst jetzt wird sich das bisher vermeintlich unbeschränkt spontan freie Subjekt der Möglichkeit eines wirklichen »Anfangs« innerhalb von fortbestehender Unbegrenztheit, ja eines Horizontes von Unendlichkeit, der ein noch unbestimmtes Drittes offen hält, bewusst, als »Ereignis des Ich und nicht als eine Erfahrung unter anderen« (211, 291), »Ereignis«, weil es das spontane Ich in sein Eigenes gibt (Selbstheit). Ein Seiendes, mit bewusstem leiblich begrenztem Leben »begabt«, ist »geboren« (210) und kann das Selbst oder Person genannt werden. Seine fundamentale Relationalität heißt Interpersonalität (die über die sachbezogene Intersubjektivität hinausgeht). Der Drittbezug auf ein absolutes oder soziales »Er« von Ich und Du ermöglicht schließlich ein »Wir« (435). Dieses kann sich zur Fruchtbarkeit (s. u.) entwickeln und damit ein virtuell unbegrenztes Zusammenwirken von Brüderlichkeit begründen. Eine Welt voll »Leben« (238), »Genuss« (76 ff.) und »Glück« (84 ff.) ist nun gegeben, doch auch von »Arbeit«, denn frei sein bedeutet nunmehr, »eine Welt konstruieren, damit man darin frei sein kann« (239). Diese gemeinsame Freiheit erhebt das Selbst, das stets mit einem Antlitz als leibhafter Ausdruck begabt ist und in seinem Unendlichkeitshorizont zugleich spurhaft als »Präsentation des Seins« entgegentritt (291), in eine übergreifende Ordnung der Verantwortung gegenüber dem Anderen oder einem vielleicht noch unbekannten Dritten. In dieser gemeinsamen Ordnung bleibt die Freiheit der Person »unausweichlich … aufgerufen«, nicht nur zur Selbstbegrenzung, sondern zur Bejahung des Anderen, eben zur »Güte«, damit zur drittbezogenen Teilnahme an Seinsschöpfung. »Auf diese Weise lässt das unnachlässliche Gewicht des Seins« Freiheit in eine unendliche Forderung entstehen. Über Willkürfreiheit und bloße Wahlfreiheit oder gar die »Unmenschlichkeit des Fatalen« hinaus tritt die personale Freiheit in den »strengen Ernst der Güte« (288), der von der Hoheit eines übermenschlichen »Jenigen« (Illeität) ausgeht. Die Verpflichtung gegenüber dem Anderen geht in ihrem Wertrang der gleichwohl notwendigen Enthüllung des Seins voraus. Die Ebene der Ethik ist insofern »früher als die Ebene der Ontologie« (289). Denn die Idee des Guten gibt Seinssinn (mit Platon »Jenseits der Wesenheiten – epekeina tes ousias«). Vermittelt durch den »Empfang des Antlitzes« kommt der Wille zur Vernunft (317). Er muss die gegebene Transzendenz des Anderen anerkennen, selbst wenn er ihn ablehnt. Erst durch die Transzendenz des Anderen wird die Freiheit im vollen Sinne eingesetzt, kommt sie endgültig zu sich Die Gabe
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im Selbst (327). Jeglicher Solipsismus bleibt nunmehr in Frage gestellt (112 f.). Die Dringlichkeit einer Antwort aus Freiheit wird voll bewusst und aktuell in der Hilfe für Notleidende (288). Die Antwort der Güte wird hier zugleich ganz individuell. Aber auch die »sozialen und politischen Institutionen« in ihrer über die bloße Innerlichkeit hinausgehenden Universalität fordern konkret Initiative (348), guten Willen (353) und öffnen die Freiheit zur bindenden »Universalität der Gesetze«. Aus dem Mangel an voller Erfüllbarkeit gesetzlicher und politischer Erfordernisse entsteht jedoch auch die Sehnsucht »nach einer religiösen Ordnung«, nach einer erfüllenden »Ordnung der Freude« (356), einer »messianischen Zeit« der Hoffnung (416). Die Religion stellt eine grundlegende Seinsmächtigkeit vor, die sich in einer ständigen Neuhervorbringung »aus dem Nichts« (148 f.) bewährt. Im Akt einer fortwährenden Schöpfung zeigt sich eine Macht des Guten, »die in Gott über ein ewig in sich zufriedenes Sein hinausgeht« (316) 3. Diese souveräne Seinsmächtigkeit aus der Schwere und Herrlichkeit eines gründenden, personhaften, absoluten Seins zeigt ihre schenkende Kraft und dialogische Nähe dergestalt, dass sie menschliche Freiheit durch eine Selbsteinschränkung des »Unendlichen« (146 f.) 4 einräumt und ermöglicht. In einer reinen Gabe von Selbstentäußerung schafft sie einen »Platz« für endliche Freiheit: »Das Unendliche ereignet sich, indem es in einer Kontraktion auf die Ausbreitung zu einer Totalität verzichtet und damit dem getrennten Seienden einen Platz lässt … ein Unendliches, das sich nicht kreisförmig mit sich zusammenschließt, sondern sich aus dem ontologischen Raum zurückzieht, um einem getrennten Seienden einen Platz zu lassen, existiert göttlich« (148). Durch den Aufstieg (Ascendenz) zum Religiösen kann nun die Freiheit voll als Gabe gewürdigt werden. Sie kommt aus einer Unendlichkeit von potenzhafter Güte und wird dadurch zur Güte verpflichtet. Der Mensch wird als Hoheitsträger eingesetzt und als Teilhaber in die Ordnung des Guten gerufen (148). Die Anökonomie schöpferischer Güte befähigt wiederum zur Güte. Diese Ordnung der Güte beschränkt sich nicht auf die Zweisamkeit von Ich und Du (307). Die fundamentale Beziehung auf den Vgl. hierzu auch Emmanuel Levinas, Zwischen uns, München 1995, 74. Levinas bezieht sich zugleich auf den ontologischen Gottesbeweis von Descartes, 110 f.
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Gabe der Freiheit, Schöpfungsfruchtbarkeit, Hingabe bis zur Stellvertretung
schöpferischen göttlichen »Dritten« der Gabe der Freiheit erkennt ihn zugleich als unterweisenden »Meister« und fordernden Richter. Sie eröffnet schließlich die Möglichkeit eines entsprechenden menschlichen Dritten als »Meister der Gerechtigkeit«. Die Vision eines Dritten führt zudem generationsübergreifend zu Fruchtbarkeit und Brüderlichkeit. In einem doppelten Sinn heißt es darum: »In den Augen des Anderen schaut mich der Dritte an« (307 f.). Es ist der göttliche wie auch der menschliche Dritte – einerseits der Dritte eines »Meisters der Gerechtigkeit« wie andererseits der Dritte in der Generationenkette, Vorbild wie Nachkomme und auch Ahne. Aus der »beschämenden« (113 f.) Freiheit der Willkür oder der bloßen Spontanität von »Begehren« und »Bedürfen« (z. B. in einem selbstbezogen Eros) (372) führt die Sphäre der »Gerechtigkeit«. Zielpunkt bleibt die »Einzigkeit« des Anderen. Aus Singularität wie »Gleichheit der im Du Verbundenen« erwächst die im Wir zusammengeschlossene »gesamte Menschheit«. Diese bleibt somit mehr als bloße Gattung, da sie jederzeit auf ein individuelles Antlitz zurückgeführt werden kann, das am Beginn aller Begegnung steht (308 f.). Das Antlitz aber ist »Spur« des Göttlichen, das in Aufforderung und Anruf aus der »Schwere und Herrlichkeit« des Seins als geheimnisvolles Urpersonales erscheint (306 ff.), ereignete Gabe zur Weitergabe. Freiheit wird damit zur Aufgabe. »In der Gerechtigkeit, die meine willkürliche und vereinzelte Freiheit in Frage stellt, werde ich … aufgerufen, Verantwortung zu übernehmen«, Ver-antwortung in einem ganz wörtlichen Sinn, um nicht in einer totalitären und unpersönlichen »universalen Ordnung« aufzugehen. Die Einzigkeit eines Antlitzes und die verpflichtende »Auserwählung« jedes Hoheitsträgers bleibt erhalten und ist letzter Orientierungspunkt aller Motivation (360 f.). Schließlich nötigt die vollkommene Gerechtigkeit aus dieser ihrer Motivationsquelle heraus, über ein »geradliniges«, aber abstraktes Gleichgewicht hinauszugehen, d. h. zum Schöpferischen zurückzukehren. Denn: »hinter der geraden Linie des Gesetzes erstreckt sich unendlich und unerforscht das Land der Güte« (360 f.) unbegrenzten Gebens oder anders gesprochen – der »Weisheit der Liebe« (12) 5, die nunmehr den Einzelnen als Auserwählten einer Schöpfungsgemeinschaft würdigt, um die Gabe der Freiheit weiterzugeben. 5
Vgl. auch Emmanuel Levinas, Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht,
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Gabe der Schöpfungsfruchtbarkeit
Von Augenblick zu Augenblick wird Sein gegeben, vollzogen. »Denn das Sein, auf das uns das Verschwinden der Welt aufmerksam macht … ist die Tatsache, dass man ist, die Tatsache, dass es gibt«. Sein wird übertragen, »indem es schon ist«. Ständig verwirklicht sich »ein unvergleichliches und vorgängiges Geschehen der Teilhabe an dem Sein … ein Ereignis der Geburt«. Für den mit Freiheit begabten Menschen heißt dies als Aufgabe: »Eroberung des Seins, die fortwährend neu beginnt … in einer Zeit der diskreten Augenblicke, von denen jeder aus dem Nichts kommt« 6. Die Zukunft ereignet sich als Möglichkeit auf das Subjekt hin. Sie erscheint aus der »Unendlichkeit« und kommt und geht ins »Unvordenkliche«, Absolute. Aber im Vorbeigang bringt sie Frucht, die im Zusammenwirken von Menschlichem und Göttlichem bleibt. »Das unendliche Sein, d. h. das Sein, das immer von neuem beginnt 7 – das Sein, das nicht auf die Subjektivität verzichten kann, weil es ohne sie nicht beginnen könnte – ereignet sich in der Gestalt der Fruchtbarkeit« 8. Dies ist der erste Beitrag des Menschlichen in der fortwährenden Schöpfung. Die Leiblichkeit der menschlichen Liebe erzeugt Fruchtbarkeit aus »Zärtlichkeit und Wollust« (370–390). Diese Fruchtbarkeit bleibt jedoch zugleich eine Gabe jenseits bloß menschlicher Verfügbarkeit – eine Gabe von »hinter den Toren des Seins« (389). Zeugung bedeutet eine wahrhafte »Trans-Substantiation«, das Hervorbringen einer neuen Substanz. Da sie aus der »Liebe der Liebe des Anderen« entsteht, ist sie eine Wandlung aus einer Tiefe von Identifikation und Andersheit, die eine bloße Verschmelzung übersteigt (389 f.). Jenseits der Verfügungsmacht eines Vermögens, aber gleichwohl als Erfüllung des Begehrens nach einem Kind ergibt die Zeugung die Gabe des Neuen, das »aus dem Jenseits des Möglichen, … der Entwürfe« auf uns zukommt (391 f.). Als Jugend des Seins ist das Kind »nicht eine Zukunft des Selben« (392). Darum ist es zugleich vertraut und durch seine eigene Freiburg / München, 1992, 77, 311, 351 ff., 392. (frz. Autrement qu’être ou au-delà de l’essence, Den Haag 1974). 6 Emmanuel Levinas, Vom Sein zum Seienden, Freiburg / München 1992, 23; s. a. Romano, Il y a, 345 ff. 7 Entsprechend dem »esse commune« bei Thomas von Aquin. 8 Levinas, Totalität, 392. Seitenangaben im Folgenden in Klammern im Text.
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Gabe der Freiheit, Schöpfungsfruchtbarkeit, Hingabe bis zur Stellvertretung
Zukunft neuartig fremd (391). Denn »die Beziehung zum Kind …, nicht Können, sondern Fruchtbarkeit … schafft eine Beziehung zur absoluten Zukunft«. Durch die Generationenfolge erneuert sich die Geschichte in unerschöpflicher Jugendlichkeit (393). Dem Altern zum Trotz bleibt das Ich am Ursprung der »Zeit des absolut Anderen« in der Gabe der Empfängnis des Kindes (393 ff.) – »Transzendenz der Fruchtbarkeit« (397). Diese eigenartige Transzendenz bewirkt zugleich eine Befreiung des Ich von sich selbst (seiner Eigensucht) in der geschenkten Entdeckung, »Ursprung« eines Anderen sein zu können. Dies bedeutet einen potenziellen Weg zur Güte in der Aufgabe der Ernährung und Erziehung. Die Einzigkeit der Geburt hat jeden Menschen bereits zu einem Auserwählten gemacht, aber unter den Anderen, die wie er gebürtig sind und erzogen heranwachsen sollen von der Familie über die Nation zur Menschheit. Einzigkeit und Brüderlichkeit verweisen aufeinander. »Ich bin Ich und auserwählt, aber wo kann ich auserwählt sein, wenn nicht unter anderen Erwählten, unter Gleichen« (407). Dabei ist primär nicht die Gemeinsamkeit des Genus, sondern zwischen Brüdern das ursprüngliche »von Angesicht zu Angesicht«. Dies bedeutet gleichzeitig Privileg der Einzigkeit wie Unterordnung unter die »Meisterschaft« des Anderen. Diese Gabe der Brüderlichkeit »ist keine Zutat zum Menschen wie eine moralische Errungenschaft, sondern macht seine Selbstheit aus« (408 f.). Diese Brüderlichkeit ermöglicht erst die lebendige Solidarität einer sozialen Ordnung. Das Erotische mündet also ein in die Möglichkeit der Güte, die ursprunghaft von der Familie ausgeht und im Sozialen und Politischen dauerhafte Erfüllung finden kann. Denn die Brüderlichkeit ruft den Übergang von der Direktheit des Von- Angesicht – zu – Angesicht zum Dritten hervor, von der menschliches Leben gebenden Fruchtbarkeit zur Weisung gebenden Gerechtigkeit. Die Gegebenheit der Gestalt des Dritten verbindet Fruchtbarkeit und Gerechtigkeit. Der menschliche Dritte entspringt als Kind der Zweisamkeit des Von – Angesicht – zu – Angesicht. Für dieses Verhältnis ist das Kind Träger einer unendlichen Verheißung von Zukunft. Die Gebürtigkeit ist andererseits ein Verweis auf die Generationenkette der Vorfahren und ihrer Filiation bis in eine unvordenkliche Vergangenheit. So heißt, das Erscheinen der Menschheit prinzipiell zu explizieren, nicht nur vom Du des Ich auszugehen, sondern auch vom Er des Dritten, wodurch erst ein bleibendes Wir Die Gabe
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gestiftet wird (308, 435). Die Gabe der Fruchtbarkeit, die schließlich Gerechtigkeit erst ermöglicht, erinnert jedoch: »Wäre der Andere ohne Hinwendung zum anderen Menschen?« 9. Mit der Frage nach dem menschlichen Ursprung stellt sich darüber hinaus die Frage nach dem Geber der gesamten Abstammungskette aus der »Schwere des Seins«, nach dem Ursprung des Guten und einer ewigen Gerechtigkeit. Dabei muß es sich um eine personale Ordnung handeln, da bereits das menschliche Antlitz eine solche repräsentiert. Die ursprunghafte göttliche Person – Geber und Erhalter aller Fruchtbarkeit der Abstammungskette – »ist nicht ein Weniger als das Sein im Verhältnis zur Welt«. Sie ist als »jenseits des Seins der Welt« die ganze Unendlichkeit des »absolut Anderen«. 10 In seiner Nennung ist es zuallererst ein »Er«, eine »Illeität« über allen Namen, insofern ein »Pro-nomen«, »das allem, was einen Namen trägt, sein Siegel einprägt« 11. Dieses Siegel erscheint spurhaft im sprechenden Antlitz des Nächsten, so daß ich in ihm »Gottes Wort höre«. 12 Der unendliche Dritte, kurz: »der Unendliche«, ist guter Geber des Seins und ursprünglicher Anrufpartner. Von ihm als unendlichem Bewußtsein oder Geist entstammt alles Bewußtsein in »Inspiration«. Damit ist er auch Quell aller Formen von Fruchtbarkeit in Gerechtigkeit, auf den der menschliche Andere als »Meister der Gerechtigkeit« verweist. Die mir gegebene Freiheit zum Anderen hin »entfaltet ihre Kraft in dem ganzen persönlichen Werk meines moralischen Wirkens« 13. Die Weitergabe der Fruchtbarkeit und Gerechtigkeit ereignet sich sozial im Geben des Werkes. Seiner tiefsten Intention nach ist es anökonomisch. »Eine Orientierung, die frei vom Selben zum Anderen geht, ist Werk«. Es dürfte radikal gedacht niemals zum Selben zurückkehren. »Das Werk ist also ein Verhältnis zum Anderen«, das ihn erreicht, bevor er sich berührt zeigt. Es erwartet nicht ungeduldig »den Triumph seiner Sache«, keinerlei Gegenseitigkeit. 14 Sein Sinnen bleibt in der »Geduld«. Für den Handelnden heißt das: »darauf zu verzichten, der Zeitgenosse des Ans- Ziel -Kommens zu sein«, oder in biblischer Anspielung: »ohne in das Verheißene Emmanuel Levinas, De Dieu qui vient à l’idée, Paris 1982, 132 f. Emmanuel Levinas, Die Spur des Anderen, Freiburg / München 1983, 229 f. 11 Levinas, Jenseits des Seins, 395. 12 Emmanuel Levinas, Zwischen uns, München 1995, 57. 13 Levinas, Totalität, 435. 14 Emmanuel Levinas, Humanismus des anderen Menschen, Hamburg 1989, 33 f. 9
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Gabe der Freiheit, Schöpfungsfruchtbarkeit, Hingabe bis zur Stellvertretung
Land einzutreten«. Allgemein auf die Zeit bezogen: »Sein für eine Zeit, die ohne mich ist, für eine Zeit nach meiner Zeit«, vielleicht für die Ewigkeit – womit die »Möglichkeit des Opfers« anklingt. Nichtsdestoweniger oder vielleicht gerade darum schwingt im Werk mit »eine radikale Jugend des großherzigen Elans« 15. Es ist die Liebe zu einem unbekannten Anderen. In der schöpferischen Uneigennützigkeit des Werkes ist endgültig die Dimension der Liebe erreicht. Über die bewahrende und ordnende Gerechtigkeit hinaus lebt in der Liebe die Fülle des Schöpferischen und der tiefsten Anerkennung des Anderen. Wir können sie hier nur kurz würdigen, da sie andernorts ausführlicher behandelt wird. 16 Zu ihrer Bedeutung für Levinas ist zuerst zu sagen, dass er selbst sie über das Erotische hinaus erst nach der grundlegenden Darstellung der Gerechtigkeit thematisiert hat, vielleicht um – wie Ricœur einmal sagt – nicht in die Gefahr einer weit verbreiteten Sentimentalität oder Gedankenlosigkeit zu verfallen. Grundsätzlich kommt er auf die Liebe in seinem Vorwort zur deutschen Ausgabe von »Totalität und Unendlichkeit« aus dem Jahre 1987 zu sprechen, und zwar im Zusammenhang mit der platonischen Idee des Guten. Am Schluss des Vorwortes beginnt er jedoch kurz mit einer Bezugnahme auf Descartes. Levinas stellt fest: »dass Descartes in der dritten seiner »Meditationen über die Grundlagen der Philosophie« auf ein Denken stößt, eine Noesis, die ihrem Noema, ihrem Cogitatum, nicht mehr entspricht. Eine Idee, die statt sich der Einsicht der Intuition einzufügen, dem Philosophen zur Blendung wird. Denken, das mehr oder besser denkt, als es der theoretischen Wahrheit nach denkt. Denken, das zudem dem Unendlichen, das seine Gedanken bildete, in verehrender Liebe entspricht« 17. Nach dieser Antwort auf eine Anökonomie des letzten Grundes stellt sich Levinas die Frage, »ob der Liebe ›jener Liebe zur Weisheit‹ …, die die von den Griechen überkommene Philosophie ist, allein die Gewissheit der den Gegenstand einsetzenden Wissensarten lieb sei oder die … Reflexion über diese Wissensarten oder ob die erwartete Weisheit nicht, über die des Erkennens hinaus, die Weisheit der Liebe sei oder die Weisheit als Liebe« 18. Und dann nochmals zurück zur letzten schen15 16 17 18
Levinas, Humanismus, 35. Michel Henry, »Ich bin die Wahrheit«, Freiburg / München 1997, 237. Levinas, Totalität, 11 f. Levinas, Totalität, 12.
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kenden, aber auch eine letzte Antwort verlangende Anökonomie (mit Platon): »kündigt sie sich nicht an durch das Gute jenseits des Seins und oberhalb der Ideen, von dem im 6. Buch von Platons ›Staat‹ die Rede ist? … Das Gute, von dem das Sein in seiner Darstellung erhellt wird und dem es seine ontologische Kraft verdankt« 19. In letzter Konsequenz also sollte es dem Philosophen gehen um die »Philosophie als Liebe zur Liebesweisheit, deren Lehrer das Antlitz des anderen Menschen ist!« 20. In einem späten Aufsatz »Gott und die Philosophie« 21 unterstreicht Levinas die Steigerungsfähigkeit der Nächstenliebe: »die Verweisung auf den Anderen ist ein Wecken, Wecken zur Nähe, welche Verantwortlichkeit für den Nächsten bedeutet, die bis zur Stellvertretung für ihn geht« 22. Wird der Nächste als der »Einzige« des Antlitzes entdeckt, so wird die Liebe voll wirksam. 23 Sie erscheint dann als »Wort Gottes und Wort im Antlitz des Menschen«, das volle Hingabe auch in der Extremsituation verlangen kann.
3.
Hingabe bis zur Stellvertretung
Durch die Verfehlung, die Schuld des Menschen ist eine Lücke im Sein entstanden, die, um die Summe des Guten wiederherzustellen oder gar zu überbieten, wieder gefüllt zu werden verlangt. Kann der Mensch hierzu beitragen, und kann vielleicht gerade das scheinbar sinnlose Leiden in einem letzten Sinn dazu beitragen? Subjektivität heißt für Levinas in tiefster Bedeutung, dem Anderen unterworfen (sub-iectum), ausgeliefert zu sein, denn die anökonomische Gabe der Freiheit macht keinen Halt vor dem scheinbar Unmöglichen. Die Subjektivität ist ausgeliefert in ihrer virtuell unendlichen Verantwortung für den Anderen. Dies kann letztlich zu einer (vielleicht unfreiwilligen) »Geiselschaft« 24 führen für die Verfehlungen anderer angesichts der Handlungsverstrickung aller Menschen. Diese führt zu einer »Besessenheit« (obsession) sogar durch Ebd., mit Verweis auf Platon, Der Staat, 505e. Levinas, Totalität, 12. 21 Emmanuel Levinas, Gott und die Philosophie. In: Bernhard Casper (Hg.), Gott nennen, Freiburg / München 1981, 104–107. 22 Levinas, Totalität, 105. 23 Vgl. Levinas, Totalität, 8 f. 24 Levinas, Zwischen uns, 78 ff. 19 20
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den vielleicht fernen »Nächsten«, an dessen zwar selbst zu verantwortendes, aber mich dennoch betreffendes Schicksal ich mich nicht ohne Herzenshärte unbeteiligt erklären kann (die Herzenshärte Kains gegenüber Abel). Die Menscheitssolidarität verlangt im Letzten Stellvertretung bei der Verpflichtung zur ausgleichenden Wiedergutmachung, insbesondere wo sie durch den Täter nicht mehr zu vollziehen ist. Das für den Anderen eingesetzte, letztlich messianische Denken und Tun weitet sich aus auf jeden Menschen. Dies kann infinitesimal und scheinbar hyperbolisch lauten: »das Ich ist derjenige, der vor jeder Entscheidung schon erwählt ist, die ganze Verantwortung der Welt zu tragen« 25. Denn allein seine Existenz als mitfühlender und in einem solidarischen Sinn mitverantwortlicher Mensch verbindet ihn mit der Schuld der ganzen Welt. Aus einem Dativ des Gegebenseins wird ein Akkusativ als ungewählter Anklagezustand in einem mehr oder weniger weiten Sinn. Durch seine Leiblichkeit ist der Mensch in eine unausweichliche Inkarnation des Einstehens für den Anderen einberufen. Diese »absolute Unabweisbarkeit« kommt von jenseits seiner Freiheit und fordert dennoch gerade auch aus der leiblichen Verbundenheit aller Menschen die »Initiative einer Antwort«. Ich kann nicht das Opfer des Anderen verlangen, da der Andere immer ontologisch wie ethisch primordial ist. Darum beginnt die allgemeine Messianität der Opferbereitschaft bei mir: »Ichsein heißt immer, eine Verantwortung mehr zu tragen«. Damit ist die Möglichkeit einer Stellvertretung gegeben. Wenn sie bis ans Ende geht, kann sie bis zur ausgleichenden (»sühnenden«) Substitution sogar für den Verfolger werden. 26 Wesensmäßig zur Unendlichkeit geöffnet, ist das »Sub-jectum« nicht nur zu einer virtuell ins Unendliche gehenden theoretischen Erkenntnis in die Lage versetzt, sondern stets auch in seiner praktischen Verantwortlichkeit »unter der Last des Universums«. Ich bin der »Hüter meines Bruders« in einer unausweichlichen Berufung. 27 Dies führt im Extrem bis zu einer Art »Geiselsein«, das sogar dem unschuldigen oder scheinbar sinnlosen Leiden einen Sinn geben kann. Insbesondere da, wo es unvermeidlich ist, heißt das konkret: »Im Leiden durch die Schuld des Anderen ragt schon das Leiden für die Schuld des Anderen – das Ertragen empor: das Für- den-Anderen 25 26 27
Levinas, Zwischen uns, 82. Vgl. Levinas, Zwischen uns, 80 ff. Levinas, Jenseits des Seins, 206.
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wahrt so völlig die durch den Anderen auferlegte Geduld des Erduldens. Stellvertretung für den Anderen, Sühne für den Anderen« 28. Dabei bleibe ich »einzig, unersetzlich, auserwählt«. Primär gilt: »Niemand kann für mich die Stellvertretung übernehmen, der ich die Stellvertretung für alle habe« 29. Sekundär kann mir diese jedoch von den Anderen entgegenkommen, obwohl sie nie verlangt werden darf. Dies bedeutet faktisch eine Art messianische Allüberschneidung der solidarischen Liebe. Diese ist aber nicht garantiert und muß in mir den Anfang nehmen. 30 Ausgerichtet, orientiert ist die Stellvertretung letztlich auf das Absolute: »Unterwerfung und Erhebung, die sich in der Geduld über die Unfreiheit erhebt. Unterwerfung in der Verpflichtung auf das Gute« 31. Stellvertretung bedeutet subjektiv letzte Hingabe und objektiv höchsten Sinn. Sie hat stets eine religiöse Konnotation, wird »messianisch«. »Der Messianismus ist eben dieser Gipfel des Seins – die Umkehrung des Seins, das in seinem Sein beharrt«. Diese messianische Stellvertretung muß bei mir beginnen, aber hat den Anderen zum Ziel, 32 der vielleicht nicht oder nicht mehr in der Lage ist, an dem Werk der Wiedergutmachung teilzunehmen. Kann die Stellvertretung, diese »Bekehrung des Selben zum Anderen« allein aus menschlicher Kraft erfolgen? Diese letzte Übernahme von Sühne nennt Levinas bewußt »Inspiration« 33. Sie ermöglicht eine Zeugenschaft von der Herrlichkeit des Unendlichen. Dieses (oder Dieser) offenbart wiederum seine »Herrlichkeit allein durch die Subjektivität« als »menschliches Abenteuer der Annäherung an den Anderen«, als »dem Anderen verkündeter Friede« (322–324). Im Letzten bedeutet die Gabe der Stellvertretung eine »pneumatische Beziehung der Aufopferung« zwischen »Sein und Nichtsein«. In der stellvertretenden Hingabe wird die Inspiration zur »Exspiration«: Aushauchen des Lebens für den Anderen (385 ff.). Stellvertretung kann schließlich »Inkarnation« genannt werden – Leiden in der Leiblichkeit für den Anderen. Seine Verletzlichkeit wird in die eigene Verwundbarkeit übernommen. Darin wird die Stellvertretung der »Mutterschaft« verLevinas, Jenseits des Seins, 278. Levinas, Jenseits des Seins, 280, 356. 30 Levinas, Zwischen uns, 82. 31 Levinas, Jenseits des Seins, 280. 32 Levinas, Zwischen uns, 82. 33 Levinas, Jenseits des Seins, 321. Seitenangaben im Folgenden in Klammern im Text. 28 29
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wandt, die ebenfalls zu letzter Hingabe in der Lage ist. »Die Mutterschaft – das Tragen schlechthin – trägt auch noch die Verantwortung für das Verfolgen des Verfolgers« (171 f.). Stellvertretung als ein Geben in letzter Hingabe ist vergleichbar mit dem angesichts der Not des Anderen sich vom »eigenen Munde-abgerungenen -Brot« (174). Rückblickend kann zur erlösenden Funktion der Stellvertretung nochmals gesagt werden, das sie ihren letzten Grund in einer Inspiration aus dem Übersein des absoluten Guten findet, das im Religiösen »Gott« heißt. Dessen »Nicht-in-Differenz« bedeutet als ganz anderes des Anderen größte Nähe und damit »äußerste Möglichkeit des Geistes«. Inspiration heißt »Konkreter Ursprung oder Ursituation, in der das Unendliche sich in mich einläßt, in der die Idee des Unendlichen den Geist beherrscht und das Wort Gott sich einem auf die Zunge legt« 34.
4.
Zusammenschau: Anökonomie und Ökonomie von Schöpfung und Heil
Abschließend stellt sich die Frage, ob der Anökonomie der Gabe bei Levinas nicht eine Finalität innewohnt, die eine Ökonomie der Gestaltung der Wirklichkeit erwartet. Die Gabe der Freiheit und Fruchtbarkeit eröffnet die Möglichkeit eines moralischen Reichs der Brüderlichkeit, Gerechtigkeit und Liebe »von Einzigkeit zu Einzigkeit«, auf Hoffnung zu verwirklichen – letztlich messianisch – »in jenem Der-Eine-für-den Anderen« der Heiligkeit, der Nähe, der Sozialität, des Friedens« 35. Die Kraft zur Verwirklichung kommt aus der »Inspiration« des »Unendlichen«, 36 des absoluten Gebers alles Seins, des »Hoch-Erhabenen« 37. Die »Inspiration« schließt die Anökonomie der Gabe und die Antwort einer Ökonomie der Lebensgestaltung zusammen. Sie ist identisch mit dem »Guten« Platons und seiner »ontologischen Kraft« 38. Darum kann sie auch zu einer letzten extremen Antwort befähigen – der »Stellvertretung«, wo seitens des Angesprochenen Levinas, Jenseits des Seins, 28, 49; ders., Wenn Gott ins Denken einfällt, Freiburg / München 1995, 164 f., 169. 35 Levinas, Totalität, 10. 36 Levinas, Jenseits des Seins, 321 ff. 37 Levinas, Totalität, 435. 38 Levinas, Totalität, 12. 34
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(Empfängers und möglichen Handelnden) nur noch die Bereitschaft gilt: »Hier bin ich« 39. Über die Mitwirkung am Werk der Erlösung hinaus betonen christliche Autoren jedoch – wie im folgenden Michel Henry – den Rückverweis auf die Erlösungstat des Mensch gewordenen Gottes, die den Einzelnen vor Überforderung schützt. Eine Alternative der Befähigung zur Antwort auf eine ursprüngliche Anökonomie bietet nun die Religionsphilosophie von Michel Henry. Emmanuel Levinas und Michel Henry verbindet das Bestreben, einen lebendigen Gott auszusagen. Levinas betont dabei die »Transzendenz«, Henry die »Immanenz« Gottes, der jedoch für beide nicht lediglich im »kognitiven«, sondern gleichermaßen und noch mehr im »affektiven«, »pathischen« und ethischen Bereich begegnet – bei Levinas eher als »Spur«, bei Henry in der »Selbstexplikation« des Lebens. Der Akzent liegt bei Levinas eindeutig im Ethischen, obwohl Gott, der Unendliche und Gütige, durch seine »Nicht-In-Differenz« dem Menschen ganz nahe sein kann. Henry hingegen rückt die pathische Verbundenheit gemeinsamen Lebens im »In-Sein« der Christus – Selbstmitteilung 40 in den Vordergrund – Gabe des »Können des Könnens« (192, 236) aus dem »Übervermögen« des absoluten trinitarischen Lebens – bei der Befähigung des Menschen, vor allem zu den »Werken der Barmherzigkeit« (233–239). Diese beiden verschiedenen Arten des »Selbsterweises« Gottes überwinden und übersteigen noch die Anökonomie der absoluten Gabe und beziehen den Menschen ein: in eine Ökonomie der Schöpfung und des Heils.
Levinas, Jenseits des Seins, 311, 387 f. Henry, »Ich bin die Wahrheit«, 237. Seitenangaben im Folgenden in Klammern im Text. Zum Verhältnis zwischen Levinas und Henry vgl. Bernard Forthomme / Jad Hatem, Affectivité et Alterité selon Levinas et Henry, Paris 1996. Zur Vertiefung s. Kurt Wolf, Philosophie der Gabe. Meditation über die Liebe in der französischen Gegenwartsphilosophie, Stuttgart 2006, 161–181; ders., das In-Sein, die Anderen und der Dritte im Bunde. Phänomenologie und Spiritualität. In: Münchner Theologische Zeitschrift 65 (2014), 212–228.
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1.
Theologisches Potenzial des interdisziplinären Gabe-Diskurses
Nicht ohne Grund sprechen mehrere Theologen von dem Gewinn eines Gabe-theologischen Zugangs zu ökumenischen Kernthemen. Selbiger ist der Ausgangspunkt für mehrere Bücher, diesen Band inklusive. 1 Die vorliegende Studie versteht sich in einer Linie mit diesem Zugang. Sie behauptet ein Gabe-theoretisches Merkmal christlicher Theologie und bewegt sich von der über-konfessionellen Makroebene zu einer intra-konfessionellen Mikroebene. Viele Theologen lutherischer Provenienz sehen klare Konfessionsunterschiede in dem Gegensatz von Wechselseitigkeit und reiner oder auch sog. purer Gabe. 2 Veronika Hoffmann hat dagegen in ihren Skizzen einer Gabe-Theologie gezeigt, wie die Problematiken, die zu einer Gabe-orientierten Theologie gehören, quer zu den Konfessionsgrenzen laufen. Zwar lassen sich Positionen finden, die mehr oder weniger den Alternativen Gnade oder Leistung entsprechen (bei Hoffmann z. B. Eberhard Jüngel und Karl-Heinz Menke), aber in vielen Bereichen innerhalb der katholischen sowie der protestantischen Theologie werden die Hauptprobleme weitgehend ähnlich verstanden und weitgehend auch auf ähnlichen Wegen gelöst. In Bezug auf das S. v. a. Risto Saarinen, God and the Gift. An Ecumenical Theology of Giving, Collegeville, MN 2005 und Veronika Hoffmann, Skizzen zu einer Theologie der Gabe, Freiburg i. Br. 2013. S. auch Veronika Hoffmann (Hg.), Gabe als ›Urwort‹ der Theologie, Frankfurt a. M. 2009. 2 U. a. Ingolf U. Dalferth, Mere passive. Die Passivität der Gabe bei Luther. In: Bo K. Holm / Peter Widmann (Hg.), Word – Gift – Being. Justificatior – Economy – Ontology, Tübingen 2009, 43–72; Martin Seils, Gabe und Geschenk. Eine Zugabe. In: Johannes von Lüpke / Edgar Thaidigsman (Hg.), Denkraum Katechismus, FS Oswald Bayer, Tübingen 2009, 87–108; Berndt Hamm, Pure Gabe ohne Gegengabe. In: Geben und Nehmen. JBTh 27/2012 (2013), 241–276. 1
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rechtfertigungstheologische Problem versuchen sich alle gelungenen Lösungen, laut Hoffmann, jenseits der Alternativen von Ökonomie und Anökonomie zu bewegen. 3 Im Folgenden ist es das Hauptanliegen, eine solche Lösung mit einer anderen, promissional gedachten Ökonomie-Variante zu formulieren, die sich u. a. durch ihre nichtzerstörende Darstellbarkeit auszeichnet. Um zu zeigen, dass diese in einer Linie mit der lutherischen Theologie steht, werden sowohl Martin Luther selbst als auch Philipp Melanchthon als exemplifizierende Positionen und Impulse herangezogen. Zusätzlich werden beide unter der Leitfrage betrachtet, ob sie als ähnliche Lösungen eines fundamentalen Gabe-theologischen Problems gelesen werden können: als nähere Erörterung und Differenzierung der menschlichen Passivität im Rechtfertigungsgeschehen. Beide Untersuchungsstränge laufen in der Behauptung zusammen, dass die Gabe-theologischen Positionen Luthers und Melanchthons eine Verbindung der GabeÖkonomie mit dem Bayer’schen Begriff der lutherischen promissio, 4 des Glauben schaffenden Zuspruchs, ermöglichen. Indem hier ein inner-lutherischer Streitpunkt über den Charakter göttlichen Gebens untersucht wird, wird auch versucht, Hoffmanns rechtfertigungstheologische Ausführungen über interkonfessionelle Grenzen auf einer intrakonfessionellen Ebene zu wiederholen. Die drei genannten Untersuchungsstränge werden im Folgenden zusammengewebt und wir fangen mit der letzten Behauptung, der Möglichkeit einer anderen, promissional verstandenen Ökonomie, an.
2.
Christliche Theologie als Vision einer anderen Ökonomie
Die Beispiele, in denen das Christentum sich kritisch gegenüber der Ökonomie der Welt verhält, sind legio. Hier sollen nur wenige aber zentrale Belege aus der christlichen Tradition erwähnt werden: Jesus gibt nicht, wie die Welt gibt (Joh 14,27). Paulus lässt sich als Transformation des jüdischen Pachtdenkens im beneficium-System der rö-
Hoffmann, Skizzen, 345. Hier stimme ich Hoffmann zu. Vgl. Bo Kristian Holm, Gabe und Geben bei Luther. Das Verhältnis zwischen Reziprozität und reformatorischer Rechtfertigungslehre, Berlin / New York 2006. 4 So Oswald Bayer, Martin Luthers Theologie. Eine Vergegenwärtigung, Tübingen 2003, 52. 3
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mischen Kultur lesen, was durchaus auf eine Vision einer anderen, göttlichen Ökonomie hinweisen kann. 5 Die narrative Welt des Neuen Testaments kann generell als eine Vision der rechten Formen des Austauschs zwischen Gott und Mensch sowie zwischen Menschen untereinander gesehen werden. 6 In der patristischen Zeit lässt sich Augustins Vorstellung einer himmlischen polis ohne Mühe als die Vision einer anderen Ökonomie verstehen. Am radikalsten kommt diese Vision in der Behauptung, Kaufhändlern sei der Weg zum Heil prinzipiell versperrt, zum Ausdruck. 7 Reformatorisch bedeutsam wird die Vorstellung einer anderen Ökonomie in dem Unterschied zwischen iusitia dei und iusitia civilis bei Luther und Melanchthon: Gottes Gerechtigkeit ist nicht wie die der Menschen. Wenn Theologie auch als das denkende Ausprobieren und Beschreiben einer solchen Vision verstanden werden kann, wird sie in das interdisziplinäre Gespräch über die Bedingungen gelungenen Gabe-Gebens eingebracht. Die Herausforderung des hier probierten Weges liegt in der Notwendigkeit, die lutherische Hervorhebung der menschlichen Passivität in das Verständnis einzuschreiben. In diesem Kontext ist es vor allem eine Frage, ob die Vorstellung einer »reinen« oder »puren Gabe« ein präziser Begriff ist oder eher ein Verhüllungsbegriff (womit nicht gesagt werden soll, dass er als solcher nicht auch eine Funktion haben könnte). Es geht hier nicht um das notwendige Ablehnen eines Quietismus-Vorwurfes, 8 sondern um das Problem der Verstehbarkeit: Macht der Begriff der reinen oder puren Gabe überhaupt Sinn? Diese theologische Frage erweitert sich zu einer allTroels Engberg-Pedersen, Gift-Giving and Friendship: Seneca and Paul in Romans 1–8 on the Logic of God’s Χάρις and Its Human Response. In: Harvard Theological Review 101 (2008), 15–44. S. auch Bo Kristian Holm, Beyond Juxtaposing Luther and the »New Perspective on Paul«. A Common Quest for the »Other« Way of Giving? In: Lutherjahrbuch 80 (2013), 159–183. S. auch John M. Barclay, Paul, the Gift and the Battle over Gentile Circumcision: Revisiting the Logic of Galatians. In: Australian Biblical Review 58, 2010, 36–56. 6 Vgl. Ole Davidsen, Geben und Nehmen. In: Jahrbuch für Biblische Theologie 27/ 2012 (2013), 121–150. 7 Opus Imperfectum in Matthaeum. Migne PG 56, 601–946, bes. 840. S. hierzu Angeliki Laiou, Trade, Profit, and Salvation in the Late Patristic and the Byzantine Period. In: Susan R. Holman (Hg.), Wealth and Poverty in Early Church and Society, Grand Rapids Mi. 2008, 243–266. 8 Dass die Verknüpfung von reiner Gabe und Passivität in der Rechtfertigung nichts mit Quietismus zu tun hat, hat u. a. Ingolf U. Dalferth sehr deutlich gezeigt. Vgl. Dalferth, Mere Passive, 47. 5
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gemeinen: ist es überhaupt möglich, eine Vision von einer anderen Ökonomie darzustellen, die die Gabe-Relation nicht sofort zerstört, indem sie die Gabe auf ein Austauschobjekt reduziert? Hierin impliziert ist wiederum der theologische Aspekt der Forderung nach Klarheit und Wiederholbarkeit, mithin nach Sichtbarkeit, die auf reformatorischer Seite besonders durch Melanchthon hervorgehoben wird.
3.
Die Frage nach Sichtbarkeit
Wenn das Evangelium als Vision einer anderen Ökonomie verstanden werden kann, dann nur, wenn eine solche Ökonomie so beschaffen ist, dass sie sichtbar werden kann, ohne den gelingenden Austausch zu zerstören. Wenn eine Theologie der Gabe sich von den üblichen Dichotomien von reiner Gabe und Reziprozität befreien soll, ist folglich ein differenzierter Begriff von Ökonomie nötig. Das Problem ist, wie bekannt und vor allem durch die paradigmatisch skeptischen Gabe-Studien bei Jacques Derrida und Pierre Bourdieu vorgestellt, dass Ökonomie, verstanden als das Hin-und-Her der Gabe, diese in eine reziproke Ökonomie einschreibt und das Geben somit in einen Handel verwandelt. Für Derrida sind die Bedingungen der gelungenen, reinen Gabe zugleich die Bedingungen der Unmöglichkeit der Gabe, weil sich die Gabe-Ökonomie mit ihrer Forderung nach Gegengaben sofort meldet, wenn eine Gabe wahrgenommen wird. Deswegen gehöre es zur wahren, reinen Gabe, dass sowohl Geber als auch Empfänger sie unverzüglich vergessen müssen. 9 Von Bourdieu wiederum wissen wir, dass soziales Geben davon abhängt, inwiefern es gelingt, die objektive Ökonomie, die die Gabe zum Handelsobjekt verwandelt, auf Distanz zu halten. 10 Für eine Theologie scheinen dieVgl. Jacques Derrida, Den Tod Geben. In: Anselm Haverkamp (Hg.), Gewalt und Gerechtigkeit. Derrida – Benjamin, Frankfurt a. M. 1994, 331–445, 437; Ders., Falschgeld. Zeit geben I., München 1993, 9–48. Im Folgenden wird Derridas Verständnis von »reiner Gabe« von der theologischen Verteidigung der »puren Gabe« terminologisch unterschieden, um die Diskussion zu verdeutlichen, obwohl es eben eine Frage ist, ob es sachliche Unterschiede gibt. So ist die Verwendung von »reiner« und »purer Gabe« in theologischen Arbeiten weithin synonym. 10 Vgl. Pierre Bourdieu, Marginalia – Some Additional Notes on the Gift. In: Alan D. Schrift (Hg.), The Logic of the Gift. Toward an Ethic of Generosity, New York 1997, 231–241. 9
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se Lösungen nur zum Teil eine Möglichkeit zu sein, obwohl die Gabetheoretischen Überlegungen von Seils, Dalferth oder Hamm als Versuche gelesen werden müssen, ein theologisches Gabe-Verständnis von menschlichem Gabe-Tausch rein und frei zu halten. Die Frage ist dann, ob es hinreichend ist, zentrale Begriffe der reformatorischen Theologie, wie den der Passivität, als so gewichtig anzusehen, dass sie andere Gabe-theoretische Denknotwendigkeiten, wie z. B. die der verwirklichten Wechselseitigkeit, ausschließen. Dies wird entscheidend, wenn z. B. Hamm den zentralen reformatorischen Gedanken mit der Kurzformel »pure Gabe ohne Gegengabe« wiedergibt. 11 Wenn so göttliches Schenken mit Attributen der »Reinheit, Exklusivität und Souveränität« verbunden ist, 12 dann scheint dies nicht nur ein allgemeines Gabe-Verständnis zu zerstören, sondern auch das christologisch informierte Verständnis der Gott-MenschRelation bei Luther oder das trinitarische Verständnis der GottesGabe bei Melanchthon herauszufordern. Um zu einer Lösung zu kommen, ist es nötig, die Hervorhebung der menschlichen Passivität mit einer nicht-zerstörenden Sichtbarkeit der Wechselseitigkeit zu verbinden, was aber als Folge hat, dass der Begriff der puren Gabe, wie gezeigt wurde, zumindest problematisch wird. Eine Verteidigung der puren Gabe läuft wiederum Gefahr, die von Luther betonte inkarnatorische Einheit von Gott und Mensch zu trennen. Hier kommt eine weitere These Hoffmanns zum Tragen, wonach eine gelungene Gabe-Theologie notwendig trinitarisch gedacht werden und den Menschen in das Gabe-Geschehen mit einschließen müsse. 13 Die hieran anschließende These meinerseits ist nun, dass eine solche trinitarische Gabe-Theologie, wie sie von Hoffmann präsentiert wird, auf demselben Weg liegt wie Luthers christologische Lösung und Melanchthons trinitarische Bearbeitung der impliziten Gabe-Problematik in ihren jeweiligen Theologien. Was nötig ist, um diese Lösungen auch in einen allgemeinen Gabe-Diskurs einzutragen, ist eine Darstellung der Beziehung zwischen Gott und Mensch, die nicht deren Verhältnis in einen merkantilen Tausch aufhebt, wo aber Gaben angesehen und angenommen werden Vgl. Hamm, Pure Gabe, 243: »Wenn es in der Reformation … ein inhaltliches Wahrheitskriterium für Theologie und Kirche gab, das die Bibelhermeneutik ebenso wie das antihierarchische Gemeindeverständnis steuerte, dann war es die rechtfertigungstheologische Lehre vom Heil als ›purer Gabe ohne Gegengabe‹.« 12 Ebd. 13 Hoffmann, Skizzen, 527–546. 11
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können: eine nicht-zerstörende, positive Ökonomie. Der Begriff der »positiven Ökonomie« wird hier doppeldeutig. Neben die Bedeutung einer schlichten objektiv und positiv gesetzten Ökonomie kommt noch die Vorstellung, dass es eine Variante gibt, die im Gegensatz zu der Vorstellung des Gabe-negierenden Charakters einer objektiven Ökonomie steht. Für die Darstellung einer solchen positiven Ökonomie brauchen wir, besonders in Diskussion mit Hamm und Dalferth, erstens Überlegungen über die Rolle der menschlichen Passivität und der Heilsgewissheit in der reformatorischen Theologie, und zweitens über den Inhalt der Gabe allgemein und in Luthers und Melanchthons Gabe-Theologien speziell.
4.
Passivität und Gewissheit
In bedeutenden Strömungen gegenwärtiger lutherischer Theologie wird die Passivität und damit die Ausblendung der Wechselseitigkeit als Bedingung der Heilsgewissheit und damit als Fundament des Trostes gesehen. 14 Nur wenn Gott alles tut und der Mensch nichts, wäre Gewissheit gesichert, so lautet die These. Andere Forscher, sowohl lutherische wie katholische, haben dagegen darauf hingewiesen, dass die notwendige Alternative zwischen göttlicher Rechtfertigung und menschlicher Selbstrechtfertigung nicht als ein Nullsummenspiel zwischen göttlichem und menschlichen Geben zu verstehen ist. 15 Wenn Gott alles gibt, dann kann diese Gabe auch ein Element des menschlichen Mit-Tuns umfassen, ohne kompromittiert zu werden, weil in dem Gabe-Geschehen die Teilnahme nicht mehr Prozentweise zwischen Geber und Empfänger verteilt wird. Nur so wird, laut dieser Gegenthese, die Generosität der Gnade richtig verstanden. Luthers mere passive meldet sich hier sofort als Problem. Als Lösung soll gefragt werden, welche Funktion diese Präzisierung gewährleisten soll und welche nicht. Bei Dalferth steht das mere passive als Äquivalent zum einseitigen Geben Gottes. Zusammen mit Hamm u. a. verteidigt er den Begriff vom passiven Empfang. Das damit verZ. B. Dalferth, Mere Passive, 71. Vgl. hierzu Hoffmann, Skizzen, 286. Niels Henrik Gregersen, Radical Generosity and the Flow of Grace. In: Bo Kristian Holm / Peter Widmann (Hg.), Word – Gift – Being, 117–144, 138–144; und Hoffmann, Skizzen, 300 f.
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bundene Problem taucht in dem Moment auf, wo nach Veranschaulichungen eines rein passiven Empfangens gefragt wird. Wie Risto Saarinen gezeigt hat, enden Antwortversuche ziemlich schnell bei dem Packen eines Koffers, was sehr schlecht als Metapher für die Rechtfertigung funktioniert. Ein wirklicher Empfang fordert lebendige Empfänger. 16 Nicht ohne Grund hebt Dalferth die schöpfungstheologische Basis von Luthers Rechtfertigungslehre hervor und unterstreicht den göttlichen Akt ex nihilo in sowohl Schöpfung als auch Rechtfertigung. Trotz aller berechtigter Gleichsetzungen zwischen Rechtfertigung und Schöpfung gibt es bei Luther aber auch eine Grenze dieser Gleichsetzung: Die Schöpfung schafft etwas, das vorher nicht da war. Die Rechtfertigung rechtfertigt einen Sünder, der schon da ist. 17 Dieser Unterschied ist entscheidend und bedeutet für die Rechtfertigungslehre, dass sie die menschliche Gegengabe einbeziehen muss. Wenn die Schöpfung aus der Perspektive der Rechtfertigung gesehen wird, eröffnet sich ein Verständnis von Schöpfung als Stiftung und Bewahrung von Gemeinschaft, 18 weil die Rechtfertigungslehre die Gunst und Barmherzigkeit Gottes offenbart. Als Konsequenz wird das Gottesverständnis in der Rechtfertigungslehre sofort auf Gott als den Schöpfer übertragen. Luthers Auslegung des ersten Glaubensartikels im Kleinen Katechismus und seine Auslegung der Trinitätslehre in Vom Abendmahl Christi. Bekenntnis sind hier Musterbeispiele. 19 Nur von hier aus lässt sich Gottes Schöpfungshandeln als unzweideutige Bejahung und als das »absolute initium der Anerkennung« verstehen. 20 Hier kann die Hauptfrage nach der Sinnhaftigkeit des Konstrukts einer reinen Gabe nun zu der Frage kondensiert werden, ob man, wenn man die Gottes-Relation und nicht zuletzt die Gottes-Kommunikation ernst genug denkt, denn notwendigerweise Dies ist eine Pointe sowohl in Saarinen, God and the Gift als auch in ders., The Language of Giving in Theology. In: Neue Zeitschrift für Systematische Theologie und Religionsphilosophie 52 (2010), 268–301, 292 und 297. Saarinen spricht hier von passiver Offenheit. 17 Diese Pointe taucht bei Dalferth auf, wenn er die wesentliche Einsicht einbringt, dass die Sünde nicht einem neutralen nihil entspricht, sondern der Ablehnung der Gaben des Schöpfers. Vgl. Dalferth, Mere Passive, 52–55. 18 So vor allem bei Bayer. Vgl. Oswald Bayer, Martin Luthers Theologie. Eine Vergegenwärtigung, Tübingen 2003, 87–109. 19 Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche (BSLK), 510–511; StA 4, 251,22–252,2. 20 Vgl. Hoffmann, Skizzen, 325. 16
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den Einbezug des sozial bedeutenden Aspektes der Wechselseitigkeit entbehren müsse. Ein promissionales Verständnis der positiven Ökonomie lässt ein gemeinschaftsorientiertes Verständnis der Schöpfung, wie dasjenige Bayers, zu, während es bei Dalferth zu verschwinden droht. 21 Dalferths schöpfungstheologisches Verständnis von der Rechtfertigung sieht nämlich davon ab, dass Schöpfung nicht nur Schöpfung von materia ist, sondern bei Luther immer auch Schöpfung von Gemeinschaft. Sonst würde es keinen Sinn ergeben, Schöpfung als Gabe zu verstehen, insofern die Gabe-Diskurse zeigen, dass jede angenommene Gabe immer auch eine Beziehung, mithin eine Gemeinschaft von Geber und Empfänger, konstituiert. Wenn ferner die Rechtfertigung allein aus Glauben geschieht, muss deutlich sein, dass eben keine Rechtfertigung ohne Glauben geschieht. Der Glaube ist also vor allem ein Empfangsorgan, und als solches eines, das der Mensch sich nicht selbst geben kann. 22 Auch er muss geschenkt werden. Aber dieser Glaube beinhaltet zugleich eine Dimension des menschlichen Sich-Gebens an Gott, zwar nicht als ein selbstgemachter Akt, aber als ein geschenkter Akt, als »PassivitätsAktivität«. 23 Diese Doppelbeschreibung des Sich-Gebens ist entscheidend. Hoffmann u. a. spricht von einer Mehrfachbesetzung der Plätze in der Gabe-Relation: 24 Im Glauben ist der Mensch gleichzeitig Empfänger und Geber. Er empfängt Christus, der sowohl als Geber als auch als Gabe verstanden werden kann, und als Geber ist der Mensch selbst die Gabe. Die Mehrfachbesetzung kann gedanklich noch weiter getrieben werden, indem die Vereinigung von Gott und Mensch im Glauben miteinbezogen wird. Bei Luther ist eine solche Mehrfachbesetzung vor allem in seiner christologisch bestimmten Soteriologie und Anthropologie zu finden und in ähnlicher Weise auch in seinem Verständnis vom Abendmahl und Messopfer zu entdecken. 25 Bei Melanchthon finden wir sie in seiner Pneumatologie, die bei ihm auch zu einer Lehre vom göttlichen Selbstgeben entwickelt wird. Hier ist es Vgl. die schöpfungstheologischen Ausführungen in Dalferth, Mere Passive, 44–55. Es wäre aber folglich zu fragen, wie der Glaube als »Akt der Rezeptivität« und als Wahrnehmungsorgan des Gegebenen zu verstehen ist. Zu den Begriffen, vgl. Ferdinand Christian Baur, Der Gegensatz des Katholicismus und Protestantismus nach den Principien und Hauptdogmen der beiden Lehrbegriff, Tübingen 21836, 292. 23 Zum Begriff vgl. Dalferth, Mere Passive, 59. 24 Hoffmann, Skizzen, 463, 523. 25 Wolfgang Simon, Worship and Eucharist in Luther Studies. In: Dialog 47 (2008), 143–156. 21 22
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vor allem die Präsenz des Geistes, die dafür sorgt, dass der Mensch zur Annahme des Wortes befreit wird. Wird die göttliche Gabe konsequent von menschlichen Gabe-Relationen abgegrenzt, entspricht dies einer Hervorhebung des Abstands zwischen Gott und Mensch. Durch Luthers Gebrauch der communicatio idiomatum wird der Mensch dagegen in die lutherische Rechtfertigungslehre eingetragen, ohne sie auf ein Nullsummenspiel, das die Aktivität prozentweise zwischen Gott und Mensch verteilt, zu reduzieren. Stattdessen wird die Generosität der Gabe ausdrücklich gewährleistet, wo die Eigenschaft des Gebens und Empfangens kommuniziert werden. Saarinens Pointe, dass sich vieles ändert, wenn man das göttliche Geben von Seiten des Gebers sieht, liegt in dieser Linie und weist auf einen nötigen Perspektivwechsel hin. Von dieser Sicht aus gehört es nämlich zum Geben, dass es eine Art Aktivität im Empfangen gibt. Andernfalls kann der Geber seine Gabe nicht geben. 26 Für das Verständnis des lutherischen mere passive scheint es fruchtbar, von der theologischen und seelsorgerlichen Methode Melanchthons zu lernen. Demnach muss man nicht nur dialektisch fragen Quid sit?, sondern auch rhetorisch Quid effectus? oder Quid officia? 27 In unseren Zusammenhang überführt, soll also nicht nur gefragt werden, was mit der Passivität gemeint ist, sondern auch, welche Wirkung die Hervorhebung der Passivität hat. Bei Melanchthon ist es eine eigene Pointe, dass diese zwei Fragen zwar verschieden sind, aber gleichzeitig eng zusammengehören, 28 insofern Melanchthons Bemühungen, die Theologie pädagogisch darzustellen, immer die Heilsgewissheit zum Endziel haben. 29 Dieser seelsorgerliche Dies ist die Hauptpointe in Saarinen, God and the Gift. S. hierzu Risto Saarinen, Gunst und Gabe. Melanchthon, Luther und die existentielle Anwendung von Senecas »Über die Wohltaten«. In: Johannes Brosseder / Markus Wriedt (Hg.), Kein Anlass zur Verwerfung. FS Otto Herman Pesch, Frankfurt a. M. 2007, 187–197. 28 S. hierzu Manfred Hoffmann, Rhetoric and Dialectic in Eramus’s and Melanchthon’s Interpretation of John’s Gospel. In: Timothy J. Wengert / M. Patrick Graham (Hg.), Philip Melanchton (1497–1560) and the Commentary, Sheffield 1997, 48–78, bes. 66 f. 29 Melanchthons Loci communes von 1521 sind hierfür ein Musterbeispiel. In Melanchthons Annotationes in Johannem kommt es so zum Ausdruck, dass Christus nicht nur doctor ist, sondern auch effector, nicht primär eine neue Lehre gibt, sondern neue Herzen schafft (CR 14,1047). Damit macht Melanchthon eine Unterscheidung zwischen doctrina und effectus, die in den ersten Loci noch nicht vorhanden war, wo die 26 27
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Doppelblick auf die Theologie findet sich auch bei Luther: Die theologische Bestimmung und Beschreibung der Gott-Mensch-Ökonomie muss gleichzeitig eine Wirkung haben. Sie muss Rechtfertigung und Heil wirken. Um diese Wirkung zu gewährleisten, ist ein Wort nötig, das die Gabe qualifiziert, damit sie mit Vertrauen angenommen werden kann. Im theologischen Kontext ist es durch die promissio, das verheißene Wort mit sofortiger Wirkung, gegeben. Eine falsche Verabsolutierung des mere passive läuft Gefahr, die Bedeutung des Wortes und des Glaubens in der Rechtfertigung zu wenig zu beachten, genauso wie eine Schöpfungstheologie ohne Worttheologie die kommunikativen und sozialen Dimensionen der Rechtfertigungslehre entleert, weil es vor allem das Wort ist, das die Schöpfungstheologie eröffnet und diktiert. Um die gute Gabe zu erkennen, ist nämlich ein Wort nötig. Das wird in Bayers Verständnis der promissio mit Recht hervorgehoben. Nur auf Grund eines die Gabe begleitenden Wortes gibt es Anlass, dem guten Willen des Gebers zu vertrauen und die gegebene Gabe auch als wirkliche Gabe wahrzunehmen. Wird von diesem Aspekt abgesehen, verschwindet die in den theoretischen Reflexionen notwendige Wahrnehmung der Ambivalenz der Gabe, dass es nämlich nicht in der Gabe selbst liegt, ob sie letztendlich gut oder schlecht ist, und damit droht auch das Verständnis der Funktion des Wortes sich aufzulösen. Es bleibt die Frage nach der Relation zwischen rechtfertigendem Gott und gerechtfertigtem Menschen. Zur Klärung bietet ein Rückgriff auf allgemeine Gabe-Beziehungen Hilfestellung. Dass es in einer Rechtfertigungstheologie ein klares Entweder-Oder geben muss, ist klar: Entweder rechtfertigt Gott allein oder der Mensch rechtfertigt sich selbst. Ein differenziertes Gabe-Verständnis kann aber deutlich machen, dass es möglich ist, dieses Entweder-Oder auf einer anderen Ebene als ein Sowohl-als-auch zu formulieren, ohne das Anliegen der ersten Alternative zu zerstören. Gott rettet, aber der Mensch nimmt gleichzeitig teil. Diese Teilnahme kann aber nicht kausal verstanden werden, sondern nur im Sinne eines konsekutiven Wirkung noch eher direkt von der Betrachtung der doctrina Christi herkommt. Die Änderung hebt aber das regenerative Moment der Rechtfertigungslehre hervor. Vgl. hierzu Timothy J. Wengert, The Biblical Commentaries of Philip Melanchthon. In: Irene Dingel / Robert Kolb / Nicole Kuropka / Timothy J. Wengert (Hg.), Philip Melanchthon. Theologian in Classroom, Confession, and Controversy, Göttingen 2012, 106–148, 159.
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simul. Das geschieht bei Luther in der anthropologischen Verwendung der communicatio idiomatum, die den Tausch von Eigenschaften in der Vereinigung von Christus und Mensch ermöglicht. Bei Melanchthon wird es durch ein betontes simul zwischen forensischer Rechtfertigung und innerer Erneuerung durch den Geist, das seine Theologie durchströmt, gewährleistet. Liegt hier nicht eine Darstellung einer positiven Ökonomie vor, die vorgestellt werden kann, ohne die Gabe in ein merkantiles Austauschobjekt zu verwandeln? Hamm hat die reformatorische Rechtfertigungslehre als bedingungslos geschenkte Annahme des Sünders definiert. 30 Ich halte diese Formulierung für eine gelungene. Allerdings lässt sich die grundund bedingungslose Zuwendung Gottes zum Geschöpf weder mit der reinen Gabe noch mit dem reinen Empfangen glücklich verbinden. Jedenfalls muss ein solcher Begriff von »puren Gaben«, wie Hamm ihn verwendet, deutlich von Derridas Begriff der »reinen Gabe« differenziert werden. Hierzu bedarf es Überlegungen darüber, was genau mit der Gabe gegeben wurde.
5.
Das Sich-Geben und das Geben von »etwas«
In der Verteidigung der puren Gabe wird generell von einem wichtigen Aspekt abgesehen, der von entscheidender Bedeutung ist: dem Unterschied zwischen dem Geben von »etwas« und dem Geben des eigenen Selbst. 31 Dass jede Gabe Anteil am Geber selbst hat, ist spätestens seit Ralph Waldo Emerson eine wichtige Pointe. 32 Darin liegt sowohl das positive, gemeinschaftsstiftende als auch das bedrohliche Potenzial der Gabe. Ich kann eine Gabe nicht empfangen, ohne mich auf die Existenz des Gebers einzulassen. In einer prägnanten Passage drückt Marcel Hénaff es so aus: »Geben heißt immer, jemandem etwas geben: (…) daher ist die Gabebeziehung … nicht der Transfer eines Guts von einem Partner zum andern, sondern mittels dieses Guts eine Beziehung zwischen ihnen. Doch man muss Berndt Hamm, Was ist reformatorische Rechtfertigungslehre? In: Zeitschrift für Theologie und Kirche 83 (1986), 1–38, bes. 11–15. 31 Vgl. zu dieser Thematik auch Hoffmann, Skizzen, 531. Für eine Position, die mit dem Geben von »etwas« anfängt, s. Ingolf U. Dalferth, Umsonst. Eine Erinnerung an die kreative Passivität des Menschen, Tübingen 2011, 107–112. 32 Ralph Waldo Emerson, »Gifts« [1844]. In: Ders., Essays and Lectures, New York 1983, 534–538. 30
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noch weiter gehen: die zeremonielle Gabe beschränkt sich nicht darauf, einem andern etwas zu geben (was eher das Vertragsverhältnis definiert …), sie besteht darin, mittels einer Sache einem anderen sich selbst zu geben.« 33
Das Element des Selbst-Gebens gehört eng mit der Rechtfertigungslehre zusammen, vor allem bei Luther, 34 aber auch Melanchthon lernt, wie noch zu zeigen sein wird, diesen Zusammenhang zu verstehen – wenn auch erst relativ spät. Hamm sieht mit Recht, dass die Reformation als eine entscheidende Veränderung des damaligen Gabe-Verständnisses zu sehen ist. Am besten sieht man aber die Reformation als die Fortsetzung derjenigen christlichen Tradition, in der Gottes Handeln mit den Menschen als die Vision einer anderen, nicht-irdischen Ökonomie zu verstehen ist. Die Reformation greift damit direkt eine Religiosität an, die zu sehr auf der Logik der irdischen, merkantilen Tauschsysteme beruhte, wo immer etwas gegen etwas getauscht wurde. 35 Um das richtig zu begreifen, ist die Differenz zwischen dem Geben von »etwas« und dem Geben von sich selbst von entscheidender Bedeutung, weil eine Betonung der Differenz von Geber und Gabe den Abstand zwischen Geber und Empfänger hervorhebt. Umgekehrt legt eine Identifikation von Geber und Gabe, wie in einer Liebesbeziehung, wo die eigentliche Gabe immer das eigene Selbst ist, das Gewicht auf die Vereinigung, und ermöglicht eine Mehrfachbesetzung der Geber-Empfänger-Positionen. Dass Marcel Hénaff, Preis der Wahrheit, Frankfurt a. M. 2009, 218. Anm. 71. Zitiert in dem Vorwort von Bernd Janowski und Berndt Hamm zum Jahrbuch für Biblische Theologie 27/2012 (2013), V. Zum Verhältnis zwischen Gabe und Anerkennung bei Hénaff vgl. Hoffmann, Skizzen, 197–203. 34 Vgl. hierzu vor allem Seils, Gabe und Geschenk, bes. 104–108. Beispiele hierzu bei Luther gibt es zahlreiche, am klarsten in seiner Umformung der augustinischen Distinktion zwischen Christus als sacramentum und als exemplum zu einem Unterschied zwischen Christus als Gabe und Vorbild, wie in »Eyn kleyn unterricht« (WA 10 I/8– 18,) oder im Bekenntnis zu Gottes dreifaltigem Selbst-Geben in Vom Abendmahl Christi. Bekenntnis (WA 26,505,38–506,7). Vgl. hierzu auch Oswald Bayers Zusammenfassung seiner Position in: Ethik der Gabe. In: Hoffmann (Hg.), »Urwort«, 99– 123, bes. 110–113. 35 Wie es z. B. in dem Ausdruck »zeitliche Güter gegen himmlische einzutauschen« formuliert wurde. S. Per Ingesman, At mageskift det timelige med det åndelige [Zeitliches gegen Geistliches einzutauschen]. In: Religionsvidenskabeligt Tidsskrift 28 (1996), 3–27; Berndt Hamm, Religiosität im späten Mittelalter. In: Reinhold Friedrich / Wolfgang Simon (Hg.), Spannungspole, Neuaufbrüche, Normierungen, Tübingen 2011, 301–334. 33
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es hier aber keinen notwendigen Gegensatz gibt, zeigt sich schon in der Tatsache, dass das Geben von »etwas« als symbolisches Sich-Geben verstanden werden kann, wie bei Hénaff und Emerson. Empfänger wird man, wenn man sich mit dem Geber verbunden sieht (gegen Dalferths Empfänger-fokussierte Perspektive). Letzteres gibt Anlass, Entscheidendes in der umfangreichen Diskussion in der lutherischen Tradition über das Verhältnis zwischen favor und donum Dei zu sagen, weil eine Gabe-orientierte Interpretation in Verlängerung sowohl von dem senecaschen beneficiumBegriff 36 als auch von Hénaffs Verständnis der Gabe, den engen Zusammenhang zwischen gratia als favor Dei und als donum sichtbar macht. 37 Das favor dei, die Intention Gottes, kann dann als die selbstgebende Innenseite des donum verstanden werden. Die, traditionell gesehen, forensische Dimension der Rechtfertigung wird hiermit in die Gabe-Relation eingebunden und ihr untergeordnet. Dass das auch in der seelsorgerlichen Theologie Luthers und Melanchthons der Fall ist, zeigen einige prägnante Texte, die Luthers christologisches Verständnis von der Einfügung des Menschen in das Rechtfertigungsgeschehen, beziehungsweise Melanchthons Hervorhebung der Betrachtung des wirkenden Geistes, darstellen. Möglich ist die Einbindung der Rechtfertigungslehre in eine Gabe-Relation aber bei beiden nur durch eine konsequente Mehrfachbesetztung der GeberEmpfänger-Positionen.
6.
Promissionale Wechselseitigkeit bei Luther und Melanchthon
Das Verhältnis zwischen Luther und Melanchthon ist eines der virulenten Themen innerhalb der lutherischen Forschungsgeschichte. Besonders der Vorwurf, dass Melanchthon synergistisch oder forensisch einseitig gewesen sei, ist eine übliche Auffassungen gewesen. Weil aber für Melanchthon consolatio der finis ultimus der Theologie war, gab es in diesem entscheidenden Punkt zwischen Luther und ihm kei-
Vgl. hierzu Saarinen, The Language of Giving, 278–282. Entscheidend ist es bei Seneca, dass das wirkliche Beneficium das Wohlwollen des Gebers ist, das immer noch bleibt, auch wenn die Gabe selbst wieder weg ist. 37 Dieser Aspekt wird in Saarinens Verwendung von Seneca unterbeleuchtet. Vgl. Saarinen, Gunst und Gabe. 36
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ne Divergenz. Der Gabe-orientierte Zugang kann hier beleuchten, wie sich verschiedene Auffassungen differenzieren, aber grundsätzlich funktional äquivalente Lösungen darbieten. Sowohl die Ablehnung der falschen, als auch die Darstellung der heilsamen Ökonomie hat bei Luther fundamentale Bedeutung und man findet daher bei ihm eine notwendige Doppelstrategie: 38 Luther hat von Anfang an sein neues Verständnis der Rechtfertigung vom juristischen Gerechtigkeitsbegriff sowohl zu unterscheiden, als auch mit ihm zu verbinden versucht. In seiner Einleitung zum gedruckten Galaterkommentar von 1535 wird die passive Gerechtigkeit von der aktiven, gesetzlichen Gerechtigkeit, die ein klares ökonomisches Element beinhaltet, so getrennt, dass der Mensch in der passiven Gerechtigkeit für Gott weder etwas tut noch gibt. Hier ist der Mensch nur der Nehmende und lässt Gott in sich wirken. 39 Damit scheint Luther die exklusive Passivität bestätigt zu haben. Wäre das nicht der Fall, hätte er sich auch anders ausdrücken können. Was in der Einleitung steht, korrespondiert mit Luthers GottesDefinition in der ersten Psalmen-Vorlesung: »… dies ist es, Gott zu sein: nicht Güter zu empfangen, sondern zu geben, also Böses mit Gutem zu vergelten«. 40 Hieraus folgt, dass der Mensch nur Nehmer sein kann, weil nur Gott Geber im eigentlichen Sinne ist. Liest man aber weiter in der Galater-Vorlesung, findet sich in der Auslegung von Gal 3,6 eine Beschreibung der Glaubensgerechtigkeit, die auf den ersten Blick mit der erwähnten Gerechtigkeitsdefinition in der Einleitung in einer gewissen Spannung steht. Es heißt hier: »Der Glaube rechtfertigt also, weil er gibt, was er schuldet.« 41 Warum diese Hinzufügung zu der Lehre von der menschlichen Passivität nötig ist, ist eine Frage, die eine präzise Antwort erfordert. Eine Hervorhebung der reinen Gabe als die Alternative zu der Situation, in der das Gesetz das Tun des Menschen fordert und gleichzeitig Vgl. zum Folgenden Bo Kristian Holm, Rechtfertigung als gegenseitige Anerkennung bei Luther. In: Hans-Christian Knuth (Hg.), Angeklagt und anerkannt: Luthers Rechtfertigungslehre in gegenwärtiger Verantwortung, Erlangen 2009, 23–42. 39 WA 40 I,41,5–7 [Hs]: »Christiana iusticia est mere contratria, passive, quam tantum recipimus, ubi nihil operamur sed patimur alium operari in nobis scilicet deum.« Vgl. WA 40 I,41,18–12 [Dr]: »Ibi enim nihil operamur aut reddimus Deo, sed tantum recipimus et patimur alium operantem in nobis, scilicet Deum.« 40 WA 3,269,23 f. (Dictata super Psalterium, 1513/15): »… hoc est esse deum, non bona accipere, sed dare, ergo pro malis bone retribuere.« 41 WA 40 I,360,11 f. [Hs]: »Quare fides iustificat, quia reddit quod debet.« 38
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seine Unmöglichkeit zeigt, kann nicht die volle Lösung sein. Eine Hervorhebung der einseitigen, reinen Gabe ist keine reale Alternative, denn wie kann diese reine Gabe Gottes im Horizont des Erkennens überhaupt reine Gabe bleiben? Derrida und Bourdieu haben hier ganz deutlich die Schwierigkeiten gezeigt. Das Modell des mere passive ist auch bei Luther in sich selbst nicht völlig hinreichend, sondern braucht eine Erweiterung. Wenn nämlich ein Modell des passiven Empfangs behauptet werden soll, ließe sich genauso gut der sündige Mensch hervorheben, weil gerade er so passiv wie überhaupt möglich das empfängt, wovon er lebt, indem er es nicht als Gabe wahrnimmt. Nur das Gesetz zeigt dem Sünder, dass seine Vernachlässigung der Gabe eine Ablehnung war. Denken wir weiter in der Linie Derridas, ist es möglich zu behaupten, dass das Sündersein ohne das offenbarende Wort eben den Kriterien für den Empfang einer reinen, wahren Gabe entspricht. 42 Aber das ist für die Theologie keine brauchbare Lösung. Um vom passiven Empfang der göttlichen Gabe zu reden, ist ein wahrnehmender Empfang nötig, weil das Empfangen sonst entleert wird. Ein Modell für einen solchen Empfang bietet nun die Liebe an. Glaube muss bei Luther in gewisser Hinsicht von Liebe unterschieden werden, hat aber gleichzeitig und auch bei Luther schon die Form der Liebe, nämlich als vertrauensvolles Selbstgeben. Wenn Luther den Glauben gegen die Liebe hervorhebt, dann deshalb, weil der Liebesbegriff in der Theologie seiner Zeit eher ein Qualitätsbegriff war. Mit Hilfe des Glaubens kann Luther das Relationale in der Liebe hervorheben: das Vertrauen in die Zusage des anderen. In dieser Weise ist Glaube bei Luther immer auch Liebe. 43 Gleichzeitig kann Luther auch unterstreichen, dass die Vereinigung in der Liebe nicht das Ende eines Prozesses ist, sondern schon dessen Voraussetzung sein muss. Der Glaube ist nicht wie in mittelalterlichen Theologien nur ein Anfang, wie auch Hamm hervorgehoben hat, 44 sondern im Glauben hat der Mensch schon alles – oder genug, wie Luther es häufig formuliert. Das ist der entscheidende Perspektivwechsel bei Luther, der mit der Vorstellung von der unerschöpflichen Fülle Gottes eng zusammenhängt.
Vgl. hierzu Bo Kristian Holm, Der fröhliche Verkehr. Rechtfertigungslehre als Gabe-Theologie. In: Veronika Hoffmann (Hg.), »Urwort«, 33–53, 45. 43 So auch Hamm, Pure Gabe, 264. 44 Berndt Hamm, Was ist reformatorische Rechtfertigungslehre? In: Zeitschrift für Theologie und Kirche 83 (1986), 1–38, 26. 42
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Nur in dem geschenkten, göttlichen Reichtum kann der Mensch von seiner ökonomischen Vernunft befreit werden, was für Luther gleichzeitig ein Befreitwerden zur Teilnahme sowohl am göttlichen als auch am gesellschaftlichen Leben ist. Wenn man Luthers und Melanchthons Werke genauer liest, spielen der Reichtum und die Fülle Gottes bzw. des Glaubens in dieser Weise eine hervorgehobene Rolle. 45 So hat zwar in der Galatervorlesung von 1531 das früher so bedeutende Ehe-Bild nicht mehr die gleiche Bedeutung wie vorher, gänzlich verschwunden ist es aber auch nicht, sondern es lassen sich funktionale Äquivalente zum Ehe-Bild des Freiheitstraktats finden: Sowohl in der Freiheitsschrift wie in der Großen Galater-Vorlesung wird das Verhältnis zwischen Gott und Mensch als eine doppelte oder wechselseitige Relation beschrieben. Gott ist der Schöpfer und Geber alles Guten, aber um das für den Menschen zu sein, muss er erst als solcher anerkannt werden. Eine Gabe zu geben, etabliert eine Relation zwischen Geber und Empfänger. Eine Gabe ist aber nicht wirklich gegeben, wenn sie nicht auch als eine Gabe empfangen ist. Wenn es den lutherischen Reformatoren entscheidend und neu war, die Schöpfung mit dem Begriff der Gabe zu verstehen, 46 dann kommt man an dieser Dynamik der Gabe nicht vorbei. Die Relationalität des Gebens braucht also die Relationalität des Empfangens. Diese doppelte Relationalität finden wir eben in Luthers Auslegung von Gal 3,6, wenn er den Glauben als creatrix divinitatis versteht. Der Glaube schafft Gott, zwar nicht in Gottes Substanz, aber in dem Menschen, in nobis. Damit wird Gott die Ehre gegeben. Dies lässt sich nur in Relation mit dem engen Zusammenhang zwischen Wort und Glauben verstehen: Hier teilt das Wort dem Glauben göttliche Eigenschaften mit. Der Glaube wird Schöpfer. Um das seelsorgerliche und promissionale Element hier zu verstehen, müssen wir an Melanchthons zweite Frage neben dem quid sit, an das quid effectus erinnern. Luthers Kommentar zu These 37 in den Resolutionen zu den Ablassthesen (1518) darf hier genügen. WA 1,593,7 f.: »Impossibile est esse Christianum, quin Christum habeat, Quod si Christum et omnia simul quae Christi«. Im Kommentar steht diese Aussage in enger Verbindung mit der Verwendung des Ehebildes. Für Melanchthon genügt hier ein Hinweis zu seinen Loci von 1521, wo er das Vertrauen in die unverdiente Barmherzigkeit Gottes mit dem Empfang von allem aus der Fülle Christi verbindet. S. Philipp Melanchthon, Loci Communes 1521, hg. v. Horst Georg Pöhlmann, Gütersloh 1993, 220. 46 Vgl. Bayer, Ethik der Gabe, 105–108. 45
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Die Behauptung der menschlichen Passivität in der einleitenden Unterscheidung zwischen göttlicher und weltlicher Gerechtigkeit ist notwendig, um klar zu machen, dass menschliches Geben kein konstitutives Element der Rechtfertigung ist, aber trotzdem logisch damit zusammenhängt. Das mere passive hat hier eine klare Funktion: Es unterstreicht die Empfangsposition des zu rechtfertigenden Menschen und ist auch Glaubensaussage desselben. Um diesen Aspekt zu wahren, wird bei Luther häufig das Geben mit dem physischen Schenken gleichgesetzt. 47 Die Beschreibung des Glaubens als Geber (der Glaube gibt Gott die Ehre) und Schöpfer (creatrix divinitatis) ist die ebenso notwendige Einschreibung des Menschen in die von Gott etablierte wechselseitige Relation zwischen Gott und Mensch. 48 Der entscheidende seelsorgerliche Aspekt bei Luther liegt nicht nur in dem mere passive, sondern auch in der Annahme des Menschen in der Gottes-Relation 49 – eine Relation, die nicht von einer späteren Ergänzung, z. B. in der Dankbarkeit oder in einer von der Rechtfertigung zu unterscheidenden Heiligung abhängig ist. Wenn der Glaube Gott gegenüber sowohl Geber als auch Schöpfer ist, dann nur in dem Moment, wo Gott den Menschen annimmt. Deswegen gehören Begriffe wie »nehmen« und »Annahme« integral zu einer GabeTheologie, was m. E. allzu oft außer Acht gelassen wird. Ebenso ist diese geschenkte Wechselseitigkeit notwendig, um mit der Machtfrage im Kontext der Gabe umgehen zu können. Nur das teilende Geben, der Geber also, der seinen Geberstatus mit dem Empfänger teilt, kann hoffen, von der Machtfrage frei zu kommen. Ob das Geben gelingt, ist von dem Vertrauen in die liebende Intentionalität des Gebers abhängig. Wollte man hier das Intentionale des Gebens weglassen, um die Machtfrage zu vermeiden, wie Philipp Stoellger meint, verschwindet auch dass seelsorgerliche Element aus der TheoVgl. hierzu Martin Seils Versuch, Gottes unilaterales Geben mit Hilfe des Schenkens zu schützen. In: Seils, Gabe und Geschenk. 48 Vor der berühmten Formulierung des Glaubens als Schöpfer der Gottheit wird das Ehre-Geben des Glaubens als Anerkennung Gottes als der, der alles Gute gibt, qualifiziert. Vgl. hierzu Holm, Rechtfertigung. Damit wird das Geben und Schöpfen genauso eng wie in der Schöpfungslehre miteinander verknüpft. 49 Dass das Modell der positiven Wechselseitigkeit ein notwendiger Teil von Luthers seelsorgerlicher Theologie ist, kann auch erklären, wieso wir dieses Verständnis in Luthers seelsorgerlichen Schriften früher finden als in den akademischen. Das könnte auch erklären, warum Hamm schon in Luthers seelsorgerlichem Brief zum Spenlein von 1516 ein Vorgreifen der expliziten Verwendung des Ausdrucks »fröhlicher Wechsel« im Freiheitstraktat finden kann. Vgl. Hamm, Pure Gabe, 270 f. 47
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logie. 50 Die Heilsgewissheit des Glaubens ist mit dem Vertrauen in die Offenbarung der göttlichen favor eng verbunden. Gottes Gott-Sein ist also nicht ohne die Relation zum anerkennenden Menschen im vollen Sinne gegeben, zwar durchaus für sich selbst, aber nicht pro hominibus. Damit ist zur Rechtfertigungslehre ein entscheidendes Moment der Sozialität hinzugefügt. In dem Versuch, durch Hervorhebung des unilateralen, puren Gebens das mere passive der Rechtfertigungslehre zu schützen, wird dieses soziale Element außerhalb der Rechtfertigung platziert. Wenn aber Schöpfung bei Luther mit Bayer als Stiftung und Bewahrung von Gemeinschaft zu verstehen ist, was Luthers Auslegung der ersten Genesis-Kapitel 1535 zeigt, dann muss dieses Element auch in der Rechtfertigungslehre gefunden werden, 51 sonst kann sie nicht das, was im Verhältnis zum Schöpfer zerstört wurde, wiederherstellen. Es kann aber nur so zum Ausdruck kommen, dass die Beschreibung des göttlichen Handelns in der Rechtfertigungslehre ein wechselseitiges Verhältnis einschließt, in dem dem Menschen die Rolle des Gebers gegeben wird. In dieser Hinsicht wäre es falsch, Rechtfertigung und Heiligung prinzipiell zu trennen. Auch Luther hat sie erst in den Katechismen als separate Begriffe behandelt. Auch Hoffmann, Hamm und Saarinen sind sich hier in ihrer Kritik an einer prinzipiellen Trennung von Rechtfertigung und Heiligung einig. 52 Aber eben weil das Empfangen des S. Philipp Stoellger, der im Unterschied zu vielen anderen, die Machtfrage ernst nimmt. Stoellger, Von realer Gegenwart im Abendmahl. In: Hoffmann, »Urwort«, 73–98, 83: »›Für euch gegeben‹ ist eine erste Entfaltung der ›Gabe‹ mit der entscheidenden Pointe des ›pro vobis‹ (als indirekter Darstellung des ›pro nobis‹). Damit wird (nicht unproblematisch) der Gabe eine Intentionalität eingeschrieben: nicht um des Gebers willen (seine Macht zu demonstrieren) gegeben zu werden, sondern um den so Begabten etwas zuzueignen, auf dass sie es sich aneignen, indem sie es weitergeben. Die große ›Kette des Gabe‹ hat ein Gefälle ›weg vom Geber‹, hin zu den ›Späteren‹. Dieser Hin- und Weggabe eine regierende große Intentionalität einzuschreiben, ist prekär. Denn damit würde die Gabe leicht zum Akt eines großen Souveräns. Und damit liefe man Gefahr, sie zur Manifestation seiner Souveränität zu machen.« 51 Von Luthers Verständnis der Schöpfung zu derjenigen Jürgen Werbicks ist es hier nicht weit. Auch für Werbick liegt Gottes schöpferisches Handeln in der Befähigung zu positiver Wechselseitigkeit. S. Jürgen Werbick, Gottes-Gabe. Fundamentaltheologische Reflexionen zum Gabe-Diskurs. In: Veronika Hoffmann, »Urwort«, 15–32, 20 f. 52 Diese Kritik trifft v. a. Dalferth. Vgl. Hoffmann, 175 f., Hamm, Pure Gabe, 264 f., Saarinen, Language of Giving, 295–301. Obwohl Hoffmann nicht direkt eine Trennung von Rechtfertigung und Heiligung kritisiert, liegt es implizit in ihrer Vermutung, »dass Dalferth Aktivität und Passivität als strikte, einander ausschließende Gegensätze denkt« (175). 50
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Glaubens vom ersten Moment an »ein aktives Empfangen, ein Annehmen und Entgegennehmen der Gott liebenden Seele« 53 ist, macht es Sinn, von einer promissionalen, positiven Ökonomie zu sprechen, die die Möglichkeit hat, ihren Inhalt sofort zu verwirklichen. Bei Melanchthon wird die Einschreibung des Menschen in seine Erlösung anders, aber nicht grundsätzlich verschieden, entfaltet als bei Luther. Bei Luther kommt die Mehrfachbesetzung der Gabe-Positionen vor allem durch die communicatio, zwischen den Glaubenden und Christus zustande, die Christus und die Christen vereint, wobei Geber, Gabe und Empfänger ineinander fließen (siehe oben). Bei Melanchthon wird die Mehrfachbesetzung trinitarisch gelöst. Der Geist spielt von Anfang an bei Melanchthon eine größere Rolle als bei Luther, und ist bei ihm generell das Prinzip göttlicher Gegenwart, dass den Menschen zur Gemeinschaft mit Gott befreit. In unserem Kontext reicht es, bei Melanchthons späten und letzten Loci zu bleiben, d. h. bei den Heubtartikel christlicher Lere von 1553. 54 Melanchthon hebt hier die fleißige Betrachtung derjenigen Schriftzeugnisse, die von der Wirkung des Geistes berichten, besonders hervor. Diese häufige Hervorhebung der Betrachtung ist für die Behauptung einer promissional wirkenden positiven Ökonomie besonders wichtig. Durch diese Betrachtung sehe man Gottes überströmende Güte, durch die er seinen eigenen Geist in den Glaubenden hineingießt. Bemerkenswerter Weise wird dadurch die Identität von Geber und Gabe entscheidend: »Nu khann gott nicht grossers geben denn sich selber«. 55 Und durch diese Betrachtung wird Trost gefunden in den Verheißungen, dass Gott diese Gaben gibt und lieber gibt als empfängt. Die frühe Gottes-Definition bei Luther wird hier wiederholt. Melanchthons Formulierung ist sehr dicht an derjenigen Luthers in Vom Abendmahl Christi. Der Unterschied liegt in Melanchthons Unterscheidung zwischen dem externen Wort von der gnädigen Annahme des Sünders und der internen Präsenz des Geistes, die die Annahme des Wortes schafft. Obwohl Melanchthon häufig die externe Gnade hervorhebt, ist Gnade bei ihm hier sowohl die externe favor dei – vor allem als Annahme des Sünders verstanden –, als auch die interne
Hamm, Pure Gabe, 264. Philipp Melanchthon, Heubtartikel Christlicher Lere. Melanchthons deutsche Fassung seiner Loci theologici, hgg. v. Ralf Jenett und Johannes Schilling, Leipzig 2002. 55 Melanchthon, Heubartikel, 110. 53 54
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Wirkung des Geistes. 56 So sind bei Melanchthon Gotteserkenntnis und Liebe zu Gott an die Erleuchtung von Seele und Herz durch den Heiligen Geist gebunden. 57 Die Beschreibung des Zusammenwirkens von Wort und Geist soll bei Melanchthon Trost bewirken. Dadurch wird aber auch der Wille zur Zustimmung des Wortes befreit, was für die folgenden guten Werke entscheidend ist. 58 Wahren Glauben an Gott, brennende Liebe zu Gott, Zuversicht in Gott kann der Mensch, Melanchthon zufolge, nicht selbst entzünden. Bei ihm ist hier die Subjekt-Position des menschlichen Verhaltens Gott gegenüber in entscheidender Weise mehrfach besetzt. Durch die Betrachtung des göttlichen Gebens sieht der Mensch, wie Gott durch seinen Geist in Herz und Seele wirkt, womit das Betrachtete sich gleichzeitig realisiert. Was für die Gabe-Diskussion entscheidend ist, ist die Rolle, die die Beschreibung dieses Sachverhalts bei Melanchthon einnimmt. Sie soll nämlich, wie bei Luther, in dieser Weise ihren Inhalt mitteilen zum Trost des Glaubenden. Und eben darin wird der Mensch beteiligt. Bei Melanchthon wird die Beteiligung des Menschen in seinem Heil vor allem durch die Vorstellung der gnädigen Annahme des Menschen wahrgenommen; eine Annahme durch Gott, die aber ihrerseits mit der Zuversicht des Glaubens angenommen wird. 59 Mit dem Begriff der Annahme als Korrespondenzbegriff zum Geben ist die Rechtfertigungslehre sozial erweitert. Der Sünder wird hier als Vgl. z. B. Melanchthon, Heubartikel, 157: »Erstlich soltu wissen, das das wort ›gnad‹ nit allein heisset die hullf, die der heilig geist im menschen wirket, sondern ›Gnad‹ heisset auch barmhertzikeit und gnedige annemung umb Christi willen, ob gleih unser werk noch swach und unrein sind.« 57 Die Version von 1556/58 hat hier eine Variation. 1553 heißt es: »… sondern gott wirt nicht erkennt noch geliebet, wo nit der Son gottes durch den heiligen geist unser seel und hertz erleuchtet und dises liecht, trost und feur zuvor anzundet.« 1556/58 lautet dieselbe Passage so: »… sondern gott wirt nicht erkennt noch geliebet, wo nit der Son gottes durch Evangelium selbs in uns liecht und trost wircket und den heiligen Geist gibet, der in unsern Seelen und hertzen wirket solche tugenden, wie Er ist.« 58 Melanchthons causa-Lehre hat also nichts mit Synergismus zu tun, sondern ist eine Lehre vom befreiten Wille des Christen. Vgl. hierzu Wolfgang Matz, Der befreite Mensch. Die Willenslehre in der Theologie Philipp Melanchthons, Göttingen 2001. S. auch Timothy J. Wengert, Philipp Melanchthon and the Origins of the »Three Causes« (1533–1535): An Examination of the Roots of the Controversy over the Freedom of the Will. In: Irene Dingel u. a. (Hg.), Philipp Melanchthon, 183–208. 59 Vgl. Melanchthon, Heubtartikel, 306: »So du das evangelium horest und lernest, nicht mutwilliglich auß dem sinn Weg wirffest, sondern dich damit trostest, so wirkt gewisslich der Son gottes selbs in dir.« 56
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Gerechtfertigter angenommen. Damit ist der Sünder nicht nur Empfänger, sondern muss auch Gott nicht nur den Gebenden, sondern auch den Annehmenden sein lassen. Aber eben dieses Gott-Gottsein-lassen beinhaltet die Anerkennung, dass nur Gott Gott ist. Damit kann der Mensch sich als einen verstehen, der Gott seine Ehre gibt. Auch in dieser Weise gibt es eine mehrfache Besetzung der Positionen (der Geber empfängt und der Angenommene gibt) und damit hat diese objektive Beschreibung der Wechselseitigkeit zwischen Gott und Mensch ihr Ziel in einer promissionalen Verwirklichung. Diese Auffassung liegt gar nicht so weit weg von Hamm. Auch er betont Dalferth gegenüber, dass schon der Glaube selbst Heiligung und Liebe ist und dass die Rechtfertigung selbst das Basisgeschehen der Heiligung ist. Wenn Dalferths Festhalten am exklusiven mere passive eher »der Logik eines in Karl Barths Schule gegangenen systematisch-theologischen Denkens« entspricht, 60 so lässt sich aber auch fragen, ob nicht bei Hamm ein Teil dieser Logik hängen geblieben ist, wenn nicht wahrgenommen wird, dass Luthers »reine Gabe« nichts mit Derridas »reiner Gabe« zu tun hat, weil es die Pointe der göttlichen Gabe ist, dass sie beschrieben werden kann, ohne die Wechselseitigkeit des Gebens zu fürchten. Das ist aber nur möglich, wenn diese positive Ökonomie promissio wird.
7.
Schlussreflexion
Eine absolute Trennung von Aktivität und Passivität 61 scheint in der Verlängerung der Rede von einer positiven, promissionalen Ökonomie unmöglich. Stattdessen wird der passive Empfang des Menschen so grundlegend, dass er auch die Aktivität des Menschen umfasst, eben weil das aktive göttliche Geben und die göttliche Annahme die Aktivität des Menschen mit sich bringen und konstituieren. Diese Aktivität ist aber nur wegen einer grundlegenden Mehrfachbesetzung der Positionen in der Gabe-Relation möglich, wie bei Simon und Hoffmann gezeigt, 62 – bei Luther ist dieses Element christologisch, bei Melanchthon pneumatologisch gefüllt, was aber eben als Hamm, Pure Gabe, 258. Vgl. Hamm, Pure Gabe, 264. 62 Vgl. Wolfgang Simon, Worship and Eucharist, 143–156; Saarinen, God and the Gift. 60 61
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zwei Varianten einer trinitätstheologischen Lösung verstanden werden kann, die verschiedene Aspekte betonen. Bei Melanchthon wird das trinitarische Moment deutlicher, bei Luther das Moment des göttlichen Selbstgebens. Die Beispiele zeigen, dass es hier nicht um einander ausschließende Alternativen geht. Deswegen kann hier auch nicht von einer prinzipiellen Selbstzurücknahme Gottes in seiner befreienden Handlung gesprochen werden, sondern nur von einer spezifischen: Gott nimmt sich selbst als Geber zurück, um Empfänger des Glaubens an ihn zu sein, indem er sich gibt. 63 Genauso wenig ist es sinnvoll, unqualifiziert von »purer Gabe« zu reden und das mere passive unqualifiziert zu verabsolutieren. Der Begriff der »puren Gabe« wird nämlich unpräzise, wenn es um eine Beschreibung des GottMensch-Verhältnisses geht. Er braucht, um seine theologische Bedeutung zu behalten, eine klare Distanz zu Derridas reiner Gabe. Das exklusive und betonte mere passive, darin impliziert auch die pure Gabe, hat als Bekenntnisaussage sündiger Menschen eine Wahrheit – aber nur in dem Sinne, dass es dazu beiträgt, eine bestimmte objektive Ökonomie, nämlich die merkantile in allen ihren Varianten, auszublenden. Es kann durchaus gelingen, dieses mere passive in eine promissionale Ökonomie der schöpferischen und Gemeinschaft stiftenden Liebe Gottes einzuschreiben, ohne dabei das Anliegen des mere passive zu verkennen. Nur so lässt sich der Gebrauch von Bildern und Metaphern der Wechselseitigkeit und des Tausches bei Luther und das Betrachten bei Melanchthon verstehen und nur so gelingt es der Theologie, ein Gabe-Verständnis zu entwickeln, das nicht auf einem Privatgebrauch der Wörter beruht, sondern, in Folge des Ideals Melanchthons, auf einem allgemein verständlichen, das umgekehrt nicht die Andersheit des überströmenden und generösen göttlichen Gebens ausschließt. 64
Vgl. die Diskussion bei Werbick in Verlängerung von Kierkegaard, Gottes-Gabe, 22–24. 64 Für die Hilfe mit der Endgestaltung des Aufsatzes danke ich Frau Kinga Zeller. 63
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III. Geben aus vollen Händen? Großzügigkeit im Kontext von Religion
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Geben ist seliger denn Nehmen. Großzügigkeit als Habitus und Ressource Hans-Martin Gutmann*
1.
Szenen
1.1 Szene 1 In der neutestamentlichen Erzählung von der Speisung der Fünftausend (Mk 6, 30–44 parr.) wird ein Geschenkwunder erzählt. Viele werden von Wenigem satt, und es bleibt noch Überfluss. In diesem Zusammenhang wird von einer interessanten Interaktion zwischen Jesus und den Jüngern berichtet. Jesus setzt hier die Opposition von »Geben« und »Kaufen« (VV 35–37: »… lass sie gehen, damit sie […] sich Brot kaufen. Er aber antwortete und sprach: gebt ihr ihnen zu essen«). Ulrich Luz 1 deutet die Matthäus-Variante dieser Erzählung auf den sozialgeschichtlichen Hintergrund: In einer Armutsgesellschaft bindet sich an die Begegnung mit dem erhofften Messias die Hoffnung auf Fülle, auf die Beendigung des Mangels. In anderer Weise ist dieser Zusammenhang zwischen Fülle-Phantasien und Armutssituation – ohne deutlich religiöse Konnotation – in den frühneuzeitlichen Fressphantasien vom Schlaraffenland ausgemalt worden, eine Schenke-Ökonomie, in der real erfahrener Mangel sich im ausgemalten Fressgelage erledigt. 2 Möglicherweise erzählt der neutestamentliche Text auch von einer mimetischen Handlungssequenz: Die Gabe des Brotes und der Fische durch die öffentlich zur Schau gestellte Interaktion im Zentrum der Szene animiert alle Anwesenden, ihre mit* Dieser Beitrag ist in leicht überarbeiteter Fassung wieder abgedruckt in: Hans-Martin Gutmann, Evangelisch leben zwischen Religion, Politik und populärer Kultur, Berlin 2015, 197–211. 1 Ulrich Luz, Das Evangelium nach Matthäus (Mt 8–17). EKK I/2, Neukirchen / Zürich 1990, 395 ff. 2 Vgl. Dieter Richter, Schlaraffenland. Geschichte einer populären Phantasie, Köln 1984. Die Gabe
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gebrachten (und bisher zurückgehaltenen) Vorräte ebenfalls weiterzugeben. Die Interaktion zwischen Jesus und seinen Zuhörern ist durch die Gabe, nicht durch das Geschäft bestimmt. Ich vertrete im Gegenüber von Gaben- und Warenökonomie eine ermäßigt evolutionistische Hypothese. Der neutestamentliche Text zeigt (wie viele weitere), dass es ein Nebeneinander beider Formen von ökonomischer Interaktion, Sozialverhältnissen und Selbstinszenierungen nicht erst heute, sondern schon in altorientalischen Gesellschaften gibt. Allerdings hat die Dominanz der akkumulationsorientierten Warenökonomie gegenüber der auf die Reproduktion des gemeinsam geteilten Gemeinwesens orientierten Gabenökonomie in historischer Perspektive immer weiter zugenommen – bis zur völligen Loslösung der aberwitzigen Reichtumsströme heutiger Finanzmärkte von jeder Verantwortlichkeit gegenüber konkreten menschlichen Bedarfen. Wundervoll erzählt wird diese aktuell dominierende Katastrophe in Kristof Magnussons Roman »Das war ich nicht« 3: Hier reißt ein junger beziehungsgestörter Banker in wenigen Tagen, um eine in die Hose gegangene Finanztransaktion zu vertuschen, in immer aberwitzigeren Interventionen auf dem Finanzmarkt eine ganze Großbank in den Ruin (gegenwärtig steht der Vorstand der HSH-Nordbank wegen ähnlicher Geschichten vor Gericht, diesmal im wirklichen Leben). Die Geldbestimmtheit der Sozialität erreicht eine Intensität, dass das Geld nicht Mittel bleibt, sondern zum Subjekt gerät. 4 Seitdem 1989 die »realsozialistischen« Gesellschaften implodiert sind, und radikalisiert seit Beginn der Finanzkrise 2008 wird die kapitalistische Finanzökonomie totalitär. Gesellschaftliche Teilsysteme, deren Kommunikation bisher durch spezifische Medien bestimmt war – z. B. intime Beziehungen durch Liebe, religiöse Kommunikation durch Glauben, wissenschaftliche Tätigkeit durch Wahrheit – verlieren in galoppierender Geschwindigkeit ihr eigenständiges Gesicht. Die Firma wird tendenziell zum einzig plausiblen Modell menschlicher Gesellung. Dennoch gilt die allen Indianerfreund_innen bekannte lapidare
Kristof Magnusson, Das war ich nicht, München 2010. Diese These, die Karl Marx bereits im Kapital entfaltet hat, hat beispielsweise Christoph Deutschmann für die aktuelle Situation plausibel entfaltet: Die Verheißung des absoluten Reichtums. Zur religiösen Natur des Kapitalismus, Frankfurt a. M. / New York 1999. 3 4
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Häuptlingsweisheit, dass man Geld nicht essen kann. Sie bezeichnet auch heute Lebenswelten, ohne deren Existenz der kapitalistische Markt selbst nicht lebensfähig wäre. Überall wo Leben entsteht und aufwächst, versorgt und geschützt werden muss; überall dort, wo Liebesbeziehungen, Freundschaften und Nachbarschaften, wo pädagogische Beziehungen zwischen Eltern und Kindern, Lehrenden und Lernenden, überall auch dort, wo Religion gelebt werden, würde die Vorherrschaft markt- und akkumulationsorientierten Denkens den Lebensvollzug stören oder sogar zerstören. Hier existiert – benutzt, bedroht, fragil – eine Ökonomie-Form weiter, die in alten Gesellschaften einmal als totale Institution den Austausch zwischen Mensch und Mensch, Mensch und Natur, Mensch und Gottheit bestimmt hat. In den drei Verpflichtungen der Gabenaustausch-Ökonomie – zu geben; anzunehmen; und wiederzugeben – gewinnt der/die Gebende (1. Position) die stärkste Macht, im akkumulationsorientierten Ware-Geld-Austausch dagegen der/ diejenige, der/die am meisten nimmt, ohne wiedergeben zu müssen (2. Position). 5 Füreinander einstehen in Familien und familienähnlichen auf Dauer gestellten solidarischen Gruppen, wechselseitige Besuche und Einladungen zwischen Haushalten oder an Wirtshaustheken, aber Die durch Marcel Mauss (Die Gabe. Form und Funktion des Austausches in archaischen Gesellschaften. Wolf Lepenies u. a. (Hg.), Soziologie und Anthropologie, Bd. 2, Frankfurt a. M. u. a. 1978) angestoßene Debatte um die Eigenständigkeit dieser längst vor der kapitalistischen Globalisierung in vielen Weltgegenden bestehenden Form wirtschaftlich-sozial-religiösen Austausches ist mittlerweile durch zahlreiche Forschungen gestützt und differenziert worden. Vgl. Maurice Godelier, Das Rätsel der Gabe. Geld, Geschenke, heilige Objekte, München 1999. Helen Codere hatte schon früh darauf hingewiesen, dass bestimmte Formen des agonistischen Austausches wie ein exzessiver indianischer Potlatch als durch die Geldökonomie pervertierte Gestalten des Gabenaustausches angesehen werden müssen (Helen Codere, Fighting with Property. A Study of Kwakiutl Potlatching and Warface, Washington DC 1950). Helmuth Berking hat die spezifischen Rollenmuster untersucht, in denen die Ökonomie des Gabenaustausches in gegenwärtig vorherrschenden Geschenkritualen sich ausdifferenziert (Helmuth Berking, Schenken. Zur Anthropologie des Gebens. Frankfurt a. M. / New York 1996). Magdalene Frettlöh (Der Charme der gerechten Gabe. Motive einer Theologie und Ethik der Gabe am Beispiel der paulinischen Kollekte für Jerusalem. In: Jürgen Ebach u. a. (Hg.), Jabboq 1. Leget Anmut in das Geben, Gütersloh 2001, 105–161) diskutiert in Anlehnung an Jaques Derrida die Frage, ob gerade eine Gabe, die der Reziprozität entzogen und in diesem Sinne reine Freigebigkeit ohne Gegengabe-Forderung ist, als die in der Theologie angemessene Rezeptionsgestalt der Mauss’schen Gabentauschtheorie angesehen werden muss.
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auch der Austausch von Postings und narzisstischen Selbstinszenierungen über die sozialen Netzwerke zeigen: In den alltäglichen Reziprozitätsritualen der lebensweltlichen Interaktionen gilt – anders als in den systemischen Feldern von Ökonomie und Politik – die Verpflichtung zu geben, zu nehmen und wiederzugeben. Damit ist verbunden, dass Erhalt, Schutz und Förderung des gemeinsam Geteilten wichtiger sind als individuelle Interessendurchsetzung. Gaben werden nicht zur individuellen Vermehrung von Reichtum und sozialer Macht akkumuliert, sondern müssen möglichst angemessen zurückgegeben werden – um Beziehung zu bekräftigen, Wertschätzung mitzuteilen, »Streicheleinheiten« auszutauschen, wechselseitig Selbstwertgefühle zu stärken, Ungleichgewichte und Krisen auszubalancieren, Gleichgewicht zu stabilisieren.
1.2 Szene 2 »Babettes Fest« (Dänemark 1987, Regie Gabriel Axel, Oscar 1988 für den besten ausländischen Film) 6 erzählt: Nach dem Tod ihres Vaters, eines Sektengründers in einem einsamen dänischen Dorf um die Mitte des 19. Jahrhunderts, haben die beiden unverheiratet gebliebenen Töchter die Leitung der Gemeinde übernommen. Sie hat längst den Geist ihrer Ursprungszeit verloren und verliert sich in Streitritualen der alt gewordenen Mitglieder. Die Schwestern nehmen eine junge französische Frau als ihre Haushälterin bei sich auf, die in Paris eine der fähigsten und begehrtesten Köchinnen gewesen ist, aber wegen des Krieges nicht dorthin zurückkehren kann. Sie bleibt für viele Jahre bei den Schwestern. Eines Tages erhält sie per Post die Nachricht, dass sie einen sehr großen Lottogewinn gemacht hat. Babette beschließt, als Dank ein Essen für die Schwestern und ihre Gemeinde zu bereiten. Sie verausgabt den gesamten gerade gewonnenen Reichtum für dieses Fest. Die Schwestern haben sich und ihre Getreuen von Brotsuppen und harten Keksen ernährt und sind dem Alkohol abhold. Sie beschließen, dieses Geschenk anzunehmen. Aber sie verabreden mit den übrigen Gästen, den alternden Mitgliedern ihrer Gemeinde: Ganz gleich, was auch geschieht, wir wollen nichts zum Essen sagen. Vgl. zum Folgenden auch: Hans-Martin Gutmann, Das Geschenk, das die Gewalt verschlingt. Über Krimis, Kino und Gott oder Geld, Wuppertal 2001.
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Babette gibt für dieses eine Fest ihren gesamten Reichtum hin. Der Film erzählt, wie diese Gabe die Feiernden verwandelt, gegen ihren Willen in den Bann zieht, neu macht. Ein starr und zerstritten und lebensunfroh gewordener Lebenszusammenhang wird durch das Fest wieder lebendig. Das Fest gewinnt verwandelnde Kraft durch die überschwängliche Verausgabung, in der Babette für dieses eine Festessen den ganzen Lottogewinn verbrät. Und außerdem phantastisch kochen kann. Eine Gabe, die alles neu macht und verzaubert: Lange verfeindete Streithähne können zusammen lachen und ein mittlerweile in die Jahre gekommenes Paar kann sich endlich ihre Liebe gestehen. Zum Schluss ist der ganze seit Jahren zerstrittene Haufen selig vereint. Zeit des Festes. Fülle, Reichtum, Überfluss des Lebens. Ein Fest misslingt, wenn die Haltung des Sparens, der Knappheit, des Beisich-behalten-Wollens dominiert. Zum Fest passt die Haltung, geschenkten Überfluss weiterzugeben. »Babettes Fest« bringt diese lebens- und liebevolle Seite der überschwänglichen Gabe in eine gute Gestalt: Sie ermöglicht die Erfahrung von Fülle, die vereiste Beziehungen verflüssigt und Leben lebendig macht. Das ist die eine Seite der Ambivalenz überschwänglichen Gebens. Die andere Seite: Im Übermaß mehr zu geben als zu nehmen, macht unter der Dominanz einer akkumulierenden kapitalistischen Ökonomie Menschen in intimen Lebenszusammenhängen (die anders funktionieren) zu Opfern. Arbeit aus Liebe, Sorge für Beziehungen, in denen Leben entstehen, aufwachsen und geschützt werden kann: Zwischenmenschliche Solidarität kommt ohne Geben in diesem Sinne nicht aus. Problematisch wird dies durch historisch dauerhafte Festschreibung von Rollen und ihre herrschaftliche Verzerrung. Diese unbezahlte und gesellschaftlich unterbewertete Arbeit wird den Frauen zugeschrieben. Dauerhaft mehr zu geben als zu nehmen degradiert Menschen im kapitalistischen Wirtschaftssystem. Dies ist, soweit ich sehe, ein wichtiger Grund, warum feministische Theolog_innen die »Opfer«-Symbolik kritisieren, beispielsweise in der Kreuzestheologie: Nicht nur unter dem Aspekt der Gewalt, sondern auch der Gabe. Wobei in der zeitgenössischen Moderne zementierte Opfer-Strukturen im beschriebenen Sinne in der Regel ohne religiöse Begründung funktionieren.
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1.3 Szene 3 Der Hamburger Religions- und Missionswissenschaftler Theodor Ahrens beschreibt ein Fest in Elimb, einem Dorf mit ca. 900 Einwohnern etwa 25 km außerhalb von Mount Hagen in Papua-Neuguinea. Anlass ist die Einweihung eines Pastorats. Nach einem Gottesdienst werden etwa 30 Schweine samt Süßkartoffeln und Gemüse zubereitet. 7 »Die Geber stehen auf der einen Seite der Linie, wo langsam Stück für Stück die aufgeschnittenen Schweine herangetragen werden. Die Empfänger stehen auf der anderen Seite. Alles vollzieht sich in großer Ruhe, fast schweigend, erwartungsvoll, doch ohne Anzeichen von Nervosität. Nachdem alles, was zur Verteilung ansteht, gebracht wurde, werden die zerlegten Schweine, Köpfe, Vorderläufe, Seitenteile, Hinterläufe zugeteilt […] Nach dem Zuteilen beginnt das Annehmen. Die Gruppen gehen jeweils auf ihr großes Paket zu. Unglaubliche Mengen von Schweinefleisch werden innerhalb der einzelnen Gruppen sofort zur weiteren Verteilung gebracht. Viele setzen sich. Sie essen in kleinen Gruppen. Andere verstauen das ihnen Zugeteilte in bilums und machen sich bald auf den Weg nach Hause. Am Ende ist die Entspannung der Gastgeber, besonders der Manager (des Festes, HMG), aber auch der Gäste deutlich spürbar. Es hat keine erkennbare Missstimmung gegeben […] ›Dies ist kein mokka, sondern belgut‹, es handelt sich nicht um einen Tausch, sondern um von Herzen kommende Gaben‹, unterstreichen beide Manager. Ihnen liegt an der Feststellung, dass es sich hier nicht um eine mokka-Veranstaltung handelt. Es wird keine Gegen-Gabe erwartet bzw. befürchtet.« 8 Die Gabe, die nicht auf Erwiderung und Reziprozität abstellt, ist unverzichtbar – sonst brennt sich die Gesellschaft fest wie ein Getriebe ohne Öl 9, auch heute. Sozialleistungen ohne erworbene Anrechte beispielsweise verhindern eine vollständige soziale Polarisierung und die totale Exklusion der Armen. »Im Geben kann ein Überschuss ins
Vgl. Theodor Ahrens, Ungeschuldetes Geben. Notizen aus einem Reisetagebuch. In: Ders., Gegebenheiten. Missionswissenschaftliche Studien, Frankfurt a. M. 2005, 292– 303, hier 297. 8 Ahrens, Ungeschuldetes Geben, 298. 9 Vgl. auch Theodor Ahrens, Gewaltunterbrechung durch religiöse Verbundenheit? Zum Gespräch mit Hans-Martin Gutmann. In: Ders. / Werner Kahl, GegenGewalt. Ökumenische Bewährungsfelder, Leipzig 2012, 84. 7
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Geben ist seliger denn Nehmen
Spiel kommen, ein Moment der Überraschung, des Unvorhersehbaren, Hinweis auf offene Möglichkeiten im sozialen Miteinander.« 10 Zugleich denke ich mit Bernhard Waldenfels in seinem Einwand gegen Jacques Derrida 11, dass es die reine »Gabe« nur gibt im Kontext von Gabentauschbeziehungen, die von Reziprozitätserwartungen bestimmt sind; zugleich aber auch, dass die Unterscheidung von reziproken und freiwilligen Gabentauschbeziehungen nicht modern, sondern bereits traditionell ist. Auch hier sehe ich eine Einschränkung für die Geltung von evolutionistischen Annahmen. Beide Formen gibt es auch heute, wir kennen alle diese Familien-Szenen: Die Einbindung in reziproke Verpflichtungsmuster (Handlungen, Einstellungen und wechselseitige Zuschreibungen) begünstigt zwar die Reproduktion eines gemeinsam geteilten Lebenszusammenhanges gegenüber individueller Interessendurchsetzung, kann aber zugleich massive Unfreiheit derjenigen einschließen, die aufgrund von Lebensalter oder auch einfach durch soziale Zuschreibung in inferiorer (und damit vorwiegend annehmender) Position stehen: »Kind, wir wollen doch nur dein Bestes!« Heute tritt – neben den Macht-Charakter des Gebens in lebensweltlichen Beziehungen – ein weiteres Ambivalenz-Merkmal: Die notwendige Stilisierung von Geschenken. Schenken will Freude machen, will überraschen, Verbundenheit stärken, Liebe zeigen. Die Kehrseite: in weihnachtlichen oder konfirmationsinduzierten Geschenkschlachten können Verpflichtungsgefühle dominieren (»Wer hat mir letztes Mal eigentlich … ?« »Muss ich was wieder gut machen«?). Hier partizipieren wir auch in den Lebenswelten spätbürgerlicher Gesellschaften an den Reziprozitätserwartungen der Ökonomie des Gabentausches. Dörfliche Konfirmationen können den Charakter eines Potlatch annehmen, wie Marcel Mauss ihn beschreibt: Wer nicht angemessen zurückgibt, hat ein »verfaultes Gesicht«. 12 Für heutige Geschenkrituale gilt: Geschenke müssen möglichst kunstvoll eingepackt sein; was nicht eingepackt ist und – mit Gesten freudiger Überraschung – ausgepackt werden kann, zählt per defini-
Ahrens, Gewaltunterbrechung, 83. Vgl. Frettlöh, Charme, 127 ff.; Veronika Hoffmann, Skizzen zu einer Theologie der Gabe. Rechtfertigung – Opfer – Eucharistie – Gottes- und Nächstenliebe, Freiburg u. a. 2013, 77 ff., 115 ff. 12 Vgl. Mauss, Gabe. 10 11
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tionem nicht als Geschenk. 13 Geschenke müssen genau kalkuliert sein, um tatsächlich Verbundenheit zu stärken – und nicht zu stören. Eine Flasche Sekt zu Weihnachten ist nicht recht passend für die Geliebte, eher für die »Haushaltsperle«, die (schwarz bezahlt?) die Wohnung reinigt. Ein Dessous kann bei der Geliebten Rührung und Liebesstürme auslösen und wäre bei der Haushaltsperle fehl am Platz. Geschenke zeigen den Grad an Intimität und Distanz in einer Beziehung. Entscheidend für ihre Akzeptanz ist nicht zuletzt der Zeitpunkt in einer Beziehungsgeschichte, vor allem einer Liebesbeziehung. In der Phase der Beziehungsanbahnung werden andere Geschenke erwartet als in der Phase, in der eine Beziehung schon gesichert ist. Wer zu früh beispielsweise Schmuck schenkt, kann alles vergeben (in der zumindest doppeldeutigen Bedeutung des Wortes).
2.
Hypothesen sortieren
Ich skizziere knapp Hypothesen zur Frage: Warum fordert in der Ökonomie des Gabentausches das Geben einer Gabe ihr Annehmen und Zurückgeben heraus? Der Gabe wohnt eine symbolische Macht inne (ein Geist, melanesisch: »hau«, der zum Annehmen und Wiedergeben verpflichtet.) Marcel Mauss hatte diese Information von einem melanesischen Gewährsmann. Mit Durkheim könnte man sagen: Hier spiegelt die religiöse Metapher – »hau« – die Gesellschaft selbst, nämlich auf symbolischer Ebene den reziproken Verpflichtungszusammenhang in der realen Kommunikation der Gesellschaftsmitglieder. Maurice Godelier hatte mit Blick auf den »hau« eine Fehlinterpretation des Informanten durch Mauss vermutet 14: Nein, kein »hau«. In der Gabe wie in der Gegengabe bleibt der jeweilige Akteur präsent. Die Akteure verpflichten einander durchs Geben, nicht die Gaben. Magdalene Frettlöh und auch Theodor Ahrens schlagen in diesem Kontext vor, Substantivierungen zu vermeiden. 15 Es ist angemessener, von »Geben« als von »Gabe« zu sprechen, also: Warum fordert Geben Annehmen und Wiedergeben heraus?
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Vgl. Berking, Schenken. Vgl. Godelier, Rätsel, 26 ff. Vgl. Frettlöh, Charme, 127 ff.; Ahrens, Gewaltunterbrechung, 83.
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Geben ist seliger denn Nehmen
In diesem Zusammenhang sehe ich einen »Link« zu mimetischer Reziprozität, wie sie von René Girard 16 für die Ausbreitung von Gewalt gezeigt wird. Entsprechend kann die Interaktion Geben – Annehmen – Wiedergeben als nicht-zerstörerische Variante des mimetisch begründeten Austauschs angesehen werden. Geschenke geben, Freundlichkeit erweisen, sich selbst im Engagement für Andere Hingeben fordert entsprechendes Verhalten heraus. Grund ist die Kraft der Mimese. Hirnforscher würden hier mit Spiegelneuronen argumentieren. Einfühlung, Emphase, Mitleiden zwischen dem/der einen und dem/der anderen: All dies hängt mit der Macht von mimetischen Prozessen zusammen, die Menschen mit ihrem Menschsein mitgegeben sind. Es gibt Anhaltspunkte, dass dies auch die Sicht des Jesus von Nazareth ist. Dazu gleich mehr. Im Interaktionszyklus Geben – Annehmen – Wiedergeben muss nicht nur die zweite Position (warum geben Menschen empfangene Gaben zurück?), sondern auch die erste Position (warum überhaupt werden Geben gegeben?) verstanden werden. 17 Die biblische Großerzählung löst diese Frage in der Hebräischen Bibel ebenso wie im Neuen Testament so, dass von Gott als dem Geber allen Lebens erzählt wird. Gott schenkt das Leben, sein Gesetz und seine Verheißung, in der Menschwerdung schenkt er sich selbst. Ein unüberbietbar großes Geschenk. Was heißt dies für die Menschen? Annehmen und Wiedergeben? Mimetisch entsprechen und weitergeben?
3.
Biblische Erzählweisen und theologische Deutungen
Ich gebe zum Abschluss einige Beispiele für die Weise, wie in biblischen Erzählungen und zentralen theologischen Rezeptionsfiguren der biblischen Großerzählung »Reziprozität« mitgeteilt wird. Worum handelt es sich hier? Um mimetische Resonanz? Um verpflichtende Reziprozität? Oder gerade um die Aufhebung der Tauschverpflichtung? Vgl. René Girard, Ich sah den Satan vom Himmel fallen wie einen Blitz. Eine kritische Apologie des Christentums [orig. 1999], München / Wien 2002. 17 So in Aufnahme der Argumentation von Marcel Hénaff: Hoffmann, Skizzen, 193 ff. 16
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3.1 In der Bergpredigt (hier nach dem Matthäusevangelium) stellt Jesus – in Aufnahme und Bekräftigung der Sprüche der alttestamentlichen Weisheit – die Geltung der Reziprozitätsregel fest: »Bittet, so wird euch gegeben; suchet, so werdet ihr finden, klopft an, so wird euch aufgetan. Denn wer da bittet, der empfängt; und wer da sucht, der findet; und wer da anklopft, dem wird aufgetan […] Alles nun, das ihr wollt, dass euch die Leute tun, das tut ihnen auch! Das ist das Gesetz und die Propheten.« (Matthäus 7, 7.8.12). Auf der anderen Seite bestreitet Jesus – im Raum der Beziehung des liebenden Gottes – den Automatismus der Geltung der Reziprozitätsregel und fordert faktisch eine vollständig neue Orientierung, die er wiederum in der elementaren Form eines Weisheitsspruches formuliert, im Bösen wie im Guten: »Ihr habt gehört, dass gesagt wurde: Auge um Auge und Zahn um Zahn! Ich aber sage euch: leistet dem Bösen keinen Widerstand! 18 […] Ihr habt gehört, dass gesagt ist: ›Du sollst deinen Nächsten lieben‹ und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen, damit ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel. Denn er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte.« (Matthäus 5, 38.39 a. 43–45). Jesus setzt die Reziprozitätsregel voraus und entmächtigt sie zugleich, indem er ihre mimetische, Nachahmung herausfordernde Kraft an die Liebe Gottes bindet, der seine Sonne über Bösen wie Guten aufgehen lässt: Wer sich in den Beziehungsraum dieser Liebe einbinden lässt, wird von der Nachahmung freisetzenden Wirksamkeit der Liebe Gottes verändert und von aller automatsch-rigiden Wirksamkeit alltagsmoralischer Regelhaftigkeiten frei. Er/sie kann und muss nicht mehr »obligatorisch« so zurückgeben, wie ihm/ihr im Guten wie im Schlechten in alltäglichen Interaktionen und Handlungen gegeben und zugefügt wird – weil die eigentliche, Leben spendende und verändernde Gabe die Gabe Gottes ist, die alles Klein-Klein
Tim Schramm hat einleuchtend gezeigt, dass in den auf diesen Spruch folgenden Beispielen für das geforderte Verhalten (die andere Backe hinhalten, nachdem auf die rechte geschlagen wurde; auch den Mantel geben, wenn um den Rock prozessiert wird) sich keineswegs Fatalismus oder widerstandslose Selbstpreisgabe zeigen, sondern Formen aktiven gewaltfreiem Widerstandes. Vgl. Tim Schramm, »Pay-back«Gesellschaft und der Verzicht auf Gewalt. In: Theodor Ahrens (Hg.), Zwischen Regionalität und Globalisierung, Frankfurt a. M. 1997, 409–422.
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von eingespielten Interaktions- und Handlungsmustern samt ihren Erklärungsmustern aufhebt. 3.2 Im christlichen Zentralsymbol, dem Kreuz, zeigt sich in verdichteter Weise eine verwandelnde, Gewalt in Verbundenheit transformierende Bewegung, die sich auch schon in zentralen Opfer-Texten der Hebräischen Bibel zeigen lässt. Bleiben wir bei den Passionserzählungen: Im Höhepunkt einer Gewaltkrise – das zum Pogrom angestachelte Kollektiv (»kreuzige ihn!«) will das Sterben des Opfers sehen, ein offensichtlich manipulierter Prozess (Markus 14,55 ff. parr.) strebt ebenfalls der Tötung dieses Angeklagten entgegen – gewinnt das Kreuz im entscheidenden Moment eine zweite Bedeutungsebene, die die erste (Hinrichtungsinstrument) überlagert und verdrängt: Vom Symbol des Fluches und des Endes aller Hoffnung hin zum Symbol des Da-Seins und Da-Bleibens Gottes in der Situation tiefsten Schreckens. Wenige Jahre nach diesem Ereignis kann Paulus schon schreiben: »Wir aber predigen den gekreuzigten Christus, den Juden ein Ärgernis und den Griechen eine Torheit; denen aber, die berufen sind, Juden und Griechen, predigen wir Christus als Gottes Kraft und Gottes Weisheit.« (1 Korinther 1,23 f.) Das Symbol des Kreuzes als christliches Zentralsymbol gibt die Bewegung vieler biblischer Erzählungen verdichtet wieder: Vom Hinrichtungsinstrument und Symbol zerstörerischer Gewalt zum Symbol von Versöhnung und zärtlicher Lebensfreundlichkeit Gottes. 3.3 In der Hebräischen Bibel ebenso wie im Neuen Testament geht es beim Opfer – in der Beziehung zwischen Gott und Gottesvolk genauso wie zwischen den Menschen – nicht um Gewalt, sondern um Gottes Gabe und das Zurückgeben bzw. Weitergeben durch Menschen. In den Erzählungen von Jesu Leben, seiner Kreuzigung und der von seinen Freund/innen erfahrenen Auferstehung wird der traditionelle Gewaltopfer-Mythos vom rettenden Tod des schuldigen Opfers anders erzählt, um-erzählt und verwandelt. Nicht die Tötung steht im Zentrum dieser Erzählung, sondern das Dabei-Sein und Dabei-Bleiben Gottes im tiefsten Schrecken, das die Hingabe des eigenen Lebens ebenso einschließt wie die Feier des Lebens und die Heilung von Menschen, deren Lebensmöglichkeit genommen wird. Jesu Präsenz, sein Dabei-Sein bei seinen Menschen und seine Lebenshingabe befreien nach den Opfer-Reflexionen in neutestamentlichen Texten Menschen von der Verpflichtung, dieses Geschenk Die Gabe
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»wieder gut zu machen«. In den theologischen Reflexionen des Hebräerbriefes 19 wird der Tod Jesu als endgültiges, einmaliges und ein für allemal gültiges Selbstopfer des göttlichen Hohepriesters vorgestellt (vgl. vor allem Hebr 9;10). Als zureichende Gegengabe erfüllt dieses Opfer die Gabentauschverpflichtung zwischen Gott und Gottesvolk vollständig und hebt sie damit zugleich auf. Die Verpflichtung zur Gegengabe, an der das Volk wegen der übergroßen ersten Gabe Gottes scheitern muss, ist ein für allemal erledigt. »Glauben« und »Dankbarkeit« treten an die Stelle der Verpflichtung zum Wieder-Geben. Dies schließt nicht nur liturgische, sondern auch politische Konsequenzen ein: Widerspruch gegen Strukturen des Opfern-Müssens, wo immer heute ihre zerstörerische Macht aufscheint – in lebensgeschichtlichen und kommunikativen Mustern, in ökonomischen Konstellationen, in politischen und zivilreligiösen Mythen. 3.4 Und schließlich eine reformationstheologische Erinnerung: In der reformatorischen Grundschrift »Traktat von der christlichen Freiheit« 20 beschreibt Luther das Wesen der christlichen Freiheit als Freiheit des »inneren Menschen« mit dem intimen Bild einer Hochzeit: Die Gnade des Glaubens besteht darin, dass er die Seele mit Christus verbindet wie die Braut mit dem Bräutigam. Christus und die Seele werden »zu einem Fleisch«. Dadurch, dass der Glaube als Mittler in die Beziehung eintritt, kommt es zu einem »fröhlichen Wechsel und Streit« 21, wie Luther formuliert: »So kommt es, dass Christus Sünde, Tod und Hölle gehören, der Seele aber Gnade, Leben und Heil. Denn er muss, wenn er Bräutigam ist, zugleich das, was die Braut hat, annehmen und der Braut Anteil geben an dem, was sein ist«. Gerechtigkeit für Sünde, alles für nichts – das ist, denke ich, eine unschlagbare Metapher für »Großzügigkeit«: für die Großzügigkeit Gottes. »Er wird ein Knecht und ich ein Herr«, »er gibt die klare Gottheit dran«, wie es im Weihnachtslied heißt. Dieses überschwängliche, unprovozierte Geben Gottes schafft menschliche Existenz neu. Eine dem reziprozitätsorientierten Austausch entzogene Gabe, die – wie Vgl. William Loader, Sohn und Hoherpriester. Eine traditionsgeschichtliche Untersuchung zur Christologie des Hebräerbriefes (WMANT 53), Neukirchen 1981. 20 WA 7, 49 ff. hier zit. nach: Horst Beintker (Hg.), Die reformatorischen Grundschriften in vier Bänden, Bd. 4, Darmstadt 1983, 18, 19, 26 ff., 33 f. 21 Vgl. dazu Mauss, Gabe, 27. – Vgl. zum folgenden auch: Hans-Martin Gutmann, Martin Luthers »Christliche Freiheit« in zentralen Lebenskonflikten heute. Intimität gestalten – Verantwortlich Leben – Freiheit realisieren, Berlin 2013. 19
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Marcel Mauss, Anette Weiner, Maurice Gorelier u. a. an den »sacra« verschiedener Kulturen zeigen – als »Identitätsmarker« evangelischer Religion jenseits jeder Reziprozitätslogik individuelle Identität ebenso wie Sozialität konstituiert. 22 Wenn im Glauben an Jesus Christus der gerechte Gott und der sündige Mensch zusammenkommen, tauschen sie Gaben in einer Weise aus, dass alles für nichts, Gerechtigkeit für Sünde getauscht wird und dass dieser völlig ungleiche Tausch von Gott als gut angesehen wird. Gabe und Gegengabe in diesem »fröhlichen Wechsel« beinhalten einen Positionswechsel und den Austausch von Zurechnungen (Gerechtigkeit gegen Sünde): Christus spricht den Sünder als Sünder frei. Die Seele erkennt im Glauben Jesus als den Christus. Der Mensch bleibt Sünder – wenngleich als neuer Mensch neu qualifiziert: Er ist aller Dinge mächtig, König und Hohepriester. Er ist simul iustus et peccator. Und Christus bleibt Christus. Der gerecht gesprochene Sünder wird in der Konsequenz zwanglos das Gesetz im Sinne der je existierenden normativen Regelsysteme akzeptieren: Er wird »den Leib regieren« und »mit den Leuten umgehen«. Meine Hypothese ist: In diesen Passagen der Freiheitsschrift Luthers findet sich in elementarer Form und metaphorischer Formulierung eine Perspektive, Individuierung und Sozialisierung des Menschen zusammenzudenken – in anderer Weise, als dies in der bürgerlich-kapitalistischen Freiheitsgeschichte gedacht und historisch wirksam geworden ist. Historisch hat sich die Möglichkeit lebensgeschichtlicher Individuation – gegenüber der zugleich Schutz und Unfreiheit bedeutenden feudalen Gabentauschökonomie – im Zusammenhang mit der Durchsetzung der Warentauschökonomie des Kapitalismus entwickelt, der im Schoße der alten Gesellschaft entsteht. Die Krisenhaftigkeit und die Kosten dieses Individuierungsmodells liegen heute wohl zu Tage: Soziale, ökologische und individuelle Verwerfungen sind unübersehbar. Weltweit explodiert Armut. Traditionaler soziale Sicherungen werden zerstört. Umweltzerstörungen drohen irreversibel zu werden. Demgegenüber lässt sich Luthers theologischer Gedanke einer »christlichen Freiheit«, der mit einem »fröhlichen«, nämlich nichtrigiden und totalitäre Reziprozitätsverpflichtung aufhebenden Tauschmodell spielt, als Methapher für ein alternatives Freiheitsmodell auslegen. Hier wird die Freiheit des Individuums so gedacht, dass sie 22
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sich mit bleibender Beziehung zu Gott, zu den Mitlebenden und zu sich selber vermitteln kann. Das Evangelium ist die Zusage und das Versprechen, weder erlittene Gewalt noch erfahrenes Gutes »heimzahlen« zu müssen. Unterbrechung von Reziprozität meint jetzt nicht: Selbstbezogene Durchsetzung individueller Interessen. Aber: Die meist unbewusst wirksame Verpflichtung, im Schlechten wie im Guten Empfangenes heimzahlen zu müssen, wird ersetzt durch lebendige Beziehung. Dieser Freispruch, den Gott in der Geschichte Jesu Christi seinen Menschen mitteilt, richtet in sich verkrümmte Gestalten auf. Wer sich darauf verlässt, wird im Zentrum seines Lebensgefühls verändert. Eine Haltung der Dankbarkeit und Beziehungsoffenheit wird sich auch in einer Verwandlung von Lebensführungskonzepten Raum schaffen – und langfristig dazu beitragen, die Atmosphäre einer Sozialität zu verändern. Selbstbezogenheit und reziproke Verpflichtung sind nicht weiter ausschließliche Alternativen für die Haltung des Individuums sich selbst und anderen gegenüber. Sondern es wird eine Lebenshaltung lebbar, in der Liebe und Freiheit zwanglos zusammengehen können.
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»Verteile und schenke und suche nicht, die Gaben zu verrechnen«: Grosszügig handeln im Islam* Daniela Falcioni
1.
Die sadaqa
Die sadaqa, eine spezifische Art des Gebens, ist ein Schlüssel, der uns Einblick in das lebendige Innere der islamischen Gesellschaften gewährt. In dieser Praxis spiegelt sich der traditionelle Islam. 1 Sie ist jedoch im Westen fast unbekannt. Wir werden versuchen, dieses unbekannte Territorium zu betreten mit der Erzählung der Reise eines Europäers, Wilhelm Postel, der vollkommen überrascht war durch die Erzählung eines anderen Reisenden, Seraphin de Gozza aus Ragusa, heute Dubrovnik. Diese Erzählung ließ ihn die Bräuche besser verstehen, wie die folgende Geschichte zeigen kann: »Wenn du die sadaqa oder Almosen gibst, gib vom Besten und Wertvollsten, das du hast: denn ein Stück vom Besten ist Gott wohlgefälliger als hundert unrechtmäßig erworbene Geldstücke, die man nach deinem Tod gibt. Eine Dattel, die du während deines Lebens mit frohem Herzen gibst, ist mehr wert als tausend nach deinem Tod. Diejenigen, die sadaqa praktizieren und jemanden in ihrem Haus empfangen, behandeln ihn als einen Ihresgleichen. Seraphin de Gozza aus Ragusa erzählte mir eine Geschichte, die sich unter Serben und Bosniern ereignete. Am Anfang hätte ich nicht geglaubt, dass so etwas möglich wäre. Da ist ein alleinstehendes, schönes Haus, vor dessen Tür ein Mann sitzt. Als Fremde kamen, erhebt er sich, geht auf die Fremden zu und begrüßt sie, indem er sagt: ›Sapha gheldinis!‹ (Seid herzlich willkommen) Dann fährt er fort: Gott liebt euch, kommt in mein Haus und empfangt den Segen Gottes, nämlich die Güter, die Gott mir gegeben hat, gehören auch euch. Es ist schon spät und es gibt kein anderes Haus in der Nähe, das euch * Reinhard Brandt und Friedrich Stenger danke ich für die Übersetzung. 1 Seyyed Hossein Nasr, Traditional Islam in the Modern World, London 1990. Die Gabe
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aufnehmen könnte. Hier haben wir wärmendes Feuer und prächtige Hühner, kommt im Namen Gottes! Dann konnten sie auf einer Matte schlafen, wie landesüblich jeder getrennt. Als sie am folgenden Morgen für die Gastfreundschaft bezahlen wollten, sagte man ihnen: ›Um Himmels Willen, Gott ist der Gastgeber. Er liebt euch. Er hat euch gut behandelt, Ihm alleine sei Dank‹.« 2 Schon im 16. Jahrhundert war es für einen europäischen Reisenden ungewöhnlich, Gastfreundschaft ohne Bedingungen kennenzulernen, in der überraschenderweise der Gastgeber Gott für den Gast dankt. In diesem besonderen Gestus der Gastfreundschaft wird die Dimension des Nicht-geschuldet-Seins besonders herausgestellt: Es handelt sich um ein Geben ohne Berechnung gegenüber bekannten und unbekannten Personen, Muslimen und Nichtmuslimen. Im Unterschied zu anderen Akten der Solidarität – ich denke hier an die zakat – zielt die sadaqa auf alle ohne Vorbedingungen, eine Öffnung, die gerade so die Spannungen und Kontraste ernst nimmt, die man schon in den Ursprüngen des Islam findet. Mag es nun ein Passus aus dem Koran sein (Q II 272) oder noch expliziter ein hadith, d. h. ein Passus aus der Überlieferung, die Texte weisen auf die Wichtigkeit dieser Ausweitung über die Grenzen der Gemeinschaft der Gläubigen hinaus: »Jemand fragte den Gesandten Gottes: Wer ist der beste Moslem? Er antwortete: Du wirst zu essen geben und Deinen Friedensgruß an den richten, den Du kennst, und an den, den Du nicht kennst« 3, eben so, wie es in der Erzählung von Postel geschehen ist. Darüber hinaus zeigt der französische Reisende, dass er die Schichtung der Bedeutungen, die in dieser Praxis der Gastfreundschaft präsent sind, begriffen hat. Unter den zahlreichen Reiseberichten, die die Spontaneität des Gebens bezeugen, die Fähigkeit, sich um unbekannte Reisende zu kümmern, habe ich die von Postel gewählt, weil sie besser als die anderen die verschiedenen Dimensionen der sadaqa erschließt. Die erste Dimension – erste in dem Sinn, dass sie am leichtesten zu beobachten ist – ist die horizontale: die ausgesuchte Gastfreundschaft, die Postel uns in Einzelheiten erzählt. Aber die Erzählung von Postel verweist dauernd auf eine andere Dimension, die Guillaume Postel, Des Histoires orientales et principalement des Turkes ou Tuchikes et Schitiques ou Tartaresques et aultres qui en sont descendues. Œuvre pour la tierce fois augmentée, Paris 1575, 160–162. 3 Mit diesem hadith stimmen die Sammlungen des Bukhari und die der Muslim überein. In: Al-Nawawi, Il Giardino dei devoti. Detti e fatti del Profeta, italienische Übersetzung von Angelo Scarabel, Trieste 1990, Nr. 557. 2
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vertikale. Hier überschneidet sich die horizontale Gabe mit der vertikalen Gabe, die sich Gott zuwendet, und unterwirft sich dieser. Tatsächlich zeichnet sich die sadaqa gegenüber den gewöhnlichen Geschenken durch eine besondere religiöse Sinngebung aus 4 und kann nur in dieser neuen spirituellen Ordnung vollkommen begriffen werden, die aus dem Islam stammt. »Gott hat die Welt geschaffen und dem Menschen gegeben, wie es häufiger im Koran gesagt wird.« Mit diesen Worten entfaltet Ibn Khaldun am Ende des XIV. Jahrhunderts den Sinn der antiken Erzählung, mit der der Islam begann. 5 Entsprechend der islamischen Offenbarung sind die Erde und alles, was auf ihr wohnt – einschließlich der Menschen –, das Werk Gottes, das dem Menschen geschenkt und anvertraut ist. Bewegt von Dankbarkeit (und / oder der Furcht) wird der Mensch aufgerufen, seine Schuld gegenüber Gott in der vertikalen Dimension durch das Gebet und in der horizontalen in der Vermittlung durch die Fürsorge um die Armen und Bedürftigen abzustatten. Der Mensch muss das, was nach seiner Ansicht gerecht ist, verrichten und seinerseits zurückschenken. Gott erhält das, was Ihm gebührt, durch die Vermittlung des Bedürftigen, indem so zugleich die göttliche und menschliche Gerechtigkeit verwirklicht wird. Gott das Ihm Gebührende zu geben, heißt Ihn als Ursprung aller Güter anzuerkennen und zugleich seine gegenwärtige Herrschaft. Das Prinzip der Gerechtigkeit findet seine Vollendung, wenn das Sein-für-Gott als Seinfür-andere verwirklicht wird. Hierfür wird die Geschichte der Gärtner und die Gabe der Erstfrüchte bedeutsam, eine Geschichte, die wir in der Sure Nr. LXVIII finden, die des Calamus, die als eine der ersten betrachtet wird, die Muhammad während der Mekka-Periode offenbart wurde. Gott stellt eine Gruppe von Personen auf die Probe, die ein Stück Land mit Obstbäumen besitzen. Sie vereinbaren, am nächsten Tag zur Ernte der Erstfrüchte zu gehen, wobei sie vergessen, ihren Vorsatz dem Willen Gottes anzuvertrauen. Während der Nacht entfesselt Gott ein Gewitter, das den gesamten Garten zerstört. Ohne informiert zu sein, begeben sich die Gärtner am frühen Morgen in ihre Besitzungen, damit sie und nicht die Armen die ersten bei der Ernte seien. Als sie bei ihrem Besitz ankommen, bemerken sie, was geschehen ist, und beThomas H. Weir, Art. Sadaka. In: EI(F)2 IX (1998), 732. Das Zitat findet man in: Giancarlo Pizzi, Ibn Haldun e la Muqaddima: una filosofia della storia, Milano 1995, 203.
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greifen, dass sie sich im Irrtum befinden. Einer von ihnen, der mit der stärksten Urteilskraft, sagt: »Hatte ich euch nicht gesagt: warum rühmt Ihr Gott nicht?« Indem sie einander tadeln, erkennen sie zu spät, dass sie ungerecht waren. Die Lehrfabel von den Erstfrüchten 6 spricht von einer Ordnung, die durch die schlechten Gärtner gebrochen und von Gott wieder hergestellt wurde. Sie hatten vergessen, dass Gott alles zu eigen ist, ein Eigentum, das der Mensch anerkennt, indem er Ihm einen Teil seines Besitzes darbietet, eine Gabe, die durch die Vermittlung des Bedürftigen angenommen wird. Indem der Mensch Gott einen Teil seiner Habe – die Erstfrüchte – schenkt, bietet der Mensch bildlich die ganze Ernte Gott an und rühmt Gott, indem er Ihm das erstattet, was Sein ist. Die Missachtung dieser spirituellen Ordnung – die Gärtner wollten unbedingt vor den Armen bei der Obsternte sein – verursacht die Zerstörung der Früchte, die zugleich die Bestrafung der Gärtner und die Rückerstattung der Güter ist, die dem Höchsten entzogen wurden. Die karitativen Handlungen, die auf die sadaqa zurückgeführt werden können, oder, allgemeiner, das gesamte Konzept des Gebens im Islam basiert auf islamischen Anleihen aus anderen Religionen, die der Islam aufnimmt und nach Maßgabe der Bedürfnisse der eigenen spirituellen Ordnung transformiert. Schon die linguistische Untersuchung des Begriffs sadaqa gibt uns hinreichende Anzeichen zur Verwandtschaft mit der hebräischen Kultur. Die Untersuchung des Ursprungs dieser Praktiken – die mit diesem Artikel nicht angestrebt werden kann – würde zu einer noch längeren Reise führen. Man kann durchaus die Hypothese aufstellen, dass die Geschichte der sadaqa zu vorislamischen Quellen führt. Die arabischen Schriften, die älter sind als die Hadsch – Muhammads Wanderung von Mekka nach Medina –, bezeugen, wie sehr Handlungen wie Großzügigkeit und Gastfreundschaft in dieser Tradition in hohem Ansehen standen. 7 Nach der Ankunft des Islam gibt es eine Wandlung besonders in Richtung der Ausweitung nach »unten« bei den Empfängern: Die Armen und Bedürftigen werden die ersten auf der Liste. Und weiter: Die Religion des Koran zieht im Gegensatz zur etwas schaustellerischen Form der
Auch wenn in der Parabel aus dem Koran nicht ausdrücklich auf die Erstfrüchte Bezug genommen wird, glauben wir, dass diese Interpretation nicht willkürlich ist. Vgl. Jonathan Benthall/ Jourdan Bellion-Jourdan, The Charitable Crescent. Politics of Aid in the Muslim World, London / NewYork 2009, 22. 7 Franz Rosenthal, Art. Hiba. In: EI(F)2 III (1975), 343. 6
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ostentativen Gabe die Regel der Diskretion vor. Diese Regel ist in den Fällen, in denen die gütige Gabe sich den Armen und Bedürftigen zuwendet, in der Absicht begründet, ihre Würde zu bewahren. Auch im Inneren eines Zusammenhanges, der so dicht mit Bedeutungen besetzt ist wie der Gegenstand unserer Untersuchung, bleibt die Geste in einer Beziehung von Angesicht zu Angesicht eine schwierige Geste. Diese Schwierigkeit erstreckt sich auch auf den Interpreten, der sich selten die Perspektive der Begünstigten anhören kann: Die Quellen liefern häufiger Informationen über die Gabenspender, während die Lebensumstände der Armen und Bedürftigen in diesen asymmetrischen Beziehungen im Schatten bleiben. Aus diesem Grund hat es nie an Stimmen gefehlt zugunsten der Diskretion, die in diesen Handlungen zu wahren ist. Besonders al-Ghazali unterstreicht die Wichtigkeit, die eigene Hilfe im Verborgenen anzubieten. 8
1.1 Die Praktiken der sadaqa Verlassen wir jetzt die Frage nach den Ursprüngen. Was sich im Gegensatz zu ihnen weit dokumentieren lässt, ist die vielfältige Verbreitung einer Handlungsform, die vom Islam übersetzt, neu erfunden und weitergereicht wurde, eine Handlungsform, die ihre Rechtfertigung in den Hauptquellen dieser Religion findet: dem Koran und der Sunna. Die karitativen Handlungen, die sich auf die sadaqa zurückführen lassen, sind zahlreich und lassen sich aufgliedern nach den Zeiten, Orten und den Kategorien von Personen. Seit den Ursprüngen des Islam ist die Intensität des Austausches von Gaben bezeugt, sie begleitet das Leben der islamischen Gesellschaften durch die Jahrhunderte. So wird die sadaqa in den islamischen Quellen auch als wichtig unterstrichen: »Verteile und schenke und suche nicht, die Gaben zu verrechnen«, so ein hadith. 9 Die sadaqa hat sich häufig auf die religiösen Festlichkeiten konzentriert. Die erste ist im wöchentlichen Rhythmus die des Freitags. Der Eingang der Moschee bevölkerte sich am Tag des gemeinsamen Gebets mit Armen, die auf ein Gebet hofften, das fähig war, sich in Vgl. Al-Ghazal, Imam Gazzali’s Ihya ulum-id-din, Lahore (Pakistan) 1955, 220. Diesen hadith findet man in den Sammlungen von Bukhari und Muslim. In: AlNawawi, Il Giardino dei devoti. Detti e fatti del Profeta, italienische Übersetzung von Angelo Scarabel, Triest 1990, Nr. 566 b.
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eine Liebeshilfe zu verwandeln. Am Freitag gab es Fleischmahlzeiten für die Ärmsten, Aktivitäten, die meistens von wohlhabenden Personen organisiert wurden oder von Gruppen von Bruderschaften. Neben dem Tag des wöchentlichen Festes ist der moslemische Kalender gekennzeichnet von den Monaten der Erinnerung: Der Monat des Ramadan kulminiert in der Nacht des 27. Tages, an dem man der Offenbarung des Korans gedenkt. In diese Periode fällt eine der am stärksten gefühlten Festlichkeiten der Muslime: das Fest, das die Fastenzeit beendet, ’id al-fitr, eine Zeit der Besuche und des Austausches von Geschenken. Während des Monats Ramadan überschneiden sich die spontanen sadaqati mit den obligatorischen Handlungen wie der zakat alfitr, in denen der Handelnde keine Freiheit hat zu entscheiden, was und wieviel er geben wird. Neben den Leuten, die nur eine Dattel geben können, wie die Erzählung von Postel suggeriert, gibt es andere, die zu den Wohlhabenden oder Herrschenden gehören und die sich in Bewegung setzen werden, um gedeckte Tische für die Nachbarn und alle eingeladenen Passanten zu bereiten, um das Mahl einzunehmen, mit dem man am Sonnenuntergang die Fastenzeit des Ramadan beendet. Die andere wichtige religiöse Feierlichkeit ist verbunden mit der Pilgerreise nach Mekka, die jeder Muslim begehen sollte. Dhu’l-Hijja, dem letzten Monat des moslemische Jahres, ist auch der Monat, in dem man die Pilgerschaft vollzieht: das große Fest, ’id al-qurban, fällt auf den zehnten Tag dieses Monats; überall wird es gefeiert, auch von den Muslimen, die nicht in Mekka sind. Man feiert die Erinnerung daran, dass Gott Abraham befahl, Ihm seinen Sohn zu opfern, und die Erinnerung an das ausgebliebene Opfer: Wer kann, feiert dies mit einem Fleischgericht, vorzugsweise einem Schafsbock. Auch das Opferfest ist seit je her eine Gelegenheit für großzügige Handlungen der Wohlhabenden und Herrschenden, Schichten, die sich gerne bei diesen Ereignissen in Bewegung setzen, um öffentlich ihren Großmut und die patronalen Beziehungen zu zeigen und auch zu konsolidieren. Im Inneren dieser komplexen Verteilung der Güter, in der das Geben ohne Zählen das Bindemittel zu sein scheint, gibt es auch eine Form des hierarchischen Geschenks, ein Thema, das wir im Abschnitt: »Der waqf als Instrument sozialer Macht« erwähnen werden.
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1.2 Marcel Mauss’ Anmerkung zu den Almosen Es handelt sich meistens um spontane Akte, die Zuwendung und Fürsorge besonders gegenüber Armen und Bedürftigen manifestieren. Diese besondere Aufmerksamkeit für die Armen und Bedürftigen ist auch von Marcel Mauss beachtet worden, der sich der Verbindung dieses Sorgetyps mit den Almosen widmet. In seinem Essai sur le don erscheint eine Anmerkung zu den Almosen, 10 ein Thema, das schwer zu behandeln, aber unmöglich zu umgehen ist. Mauss lokalisiert ihren Ursprung in der »Geschichte der Moralvorstellungen der Semiten« 11. Der französische Anthropologe vermutet, dass das Almosen im Inneren der Gesellschaft zu einem gewissen Zeitpunkt auftaucht, als die alte Moral der Gabe ein Prinzip der Gerechtigkeit wurde. 12 Die vorhergehende Phase war nach Mauss gekennzeichnet durch manchmal extreme Formen der Verteilung von Gütern, bei denen die Verschwendung bis zur Zerstörung führen konnte, wie beispielhaft im Fall des potlach. Wenn dieses Tauschsystem bei den Indianern im Nordwesten Amerikas vor allem der Rangmarkierung diente, um so die sozialen Hierarchien zu konsolidieren oder zu transformieren, so konnte es in seiner vertikalen Dimension die Bedeutung eines Opfers für die Geister und Götter annehmen. 13 Mauss bezieht sich in seiner Anmerkung gerade auf diese destruktiven Handlungsformen, in denen die »Entwicklung der Rechtsverhältnisse und Religionen« 14 nicht mehr verlangen, dass den Menschen und den Göttern geopfert wird, sondern dass das Opfer transformiert wird in eine Gabe an »Kinder und Arme« 15. Die Theorie des Almosens ist, so schreibt Mauss, »Produkt eines moralischen Begriffs der Gabe« 16. Jetzt müssen die einzelnen Segmente der Gaben-Transaktion (Geben, Nehmen, Erwidern) dem Maßstab der Gerechtigkeit unterworfen werden. Dadurch wird das Geben zu einer moralischen Idee.
Marcel Mauss, Essai sur le don. Forme et raison de l’échange dans les sociétés archaïques, Paris 1995, dt.: Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften, Frankfurt a. M. 1990, 46 f. 11 Mauss, Die Gabe, 47. 12 Vgl. ebd. 13 Vgl. Mauss, Die Gabe, 44. 14 Mauss, Die Gabe, 46. 15 Ebd. 16 Mauss, Die Gabe, 47. 10
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1.3 Den Armen schenken: Von der Wohltätigkeit zum Kredit In diesen Entwicklungen ist ein wichtiges Kapitel vom Christentum innerhalb der vom Judentum gezogenen Trennlinie geschrieben worden. Besonders die historische Forschung hat die Aufmerksamkeit auf jene »Revolution der gesellschaftlichen Szene [gerichtet], die in der Spätantike den Aufstieg und die Verfestigung der christlichen Kirche im römischen Reich begleitete«, wie uns Peter Brown erklärt. 17 Eine Revolution, die sich zwischen 300 und 600 n. Chr. vollzog und durch die die Sorge um die Armen langsam eine öffentliche Tugend wurde: »Es ist eine Revolution, die eng verbunden ist mit dem Aufstieg der Macht des christlichen Bischofs, der immer einflussreicher in der spätrömischen Gesellschaft wird. Tatsächlich glaubten die Zeitgenossen, dass der christliche Bischof seine Position in einem nicht unwesentlichen Maß seiner Rolle als Beschützers der Armen verdankte. Er war der ›Liebhaber der Armen‹ par exellence. ›Liebhaber der Armen‹ wurde zur öffentlichen Tugend, eine Tugend, die man auch von den christlichen Kaisern erwartete.« 18 Es war eine neue Art des Schenkens, die auch eine kulturelle Wandlung mit sich führte, eine neue Interpretation der Armut. Das Christentum spürte das Bedürfnis, den Kreis der zum Königsmahl Eingeladenen zu erweitern: Jetzt konnten auch die Armen, die Krüppel, die Blinden und die Lahmen teilnehmen. 19 Es bleibt die Frage, ob dieser »Eintritt« des Armen in die Geschichte nicht von einer neuen Gefahr begleitet ist. Ist die Erkenntnis seiner Armutslage nicht von dem Risiko begleitet, ihn in seinem Status zu fixieren? Ihm als einem Bedürftigen zu helfen, bedeutet das nicht, ihn in einer Kategorie einzukerkern? Damit wird nach der Bedeutung des Prinzips der Solidarität gefragt, die für die Armen reserviert ist, im Licht des modernen Prinzips, demjenigen Vertrauen zu schenken, der sich in Schwierigkeiten befindet. Ohne vorzugeben, dieser Frage in ihrer Komplexität gerecht zu werden, beschränken wir uns darauf, die enorme Aktualität eines Denkers wie Moses Maimonides zu betonen, der schon im 12. Jahrhundert das Problem erkannt und in der jüdischen Tradition eine Antwort gesucht hatte. Er Peter Brown, Poverty and Leadership in the Later Roman Empire, Hanover (US) 2002, 1. 18 Ebd. 19 Vgl. Jean Starobinski, Largesse, Paris 1994. 17
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bezog sich auf die Wichtigkeit, den Armen Kredit zu gewähren, wie sie in der jüdischen Tradition unterstrichen wurde; der Kommentar des Philosophen erstaunt durch seine Aktualität: »Die 197te Vorschrift ist das Gebot, dem Armen Kredite einzuräumen, um ihm einen Spielraum zu geben und ihm seine Lage zu erleichtern. Dieses Gebot ist größer und gewichtiger als das der Wohltätigkeit; denn ein armer Bettler, der seine Bedürftigkeit mit seiner Anfrage bei den Menschen kundtut, fühlt sich nicht so sehr in Unglück und Schmerz wie der, der sich noch nicht geoutet hat und Hilfe braucht, die ihn retten soll davor, dass seine Armut aufgedeckt wird.« 20 Auf das Bedürfnis des Armen mit einem Kredit zu antworten, ist »größer und gewichtiger«, als ihm ein Almosen zu geben, weil – so lautet unsere Interpretation – sich im ersten Fall eine Beziehung des Vertrauens etabliert, die in der Wohltätigkeit fehlen kann. Während in dieser letzteren das Risiko darin besteht, den Empfänger der Wohltat als passives Subjekt zu sehen, das zur Kategorie der Armen gehört, so bedeutet das Einräumen eines Kredits, ihn anzuregen sich selbst zu erheben, indem man auf seine aktive Fähigkeit der Zurückerstattung setzt. Schon für Maimonides besteht die höchste Form der Solidarität nicht darin, dass man ein Almosen gibt, sondern dass man dem Armen hilft, sich selbst zu reintegrieren und zur Selbstachtung zu finden. Während die Wohltat eine Handlung ist, mit der sich die Distanz wahren lässt, ist der Kredit fähig, sie zu verringern. So zeigen es die jetzigen Erfahrungen mit dem Mikrokredit auf breiter Basis, wodurch sich die Vorschrift des jüdischen Philosophen in Institute des Kredits verwandelt, die von unten in Gang gesetzt werden. Diese Prozesse manifestieren eine soziale Dimension des Vertrauens, das die Grundlage dieser Prozesse bildet und das sie zugleich nährt, indem es das gesellschaftliche Kapital bildet, das reinvestiert werden kann. Bekanntlich ist die Beziehung des Vertrauens ein Charakteristikum der Gabe. Diese soziale Dimension der Gabe, die die Ich-Du-Beziehung überschreitet, um das Wir einzubeziehen, ist dem Geist der sadaqa nicht fremd. Die Erzählung von Postel hat die Wichtigkeit des Gastgeschenks dokumentiert, aber die freien Stiftungen weiten sich auch Moses Maimonides, The Commandments, englische Übersetzung von Charles Chavel, London / New York 1967, 211.
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auf Gemeingüter aus wie z. B. Moscheen, Schulen, Hospitäler in einer progessiven Dynamik der Erweiterung der Wohltätigkeit, wie die Erbstiftung von Tariq bezeugt. Sohn einer pakistanischen Mutter, 2005 wurde er Opfer eines Verkehrsunfalls während seines ersten Semesters des Studiums in Pennsylvanien. Nach seinem Tod entschieden die Eltern, sein Erbe dem College von Tariq zu vermachen. In der Begründung, die die Stiftung begleitet, bittet die Familie Fischer darum, dass das Erbe dafür verwendet wird, die Islamstudien dieser Universität zu unterstützen in der Hoffnung, damit zur Freundschaft unter den Völkern beitragen zu können. Es ist hinzugefügt – mit einer Präzisierung, die für unser Thema bedeutsam ist – dass es im Islam eine Tradition gibt, Bildungseinrichtungen zu unterstützen, die Projekte vorsehen, die auch nach dem Tod des Stifters wirksam sind; es handelt sich um die al- sadaqa al jariya. 21 Dank der Geschichte von Tariq wissen wir, dass es neben den Formen der sadaqa, die sich auf den Empfang beziehen, und anderen, die sich auf muslimische Feste konzentrieren, auch Geschenkformen gibt, die sich auf die fundamentalen Etappen der Existenz wie Geburt und Tod beziehen. In beiden Fällen garantieren sie bei einer hinzukommenden Großzügigkeit eine gewisse Regelmäßigkeit, die jedoch der Initiative des Einzelnen anvertraut bleibt, und so auch seinen Besonderheiten und Grenzen. Die Ethik der Fürsorge, die auf dem Konzept der sadaqa beruht, reicht bis zu den Ursprüngen des Islam zurück. Sie braucht aber die Gewissheit der Solidarität, indem sie obligatorisch wird. Diesem Ziel dient die zakat. Aber das ist ein anderes Kapitel, mit dem wir uns im Rahmen unseres Artikels nicht befassen können.
2.
Waqf: Eine wohltätige Stiftung
Wie wir gesehen haben, gibt es viele Formen des Gebens, die auf der sadaqa beruhen. Sie alle verbindet eine gewisse Spontanität: Es sind meist informelle Gesten des täglichen Lebens und der religiösen Feste der Muslime. Es sind Gesten, die ihrer Natur nach der geschichtlichen Dokumentation entgehen. Eine ganz andere Sicht bezieht sich dagegen auf Akte der Großzügigkeit, die das Ziel haben, die BedingunDie Geschichte wird erzählt in: Amy Singer, Charity in Islamic Societies, Cambridge 2008, 1 f.
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gen der muslimischen Gemeinschaft zu verbessern. Das führte zu der Gründung von Moscheen, Krankenhäuser, Schulen sowie Wasserleitungen, Straßen und Brücken: Diese karitativen Einrichtungen heißen auf Arabisch waqf (pl. awqaf). Sie sind aber auch unter der Bezeichnung habs oder hubus bekannt. Ihre Bedeutung und vielfältige Auslegung in der islamischen Welt seit dem Beginn des Islam 22 haben im Laufe der Zeit eine ausführliche Dokumentation produziert, die zu Grundlagen der Forschung wurden. Obwohl weniger sichtbar als waqf, sind die informellen Akte des Schenkens wahrscheinlich zahlreicher und vor allem entscheidender für die zwischenmenschlichen Beziehungen sowie für das Gemeinwohl der Gesellschaft. Ein waqf (fromme Stiftung) ist vor allem ein gemeinnütziges Werk, das auf die Absichten des Gründers ausgerichtet ist. Mit der Zeit haben sich solche Handlungen zu einer etablierten Praxis entwickelt: Ursprünglich ein wohltätiger Akt, wurde der waqf eine gesetzliche Handlung, vor allem in Gegenden, die vom Osmanischen Reich beeinflusst waren. In anderen Ländern, wie in Oman, beruhte die Schaffung eines waqf bis vor einigen Jahren meist nur auf mündlicher Basis und wurde durch mündliche Tradition weitergegeben. Wir begegnen einem sozialen Gewebe, das auf dem Vertrauen beruht, wie immer wieder von Informanten wie dem Anthropologen Jonathan Benthall 23 betont wird. Einen waqf zu erstellen bedeutet, ein Gut zu immobilisieren und Gewinne zu verteilen, die für einen wohltätigen Zweck bestimmt sind. Durch eine Stiftungsurkunde schenkt der Gründer Gott seine gesamte Habe, eine Umwidmung, die durch die Vermittlung des Empfängers geschieht. Der Verwendungszweck für diese Güter muss mit dem Willen Gottes übereinstimmen: von der Errichtung einer Moschee, eines Sufi-Zentrums oder von Gräbern über den Bau einer Infrastruktur wie Straßen, Wassersysteme, Brücken bis zur Schaffung von Bildungseinrichtungen wie Schulen und Kulturzentren sowie Krankenhäusern und Hilfsorganisationen, die für die Bestattung der Ärmsten sorgen. Neben diesen Werken zum Wohle der Gemeinschaft existiert, wie wir sehen werden, noch eine andere Gruppe von Die karitativen Stiftungen traten ungefähr im 9. Jahrhundert in Erscheinung; schon im darauffolgenden Jahrhundert erfüllten sie eine wichtige Rolle in der islamischen Gesellschaft. Vgl. Marshall G. S. Hodgson, The Venture of Islam. Conscience and History in a World Civilization, Chicago 1974, 124. 23 Jonathan Benthall, Organized Charity in the Arab-Islamic World. A View from the NGOs. In: Hastings Donan (Hg.), Interpreting Islam, London 2001, 152–153. 22
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Empfängern: Es waren entweder Familienangehörige des Stifters oder Notleidende, Reisende, Sklaven. Auch kleinere Geschenke wie Teppiche für die Moschee, Schulbücher, Schwerter und Pferde für den Heiligen Krieg wurden im Rahmen eines waqf gemacht. Da sie für immer Gott geweiht waren, konnten sie »weder verkauft noch verschenkt oder vererbt« werden. Nach der Überlieferung stammen diese Vorschriften direkt von Mohammed aus einer berühmten Hadith, in der ’Umar, der zweite Kalif, mit dem Propheten über die Bestimmung des Eigentums diskutiert: ’Umar sagte: »O Gesandter Allahs! Ich habe einige Güter, die ich sehr schätze, und ich möchte sie verschenken«. Der Prophet sagte: »Gib sie zusammen mit den Grundstücken und Bäumen für einen wohltätigen Zweck, aber unter der Bedingung, dass die Grundstücke und Bäume weder verkauft noch verschenkt oder vererbt werden. Der Gewinn darf nur für wohltätige Zwecke verwendet werden.« So gab Umar seinen Besitz für wohltätige Zwecke. Dank Allah profitierten davon die Armen, Gäste, Reisenden und Verwandten. Die Person, die die Güter verwaltete, konnte davon recht gut leben und konnte davon sogar noch einen Freund ernähren, unter der Voraussetzung, dass er sich nicht bereicherte 24. Da diese Episode der Großzügigkeit schon am Anfang des Islam steht, besitzt sie einen besonderen exemplarischen Wert. Sie ist in der Tat ein Vorbild für Generationen von Muslimen. Die arabische Literatur, wird nicht müde, die Geschichte von den außergewöhnlich großzügigen Menschen zu erzählen. Sie hat nie aufgehört, die Geizhälse und ihre Angst ihren Reichtum zu verlieren, zur Zielscheibe zu machen 25. Kehren wir zurück zur Institution des waqf und zu seinen Vorschriften. Sobald das Eigentum als waqf deklariert wird, kann der Besitzer bestimmte Klauseln erlassen, was zum Beispiel die Behandlung seiner Kinder nach seinem Tod betrifft. Mahmud Yazbak hat in seiner Forschung von karitativen Stiftungen in Nablus (Palästina) in der zweiten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts festgestellt, dass Akte Diesen hadith findet man in allen wichtigen Sammlungen. Siehe Al-Bukhari, A collection of the ahadithin Sahih Bukhari, University of Southern California, Vol. 4, Buch 51, Nr. 26. (https://www.usc.edu/org/cmje/religious-texts/hadith/bukhari/051sbt.php). Der Koran ist jedoch, anders als bei der sadaqa, nicht die Quelle des waqf, der jedoch in vielen hadith erwähnt wird. Die Sammlung der hadith bildet die sunna, die, nach dem Koran, eine wichtige Quelle des islamischen Rechts ist. 25 Gahiz, Gli avari, Genua 1997, 226. 24
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der Stiftung niemals die Rechte der männlichen Kinder beschränkten, wenn sie die Nachkommen der Begünstigten waren. Jedoch in 20 % der Fälle erhielten die Töchter die Erlöse aus dem waqf nur, solange sie nicht verheiratet waren. Sie konnten wieder aus dem Erlös profitieren, wenn sie geschieden oder verwitwet waren 26. In der Tat ist die Fähigkeit, die Gesetze der Scharia mit denen des Erbrechts in Einklang zu bringen, einer der Gründe für den Erfolg dieser Einrichtung in der islamischen Welt 27. Es sind Gesetze, die die Angehörigen, auch die weiblichen Geschlechts, legitimieren, einen bestimmten Anteil des Erbes zu erhalten. Das hatte zur Folge, dass die Hinterlassenschaft aufgeteilt wurde. Durch die Institution des waqf kann der Gründer den Zusammenhalt seines Vermögens nach seinem Tod erreichen, und zwar abweichend von den Vorschriften des Korans. Die Bedeutung des größtmöglichen Zusammenhalts des Eigentums wird auch durch den Druck dokumentiert, in diesen Gesellschaften möglichst innerhalb der Familie zu heiraten. In diesen Fällen hat der Gründer selbst noch nach seinem Tod die Möglichkeit zu kontrollieren, wie der Erbe die Güter des waqf zu verwenden hat. Dadurch konnte auch eine gewisse Heiratspolitik oder religiöse Richtung beeinflusst werden. In diesem Zusammenhang ist die Religionspolitik des Osmanischen Reiches von Bedeutung. Nach der Eroberung von Kairo und der Ausdehnung der Herrschaft nach Nordafrika (1516/1517) begannen die Osmanen, offen das sunnitische Bekenntnis anstatt der Dynastie der Safaviden und des in Persien aufgezwungenen Schiismus zu unterstützen. Um die sunnitische Glaubensrichtung zu bekennen und zu fördern, entschieden die Osmanen, viele Erträge aus dem waqf im ganzen Reich für den Aufbau bedeutender religiöser sunnitischer Zentren wie Mekka, Medina, Jerusalem, Damaskus und Kairo zu verwenden 28. In verschiedener Hinsicht stellen diese Strategien eine Abweichung vom wohltätigen Ursprung des waqf dar, die von vielen kritisiert wurde. Unter den aktivsten Kritikern waren die Vertreter der Kolonialregierungen des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts, die in diesen Gründungen ein Hindernis für die Modernisierung sahen.
Mahmoud Yazbak, »The Waqf as a Tool for Enrichment / Impoverishment: Nablus 1650–1700«. In: Jean-Paul Pascual (Hg.), Pauvreté et richesse dans le monde musulman méditerranéen, Paris 2003, 77. 27 Joseph Schacht, Introduzione al diritto musulmano, Turin 1995, 23. 28 Yazbak, The Waqf as a Tool for Enrichment / Impoverishment, 80. 26
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Seit den ersten Jahrhunderten der arabischen Expansion waren die beteiligten Akteure die politische und wirtschaftliche Elite, die durch den waqf öffentliche Arbeiten finanzierten: Es handelte sich hier um den gemeinnützige waqf (khayri) im Unterschied zum Familien-wafq (ahli oder dhurri), den wir später diskutieren. Sie wurden meist von religiösen und sozialen Motiven angetrieben, Kräften, die ihren ursprünglichen Elan verloren haben könnten und manchmal sogar unterdrückt wurden, wie wir im nächsten Abschnitt sehen. Als einen der Gründe für den Ursprung des waqf müssen wir das Bemühen der herrschenden Dynastien erwähnen, ihr soziales Prestige zu stärken und für die Nachwelt zu verewigen. Eine umfangreiche Dokumentation der Stiftungen stammt aus der Zeit der Mamelucken und des Osmanischen Reichs. Ein typisches Beispiel des waqf ist die öffentliche Tafel, die Haseki Hürrem, die Frau von Sultan dem Prächtigen, 1552 in Jerusalem für »die Armen und Frommen, die Schwachen und Bedürftigen« 29 errichten ließ. Sie war in der Lage, täglich hunderte von Mahlzeiten zu verteilen. Dieses Werk wurde vom Erlös aus über dreißig landwirtschaftlichen Betrieben, vor allem in Palästina, ermöglicht. Es handelte sich um zahlreiche Geschäfte sowie um Thermalbäder, die eigens dazu bestimmt waren, die Institution des waqf zu subventionieren. Die Verwaltung der gemeinnützigen Stiftungen war ein ständiges Anliegen von vielen Gründern, wie man aus den vielen Gründungsdokumenten ersehen kann, in denen der Administrator erwähnt wird, der für die Verwaltung eines Unternehmens, wie der öffentlichen Tafel von Jerusalem, verantwortlich war. Da er von der herrschenden Dynastie gegründet worden war, wurde der Verwalter des waqf zu einem Beamten der Lokalregierung, die der Kontrolle der Zentralregierung in Istanbul unterstellt war. Neben diesen bürgerlichen Aufgaben, die über Jahrhunderte dazu beigetragen haben, das Sozialsystem vor den modernen Nationalstaaten aufzubauen und zu stärken, bietet das islamische Recht auch die Grundlage zur Unterstützung privater Zwecke: Es handelt sich, wie schon erwähnt, um einen Familien-waqf. So war es im Fall von Bannita bint Barakat, einer marokkanischen Frau, die 1458 in Jerusalem lebte und die ihr Haus in einen waqf umwandelte. Im Gründungsdokument wurden die Erben aufgeführt: ihr Sohn, die Söhne ihres Sohnes, und so weiter. Für den Fall, dass es keine weiteren
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Aus dem Gründungsdokument, zitiert bei Singer, Charity in Islamic Societies, 95.
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Nachkommen mehr gäbe, würden die Armen der jüdischen Gemeinde von Jerusalem die neuen Begünstigten werden 30. Im Falle einer jüdischen Frau erlaubte das islamische Recht, als letzte Gruppe von Begünstigten Juden zu benennen, solange sie arm waren. Obwohl sie das Recht hatten, einen waqf zu gründen, war es den jüdischen und christlichen Minderheiten nicht gestattet, Synagogen, Kirchen und Klöster als Empfänger anzugeben. Aber wie wir im Fall von Bannita gesehen haben, konnte die Gruppe der Armen als eine Art Passepartout gebraucht werden: Zwar konnte eine Kirchengemeinde nicht von dem Erlös der waqf profitieren, aber den Armen der Kirche war es gestattet. Der Rückgriff auf diesen Trick, wie auch seine weitreichende Bedeutung, ist nun von der Forschung dokumentiert: Die Institution der wafq ist ein wichtiges Instrument der Verquickung im Innern dieser Gesellschaft. Amy Singer schreibt: »Diese Beispiele zeigen, wie flexibel der waqf als Institution im Hinblick auf seine Ziele war. Die Einrichtung erstreckte sich auf die gesamte Bevölkerung eines Staates, und sogar über seine politischen Grenzen hinaus« 31. Langsam wird nun die Bedeutung des waqf für die Großzügigkeit im Innern der islamischen Gesellschaft sichtbar: Wenn Beziehungen, die sich auf die sadaqa beziehen, eine soziale Bindung erzeugen, kann diese Bindung durch den waqf eine Großzügigkeit in Stein verwandeln: den hellen Stein des Imaret in Jerusalem, der unter anderem die schon erwähnte Armentafel beherbergte. Von dieser alle umfassenden Funktion des waqf scheinen allerdings die Ehefrauen der Gründer ausgeschlossen zu sein: Alle Aktivitäten der Stiftung, die im Archiv von Nablus erwähnt werden, schließen, mit einer Ausnahme, die Ehefrauen aus dem Erlös des waqf aus 32. Dieser Ausschluss scheint die ungleiche Behandlung der weiblichen Nachkommen zu erklären. Handelt es sich um eine Benachteiligung der Ehefrauen? Zeigen diese Praktiken eine mangelnde Sensibilität der Ehemänner? Dokumente bezüglich der Schenkungsakte (hiba) im Archiv von Nablus können einige Klarstellungen erbringen. Unter Hiba versteht man eine juristische Handlung, durch die der Spender aus Großzügigkeit dem Beschenkten ein Eigentum ver-
Singer, Charity in Islamic Societies, 99. Ebd. 32 Ich stütze mich hier auf die Forschungen von Yazbak, The Waqf as a Tool for Enrichment / Impoverishment, 74 ff. 30 31
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macht, ohne eine Gegenleistung des Letzteren zu verlangen 33. Das können zum Beispiel Anteile am Elternhaus sein, die der Ehemann seiner Gattin vermacht, um sie im Falle seines Todes von der Habgier der Verwandten zu schützen. In 36 % der untersuchten Fälle von Yatzbak sind die Gründer der waqf, die die Ehefrauen von der waqf ausgeschlossen haben, dieselben, die eine ähnliche Spende an ihre Ehefrauen gemacht haben. Eine genauere Analyse deutet darauf hin, dass die Einrichtung der Hiba intervenierte, um den Ausschluss der Frauen vom waqf zu kompensieren. Es ist auf jeden Fall eine Tatsache, dass die Scharia bezüglich des Erbrechts empfiehlt, »dem Mann den Anteil von zwei Frauen zu überlassen« 34. Trotz dieser Entschädigungsregeln bleibt die Kluft zwischen den Geschlechtern. Sie scheint in der Familienstruktur verwurzelt zu sein, nach der der Ehemann die Rolle des Beschützers und die Ehefrau die Rolle der Beschützten innehat. In der Tat war eine Frau ihr ganzes Leben lang der Verantwortung und Kontrolle des Vaters, Bruders oder Ehemanns anvertraut. Es waren alles männliche Familienmitglieder, die auch für ihre materiellen Bedürfnisse sorgen mussten. Aus der Perspektive dieses patriarchalischen Systems ist es einfacher, die Gründe zu verstehen, die zum Ausschluss der Frauen vom waqf, und darüber hinaus, geführt haben.
2.1 Der waqf als Instrument sozialer Macht Der waqf war jedoch nicht nur ein außergewöhnlicher Antrieb für wohltätige Werke. Die Hauptakteure dieser Stiftungen waren die politischen und wirtschaftlichen Eliten, von denen auch die meisten Gründer und Administratoren des waqf kamen. Im Fall der großen öffentlichen Tafel von Jerusalem war die Gründerin, wie schon erwähnt, ein Mitglied der regierenden Dynastie. Der enorme Bedarf an Lebensmitteln für den täglichen Betrieb der Kantine wurde durch die Arbeit von etwa dreißig palästinensischen Dörfern gestillt. Während diese Einrichtung die Armen und Bedürftigen der wichtigsten Stadt Palästinas unterstützte, garantierte sie die Existenz der Ad-
L. M. A. Linant de Bellefonds, Art. Hiba. In: EI(F)2 III (1975), 361–362. Im islamischen Recht ist eine Schenkung ein Vertrag, der, je nach den verschiedenen Rechtsschulen, unterschiedlich gewertet wird. 34 Es handelt sich hier um einen Vers aus dem Koran (IV 11), einer Quelle für das Nachfolgerecht. 33
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ministratoren und ungebildeten Arbeiter. Was geschah mit den Bauern der durch den waqf entfremdeten Dörfer, aus denen die landwirtschaftlichen Produkte kamen? Was geschah mit den Bauern und ihren verarmten Ländereien? Viele dieser Stiftungen wurden für die Stadt errichtet, während die Bauern der umliegenden Gebiete als reine Arbeitskräfte für die Stadtzentren fungierten. Um die Bewohner der Stadt zu unterstützen, wurden die auf dem Land ausgebeutet, was zu einer unausgeglichenen Verteilung der Ressourcen zugunsten der Städter führte 35. Die Untersuchungen, die Yazbak in Nablus unternahm, bestätigen nur die Ergebnisse anderer Forschungen bezüglich der Wirtschafts- und Sozialgeschichte des Osmanischen Reiches. Diese Forschungen bestätigen die Entstehung »einer ganz und gar unegalitären Gesellschaft« 36. Aber das ist noch nicht alles: Seit Jahrhunderten benutzten die herrschenden Dynastien die Institution des waqf, um religiöse Gruppen und einflussreiche Persönlichkeiten zusammenzubringen. Innerhalb einer Strategie der Konsolidierung der Errungenschaften der arabischen Länder enteignete Sultan Selim I. Ländereien des Familien-waqf und vermachte sie den Ulama und örtlichen Honoratioren. Als Gegenleistung mussten sie Unterstützung und Zusammenarbeit zusichern. Da die Politik dieses Sultans zu verschwenderisch war, bevorzugten die Nachfolger die Schaffung eines karitativen waqf von breiterem Interesse, der das Recht hatte seine eigenen Administratoren zu ernennen. Auf diese Weise wurde die Entfremdung staatlicher Mittel verhindert. Gleichzeitig konnten die Staatskassen durch die Grundsteuer angefüllt und die Armee neu finanziert werden. Die Karten wurden neu gemischt, wodurch neue Personen profitierten. Durch diesen sich wiederholende Ablauf 37 von Zentralisierung und Dezentralisierung und seine kontinuierliche Bewegung von Systole und Diastole schufen die regierenden Dynastien unter ihren Anhängern neue herrschende Klassen. Durch die Bewilligung von Benefizien verlangte jede neue Dynastie die Zusammenarbeit mit der Zentralregierung, was wichtig war, um die Kontrolle über die Provinzen
Yazbak, The Waqf as a Tool for Enrichment / Impoverishment, 93–94 Gilles Veinstein, »Pauvres et riches sous le regard du sultan ottoman«. In: JeanPaul Pascual (Hg.), Pauvreté et richesse dans le monde musulman méditerranéen, Paris 2003, 199–216, 199. 37 Vgl. Daniela Pioppi, Declino e rinascita di un’istituzione islamica: il waqf nell’Egitto contemporaneo, Rom 2006, 26–28. 35 36
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aufrecht zu erhalten. Dazu gab es noch lokale Eliten, die die Fäden in der Hand hatten. Der Reichtum der mächtigen Familien der Ulama, die die Kontrolle der awqaf (Plural von waqf) hatten, vermehrte sich, während für den Rest der Gesellschaft nur Krümel übrig blieben. Wir begegnen hier einem Austausch von Leistungen, der ein Netzwerk von hierarchischen Beziehungen schaffte, Beziehungen, die, anstatt die Individuen zu stärken und die Gesellschaft zu fördern, Abhängigkeit und Ungleichheit produzierten. Somit ist die Geschichte des waqfs auch eine Geschichte der Ausbeutung und des Missbrauchs, weit entfernt von dem, was er ursprünglich sein wollte. Trotz dieser Kritik hat das System Jahrhunderte lang funktioniert, betont Yazbak: »Das System hat funktioniert trotz Misswirtschaft und menschlicher Gier. Das wird ersichtlich an der Anzahl der Moscheen, Koranschulen, Wasserkanälen, sabīls (Wasserbrunnen) und anderen Gemeinschaftsgütern. Das alles wurde durch die Institution des waqf ermöglicht« 38.
3.
Abschließende Bemerkungen
Die Erfahrung der Gastfreundschaft, von der Postel erzählt, hat uns in die reiche Welt der Gabe im Islam mit seiner spezifischen Form des absichtslosen Gebens eingeführt. Die sadaqa befähigt vor allem zu einer bedingungslosen Großzügigkeit. Sie ist eine Form des Gebens, in deren Mittelpunkt die Solidarität für alle steht. Sie ist das Fundament, das die islamische Gesellschaft zusammenhält. Hinsichtlich dieser alltäglichen Form der Großzügigkeit haben die großen waqfStiftungen eine ganz andere Anerkennung gehabt. Wie wir gesehen haben, schufen und finanzierten sie seit Jahrhunderten ein System der Gesundheits- und Sozialdienstleistungen. Sie waren verantwortlich für die eigentliche Infrastruktur dieser Gesellschaft. Der waqf spielte auch eine Rolle bei der Einkommensverteilung. In diesem Punkt hat die aktuelle Forschung es nicht versäumt, auch die Widersprüche dieses Systems zu verschiedenen Zeiten und Orten aufzuzeigen, nämlich die Bereicherung einer Minderheit und die Verarmung des Rests der Gesellschaft. Trotz dieser Kritik bleibt der waqf die wichtigste Antriebskraft des Sozialsystems vor der Bildung moderner
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Nationalstaaten. Die umfangreiche Dokumentation und die vielen Zeugnisse, die sich im Laufe der Jahrhunderte angesammelt haben, machen die Institution des waqf zu einer der wichtigsten Manifestationen der Großzügigkeit der islamischen Gesellschaft.
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1.
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Die Erfahrung von Mangel ist omnipräsent. Sie gehört zur Endlichkeit der Welt. Alle Religionen knüpfen daher an diese Erfahrung an und entwickeln gerade von daher eine Hoffnung auf Erlösung, Befreiung oder Erfüllung. Wir hungern und dürsten nach dem, was wir nicht haben und erfahren in einer Welt, in der stets wieder zerrinnt oder zerstört wird, was Menschen mühsam aufgebaut haben – sowohl in materieller als auch in allen anderen Hinsichten (personal, zwischenmenschlich, kulturell). Der Begriff der Fülle stellt sich so vor allem als Zielbegriff einer Sehnsuchtsbewegung dar. Daher reagiert der neuzeitliche Mensch zu Recht skeptisch auf solche eschatologische Fülleszenarien, die auf die Faktizität des Mangels mit der Aussicht auf eine Fülle im Jenseits antworten und sich vorerst mit dem Mangel im Diesseits zufrieden geben, auch wenn ihm durch den Einsatz für gerechtere Lebensverhältnisse zu begegnen wäre. Die spirituellen Traditionen der Religionen sprechen andererseits immer auch schon von der konträren Erfahrung im Hier und Jetzt und machen diese für ein gelingenderes Leben geltend – ebenfalls zu Recht. Sie verstehen Fülle weniger als ungewisses Ziel, sondern vielmehr als die Quelle, aus der unser endliches Leben ständig schon schöpft und die daher diesem endlich-mangelhaften Leben selbst innewohnt und in ihm zu entdecken ist. Ohne diese Erfahrung wäre zu leben gar nicht möglich; und wir haben viele Beispiele, wo Menschen von dieser Erfahrung noch in der äußersten Not Zeugnis ablegen und eine – möglicherweise ganz kontrafaktische – Energie gewinnen. Diese Überlegung möchte ich im Folgenden aufnehmen, indem ich an drei an sich sehr verschiedene Denkbewegungen anknüpfe, die aber – in unterschiedlicher Komplexität – in eine ähnliche Richtung weisen und, zusammengenommen und miteinander ins Gespräch ge198
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Zwischen Mangel und Fülle
bracht, die Erfahrung und Erfahrungsmöglichkeit von Erfüllung auszuloten helfen (und zwar nicht im Gegensatz zur Allpräsenz des Mangels, sondern in und gleichzeitig mit ihm), auch im Hinblick auf die christliche Rede von endgültiger (eschatologischer) Fülle.
1.1 Gratefulness (David Steindl-Rast) Der prominente Benediktinermönch und spirituelle Lehrer David Steindl-Rast hat gratefulness zu seinem Lebens- und Arbeitsthema gemacht. Unter diesem Stichwort hat er eine Organisation gegründet, die empfänglich machen möchte für das Unglaubliche jeden Augenblicks, den wir mitunter, eingebunden in den Alltag, bloß als gewöhnlich wahrnehmen. 1 Steindl-Rast hat dabei freilich hauptsächlich westliche Adressaten im Blick, die das Leben quasi als selbstverständlich und vornehmlich hinsichtlich ihrer eigenen Ziele wahrnehmen. Er gibt ein Beispiel aus der Natur: Das Wetter ist für uns gutes oder schlechtes Wetter, mehr interessiert uns nicht, wenn wir lediglich unseren Tag auf die Witterung einstellen wollen; bei dieser Wahrnehmung und Beurteilung geht verloren, dass ein Ort an jedem Tag, zu jeder Stunde ein ganz einzigartiges Wetter hat, das ganz genau so niemals wieder zustande kommt. Die Wetterkonstellation selbst, etwa das genaue Aussehen von Himmel, Wolken, die Dichte der Luft, interessiert in dieser Betrachtungsweise nicht. 2 Steindl-Rast macht auf diesen Verlust aufmerksam: Alles, was dieses Wetter ausmacht, hält es gerade für mich, der/die ich an diesem Ort bin, bereit. Der Wolkenkonstellationen etwa sind so unendlich viele, sie bieten immer wieder und unerschöpflich Neues, dass es schier unglaublich ist. Eine Fülle, ja eine Überfülle der Wirklichkeit kommt darin zum Ausdruck. Aber wir halten das für normal und bemerken die (Über-) Fülle nicht, weil bzw. wenn wir bloß in den Kategorien »gutes Wetter/schlechtes Wetter« denken. Ob wir also, was im Augenblick für uns da ist, als Geschenk wahr- und annehmen oder nicht, liegt – so Steindl-Rast – an uns. Die Anfragen liegen freilich auf der Hand – nämlich: Ist dieses Vgl. http://www.gratefulness.org/brotherdavid/a-good-day.htm (Stand: 12. 09. 2015). 2 Vgl. weiter unten die Ausführungen zu Jean-Luc Marions fundamentaler Unterscheidung zwischen informativer und phänomenologischer Erkenntnis. 1
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Beispiel nicht etwas einfach gewählt? Wenn ich auch in einer besonderen Situation von einem Phänomen, das mir sonst nicht weiter beachtenswert erscheint, dankbar überwältigt sein kann – so sehr, dass ich auch fortan achtsamer werde und dankbarerer gegenüber dem Füllecharakter des Lebens, so wäre es doch fatal, diese Erfahrung ohne weitere Differenzierung einfach zu verallgemeinern, als sollte jeder und jede in allem (also auch noch in dem, was ihn auf äußerst negative Weise involviert und am Leben hindert) den Geschenkcharakter empfinden können. 3 Aber das einfache Beispiel zeigt immerhin: Ich kann dem, was ich täglich erfahre, in verschiedener Weise begegnen, nämlich achtsam oder achtlos bzw. präziser: die Individualität des Augenblicks in mich einlassend oder nicht (und auch Achtlosigkeit ist eine Umgangsweise mit dem Begegnenden, gegen das ich mich dann absperre und isoliere – dies ist in den allermeisten Alltagssituationen nötig, um, wie man sagt, zu funktionieren.) Steindl-Rast selbst antwortet auf die unvermeidlichen Fragen (ob es nicht doch sehr vieles gibt, was ich nicht als Geschenk empfinden kann, weil es mir bzw. anderen Lebensmöglichkeiten nimmt, statt eröffnet) in einem Interview: Die Gelegenheiten für einen Neuanfang »gehen nicht aus.« 4 Auch dieser Antwort gegenüber möchte man einerseits mit derselben Skepsis begegnen: Unterliegt sie nicht der Gefahr, faktisches Leid und Ausweglosigkeit zu depotenzieren und vorschnell zu harmonisieren? Andererseits kann man nicht umhin zuzugeben, dass es tatsächlich so ist, dass Gelegenheiten sich immer wieder neu eröffnen (selbst aus einer Katastrophe heraus). Sind sie also nicht tatsächlich unerschöpflich (auch wenn sie für viele in vielen konkreten Situationen verschlossen bleiben, weil andere sie ihnen verschließen)? Und lässt diese Tatsache uns nicht auch wagen zu hoffen, dass sie selbst mit dem Tod nicht endgültig zu Ende sind? Es ginge also vielleicht darum, innerhalb unseres Lebens den Gelegenheiten immer wieder Türen zu öffnen, sie aufzuspüren, ihnen nachzugehen, ihnen dankbar zu vertrauen? Sie für uns und andere nicht zu verschließen, damit Gegenwart immer neu da sein kann. Schließlich glücken Menschen auch Dinge; und für sie können sie vollen Herzens dankbar sein. Auch dies, nicht nur Leid und Scheitern, verlangt nach einer Erklärung. Ich komme weiter unten auf diese Fragen zurück. Vgl. http://www.videoportal.sf.tv/video?id=125c51fb-0245–4607–8bff-5c2 f.4dbcdf 8 f.;did=1dbe553 f.-ec81–4fd2-be92–4504d8fa844d (Stand: 12. 09. 2015).
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1.2 Das gesättigte Phänomen (Jean-Luc Marion) Als zweiten Ansatzpunkt für die Erfahrung von (Über-)Fülle im Mangel möchte ich die Rede des französischen Philosophen JeanLuc Marion vom phénomène saturé 5 aufnehmen – sie macht auf dieselbe Sache aufmerksam (wenn auch von einem ganz anderen Ausgangspunkt her kommend, nämlich der phänomenologischen Reduktion der Phänomene auf ihre Gegebenheit). Indem wir das Begegnende als Information aufnehmen, können wir es nicht an sich selbst, wie es ist, wahrnehmen. Es ist von uns objektifiziert und durch unseren Zugriff sich selbst entfremdet. 6 So ist es (für uns) nicht das, was es als es selbst ist (bzw. das, als was es erscheint, sich offenbart, sich gibt), sondern nur das, was wir antizipiert, was wir erwartet haben. Dies, so Michel Henry, Begründer der sog. Lebensphänomenologie, kann niemals mehr sein als das, was es nicht ist bzw. was wir nicht sind – nämlich seine und unsere Bedürftigkeit bzw. unser Mangel. 7 Die Bedürftigkeit ist es dann, die statt unserer enthüllt wird. Achtlosigkeit nimmt, was sich geben könnte, als selbstverständlich, so dass es sich nicht offenbaren bzw. schenken kann; daher kann es für den solcherart Achtlosen nicht es selbst sein, nicht in seiner Fülle sein. Wenn es doch geschieht, dann als Überraschung, die den intentionalen Zugriff außer Kraft setzt. Der Überraschte erfährt sich Vgl. Jean-Luc Marion, Étant donné. Essai d’une phénoménologie de la donation, 3. korr. Aufl. Paris 2005, sowie die in den folgenden Anmerkungen noch aufgeführten Texte Marions. 6 Vgl. Jean-Luc Marion, Sättigung als Banalität. In: Michael Gabel / Hans Joas (Hg.), Von der Ursprünglichkeit der Gabe. Jean-Luc Marions Phänomenologie in der Diskussion (Scientia & Religio 4), Freiburg i. Br. / München 2007, 96–139, hier 110–120 (»Der Begriff … bemächtigt sich restlos der Anschauung und diese verschwindet buchstäblich in ihm.« Ebd., 111). 7 Vgl. Michel Henry, Phénoménologie de la vie. In: Ders., Auto-donation. Entretiens et conférences, Montpellier 2002, 27–44, hier 32. Ich erwähne hier Michel Henry als erläuterndes Komplement zu Marion, weil er eher die Innenseite der Phänomenalität des Lebens in den Blick rückt, das originäre Sich-selbst-Erfahren im Sich-Geben oder Sich-Offenbaren alles Lebendigen, und diese »Ipseität« als Ursprung seines Erscheinenkönnens versteht, während Marion sich durch das Verfahren der phänomenologischen Reduktion der Gegebenheit des Phänomens eher von außen nähert – durch sukzessive Einklammerung alles dessen, was nicht reine Gegebenheit ist (vor allem des Gebenden und des Empfangenden). Dadurch wird aus dem Empfänger der »Zeuge« als (nicht intentional involviertes) Konstituens des Geschehens der Gebung (d. h. des Erscheinens selbst). 5
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als unausweichlich Angerufener durch das Begegnende und steht dann gar nicht mehr vor der Wahl, ihm mit Achtsamkeit oder Unachtsamkeit zu begegnen; weder kann noch will der/die so Betroffene ihm ausweichen. Das »gesättigte Phänomen« 8 löscht mit seinem »Mehr« (»surcroît«), seinem Überfluss oder Übermaß (das zugleich das Eigentliche des Erscheinens ist) die vom Ich konstituierten Grenzen aus und verunmöglicht eine objekthafte Erkenntnis, die stets nur das in den Blick nehmen kann, was etwas nicht ist. Daher macht das Übermaß auch das Eigentliche unserer Erfahrung aus. 9 Dass wir überall eher Mangel als Fülle erfahren und auch unser Handeln darauf eingestellt haben, ist dem Habitus des intentionalen Zugreifens auf die Welt und Menschen geschuldet, durch welches die Welt ihren Gang geht und alles so läuft, wie es läuft (nämlich so, dass Ungerechtigkeit herrscht statt Gerechtigkeit, Konkurrenz statt Gemeinschaft, eben Mangel statt Fülle). Der Habitus des Zugriffs sieht zuerst den Mangel, erst der Habitus der Dankbarkeit (Steindl-Rast) bzw. die Zeugenschaft (Marion) 10 eröffnet die Fülle. Zum Überfluss des Phänomens gehört, dass der unerwartet Angerufene (der Staunende und Dankbare), was sich ihm offenbart hat, nicht für sich allein besitzen muss oder möchte. Das gesättigte Phänomen entzieht sich offensichtlich der Konkurrenz. Wem es widerfährt, der möchte es sogar teilen, möchte, dass andere ebenso zu Angerufenen werden. Kein Betroffener kann dem anderen den Platz streitig machen, da jeder an seinem Platz als er selbst/sie selbst angerufen ist, unersetzbar (aber nicht isoliert). 11 Vgl. Marion, Étant donné, 314–317; ders, Le phénomène saturé. In: J.-F. Courtine (Hg.), Phénoménologie et théologie, Paris 1992, 79–128; ders., Sättigung als Banalität; ders. / Josef Wohlmuth, Auf der Suche nach einer neuen Phänomenologie. In: Dies., Ruf und Gabe. Zum Verhältnis von Phänomenologie und Theologie (Kleine Bonner Theologische Reihe. Vorträge – Aufsätze – Stellungnahmen), Bonn 2000, 35–52, hier 42. 9 Vgl. Marion, Sättigung als Banalität, 98 u. ö.; ders., De surcroît. Études sur les phénomènes saturés, Paris 2001. Auf etwas Vergleichbares hebt eine rabbinische Erzählung ab, die Steindl-Rast anführt: Es geht um einen Rabbiner, der beim Studieren der Tora niemals weiter als bis zum dritten Vers kommt, in dem es heißt »Gott sprach« – denn überwältigt und ganz und gar eingenommen von dieser Ungeheuerlichkeit (Gott spricht!), gerät er jedesmal aufs Neue in Entzücken und Ekstase. Vgl. http://www. gratefulness.org/content/uploads/2015/07/dsr_Kulturkongress_2008.pdf. Die Erzählung findet sich bei Martin Buber, Die Erzählungen der Chassidim, Zürich 121992, 375. 10 Vgl. Marion, Le phénomène saturé, 122; ders., Étant donné, 302 f.; ders., Sättigung als Banalität, 135–138. 11 Eine vielleicht interessante Beobachtung nebenbei: Die Werbung suggeriert, der Erwerb von Konsumgütern trage zur Selbstverwirklichung entscheidend bei, weil sie 8
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1.3 Primum est dives per se (Meister Eckhart) Der Theologe und Mystiker Meister Eckhart, dies mein dritter Gesprächspartner, verbindet im Spätmittelalter biblisches Schöpfungsdenken mit einem zentralen Gedanken des Neuplatonismus: Gott als primum (und als Ursprung von allem) ist dives per se 12 und daher schöpferisches Sich-Geben in principio. Dieses lässt die Welt und die Menschen unangefochten sein; denn es bindet sie ein in das Leben Gottes selbst. Gott grenzt sich nicht ab, sondern öffnet sich aus seiner Fülle heraus für andere, gibt unbegrenzt: Er gibt allen »überreichlich« 13. Mehr: Das Sich-Schenken-Wollen macht Gottes Wesen aus, daher steht er zu dem, was er gibt und wem er gibt, in derselben Beziehung wie zu sich selbst. Wesenhaftes Geben kennt keine Grenzziehungen. So kann das Eigene im Gegenüber und das Gegenüber im Eigenen verwirklicht werden. Dies wiederum ist das Kennzeichen von Lebensfülle. Sie ist, folgen wir weiter Eckhart, »bildlos« 14 und »ohne warum« 15. D. h. wir können sie erfahren, aber nicht vorstellen und konturieren; und wir können mit ihr nicht kalkulieren und nicht auf sie zugreifen. Sie verschenkt sich »einfach so«. Daher geht in Eckharts Werk alles statt auf ein Zugreifen-Können auf das Lassen-Können. So wie Gott uns sein lässt, so können auch wir uns sein lassen – in mehrfachem Sinn: Wir können uns selbst loslassen, indem wir dem zupackenden Eigenwillen Einhalt gebieten; wir können gerade dadurch den anderen als ihn selbst dasein lassen – indem wir ihn nämlich nicht stets schon mit diesem Eigendie Unverwechselbarkeit des Einzelnen auf die Konkurrenz mit anderen gründet. Dieses Verständnis setzt zugleich voraus, der andere könnte mich verdrängen und meinen Platz einnehmen. Wenn ich in meinem Selbstsein von meinem Zugreifenkönnen abhängig bin, bin ich in der Tat austauschbar. Der Hingegebene dagegen kann, was ihn trifft, teilen, weil er darüber sein Selbst (in der Terminologie Marions: »je«) vergisst und gerade so er selbst (in der Terminologie Marions: »moi«) ist. Vgl. Jean-Luc Marion / Joseph Wohlmuth, Ruf und Gabe als formale Bestimmungen der Subjektivität. In: Dies., Ruf und Gabe, 53–69, hier 67 f.; Marion, Le phénomène saturé, 121. 12 Meister Eckhart, Die deutschen und lateinischen Werke, hg. im Auftrag der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Stuttgart 1936 ff., Die lateinischen Werke (im Folgenden LW), Bd. II (In Eccli.), 242. 265 u. ö.; vgl. Liber de causis, § 20. 13 Meister Eckhart, LW IV (Sermo XXV, 1), 234. 14 Vgl. Meister Eckhart, Die deutschen und lateinischen Werke, hg. im Auftrag der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Stuttgart 1936 ff., Die deutschen Werke (im Folgenden DW), Bd. III (Pr. 70), 194; DW III (Pr. 72), 242. 15 Vgl. Meister Eckhart, DW II (Pr. 41), 288 f. Die Gabe
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willen belegen; schließlich: wir können einander gewissermaßen in Ruhe lassen, statt uns mit gegenseitigen Erwartungen zu überfrachten und unter Druck zu setzen, damit sich Raum zu erfüllender Begegnung überhaupt eröffnen kann. Denn wenn wir danach fragen, was eine Erfahrung erfüllend macht, würden doch viele für zentral halten: dass sie mich ganz so sein lässt, wie ich bin, und alle daran Beteiligten auch – und dass wir gerade so zueinander kommen. Können wir dann nicht eine solcherart erfüllende Begegnung durchaus als Vorgriff (oder besser: als Vorerfahrnis) und Verheißung einer endgültigen Fülle für alle interpretieren? Der Philosoph Heinrich Rombach hat in seinem grundlegenden philosophiegeschichtlichen Werk »Substanz, System, Struktur« ebenfalls hervorgehoben, dass es die »Überfülle Gottes« sei, die »das Denken Meister Eckharts in Gang bringt und in Atem hält« 16. Gott, so interpretiert Rombach Eckhart in expliziter Unterscheidung vom klassischen Neuplatonismus, »kann nicht in sich bleiben, nicht bloß bei sich sein. Wie ein vor Freude berstender Mensch muss er etwas tun, etwas sagen. Er muss die Freude sagen, singen. Er braucht das Wort.« 17 Aufschlussreich ist, dass Rombach hier von einem »Brauchen« Gottes spricht nicht aufgrund einer Bedürftigkeit, sondern aufgrund seiner Überfülle. Brauchen und Geben ist hier also dasselbe, nämlich Selbstausdruck. Eckhart selbst benutzt eine andere Metapher: die Metapher der ewigen Geburt des Wortes in und aus Gott. Die Geburt ist Ausdruck der Überfülle bzw. der aus der Überfülle resultierenden Freude und des Einsseins Gottes mit dem Wort. Dieselbe Überfülle kennzeichnet auch das Verhältnis zwischen Gott und Mensch: Gott kann sich nicht enthalten, den Sohn, seine Freude, auch in der Seele des Menschen zu gebären. Daher kann der Mensch nicht nur arme Kreatur sein, sondern birgt selbst die Dimension der Überfülle in sich. Und umgekehrt: Wie Gott mit dem Wort eins ist, in das er aus sich herausgeht, so ist er durch die Geburt dieses Wortes im Menschen (indem er also Heinrich Rombach, Substanz, System, Struktur. Die Ontologie des Funktionalismus und der philosophische Hintergrund der modernen Wissenschaft, Bd. I, Freiburg i. Br. / München 21981, 183. Vgl. zu Rombachs Auseinandersetzung mit Meister Eckhart Ricardo Baeza, Die Topologie des Ursprungs. Der Begriff der Gelassenheit bei Eckhart und Heidegger und seine Entfaltung in der abendländischen Mystik und im zeitgenössischen Denken (Scientia mystica 1), Berlin / Münster 2009. 113–119. 17 Rombach, Substanz, 183 f. 16
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aus sich heraus geht) auch mit uns eins; er gewinnt selbst etwas hinzu, nämlich das Einssein mit uns, das – folgen wir der Frohen Botschaft des Evangeliums 18 – zugleich das ist, worauf sein ganzes Sinnen (gerade als Überfülle) geht. 19 Diese Freudenbewegung Gottes läuft darauf hinaus, dass das Verhältnis der Konkurrenz, die dem Mangel geschuldet ist, der die Welt kennzeichnet, einem Verhältnis des gegenseitigen Sein-Lassens, wie es die Fülle Gottes kennzeichnet, weicht. Der Lassende und Gelassene (im oben geschilderten mehrfachen Sinn) entspricht dieser Bewegung Gottes; er quillt aus der göttlichen Fülle des Innern über, in ihm kann Gott sich tatsächlich selbst ausdrücken. 20 Denn auch für den Gelassenen wird das Geben zu dem, was er »braucht«, um er selbst zu sein. Um ihn herum entsteht eine Atmosphäre der Freude, die Gott selbst ist. Es ist zugleich jene Atmosphäre, von der die gesamte Schöpfung immer schon lebt. Die Seinsweise der Schöpfung ist nach Meister Eckhart dadurch gekennzeichnet, dass ihr Sein ihr nicht zu eigen, sondern vom Schöpfer gegeben ist; 21 ansonsten ist es aber ganz dasselbe Sein, das Gott selbst ausmacht. Denn der eine Gott teilt sich aus, zerteilt sich aber nicht, er gibt sich ganz. Deswegen besitzt die Schöpfung ein doppeltes Sein (duplex esse 22) oder zwei Seinsdimensionen. Die eine Dimension ist die Dimension der Einheit und Fülle, die andere die der Unterschiedenheit und der Armut. Nach der ersten Dimension ist Gott ihr immanent, nach der zweiten transzendent. Diese Sicht bietet eine Erklärung dafür, dass wir uns selbst und alles Begegnende mehr in seiner Leere oder mehr in seiner Fülle betrachten bzw. erfahren können und entsprechend auch für andere eher Fülle oder eher Leere sichtbar werden lassen können. Alles in der Welt ist gekennzeichnet von dieser komplexen Spannung zwischen Fülle und Leere. Die Dimension der Überfülle trägt diese Spannung, aber orientiert sie zugleich in die Vgl. Joh 17. Vgl. Rombach, Substanz, 202: Christus bedeute für Eckhart »das Eintreten Gottes in die ersehnte Einheit mit dem Menschen«. Vgl. Rombach, Substanz, 186 f.: »Gott, dieses Wort ist für sich allein gar nicht sagbar und denkbar. Gott, wenn er in seiner Überfülle als Liebesgott gedacht wird, will sein und muss sein: Gott-Mensch.« Bzw. ebd., 184: »Gott ist der Liebesgott, oder er ist überhaupt nicht Gott.« (Hervorhebung H. R.). 20 Vgl. Meister Eckhart, DW I (Pr. 1), 19 f. 21 Vgl. Meister Eckhart, LW II (In Sap.), 340. 22 Vgl. Meister Eckhart, LW I, 2 (In Gen. I), 121–123/LW I, 1, 238 u. ö. 18 19
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Richtung von Fülle und berechtigt Eckhart zufolge zum Vertrauen auf die Fülle. 23 Gott hat sich in die Welt hineinbegeben, um sie sein zu lassen; wer davon überzeugt ist und selbst(-)gelassen wird, kann dies ebenso tun. Die Hineingabe Gottes in die Welt, ausdrücklich geworden in der Inkarnation, zeigt, wie ernst ihm die Freude an seiner Überfülle ist. Zugleich überzeugt sie die Welt vom Mehr der Wirklichkeit Gottes. Marion spricht daher passend von der Inkarnation als »phénomène saturé par excellence«, dem ganz erfüllten und daher erfüllenden, alle Erwartungen sprengenden Phänomen. 24 Alle hier gewählten Ansatzpunkte lassen Wirklichkeit als etwas sichtbar werden, das uns einerseits nicht zur Verfügung steht und andererseits nicht ausgeht. Erfüllendes Geben geschieht nicht aus dem »Haben« bzw. »Besitzen« eines vorhandenen Reichtums heraus, der mit dem Reichtum anderer konkurriert (das gibt es auch, aber macht eher auf einen Mangel aufmerksam und arbeitet selbst an der Ausbreitung von Mangel mit), sondern wirkliches Geben basiert auf dem Vertrauen, dass uns wieder neu etwas zukommt. 25 Gerade das macht den Über-Reichtum des Gebenden aus: Denn was anderes wäre Reichtum/(Über-)Fülle, wenn nicht, keine Angst davor haben zu müssen, etwas könnte nicht reichen oder was ich gebe, könnte mir selbst ausgehen?
2.
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Von Anfang an begleitete diese Ausführungen die Frage nach der Faktizität des Mangels, des Bedürfens, des Nicht-Reichens als Einspruch oder doch zumindest als einer Erfahrung, die derjenigen der Fülle an die Seite zu stellen ist. Es wurde eingangs festgehalten, dass Meister Eckhart beruft sich hierbei auf Pseudo-Dionysius-Areopagita als Begründer dieser dialektisch-hierarchischen Denkform, der von Gott als hyperpleres spricht. Vgl. Corpus Dionysiocum, Bd. 1: De divinis nominibus, hb. von B. R. Suchla, Berlin u. a. 1990 (Patristische Texte und Studien 33), II, 11, 649C. 24 Marion, Étant donné, 335. Rombach, Substanz, 203, führt die Auseinandersetzung mit Eckhart zu folgender Aussage über die Ontologie: »Der Grund der Ontologie ist nicht das Sein, sondern das ›über dem Sein‹, d. h. der geschehende Gott, d. h. der Christus. Die absolute Ontologie ist darum das Christentum als geschichtliches Faktum«. 25 Vgl. zu den Konsequenzen für Ekklesiologie und Ökumene: Ulrike Link-Wieczorek, Raum zum Empfangen. Vorüberlegungen zu einer Ekklesiologie der Gabe. In: Ökumenische Rundschau 60 (2011), 191–206, hier bes. 203–206. 23
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es unbestreitbar jenes Kennzeichen unserer Verhältnisse bildet, das unmittelbar evident ist. Es fällt ins Auge, dass Menschen sich nicht verstehen, sich voneinander isolieren, miteinander konkurrieren und einander (weg)nehmen; dass sich aber Liebe (also auch FüreinanderDasein, Sich-Geben) wirklich unter uns ereignet, dafür wird im alltäglichen wie im wissenschaftlichen Diskurs viel eher der Aufweis verlangt. Wer das Sinnhafte unserer Lebenswirklichkeit radikal infrage stellt, hat Beispiele ohne Zahl für sich. So hat sich die Tendenz entwickelt, alle, auch altruistische, Verhaltensweisen als letztlich egoistisch (und nur dem Anschein nach altruistisch) zu bewerten (so etwa soziobiologische Erklärungsmuster). 26 Aber gerade hier kann die Rede von (Über-)Fülle anknüpfen: Dass ich nämlich etwas zugunsten eines anderen tun und mich dabei zugleich selbst als beschenkt erfahren kann, ist das nicht extrem erklärungsbedürftig innerhalb der Endlichkeits- und damit der Mangelstruktur der Welt? Auch Jean-Luc Marion betont dies m. E., wenn er sagt, es komme vor, dass ich etwas gebe (oder auch empfange) und währenddessen gewahr werde, wie dieser Prozess mich erfüllt/glücklich macht, ohne dass ich bei dieser Aktion von vornherein den Zuwachs meines Glücks im Auge gehabt und deswegen gegeben (oder empfangen) hätte. 27 Sind das nicht gute Gründe, die Fülle Gottes ins Spiel zu bringen, wie dies die Bibel und die späteren jüdisch-christliche Denkansätze tun?
2.1 Die Logik der Fülle angesichts der Logik des Mangels in der Frohbotschaft Jesu Das Neue Testament erzählt von Jesus, wie er durch Wort und Tat die Überfülle des Vaters, die für alle mehr als genug hat, in das Leben der Menschen hineinholt und ihnen ermöglicht, nicht mehr allein von der Logik des Mangels her zu agieren, die anderen Lebensmöglich-
Vgl. etwa Richard Dawkins, Das egoistische Gen, Berlin 1978; Ralf Miggelbrink geht in seiner umfangreichen Monographie zum Thema Fülle bereits ausführlich auf diese Erklärungsmuster ein – vgl. ders., Lebensfülle. Für die Wiederentdeckung einer theologischen Kategorie (QD 235), Freiburg i. Br. 2009, 24–30, 38. 27 Vgl. Niels Henrik Gregersen, Radical Generosity and the Flow of Grace. In: B. K. Holm / P. Widmann (Hg.), Word – Gift – Being. Justification – Economy – Ontology, Tübingen 2009, 136. 26
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keiten nimmt. 28 Nicht zufällig führt auch Marion für seine Überlegungen das Gleichnis vom verlorenen Sohn an: Der zweite Sohn ist verärgert über den Aufwand, der bei der Rückkehr des Jüngeren betrieben wird; er wird aber überzeugt von der Logik der Fülle durch die Worte des Vaters: »Alles, was mein ist, ist auch dein.« (Lk 15,31). 29 Sämtliche Wunder und Gleichnisse, mit denen Jesus die Menschen für das Reich Gottes gewinnen, mit denen er der Herrschaft der Fülle Gottes zum Durchbruch verhelfen will, gehen ähnlich vor. Besonders signifikant ist in diesem Zusammenhang das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg (Mt 20). Es dreht die Logik des Mangels um und zeigt: Die Ersten profitieren nicht davon, wenn die Letzten weniger bekommen als sie. Es geht darum, dass alle haben können, was sie brauchen. 30 Was zunächst unvernünftig scheint, stellt sich als vernünftig heraus. Auch in den Streitgesprächen, wie sie die Evangelien überliefern, agiert Jesus stets nach jenem Prinzip der Überfülle, das mit den Vorschriften des Gesetzes, das notwendig und sinnvoll ist unter dem Blickwinkel des Mangels, kollidiert. Jesus legt den Sünder nicht auf sein Sündersein fest und den Kranken nicht auf sein Kranksein – dadurch eröffnet er den Menschen jene neuen Lebensmöglichkeiten, von denen Steindl-Rast spricht. Man könnte es auch so sagen: Jesus sieht den, der ihm begegnet, an als einen, der geben kann. Das vermag Jesus, weil er aus der Fülle des Vaters lebt und ihr vertraut, auch gegen alle Evidenzen, die den Zugang zu dieser Fülle versperren. Und es gibt wohl kein glaubwürdigeres Aufbegehren gegen die Evidenz des Mangels als den Gekreuzigten – ein Aufbegehren, das seinen absoluten Sinn erfährt in der Auferstehung als endgültiger Vgl. hierzu auch: Karl-Heinrich Ostermeyer, Nehmen ist seliger denn Geben. Das Reich Gottes als Gabe im Neuen Testament. In: Geben und Nehmen (JBTh 27), Düsseldorf 2013, 207–226. 29 Vgl. dazu Tobias Specker, Einen anderen Gott denken? Zum Verständnis der Alterität Gottes bei Jean-Luc Marion (FTS 64), Frankfurt a. M. 2002, 281. 30 Es sei darauf aufmerksam gemacht, dass der Weinbergsbesitzer die Arbeiter der zweiten Stunde mit dem Hinweis einstellt, er werde ihnen geben, was gerecht (dikaion, Mt 20,4) ist. Das Gleichnis wirbt also nicht einfach für ungeschuldete Barmherzigkeit und selbstlose Gabe, sondern bricht mit einem Verständnis von Gerechtigkeit, die sich nach dem Leistungs- und Gleichheitsprinzip bemisst und die Arbeiter zu Konkurrenten um den Lohn macht. Verlassen wir die Bildebene, heißt das in Bezug auf Gott: dass er jedem Menschen etwas wie einen Anspruch/ein Recht auf Teilhabe an seiner Fülle zugesteht (der Mensch also bereits gerecht gemacht/gerechtfertigt ist in seinen Augen). Vgl. dazu noch einmal weiter unten. 28
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Manifestation der Mehr-als-Fülle des Vaters. Womit in der Tat keiner gerechnet hatte, geschah: Der Gekreuzigte blieb nicht im Tod, sondern wurde auferweckt zu neuem Leben. Jesus Christus leitet die Menschen an, auf diese Überfülle Gottes im Hier und Jetzt zu vertrauen. Er lehrt Sorglosigkeit (vgl. Mt 6,25 ff par Lk), nicht aus Blauäugigkeit und nicht, weil die massiven Bedrohungen und Nöte des Lebens an ihm vorbeigingen, sondern weil das ständige Bedenken der Ressourcenknappheit jede Offenheit für die Fülle innerhalb der Knappheit verstellt. 31 Anders als derjenige, der aus dem endlichen Leben alles herauspressen will (und die Endlichkeit nicht akzeptiert), nimmt derjenige Endlichkeit und Mangel als solche ernst, der darauf setzt, dass mit dem Ende dessen, was die Endlichkeit bietet, eben nicht alle, sondern nur die endlichen Ressourcen aufgebraucht sind (vgl. Joh 14,2: »Im Hause meines Vaters gibt es viele Wohnungen«).
2.2 Die kontrafaktische Grunderfahrung Israels: Jahweh, Gott der Lebensfülle Auch die biblische Überlieferung der Geschichte Israels ist gekennzeichnet von der Spannung zwischen Endlichkeit und Fülle. Faktisch überwiegen die Erfahrungen von Leid und Entbehrung enorm: Unterdrückung, Entfremdung, Konflikte. Doch gerade in den äußersten Situationen des Leids (besonders während des Exils) schiebt sich die Erinnerung an die entscheidenden Fülle-Erfahrungen in den Vordergrund, und ein Neuanfang aus dieser Erinnerung heraus gelingt. Die Erfahrung, dass die Möglichkeiten Gottes unerschöpflich sind, ist die bleibende Grunderfahrung der Bibel. Sie wird zur realitätsverändernden Kraft: sie motiviert, einen Ausweg aus Leid und Konflikt zu suDie Frage, wie man glücklich werden könne, hat in den letzten Jahren in Deutschland und Europa gesellschaftlich und medial eine auffällige Attraktivität entfaltet (vgl. die Einführung des Schulfachs »Glück« in Schulen; einschlägige pädagogische Publikationen, die Eltern vor einer einseitig leistungsorientierten Erziehung warnen; Aussteigerliteratur etc.), die unmittelbar zusammenzuhängen scheint mit der Defiziterfahrung, welche die langjährige Belastung durch die Konzentration auf die Frage: Wie wird man reich (erfolgreich, einflussreich)? hinterlassen hat. Zu beobachten ist ein wachsendes Misstrauen gegen das Funktionieren ökonomischer Zusammenhänge und eine zunehmende Auflehnung gegen die Unterwerfung des Lebens des Einzelnen unter die Gesetze der Ökonomie.
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chen, denn sie verbürgt, dass Empörung und Engagement gegen faktische oder vermeintliche Knappheit und Leere einen Sinn machen. Dass die quantitativ unterlegene Erfahrung nicht verschüttet, sondern für die Lebensgestaltung maßgeblich wird, spiegelt auch die Überzeugung vom grundsätzlichen Gutsein der Schöpfung. Diese Überzeugung führt nämlich dazu, dass Endlichkeit nicht mit Leere bzw. Mangel gleichzusetzen ist. Als Endliche können wir einerseits der unendlichen Fülle des Schöpfers nicht entsprechen, andererseits leben wir von ihr. Erst die Verkennung dieser Abhängigkeit, die uns die Teilhabe an der Fülle beschert, führt in die Leere. Sie lässt sich von daher als Sünde bestimmen. Umgekehrt besteht der Ausweg aus Sünde und Gottesleere in der Rückbesinnung auf den Reichtum der Schöpfung, der sich in der Erwählung Israels exemplarisch manifestiert. Die Propheten und Apokalyptiker mahnen – in einer weisen Durchsicht auf die Verhältnisse – das Volk daher, dieser Erwählung zu entsprechen durch eine Lebenspraxis, die Jahwe, dem Gott des Lebens, entspricht und nicht der Evidenz der Knappheit – auch was den eigenen Erwählungsanspruch betrifft. Die Erwählung Israels schließt die Erwählung anderer Völker nicht aus (Amos 9,7). Und die Mahner sind überzeugt: Wo dennoch hartnäckig gegenteilig verfahren wird, wo die Reichen ihren Reichtum und die Mächtigen ihre Macht festhalten, ist Hoffnung darauf, dass die Fülle wieder zutage tritt, nur noch im Gericht. Es wird die Gerichteten endlich davon überzeugen, dass sie der falschen Strategie aufgesessen waren, dass das Leben mächtiger ist als der Tod. 32
2.3 Fülle im Mangel aufspüren (Simone Weil) Die jüdische Mystikerin und Philosophin Simone Weil entwickelt in ihrem Buch »Das Unglück und die Gottesliebe« 33 eine eigenwillige Sicht auf das Verhältnis von Schmerz und Glück, von Ferne und Nähe, von Determiniertheit und Freiheit. Sie könnte in unserem Zusammenhang, in dem es darum geht, Fülle aufzuspüren, ohne das Faktum des Mangels leichtfertig zu überspielen, gerade deswegen hilfreich sein, weil in ihrem Werk die brutale Realität von Schmerz Vgl. dazu Christine Büchner, Wie kann Gott in der Welt wirken? Überlegungen zu einer theologischen Hermeneutik des Sich-Gebens, Freiburg i. Br. 2010, 150–173. 33 Simone Weil, Das Unglück und die Gottesliebe, München 1953. 32
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und Unglück die authentische Grunderfahrung für alle Überlegungen bildet, also keinerlei Tendenz zu deren Depotenzierung besteht. Die Realität des Unglücks ist nach Weil deswegen so grausam, weil ihre Wirkungsweise dem blinden Mechanismus der Schwerkraft zu vergleichen ist. Alle Materie, also auch die Menschen, insofern sie Materie sind, seien diesem Mechanismus unterworfen. Er markiere den Abstand des Schöpfers zur Welt. Weil es sich um einen Mechanismus handele, nicht um ein personal-intentionales Geschehen, sei das Einzige, was wir ihm gegenüber frei entscheiden können, ob wir uns ihm freiwillig unterwerfen oder nicht – ähnlich wie eine Pflanze, der es freigestellt wäre, ob sie lieber im Hellen oder im Dunkeln wachsen wolle. 34 Wer sich für die Helligkeit entscheide (d. h. für die freiwillige Unterwerfung), in dem wachse, so Weil, der Baum des Kreuzes, der die Kraft entfalten könne, jenen Abstand zwischen Gott und Schöpfung zu überbrücken. Je weiter in einem Menschen dieser Baum wachse, desto weiter übe er sich darin ein, auch Schmerz und Leid noch als Gabe in freiem Gehorsam annehmen zu können. Dieser Gedankengang ist schwer zu ertragen. Doch es lohnt sich, ihm nachzugehen. M. E. ist zumindest auch gemeint: Mit der Entscheidung für den Gehorsam wächst die Liebeskraft, die Jesus Christus (und ähnlich bereits die biblische Gestalt des Gottesknechtes) auszeichnet. Simone Weil erklärt: Nähe und Ferne bedeute für Liebende das gleiche Gut, da sie in beiden Situationen ihre Verbundenheit und Einheit erfahren könnten – in der Nähe positiv, im erfüllenden Beisammensein nämlich; in der Ferne negativ, da sie einander, sei auch der halbe Erdball zwischen ihnen, ganz genauso nahe seien. Ebenso könne der Mensch im Schmerz über die Abwesenheit Gottes dessen Anwesenheit spüren (so wie man die Anwesenheit des Geliebten im Schmerz um seine Abwesenheit spüre) und somit Freude und Schmerz gleichermaßen als Gaben empfinden. Dass das überhaupt möglich ist, resultiert aus der Überfülle der Liebe Gottes selbst. Gott habe die Welt in einem unendlichen Abstand zu sich selbst geschaffen, den er wiederum mit seiner unendlichen Liebe überwinde. Insofern könne die vollkommene Anwesenheit Gottes nur in seiner völligen Abwesenheit erfahren werden. An uns ist es gewissermaßen, uns – wie Jesus – in diese Liebe hineinzustellen, so dass sie durch uns, uns verwandelnd, hindurchgeht. Daher ist die Erfahrung der gött-
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Weil, Das Unglück, 126; zum Folgenden vgl. Weil, Das Unglück, 130–133.
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lichen Liebesfülle (die deswegen Fülle ist, weil sie noch in die unendlichste Ferne von sich selbst gehen kann) notwendig verbunden mit dem Getroffenwerden von Leid und Schmerz, der auf das Konto jenes blinden Mechanismus der Materie geht (d. h.: der Realität des Mangels). Wer durch ihn hindurch zu lieben vermag, vertraut auf die unendliche Reichweite der Liebe Gottes (und folgt Christus nach). Wenn ein Mensch es fertig bringe, fährt Weil fort, sich nicht vom Mechanismus der Natur leiten zu lassen, der durch die Macht des jeweils Stärkeren gekennzeichnet ist, gelinge ihm, an seiner konkreten Stelle diesen Mechanismus außer Kraft zu setzen und ein Gleichgewicht herzustellen. Es entstehe Freundschaft, eine »wunderbare Dazwischenkunft des Übernatürlichen« 35, ein Durchbruch durch die trennende Dichte zwischen Gott und Schöpfung. Echte Freundschaft ahme Gott nach, indem sie sich nicht vom anderen abhängig mache und den anderen nicht von sich abhängig mache. 36 Mit Simone Weil können wir Freundschaft daher als Ausdruck von Überfülle verstehen. Der Mechanismus der Schwerkraft wirkt nicht mehr störungsfrei, sobald entweder einer ihren Schlag freiwillig empfängt (die andere Wange hinhält, zwei Meilen mitgeht statt einer, statt des eingeforderten Hemds auch den Rock gibt) 37 oder der Stärkere sich weigert, stärker zu sein. Gott selbst bringt seine Überfülle zum Ausdruck, indem er nicht parteiisch nur dem gibt, der seinem Willen entspricht, sondern seine Sonne über allen, Guten und Bösen, aufgehen lässt (vgl. Mt 5,38–48). 38 Ähnlich spricht Paul Ricœur von der »wechselseitigen lebendigen Spannung« zwischen der Logik der Entsprechung (Gerechtigkeit) und der Logik der Überfülle (Liebe). 39 Gerechtigkeit, wie sie die goldene Regel fordert, muss gelten, damit die Welt menschlich ist; dass Gerechtigkeit aber überhaupt geübt werden kann, das verlangt Liebe/ Überfülle als ihren Quell (bzw. Ermöglichungsgrund), der durchaus in Gerechtigkeit und Entsprechung zum Ausdruck kommt. Gerechtigkeit ist – anders als Freundschaft – zwar nicht »wunderbare Dazwi-
Weil, Das Unglück, 220 (im Französischen »intervention miraculeuse« – Simone Weil, Attente de Dieu, Paris 1950, 157). 36 Vgl. Weil, Das Unglück, 222 f. 37 Vgl. Mt 5,38–42. 38 Weil, Das Unglück, 222 f., stellt genau diesen Zusammenhang her. 39 Paul Ricœur, Liebe und Gerechtigkeit, Tübingen 1990, 57. Vgl. dazu Miggelbrink, Lebensfülle, 113 f. 35
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schenkunft« 40, aber doch menschlich-endlicher Ausdruck des Übernatürlichen bzw. einer (übernatürlichen) Fülle; unser Handeln nach dem Prinzip der Gerechtigkeit manifestiert also einerseits diese Fülle, andererseits verstellt sie diese, indem sie sie in unsere Mangellogik verstrickt. So mag die mangelnde Sichtbarkeit der Fülle in unseren Vollzügen daran liegen, dass die sich-gebende Überfülle Gottes sich dermaßen freigebig und ohne auf Entsprechung zu achten austeilt und zur Verfügung stellt. Insofern ist, noch einmal mit Simone Weil gesprochen, Fülle in der Welt zumeist nur als Ferne da. Wo sich die Logik der Überfülle aber als sie selbst zeigt (weil eine momentane Konstellation das zulässt), da erscheint das Göttliche in der Welt. Das Verhältnis von Fülle und Mangel innerhalb der Endlichkeit wäre dann dem Verhältnis zwischen Scheitern und Gelingen vergleichbar. Menschen nehmen, was ihnen glückt, meist als selbstverständlich hin, ohne über die Bedingungen des Glückenkönnens nachzudenken. Eher suchen sie Gründe und geraten zwangsläufig ins Nachdenken, wenn etwas nicht gelingt, wenn sie aus der Bahn geworfen werden. So geht die Erfahrung des Glückens allem konkreten Scheitern als berechtigt erwartete Hoffnung voraus. Wir schöpfen in jedem Moment unseres Lebens bereits aus seiner Erfüllung. Die Rede von Fülle und gar Überfülle weist darauf hin, dass wir uns in jedem Moment, vor allem in den Momenten des Gelingens, aber auch im Erleben von Mangel, Scheitern und Gottesferne, als beschenkt wissen dürfen (wenn auch nur mit der Anwesenheit Gottes als Abstand). Jesus sowie die Propheten Israels leiten Menschen dazu an, auf die Fülle zu vertrauen, darauf zu vertrauen, dass wir nicht zu wenig haben, mit dem wir haushalten müssen, sondern einander zu lieben. Simone Weil zitiert Jesu Liebesgebot in diesem Sinne: »Liebt einander, so wie ich euch geliebt habe« – und versteht es als Aufforderung zur Freundschaft, die zum vergegenwärtigenden Zeichen der Anwesenheit göttlicher Fülle wird und sakramentalen Charakter erhält. 41 Glaubensgewissheit entstehe, wenn jemand nicht aufhöre zu lieben. 42
40 41 42
Vgl. o. Anm. 35. Vgl. Weil, Das Unglück, 225. Vgl. Weil, Das Unglück, 230.
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3.1 Anknüpfung eschatologischer Hoffnung an endliche Fülle-Erfahrungen Eingangs wurde festgehalten, dass Menschen ihre Vorstellungen davon, was endgültige Erfüllung bedeuten könnte, vor allem aus der Erfahrung des Mangels entwickelt haben und diese daher äußerst anfällig sind für eine kritische Infragestellung, wie sie seit der Aufklärung auch schonungslos unternommen wurde. Wieso sollte Jenseitshoffnung etwas anderes sein als Diesseitsflucht, Hoffnung auf Vollendung etwas anderes als ein schöner Traum, Hoffnung auf höhere Gerechtigkeit etwas anderes als billige Vertröstung der Unterdrückten? In der Tat: Erhofften wir einfach das gerade Gegenteil von dem, was wir in der Welt erleben, dann käme es auf dieses Leben nicht mehr an. So kann allerdings nur argumentiert werden, wenn man – tendenziell deistisch – von einer strikten Trennung von Welt und Gott, von Diesseits und Jenseits ausgeht. Gehen wir indes – im Anschluss an die bisher vorgestellten Überlegungen durchaus berechtigt – von der Gabe der Welt durch Gott als Selbstausdruck seiner Überfülle aus, dann muss die Rede von Erlösung zugleich eine Rede von Vollendung sein. Sie kann an Erfahrungen anknüpfen, die wir in der Welt machen – Phänomene des Glückens oder der Erfüllung, die sich auf unser Involviertsein in den Prozess der Gabe (sei es eher aktiv oder eher passiv) zurückführen lassen. Und ohne die Annahme einer endgültigen Erfüllung würde umgekehrt auch eine Theologie der Gabe zur Neuauflage einer Opfertheologie. Dann wären Freundschaftsinitiative, Selbstgelassenheit, Selbsteinsatz und Selbsthingabe zwar heldenhaft, aber endeten doch im Tod. Es gilt also gerade solche Situationen als loci theologici aufzuspüren, in denen Initiativen und Haltungen, die auf Überfülle setzen, zu einem Mehr an gelingendem Leben für alle Beteiligten führen. 43 Dazu gehört auch, dass wir in der Rede von Erlösung durch Jesus Christus den Fokus mindestens so sehr wie auf das Kreuz auf die heilenden Begegnungen richten, welche die Menschen mit Jesus
Dies hat auch Ralf Miggelbrink in seiner oben (Anm. 26) erwähnten anregenden Arbeit (bes. 68–164) betont.
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gemacht haben und in denen die Dynamik der Überfülle bereits spürbar ist. 44
3.2 Fülle und Mangel als einander ergänzende Kategorien Die Kategorie der Fülle und Überfülle bildet also eine denknotwendige und sich phänomenologisch nahelegende Ergänzung der Kategorie von Armut und Defizienz. Umgekehrt muss jede Rede von Fülle, will sie die Welt nicht schönreden (und darin auch die Brutalität des Kreuzes nivellieren) faktische Konkurrenz, Knappheit, Leere, schließlich Schmerz und Leid als komplementäre Erfahrungen ernst nehmen. Während die Kategorie der Fülle das berechtigte Vertrauen auf das grundsätzliche Gutsein der Welt und damit ihre Vollendungsfähigkeit in den Blick rückt, rückt die Kategorie des Mangels ihre Erlösungsbedürftigkeit in den Blick. Wären wir mit dem, wie die Welt funktioniert und wie unser persönlicher Alltag verläuft, stets ganz und gar zufrieden und sehnten uns nicht danach, dass es anders sein könnte, dann wäre die Welt unempfänglich für eine Erlösung, derer sie doch unzweifelhaft bedarf. 45 Überfülle liegt schließlich auch nicht als quasi mystische Tiefenebene der Oberfläche unserer Lebenswirklichkeit zugrunde, so dass es nur an uns und unserem Entschluss zur Gabe läge, zu ihr durchzustoßen. Wir können zwar mit Meister Eckhart von Fülle und Mangel als den zwei Seiten der Gegebenheit unseres Lebens sprechen. Und es scheint auch so, dass die Fülle umso stärker spürbar wird, desto mehr wir selbst in ihre Dynamik des Sich-Austeilens hineingenommen sind; allein, dass dies geschieht, liegt aber nicht einfach in unserer Hand, sondern muss uns wiederum gegeben werden. Dieses Anliegen hat von Anfang an die feministische Theologie zu Recht formuliert. 45 Es gibt allerdings auch immer mehr Menschen, die – in einer reichen Gesellschaft und falls keine Krise sie trifft – dieses Leben einfach als eine Fülle von Angeboten erleben, in denen sie sich selbst zum Ausdruck bringen können, scheinbar ohne dass sie deren Ende fürchteten und ohne dass sie sich nach etwas anderem sehnten. Auch wenn der Wortlaut nahezu verwechselbar ist, ist dies eine andere Lebensfreude als die, die wir mit Steindl-Rast als Dankbarkeit oder mit Meister Eckhart als Gelassenheit bezeichnet haben. Denn sie folgt aus der Verkennung des Umstandes, dass eine Erfüllung, über die wir alleine bestimmen, stets auf Kosten anderer geht, weil sie sich notgedrungen aus dem Reservoir der Knappheit bedient. Sie verschließt sich damit der Gegebenheit von Fülle. 44
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3.3 Vollendung und Bruch Es wurde bereits deutlich, dass die Kategorie der Fülle eng mit der Kategorie der Gabe zusammenhängt, insofern Fülle nur als gegebene ist. Daher kann auch Erlösung und Erfüllung kein Geschehen sein, das dem Subjekt verfügbar wäre. Diese Feststellung bedeutet nicht nur, dass wir – was ja offensichtlich ist – sie nicht selbst herbeiführen können; sie bezieht sich auch auf das, was Erfüllung erfüllend macht, auf das Wesen von Erfüllung: Erfüllend ist etwas gerade dann, wenn es unerwartet neue Perspektiven eröffnet; diese neue Perspektive überrascht mich, ich konnte sie nicht vorwegsehen. Die Linearität der Zeit erfordert zu planen, sich Ziele zu setzen und sie zu erreichen; immer müssen wir dabei die Erfahrung machen, dass das erreichte Ziel nicht erfüllt, und wir setzen uns neue Ziele. Mit der Zeit als linear vergehender können wir lediglich haushalten. Und doch ist auch diese ökonomische Zeit eine gegebene. Das erfahren wir in Augenblicken, in denen unser Planen durchbrochen wird. Die Ohnmacht öffnet unerwartet für die Gegebenheit der Zeit (aus der auch die ökonomische schöpft, aber die sie zugleich in ihrer Gegebenheit verstellt) – das kann unendlich leidvoll sein, wenn jemandem quasi der Boden unter den Füßen weggerissen wird; das Wort Hoffnung kann hier nicht mehr gesprochen werden, es würde zum Angriff und höchstens noch als zynisch empfunden. Es gibt aber zumindest auch den Fall, dass jemandem, wenn er selbst mit seinen Kräften am Ende ist, zugleich die Erfahrung zuteil wird, dass nicht alles zu Ende ist, so dass aus der Ohnmacht ein spontaner Neuanfang und ein radikal verändertes Leben erwächst. 46 Die Doppelstruktur unserer Zeit als bemessene und gegebene erlaubt zu hoffen, dass Gott radikal Neues bewirken kann, auch wenn wir uns unumkehrbar verstrickt haben in unserer endlichen Geschichte und selbst diese Möglichkeit eines Neubeginns nur als unsere Unmöglichkeit fassen können. Deshalb können wir sogar denken und hoffen, dass »nach dem Tod«, dann also, wenn unsere Ohnmacht endgültig geworden und »unsere« (bemessene) Zeit um ist, der eigentliche Ort für Erfüllung sein könnte – für etwas so ÜberwältigenMystiker wie Johannes vom Kreuz sprechen von diesem Erleben der totalen Orientierungslosigkeit als notwendiger Erfahrung auf dem Weg zu einem Leben in Gott – vgl. Johannes vom Kreuz, Die dunkle Nacht, (Sämtliche Werke Bd. I), hg. und übers. von U. Dobhan / E. Hense / E. Peeters, 103–130 [Kap. II, 5–9]).
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des, dass es ganz empfänglich werden lässt; das sich aber vorher möglicherweise nicht oder nicht ganz geben konnte, sondern für dessen Empfang ich der bemessenen Zeit entkommen und durch die Passivität des Todes hindurch muss. Hierin kommt das Anliegen apokalyptischer Theologie zum Tragen: Sie hofft darauf, dass wir mit unseren dem Mangel von Glück geschuldeten und daher uns und anderen Unheil schaffenden, Täter und Opfer produzierenden Strategien, aus denen wir uns selber nicht befreien können, doch endlich einmal am Ende sein werden, so dass Gott sich noch einmal ganz anders (als Nähe, nicht nur als Ferne) geben kann. Die Hoffnung auf Erfüllung muss also doch auch eine rettende Unterbrechung unserer Leid verursachenden Ökonomie (eine Befreiung oder Erlösung also) beinhalten und kann nicht einfach bruchloser Übergang von unseren endlichen Fülle-Mangel-Erfahrungen in eine vollkommen erfüllte Heilszeit sein. Erhoffbar ist dieser Bruch, weil mit dem Tod unsere Intentionalität unterbrochen wird. Der ökonomischen Dimension des Lebens wäre der Boden entzogen, wenn jeder noch einmal neu sich als sich selbst und den anderen geschenkt erfahren dürfte. Das meint Ewigkeit und Reich Gottes. In diesem Zusammenhang ist es daher durchaus konsequent, mit Ottmar Fuchs auch von einer Gabe des Gerichts zu sprechen. 47 Gericht wäre dann freilich nicht wiederum ein Abmessen von Strafe proportional zur jeweiligen Schuld und von Belohnung proportional zum jeweiligen Verdienst, sondern ein Geschehen, in dem sowohl Kontinuität (des gut Begonnenen und als erfüllend Erfahrenen) als auch Bruch (mit den dem Mangel geschuldeten Strategien der Konkurrenz) miteinander vermittelt würden. Eschatologie bleibt der Traktat der Hoffnung, deren Gehalt, gerade wenn er uns erfüllen soll, sich unserer Vorstellung und Vorwegnahme entziehen muss. Gerade diese Struktur von Erfüllung als etwas Nicht-Vorhersehbarem, ganz und gar Neuem aber berechtigt zu dieser Hoffnung. 48 Gerade im Wissen darum, dass wir Gott und seine Vgl. Ottmar Fuchs, Das jüngste Gericht. Hoffnung auf Gerechtigkeit, Regensburg 2007, 114 f. 48 Vgl. dazu noch einmal Heinrich Rombach, Strukturontologie. Eine Phänomenologie der Freiheit, Freiburg i. Br. / München 1971, 224: »Der Durchbruch geschieht nicht dort, wo etwas weitergeht, sondern dort, wo es nicht weitergeht, an einer Stelle, die gerade nicht Öffnung für weiterführende Entwicklungen ist. Der Ort des Durchbruchs ist nicht vorhersehbar; er verrät durch nichts die dahinter sich neu eröffnende Dimension.« 47
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Fülle durch unsere Aussagen in unsere Logik des Mangels hineinholen und damit die Fülle, die er geben kann, zwangsläufig auch verendlichen und verstellen, können wir mehr von ihm erhoffen, als wir sagen und denken können – auch, dass das, was wir (aufgrund unserer unzureichenden Vorstellungen) erhoffen, geschieht, indem es uns beteiligt. 49
3.4 Einseitigkeit oder Gegenseitigkeit? Nehmen wir also an, Gott gibt allen aus seiner Überfülle, die nicht zur Neige geht, aus der er uns daher geben, befreien und vergeben kann; dass er uns nicht nach einem Gesetz beurteilen muss, das Gerechtigkeit schafft innerhalb einer Logik und Realität des Mangels. Könnten wir dann die Überfülle Gottes erfahren, wären wir dann wirklich ganz in sie hineingenommen? Oder bliebe dann nicht Gott doch wieder der ganz und gar Superiore, dessen Zuwendung wir völlig unverdient empfingen, dem wir daher nie ebenbürtig antworten und zurückgeben können? Mit dem wir auch keine echte Gemeinschaft haben können, weil wir uns angesichts seiner doch immer schlecht und kleinlich fühlen müssten. 50 Gerade im Hinblick auf eine eschatologische Wirklichkeit gewinnt die Frage nach Einseitigkeit und Gegenseitigkeit an Bedeutung. Ist die Logik der Ökonomie wirklich so radikal auszuschließen für eine erfüllende Beziehung zwischen Gott und Mensch? Wer möchte schon – in äußerste Passivität versetzt – universal überschüttet werden mit der Güte des bonum diffusivum sui und nicht zumindest auch als er selbst, gerade weil er so und nicht anders ist, geliebt werden? Und vielleicht hat dieser Wunsch gerade im Horizont von Über-
Wenn sich Überfülle gerade darin manifestiert, dass sie nicht in sich bleibt, sondern sich nach außen gibt, ist damit auch verbunden, dass sie sich erlauben kann, dass das, was aus ihr Leben erhält, eigene Wege geht, die mitunter in den Mangel hineinführen, die aber nirgendwo anders als in der Überfülle enden können, da diese nirgends zu Ende ist. 50 Damit stoßen wir theologisch erneut auf das Problem, das vor allem Derrida aus philosophischer Sicht in seiner Kritik an Mauss hervorgehoben hat: nämlich die Abhängigkeit, in die ein Empfangen der Gabe führt. Vgl. Marcel Mauss, Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften, mit einem Vorw. von E. E. Evans-Pritchard, übers. von E. Moldenhauer, Frankfurt a. M. 21994; Jacques Derrida, Falschgeld. Zeit geben I, übers. von A. Knop / M. Wetzel, München 1993. 49
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fülle auch einen Anhalt, der diesen Wunsch aus der Konkurrenz mit anderen löst? Dazu ergeben sich aus dem Bisherigen folgende (zugegebenermaßen allerdings spekulative und nicht anders als äußerst anthropomorph auszudrückende) Überlegungen: Gott ersehnt (wie Meister Eckhart und Rombach denken) wirklich die Einheit mit den Menschen und tritt deswegen sogar als Jesus Christus selbst in die Welt ein. 51 Daher ist die Inkarnation Gottes um der Menschen willen nicht allein vom Kreuz her als Selbstaufopferung Gottes zu verstehen, sondern zumindest auch von einem ursprünglichen Impetus der Freude Gottes daran, am Leben der Menschen teilzunehmen. Aus demselben Übermaß der Zuneigung wäre dann zu erklären, dass er dafür in Kauf nimmt, auch das Opfer dieser Menschen zu werden (selbst wenn er diese Konsequenz voraussah). Damit soll die Inkarnation nicht als Selbsterprobung Gottes verharmlost und das Leben des Mannes Jesus von Nazaret instrumentalisiert werden, sondern die Kategorie der Überfülle hinsichtlich ihrer Möglichkeiten, das Gottesverhältnis des Menschen und das Menschenverhältnis Gottes zu bestimmen, ausgelotet werden: Als Kategorie über allen Kategorien setzt sie Hierarchien außer Kraft und den status quo in Bewegung. Wenn der Gehalt der Gabe Gottes an die Menschen er selbst in seiner Überfülle ist, dann konkurriert diese Gabe nicht mit anderen kategorialen Gaben auf der Ebene der Welt und auch nicht mit dem, was wir selbst geben können. Während Reichtum und Fülle den Empfänger sich seiner Kleinheit bewusst werden lassen und ihn erdrücken können, erfüllt sich-gebende Überfülle so, dass sie dem Empfänger zu eigen wird, als hätte er sie schon von jeher besessen, und ihn zum erstarkten und ebenbürtigen Geber werden lässt. Ähnlich beschreibt Meister Eckhart Überfülle als Ausdruck für eine Beziehungsdynamik, in der Einheit und Unterschiedenheit sich nicht ausschließen. 52 Könnte es daher nicht sein, dass Gott, gerade weil er um die Ungleichheit weiß, mit der der Mensch vor ihm steht, nicht auf den Empfang unserer Gegengaben bzw. Antworten verzichten möchte und uns befähigt, unserer Verpflichtung ihm gegenüber nachkommen zu können? Wäre dies nicht ein unaufgebbarer Bestandteil eines Vgl. Rombach, System, 202; vgl. weiter ebd.: Gott verschmähe, »in der Wohlbehütetheit seines Wesens zu bleiben«. 52 Vgl. z. B. Meister Eckhart, DW I (Pr. 23), 401 f. 51
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befreiten und erlösten Lebens? Ausgehend von dem, was oben über den innersten Wunsch Gottes, am Leben der Menschen teilzuhaben, gesagt wurde, lässt sich vielleicht noch positiver formulieren: Dass wir zu ihm kommen, das ist vielleicht tatsächlich das schönste Geschenk für Gott. Vergleichbar wäre unsere Situation Gott gegenüber dann etwa der eines Kindes, das zunächst zwar alles von den Eltern hat, doch trotz dieses Vorschusses auch selbst etwas wird und ihnen etwas (zurück-)geben kann. Und es ist ihre größte Freude, wenn aus dem Kind tatsächlich etwas wird und sie das miterleben dürfen. Es scheint mir lohnend, zum Schluss noch einmal auf Meister Eckhart zurückzukommen. Sein durchgängiges Paradigma für den Nachvollzug der Wirklichkeit der Überfülle Gottes, die anderes sein lassen kann, ist der Gerechte. Das verwundert, würden wir doch – mit Ricœur – einseitiges Handeln aus Überfülle, das sich anderen zuwendet, ohne zuerst nach einer Begründung oder Rechtmäßigkeit zu fragen, eher in der Barmherzigkeit bzw. Agape verorten. Nach Eckhart ist es aber gerade das Kennzeichen des Gerechtseins des Gerechten, dass er »ohne Warum« (also nicht haushaltend) lebt. Möglicherweise ist Eckhart hier mit der Priorisierung des »Gerechten« einer Intuition gefolgt, zu der auch die Beobachtung der Ambivalenz der Gabe tendiert: dass der Beschenkte, wenn er wirklich mit dem Geschenk gewürdigt werden soll, doch etwas wie einen Anspruch auf das Beschenktwerden haben sollte. 53 Dann aber ist ein echtes Geschenk nicht barmherzig, sondern (lediglich) gerecht. Der Gerechte verwirklicht die Überfülle Gottes und damit Gottes Gerechtigkeit in seinem Leben, indem er davon ausgeht, dass auch der letzte Arbeiter im Weinberg seinen Lohn »verdient«. Daher sind für Eckhart letztlich Barmherzigkeit und Gerechtigkeit Gottes dasselbe, ja, Gott wäre nicht gerecht, wenn er nicht dasselbe für uns wollte und täte wie für sich selbst. 54 Das Denken der Überfülle erlaubt einerseits, Gaben nicht kleinlich abzumessen als entsprechendes Entgelt für eine Leistung, andererseits, zu geben in der Überzeugung, dass der BeDie Arbeit von Veronika Hoffmann, Skizzen zu einer Theologie der Gabe. Rechtfertigung – Opfer – Eucharistie – Gottes- und Nächstenliebe, Freiburg i. Br. 2013, öffnet den Weg, dies zu denken, insofern sie den Gabe-Diskurs konsequent von der einengenden Frage nach Einseitigkeit oder Wechselseitigkeit als einander ausschließenden Alternativen befreit und im Anschluss an Marcel Hénaff und Jürgen Werbick von der (göttlichen) Gabe als Gabe der würdigenden Anerkennung spricht (vgl. vor allem die Ausführungen zu Gabe und Rechtfertigung ebd., 285–346). 54 Vgl. Meister Eckhart, DW V (RdU), 187 f. 53
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schenkte die Gabe wert ist und er sie erwidern kann einfach dadurch, dass er lebt und Gott an seinem Leben teilhaben lässt. Denn dies, dass wir alle leben können in gegenseitiger Teilnahme am anderen statt in Konkurrenz, ist ja die Absicht und Freude Gottes in seiner Überfülle. Für die Eschatologie bedeutete das vielleicht Folgendes: Dass Gott uns die Augen dafür öffnen wird, dass jede/r, der/die bereits gewürdigt ist als sein Ebenbild, etwas geben kann, und deswegen auch »verdient« hat, der ganzen göttlichen Überfülle teilhaftig zu werden. 55
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Damit wäre zugleich jeder Widerspruch zwischen Gnade und Werk überwunden.
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Die Besonderheiten einer christlichen Gabe-Theologie erschließen sich durch einen Vergleich
Eine christliche Gabe-Theologie setzt einerseits ein bestimmtes Gottesbild voraus und kann unter dieser Voraussetzung gedacht werden, dass sie den ökonomischen Prozess von Gabe und Gegengabe außer Kraft setze. Wenn der monotheistische Gott, wie ihn die Theologin und der Theologe als Regisseur des Dramas Heilsökonomie agieren lassen, lauter Güte ist, dann stehen Fragen der Gabenökonomie erst in zweiter Ordnung. Theodizee, der Deus absconditus und der »Fröhliche Tausch« Luthers stellen Grundfragen. Wenn der gute Gott den Menschen nur gute Gaben zuteilt, liegt es dann an den Menschen, auch im Unglück und in der vermeintlichen Strafe Gottes Güte zu erkennen? Das »christliche Gottesbild« des »voraussetzungslos schenkenden« Gottes entwirft als Gegenbild, als Negativfolie, das Verhältnis Mensch-Gott in polytheistischen Religionen mit der These vom »Do ut des«. Die Menschen aus dem Heidentum hätten die Götter durch den fortgehenden Korruptionsversuch der Gabe und des Opfers bestechen wollen, ihre Wünsche zu erfüllen. Das im Folgenden behandelte Beispiel aus der Antike von Pandora, der personifizierten Freigiebigkeit der Götter, stellt die Gabe Gottes in ein anderes Licht und stellt Fragen zu den Voraussetzungen der christlichen Gabe-Vorstellung.
1.1 Die Gabe – aus der Sicht von Mauss und der Durkheim-Schule Wenn man nun den ethnologischen Gabediskurs vergleichend dagegen hält, dann kommt man nicht auf eine einfache anthropologi222
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sche Beschreibung, die soziologisch-ökonomische Prozesse auf der fundamentalen Ebene beschreibt, gewissermaßen abbildet, sondern wir bewegen uns auch hier in einem voraussetzungsvollen Diskurs. Marcel Mauss schrieb 1923/24 seinen Essai sur le don 1 ohne eigene Felderfahrung, rezipiert die Beobachtungen, die Vertreter der viktorianischen englischen social anthropology gemacht haben und die bereits vor ihm mehrfach gebrochen waren: Ein säkularer jüdischer Intellektueller Marcel Mauss reflektiert im laikalen Frankreich nach dem umstürzenden Weltkriegserlebnis die ethnologischen Feldforschungen eines als Mathematiker ausgebildeten Krakauer Katholiken Bronislaw Malinowski, 2 der in England beim großen Religionskritiker James George Frazer studiert hatte, 3 dessen Evolutionismus er mittlerweile aber kritisch sah, 4 im Lichte der laikalen Religionstheorie seines Onkels und Meisters Émile Durkheim, der seinerseits seine Theorie über die ›elementare‹ Religion 5 aus den Ethnographien zweier englischer Kolonialbeamter in Australien konstruiert, 6 die er aber gefiltert und interpretiert wahrnimmt über den schottischen Aufklärer William Robertson Smith. Religion reduziert die Durkheim-Schule um die année sociologique im französischen Diskurs auf le sacré. Noch etwas anders als Ru1 Marcel Mauss, Essai sur le don. In: ASoc ns 1 (1923/24), 30–186. Dt.: Die Gabe. Form und Funktion des Austausches in archaischen Gesellschaften, Frankfurt a. M. 1968. Dasselbe in ders., Soziologie und Anthropologie, hg. von Wolf Lepenies / Henning Ritter, Bd. 2, München 1975 = Frankfurt a. M. 1997, 9–144; Wissenschaftsgeschichtliche Einordnung: Stephan Moebius, Die Religionssoziologie von Marcel Mauss. In: Zeitschrift für Religionswissenschaft 19 (2011), 86–147 (entspricht etwa dem Nachwort dess. zu: Marcel Mauss, Schriften zur Religionssoziologie, hg. von Stephan Moebius, Berlin 2012, 617–682). 2 Bronislaw Malinowski, Argonauten des westlichen Pazifik. Ein Bericht über Unternehmungen und Abenteuer der Eingeborenen in den Inselwelten von MelanesischNeuguinea, Frankfurt a. M. 1984 (engl. Originalausgabe 1922). 3 Zu Frazers Evolutionsschema: Die primitive Magie war rationaler als die Illusion, die die Religion mit den personalen Göttern verbreitete. Sigmund Freud entwickelt seine Religionskritik in Totem und Tabu (1912/13) aus der Lektüre von Smith und Frazer. Kurz mit der Forschungsliteratur vgl. Christoph Auffarth, Art. Königtum, sakrales. In: Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe 3 (1993), 286–389. 4 Bronislaw Malinowski, Magie, Wissenschaft und Religion und andere Schriften, Frankfurt a. M. 1973 (engl. Originalausgabe 1924), 286–289. 5 In Durkheims Spätwerk, Les formes élémentaires de la vie religieuse: le système totémique en Australie, Paris 1912, dt. Frankfurt a. M. 1981. 6 Francis James Gillen / Walter Baldwin Spencer, The Native Tribes of Central Australia, London 1899; dies., The Northern Tribes of Central Australia, London 1904; posthum: The Arunta: a Study of a Stone Age People, 2 Bd., London 1927.
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dolf Ottos »Das Heilige« grenzt er den (christlichen) Gottesbegriff völlig aus. Als überindividuelle und überzeitliche Macht, als ›Jenseits‹ dient die Gesellschaft. Diese erfährt das Individuum allerdings nicht im Alltag, nicht im profanen Raum. Le sacré erfährt es nur in der effervescence des Festes, repräsentiert im Totem. Die Selbstwahrnehmung der Gesellschaft in der Performanz des Festes ist der Kern dessen, was Religion ausmacht. Das, was Götter – und im weiteren Verlauf der Entwicklung dann der eine Gott – genannt wird, ist nur Repräsentation, Symbol des Jenseits. Aber nicht im Sinne der Transzendenz einer von dieser Welt geschiedenen anderen Welt. Sondern der Werte der Gesellschaft, die über die alltägliche Profanität hinausgehen: die Gesellschaft als Nation, ihre Geschichte, ihre Aufführung in Nationalfeiertagen und besonders im Totengedenken. Die Rekonstruktion der ›ursprünglichen Religion‹ (élémentaire) dient der Rechtfertigung der laikalen Religion im post-revolutionären Frankreich um die Jahrhundertwende: 1905 wurde das Gesetz zur Trennung von Staat und Kirche beschlossen, der Laizismus. Dreyfus-Affäre und der katholische Antimodernismus mit der Einführung des Priestereids 1910 waren die großen Konflikte im Umkreis. 7 Wenn nun in der französischen Religionssoziologie »Gott« als personal gedachtes Gegenüber nicht mehr vorkommt, der aus der Transzendenz dem alltäglichen Kampf und Überleben seine ewigen Werte stellt, die Menschen beschenkt, aber auch auf die jenseitigen Werte verpflichtet, entsteht nun der Bedarf einer anderen Begründung für die Verpflichtung. Dafür führt Mauss den »Geist« der Gabe ein. 8 Daher funktioniert der Tausch von Geschenken nach anderen Gesetzen als der Handel von ökonomisch gleichwertigen Gütern. Nicht der ökonomische Wert, nach dem der Austausch mit dieser Gabe und Gegengabe abgeschlossen ist, sondern der »Ringtausch« von Zum Modernismus, besonders die Affäre um Alfred Loisy, vgl. Peter Neuner, Der Streit um den katholischen Modernismus, Frankfurt a. M. 2009. 8 Mauss, Die Gabe: »Das Wort hau bedeutet, wie das lateinische spiritus zugleich Wind und Seele, oder genauer die Seele und die Macht der unbelebten und pflanzlichen Dinge. Das Wort Mana ist den Menschen und Geistern vorbehalten.« (24, Anm. 26); »Unverfälscht Maori, durchdrungen von jenem noch unbestimmten, doch stellenweise erstaunlich klaren theologischen und juristischen Geist: ›Das taonga und alles streng persönliche Eigentum hat ein hau, eine geistige Macht; Sie geben mir ein taonga, und ich gebe es einem Dritten; dieser gibt mir ein anderes taonga dafür, weil er vom hau meines Geschenks dazu getrieben wird; und ich bin gezwungen, Ihnen diese Gabe zu geben, weil ich Ihnen zurückgeben muss, was in Wirklichkeit das Produkt Ihres taonga ist‹.« (24 f.). 7
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Geschenken begründet eine soziale Verpflichtung, die auch über den Tod des erst-schenkenden Individuums hinaus vom »Geist« des Geschenks eingefordert wird. Mauss’ Erklärungsmodell sagt viel über die französische Konzeption von Religion. Die Einführung des »Geistes« der Gabe übernimmt das Modell des Animismus und der ManaTheorie (und des Totemismus). Beide sind in der Ethnologie und Religionswissenschaft widerlegt und als Projektion einer zunächst christlichen Religionskritik, dann einer aufklärerischen Christentumskritik zu bewerten, werden aber in der Gabe-Diskussion weiter verwendet, ohne die Voraussetzungen zu reflektieren. Der Einspruch etwa Hénaffs, die Gabe sei das Medium der Kommunikation der Persönlichkeit, spricht das Problem an, löst es aber eher individualistisch. 9 Die scheinbare Evidenz aus der Ethnologie als der ›anthropologischen‹ Ökonomie lädt eine Analyse der ausdifferenzierten Gesellschaft der zweiten Moderne auf mit einer ethnologischen Konstruktion der Ökonomie einer face-to-face-Gesellschaft mit ihrer Knappheitsökonomie. 10
1.2 Gabe als Medium der Kommunikation: Reziprozität Die historische Gabenökonomie benötigt nicht den »Geist« der Gabe. Sie unterscheidet deutlich Gesellschaften der modernen Geldökonomie von den Regeln einer archaischen Gabenökonomie. Dort bemisst sich der Wert eines Geschenkes nicht nach seinem ökonomischen Wert, sondern nach der sozialen Stellung von Geber und Beschenktem. Das Geschenk des Gebenden wird vom sozial Höheren nicht mit Gleichwertigem vergolten. Die vielen Eier, Hühner, ein Krug mit Öl, das bestickte Tuch zur Hochzeit seiner Tochter, muss er Marcel Hénaff, Anthropologie der Gabe und Anerkennung. Ein Beitrag zur Genese des Politischen. In: Phänomenol. 31 (2009), 7–19. Umfassender die beiden Monographien von Marcel Hénaff, Le prix de la vérité: le don, l’argent, la philosophie, Paris 2002 (Der Preis der Wahrheit: Gabe, Geld und Philosophie, Frankfurt a. M. 2009); ders., Le don des philosophes: repenser la réciprocité, Paris 2012 (Die Gabe der Philosophen. Gegenseitigkeit neu denken, Bielefeld 2014). Dazu Burkhard Liebsch, (Rez.) Marcel Henaff – Der Preis der Wahrheit. Gabe, Geld und Philosophie. In: Philosophischer Literaturanzeiger 64 (2011), 52–62. 10 Vgl. die Kritik bei Wilfried Nippel, Die Heimkehr der Argonauten aus der Südsee. Ökonomische Anthropologie und die Theorie der griechischen Gesellschaft in klassischer Zeit. In: Chiron 12 (1982), 1–39. Leicht überarbeitet in ders., Griechen, Barbaren und »Wilde«, Frankfurt a. M. 1990, 124–151.175–179. 9
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nicht gewissermaßen ersetzen. Sondern es wird eine Gelegenheit kommen, da der sozial Höhere ein Gegengeschenk geben wird, das weit mehr wert ist als die vielen kleinen Geschenke zuvor. Und es ist oft nicht ein ökonomisch zu beziffernder Gegenstand (ein Goldring im Wert von 4000 Eiern), sondern er lässt seinen Einfluss gelten, spricht mit dem Richter, verschafft eine Lehrstelle für den Sohn, einen Goldring für die Tochter zur Hochzeit. In der Geldökonomie nennt man das Korruption, trifft damit aber nur einen Teilbereich der auch in der modernen Gesellschaft weiterhin für soziale Beziehungen wichtigen Kommunikations-Mittel für das Funktionieren sozialer Beziehungen. In der Gabenökonomie ist dafür ist der Begriff der Reziprozität eingeführt, den man folgendermaßen systematisch auffalten kann: • Reziprozität ist der Zentralbegriff der Gabenökonomie. • Er beschreibt die verpflichtende Gegenseitigkeit sozialer Beziehungen, die durch Gaben kommuniziert wird. • Diese Gegenseitigkeit ist nicht durch den Ausgleich von ökonomisch Gleichwertigem bestimmt, sondern durch die soziale Stellung in der Gesellschaft und sie wird nicht sofort beantwortet. Der sozial Höhere revanchiert sich bei einer Gelegenheit durch eine viel größere Gabe, oft durch seinen Einfluss bei seinem Netzwerk sozialer Beziehungen. Bei dieser Wechselseitigkeit, die sich von ökonomischem Handel unterscheidet (den es auch gibt), gleicht der sozial Höhere nicht eins zu eins den Wert des Geschenkes aus, sondern er wird bei Gelegenheit seine soziale Macht als Gegengabe spielen lassen. Das nennt man generalisierte Reziprozität. • Dieses Modell kann extrapoliert werden auf das Verhältnis von Menschen zu Göttern. Die Gaben und Opfer der Menschen werden von diesen nicht eins zu eins ersetzt oder unmittelbar beantwortet. Das Opfer ist nicht als Versuch der Korruption der Götter durch die Menschen zu entlarven: Das Opfer als ökonomischen Tauschprozess do-ut-des zu beschreiben, stellt eine Karikatur aus christlicher Polemik dar. Vielmehr gilt eher ein Do quia dedisti. Ich schenke etwas, weil ich die generalisierte Reziprozität erfahren habe und weiter auf die Gunst und Hilfe der Gottheit hoffen darf. Die Gabe stellt also eine Antwort in einer Kette von Reziprozität dar. • Eine systematisch zentrale Bedeutung hat in der Gabenökonomie schließlich die negative Reziprozität: Die Verweigerung 226
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oder Zurückweisung der Gabe zeigt an, dass die soziale Beziehung gestört ist. Oder der sozial Marginale erfährt Missachtung. Wer die Regeln der Gemeinschaft verletzt, wird durch Strafe oder ein negatives Geschenk geschädigt. Marcel Mauss’ Gabe lässt sich nicht als anthropologisch fundamentale Beschreibung weiter bearbeiten. Sie setzt Prämissen, die sich nicht auf die moderne ausdifferenzierte Gesellschaft übertragen lassen; sie führt vielmehr in einen sehr voraussetzungsvollen Diskurs. Gabenökonomie benötigt nicht den »Geist« inhärent in der Gabe, sondern lässt sich als soziale Kommunikation beschreiben auch auf der Ebene der Religion. Die Gefahren des Vergleichs hat Willfried Nippel deutlich gemacht, anspielend auf Malinowskis Feldforschung bei den »Argonauten« in der Südsee: Die Argonauten rudern zurück aus der Südsee in das archaische Griechenland. 11 Neben dem Vergleichbaren sind die Unterschiede herauszuarbeiten.
1.3 Rückfragen an ›christliche‹ Prämissen des Gabediskurses Mit diesem systematischen Begriffssystem der ganz anders funktionierenden Gabenökonomie wende ich mich nun einem historischen Beispiel zu. Es beschäftigt sich mit einer Hochkultur in SubsistenzWirtschaft, dem archaischen Griechenland des Hesiod; etwa gleichzeitig und nicht unähnlich der Gesellschaft der Propheten im IsraelJudaea des Micha. Dabei kann ich zurückgreifen auf eine umfassende Anwendung der Gabe und des Reziprozitätsmodelles. 12 Mit dem folgenden Beispiel stelle ich zum Vergleich und zur systematischen Erschließung des Gabe-Diskurses mit seinen christlichen Prämissen den Mythos der Pandora vor. Die Personifikation der Freigiebigkeit der Götter! Aber im Unterschied zum christlichen Gottesbegriff ist das frühgriechische Gottesbild nicht der von den Menschen unendlich verschiedene Eine Gott. Der eine Gott, der allein das Gute verkörpert. Der Gott, der außer jeder Konkurrenz zu den Menschen steht und
Vgl. Nippel, Argonauten. Vgl. Christoph Auffarth, Der drohende Untergang. »Schöpfung« in Mythos und Ritual im Alten Orient und in Griechenland am Beispiel der Odyssee und des Ezechielbuches, Berlin 1991.
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keiner Gegengabe bedarf. Der Gott, der nur das Gute will und dessen Gaben immer gut (gemeint) sind. Das griechische Gottesbild stellt eine Anfrage an die spekulativen Annahmen über die gute Gabe Gottes dar. Ist etwa der strafende Gott (die negative Reziprozität) nur ein menschelndes Missverständnis?
2.
Nicht alles, was die Götter schenken, ist gut
1. Wie fürs Stammbuch ewiger Weisheiten geschrieben hört sich der Zweizeiler aus Homers Ilias (3, 65 f.) an: οὔ τοι ἀπόβλητ’ ἐστὶ θεῶν ἐρικυδέα δῶρα ὅσσά κεν αὐτοὶ δῶσιν, ἑκὼν δ’ οὐκ ἄν τις ἕλοιτο· Nicht zu verwerfen sind ja der Götter ehrende Gaben, Soweit sie sie selber schenken. Kein Mensch kann sie sich von sich aus nehmen. Doch der Kontext im dritten Buch der Ilias lässt den schönen Satz zumindest als Ironie erscheinen: Ja, der attraktive junge Mann, Paris, Prinz von Troia, hat eine besondere Gabe: Er kann Frauen verführen. Das war der Anlass für den Krieg vor Troia: Er verliebte sich bei seiner Reise nach Sparta in die dortige Königin und die beiden segelten heimlich vor dem Ehemann Menelaos in die Heimat des Paris/ Alexandros. Aber der Ehemann verlangt die Frau zurück, organisiert mit seinem Bruder Agamemnon eine kriegerische Expedition nach Troia. Dort, in der unausweichlichen Realität des Krieges und des Kampfes auf Leben und Tod, hilft ihm seine gewinnende Art nichts. Jetzt wäre sein zweiter Name das Omen: Alexandros, »der die Helden in Schach hält«. Jetzt, zum Zweikampf herausgefordert, wenn es um Leben und Tod geht, und nicht nur um das Leben des Individuums Paris, sondern um Griechen gegen Troianer, da kneift Paris. Er hat nicht die Gabe der Götter zum athletisch-militärischen Kampf. Auch ein Training hilft da nicht. Der Frauenschwarm ist zum Kämpfen nicht geeignet. Da fällt dieser gnomische Satz. Paris ist als Kämpfer für sein Volk nicht fähig, die Götter haben ihm diese Gabe nicht geschenkt; und selbst kann er sie sich nicht erwerben. Auf der Götterebene, die in der Ilias immer parallel zu den kriegerischen Ereignissen erzählt wird, spiegelt sich das Gleiche: Die schönste und erotischste unter den Göttinnen, Aphrodite, befreit, wie nur eine Göttin es kann (3, 380 f.), ihr menschliches Modell aus der lebensgefährlichen Situation. Später gerät sie 228
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selbst in eine solche Situation und Diomedes verwundet die Unsterbliche 5,334–343; 5,352–459. – Apuleius verwendet Mitte des 2. Jahrhunderts in seiner Verteidungsrede (apologia pro se de Magia; 158/159 n. Chr.) 13 diesen Satz aus Homers Ilias. Wenn Apuleius sie zitiert, dann zutiefst sarkastisch. Sein Gegner verfüge nicht über die für das Gerichtsverfahren notwendigen Gaben und er könne sie auch nicht durch juristische Ausbildung erwerben. Er ist ein Versager! Die Götter und ihre Gabe sind dabei nicht sehr herausgehoben. Wir würden von Begabung oder Talent sprechen, die kein Subjekt des Gebers benötigt. Dass da einmal im pietistischen Wortschatz Gott als Geber mitgedacht war, hat sich verflüchtigt. 14 2. Die zwei pithoi Tonfässer in Ilias 24, 527–533. 15 Sie enthalten das eine alles Gute, das andere alles Schlimme. δοιοὶ γάρ τε πίθοι κατακείαται ἐν Διὸς οὔδει δώρων οἷα δίδωσι κακῶν, ἕτερος δὲ ἑάων· ᾧ μέν κ’ ἀμμίξας δώῃ Ζεὺς τερπικέραυνος, ἄλλοτε μέν τε κακῷ ὅ γε κύρεται, ἄλλοτε δ’ ἐσθλῷ· ᾧ δέ κε τῶν λυγρῶν δώῃ, λωβητὸν ἔθηκε, καί ἑ κακὴ βούβρωστις ἐπὶ χθόνα δῖαν ἐλαύνει, φοιτᾷ δ’ οὔτε θεοῖσι τετιμένος οὔτε βροτοῖσιν. Denn es stehn zwei Fässer gestellt an der Schwelle Kronions, Voll das eine von Gaben des Wehs, das andre des Heiles. Wem nun vermischt austeilet der donnerfrohe Kronion, Solcher trifft abwechselnd ein böses Los, und ein gutes. Wem er allein des Wehs austeilt, den verstößt er in Schande; Und herznagende Not auf der heiligen Erde verfolgt ihn, Weder von Göttern geehrt noch Sterblichen, bang’ er umherirrt. Apuleius, apologia pro se de Magia 4,2. Leicht verfügbar ist die Ausgabe von Rudolf Helm (Hg.), Apuleius Verteidigungsrede, Lat. und dt. (SQAW 36), Berlin 1977. 14 Vgl. Christoph Auffarth, Talente muss man entwickeln! Aufklärung, Erziehung und Gehorsam in der Pädagogik um 1800. In: Tobias Georges / Jens Scheiner / Ilinca Tanaseanu-Döbler (Hg.), Bedeutende Lehrerfiguren. Von Platon bis Hasan al-Banna, Tübingen 2015, 295–331. 15 So vor allem (Plutarch) consolatio ad Apollonium 7 (mor. 105 B–E). Immanuel Musäus, Der Pandoramythos bei Hesiod und seine Rezeption bis Erasmus von Rotterdam (Hyp.S. 151), Göttingen 2004, 119–121. 13
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Seit dem antiken Philologen, der im hellenistischen Alexandria Homer-Kommentare schrieb für die Leser, die den alten Sitz im Leben nicht mehr kannten, Aristarch (216–144 v. Chr.), wird angenommen, dass Hesiod sich intertextuell auf diese beiden Fässer in der Ilias bezog und darauf seine Darstellung aufbaute. Ohne dies näher zu prüfen: Woher kommt das Tonfass (Pithos) in Hesiods Mythos? Der ›Philologenstreich‹ des Aristarch behauptet »aus der Ilias«! 16 Die Unterschiede sind jedenfalls beträchtlich: Im folgenden Mythos des Hesiod gibt es nur ein Fass, das die Gaben der Götter enthält. Alle sausen heraus und bringen Unglück in die Welt. Aber es bleibt etwas zurück: die Hoffnung. Ist also das einzige Fass bei Hesiod das Fass der Schrecken aus der Ilias? 17 Alles, alle Gaben der Götter sind im selben Fass, aber nur die schlimmen werden genannt?
3.
Pandora – die Freigiebigkeit in Person
Den berüchtigten Mythos von der Gabe, die sich für die Menschen als schädlich erweist, 18 hat im archaischen Griechenland der Dichter Hesiod gleich zwei Mal gestaltet: 19 ausführlicher in seinem Epos Werke Vgl. Musäus, Pandora 2004, 67–94; Wolfgang Rösler, Der Pandora Mythos bei Hesiod. In: Heinz-Peter Preußer / Françoise Rétif / Juliane Rytz (Hg.), Pandora. Zur mythischen Genealogie der Frau, Heidelberg 2012, 47–54, 54. Das Scholion [antiker Kommentar] zu Hesiod opera 94a findet sich zitiert und übersetzt bei Musäus, Pandora, 67 f. 17 Zum Verhältnis zwischen Ilias und Hesiods Erga hat sich gegenüber der älteren Meinung, die Ilias sei das älteste Epos, Hesiod und Odyssee etwa gleichzeitig, jetzt ein Modell der Intertextualiät herausgestellt: Die Ilias ist sicher erst im 6. Jh. fertiggestellt worden. Walter Burkert, Das hunderttorige Theben und die Datierung des Ilias. In: Wiener Studien 89 (1976), 5–21. Martin L. West, The making of the Iliad. Disquisition and analytical commentary, Oxford 2011; ders., The Date of the Iliad. In: Museum Helveticum 52 (1995), 203–219. Aber als Text waren viele Stücke sicher schon lange bekannt, so dass Hesiod darauf Bezug nehmen kann. Die Abhängigkeit Hesiods von der Ilias stellen Musäus und Rösler in Frage. Aber das Modell der Intertextualität ist offener als Zitat / Vorlage und Verarbeitung / Rezeption. Sehr gute Einführung von Frauke Berndt / Lily Tonger-Erk, Intertextualität (GGerm 53), Berlin 2013, dort 79–98. 18 Der durchaus eigenständige Mythos in der Ikonographie in sehr guten Abbildungen und Kommentaren in: Ellen D. Reeder (Hg.), Pandora. Frauen im klassischen Griechenland, Mainz 1996, 277–286. 19 Text und Kommentare: Hesiodi Theogonia, opera et dies, scutum, hg. von Friedrich Solmsen, Oxford 1970; Fragmenta selecta, hg. von Reinhold Merkelbach / Martin L. West (OCT) Oxford 1970, 31990. Martin L. West (Hg.), Hesiod, Theogony, Oxford 16
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und Tage (ἔργα καὶ ἡμέραι), knapper in seinem Welt- und Kulturentstehungsepos Theogonie (θεογονία). 20 Zum argumentativen Kontext: Die Etymologie des Namens: Die Bedeutung Pandora (Πανδώρη) stellt zwei Glieder zusammen: τὸ δῶρον doron das Geschenk und das Verb dazu δωρέω schenken; sowie παν pan- alle(s). Es lässt sich aber nicht ganz eindeutig klären, 1. Wer schenkt hier wem? Ist -dora passiv zu verstehen, weil die Götter alle ihr etwas geschenkt haben, wie aus dem Kontext hervorgeht: die mit allem – oder von allen – Beschenkte. Passiv ist von der Form her möglich. Namensformen wie Isidor, Heliodor, Theodor belegen diese Möglichkeit. 2. Etymologisch möglich ist aber auch eine aktive Bedeutung, »die alle beschenkt« oder »die mit allem beschenkt«. Hesiod gibt beide Erklärungen, wenn er Pandora erklärt: Alle Götter hätten der schönen femme fatale ein Geschenk mitgegeben (Erga 81 f.), aber auch, dass sie alles verteile (101 f.). – Der Name findet sich außer im Pandora-Mythos sonst als Epiklese der beiden Unterweltgöttinnen Gaia und Hekate: Die Götter der Unterwelt sind freigiebig, indem sie den Wurzeln Nahrung geben, aber sie verlangen dann dafür alles Leben. 21 Zwar ist die Rezeption des Pandora-Mythos in der europäischen Kunst immer von einer »Büchse« der Pandora ausgegangen, 22 aber das beruht auf einer Fehlübersetzung des Erasmus. In seinen adagia (Sprichwörtern) verwendet er – anstelle des in der lateinischen Literatur schon als dolium wiedergegebenen Wortes – hier pyxis, das kleine runde Gefäß für Parfüm u. ä. 23 Erst der energische Wider1966; ders. (Hg.), Hesiod, Works and Days, Oxford 1978; W. J. Verdenius, A Commentary on Hesiod Works and Days (MnS 86), Leiden 1985; Hesiods Erga. Erklärt von Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, Berlin 1928. 20 Zu den Unterschieden vgl. Jula Kerschensteiner, Zu Aufbau und Gedankenführung von Hesiods Erga. In: Hermes 79 (1944), 149–191; zum Pandora-Abschnitt (erga 42– 105) 157–166. Ob die Hoffnung ein Übel oder ein Gutes ist, bleibe bedeutungslos: »sie ist trügerisch, weil sie nicht herauskann.« (162). 21 Vgl. Orph. Arg. 974–999; Aristophanes aves 971 mit Scholion. William A. Oldfather, Pandora. In: Revue des études anciennes 36,2 (1949), 529–548. Ruth Harder, Art. Pandora. In: Der neue Pauly 9 (2000), 236 f. 22 Vgl. Dora Panofsky / Erwin Panofsky, Die Büchse der Pandora. Bedeutungswandel eines mythischen Symbols (BollS 52), Princeton 1956, 21961. 1965; dt. Frankfurt a. M. 1992. Neuere Rezeption bei Richard Kannicht, Pandora. In: Heinz Hofmann (Hg.), Antike Mythen in der Europäischen Tradition, Tübingen 1999, 127–151. 23 Erasmus Adagia 1,1,31 cum pyxide pulcherrima … intus omne calimatatum genus Die Gabe
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spruch von Jane Harrison klärte den Fehler auf. 24 Pandora hantiert an einem Pithos (πίθος); ob sie ihn auch mitschleppt (was bei einer Büchse leicht möglich wäre), woher der kommt, steht nicht im Text. Ein Pithos ist ein bis fast mannshoher Vorratsbehälter, in dem die Köstlichkeiten der mediterranen Agrikultur aufbewahrt und Mal um Mal entnommen werden können in der Zeit der Kargheit: Dort sind Getreide, Olivenöl gegen Sonne und Hitze, gegen Mäuse und Spinnen geschützt im dickwandigen Tongefäß, und der Wein reift darin, bis er im Frühjahr am Fest der Pithoigia geöffnet wird. 25 Die Frage, woher kommt das Tonfass, wird von Hesiod nicht erklärt. Aber im Gegensatz zu der »Büchse der Pandora« muss der Pithos nicht »aus dem Himmel« kommen – ein transzendenter Bereich ist ja in diesem Mythos gar nicht denkbar. So lässt sich auch die Vermutung äußern, der Pithos gehöre schon vorher ins Haus der Epimetheus, die Tat der Pandora bestehe darin, den Deckel aufzumachen. 26
4.
Pandora – die griechische Eva: Vergleich Genesis – Hesiods Erga
Geschenke dienen nicht nur der ökonomischen Verteilung, sondern in der Gabenökonomie zeigen sie soziale Hierarchie. An Pandora lässt sich zeigen, wie das Geschenk die Grenze zwischen Menschen und Gott festlegt. Menschen sind nicht gleich Gott. Gott zieht die Grenze, aber die Menschen überschreiten sie, angeregt durch einen Trickster. Denn die Götter sind nicht bereit, die Gabe ihres göttlichen Lebens mit den Menschen zu teilen. Die Realität menschlichen Lebens ist: Menschen sind nicht unsterblich, Menschen werden krank, Menschen müssen für ihren Lebensunterhalt schuften. Menschen sind keine Götter! Da die Götter ihre privilegierten Gaben nicht mit den Menschen teilen wollen, rät im Fall der Genesis 27 der Trickster, das ist die occulente. Gut herausgearbeitet bei Musäus, Pandora, 117 f.; West, Hesiod, zu Hes. erga 94 führt Erasmus’ Veränderung zurück auf die Büchse der Psyche bei Apuleius. 24 Vgl. Jane Harrison, Pandora’s Box. In: Journal of Hellenic Studies 20 (1900), 99– 114. 25 Vgl. Auffarth, Untergang, 202–276. 26 Vgl. Wolfgang Rösler, Der Pandora Mythos bei Hesiod, 53 f. 27 Vgl. Jan N. Bremmer, Pandora or the Creation of a Greek Eve. In: Gerard Luttikhuizen (Hg.), The Creation of Man and Woman. Interpretations of the biblical narra-
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Schlange, die Menschen könnten sein wie Gott, wenn sie nur von den Früchten der Bäume das nehmen, was Gott zu Gott macht: Vom Baum des Lebens die Frucht der Unsterblichkeit; vom Baum der Erkenntnis Gottes Allwissenheit. 28 Sie sind drauf und dran, die Grenze zwischen Gott und Mensch zu überschreiten. Das lässt Gott nicht zu. Durch negative Reziprozität schneidet er den vertrauten Umgang zwischen Gott und Mensch ab und depotenziert sie. Die Realität der Menschen umfasst harte Arbeit und den Tod, für die Frauen das Gebären unter Schmerzen und ihre Unterordnung unter das Patriarchat. Die Menschen müssen Gottes Überlegenheit anerkennen. So wie die Schlange: Sie war klüger als alle Tiere und damit der menschlichen Intelligenz nahe. Sie ist dabei, die Grenze zwischen Tier und Mensch zu überschreiten. Sie wird nun depotenziert unter die anderen Tiere: keine Beine und ihre Nahrung ist der Staub. Auch die Pandora-Geschichte handelt von den ersten Menschen. 29 Da Gott im Mythos bei Hesiod den Menschen die Anerkennung als gottgleich verweigert, handelt der Trickster Prometheus: Er nimmt weg und gibt den Menschen, was nur den Göttern gehört. Das sind die beiden Mythen, die der Erschaffung der Pandora vorausgehen. Zweimal überschreitet er die Grenze, die die Anerkennung der sozialen Stellung erfordert hätte: (1) Der Opfertrug von Mekone. Er teilt den Göttern Haut und Knochen, den Menschen aber das Fleisch zu. Das ist der Zeitpunkt, »als sich die Götter und die Menschen schieden.« – (2) Der Diebstahl des Feuers. Das Privileg, das die Götter nicht aus freiem Willen mit den Menschen zu teilen bereit sind, diese Gabe stiehlt der menschenfreundliche Götterkenner Prometheus. Jetzt sind die Menschen nahe an der Existenz der Götter. Die gegen den Willen der Götter genommene, nicht geschenkte Gabe muss mit einer negativen Gabe vergolten werden. 30 In einer Subsistenz-Wirtschaft sind Geschenke sehr knapp: Die Ökonomie wirft so wenig Surplus ab, dass eine Gabe Verdacht erregt. Prometives in Jewish and Christian traditions (Themes in Biblical Narrative: Jewish and Christian Traditions 3), Leiden 2000, 19–33. Die exegetische Literatur zur »Paradiesgeschichte« in ihrem altorientalischen Kontext kann ich hier nicht ausbreiten. 28 Gen 3 spricht zunächst nur von der Frucht am Baum der Erkenntnis. Im Lauf der Erzählung wird aber klar, dass die Menschen auch sterben müssen. 29 Zu Prometheus und Pandora als griechische »Adam und Eva« vgl. West, Hesiod zu Hes. erga 81. 30 Vgl. Walter Burkert, Vergeltung zwischen Ethologie und Ethik. Reflexe und Reflexionen in Texten und Mythologien des Altertums, München 1994. Die Gabe
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theus hat seinen Bruder gewarnt. Aber der erotischen Anziehungskraft der für ihn erschaffenen Frau kann er nicht widerstehen. Und tatsächlich, als Pandora den Deckel hebt, entweichen die Übel, die die Menschheit quälen: Krankheit, Leiden, Tod. Was aber bedeutet die Hoffnung, die gerade noch im Fass bleibt? Kannicht deutet sie als ein weiteres Übel: »die anderen Übel schweifen durch die Menschheit« heißt es bei Hesiod, erga 100. Kannicht schließt aus dem »die anderen«, dass auch die Hoffnung ein Übel ist; er geht sogar so weit: »Hätten die … Menschen die Hoffnung nicht, so würden sie diese Übel gar nicht als solche fürchten und erleiden, sondern ohne die Vorstellung von einer möglichen Alternative einfach dumpf hinnehmen.« 31 Allerdings lässt sich der Satz auch anders verstehen, wenn man ein Komma dazwischen setzt: »die Anderen, die Übel, …« Die Hoffnung lässt sich auch als ein Gut verstehen. Wenn es heißt, es bleibe etwas im Fass, dann ist die Hoffnung eine Substanz und nicht die »leere, nichtige Hoffnung«. Dies führt zu einer neuen Interpretation der »Hoffnung« als Saatgut für das kommende Jahr. Dann ergibt sich auch ein neues Bild vom Frauenhasser Hesiod. In der Ökonomie einer bäuerlichen Familie hat die Frau die Aufgabe, den Deckel drauf zu halten. Die Hoffnung muss im Tonfass bleiben. »Die Hoffnung« sei, so interpretiert Rösler im Anschluss an Baudy, das Saatgetreide für das nächste Jahr, 32 das als Mindestreserve im Fass bleiben muss. Es darf unter keinen Umständen, und wenn das Leben noch so karg wird, ausgegeben werden. Dass dieser not-wendige Rest, der für das Überleben des nächsten Jahres unbedingt bleiben muss, im Fass verbleibt, dafür sorgt im letzten Moment Pandora. Fast hätte sie alles verschenkt (und damit ihrem Namen recht gegeben), aber gerade noch gelingt es ihr, die »Hoffnung« unter dem Deckel zu halten! Zu fürchten sind aber die, die im Überfluss leben und geben. Das sind zum einen die Regierenden, Hesiod nennt sie die »geschenkefressenden Könige«. 33 Im Rechtsstreit mit seinem Bruder setzt dieser das Mittel der Korruption ein. Hesiod dagegen verlangt Gerechtigkeit und ist nicht bereit, »Geschenke« zu geben. Gerechtigkeit, nicht durch Geschenke erkaufte Gefälligkeit soll herrschen. 34 Zum zweiten Kannicht, Pandora, 147. Vgl. Jakub Krajczynski / Wolfgang Rösler, Die Substanz der Hoffnung: Zum Pandora-Mythos in Hesiods Erga. In: Phil 150 (2006), 14–27; Wolfgang Rösler, Der Pandora Mythos bei Hesiod. 33 Hes, erga 39 f.221.264. βασιλῆας δωροφάγους. Vgl. West, Hesiod zur ersten Stelle. 34 Vgl. Auffarth, Untergang, 524–558. 31 32
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Pandora: Vorsicht vor Gottes Freigiebigkeit!
aber sind die Götter »geschenkefressend«. Dank der Geschenke der Menschen leben sie auch im Überfluss. Aber wenn sie Überfluss zurück schenken, dann müssen die Menschen argwöhnisch werden.
5.
Der Mythos als Gedankenexperiment
Die menschliche Existenz ist durch harte Arbeit für den Lebensunterhalt, Streit, Krankheit und Tod gekennzeichnet. Wie kommt das? Die Utopie eines leidlosen, stressfreien, unsterblichen Lebens ist im Bild der Götterwelt präsent. Warum können die Menschen nicht ein Leben wie die Götter haben? Dazu nun der Mythos als Gedankenexperiment: Was wäre, wenn … ? Dieses Experiment wird narrativ durchgespielt durch die fiktionale Erzählung, den Mythos: Es gab einmal diese Zeit, da Menschen und Götter gemeinsam lebten und in vertrautem Umgang. Die Menschen lebten ohne Krankheit und Leiden (erga 90–92), aber sie wollten mehr: Ein Trickster blies ihnen ins Ohr: Das ist ungerecht, dass die Götter sozial besser gestellt sind: Verweigert die Anerkennung! Eritis sicut Deus. Ihr werdet sein wie Gott. Das Ergebnis des Experiments: Die Anerkennung der Götter ist notwendig für das Leben, denn sie sind überlegen und wer sie nicht in ihrer Übermenschlichkeit anerkennt, wird die Gabe der Götter als negative Reziprozität erfahren. Besonders wenn die Götter reichlich geben, ist Vorsicht geboten. Eine junge schöne reizende Frau und ein ganzes Tonfass voll Vorräten. Epimetheus vergisst die dringende Warnung seines Bruders Prometheus, dass das Fass die negative Reziprozität der Götter sein muss dafür, dass der Trickster Prometheus den Göttern zwei Mal etwas nahm, was ihre Überlegenheit gegenüber den Menschen ausmachte. Dem Charme der Frau, dem Angebot des Reichtums kann er nicht widerstehen. Und damit ist der heutige Zustand menschlicher Existenz gegeben. Die fehlende Anerkennung, die Gaben des Opfers, die nicht der sozialen Hierarchie entsprechen, führen dazu, dass die Götter durch eine negative Gabe, die scheinbar großzügige Gabe einer liebreizenden Frau »Überfluss«, das Leben der Menschen so eingerichtet haben, dass der Unterschied zwischen Gott und Mensch klar ist: Menschen sind nicht wie Gott. Sie müssen das anerkennen.
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Pandora (Hesiod Erga 47–101) 35 ἀλλὰ Ζεὺς ἔκρυψε, χολωσάμενος φρεσὶν ᾗσιν, ὅττί μιν ἐξαπάτησε Προμηθεὺς ἀγκυλομήτης. τοὔνεκ᾽ ἄρ᾽ ἀνθρώποισιν ἐμήσατο κήδεα λυγρά· κρύψε δὲ πῦρ· τὸ μὲν αὖτις ἐὺς πάις Ἰαπετοῖο 50 ἔκλεψ᾽ ἀνθρώποισι Διὸς παρὰ μητιόεντος ἐν κοίλῳ νάρθηκι λαθὼν Δία τερπικέραυνον.
Doch Zeus behielt es bei sich, ergrimmt in der Tiefe des Herzens, dass ihn Prometheus betrogen hatte, der schlaue Hund; Dafür also erdachte er für die Menschen schmerzvolle Leiden. Er versteckte das Feuer; Und wieder stahl das für die Menschen 50 Iapetos’ kluger Sohn von Zeus, dem Planer, im Mark des Narthex, ohne dass es Zeus, dem Blitz-Herrn, auffiel.
τὸν δὲ χολωσάμενος προσέφη νεφεληγερέτα Ζεύς· »Ἰαπετιονίδη, πάντων πέρι μήδεα εἰδώς, χαίρεις πῦρ κλέψας καὶ ἐμὰς φρένας ἠπεροπεύσας, 55 σοί τ᾽ αὐτῷ μέγα πῆμα καὶ ἀνδράσιν ἐσσομένοισιν. τοῖς δ᾽ ἐγὼ ἀντὶ πυρὸς δώσω κακόν, ᾧ κεν ἅπαντες τέρπωνται κατὰ θυμόν, ἑὸν κακὸν ἀμφαγαπῶντες.«
Ihn aber sprach erbost der Herr der Gewitter, Zeus, an: »Sohn des Iapetos, schlauester Erfinder vor allen andern! 55 Du freust dich, dass du das Feuer gestohlen und mich schlau hintergangen, Dir selbst großes Leid und auch für die kommenden Generationen Menschen werde ich als Gegengabe für das Feuer schenken: ein Übel, das allen Freude bereitet im Herz, wenn sie ihr eigenes Übel umarmen.«
ὣς ἔφατ᾽, ἐκ δ᾽ ἐγέλασσε πατὴρ ἀνδρῶν τε Sprach’s, und lachte laut, der Vater der Menschen θεῶν τε. und Götter. 60 Ἥφαιστον δ᾽ ἐκέλευσε περικλυτὸν ὅττι Und er beauftragte Hephaistos, den großen τάχιστα 60 Könner, sofort γαῖαν ὕδει φύρειν, ἐν δ᾽ ἀνθρώπου θέμεν αὐδὴν aus Erde und Wasser eine Form zu machen, eines καὶ σθένος, ἀθανάτῃς δὲ θεῇς εἰς ὦπα ἐίσκειν, Menschen Stimme einzufügen und Kraft. Ihr παρθενικῆς καλὸν εἶδος ἐπήρατον· αὐτὰρ Anblick solle einer Göttin gleichen, die Ἀθήνην Attraktivität ἔργα διδασκῆσαι, πολυδαίδαλον ἱστὸν einer jungen Frau. Aber Athene ὑφαίνειν· sollte sie die Aufgaben einer Frau lehren, wie sie kunstvoll webe am Webstuhl. καὶ χάριν ἀμφιχέαι κεφαλῇ χρυσέην Und die goldene Aphrodite sollte ein charmantes Ἀφροδίτην 65 Lächeln aufs Gesicht zaubern. 65 καὶ πόθον ἀργαλέον καὶ γυιοβόρους und Verlangen nach ihr, das schmerzt, wie auch μελεδώνας· Sehnsucht, die das Herz bricht. ἐν δὲ θέμεν κύνεόν τε νόον καὶ ἐπίκλοπον Dazu sollten sie ihr einpflanzen dackelhaften Sinn ἦθος und betrügerischen Charakter.
Eine kürzere Version in Hesiod Theogonie, 570–590. In manchen Formulierungen lehne ich mich an die Hexameter-Übertragung von Walter Marg an.
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Pandora: Vorsicht vor Gottes Freigiebigkeit! Ἑρμείην ἤνωγε, διάκτορον Ἀργειφόντην. So sein Auftrag. Hermes überbrachte den ὣς ἔφαθ᾽· οἱ δ᾽ ἐπίθοντο Διὶ Κρονίωνι ἄνακτι. Auftrag, der Bote und Argosbesieger. αὐτίκα δ᾽ ἐκ γαίης πλάσσε κλυτὸς ἈμφιSo sprach er. Und sie gehorchten dem Kronosγυήεις 70 Sohn Zeus, dem Herrscher: παρθένῳ αἰδοίῃ ἴκελον Κρονίδεω διὰ βουλάς· Alsbald formte aus Erde der berühmte Behinderte, 70 Was aussieht wie ein Mädchen, ein verschämtes, nach dem Rat des Kronions; ζῶσε δὲ καὶ κόσμησε θεὰ γλαυκῶπις Ἀθήνη· Gürten und Ordnen des Kleids war Werk der ἀμφὶ δέ οἱ Χάριτές τε θεαὶ καὶ πότνια Πειθὼ Göttin Athene; ὅρμους χρυσείους ἔθεσαν χροΐ, ἀμφὶ δὲ τήν γε Göttliche Grazien legten ihr an und die Herrin Ὧραι καλλίκομοι στέφον ἄνθεσιν Rhetorik εἰαρινοῖσιν· 75 Ketten von Gold legten sie auf ihren Körper. Und ringsum bekränzten die Horen, herrlich gelockte, mit Frühlingsblumen das Mädchen. 75 πάντα δέ οἱ χροῒ κόσμον ἐφήρμοσε Παλλὰς Ἀθήνη. ἐν δ᾽ ἄρα οἱ στήθεσσι διάκτορος Ἀργειφόντης ψεύδεά θ᾽ αἱμυλίους τε λόγους καὶ ἐπίκλοπον ἦθος τεῦξε Διὸς βουλῇσι βαρυκτύπου· ἐν δ᾽ ἄρα φωνὴν θῆκε θεῶν κήρυξ, ὀνόμηνε δὲ τήνδε γυναῖκα 80 Πανδώρην, ὅτι πάντες Ὀλύμπια δώματ᾽ ἔχοντες δῶρον ἐδώρησαν, πῆμ᾽ ἀνδράσιν ἀλφηστῇσιν.
Schönheit legte Pallas Athene auf ihre Haut am ganzen Körper. Doch in die Brust fügte ihr der Bote und Sieger über Argos, Lügen, betörende Worte und einen verschlagenen Charakter ein, entsprechend dem Willen des Zeus, der Schrecken erzeugt. Die Stimme setzte ihr ein, der Bote der Götter; als Namen gab er 80 dieser Frau Pandora; weil all die Bewohner des Olymp Ihr ihre Gabe gegeben, zum Leid für die fleißigen Männer.
αὐτὴρ ἐπεὶ δόλον αἰπὺν ἀμήχανον Als er die List nun vollendet, vor der man machtἐξετέλεσσεν, los, unerwartet, εἰς Ἐπιμηθέα πέμπε πατὴρ κλυτὸν zu Epimetheus schickte der Vater [Hermes] den Ἀργειφόντην Sieger über Argos 85 δῶρον ἄγοντα, θεῶν ταχὺν ἄγγελον· οὐδ᾽ Mit dem Geschenk, den schnellen Boten der Ἐπιμηθεύς 85 Götter. Nein! Epimetheus ἐφράσαθ᾽, ὥς οἱ ἔειπε Προμηθεὺς μή ποτε dachte nicht daran, was ihm Prometheus geraten, δῶρον nie eine Gabe δέξασθαι πὰρ Ζηνὸς Ὀλυμπίου, ἀλλ᾽ Anzunehmen von Zeus dem Olympier, sondern ἀποπέμπειν sie umgehend ἐξοπίσω, μή πού τι κακὸν θνητοῖσι γένηται. zurück zu senden, damit ja kein Übel geschehe αὐτὰρ ὁ δεξάμενος, ὅτε δὴ κακὸν εἶχ᾽, ἐνόησεν. den Menschen. Er nahm sie an. Erst als er das Übel besaß, da fiel es ihm wieder ein.
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Christoph Auffarth πρὶν μὲν γὰρ ζώεσκον ἐπὶ χθονὶ φῦλ᾽ Früher nämlich lebten menschliche Gesellschafἀνθρώπων 90 ten auf Erden 90 νόσφιν ἄτερ τε κακῶν καὶ ἄτερ χαλεποῖο Frei von allen den Übeln und frei von elender πόνοιο Mühsal νούσων τ᾽ ἀργαλέων, αἵ τ᾽ ἀνδράσι Κῆρας Und von quälenden Krankheiten, die Sterben ἔδωκαν. bringen den Menschen. αἶψα γὰρ ἐν κακότητι βροτοὶ Als die Frau vom Tonfass den mächtigen Deckel καταγηράσκουσιν. emporhob, ἀλλὰ γυνὴ χείρεσσι πίθου μέγα πῶμ᾽ ἀφελοῦσα ἐσκέδασ᾽· ἀνθρώποισι δ᾽ ἐμήσατο κήδεα λυγρά. 95 μούνη δ᾽ αὐτόθι Ἐλπὶς ἐν ἀρρήκτοισι δόμοισιν ἔνδον ἔμιμνε πίθου ὑπὸ χείλεσιν, οὐδὲ θύραζε ἐξέπτη· πρόσθεν γὰρ ἐπέμβαλε πῶμα πίθοιο αἰγιόχου βουλῇσι Διὸς νεφεληγερέταο. ἄλλα δὲ μυρία λυγρὰ κατ᾽ ἀνθρώπους ἀλάληται· 100
setzte sie sie frei; also erdachte er 36 für die Menschen schmerzvolle Leiden. Einzig die Hoffnung blieb da in unzerstörbarem Gehäuse, Innen unter dem Rande des Krugs, und flog nicht ins Freie Auf und davon; denn vorher ergriff sie den Deckel des Kruges: Das geschieht nach dem Willen des Zeus, des Herrn der Gewitter. Aber die andern, die unzählbare Plagen, wimmeln unter den Menschen;
πλείη μὲν γὰρ γαῖα κακῶν, πλείη δὲ θάλασσα· νοῦσοι δ᾽ ἀνθρώποισιν ἐφ᾽ ἡμέρῃ, αἱ δ᾽ ἐπὶ νυκτί αὐτόματοι φοιτῶσι κακὰ θνητοῖσι φέρουσαι σιγῇ, ἐπεὶ φωνὴν ἐξείλετο μητίετα Ζεύς. οὕτως οὔ τί πῃ ἔστι Διὸς νόον ἐξαλέασθαι. 105
Ja, voll ist die Erde von Übeln, voll auch das Meer; Krankheiten kommen bei Tag zu den Menschen, andre zur Nachtzeit, ganz von selbst, und bringen den sterblichen Menschen Schaden, lautlos, denn ihre Stimme nahm mit Absicht Zeus heraus. So ist es völlig unmöglich, der Absicht des Zeus zu entkommen. 105
Meist ist »sie« als 3. P. Singular identifiziert, die Frau. Es ist aber eine Wiederholung des Satzes von Zeile 49, wo Zeus das Subjekt ist.
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(Gottes) Gute Gaben? Misslingen, Missbrauch und andere Probleme mit der Gabe Veronika Hoffmann
1.
Gute Gaben?
»Gabe« ist alltagssprachlich ein positiv konnotierter Begriff. Ob es sich um ein Geschenk handelt, einen Beitrag, den jemand zur Bekämpfung des Hungers leistet, oder ob der Begriff bestimmte Fähigkeiten eines Menschen bezeichnet, mit denen dieser »begabt« ist: Eine Gabe ist eine gute Sache, so scheint es. Zugleich wissen wir jedoch um die Ambivalenzen, die dem Geben innewohnen: Schenken kann eine heikle Angelegenheit sein und über nicht Weniges, was in den letzten Jahrzehnten an Entwicklungshilfe geleistet wurde, wird heute höchstens das Urteil gefällt, es sei »gut gemeint« gewesen, aber auch nicht mehr, wenn nicht sogar der Verdacht besteht, dass die Geber weniger die Unterstützung der Empfänger als ihre eigenen Interessen vor Augen hatten. Die Gabeforschung befasst sich seit langem mit dieser Ambivalenz – geradezu klassisch ist hier der Verweis auf die englisch-deutsche Bedeutungsverschiebung von »gift« / »Gift« – und beobachtet jenseits einer idealisierenden Überhöhung der Gabe neben Praktiken des Gelingens auch solche des Misslingens und des Missbrauchs. 1 Die »gute Gabe« ist also bei näherer Betrachtung ein prekäres, gefährdetes, gar verdächtiges Ding. Mindestens ein Refugium, in dem man ihr ohne jeden Verdacht begegnen kann, scheint es jedoch zu geben: den Bereich des Religiösen. Das gilt zwar sicher nicht, wenn man in sozial- oder religionswissenschaftlicher Perspektive auf religiöse Praktiken schaut. Dann kann es vielmehr sein, dass religiöse Konnotationen und die Einführung eines transzendenten Gebers oder Empfängers nicht nur die Komplexität, sondern auch die VieldeutigVgl. Jean Starobinski, Gute Gaben, schlimme Gaben. Die Ambivalenz sozialer Gesten, Frankfurt a. M. 1994; Gisela Ecker, ›Giftige‹ Gaben. Über Tauschprozesse in der Literatur, München 2008.
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keit und Ambivalenz der Praktiken und ihrer Deutung weiter ansteigen lassen. 2 Gilt aber nicht aus der Innenperspektive einer christlichen Wirklichkeitsdeutung als Basisannahme: »Gottes Gaben sind immer gute Gaben«? Würde nicht jede Vermutung der Ambivalenz einen Schatten auf das Gottesbild werfen, der das Fundament des Christlichen angriffe: die Grundannahme der unbedingten Güte Gottes gegenüber seinen Geschöpfen? Freilich meldet sich sogleich ein doppelter Verdacht: 1. Wenn Gottes Gaben per definitionem gut sind, dann kann die Zuschreibung, etwas sei eine göttliche Gabe, erhebliches Gewicht haben. Denn eine solche Gabe wäre dann keinesfalls zu hinterfragen, zu kritisieren, gar zurückzuweisen, sondern dankbar als gute Gabe anzunehmen und entsprechend zu gebrauchen. Das legt die Vermutung nahe, die Rede von einer »Gabe Gottes« könnte auch als Immunisierungsstrategie gebraucht werden. 2. Könnte der Rede von Gottes (immer) guten Gaben eine heimliche petitio principii zu Grunde liegen, die dazu führt, dass wir etwas, das wir als »schlecht« empfinden, nicht als »Gabe Gottes« deklarieren? Dann wären Gottes Gaben schlicht deshalb immer gut, weil wir es von vornherein ausschlössen, ihm solche Gaben zuzurechnen, die wir nicht als gute verstehen können. Will man hier weiterkommen, sind einige Vorklärungen nötig. Von Missbrauch und Gebrauch, Misslingen und Gelingen, »guten« und »schlechten« Gaben kann offensichtlich sinnvoll nur die Rede sein, wenn geklärt ist, was unter einer »Gabe« verstanden wird, was sie »gut« oder »schlecht« macht – und wer darüber entscheidet. Das soll im Folgenden zunächst geschehen, bevor auf die Frage nach »Gottes guten Gaben« zurückzukommen ist.
2.
Gabe: Beobachtungsmöglichkeiten von Gelingen, Misslingen und Missbrauch
2.1 Marcel Hénaff: Die Gabe der Anerkennung Der interdisziplinäre Diskurs der letzten Jahrzehnte über die Gabe hat gezeigt, dass nicht nur umstritten ist, was eine Gabe tatsächlich sei, so dass die Entscheidung, was als »gute«, gelungene Gabe und Vgl. auch die religionswissenschaftlichen Überlegungen von Christoph Auffarth in diesem Band.
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was als Missbrauch oder Misslingen zu bezeichnen wäre, fast ebenso viel über den Standpunkt und die theoretischen Vorentscheidungen des Beobachters aussagt wie über seinen Untersuchungsgegenstand. Angesichts der Fülle an Phänomenen und Bedeutungszuschreibungen, an sozialen Praktiken und ihren Kontexten in verschiedensten Zeiten und Kulturen kann man wohl überhaupt nicht von »der« Gabe sprechen, als ließe sich eine einzige, alle Aspekte gleichermaßen integrierende Perspektive entwickeln. Im Folgenden wird im Ausgang von Überlegungen Marcel Hénaffs ein Verstehensansatz zu Grunde gelegt, der die Gabe vorrangig als soziale und dem Sozialen dienende Praktik versteht und von dort aus Abgrenzungen zu anderen Gestalten und so auch Bestimmungen von »Misslingen« und »Missbrauch« vornimmt. 3 Hénaffs Überlegungen beginnen mit einer doppelten Abgrenzung, die sich auf die zwei seines Erachtens am weitesten verbreiteten Misskonzeptionen der Gabe bezieht. 4 Üblicherweise werde die Gabe entweder verstanden als ein moralisches Phänomen, als idealiter reines, uneigennütziges Geschenk an den anderen, bei dem der Geber von jeder Erwartung einer Gegengabe frei sei. 5 Oder sie werde, so die klassische Gegenposition, als ein ökonomischer Vorgang interpretiert, als eigennütziger, gegebenenfalls verdeckter Kommerz. Die Gabepraktiken in vorstaatlichen Gesellschaften, die beispielsweise Marcel Mauss in seinem Klassiker »Die Gabe« beobachtet, wären dann Vorformen unseres Wirtschaftssystems. Vereinfachend lässt sich dementsprechend von einem »moralistischen« und einem »ökonomistischen Missverständnis« der Gabe sprechen. 6 Hénaff zufolge stammen beide Gabe-Missverständnisse aus einer Lesart von Mauss’ Beobachtungen durch die Brille eines Grundverständnisses dessen, was eine Gabe sei oder sein sollte, das erst aus der Moderne stammt Zur Vielfalt der Theorien der Gabe und der Wahl des Ansatzes vgl. Veronika Hoffmann, Skizzen zu einer Theologie der Gabe. Rechtfertigung – Opfer – Eucharistie – Gottes- und Nächstenliebe, Freiburg i. Br. 2013. 4 Vgl. zum Folgenden Marcel Hénaff, Der Preis der Wahrheit. Gabe, Geld und Philosophie, Frankfurt a. M. 2009, 166–240 sowie Hoffmann, Skizzen, 193–203. Die folgende Darstellung nimmt z. T. Formulierungen aus diesem Text auf. 5 Vgl. v. a. Jacques Derrida, Falschgeld. Zeit geben 1, München 1993 und die Kritik bei Marcel Hénaff, Le don des philosophes. Repenser la réciprocité, Paris 2012, 25–54. 6 Vgl. zur Terminologie Hans Joas, Die Logik der Gabe und das Postulat der Menschenwürde. In: Christof Gestrich (Hg.), Gott, Geld und Gabe. Zur Geldförmigkeit des Denkens in Religion und Gesellschaft, Berlin 2004 (Beiheft zur Berliner theologischen Zeitschrift), 16–31, 18. 3
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und sich deshalb auf die Mausssche Gabe gar nicht anwenden lässt. Die zentrale These Hénaffs lautet demgegenüber, dass die rituelle, öffentliche Gabe vorstaatlicher Gesellschaften, die er in Anlehnung an Bronislaw Malinowski als »zeremonielle Gabe« bezeichnet, 7 auf einen Bereich zielt, der in der Alternativstellung von »moralisch« versus »ökonomisch« unsichtbar bleibt. Hier stellt die Gabe weder eine Gestalt der Ökonomie dar noch bildet sie einen Gegensatz zu ihr. Sie fordert zu einer Erwiderung heraus, ohne eine Form von Handel zu sein. Ihr geht es auch nicht um Hilfeleistung und nicht um den Transfer des gegebenen Dings an sich, sondern Zentrum und Ziel dieser zeremoniellen Gabe bildet der Vorgang der wechselseitigen Anerkennung. Die Anerkennung des anderen ist verbunden mit dem Wunsch, mit ihm in Beziehung zu sein. Das kann sich in vielen Formen darstellen, aber immer geschieht es über ein Medium: ein Geschenk, eine Höflichkeitsgeste, die Einladung zu einem Fest. Hier wird deutlich, warum die Objekte, die während einer solchen Tauschhandlung transferiert werden, zwar wichtig sind und passend, z. B. dem Anlass und den Empfängern angemessen sein müssen, aber selbst nicht das Ziel der Gabepraktik sind: Diese Gaben zielen nicht darauf, Güter zu teilen oder Not zu lindern, sondern sie sind das Mittel, um den anderen zum Eingehen einer Beziehung aufzufordern. 8 Und weil diese zeremonielle Gabe der wechselseitigen Anerkennung, der Stiftung und Erhaltung von Gemeinschaft dient, kann sie nicht einseitig bleiben. Sie kommt erst in ihrer Annahme und Erwiderung zum Ziel. Deshalb ist sie auf Seiten des Empfängers mit einer spezifischen Form von Verpflichtung verbunden, nämlich derjenigen, auf die Gabe angemessen zu antworten. Der Geber geht seinerseits ein gewisses Risiko ein: Was, wenn der andere nicht repliziert, wenn er das Beziehungsangebot zurückweist? Wenn der Prozess einmal begonnen hat, gibt es kein neutrales Territorium mehr. Wer eine Gabe ablehnt, verletzt oder beleidigt den Geber. Die Regelhaftigkeit und häufige Ritualisierung des Vgl. Bronislaw Malinowski, Argonauten des westlichen Pazifik. Ein Bericht über Unternehmungen und Abenteuer der Eingeborenen in den Inselwelten von Melanesisch-Neuguinea, Eschborn bei Frankfurt, 42007, 128 Anm. 8 Freilich ist die Unterscheidung von caritativen, ökonomischen und sozialen Gestalten des Gebens nur als idealtypische sinnvoll. Interessante historische Fälle von Überkreuzungen – die mit Hilfe der Differenzierung aber erst recht gut zu beobachten sind – bietet Natalie Zemon Davis, Die schenkende Gesellschaft. Zur Kultur der französischen Renaissance, München 2002. 7
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Gabentausches dient deshalb dazu, dieses Risiko einer misslingenden Gabe zu minimieren und die Annahme der Gabe möglichst weitgehend zu sichern. Hénaff verwendet die Metapher des Spieles, um das hier herrschende Verhältnis von Freiheit und Verpflichtung genauer zu verdeutlichen: Um das Risiko zu begrenzen, das der Geber eingeht, wenn er dem anderen Anerkennung und Gemeinschaft anbietet, gibt es gesellschaftliche »Spielregeln« der Gabe. Aber diese sind mit Spielräumen der Freiheit verbunden – nicht zuletzt mit der Möglichkeit, die Spielregeln zu brechen und das Spiel zu verweigern. Es ist nicht zwingend, dass jemand die Initiative des Gebens ergreift. Und ebenso besteht die Antwort nicht in einer mechanischen Spiegelung, sondern in einer bewussten Annahme der Gabe und der mit ihr gegebenen Herausforderung. Die Antwort »besteht nicht so sehr darin, die Gabe zu erwidern, als vielmehr seinerseits zu geben; nicht darin, zurückzuerstatten, sondern seinerseits die Initiative des Gebens zu ergreifen« 9. Die »Logik«, die Hénaff in der zeremoniellen Gabe entdeckt, besteht so in einer spezifischen Verknüpfung von Gabe, Reziprozität und Anerkennung. Und diese »Logik« erlaubt es, die »Gabe der Anerkennung« sowohl von caritativen als auch von ökonomischen Praktiken zu unterscheiden. 10
2.2 Gelingen, Misslingen und Missbrauch der Gabe Aus dieser Logik ergibt sich für die Frage nach Gelingen oder Misslingen, »echter« oder missbräuchlicher Gabe: Misslingen kann eine solche Gabe vor allem, wenn sie nicht angenommen und erwidert wird. Denn der reine Gebevorgang entscheidet noch nicht darüber, ob die Gabe zu ihrem Ziel kommt. Dabei ist vorausgesetzt, dass der erste Geber einen Prozess wechselseitiger symbolischer Anerkennung in Gang setzen (oder aufrechterhalten) wollte, der aber scheitert. Hénaff, Preis, 215. Übersetzung modifiziert. Eine intensivere Arbeit mit der »Gabe« als einem theologischen Modell, als sie an dieser Stelle möglich ist, müsste noch mit einem erheblichen Folgeproblem des Hénaffschen Ansatzes umgehen. Denn dieser entwickelt seine Gabe-Logik an Hand von öffentlichen Praktiken vorstaatlicher Gesellschaften. Das führt aber auch dazu, dass bei ihm die Frage bisher nicht klar beantwortet ist, ob seine Gabe-Logik sich auch in modernen Formen von interpersonaler Anerkennung finden lässt. Ich verweise hierzu auf meinen Lösungsvorschlag in Hoffmann, Skizzen, 264–283.
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Missbrauch der Gabe hingegen liegt dann vor, wenn ein Geber den Empfänger nicht anerkennen, sondern für seine Zwecke instrumentalisieren will, wenn er damit Machtstrukturen festigen, den Empfänger abhängig machen will – beispielsweise indem die Gabe in ihrer materiellen Gestalt so groß dimensioniert ist, dass der Empfänger nicht die geringste Chance hat, angemessen darauf zu reagieren. Hier zeigt sich, wie wichtig – aber im konkreten Fall nicht immer sauber zu vollziehen – die Unterscheidung zwischen »guten caritativen Gaben« und »problematischen sozialen Gaben« ist: Eine Unterstützung Notleidender, ohne sie dabei zu demütigen, wäre unmöglich, wenn es nicht auch legitime Gestalten großzügigen einseitigen Gebens gäbe. Diese haben dann aber eine andere Funktion als die »Gabe der Anerkennung« und »funktionieren« deshalb auch nur, wenn sie ihrerseits den Unterschied nicht verwischen. 11 Eine solche Verwischung liegt auch vor, wenn, was als Gabe erscheint, in Wirklichkeit ein symbolisches Tauschmedium im ökonomischen Sinn darstellt. Wenn dieser Tausch nicht auf Materielles, sondern z. B. auf sozialen Status zielt, sind die Grenzen zwischen der »sozialen Verpflichtung zum Mitspielen«, die die »Gabe der Anerkennung« erzeugt, und einem ökonomistischen Kalkül mitunter schwer zu ziehen. Zugleich mag es hier durchaus Fälle geben, in denen alle am »Spiel« beteiligten Partner unter dem Deckmantel der Gabe ökonomisch agieren und dies voneinander wissen und akzeptieren, so dass gar keine Missbräuchlichkeit vorliegt – sondern ein wechselseitiger »Gebrauch« des Gabentausches, der allen Beteiligten ebenso nützt, wie das bei einem offen ökonomischen Austausch der Fall sein kann. (Beispielsweise mögen manche öffentlich zelebrierten »Freundschaften« in der Politik so funktionieren.) Bei einem Missbrauch der Gabe scheint der andere also statt zumindest auch das Ziel der Praktik bloß ihr Mittel zu sein. Er wird gerade nicht anerkannt, sondern faktisch missachtet. Von einem Zu den diversen Praktiken, mit denen eine Demütigung des Empfängers zu verhindern versucht wird, gehört beispielsweise die Anonymität der Spende, die jede Form von sozialer Interaktion zwischen Geber und Empfänger ausschließt. Umgekehrt werden manchmal solche Interaktionen gerade geschaffen – oder imaginiert –, um das Problem zu entschärfen, indem der Empfänger in die Lage versetzt wird, auch seinerseits zu geben: so zum Beispiel in bestimmten Konstruktionen frühchristlicher Armenfürsorge (vgl. Richard Finn, Almsgiving in the Later Roman Empire. Christian promotion and practice (313–450) [Oxford classical monographs], Oxford u. a. 2006) oder heutzutage bei Spenden in Gestalt von »Kinderpatenschaften«.
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Missbrauch der Gabe ließe sich zudem dort sprechen, wo Gaben gegeben (oder gefordert) werden, aber eigentlich etwas Anderes angemessen wäre: Lohn für geleistete Arbeit z. B. ist keine Gabe, die Dankesschuld erzeugte, sondern ein Recht. Forciert antikapitalistische Diskurse, die eine »Gabe-Ökonomie« in Ergänzung oder gar statt einer »Markt-Ökonomie« fordern, sind in Gefahr, hier in problematischer Weise Ebenen ineinander zu schieben. Als ein Positivbeispiel für eine Transaktion, die keine Gabe ist und auch keine sein darf, nennt Hénaff die Bezahlung des Psychoanalytikers durch den Patienten. Die Marktförmigkeit von Leistung gegen Bezahlung gerade in diesem für den Patienten hochsensiblen und intimen Bereich, der häufig von den durch Übertragung und Gegenübertragung zwischen Patient und Therapeut entstehenden »Scheinbeziehungen« mitgeprägt ist, dient, so Hénaff, der Freiheit des Patienten. Dieser bleibt nicht durch eine Dankesschuld über das Ende der Therapie hinaus an seinen Therapeuten gebunden und kann so aus der unter Umständen zwischenzeitlich notwendigen Abhängigkeit wieder in seine volle Autonomie eintreten. 12 Von einem Gelingen der Gabe wäre dann zu sprechen, wenn sie erreicht, was die Praktik anzielte, was im Bereich des »sozialen Gebens«, auf das wir uns mit Hénaff konzentriert haben, hieße: wechselseitige Anerkennung, Etablierung oder Fortsetzung einer Beziehung, in der keiner der Beteiligten missachtet wird. Im Fall einer caritativen Gabe wäre das beispielsweise die Beseitigung oder Linderung der Not, ohne den Empfänger in seiner Würde zu verletzen und in seiner Autonomie (dauerhaft) einzuschränken. Diese Abgrenzungen sind natürlich sehr pauschal. Die Analyse konkreter Fälle wäre häufig deutlich komplizierter. Aber scheint nicht zumindest diese pauschale Unterscheidung zwischen »guten« und »schlechten« Gaben so einfach wie annähernd trivial?
3.
»Gabe« als Zuschreibung
Woran jedoch entscheidet sich tatsächlich und wer entscheidet, ob eine Gabe im Sinn der soeben skizzierten Kriterien »gut« oder »schlecht«, gelungen oder misslungen ist? Die Differenzierung zwiVgl. Marcel Hénaff, Die Welt des Handels, die Welt der Gabe. Wahrheit und Anerkennung. In: WestEnd 7 (2010), 81–90, 88.
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schen »Misslingen« und »Missbrauch« wies bereits in Richtung der mit der Gabe verbundenen Intentionen und die nahe liegendste und in vielen Beispielen angesetzte Möglichkeit scheint zu sein, die Intention des Gebers als Kriterium heranzuziehen. Entscheidend wäre also, was der Geber mit seiner Gabe »gemeint« hat, ist doch die Gabe, wenn es gut geht, ein Beziehungsangebot von seiner Seite. Freilich sind Gegenbeispiele nicht schwer zu finden. Nicht jede »gut gemeinte« Gabe scheint auch »gut« zu sein – vielmehr lässt sich »gut gemeint und schlecht gemacht« geradezu als typischer Kommentar zu einer misslungenen Gabe verstehen. Nicht nur mag eine scheußliche Vase ein gut gemeintes Geschenk sein und doch den Empfänger in Verlegenheit bringen. Auch ein ehrlich gemeintes Beziehungsangebot kann zu viel, zu nah sein. Versteht man die Gabe als ein soziales Phänomen, macht offensichtlich die Intention des Gebers allein noch nicht die Güte der Gabe aus. Umgekehrt scheint es sogar »schlechte« Gaben geben zu können, die im Prozess eine überraschende »Veredelung« erfahren: Vor einiger Zeit war ich zu einem großen Fest eines Freundes eingeladen, mit dem ich seit Jahren nur losen Kontakt habe. Eine eilig ausgesuchte CD sollte eher die Peinlichkeit vermeiden, mit leeren Händen zu kommen, als dass sie tatsächlich den Anspruch erhoben hätte, für den Empfänger irgendwie »passend« und von Bedeutung zu sein (meine berechtigte Hoffnung war, dass sie auf einem großen Geschenketisch landen würde, so dass ich zumindest beim Auspacken nicht anwesend wäre). Umso überraschter war ich, einige Zeit später einen enthusiastischen Anruf zu erhalten, in dem sich der Empfänger überschwänglich bedankte: Die Musik habe ihn zutiefst berührt und er höre die CD deshalb wieder und wieder. Liest man diese Gabe also gemäß der Intention der Geberin, war sie halbherzig und etwas lieblos. Durch die völlig andere Wahrnehmung des Empfängers jedoch erhält dieselbe Gabe im Beziehungsgefüge zwischen den beiden eine andere Bedeutung. Der Empfänger kann den Vorgang also nicht nur anders deuten als der Geber, diese Deutung hat auch Folgen für die Bedeutung der Gabepraktik insgesamt. Bei einer sozialen Praxis ist das eigentlich nicht weiter verwunderlich, heißt aber, dass zumindest sozial durch die Intention des Gebers noch längst nicht alles festgelegt ist. Das Beispiel könnte dafür sprechen, dass es nicht der Geber, sondern der Empfänger ist, bei dem sich die Qualität der Gabe letztlich entscheidet. War es nicht seine Deutung, die die von Seiten der Geberin halbherzige Gabe aufwertete? Geht es beim Geben nicht grund246
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sätzlich um ihn? So wäre es an ihm zu sagen, ob er sich anerkannt und wertgeschätzt fühlt, ob das Beziehungsangebot attraktiv ist. Kann aber, so ist kritisch zurückzufragen, die Zurückweisung durch den Empfänger eine ehrlich gemeinte Gabe vollkommen entwerten – hat der Empfänger diese Macht? Und umgekehrt: Kann es nicht »schlechte Gaben« geben, die der Empfänger nicht zurückweist, weil er den missbräuchlichen Charakter zunächst nicht bemerkt, ohne dass sie dadurch im Mindesten »besser« würden? Die Bewertung durch den Empfänger scheint also ihrerseits die Gabe nicht einfach zu dem zu »machen«, was er in ihr sieht. Er kann sich durchaus täuschen. Hinzu kommt ein Weiteres: Die Deutung, die die Beteiligten der Gabe geben (und die durch den sozialen Kontext und seine Spielregeln mitbestimmt wird), kann sich auch im Nachhinein noch ändern. Später mag man die Geste anders verstehen, vielleicht im Licht neuer Erfahrungen neu deuten. Kommt es also zentral darauf an, was Geber und Empfänger in der Gabe sehen, dann scheint kaum je endgültig festzustehen, ob es sich um eine gelungene oder misslungene, anerkennende oder missbräuchliche Gabe und ob es sich überhaupt um eine Gabe gehandelt hat. Dem könnte man entgehen, wenn man annimmt, dass jenseits der divergierenden Deutungen des Gebers und des Empfängers ein Dritter, Unbeteiligter den klarsten Blick auf die Gabe hat. Die Beteiligten können derart in das Geschehen verstrickt sein, dass bestimmte Dynamiken (oder Langzeitfolgen) nur von außen sichtbar sind. Wäre die neutrale Außenperspektive diejenige, die wahrnehmen kann, was »wirklich geschieht«? Dass eine solche Außenperspektive unter Umständen mehr sieht als die Beteiligten, ist nicht von der Hand zu weisen. In diesem Sinn kann beispielsweise die wissenschaftliche Analyse von Gabepraktiken Strukturen und Ambivalenzen erhellen, die für die Beteiligten nicht sichtbar sind. Die Außenperspektive freilich zu derjenigen zu erklären, die als einzige sieht, was »wirklich« stattfindet, ist nicht ohne Probleme. Denn was ist die »Wirklichkeit« in einer sozialen Praxis, zu der die Deutung der Beteiligten konstitutiv hinzugehört? Legt man Hénaffs Theorie der Gabe zu Grunde, kommt eine Gabe an ihr Ziel, wenn der Empfänger sie entsprechend aufnimmt und beantwortet – nicht dann, wenn ein Dritter sie als eine Gabe identifiziert. Schon die Grundannahme, es ließe sich auf die eine oder andere Weise eruieren, was in Praktiken des Gebens »wirklich geschieht«, Die Gabe
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scheint damit problematisch. Es kann durchaus »mehr« geschehen, als die Beteiligten intentional bezwecken oder im Moment wahrnehmen. Aber es geschieht nicht, ohne dass die Beteiligten darin mit ihren Interpretationen (und ggf. späteren Re-Interpretationen) involviert sind. Es »gibt« in der sozialen Praxis symbolisch vermittelter Anerkennung »die Gabe« nicht einfach als etwas, das »eigentlich geschieht«; es »gibt« unter Umständen noch nicht einmal ein definitiv feststehendes (gar kommunikativ geteiltes) Verständnis dessen, was jeweils vor sich geht oder ging: zwischen den Beteiligten nicht, zwischen Beteiligten und Außenstehenden nicht und auch über die Zeit nicht. »Gabe« ist eine Zuschreibung, eine Form der Deutung sozialer Wirklichkeit. Und diese Zuschreibung kann strittig und veränderlich sein. Von mancher Entwicklungshilfe kann man Jahrzehnte später den Eindruck haben, dass sie mehr geschadet als genutzt hat. War sie gut gemeint oder unverantwortlich naiv? Und hat sie zumindest zu einem erhöhten Problembewusstsein in den »reichen« Ländern beigetragen oder stattdessen deren schlechtes Gewissen beruhigt? Und wer interpretiert zu welchem Zeitpunkt und in welcher Weise das Werben einer Liebenden, das lange vom Geliebten als aufdringlich erlebt und zurückgewiesen wird, das aber schließlich in eine Partnerschaft führt? Dass es die Gabe nicht »gibt« (im soeben skizzierten, von Derridas berühmtem Diktum durchaus unterschiedenen Sinn), heißt natürlich umgekehrt nicht, dass es sie »nicht gibt«. Zwischen eindeutigen Feststellbarkeiten und sich im interpretativen Dickicht letztlich entziehenden Anmutungen liegt das weite Feld sozialer Praxis. Die Deutung einer solchen Praxis als Gabe mag unklar, umstritten, instabil sein, aber sie ist nicht einfach beliebig. Dazu tragen wesentlich die sozialen Spielregeln bei, deren Aufgabe genau dies ist: soziale Transaktionen zu vereindeutigen, für die Beteiligten »lesbar« zu machen und damit die Gefahr von Missverständnissen und sozialen Konflikten zu verringern. Nicht umsonst waren die von Mauss beschriebenen Praktiken des Gabentauschs in den vorstaatlichen Gesellschaften, die über Krieg und Frieden zwischen Gruppen entschieden, strikt kodifiziert. Und betrachtet man beispielsweise die in bestimmten gesellschaftlichen Schichten der USA geltenden Regeln für das »Dating«, zeigt sich, dass solche vereindeutigenden Kodifizierungen auch unter den viel stärker individualisierten gegenwärtigen Umständen entstehen können. Bei so zentralen Fragen wie der Anbahnung einer Partnerschaft scheint es offensichtlich weiterhin sehr erstrebenswert, 248
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durch ein Regelwerk eine möglichst klare Verständigung darüber zu erreichen, was das jeweilige Verhalten bedeutet, so dass Missverständnisse, Konflikte und das Risiko des Gesichtsverlustes reduziert werden.
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Die Gabe als komplexes und häufig ambivalentes soziales Phänomen ist offensichtlich nicht immer und eindeutig »gut«. Wie aber steht es um die religiöse Rede von »Gottes Gaben«? Nimmt man die grobe Unterscheidung von Missbrauch und Misslingen noch einmal auf, so ließe sich in einer ersten Annäherung sagen: Ein Misslingen göttlichen Gebens lässt sich konzipieren, dann nämlich, wenn der menschliche Empfänger die gute Gabe nicht als solche annimmt. Ein Missbrauch, bei dem Gott mit einer nur scheinbar guten Gabe den Empfänger über seine wahren Absichten täuschte, scheint hingegen nicht denkbar, weil er die Güte Gottes grundsätzlich in Frage stellte. Einem janusköpfigen Gott jedoch, der mal Gutes, mal Schlechtes wirkte und die Menschen zumindest manchmal täuschte, müssten wir »aus moralischen Gründen unsere Anerkennung verweigern. … Die moralische Güte Gottes ist … unaufgebbarer Bestandteil eines vor der praktischen Vernunft verantwortbaren Gottesglaubens.« 13 Andernfalls ließe sich zwar theoretisch die Existenz Gottes annehmen, aber weder das christliche Grundgebet »Dein Reich komme« nachvollziehen noch der Einsatz für ein solches Reich rechtfertigen. Bereits eingangs wurden jedoch zwei Probleme genannt, die angesichts einer solch emphatischen Rede von »Gottes guten Gaben« kaum von der Hand zu weisen sind. Das eine betrifft mögliche problematische Funktionen, die diese Rede in argumentativen Zusammenhängen erhalten könnte. Das andere bezieht sich darauf, wie angesichts eines solch strikten Ambivalenzausschlusses die Rede vom göttlichen Geben als gläubiges Interpretament einer durchaus ambivalent erfahrenen Wirklichkeit fungieren kann.
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Klaus von Stosch, Theodizee, Stuttgart 2013, 42.
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4.1 »Gottes gute Gabe« als Argument Im religiösen Diskurs etwas als eine Gabe Gottes zu bezeichnen, bedeutet auch: Es ist gut, es ist, wie es sein soll. Es ist nicht zu kritisieren oder zu hinterfragen, sondern dankbar anzunehmen und wertzuschätzen. Dementsprechend machtvoll ist diese Zuschreibung, zumal wenn sie nicht reflexiv eingeholt, sondern als scheinbare Selbstverständlichkeit im Diskurs gebraucht wird. Eine solche Sprachfigur ist beispielsweise die Rede vom »Austausch von Gaben« im Kontext der Ökumene – seit der Enzyklika Ut unum sint (1995) geradezu eine feststehende Redewendung, 14 die in ihrer unmittelbaren Plausibilität keiner weiteren Reflexion zu bedürfen scheint. Manchmal bleibt schlicht unklar, welchen Beitrag zum Verstehen es tatsächlich leistet, ökumenische Gespräche und Gesprächsergebnisse als »Gabentausch« zu bezeichnen. 15 So scheint z. B. im »differenzierten Konsens« der römisch-katholischen / lutherischen Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre (1999) weniger ein Austausch stattzufinden als eine Einigung, die den spezifischen Zugang des jeweils anderen Gesprächspartners gerade nicht übernimmt und übernehmen muss. Was wird hier »getauscht«? Noch heikler wird es, wenn z. B. die Idee des horizontalen Gabentausches mit der Rede von einer vertikalen »Gabe Gottes« gekreuzt wird, wie das im anglikanischen / römischkatholischen Dialogtext The Gift of Authority (1999) geschieht. Dann leistet die Rede von der »Gabe« mindestens Konfusionen Vorschub. 16 In einem anderen mit erheblichen Emotionen verbundenen und entsprechend rhetorisch hochgerüsteten Kontext, der Rede von der »Gabe des Lebens«, hat Hans Joas auf Möglichkeiten wie Ambivalenzen einer solchen Figur hingewiesen. 17 Dabei bezieht er sich auf die Kritik des Philosophen Volker Gerhardt, demzufolge hier eine unzulässige normative Aufladung der »Tatsache des bloßen Daseins« »Der Dialog ist nicht nur ein Gedankenaustausch. Er ist gewissermaßen immer ein ›Austausch von Gaben und Geschenken‹.« (Johannes Paul II., Enzyklika »Ut Unum Sint« 1995 [Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls, 121], 28). 15 Vgl. Margaret O’Gara, Receiving Gifts in Ecumenical Dialogue. In: Paul D. Murray (Hg.), Receptive Ecumenism and the Call to Catholic Learning. Exploring a Way for Contemporary Ecumenism, Oxford 2008, 26–38. 16 Schärfere Kritik an der Gabesprache des Dokuments übt Risto Saarinen; vgl. Risto Saarinen, God and the Gift. An Ecumenical Theology of Giving, Collegeville / Minn 2005, 33–35. 17 Vgl. zum Folgenden Joas, Logik, überarbeitete Fassung. In: Ders., Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte, Berlin 2011, 232–250. 14
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vorliege. Joas scheint es aber gerade fraglich, ob wir diese Tatsächlichkeit rein als eine solche verstehen können. Die Struktur der Gabe, die auch er in Anlehnung an Mauss und Hénaff rekonstruiert, widerspreche der Annahme einer solchen bloßen Tatsächlichkeit, denn: »Selbst die trivialsten Gaben unseres sozialen Alltagslebens sind mehr als nur faktische Sachverhalte. Sie tragen schon immer die Anmutung einer Verpflichtung in sich, die von bloßen Tatsachen nicht ausgehen kann.« 18 Deshalb lässt sich Joas zufolge das Leben gegen Instrumentalisierungsversuche verteidigen, indem man es als Gabe versteht. Freilich gelte für diese Rede dasselbe wie für die Aussage, dass nicht der Staat, sondern bereits Gott selbst den Menschen mit Rechten ausgestattet habe: »Das Problem ist nur, dass vermutlich doch jede Behauptung über eine göttliche Setzung eine menschliche Behauptung ist. Mit dieser ernüchternden Feststellung will ich keine göttliche Setzung in Frage stellen, sondern nur die Selbstgewissheit, mit der sich von ihr sprechen lässt.« 19 Deshalb lässt sich s. E. auch keineswegs pauschal behaupten, man könne nur durch den Glauben an die Geschöpflichkeit des Menschen Menschenrechte und Menschenwürde ausreichend legitimieren. Joas will mit seinem Argument über das Leben als Gabe folglich nichts beweisen, sondern er will nur pragmatisch aufweisen, dass ein solcher Glaube nicht mit der Vernunft in Widerspruch steht: »Mir geht es um die Schärfung des Gabe-Arguments gegen die Vorstellung, es handele sich um eine Verwechslung von Sein und Sollen. Mit Gabe zu argumentieren ist nicht eine unzulässige Folgerung eines Sollens aus einem Sein, sondern rekonstruiert ein Geschehen, in das notwendig – sobald einer einen Schritt gegangen ist – ein Verpflichtungscharakter eingebaut ist, wie z. B. Marcel Mauss schon erkannt hat.« 20 Gegen diesen »Grenzgang« einer vernünftigen Argumentation, die einen letztlich nur religiös begründbaren Symbolismus verwendet, wendet Wilhelm Gräb in der Diskussion des Vortrags prompt ein: »Der Satz ›Das Leben ist eine Gabe‹ funktioniert in der Fremdzuschreibung eben nicht. … Ich meine, dass man diesen Satz vom Leben als Gabe als Satz religiöser Interpretation verstehen und entsprechend deklarieren muss. Er gehört auf die Ebene des Symbolismus unseres Selbst- und Welt-
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Joas, Sakralität, 233. Joas, Sakralität, 250. Joas, Logik, 28 f.
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verhältnisses.« 21 Joas sieht sich deshalb zu der erneuten Klarstellung gezwungen: »Ich habe es gerade noch einmal hervorgehoben, dass dies kein Beweis ist oder eine Aussage über einen Sachverhalt, sondern eine Artikulation eines Glaubensinhaltes im Rahmen einer vernünftigen Argumentation.« 22 Hier kann es nicht darum gehen, Joas’ Argumentation inhaltlich zu entfalten und zu bewerten. 23 Vielmehr lässt sie sich als ein weiterer Hinweis lesen, wie bedeutsam die Sprache der Gabe einerseits sein kann – »Das Leben selbst als Gabe aufzufassen, stellt … einen der stärksten Schutzwälle gegen seine Instrumentalisierung dar« 24 –, wie heikel sie andererseits ist, sowohl was faktischen Missbrauch angeht als auch den bloßen Verdacht der Gesprächspartner, es werde in manipulativer Weise argumentiert.
4.2 »Gottes gute Gabe« als Interpretament Gibt es aber im Bereich des Religiösen nicht auch Zusammenhänge, in denen es elementar für das religiöse Selbstverständnis ist, etwas als Gabe Gottes zu verstehen? Und gehört nicht der Glaube daran, dass alle diese göttlichen Gaben gute Gaben sind, zum Kern christlicher Überzeugung? Die Ambivalenz der Welt scheint nichts mit einer Ambivalenz Gottes selbst gegenüber seiner Schöpfung und seinen Geschöpfen zu tun haben zu dürfen. Nur das Gute kann von Gott kommen. Nur das Gute kann von Gott kommen? In der biblischchristlichen Tradition finden sich neben dem breiten Strom des Lobes auf den Gott, der für seine Geschöpfe sorgt, auch Zeugnisse, die andere Erfahrungen mit Gott zusammenbringen. Dabei lohnt es vielleicht, nicht gleich auf den Spitzensatz einer solchen Ambivalenz zuzusteuern, der im Kontext der abgründigen und bekanntlich auch nicht einfach auf einen Nenner zu bringenden Überlegungen des Buches Hiob steht: »Nehmen wir das Gute an von Gott, sollen wir dann nicht auch das Böse annehmen?« (Ijob 2,10) Stattdessen seien im Weiteren mehrere Annäherungen aus gabetheologischer Sicht versucht.
Wilhelm Gräb in: Hans Joas, Logik, 30. Ebd. 23 Vgl. zum Thema des Lebens als Gabe – unter erheblich anderen Vorzeichen als bei Joas – den Beitrag von Burkhard Liebsch in diesem Band. 24 Joas, Sakralität, 249. 21 22
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So berichtet die Bibel, dass Gott Propheten beruft, um sein Volk zu mahnen und auf den richtigen Weg (zurück) zu führen. Paulus wird die Prophetie ausdrücklich als eine der »Gaben des Geistes« (1 Kor 12,1) bezeichnen. Die Güte dieser Gabe kann für den Berufenen selbst jedoch äußerst zweifelhaft sein: »Du hast mich betört, o Herr, und ich ließ mich betören; du hast mich gepackt und überwältigt. Zum Gespött bin ich geworden den ganzen Tag, ein jeder verhöhnt mich. … Denn das Wort des Herrn bringt mir den ganzen Tag nur Spott und Hohn. Sagte ich aber: Ich will nicht mehr an ihn denken und nicht mehr in seinem Namen sprechen!, so war es mir, als brenne in meinem Herzen ein Feuer, eingeschlossen in meinem Innern.« (Jer 20,7 ff.). Die »Konfessionen Jeremias« sind in ihrer subjektiven Redeweise voller Ambivalenzen, was die Erfahrungen des Propheten mit seinem Gott angeht. 25 Der Prophet tut den ihm aufgetragenen Dienst – aber er leidet unter ihm, ohne ihm entfliehen zu können. Er setzt sein Vertrauen darauf, dass sein Gott ihn retten wird – aus Bedrohungen, in die ihn seine prophetische Rede überhaupt erst gebracht hat. Manchmal scheint die Erfahrung seinem Vertrauen Hohn zu sprechen: »Fürwahr, Herr, ich habe dir mit gutem Willen gedient … Du weißt es, Herr; denk an mich und nimm dich meiner an! Nimm für mich Rache an meinen Verfolgern! … Wie ein versiegender Bach bist du mir geworden, ein unzuverlässiges Wasser.« (Jer 15,11.15.18b) 26 Wie sollte man eine solche Prophetenberufung als gute Gabe Gottes bezeichnen können? Im Blick auf Jeremia selbst ist das offensichtlich unmöglich. Diese Lesart ergibt sich höchstens dann, wenn man annimmt, dass die Gabe der Prophetie zwar dem einzelnen gegeben ist, aber nicht ihn selbst anzielt, sondern wesentlich eine »gute Gabe« an die Gemeinschaft oder das Volk sein will. In diesem Sinne betont Paulus in 1 Kor 12, dass alle Charismen dem Gemeindeaufbau zu dienen haben. Sie sind kein »Geschenk« Gottes an den einzelnen, für den sie vielmehr eine Zumutung darstellen können. Zum Vorwurf Jeremias, von Gott erfolgreich getäuscht worden zu sein, vgl. Georg Fischer, Jeremia 1–25 (HThKAT; 38), Freiburg u. a. 2005, 615; zur Beispielhaftigkeit der jeremianischen Erfahrung a. a. O., 626 f. 26 Die Anschuldigung, Gott sei ein »unzuverlässiges Wasser«, ein »Trugbach«, steht direkt gegen Gottes Selbstbeschreibung in Jer 2,13: »Mein Volk hat doppeltes Unrecht verübt: Mich hat es verlassen, den Quell des lebendigen Wassers, um sich Zisternen zu graben, Zisternen mit Rissen, die das Wasser nicht halten.« Zu Gottes Reaktion in Jer 15,19 f. vgl. Fischer, Jeremia, 511 f. 25
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Eine zweite Annäherung lässt sich im Aufgriff von Christine Büchners Überlegungen zum Sich-Geben Gottes formulieren. Büchner weist darauf hin, dass die Wahrnehmung von Gottes Geben, gar von seinem Sich-Geben, sowohl in der Schöpfung als auch in zwischenmenschlichen Beziehungen immer ambivalent bleibe: mal schemenhaft erkennbar, mal zur schrecklichen »Maske Gottes« verzerrt. 27 Sie bietet mindestens zwei ineinandergreifende Interpretationslinien hierfür an: Gott überschreite in seinem Sich-Geben die ontologische Differenz, wahre sie aber in der Verborgenheit dieses Gebens zugleich. Und er gebe im Modus des Angebots, das in seiner Uneindeutigkeit dem Empfänger die Freiheit der Antwort lasse. Deshalb gelte: »Das Wirken Gottes wird also weder einfach in den Phänomenen der Welt offenbar, deren Sich-Geben gewissermaßen universal, aber doch auch ins Leere geschieht, noch in der partikularen und dadurch immer ambivalenten Geschichte, in der Menschen momentane, unverwechselbar ihnen zukommende Sinnerfüllung erfahren. Im uns angehenden Gegebensein von allem sowie in den zwischenmenschlichen Situationen ist Gott als mittelbar Wirkender sich gebend und anbietend am Werk zu denken« 28. Büchners Überlegungen führen sodann zu einer dritten möglichen Annäherung. Ihr zufolge vereindeutigt sich das göttliche Geben in der Person Jesu Christi: Er ist »die äußerste und offenbarste von Gott in die Welt gegebene Gabe« 29. Aus christologischer Sicht ist diese Aussage zentral. Wechselt man jedoch die Perspektive und fragt nach der Sichtbarkeit des göttlichen Gebens für Jesus selbst, dann entsteht ein weiteres Mal die beobachtete Ambivalenz. Eine Psychologie Jesu, die fragt, ob er sein Leben und sein Schicksal ganz und gar als »gute Gabe Gottes« verstand, ist natürlich unmöglich. Schaut man auf die matthäische Darstellung der Passion, so wird Jesus als der »leidende Gerechte« par excellence vorgestellt. Seine Klage im Garten Getsemani und sein Verzweiflungsschrei am Kreuz zeichnen in der Vgl. Christine Büchner, Wie kann Gott in der Welt wirken? Überlegungen zu einer theologischen Hermeneutik des Sich-Gebens, Freiburg i. Br. 2010, 86–92. Zur kritischen Einschränkung der Rede von den »Masken Gottes« vgl. a. a. O., 185 Anm. Büchners Überlegungen gehen von einem etwas anders gelagerten Gabebegriff aus (vgl. a. a. O. 50–83; Hoffmann, Skizzen, 178–186). Im Blick auf die hier behandelte Fragestellung sind die Perspektiven aber aneinander anschlussfähig. 28 Büchner, Wie kann Gott in der Welt wirken?, 92. 29 Büchner, Wie kann Gott in der Welt wirken?, 227 f. Im Orig. hervorgehoben. Vgl. auch a. a. O., 314–326. 27
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Sprache der Psalmen (Ps 42,6; 22,2) das Modell des Gerechten, zu dessen Frömmigkeit immer »Klage und Vertrauen, eigene Bitte und Ergebung in Gottes Willen gehörten« 30. Da im Matthäusevangelium kein Stellvertretungsgedanke formuliert wird, kann für diesen Gerechten das Festhalten an seinem Gott aber nur mit einem Deutungsverzicht einhergehen. So nennt das Gebet in Getsemani für Jesu Bereitschaft zum Leiden eine einzige Begründung: das Geschehen des Gotteswillens. Es gibt nicht den leisesten Verstehenshinweis, warum dieser auf solche Weise geschehen muss. Im breiten Strom der Deutungen des Kreuzestodes ist die Ambivalenz insbesondere durch eben jenen Stellvertretungsgedanken aufgelöst und auf diese Weise das Verständnis von Christus als »äußerster Gabe Gottes« formuliert worden. Damit werden noch betonter als im Blick auf die prophetische Berufung verschiedene Empfänger der göttlichen Gabe angenommen: Wie als der eigentliche »Nutznießer« prophetischer Begabung die Gemeinschaft verstanden werden kann, zu der der Prophet in Gottes Auftrag spricht, wird das göttliche Handeln in der Passion Jesu ganz unter das Vorzeichen des »für uns« gestellt. Indem sich diese Interpretation im Rahmen einer »Nachfolge Christi« auch auf die Ambivalenzerfahrungen der Glaubenden anwenden ließ, hat sie ein erhebliches Trost- und Erklärungspotenzial entfaltet. Was der Einzelne im Blick auf sich selbst entweder nicht mit Gott zusammenbringen oder nur als eine »schlechte Gabe Gottes« verstehen kann, könnte, so das Deutungsangebot, dennoch seine »gute Gabe« sein: für andere. Aber auch diese Interpretation trägt in der nicht verstummenden Frage, warum das so sein »muss«, die Ambivalenz in anderer Gestalt weiter in sich. Hier von »Gottes guter Gabe« zu sprechen, bleibt argumentativ strittig und interpretativ nur im Rahmen einer entsprechenden individuellen Gesamtdeutung der Wirklichkeit tragbar.
5.
Fazit
Die angestellten Überlegungen verfolgten nicht das Ziel, etwas Neues in den Theoriediskurs um die Gabe einzubringen. Das erheblich bescheidenere Anliegen war es, in Ansätzen auf den Status der Rede von Ulrich Luz, Das Evangelium nach Matthäus. Teilbd. 4: Mt 26–28 (EKK; I/4), Zürich 2002, 152.
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der Gabe zu reflektieren – was angesichts der Emphase einerseits, der Skepsis bis hin zum Zynismus andererseits, mit der v. a. die Rede von »Gottes guten Gaben« gebraucht wird, doch nicht ganz überflüssig sein mag. Von etwas als einer »Gabe« oder einem Vorgang als »Geben« zu sprechen, stellt eine Zuschreibung dar, und diese Zuschreibung kann auf mehrere Weisen strittig sein: im sozialen Kontext mindestens zwischen den Beteiligten – »Deine ›Gabe‹ beleidigt mich« – wie auch zwischen Beteiligten und einem Beobachter – »In Wirklichkeit findet hier etwas anderes statt« – sowie über die Zeit – »Was ich damals als Zumutung durch meine Eltern empfand, sehe ich heute als ein großes Geschenk an«. Diese Ambivalenzen verschieben sich im religiösen Kontext, werden aber nicht einfach aufgelöst, manchmal vielleicht sogar verschärft. In argumentativen Zusammenhängen kann die Rede von »Gottes guter Gabe« zu Unklarheiten oder in die Irre führen oder als unzulässige argumentative Immunisierung verstanden werden. Besonders gefährlich sind bekanntlich Zuschreibungen von anderer, gar mit religiöser Autorität ausgestatteter Seite, was der Betroffene als Leid erlebe, sei »in Wirklichkeit« eine gute Gabe Gottes. Und in der religiösen Selbst- und Weltinterpretation aus christlicher Perspektive bleibt zwar jede Ambivalenz der Intentionen des Gebers ausgeschlossen, nicht aber, ob manche seiner Gaben für den unmittelbaren Empfänger nicht doch eine Zumutung sein könnten – oder ob die Zuschreibung, »Gabe Gottes« zu sein, sich doch nur auf unmittelbar als »gut« Erfahrenes beziehen könne, ja dürfe. Die Rede von »Gottes guten Gaben« wäre deshalb mit Sorgfalt und der klaren Markierung zu gebrauchen, dass es sich um eine solche Zuschreibung handelt, die nicht nur zwischen glaubender und nichtglaubender Sicht auf die Welt, sondern auch zwischen Glaubenden legitimerweise umstritten sein kann. Zugleich ist sie jedoch alles andere als ein Randphänomen gläubiger Wirklichkeitsinterpretation, das man wegen der aufgezeigten Problematik besser ganz aus der religiösen Rede verbannte. Denn sie artikuliert die Grundhoffnung der Glaubenden, dass die erfahrbare und erfahrene Ambivalenz der Welt nicht bis ins Tiefste reicht.
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Überfülle und Erlösung. Trinitätstheologische, soteriologische und eschatologische Implikationen des Gabediskurses Joachim Negel
Nicht irgendwo am Rande, sondern mitten im Herzen des theologischen Gabediskurses schlummert ein Thema, das zu entfalten Ziel der folgenden Ausführungen ist: göttliche Überfülle, superabundantia, Pleroma. Wie zentral dieses Thema ist, lässt sich an den Beobachtungen von vier Autoren ablesen, die in sachlicher wie methodischer Hinsicht ansonsten eher unterschiedliche, wenn nicht gar inkompatible Interessen verfolgen: Da macht Marcel Mauss im ethno-soziologischen Kontext auf die merkwürdige Tatsache aufmerksam, dass in archaischen Gesellschaften der Austausch von Geschenken einen »Überfluss an Reichtümern« 1 erzeuge, weil, wer sich großzügig zeige, mit umso größerer Gegengabe rechnen dürfe. 2 – Wiederum in kreativer Fortformulierung von Mauss behauptet Georges Bataille, dass im materiellen Überfluss, der durch den Tausch in Gang gesetzt werde, ein Jenseits ökonomischer Reziprozität aufleuchte, nämlich »das Prinzip Verschwendung«; diesem komme gerade in seiner exzessiven, lebensintensivierenden Dynamik eine lebenskontinuierende Wirkung 3 zu, und zwar, weil es den Tauschprozess immer dort neu belebe, wo dieser in Gefahr stehe, sich entropisch totzulaufen. 4 – Ähnlich und doch wieder ganz anders notiert Jean-Luc Marion im Kontext einer theologie-affinen Phänomenologie, dass eine Gabe nur dort wirklich empMarcel Mauss, Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften [1925], Frankfurt a. M. 1980, 40 f. 2 Mauss, Die Gabe, 51, 56 f., 91 f., 100. 3 Vgl. Georges Bataille, Theorie der Religion [1948], München 1997, 31–34, 39 f., 41– 50. 4 Georges Bataille, Der Begriff der Verausgabung [1933]. In: Ders., Die Aufhebung der Ökonomie, München 1975, 7–31; Der verfemte Teil [1949]. In: ebd., 33–234, hier 92 ff. – Vgl. zum Ganzen Robert Ochs, Verschwendung. Die Theologie im Gespräch mit Georges Bataille (BThSt 2), Frankfurt a. M. u. a. 1995. 1
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fangen werde, wo man sie im Empfang weiterreiche 5; denn jeder wirklichen, d. h. absichtslosen Gabe wohne eine Dynamik des Überschusses (redondance) 6 inne, die in Gang zu setzen es überhaupt erst gestatte, ein Gegebenes (donné) als Gabe (don) zu erkennen. 7 – Und schließlich macht in einem noch einmal anders gearteten Diskurs (nämlich dem einer hermeneutischen Reflexionsphilosophie) Paul Ricœur darauf aufmerksam, dass der Prozess menschlicher Identitätsfindung in der Gewähr wechselseitiger Anerkennung gründe 8 und deshalb implizit auf eine »Logik der Überfülle« (»logique de la surabondance«) 9 verweise, weil nämlich die in den Prozessen wechselseitiger Anerkennung aporetisch wirkende Ökonomie des Äquivalenzprinzips (do ut des) nur durch eine »Ökonomie der unverdienten Fülle« 10 (»logique du surplus et de l’excès« 11) unterlaufen werden könne. 12 Diese aus unterschiedlichen Perspektiven angestellten Beobachtungen legen folgende Vermutung nahe: Könnte es sein, dass der Vorgang der Gewähr, des Empfangs und des Weitergebens der Gabe auf einen sowohl unvordenklichen als auch utopischen Horizont abzielt? Und könnte es nicht weiter sein, dass ein möglicher Raum identitätsstiftender Anerkennung unter Menschen überhaupt erst durch das
Jean-Luc Marion, L’Idole et la Distance. Cinq études, Paris 21989, 210. Marion, L’Idole et la Distance, 211. 7 Vgl. Jean-Luc Marion, Étant donné. Essai d’une phénoménologie de la donation, Paris 1997. Im Umfeld von Étant donné sind zwei weitere wichtige Aufsätze entstanden: La conscience du don. In: Jean-Noël Dumont/ Jean-Luc Marion (Hg.), Le don. Colloque interdisciplinaire. Théologie, Philosophie, Psychologie, Sociologie, Lyon 2001, 59–73; La raison du don. In: Philosophie. Revue trimestrielle 78/3 (2003), 3–32. 8 Vgl. Paul Ricœur, Wege der Anerkennung. Erkennen, Wiedererkennen, Anerkanntsein, Frankfurt a. M. 2006, bes. 274–325. 9 Paul Ricœur, Liebe und Gerechtigkeit/ Amour et Justice, Tübingen 1990, 48–51, 56– 59, 78 f. 10 Paul Ricœur, Die Freiheit im Licht der Hoffnung. In: Ders., Hermeneutik und Strukturalismus. Der Konflikt der Interpretationen I, München 1973, 199–226, hier 208, 209. 11 Paul Ricœur, La liberté selon l’espérance. In: Ders., Le conflit des interprétations. Essais d’herméneutique, Paris 1969, 393–415, hier 401. 12 Veronika Hoffmann weist darauf hin, dass das Motiv einer »Ökonomie der unverdienten Fülle« in Ricœurs letztem Buch Wege der Anerkennung [2006] zwar nicht explizit thematisiert werde (der Grund dafür sei wohl, dass sich Ricœur hier nicht mit religiösen Fragen beschäftige), dass es nichtsdestotrotz aber unterschwellig präsent bleibe. (Die Gabe der Anerkennung. Ein Beitrag zur Soteriologie aus der Perspektive des Werkes von Paul Ricœur. In: ThPh 81 (2006) 503–528, hier 518, 526.) 5 6
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Unverrechenbare dieses Horizontes eröffnet wird? – Im Kontext biblischer Tradition wird dieser Horizont im Bild der Schöpfung als »sehr guter« Vor-Gabe (Gen 1,31) in Erinnerung gerufen; seine soteriologische Konkretion findet er in der rechtfertigungstheologisch begründeten Aufforderung zur dankbaren Weitergabe des überreich Erhaltenen (vgl. Mt 18,32 f.), um schließlich im Bild der Basileia als der Gabe göttlicher Lebensfülle schlechthin (Joh 1,16; 10,10; Offb 21,5– 7) seine eschatologische Zuspitzung zu erfahren. Sollte im Motiv des »reichen, vollen, gehäuften, überfließenden Gebens«, wie die lukanische Feldrede es formuliert (Lk 6,38), der Fokus eines geglückten, weil in Gott eingeborgenen und insofern geretteten Lebens zu entdecken sein, so wäre nun aber auch zu fragen, ob das biblische Motiv der Überfülle (πλήρωμα, περισσόν, supereffluentia, superabundantia) nicht grundsätzlich etwas von jenem Gott zu erkennen gibt, den Jesus als seinen »Vater« erfahren und verkündet hat: Dass dieser Gott verstanden werden müsse als Ineinsfall von Geber, Gabe und Geschehen des Gebens; dass ferner dieser als trinitarisches Gabegeschehen vorzustellende Gott sich in Jesus vermittels der von ihm in überschwänglichen Gleichnissen und Symbolhandlungen proleptisch ins Werk gesetzten Basileia als heilsames »umso mehr« (πολλῷ μᾶλλον [Röm 5,17]) »›in Person‹« 13 geoffenbart habe; und dass deshalb die in Jesu Errettung aus dem Tod anfangshaft angebrochene Basileia als lebensstiftende, weil todüberwindende Gabe göttlicher Überfülle beschrieben werden müsse. Was hier in lockerer Aneinanderreihung höchst unterschiedlicher Gabediskurse und der durch sie evozierten Fragen nur als Vermutung formuliert ist, soll im Folgenden genauer untersucht werden. Ich möchte dazu in fünf Schritten vorgehen: Zunächst ist der neutestamentliche Begriff der »Lebensfülle« (πλήρωμα τῆς ζωής), wie ihn Joh 10,10 suggestiv herbeiruft, in knappen Strichen zu umreißen (1). Sodann ist zu fragen, was dieser Befund systematisch in Hinsicht auf den dreifaltigen Gott als sowohl ad intra als auch ad extra sich verschenkende Lebensfülle zu denken gibt (2). Da wiederum die trinitätstheologische Spekulation ihre heilsökonomische Grundlage in Leben und Geschick Jesu besitzt, ha-
Paul Ricœur, The Logic of Jesus, the Logic of God. In: Ders., Figuring the Sacred. Religion, Narrative, and Imagination, Minneapolis 1995, 279–283, hier 282 f. – zitiert nach Hoffmann, Die Gabe der Anerkennung, 514.
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ben wir in einem dritten Schritt den Begriff göttlicher Lebensfülle christologisch auszubuchstabieren; hier wird zu fragen sein, inwiefern die Selbstmitteilung Gottes in Jesu Leben und Geschick im Sinne einer heilsgeschichtlichen Exinanitio (Ausleerung) göttlicher Fülle verstanden werden darf und inwieweit zu einem näheren Verständnis dieser Zusammenhänge die Gabediskurse von Marion und Bataille hilfreich vermitteln können (3). Unser vierter Schritt bietet dann zunächst eine Art Rückschau auf den durchlaufenen Parcours. Denn die drei eröffneten Gedankenreihen (göttliche »Überfülle« trinitarisch, christologisch, soteriologisch) zeichnen sich allesamt durch eine eschatologische Signatur aus: Von Gott als Dreifaltig-Einem zu sprechen ist nur möglich vor dem Hintergrund von Leben und Geschick Jesu von Nazareth; Jesu Leben und Geschick aber ist untrennbar verbunden mit seiner Botschaft von der nahegekommenen Basileia als der für den Menschen unwiderruflich entschiedenen Liebe Gottes. M. a. W. sowohl die Rede von der Überfülle der innertrinitarischen Lebensvollzüge als auch die Rede von ihrer Offenbarwerdung in Leben und Geschick Jesu stehen unter einer eschatologischen Signatur; denn der katastrophale Einbruch der Fülle Gottes (und nichts anderes wäre Ankunft der Basileia) ist eschatologisches Geschehen durch und durch. Wenn deshalb der biblische Begriff »Überfülle« unter der Perspektive der eschatologischen Fülle des Reiches Gottes thematisiert wird, so ist damit zwar augenscheinlich eine weitere Perspektive eröffnet, diese ist aber immer zugleich Perspektive aller bislang eingenommenen Perspektiven. Denn »Lebensfülle« als vollendete Anteilhabe des Menschen an Gott (vgl. Offb 21,1–22,5) kann gar nicht anders gedacht werden denn als endgültige Offenbarwerdung Gottes als lebensstiftender, d. h. todüberwindender Gabe schlechthin (4). – Mit einigen knappen Bemerkungen hinsichtlich der Frage, inwieweit jene verheißene Fülle unter den Bedingungen des alten Äon antizipiert werden kann, sollen meine Überlegungen dann schließen (5). Dass sie der einschlägigen Studie von Ralf Miggelbrink zum Thema 14 manches zu verdanken haben, sei vorab schon vermerkt.
Ralf Miggelbrink, Lebensfülle. Für die Wiederentdeckung einer theologischen Kategorie (QD 235), Freiburg i. Br. 2009.
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1.
Lebensfülle neutestamentlich 15
Der vor allem in der deuteropaulinischen Briefliteratur (Eph 1,23; 3,19; Kol 1,19; 2,9) prominent anzutreffende Begriff »Pléroma« (πλήρωμα) ist vom griechischen Verb πληρόειν gebildet. Im Profangriechischen bezeichnet πληρόειν zunächst die Anfüllung eines Hohlraumes, etwa von Schiffen oder Weinschläuchen. Im übertragenen Sinn wird das Verb dann gebraucht, um die Fertigstellung von Gebäuden, die Vollzähligkeit einer sich versammelnden Bürgerschaft oder die Fülle eines Lebens, das den Gipfel der Jahre erreicht hat, zu bezeichnen. 16 In diesem Sinne verwendet Paulus πλήρωμα im Römerbrief: Ganz Israel kommt vollständig (τὸ πλήρωμα αὐτῶν) zum Glauben an Christus, dies allerdings erst dann (11,12), wenn die Zahl der zum Heil gelangten Heiden voll geworden ist (τὸ πλήρωμα τῶν ἐϑνῶν [11,25]). In anderem Zusammenhang heißt es, die Liebe sei die Erfüllung des Gesetzes (πλήρωμα νόμου [13,10]); und wiederum die Erde mit allem, was sie erfüllt, gehört dem Herrn (1 Kor 10,26). In den deuteropaulinischen Briefen spezifiziert sich die Bedeutung von »Pléroma« dann im Sinne eines kosmo-theologischen terminus technicus: »Pléroma« ist die Fülle, die Gott in sich selber hat und an der er Anteil gewährt, wem er will. Deshalb kann dieser Begriff im Epheser- und Kolosserbrief nachgerade ekklesiologisch-kosmische Bedeutung gewinnen: So wie Christus ganz vom göttlichen πλήρωμα bewohnt ist (ἐν αὐτῷ εὐδόκησεν [Kol 1,19; 2,9]), so ist ihrerseits die Kirche (ἐκκλησία) als Christi Leib (σῶμα τοῦ Χριστοῦ) von dessen das All vollkommen beherrschender Fülle erfüllt (τοῦ τὰ πάντα ἐν πᾶσιν πληρουμένου [Eph 1,23]). Geist (πνεύμα) und Kraft (δύναμις) erscheinen so als soteriologische Wirkungen göttlicher Herrlichkeit (πλοῦτος τῆς δόξης [3,16]) und göttlicher Fülle (πλήρωμα [3,19]), vermittelt durch Christus, »wobei die letzten beiden Begriffe eher den Aspekt göttlichen Ursprungs, die ersteren eher denjenigen der menschlichen Wirkung bezeichnen.« 17
Das Folgende nach Miggelbrink, Lebensfülle, 146–153, 216–229. Vgl. Gerhard Delling, Art. »πλήρης 1.«, in: ThWNT 6 (1965), 283.19 ff.; Ders., Art. »πληρόω A«. In: Ebd., 285 f., hier 285.30 f. 17 Miggelbrink, Lebensfülle, 216 f. – Vgl. Gerhard Delling, Art. »πλήρωμα«. In: ThWNT 6 (1965), 297–304, hier 300.41 – 304.9. 15 16
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Wie konzipiert nun das Neue Testament die geschichtliche Präsenz der transzendenten Fülle der Gottheit? Hier ist vor allem an den Philipperhymnus zu erinnern. Der Gott gleiche Logos-Sohn »entäußerte«, ja »entleerte« sich (ἑαυτόν ἐκένωσεν [Phil 2,7]) in den Menschen Jesus von Nazareth, um »wie ein Sklave zu werden und den Menschen gleich« (μορφὴν δούλου λαβών, ἐν ὁμοιώματι ἀνϑρώπων γενόμενος). Menschwerdung wird hier als ein für das innere Leben Gottes selbst bedeutsames, ja gefährliches Ereignis gedeutet. In Jesus Christus wurde der göttliche Logos Mensch, indem er sich der Fülle seines eigenen Gottseins begab, d. h. sich in die Welt »entleerte« (Phil 2,7), um dadurch jene, die arm waren, reich zu machen (2 Kor 8,9) – das in der Patristik prominent entfaltete Motiv des wunderbaren Tausches (sacrum commercium) von Fülle in Armut und Armut in Fülle klingt hier an. 18 Die Metapher von der Selbstentleerung Gottes in den Menschen Jesus von Nazareth endet im Philipperhymnus nun aber nicht in einer fragwürdigen »Tod-Gottes-Theologie«, deren Strategie es wäre, nach dem Verstummen des Logos am Kreuz den Menschen an dessen Stelle treten zu lassen 19; vielmehr sollen die Christen dem in die Welt sich entäußernden Christus deswegen »gleichgesinnt« (Phil 2,5) sein, weil dessen Kenosis ein wesentliches Moment an seinem Herrscherantritt über die ganze Schöpfung ist: »Deshalb hat ihn Gott über alle erhöht und ihm den Namen gegeben, der jeden Namen übertrifft. Damit alle im Himmel, auf der Erde und unter der Erde ihre Knie beugen vor dem Namen Jesu und jede Zunge bekennt: ›Jesus Christus ist der Herr zur Ehre Gottes des Vaters‹.« (2,9–11) Implizit klingt auch hier wieder der heilsökonomische Pleroma-Begriff an, nun aber dialektisch vermittelt über die Vorstellung einer Kenosis – anscheinend ist der Füllebegriff ohne den einer ihm korrespondierenden Leere gar nicht zu denken. Wie schon erwähnt, deutet der Kolosserbrief die »Menschwerdung als Einwohnung Gottes mit seiner Fülle (πλήρωμα) in dem Menschen Jesus von Nazareth (Kol 1,19; 2,9).« 20 Wiederum »der Epheserbrief beschreibt sie als Wirkung des Geistes Gottes bei jenen Vgl. Martin Herz, Sacrum commercium. Eine begriffsgeschichtliche Studie zur Theologie der römischen Liturgiesprache (MThS II/15), München 1958. 19 Vgl. etwa Dorothee Sölle, Stellvertretung. Ein Kapitel Theologie nach dem »Tode Gottes«, München 1982. 20 Alle folgenden Zitate Miggelbrink, Lebensfülle, 149. (Ausschreibung der griech. Zitate: JN.) 18
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Christen, die sich von der Liebe Gottes leiten lassen, d. h. als deren progressive Erfüllung mit dem göttlichen πλήρωμα (Eph 3,19).« Und schließlich »das Johannesevangelium bekennt den in Jesus menschgewordenen Logos als die innergöttliche Quelle von Gnade und Wahrheit (Joh 1,17), aus deren πλήρωμα ›alle‹ empfangen haben« »Gnade über Gnade« (Joh 1,16). Neben der Bezeichnung der göttlichen Vollkommenheit als solcher dient der Füllebegriff neutestamentlich also vor allem zur Beschreibung der aus dem inneren Leben der Gottheit hervorgehenden Heilsökonomie, und zwar christologisch, soteriologisch und eschatologisch. Insbesondere im Johannesevangelium finden sich diese drei Perspektiven zusammengebunden: »Der Dieb kommt nur, um zu stehlen […] und zu vernichten; ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben« (Joh 10,10). In den Abschiedsreden »wird die Fülle des göttlichen Lebens zur Programmatik des seine kosmische Herrschaft antretenden Christus: ›Aber jetzt gehe ich zu dir [, Vater]. Doch dies rede ich noch in der Welt, damit sie meine Freude in Fülle in sich haben.‹ (Joh 17,13)« Aber auch über diese drei systematisierenden Perspektiven hinaus hat das theologische Interpretament »Fülle« (πλήρωμα, περισσόν) einen präzisen Anhalt in der Bilderwelt des Neuen Testamentes. »Die Wachstums- und Erntemetaphorik der synoptischen Reich-Gottes-Gleichnisse spricht von der Wirksamkeit Gottes in Welt und Menschheit als einem machtvollen Wachstumsprozess« (Gleichnis von der selbstwachsenden Saat [Mk 4,26–29]), in dem aus Unscheinbarem unerwartet Großes wächst (Senfkorn-Gleichnis [Mk 4,30– 32]). Nicht einmal der sein kostbares Saatgut vergeudende Bauer, der dieses auf Wege, Felsengrund und unter Dorngestrüpp wirft, kann der Wachstumskraft Gottes unter den Menschen schaden (Mk 4,1–9), im Gegenteil: »[S]ein pointiert unökonomisches, verschwenderisches Verhalten scheint der spezifischen Wachstumsdynamik des Reiches Gottes in besonderer Weise zu entsprechen: Das Reich Gottes wächst nicht aus der Logik der sparsamen, ökonomischen Mangelverwaltung, sondern aus der entgegengesetzten Logik einer Vergeudung des Überschusses«, eine Einsicht, die auch den Erzählungen vom verschwenderisch ruinösen Opfer der armen Witwe (Mt 12,41–44), von der nicht minder verschwenderischen Salbung Jesu in Bethanien (Mk 14,3–9) sowie von der gescheiterten Werbung des reichen Jünglings (Mk 10,17–27) zugrunde liegt: Wer um des Himmelreiches alles lässt, wird hundertfach zurückempfangen (v. 28–31) – eine Einsicht, von Die Gabe
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der her nicht zuletzt auch die gabetheoretischen Untersuchungen von Marcel Mauss neu zu lesen wären. 21 Andere Textgruppen des Neuen Testamentes haben die Wahrnehmung bzw. Nichtwahrnehmung des Überschusses zum Thema. »Die für die Jesusbewegung […] signifikante Zeichenhandlung der Mahlgemeinschaft findet bei Matthäus (22,1–10) und Lukas (15,15– 24) im Gleichnis vom großen Festmahl seine Aufnahme: Grundlage ist der großzügig einladende Gastgeber, dessen Großzügigkeit blockiert wird durch das Krämerverhalten der Geladenen, die ihre alltäglichen Geschäfte dem Festmahl vorziehen. Ganz ähnlich blockiert sich der ältere Sohn im Gleichnis vom barmherzigen Vater (Lk 15,11–32), der der Festfreude über das wiedergewonnene Leben seines Bruders seine ökonomische Aufrechnung von Verdienst und Missverdienst gegenüberstellt.« 22 Wiederum der Schalksknecht weigert sich, an der Verwandlung der Welt mitzuwirken, indem er, statt die stupende Großzügigkeit seines Herrn an seinen Kollegen weiterzureichen, diesem gegenüber auf bestürzende Weise geizig verfährt (Mt 18,32 f.). Ähnlich, wenn auch weniger drastisch, missgönnen die scheeläugigen Tagelöhner ihren Kollegen das Glück, das ihnen der großzügige Weinbergsbesitzer zukommen lässt (Mt 20,1–16). »Die bisher genannten Beispiele zeigen bereits an, dass es eine Frage der Wahrnehmung ist, ob Menschen sich von einer [… fatalen] Faszination des Mangels beherrschen lassen oder ob sie der jesuanischen Inspiration der Überfülle folgen. Eine ganze Reihe von Gleichnissen thematisiert genau dieses Wahrnehmungsthema: Das Gleichnis vom reichen Kornbauern (Lk 12,13–21) führt einen mangelobsessiven Reichen vor und entlarvt ihn als Toren. Im Stile weisheitlicher Lebensregeln ermuntert Jesus zu einer Haltung der Nachlässigkeit gegenüber den ökonomischen Sorgen (Lk 12,22–34; parr). Der Eintritt in die diesseitige Wirkmächtigkeit des anbrechenden Gottesreiches verbindet sich mit einem Perspektivwechsel, der es als klug und geraten erscheinen lässt, Sicherheit und Wohlstand um eines unvorstellbar wertvollen […] Gutes willen zu riskieren, das Matthäus in den Bildern vom verborgenen Schatz im Acker und der
Vgl. die entsprechenden Überlegungen von Magdalene Frettlöh, dargestellt und diskutiert bei Veronika Hoffmann, Skizzen zu einer Theologie der Gabe. Rechtfertigung – Opfer – Eucharistie – Gottes- und Nächstenliebe, Freiburg i. Br. 2003, 115– 124. 22 Alle Zitate Miggelbrink, Lebensfülle, 150. 21
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wertvollen Perle anspricht (Mt 13,44–46). Einen Perspektivwechsel dürften auch die Hörer Jesu anlässlich der Speisung der Fünftausend (Mk 6,35–42) durchgemacht haben, als sie offensichtlich bereit waren, ihren sorgsam gehüteten Mangel an ausreichenden Lebensmitteln mit allen zu teilen, um so am Ende einen beachtlichen Gesamtüberschuss zu erzielen« 23: Paulinisch gesprochen verwandelt sich hier tiefe Armut in den Reichtum eines selbstlosen Gebens, aus dem alle, Geber wie Empfänger, reicher hervorgehen (vgl. 2 Kor 8,2). Reflektiert man auf das Fülle-Thema, wie es sowohl in der jesuanischen Reich-Gottes-Botschaft der Synoptiker als auch in den entsprechenden Passagen des Johannesevangeliums und der deuteropaulinischen Briefliteratur anzutreffen ist, so wird schnell offensichtlich, dass wir es hier nicht mit irgendeinem Seitenstrang der neutestamentlichen Botschaft zu tun haben, sondern mit einem Kernthema: Die Gegenwart Gottes ist Fülle (πλήρωμα), Reichtum (περισσόν), Überfluss, nicht versiegender Quell lebensstiftender Güter (vgl. Jes 55,1 f. MT; 26,19 LXX; syrBar 29,5 – 30,2), wie insbesondere die Erzählung von der Hochzeit zu Kana deutlich macht (Joh 2,1–12). Insofern stellt sich die Frage, was sich von hier aus für die christliche Gottesrede in ihren trinitätstheologischen, christologischen und eschatologischen Aspekten ergibt.
2.
Trinitarische Pleromatik: Gott als Einheit von Geber, Gabe und Geschehen des Gebens
Wenn gilt, dass die Basileia das Offenbarwerden jenes Gottes ist, von welchem die einschlägigen Gleichnisse Jesu sagen, er sei »die für den Menschen unwiderruflich und voraussetzungslos entschiedene Liebe« 24, dann muss die Fülle der Basileia, wie sie in den jesuanischen Reich-Gottes-Gleichnissen und -Handlungen antizipatorisch herbeibeschworen wird, auch etwas über jenen Gott selbst aussagen. Mit anderen Worten: Jener Gott, dessen hervorragende Qualität es ist, zuvorkommend und großzügig zu sein, ist kein jovialer Potentat, Alle Zitate Miggelbrink, Lebensfülle, 150. (Kursivierung J. N.) So die bekannte Formulierung von Thomas Pröpper, Vgl. ders, Erlösungsglaube und Freiheitsgeschichte. Eine Skizze zur Soteriologie, München 31991, 194–198, 246 ff.
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sondern er muss selber als Gabegeschehen gedacht werden, als ein bonum superfluens et diffusivum sui 25: heilsökonomisch »nach außen« sich ergießendes Gabegeschehen deshalb, weil er zunächst und vor allem überfließendes Gabegeschehen in sich selber ist. Damit geraten wir in trinitätstheologische Zusammenhänge, die das Johannesevangelium folgendermaßen umschreibt: »Denn wie der Vater das Leben in sich hat, so hat er auch dem Sohn gegeben, das Leben in sich zu haben.« (5,26) Was hier gleichsam im Blick auf die innertrinitarischen Gabebeziehungen von ewigem Vater und ewigem Logos-Sohn beschrieben wird (Gott erscheint nicht als monolithischeinpersonaler Herrscher oder höchstes Seiendes, sondern als ein Gabegeschehen der Liebe, das selbst noch die extremste Differenz unterfasst bzw. in sich einbeschließt: die Differenz von Ich und Nicht-Ich bzw. von Ich und Du), das ist für den Johannesevangelisten Grundlage bzw. Ausgangspunkt des neutestamentlichen Heilsgeschehens insgesamt: »Deshalb liebt mich der Vater, weil ich mein Leben hingebe [ἐγω τίϑημι τὴν ψυχήν μου], um es wieder zu nehmen [ἵνα πάλιν λάβω αὐτήν]. Niemand entreißt es mir, sondern ich gebe es aus freiem Willen hin. Ich habe Macht [ἐξουσίαν ἔχω], es hinzugeben, und ich habe Macht [καὶ ἐξουσίαν ἔχω], es wieder zu nehmen. Diesen Auftrag habe ich von meinem Vater empfangen.« (10,17 f.) Damit ist nun aber deutlich, dass die Vollmacht Jesu sich nicht aus eigener Machtvollkommenheit speist, sondern allein dem Vater sich verdankt – erneut wird deutlich, dass der Fülle-Begriff ohne den einer ihm korrespondierenden Empfänglichkeit nicht zu denken ist. Als der Sohn ist Jesus reines Gefäß der göttlichen ἐξουσία; sie ist die Kraft, in der sein Leben sich zu einer einzigen Gebärde der Dahingabe an Gott und die Menschen (παράδοσις) zusammenschließt. Die Gleichförmigkeit Jesu mit dem Willen des Vaters (5,19b) bedeutet Verzicht auf jede Selbstverfügung (5,30; 6,38; 8,28) und hat gerade darin – in ihrer äußersten Ungestalt (vgl. Phil 2,7 f.) – den Gestus großzügigster Vergeudung und Weggabe. Johannes fasst diesen Vorgang unter dem Nexus trinitarischer Doppelseitigkeit: Je weniger Jesus seine eigene Ehre im Blick hat, sondern die δόξα dessen, von dem er sich gesandt weiß (Joh 17,4), desto mehr ruht er dem Willen des Vaters auf, und Vgl. Dionysios Areopagita, De div. nom. IV, 20 (PTS 33, 166. 5 ff.); IV, 4 (ebd. 147.4–15) und IV, 1 (ebd. 143.12 – 144.5). – Der Lehrsatz des Dionysios wird von Thomas wiederholt zitiert, vgl. etwa STh I, q. 73 art. 3 obj. 2: »bonum est diffusivum et communicativum sui«.
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desto mehr sind Vater und Sohn eins (10,30). Gerade im Verzicht auf jede Selbstdarstellung (5,44; 7,18) wird Jesus durchsichtig auf Gott. Das Vollbringen der Werke des Vaters, das in der Hingabe des eigenen Lebens kulminiert (vgl. 10,15), offenbart den hierin sich kundtuenden Gott in erlösendem wie abgründigem Sinn als ein Geschehen von Opfer/ Gabe/ Commercium [παράδοσις] (10,37 f.; vgl. 19,28.30). Der dreifaltige Gott erscheint hier als Einheit von Geber, Gabe und Geschehen des Gebens, als reine Weg-gabe seiner selbst. Gerade darin vermag er der Unerlöstheit und Verworfenheit der Welt nicht nur standzuhalten, sondern Gericht und Aufschein von Gnade gleichermaßen ihr entgegenzusetzen. 26 In der Perspektive des Johannesevangeliums kann der Sohn »hingegebenes, verdurstendes, bis zum letzten ausgeronnenes Wort sein«: er bleibt – da nicht aus menschlicher Mangelobsession, sondern aus der Freigiebigkeit der Lebensfülle seines Vaters (πλέρωμα) sich schöpfend – »dennoch ewiges Wort.« 27 Gleichwohl ist deutlich, dass die Selbstentäußerung des Logos in die unerlöste Menschheitsgeschichte ein für die Gottheit in höchstem Maße sich selbst riskierendes Geschehen darstellt: »Er kam in sein Eigentum, aber die Seinen nahmen ihn nicht auf« (Joh 1,11) – wobei offen bleiben muss, ob und in welchem Maße jene, die ihn aufnehmen und solcherart als Gotteskinder an der Lebensfülle des Vaters Anteil gewinnen (1,12 f.), in der Lage sind, der Durchsetzung des heilschaffenden Gotteswillens Geltung zu verschaffen. Aber auch über diese prekären Zusammenhänge menschlicher Heils- bzw. Unheilsgeschichte hinaus bleibt deutlich, dass göttliche Fülle und Nähe ohne den Contrapart von empfänglicher Leere und Distanz nicht zu denken sind. Warum dies so ist, hat (neben Hans Urs von Balthasar als seinem theologischen Mentor) vor allem JeanLuc Marion deutlich gemacht: Alle Kommunikation, selbst die der intimsten Liebe, vollzieht sich als ein Nähe-Abstand-Verhältnis. Mehr noch, je intimer die Nähe, umso größer die Erfahrung der Distanz. Warum dies so ist, liegt in dem beschlossen, was man das Gesetz der inversen Relation nennen könnte: Die Erfahrung der Alterität wächst im gleichen Maße wie die Erfahrung der Intimität und umgekehrt; je näher ich dem anderen komme, umso tiefgründiger lerne ich Vgl. Hoffmann, Skizzen zu einer Theologie der Gabe, 508–512; Hans Urs von Balthasar, Theodramatik III: Die Handlung, Einsiedeln 1980, 212–397. 27 Hans Urs von Balthasar, Herrlichkeit III/2, Teil II: Neuer Bund, Einsiedeln 21988, 357. 26
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ihn in seiner Unterschiedenheit kennen; je mehr ich ihm geeint bin, umso mehr werde ich inne, wie sehr er im Vergleich zu mir ein Anderer ist. 28 Was unter Menschen gilt, gilt erst recht in Bezug auf die innertrinitarischen Verhältnisse der drei göttlichen »Personen«. Auch hier steigern sich Nähe und Distanz, Intimität und Alterität, Fülle und Leere, Reichtum und Armut aneinander: »Gabe und Hingabe«, sagt Marion, »sind die zwei Bewegungen, die in ein und demselben Abstandsverhältnis spielen. Sich dem Vater hingeben bedeutet, im Vollzug der Hingabe selbst (und d. h. in Anerkennung des Abstandes) eine unhintergehbare Alterität zu empfangen. […] Allein der Sohn ist arm genug, um der Andere des Vaters zu sein. Allein der Sohn kann in jener Alterität, die ihm der Abstand [sc. von seinem Vater] eröffnet, alles vom Vater empfangen.« 29 Hans Urs von Balthasar, auf den Marion sich hier bezieht, hat diese Zusammenhänge folgendermaßen beschrieben: Der ursprungslose Vater spricht sich selber aus in seinem ewigen Wort, das, an ihn sich rückwortend, sich als der in Ewigkeit von ihm gezeugte Sohn erweist. Das aber bedeutet: Je mehr der ewige Sohn – ganz aus dem Vater sich schöpfend – an diesen sich zurückschenkt, umso mehr lässt er ihn sein, was er ist: ursprungsloser Ursprung des innertrinitarischen Gabegeschehens, »fons et origo totius divinitatis«. 30 Wiederum je mehr der Vater dem Sohn seine Fülle mitteilt (vgl. Joh 17,10; Kol 1,19), umso mehr »wird« dieser, was er ist: »Strom, welcher der
»L’amour […] requiert la distance […], pour que la participation se fortifie dans le mystère de l’altérité, et la renforce. La distance ménage l’écart pour que l’amour reçoive d’autant plus intimement le mystère de l’amour. L’altérité croît autant que l’union – dans l’unique distance, antérieure et pérenne, permanente et primordiale. […] La participation ne franchit […] jamais la distance en prétendant l’abolir, mais la parcourt comme l’unique champ pour l’union. La participation s’accroît à participer de l’imparticipable comme tel, et en accroît l’imparticipabilité d’autant plus qu’elle y participe plus intimement. Le paradoxe fondamental de la participation ressortit ici à la distance.« (Marion, L’Idole et la Distance, 201 f.). Ähnlich Ders., Dieu sans l’être, Paris 1991, 36: »[…] l’union croît à la mesure de la distinction, et réciproquement.« 29 »[…] l’abandon et le don [jouent] comme les deux mouvements de l’unique distance. S’abandonner au Père, c’est, Le désignant dans la distance, recevoir, dans le geste même du renvoi, une altérité irréductible. […] Seul le Fils est assez pauvre pour être l’autre du Père. Donc seul le Fils peut, dans l’altérité que la distance lui assure, tout recevoir de Dieu« (Marion, L’Idole et la Distance, 148; dt. Übersetzung JN). 30 So die auf ein Bild des Athanasius zurückgreifende Formulierung der sechsten und elften Synode von Toledo (DH 490, 525). 28
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Quelle entspringt« 31 und durch den (δι’ αὐτοῦ) und in dem (ἐν αὐτῷ) und auf den hin (εἰς αὐτόν) alles erschaffen ist (Joh 1,3; Kol 1,16). Man sieht hier auf Anhieb, wie sehr es naheliegt, die innertrinitarischen Beziehungsverhältnisse als komplexes Gabegeschehen zu interpretieren und wie sehr dieses als solches die Bedingung der Möglichkeit bereitstellt, Welt als Schöpfung und Geschichte als Heilsgeschichte denken zu können. Noch einmal Balthasar: »Man kann die Selbstaussprache des Vaters in der Zeugung des Sohnes als eine erste, alles unterfassende innergöttliche ›Kenose‹ bezeichnen, da der Vater sich darin restlos seiner Gottheit enteignet und sie dem Sohn übereignet: er ›teilt‹ sie nicht ›mit‹ dem Sohn, sondern ›teilt‹ dem Sohn alles Seine ›mit‹ : ›Alles Deinige ist mein‹ (Joh 17,10). Der Vater […] i s t diese Hingabebewegung, ohne etwas berechnend zurückzuhalten. Dieser göttliche Akt, der den Sohn hervorbringt als die zweite Möglichkeit, an der identischen Gottheit teilzuhaben und sie zu sein, ist die Setzung eines absoluten, unendlichen Abstands, innerhalb dessen alle möglichen andern Abstände, wie sie innerhalb der endlichen Welt bis einschließlich zur Sünde hin auftreten können, eingeschlossen und umfangen sind.« 32
In diesen wenigen Sätzen ist für Balthasar alles Wesentliche der Trinitätslehre wie in einem Nukleus zusammengefaßt. Die unvordenkliche »Selbstgründung« immanenter Trinität habe man weder (neuplatonisch) als quasi-naturalen Vorgang überfließender Fülle noch (hegelianisch) als prozessuale Verstrickung Gottes ins Weltgeschehen zu denken, sondern »als jene ewige und absolute Selbsthingabe […], die Gott schon in sich als die absolute Liebe erscheinen lässt, woraus sich erst die freie Selbsthingabe an die Welt als Liebe erklärt, ohne dass Gott zu seinem Selbstwerden […] des Weltprozesses und des Kreuzes bedürfte.« 33 Ist damit auf der einen Seite deutlich die Differenz zu Platon und Hegel sowie zu deren theologischen Epigonen markiert, so liegt Balthasar auf der anderen Seite doch alles daran, in Gott selbst ein Geschehen zu setzen, das nicht nur die Möglichkeit menschlicher Freiheit und somit das Geschehenlassen von Schuld, Schmerz und Leid, sondern auch die Teilnahme Gottes daran rechtfertigen kann. Die Grundlage für eine solche Teilnahme Gottes an der Welt, d. h. die Bedingung der Möglichkeit ökonomischer HeilsmitteiRaimon Panikkar, Trinität. Über das Zentrum menschlicher Erfahrung, München 1993, 92. 32 Balthasar, Theodramatik III, 300 f. 33 Balthasar, Theodramatik III, 300. 31
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lung überhaupt, kann aber nirgendwo anders denn in der immanenten Trinität selbst als einem unvordenklichen Gabegeschehen der Liebe liegen (vgl. 1 Joh 4,16b). Balthasars diesbezüglich grundlegende Spekulation lautet daher konsequenterweise folgendermaßen: »In der Liebe des Vaters liegt ein absoluter Verzicht, für sich allein Gott zu sein, ein Loslassen des Gottseins und in diesem Sinn eine (göttliche) Gottlosigkeit (der Liebe natürlich), die man keineswegs mit der innerweltlichen Gottlosigkeit vermengen darf, die aber doch deren Möglichkeiten (überholend) grundlegt. Die Antwort des Sohnes auf den geschenkten gleichwesentlichen Besitz der Gottheit kann nur ewige Danksagung (eucharistia) an den väterlichen Ursprung sein, so selbstlos und berechnungslos, wie es die erste Hingabe des Vaters war. Aus beiden hervorgehend, als ihr subsistierendes ›Wir‹, atmet der gemeinsame ›Geist‹, der die unendliche Differenz zugleich offenhaltend (als Wesen der Liebe) besiegelt und, als der eine Geist beider, sie überbrückt.« 34
Man sieht hier deutlich, wie sehr Balthasar alles daran gelegen ist, die Fülle göttlichen Lebens (πλήρωμα) als ein ewiges Geschehen dreifacher Selbsthingabe bzw. Selbstentäußerung (κήνωμα) zu denken. »Sohn und Geist«, so deutet Thomas R. Krenski diese Zusammenhänge, »sind mit dem Vater eines Wesens, indem sie, wie er, reine Verschwendung sind. Die trinitarischen Personen, das sind sie, indem sie auf je verschiedene Weise diese Verschenkung sind, [sie] besitzen das Gottsein, indem sie es lassen.« 35 Zwar kann man nur in analoger, nicht in univoker Weise von einer wechselseitigen Kenose in Gott sprechen, ist doch die Rede von einer innergöttlichen Hingabe des Sohnes an den Vater und des Vaters an den Sohn der Lebenshaltung Jesu entlehnt (vgl. Phil 2,6–8; Kol 1,17). Insofern aber die Art und Weise Jesu, in seinen Worten und Taten die Liebe des Vaters zu den Menschen zu versichtbaren, diesen selbst offenbar macht (vgl. Joh 14,9b mit 3,16), ist es statthaft, »von einer Entsprechung der ökonomischen Entäußerung Gottes in Jesus Christus und der innertrinitarischen Liebeswirklichkeit auszugehen« 36 – (ob diese sich in ihr in ihrer ganzen Fülle enthüllt hat oder nur in andeutungsweiser Annäherung, ist dagegen eine Frage, die hier nicht näher diskutiert werden
Balthasar, Theodramatik III, 301. Thomas R. Krenski, Passio Caritatis. Trinitarische Passiologie im Werk Hans Urs von Balthasars, Einsiedeln 1990, 140. 36 Krenski, Passio Caritatis, 141. 34 35
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kann 37). Gleichwohl besteht Balthasar energisch darauf, dass die innertrinitarische Selbstentäußerung des Vaters an sein ewiges Wort »sich nicht aus Armut, sondern aus der Fülle des Seins [πλήρωμα] vollzieht«, weshalb »die Armut« (κήνωμα) des väterlichen Sich-Verschenkens an den Sohn und des Sohnes an den Vater als der »eigentliche[.] Reichtum Gottes« 38 zu begreifen ist. In diesem auf höchst paradoxe Weise als kenotisch zu fassenden Reichtum Gottes liegt für Balthasar nun aber die Möglichkeit von Gottes geschichtlichen Selbstentäußerungen in die Welt beschlossen: erstens Gottes Selbstbeschränkung im Schöpfungsakt aufgrund der seinen Geschöpfen verliehene Freiheit; zweitens seine Selbstbindung an Israel im Vorgang des Bundesschlusses; und drittens schließlich die Menschwerdung des Sohnes, der die Göttlichkeit seiner Sohnschaft durch seinen frei übernommenen Weg bis hinein in das Verstummen am Kreuz austrägt. Damit wird nun auch deutlich, inwiefern Schöpfung, Bundesschluss und Inkarnation als Ausfaltungen des einen trinitarisch fundierten Gabegeschehens zu denken sind: »Die Gebärde, mit der der Vater die ganze Gottheit ausspricht und dahingibt (eine Gebärde, die er nicht nur ›tut‹, sondern ›ist‹), kann, sofern sie den Sohn als das unendlich Andere seiner selbst zeugt, nur gleichzeitig die ewige Voraussetzung und Überholung all dessen sein, was Trennung, Schmerz, Entfremdung in der Welt, und was Liebeshingabe, Ermöglichung von Begegnung, Seligkeit in ihr sein wird. Nicht unmittelbare Identität von beidem, sondern überlegene und überholende Voraussetzung für beides. […] Dass Gott (als Vater) seine Gottheit so weggeben kann, dass Gott (als Sohn) sie nicht bloß geliehen erhält, sondern ›gleichwesentlich‹ besitzt, besagt eine so unfassbare und unüberbietbare ›Trennung‹ Gottes von sich selbst, dass jede (durch sie!) ermöglichte Trennung, und wäre es die dunkelste und bitterste, nur innerhalb ihrer sich ereignen kann.« 39
Alles, was ist, ereignet sich also innerhalb des dreifaltigen Gottes als eines unvordenklichen Gabegeschehens, Armut und Fülle ineins,
Vgl. dazu in Diskussion vor allem der berühmten Rahner-These, »die ›ökonomische‹ Trinität ist die immanente Trinität und umgekehrt«, Josef Wohlmuth, Zum Verhältnis von ökonomischer und immanenter Trinität – Eine These. In: Ders., Im Geheimnis einander nahe. Theologische Aufsätze zum Verhältnis von Judentum und Christentum, Paderborn 1996, 115–138; Jürgen Werbick, Gebetsglaube und Gotteszweifel, Münster 2001, 191–198. 38 Krenski, Passio Caritatis, 140 f., Anm. 35. 39 Balthasar, Theodramatik III, 302. 37
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ohne dass dies bedeuten müsste, die durch die unendliche Differenz von Vater und Sohn ermöglichte Schöpfung sei in der Lage, durch ihre mangelobsessive Selbstverweigerung dem Gottsein Gottes Eintrag zu tun. Im Gegenteil – Gottes Gottsein besteht ja in der »Identität« von gebender Gabe (dem Vater) und sich empfangender und verdankender Gabe (dem Sohn). Von einem solcherart subsistierenden Gabegeschehen der Liebe (dem Geist) darf nun aber nicht nur gesagt werden, dass es »stark ist wie der Tod« (Hld 8,6b), sondern stärker ist als er (vgl. 1 Kor 13,8a) 40, unterläuft es doch alle entropischen Selbstsicherungsstrategien eines endlichen Lebens. Wie lassen sich diese Zusammenhänge nun aber geschichtlich denken? Und wie gewinnen unsere Überlegungen von hier aus ihre dezidiert christologische Kontur?
3.
Inkarnation als pleromatische Selbstverschwendung Gottes unter den Bedingungen einer heillos dem Äquivalenzprinzip verfallenen Welt
Blickt man auf die ethischen Aussagen des Neuen Testamentes, so springt eine Spannung ins Auge, die unüberbrückbar scheint: Einerseits wird dem Menschen alles gewährt und vergeben, weil er aus eigener Kraft nichts zu leisten vermag; anderseits sieht er sich mit den Forderungen der Bergpredigt konfrontiert, die in dem ungeheuren Satz münden: »Ihr sollt also vollkommen sein, wie es auch euer himmlischer Vater ist.« (Mt 5,48) Dieser Widerspruch lässt sich nur durch das erklären, was man das Überschwänglichkeitsprinzip der jesuanischen Reich-Gottes-Botschaft nennen könnte; in ihm kommt jegliches Denken der Äquivalenz (»do ut des«, »Auge um Auge, Zahn um Zahn«) an sein Ende. Der Leipziger Philosoph Christoph Türcke hat hierfür ein untrügliches Gespür entwickelt, weshalb zunächst ihm das Wort überlassen sei: Ähnlich wie bei Jesu Gemeinschaftsmählern mit Sündern und Zöllnern, deren Skandalon darin besteht, das Reich Gottes, auf welches hier rituell vorweggegriffen wird, als jene Wirklichkeit aufzufassen, in der die Unterscheidung von Sündern und Gerechten (und damit die Differenz von Lohn und Strafe) definitiv aufgehoben sein
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würde (vgl. Mt 11,19; Lk 7,37), zeichnen sich auch Jesu Gleichnisse durch eine spezifische »Amoralität« 41 aus: »Wo Gerechtigkeit sein soll, da hat ein Reich Gottes, das wie der Überschwang eines unmäßig liebenden Vaters oder als gleicher Lohn für ungleiche Arbeit daherkommen will, keinen Raum. Umgekehrt gesagt: Wo es Raum greift, kommt es als Ende jeglichen Maßes, als Ende des Äquivalenzprinzips. […] Das Ende der Äquivalenz: das ist die Obsession, für die Jesus nicht aufhörte, nach Worten und Bildern zu suchen. Um sie kreisen sämtliche seiner Gleichnisse. Wo immer sie unzweifelhaft auf ihn zurückgehen, ist ihre Signatur der Überschwang, das Unmaß, die Bedingungslosigkeit. Das kann das Übermaß des Erbarmens sein wie beim Vater des verlorenen Sohns, aber ebenso das Unmaß der Lohnauszahlung wie bei den Arbeitern im Weinberg [oder] die Unverschämtheit, mit der der betrügerische Hausverwalter Schuld vergibt« 42. Dass Jesu Lob im Blick auf jenen Hausverwalter ganz offensichtlich einem Betrüger galt, hat den Evangelisten viel Kopfzerbrechen bereitet (die nachgeschobenen Erklärungen Lk 16,9–13 bringen dies deutlich an den Tag). »Dessen Vergehen aber war: Schulden erlassen, oder, etwas weniger ökonomisch gesagt, Schuld vergeben – ohne nach Berechtigung und Verdienst zu fragen. Offenbar hat Jesus genügend Berührung mit Geldwirtschaft gehabt, um zu erkennen, dass es mit Vergebung erst dann wirklich ernst wird, wenn die vergebene Schuld aus Schulden besteht. Hätte etwa die Vergebung, die dem verlorenen Sohn zuteil wurde, lediglich bedeutet, dass ihm der Vater sein schmähliches Verschwinden und Verprassen nicht länger nachtrug – man könnte das Gleichnis mühelos als moralische Anleitung lesen, als Aufforderung zur Integration von Außenseitern, wie es in zahllosen Handreichungen zum Religionsunterricht bis zum Überdruss dargeboten wird. Der Haken ist jedoch: Der jüngere Sohn wird mit Festkleid, Ring und Schuhen ins Eigentum des älteren Sohnes eingesetzt, über das der Vater weiterhin verfügt. Er vergibt dem jüngeren, indem er Eigentum des älteren vergibt. Eine durchaus haarsträubende Form von Vergebung. Ähnlich skandalös ist die Vergebung des Haushalters. Aber so ist Vergebung, wenn sie denn ernstlich vollzogen wird. Unter geldwirtschaftlichen Bedingungen ist jede Vergebung unmotiviert, ungerechtfertigt, unChristoph Türcke, Jesu Traum. Psychoanalyse des Neuen Testaments, Lüneburg 2009, 124. 42 Türcke, Jesu Traum, 127 f. 41
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mäßig, kurzum, sie rührt an die Grundlagen von Herrschaft und Tribut, von Vorleistung und Schulden.« 43 In der Bergpredigt feiert der Amoralismus des Reiches Gottes im Sinne einer Aufhebung des mosaischen Äquivalenzprinzips dann seinen Triumph: »Jesu Aussprüche über das Zürnen, Ehebrechen und Schwören [Mt 5,21 f.27.33 f.37] sind ohne ihren Rückbezug auf die erwähnten alttestamentlichen Gebote [Ex 20,13; Dt 5,17/Ex 20,14; Dt 5,18/Lev 19,12] kaum verständlich. Sein Aufruf, dem Bösen nicht zu widerstehen und die Feinde zu lieben [Mt 5,38 f./Lk 6,27 ff.], gewinnt vor dem Hintergrund des einprägsamen ›Auge um Auge, Zahn um Zahn‹ [Lev 24,20] erst seine volle Tiefenschärfe. Schwerlich sind diese alttestamentlichen Zitate erst von christlichen Schriftkundigen nachgetragen worden. Es spricht alles dafür, dass sie schon zu jener eisernen Ration von Gesetzeskenntnis gehören, die Jesus aus dem Täuferkreis mitnahm« 44. Seine gegenüber dem Täuferkreis eigene Version des Reiches Gottes, das nicht als Zorngericht (vgl. Lk 3,7 ff. par), sondern als überschwängliche Vergebung daherkommen würde, musste vor genau diesen höchsten Geboten bestehen. »Das konnte sie aber nicht zu den Konditionen des Gesetzes, sondern nur zu ihren eigenen. Sie musste selbst noch die höchsten Gebote überbieten, sie gewissermaßen infizieren, auf dass sie sich selber in Heilkräfte umwendeten. Nicht töten? Das war nicht genug. Wer wahrhaft heilend wirken will, darf nicht einmal zürnen. Nicht ehebrechen? Das war zu wenig. Geheilte Verhältnisse sind erst, wo kein Mann mehr begehrlich nach einer Frau sieht. Keinen Meineid schwören? Das reichte nicht aus. Immer, nicht nur unter Eid, ist wahr zu sprechen: also überhaupt nicht mehr schwören, aber stets sprechen, als sage man unter Eid aus. ›Auge um Auge, Zahn um Zahn‹ : das ist die berühmteste Formel für das Äquivalenzprinzip. Aber Äquivalenz begleicht lediglich, sie heilt nicht. Heilung muss mehr als begleichen: zum Mantel auch noch das Untergewand hinzutun, dem Fordernden im Überschwang geben, den Fluch mit Segen beantworten, den Angriff mit einem Überschwang an Zuneigung; dem Bösen nicht aus Trägheit nicht widerstehen, sondern in einer bis zur Verblüffung und Beschämung offensiven Wehrlosigkeit.« 45
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Türcke, Jesu Traum, 124 f. Türcke, Jesu Traum, 135. Türcke, Jesu Traum, 135 f.
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Jesus rührt mit den Forderungen seiner Antithesen an den empfindlichsten Punkt allen Ethos und aller Moral: er rührt an das Äquivalenzprinzip, das in der matthäischen Version der Bergpredigt als die angebliche Quintessenz der Antithesen präsentiert wird: »Alles nun, was ihr wollt, das euch die Leute tun sollen, das tut auch ihnen. Darin besteht das Gesetz und die Propheten.« (Mt 7,12) Man nennt diesen Satz die »Goldene Regel«. »Die Pointe der Goldenen Regel ist die Wechselseitigkeit, ohne die es keine gesitteten Verhältnisse geben kann. Wenn ein Gemeinwesen Bestand haben soll, darf niemand Unannehmlichkeiten, die er selbst nicht wünscht, andern zumuten; hingegen muss jeder Annehmlichkeiten, die er für sich beansprucht, auch allen andern zugestehen.« 46 »Aber ist Wechselseitigkeit nicht bloß ein anderes Wort für Äquivalenz? Vorteil um Vorteil, Ware um Ware, Kuss um Kuss: ist das nicht nur die Schokoladenseite des ›Auge um Auge, Zahn um Zahn‹ ? In der Tat, es bleibt im Bann der Vergeltung. Gutes wird durch Gutes beglichen, aber ebenso Böses durch Böses: Schuld durch Strafe, Gewalt durch Gewalt. Ein Reich Gottes, das als finale Vergeltung gedacht wird, kommt aus diesem Teufelskreis nicht heraus. Verletzung und Genugtuung durch neue Verletzung sind seine höchsten Kategorien. Es ist im Grunde nicht besser als die Welt, von der es erretten soll. Nur wer dem Bösen nicht mehr widersteht und seine Feinde vorbehaltlos liebt, macht wirklich Schluss mit der Vergeltung.« 47 Erst wenn man sich diese von Türcke präzis nachgezeichneten Zusammenhänge vor Augen hält, wird das Skandalöse der ReichGottes-Botschaft Jesu deutlich: In seinen Gleichnissen, Heilungen und Symbolhandlungen führt Jesus derart radikal und spektakulär vor, was unverkürzte, allen Elends und aller Vergeltung ledige Versöhnung wäre, dass er die Hilflosigkeit des Gesetzes und des es gründenden Äquivalenzprinzips auf unerträgliche Weise hervortreten lässt. Wer das Heiligste einer Gesellschaft antastet, hat mit massiver Vergeltung zu rechnen. Das Heiligste der Gesellschaft, die Grundlage ihres Zusammenlebens aber ist der Zirkel des »do ut des«, der kein selbstvergessenes Geben kennt, sondern nur den berechnenden Verkehr von Dingen als Waren und Tauschgegenständen (vgl. Lk 6,30.32–34) und damit die mangelobsessive Reduplizierung von Not,
46 47
Türcke, Jesu Traum, 138. Türcke, Jesu Traum, 139.
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Verschuldung und einer die Verschuldung sühnenden Neuverschuldung. Mit zwangsläufiger Notwendigkeit muss daher Jesus als extreme Versinnbildlichung der Versöhnung deren extremes Gegenteil erdulden. Insofern erweist gerade die kollektive Ablehnung, die ihm widerfährt, die Wahrheit seiner Botschaft. In scharfem Kontrast zu einer Kultur, in der die Knappheit der Güter der Maßstab allen Lebens ist, stellt sich die Basileia, die Jesus in seinen Heilungen und Symbolhandlungen antizipatorisch aufscheinen lässt, als »die unendliche Selbstverschwendung Gottes« 48 dar, und dessen Verkünder als Gottes Selbstverschwendung in Person. Von hier aus fällt deshalb auch ein neues Licht auf den zwar nicht unproblematischen, theologisch aber wohl unverzichtbaren Begriff des Opfers. Anders als Ralf Miggelbrink und andere es wahrhaben wollen, erschöpft sich »die Logik des Opfers« keineswegs notwendig in einem »religiösen Verknappungsdenken« 49; es gibt (wie vor allem Georges Bataille zu betonen nicht müde wird) auch das Opfer der Verschwendung, der Fülle, der Hingabe, des jauchzenden Exzesses 50 (vgl. Mk 2,19 f.; par) – und zu fragen wäre, ob von hier aus nicht ein theologisch adäquates Verständnis des heilschaffenden Lebensopfers Jesu möglich wäre. Wie dies zu denken sei, hat Nietzsche im trunkenen Lied seines Zarathustra eindrucksvoll dargestellt: Im vierten Buch, dessen erster Abschnitt mit dem Titel »Das Honigopfer« überschrieben ist, heißt es, der altgewordene Zarathustra habe – wie »alle[.] Früchte, die reif werden« – Honig in seinen Adern. Diesen wolle er auf einem hohen Berg »opfern«. Aber nicht ein Opfer des Verzichts sei dies, sondern eines der Selbstverschwendung: »Was opfern! Ich verschwende, was mir geschenkt wird, ich Verschwender mit tausend Händen: wie dürfte ich das noch – Opfern heißen!« 51 Zarathustra muss, damit sein Reich der Erde, der Lebensfülle, der ewigkeitssehnsüchtigen Lust 52 anbreche, sein Glück »[hinaus]werfe[n] in alle Weiten und Fernen […].« 53 Ob ähnlich nicht auch von Jesus zu spreche wäre? Wenn Jesus Joseph Ratzinger, Einführung in das Christentum, München 1985, 213 f. Miggelbrink, Lebensfülle, 151. 50 Georges Bataille, Die Erotik, München 1994, bes. 87–141, 215–258, 313–396. 51 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra. In: KSA (Hg. Colli / Montinari) Bd. IV, 295–299, hier 296. 1 f. 10 f. 20 ff. 52 Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 403. 20 f.: »Lust will aller Dinge Ewigkeit, will tiefe, tiefe Ewigkeit!« 53 Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 297, 7 f. 48 49
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»die unendliche Selbstverschwendung Gottes« 54 in Person ist; wenn die von ihm verkündete und gelebte Basileia nicht anders denn als Überfluss von »Gerechtigkeit, Friede und Freude im Heiligen Geist« (Röm 14,17) zu denken ist 55 – und deshalb als Überfluss überhaupt aller guter Gaben, derer der Mensch bedarf, um leben zu können (vgl. syrBar 29,5 – 30,2 mit Joh 2,1–12), dann ist auch deutlich, wie unter den Bedingungen einer Mangelwelt, die ihm, der Selbstverschwendung Gottes in Person, den Tod bringt, die Ankunft des Gottesreiches zu denken wäre: Zu denken wäre sie als heilsame Unterbrechung des zwanghaften »do ut des«, als Aufschein eines gelungenen Lebens an jener »Grenze […], an der es sich entzieht.« 56 Wie aber wäre eine solche Unterbrechung zu imaginieren?
4.
Zur eschatologischen Signatur der Basileia als pleromatischer Selbstverschwendung Gottes
Die zuletzt gestellte Frage nötigt zu einer Rückschau auf den bislang durchlaufenen Parcours. Offensichtlich ist, dass unter den Bedingungen der alten, unerlösten Welt ein Gottesreich jenseits des Äquivalenzprinzips, wie Jesus es lebte, Gewalt erleiden muss (vgl. Mt 11,12). Zugleich gilt aber auch, dass die Gewalt, die man Jesus (und damit dem Himmelreich) antut, durch die Treue seines Vaters ins Unrecht gesetzt ist: »Den Urheber des Lebens habt ihr getötet«; »Gott aber hat ihn von den Wehen des Todes befreit; denn es war unmöglich, dass er vom Tod festgehalten wurde.« »Dafür sind wir Zeugen.« (Apg 3,15a; 2,24b; 3,15b) Durch Jesu Errettung aus dem Tod, in welcher Gott »das Versprechen der Liebe, für die Jesus als schon gegenwärtige einstand, an ihm als ihrem ursprünglichen, getöteten Zeugen selbst schon bewährt und somit in der denkbar äußersten Situation ihre Ratzinger, Einführung in das Christentum, 213 f. Ratzinger, Einführung in das Christentum, 214: »Überfluss ist das Prägezeichen Gottes in seiner Schöpfung; denn ›nicht nach Maß berechnet Gott seine Gaben‹, wie die Väter sagen. Überfluss ist aber zugleich der eigentliche Grund und die Form der Heilsgeschichte, die letztlich nichts anderes ist als der wahrhaft atemberaubende Vorgang, dass Gott in unbegreiflicher Selbstverschwendung nicht nur ein Weltall, sondern sich selbst verausgabt, um das Staubkorn Mensch zum Heil zu führen. So ist […] Überfluss die eigentliche Definition der Heilsgeschichte.« 56 Henning Ritter, Die Souveränität ist schweigsam. Nachlassendes Bedürfnis, Mensch zu sein: Georges Bataille, der Philosoph der Überschreitung. In: FAZ Nr. 210 (10. September 1997), 39. 54 55
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Treue erwiesen« 57 hat, sind nun aber »die Fürsten und Gewalten« dieser Welt »entwaffnet und öffentlich zur Schau gestellt« (Kol 2,15), d. h. sie sind entlarvt als das, was sie sind: als unfähig zu einer Gerechtigkeit, die als überschwängliches Geben (Mt 10,8; vgl. 2 Kor 9,7–15) weit über das Äquivalenzprinzip hinausgeht (Röm 12,8b; vgl. 1 Joh 3,10); als, weil auf den eigenen Vorteil bedacht (Mt 18,32 f.; 20,11– 15), immer auch der Lüge verhaftet (vgl. Apg 5,1–10) – und schließlich, weil unfähig, Gottes freie Gabe aus freien Stücken weiterzureichen (vgl. Mt 18,32 f. mit 1 Kor 4,7), als »menschenmörderisch von Anfang an« (ἀνϑρωποκτόνος ἀπ’ ἀρχῆς) (Joh 8,44). Dagegen erscheint jener Gott, der den vollmächtigen Zeugen seiner Großzügigkeit nicht im Tode beließ, als sich selbst verschwendende Liebe. Als sich selbst verschwendende ist sie zugleich aber auch todüberwindende Liebe, denn von einer Liebe, die in der Lage ist, die Homogenität einer der reinen Wechselseitigkeit verhafteten und insofern entropisch in den Tod laufenden Welt 58 aufzusprengen, ist es statthaft zu sagen, sie sei nicht nur »stark wie der Tod«, sondern stärker als er. Ist damit nun aber nicht auch deutlich, wie sehr wir es beim neutestamentlichen Offenbarungsgeschehen mit einem »Ereignis« zu tun haben, das alle naturalen und geschichtlichen Rahmenbedingungen sprengt und insofern als ein durch und durch eschatologisches Geschehen begriffen werden muss? In Explikation des das neutestamentliche Offenbarungsgeschehen resümierenden Satzes »Gott ist die Liebe« (1 Joh 4,8) hat Eberhard Jüngel diese Zusammenhänge in einer Weise beschrieben, die deutlich werden lässt, wie sehr die immanente Trinität als die eschatologische Wahrheit der ökonomischen Trinität 59 gelten darf und das Osterereignis als deren aufblitzender Vorschein. Jüngel schreibt: Jener Gott, der in Jesu Leben und Geschick als todüberwindende Liebe offenbar wurde, »hat sich selbst nur so, dass er sich verschenkt. So aber, sich verschenkend, hat er sich. So ist er. Seine Selbsthabe ist […] die Geschichte eines Sich-Verschenkens und insofern eben das Ende aller bloßen Selbsthabe. Als diese Geschichte ist er Gott, ja diese Thomas Pröpper, »Dass nichts uns scheiden kann von Gottes Liebe …« Ein Beitrag zum Verständnis der »Endgültigkeit« der Erlösung. In: Ders., Evangelium und freie Vernunft. Konturen einer theologischen Hermeneutik, Freiburg i. Br. 2001, 40–56, 48. 58 Unter dieser Perspektive liest Georges Bataille die Systemimmanenz von moderner Arbeitsökonomie, Politik und Religion: Theorie der Religion, 73–79. 59 So die These von Josef Wohlmuth (s. o. Anm. 38), in deren Licht ich Jüngels Trinitätstheologie lese. 57
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Geschichte der Liebe ist ›Gott selbst‹.« 60 Das Sein Gottes ist insofern auch kein statisches, sondern ein sich-vollziehendes; es ereignet sich als »ein in Freiheit über sich selbst hinausgehendes, sich verströmendes und verschenkendes Selbstverhältnis: reiner Überfluss, überströmendes – zugunsten eines anderen und nur insofern zugunsten seiner selbst überströmendes – Sein.« 61 Im trinitarischen Gott ist mithin in Vollendung verwirklicht, wovon jede wirkliche Liebe unter Menschen ein Abglanz ist: Liebe ist ja, so Jüngel, »formal geurteilt, das Ereignis einer inmitten noch so großer […] Selbstbezogenheit immer noch größeren Selbstlosigkeit« 62: »Ich will, dass du bist, sagt der Liebende zum Geliebten« 63, denn wenn der Geliebte auflebt, lebt auch der Liebende auf. Zugleich gilt aber auch: »Liebe ist, material geurteilt, die sich ereignende Einheit von Leben und Tod zugunsten des Lebens« 64, denn nicht nur ist Liebe jene Kraft, die auf vorzügliche Weise ins Sein ruft (»L’amour est par excellence ce qui fait être« 65), sie ist nach einem berühmten Wort von Gabriel Marcel auch jene Kraft, die sich weigert, dem Tod das letzte Wort zuzuerkennen, weil sie das Sein des Geliebten will und deswegen darauf setzt, dass die schöpferische Kraft der Liebe stärker ist als die tödliche des Todes. 66 Insofern ist es nur folgerichtig, wenn nach neutestamentlichem Zeugnis Gott als Liebender daran erkannt wird, dass er jenen Menschen, der ihn als vollmächtig Liebenden bezeugte, nicht im Tode beließ (vgl. Röm 4,17). Indem der ewige Gott sich zum gekreuzigten Jesus als seinem authentischen Zeugen bekennt und ihn zu sich erhöht (Phil 2,9), offenbart er ihn als seinen Sohn und sich selber als dessen Vater. Daraus erhellt nun aber noch einmal neu der eigentliche und tiefste Grund von Schöpfung, Bundesschluss und Inkarnation, wie wir ihn in Anschluss an Hans Urs von Balthasar beschrieben haben
Eberhard Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt, Tübingen 1977, 506. Ebd. 62 Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt, XIII. 298, 302, 408 f., 411, 434 ff., 438, 444, 446, 449, 466, 471, 491, 506, 512 f. 63 Josef Pieper, Traktat über die Liebe. In: Werke (Hg. Berthold Wald) Bd. IV, Hamburg 1996, 296–414, hier 314–321. 64 Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt, XIII. 298, 302, 408 f., 411, 434 ff., 438, 444, 446, 449, 466, 471, 491, 506, 512 f. 65 Maurice Blondel, Exigences philosophiques du Christianisme, Paris 1950, 241 – zitiert nach Pieper, Traktat über die Liebe, 319. 66 Gabriel Marcel, Geheimnis des Seins, Wien 1952, 472 – zitiert nach ebd. 319. 60 61
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(s. o. Abschnitt 2). Weil Gott als ein Liebender »Mitliebende« will, wollte er im Eigensten seiner selbst, seinem menschgewordenen Wort, ganz bei den Menschen sein. 67 So sehr dieser sich selbst riskierende Einsatz ihm das Äußerste abnötigt, so wenig kommt darin seine Liebe an ein Ende. Vielmehr gibt dieser Gott sich im Ereigniszusammenhang von Leben, Tod und Auferstehung Jesu Christi als derjenige zu erkennen, der, um die Tödlichkeit menschlicher Mangelobsession aufzusprengen, sein Eigenstes (nämlich seinen Sohn) diesen Zusammenhängen aussetzt (vgl. Röm 8,32), ohne ihn doch darin zuschanden werden zu lassen – und insofern ist es statthaft, diesen Gott als denjenigen zu bezeichnen, der »in noch so großer Selbstbezogenheit [der] je immer noch Selbstlosere und so Überströmende und sein eigenes Sein Steigernde [ist].« 68 Wie gesagt, steht diese Lesart Gottes als eines trinitarischen Gabegeschehens zwar unter eschatologischem Vorbehalt; als theologisch konsequente Ausformulierung des neutestamentlichen Christusereignisses beschreibt sie zugleich aber auch, wie unter den Bedingungen des alten Äon die weltverwandelnde Liebe Gottes sich hat mitteilen können: als ein Geschehen, das den alten Äon insofern ins Unrecht setzt, als es ihn in der Auferweckung Jesu heilsam unterbricht: »Christus, von den Toten auferweckt, stirbt nicht mehr; der Tod hat keine Macht mehr über ihn.« (Röm 6,9) 69 Wie aber ließe sich verhindern, dass die im Christusgeschehen aufblitzende Ahnung von göttlich gewährter Lebensfülle in der entropischen Homogenität des unerlösten Weltlaufs lautlos wieder untergeht? Welche Übungsfelder gibt es, um das im trinitarischen Hingabegeschehen Aufscheinende geschichtlich wirkmächtig werden zu lassen?
So die berühmte Formulierung von Duns Scotus: Gott wurde in seinem ewigen Sohn Mensch, »quia vult habere condiligentes« (Opus Oxoniense III d. 32 q. 1 n. 6). 68 Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt, 506. – Vgl. Vf.: Nur als Gabe spricht das Ding. Zur theologischen Valenz der Opfertheorie von Gerardus van der Leeuw. In: ThGl 86 (1996) 458–487, hier 468–471, 480–484. 69 Zur Definition des neutestamentlichen Offenbarungsgeschehens als einem den unerlösten Weltlauf heilsam unerbrechenden Ereignis vgl. (in Anschluss an Walter Benjamin) Johann Baptist Metz, Memoria Passionis. Ein provozierendes Gedächtnis in pluralistischer Zeit, Freiburg i. Br. 2006, 143–150. 67
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5.
Übungsfelder einer Kultur der Lebensfülle
Seit alters kennt die Kirche drei solcher Orte: Martyria, Diakonia, Liturgia. Sie alle zeichnen sich durch eine eucharistische Grundstruktur aus. Jean-Luc Marion hat hierauf wiederholt aufmerksam gemacht: Die Gegenwart des sich hinschenkenden Christus kommt immer nur dort an den Tag, wo Er, Christus, als Gabe empfangen wird. Als Gabe wird Christus aber nur empfangen, wo man ihn weitergibt. Allein in der Weitergabe wird die Gabe empfangen; wo man sie für sich behält, bleibt sie unfruchtbar. Insofern bedeutet den Reichtum Gottes zu empfangen nichts anderes als den Akt des Gebens zu empfangen (»recevoir l’acte donateur«) – jene »Bewegung einer unendlichen Entäußerung der Liebe«, in welcher Gott durch Christus alles gibt: sich selbst. Das aber bedeutet: »Der Mensch nimmt die Gabe als Gabe dadurch entgegen, dass er […] den Akt des Gebens selbst fortsetzt. […] Wer nicht weitergibt, hat auch nicht empfangen […]. Empfangen und Geben vollenden sich in ein und demselben Akt.« 70 Man spürt deutlich das gerüttelte Maß an Verantwortung, das dem einzelnen Christen hier zugemutet wird. Von seiner Haltung, die eucharistische Gabe zu empfangen und weiterzuverteilen, hängt ab, ob und inwieweit andere in das göttliche Gabegeschehen einbezogen werden oder nicht (vgl. Mt 18,32 f.). Marion spricht in diesem Zusammenhang von einer »doppelten Solidarität sowohl in der Liebe wie in ihrer Verweigerung. Hier wird auf rigorose Weise ein jeder Schuldner des anderen, weil ihm die Gabe der Gnade doch nur vermittels deren Weitergabe zuteil wird. Der andere wird hier in noch einmal strengerer Weise mein Nächster, kann doch die Gnade, soweit es an ihr liegt, meinen Nächsten nur von mir her, ja sozusagen in Gestalt meiner selbst erreichen oder verfehlen. Jeder Mensch wird in diesem Sinne für den anderen entweder Zeichen der Anwesenheit oder der Abwesenheit Christi. Jeder wird auf unhintergehbare Weise verantwortlich Alle Zitate Marion, L’idole et la distance, 212: »Recevoir le don revient à recevoir l’acte donateur, car Dieu ne donne rien que le mouvement d’infinie kénose de la charité, c’est-à-dire tout. L’homme donc ne reçoit comme tel le don qu’en accueillant l’acte de donner, c’est-à-dire par répétition en donnant lui-même. Recevoir le don et le donner se confondent en une seule et même opération, la redondance. Seul le don du don peut recevoir le don, sans se l’approprier et le détruire, en une simple possession. Celui qui ne donnerait pas ne recevrait rien, qu’il ne fige aussitôt en sa possession. Recevoir et donner s’achèvent donc dans le même acte.« (Dt. Übersetzung J. N.)
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für den anderen, er bietet auf seinem Antlitz die einzige Vision Gottes, die seinem Nächsten – vielleicht – jemals zuteil wird« 71 – man sieht, wie sehr gerade eine aus der Logik göttlicher Selbstmitteilung sich ergebende Ethik uns hindert, uns im Überschwang, den die Rede von Gott als liebender Überfülle freisetzen könnte, zu verlieren. Ganz ähnlich spricht Rémi Brague in Anschluss an Bernhard von Clairvaux »von der Gegenwart Gottes als von einem Antlitz, das keine Gestalt hat, aber Gestalt gibt [›facies non formata sed formans‹]. Das Antlitz ist das, was uns sichtbar sein lässt. Gott versichtbart sich nicht, indem er sich in einer Form ausbreitet, sondern indem er uns prägt und uns zu unsern Brüdern und Schwestern entsendet. Er schickt uns und gibt uns in der Sendung selbst das Antlitz Christi, des Gesendeten des Vaters. Gott erfahren heißt [insofern] nicht ihn sehen, sondern ihn versichtbaren und sehbar machen. Die Erfahrung, die uns der christliche Glaube vorschlägt, besteht darin, das zu werden, was erfahrbar ist. […] Der Mitmensch, zu dem ich entsendet bin, ist also nicht eine Ergänzung meiner Gotteserfahrung, er ist ebensowenig ein Ersatz dafür. Die Sendung zu ihm hin ist die Erfahrung Gottes«, allerdings nur insofern, als »es sich wirklich um eine Sendung handelt und nicht bloß um Sympathie oder menschliche Begierde«, »um eine Sendung [also], die die Sendung des Sohnes vom Vater weg wiederholt.« 72 – Was dies bedeuten könnte und müsste, hat Martin Buber in seiner Schrift »Ich und Du« am Beispiel des Mythos von Pradschapati dargestellt, wie ihn das indische »Brahmana der hundert Pfade« überliefert: »Im Wettstreit […] lagen einst Götter und Dämonen. Da sprachen die Dämonen: ›Wem mögen wir wohl unsre Opfergaben bringen?‹ Sie legten alle Gaben in den eigenen Mund. Die Götter aber legten die Gaben einander in den Mund. Und da gab Pradschapati, der Urgeist, sich den Göttern.« 73 »[…] une double solidarité, dans la charité, comme dans son refus. Ici, chacun devient rigoureusement tributaire de l’autre, puisque le don de grâce ne lui parvient que par redondance. L’autre redevient mon prochain, puisque la grâce ne lui provient qu’autant qu’elle peut, par moi et, pour ainsi dire, comme moi, l’atteindre ou le manquer. Chaque homme devient, pour l’autre, sacrement du Christ, ou de son absence. Chacun devient responsable inéluctablement de son prochain, et offre sur son visage l’unique vision de Dieu que son prochain, peut-être, percevra jamais.« (Ebd., 215. – Dt. Übersetzung J. N.) 72 Rémi Brague, Was heißt christliche Erfahrung? In: Internationale katholische Zeitschrift [Communio] 5 (1976) 481–496, hier 495 f. – mit Zitat aus Bernhard von Clairvaux, Cant. 31, 8 (PL 183, 943C). 73 Martin Buber, Ich und Du, Darmstadt 111983, 74 f. 71
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Überfülle und Erlösung
Nur im Weitergeben des Empfangenen, so wird man diesen Mythos wohl deuten dürfen, ereignet sich, was das Neue Testament »Reich Gottes« nennt. Denn die Basileia ist nicht vorfindliches Faktum, sondern aufblitzendes Ereignis nicht gekannter Fülle. – In einer berühmten russischen Legende wird diese Vision eines Gebens, aus welchem der lebenspendende Geist und also das Reich Gottes gebiert, noch einmal anders erzählt, und indem wir abschließend ihr zuhören, kommt aus der Perspektive einer trinitarisch fundierten Ethik an den Tag, wie sehr der Mensch jenes Wesen ist, für welches das Überflüssige das Notwendige ist und wie sehr menschliche Armut sich in den Reichtum eines vorbehaltlosen Gebens dort verwandeln kann, wo sie sich den Gestus göttlichen Gebens zu eigen macht: »Ein Rabbi bat Gott einmal darum, den Himmel und die Hölle sehen zu dürfen. Gott […] gab ihm den Propheten Elija als Führer mit. Dieser führte den Rabbi zuerst in einen großen Raum, wo auf einem Feuer ein Topf mit einem köstlichen Gericht stand. Rundum saßen Leute mit langen Löffeln und schöpften alle aus dem Topf. Aber die Leute sahen blass, mager und elend aus. Es herrschte eisige Stille. Denn die Stiele ihrer Löffel waren so lang, dass sie das herrliche Essen nicht in den Mund bringen konnten. Als sie wieder draußen waren, fragte der Rabbi den Propheten, welch ein seltsamer Ort das gewesen sei: ›Das ist die Hölle‹, antwortete dieser. Und Elija führte den Rabbi in einen zweiten Raum, der genau aussah wie der erste. In der Mitte des Raumes brannte ein Feuer, und auch dort kochte ein köstliches Essen. Leute saßen ringsum mit langen Löffeln in der Hand. Aber sie waren alle gut genährt, gesund und glücklich; sie unterhielten sich angeregt, denn sie versuchten nicht, sich selbst zu füttern, sondern benutzten die langen Löffel, um sich gegenseitig zu essen zu geben. Dieser Raum war der Himmel.« 74
Zitiert nach einer bei Willi Hoffsümmer überlieferten Version: Kurzgeschichten I. 255 Kurzgeschichten für Gottesdienst, Schule und Gruppe, Mainz 112006, 139.
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IV. Ver-geben? Konflikt, Konfliktlösung und Machtambivalenzen in der Perspektive der Gabe
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Vom Glück des Gebens, des Verzeihens und des Vergebens. Phänomenologische Überlegungen zu drei elementaren Vollzügen personaler Interaktion Markus Enders
1.
Einführung
In diesem Beitrag soll zunächst auf einer elementaren Stufe eine kleine Einführung in das Wesen des Gebens gegeben werden. Dabei sollen in einer formalen Analyse die insgesamt vier konstitutiven Elemente im Akt des Gebens untersucht und im Einzelnen sowie in ihrem Zusammenhang miteinander bestimmt werden. Abschließend sollen die Grundzüge der beiden personalen Gabeakte des Verzeihens und des Vergebens in ihren Gemeinsamkeiten und ihren Unterschieden entfaltet und bestimmt werden. Doch beginnen wir mit dem Geben als solchem. Vom Geben ist alltags- und umgangssprachlich und daher auch auf der sprichwörtlichen Ebene sehr häufig, und zwar in einem auffallend positiven Sinn, die Rede. Denn wer von uns kennt nicht z. B. die sprichwörtliche Sentenz »Geben ist seliger als nehmen« – die, was oft nicht mehr bewusst ist, höchst wahrscheinlich auf Jesus von Nazareth zurückgeht, sofern sie ein nach Paulus echtes und ursprüngliches Wort Jesu darstellt, und zwar nach Apg 20,35: »In allem habe ich [Paulus] euch gezeigt, dass man sich auf diese Weise abmühen und sich der Schwachen annehmen soll, in Erinnerung an die Worte Jesu, des Herrn, der selbst gesagt hat: Geben ist seliger als nehmen.« Oder nehmen wir die ebenfalls jüdisch-christliche, und zwar wiederum von Paulus überlieferte Volksweisheit: »Jeder gebe, wie er es sich in seinem Herzen vorgenommen hat, nicht verdrossen und nicht unter Zwang; denn Gott liebt einen fröhlichen Geber.« (2 Kor 9,7) Oder betrachten wir etwa die gerade für ältere Personen wichtige Lebensweisheit: Es ist besser, mit warmen Händen, d. h. noch zu Lebzeiten, zu geben als mit kalten Händen, d. h. durch Vererbung nach dem eigenen Tod. In diesen drei hier nur exemplarisch herausgegriffenen sprachlichen Gebrauchsformen für das Verb »geben«, einschließlich Die Gabe
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seiner substantivierten Verbalform »das Geben« bzw. Partizipialform »der Gebende« oder »der Geber«, wird dem Akt des Gebens jeweils eine besondere Wertschätzung zuteil: In unserem ersten Beispiel wird von dem Geben, d. h. von dem Schenken von Gaben, behauptet, es sei seliger, gemeint ist: für den Geber glücksbringender, förderlicher für sein wahres Glück, als das Nehmen, d. h. als das An- und Entgegennehmen von Gaben. Der Sinngehalt dieser Sentenz leuchtet uns intuitiv sofort ein. Fragt man aber nach dem rationalen Grund für diese sprichwörtliche Wahrheit, tun wir uns schwer damit, einen solchen zu finden und ihn uns selbst und anderen verständlich zu machen. Ähnlich ist es mit der paulinischen Sentenz vom fröhlichen Geber, der objektiv der bessere Geber sei als der mürrische Geber. Denn warum soll der eine Gott gefallen, der andere aber nicht, wenn doch beide im Endeffekt dieselbe Gabe mitteilen? Und schließlich wissen wir irgendwie und insgeheim darum, dass es im Prinzip, wenn auch nicht in jedem Einzelfall, besser ist, mit warmen als mit kalten Händen zu geben; doch wenn wir uns auch hier nach dem Grund dieser Behauptung fragen, entdecken wir die Schwierigkeit einer plausiblen und verallgemeinerungsfähigen Begründung. Wenn aber die genannten sprichwörtlichen Aussagen Recht haben sollten, dann ist das Geben grundsätzlich, und das heißt: vor jeder gegebenen Gabe, besser als das Nehmen, und das fröhliche, das freiwillig und gerne vollzogene Geben grundsätzlich besser als das ungern und wider Willen oder das erst nach dem eigenen Tod und damit nur mittelbar und indirekt vollzogene Geben. Warum dies jedoch so ist, können wir erst im Rahmen einer formalen Analyse des Gabeaktes sichtbar machen.
2.
Eine formale Analyse des Gabeaktes 1
2.1 Die konstitutiven Elemente des Gabeaktes Es ist leicht zu sehen und bedarf keiner phänomenologischen Kunst, die folgenden vier konstitutiven Elemente im Akt des Gebens zu unterscheiden: Die Überlegungen in den Kapiteln 1 und 2 entsprechen weitgehend meinem Beitrag: Vom Glück des Gebens. Phänomenologische und metaphysische Überlegungen zum Akt des Gebens und zum Wesen der Gabe. In: Giovanni Maio (Hg.), Ethik der Gabe. Humane Medizin zwischen Leistungserbringung und Sorge um den Anderen, Freiburg i. Br. 2014, 57–80.
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– –
Erstens einen Geber, d. h. ein Subjekt des Gebens; zweitens etwas von diesem Subjekt Gegebenes, das mit dem Ausdruck der »Gabe« bezeichnet wird; – drittens einen Adressaten oder Empfänger der Gabe, dem der Geber die Gabe gibt; – schließlich viertens der Vollzug des Gabeaktes selbst, den wir nach Jean-Luc Marion die »Gebung« (französisch »la donation«) nennen wollen. 2 Diese vier Konstitutionselemente der Gebung sollen nachfolgend in ihrem Zusammenhang miteinander bestimmt werden.
2.2 Das Subjekt des Gabeaktes (der Geber) und der Selbstgebungscharakter der phänomenalen Wirklichkeit Jede Gebung schließt wesensnotwendig ein Subjekt ein, das gibt. Es gibt also keine Gebung ohne einen Geber. Der unpersönliche, neutrale Ausdruck »es gibt« könnte ein sprachlicher Indikator für Wirklichkeit sein; ein Indikator dafür nämlich, dass das Sein im Ganzen einen Selbstgebungscharakter besitzt. Diese universale Faktizität des phänomenalen Sichgebens macht der bekannte französische Phänomenologe Jean-Luc Marion zum Dreh- und Angelpunkt seiner Phänomenologie der Gebung: Jedes Phänomen ist nach Marion durch das Ereignis seiner Selbstgebung, seines Sich-selbst-Gebens bestimmt. Diesem Selbstgebungscharakter der Wirklichkeit entspricht die radikale Offenheit bzw. das wesenhafte Hingegebensein des menschlichen Subjekts an die sich gebende Welt der Phänomene, an die erscheinende Wirklichkeit. Diese spricht und ruft das Subjekt gleichsam an, das ihr vor aller intentionalen und propositionalen Bezugnahme auf die phänomenale Wirklichkeit ursprünglich und wesenhaft hingegeben ist, um ihre Anrufe zu empfangen, zu bezeugen und schließlich auch zu beantworten. Marion kennt und bestimmt auch Gradunterschiede phänomenaler Gebung: Die von ihm so genannten Gaben sind »gesättigte Phänomene« wie der Blick eines anderen Menschen, die Liebe, insbesondere der Eros und die Sexualität,
Vgl. Jean-Luc Marion, Étant donné. Essai d’une phénoménologie de la donation, Paris 1997.
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der eigene Leib des Menschen, dessen Tod und nicht zuletzt die Ikone sowie allgemein das Kunstwerk; diese sind eminente Phänomene, die sich ausschließlich als ein freies Sichgeben mit einer überbordenden Wucht der Anschauung manifestieren 3 und deshalb auch nur einem restlos hingegebenen, intentionslosen Subjekt überhaupt zugänglich und offenbar werden. Doch auch für die von Marion beschriebene Erscheinungswirklichkeit gilt, dass sie ein Subjekt ihrer Gebung besitzen muss. Dieses Subjekt aber ist zunächst sie selbst, weil sie sich gibt. Für einen weltreligiös monotheistisch Gläubigen liegt dieser Selbstgebungscharakter der Phänomenwelt in ihrer Geschöpflichkeit begründet, sodass das eigentliche oder logische Subjekt des Sichgebens der erscheinenden Wirklichkeit der Schöpfergott ist. Doch Marions Analyse macht keine Anleihen bei einem christlichen oder sonstigen Schöpfungsglauben. Sie kommt mit rein philosophischen, und zwar phänomenologischen Erkenntnismitteln zu der Einsicht, dass die gesamte erscheinende Wirklichkeit den Grundzug der Selbstgabe besitzt. 4
Vgl. hierzu Thomas Alferi, »Worüber hinaus Größeres nicht ›gegeben‹ werden kann …«. Phänomenologie und Offenbarung nach Jean-Luc Marion. Fünfzehnter Band: Phänomenologie, Texte und Kontexte, Freiburg/München 2007, 347. 4 Vgl. hierzu die Feststellung von Veronika Hoffmann, Skizzen zu einer Theologie der Gabe. Rechtfertigung – Opfer – Eucharistie – Gottes- und Nächstenliebe, Freiburg i. Br. 2013, 99, dass Marion in diesem Punkt die Ansicht Janicauds teile, dass die phänomenologische Reduktion und die Transzendenz Gottes eingeklammert werden müssen, so dass »nicht von der Gegebenheit auf einen Geber zurückgefolgert« werde: »Trotz der Rede davon, dass das Phänomen ›von anderswo her‹ erscheint, verbleibt Marions Reduktion also ganz in der Immanenz. Als ›fehlend‹ müsste der Ursprung nur innerhalb eines metaphysischen Denkens gelten, denn anzunehmen, dass die Gegebenheit einen solchen transzendenten Geber als causa der Gegebenheit offenbare, stellt ja wieder eine metaphysische Konklusion dar. ›Die Gegebenheit (donation) zeigt hier nicht so sehr den Ursprung des Gegebenen (donné), als vielmehr seinen phänomenologischen Status an. Ja mehr noch: Die Gegebenheit charakterisiert zumeist das Gegebene als ohne Ursache, ohne Ursprung, ohne identifizierbare Vorgänge, und ist weit davon entfernt, ihm diese zuzuweisen.‹ Wenn Marion die Gabe auf die Gegebenheit zurückführt und die Phänomene als gegebene versteht, dann handelt es sich also um die Aufdeckung einer immanenten Struktur der Phänomenalität, die die Erfahrung so zur Sprache bringt, dass das Subjekt nicht der Handelnde, der aktive Part, sondern der Empfänger ist. Darin zeigt sich der Überfluss des Phänomens, das mehr ist als nur das, was das Subjekt wahrnehmen kann.« 3
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2.3 Zum Verhältnis zwischen dem Geber, der Gabe und dem Empfänger des Gabeaktes – der manifestierende Charakter der Gabe für das Verhältnis des Gebers zum Empfänger Wir haben gesehen: Jede Gebung hat einen Geber, d. h. sie besitzt ein Subjekt, das gibt. Dieses Subjekt gibt in jeder Gebung stets etwas, ein von ihm Gegebenes, eine Gabe. Wie verhält sich nun die Gabe zu ihrem Geber? Bei ideellen Gaben wie etwa dem sozialen Wert der Rücksichtnahme auf die legitimen Bedürfnisse anderer oder der Verantwortung für das eigene Verhalten wie auch für das Wohlergehen anderer sind die Gaben nicht ablösbar von ihrem Geber, sondern ein Teil bzw. Moment der Verhaltens- und Charakterdispositionen ihres Gebers, der diese Gaben in einem längeren Gebungsprozess anderen Personen nachhaltig anvertraut. Demnach scheint es sich so zu verhalten, dass einige Gaben, wie etwa materielle Gebrauchsgegenstände, ablösbar sind von ihrem Geber, während andere Gaben, wie etwa soziale Werte und kulturelle Fähigkeiten und Überzeugungen etc., nicht ablösbar von ihrem Träger sind, sodass sich in diesen Gaben ihr Geber immer auch selbst ausdrückt, während dies bei rein materiellen Gaben nicht der Fall zu sein scheint. Doch bei genauerem Hinsehen fällt eine solche Unterscheidung zumindest in dieser Striktheit und Radikalität in sich zusammen, weil sich der Geber in jeder seiner Gaben dem Empfänger selbst zuwendet, sich ihm in seiner Gabe selbst auch zeigt und gibt. Jede personal gegebene Gabe ist daher immer auch ein personaler Ausdruck und eine mittelbare Erscheinungsweise ihres Gebers für ihren Empfänger. Sie ist aber nicht nur im Allgemeinen eine solche Erscheinungsweise des Gebers für den Empfänger, sondern stets auch und vor allem im Besonderen. Denn der Geber macht unwillkürlich mit seiner Gabe ihrem Empfänger den Grad seiner persönlichen Anteilnahme an ihm und Nähe zu ihm offenkundig. Die Gabe symbolisiert, repräsentiert und manifestiert das Maß der Verbundenheit, das der Geber gegenüber dem Empfänger seiner Gabe empfindet und ihm durch seine Gabe anzeigt. Deshalb besitzt jede Gabe grundlegend und an sich einen das persönliche Verhältnis des Gebers zu dem Empfänger repräsentierenden bzw. zeichenhaft darstellenden Charakter. 5 Jede Gabe ist daher ein Zeichen Fritz Rüdiger Volz, Ethos und Vermögen des Gabehandelns. Elemente einer Ethik der Gabe. In: Theologie der Gegenwart 55 (2012/1), 2–11, hier: 3, spricht diesbezüglich von dem ›symbolischen Beziehungswert‹ von persönlichen Gaben im Unterschied
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für dieses Verhältnis; an ihr kann das Verhältnis des Gebers zum Empfänger zumindest partiell und punktuell abgelesen und erkannt werden.
2.4 Die Freiwilligkeit und das Wohlwollen des Gebers gegenüber dem Empfänger Und wie ist dieses Verhältnis bestimmt, wenn die Gabe echt und wirklich ist, d. h. wenn sie nicht pervertiert und nicht missbraucht wird? Dann gibt der Geber freiwillig 6 dem Empfänger eine Gabe, von der der Geber zumindest subjektiv überzeugt ist, dass der Empfänger sie zu seinem Wohlergehen braucht und sie deshalb zumindest im Grunde, sozusagen in seinem Wesenswillen, wünscht und will, 7 auch wenn er vielleicht keinen aktiven und entfalteten Willen zu dieser Gabe besitzt.
zu ihrem Gebrauchswert: »Für das Gabehandeln ist konstitutiv, dass der ›symbolische Beziehungswert‹ bedeutsamer ist als der Gebrauchswert. […] Die Gabe als Einheit von Gut und Symbol enthält […] immer Aussagen über den Geber selbst, über sein Bild vom Empfänger, über seine Vorstellung von ihrer Beziehung und schließlich über sein Verständnis eines Beziehungs- und Verpflichtungshorizontes, in den diese komplexe Handlung eingebettet ist.« 6 Zur Freiwilligkeit echten Gebens vgl. Maria und Werner Woschnak, Die Gabe denken. Phänomenologische Reminiszenzen und logische Ausblicke zum Thema ›Schenken‹. In: Susan Gottlöber/René Kaufmann (Hg.), Gabe – Schuld – Vergebung. Festschrift für Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz, Dresden 2011, 78: »Zum Geschenk im eigentlichen Sinn wird ein Geschenk dadurch, dass es einem anderen freiwillig, d. h. ohne rechtliche Verpflichtung und unentgeltlich überlassen wird. Schenken ist ein wechselseitiges Geben und Nehmen. Soll es nicht als Tausch, Geschäft oder Handel missverstanden werden, ist es ein Geben auf der Seite des Schenkenden und ein Nehmen auf der Seite des Beschenkten.« 7 Zum Wohlwollen des echten Gebers gegenüber dem Empfänger vgl. Woschnak, Gabe denken, 81: »Der einzig legitime Zweck des Schenkens ist – landläufig gesprochen – die Absicht, dem Beschenkten eine Freude zu machen, dem solcherart Schenkenden ist kein Egoismus vorzuwerfen, die Lust des Schenkens ist Lust an der Lust des Du: ›Wirkliches Schenken (hat) sein Glück in der Imagination des Glücks des Beschenkten.‹«
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2.5 Der Empfänger einer Gabe und seine freiwillige Bereitschaft zur Annahme der Gabe Es gibt allerdings noch weitere konstitutive Bedingungen für den Akt des Gebens neben der Freiwilligkeit und dem Wohlwollen des Gebers sowie dem repräsentativen Charakter der Gabe für das Verhältnis des Gebers zu dem Empfänger: Denn die Gabe setzt, wie wir sagten, einen Empfänger voraus; der Empfänger einer Gabe aber ist nur dann ihr Empfänger, wenn er von sich aus auch dazu bereit ist, die Gabe anzunehmen. 8 Nur eine frei angenommene Gabe verdient es daher, eine Gabe genannt zu werden. Der Akt des Gebens bzw. die Gebung stellt daher eine synchrone Korrelation zwischen einem Subjekt oder Geber der Gabe, der Gabe selbst und ihrem Empfänger dar.
2.6 Die (echte, wirkliche) Gabe und ihr Charakter – zu J. Derridas radikaler gabetheoretischer Position Ist das Wohlwollen des Gebers gegenüber dem Empfänger schon eine hinreichende Bedingung für eine echte bzw. wirkliche Gabe oder gibt es für diese noch weitere notwendige Bedingungen? Der französische Philosoph Jacques Derrida hat in seinem Buch »Falschgeld. Zeit geben I« den Ausschluss der Reziprozität, des Tauschgeschäfts von Gabe und Gegengabe, als eine weitere notwendige Bedingung einer reinen Gabe betrachtet. 9 Wir müssen uns daher Zur Annahmebereitschaft des Empfängers als einer notwendigen Bedingung für den Vollzug des Gabeaktes vgl. Woschnak, Gabe denken, ebd., 80: »Die bisherigen Überlegungen zeigen, dass eine positive Bestimmung des Schenkens nur im Blick auf die sozialen Beziehungen, in denen es stattfindet, gelingen kann. […] Es gibt Beziehungen ohne Geschenke, aber kein Geschenk ohne Beziehung. […] Schenken verweist stets auf den anderen, und mehr noch, es ist ohne ihn gar nicht zu verwirklichen. Dem Beschenkten kommt keine bloß passive Rolle zu. Er nimmt das Geschenk an, oder lehnt es ab, und ist darin nichts weniger als die Bedingung der Möglichkeit von Schenken. Die Anerkennung des Geschenkes als Geschenk, d. h. seine Annahme, ist auch die Anerkennung der Beziehung. In der Ablehnung des Geschenkes wird nicht nur jede damit intendierte Verbindlichkeit aufgehoben, seine Zurückweisung trifft mein Verhältnis zum Schenkenden und darin diesen selbst. Der Schenkende kann Schenken allenfalls intendieren, wirklich schenken kann er nur dem etwas, der bereit ist, das Geschenk, aus welchen Gründen auch immer, anzunehmen. So gesehen ist die Annahme des Geschenkes schon die Gegengabe.« 9 Vgl. Jacques Derrida, Falschgeld. Zeit geben I. Aus dem Französischen von Andreas Knop und Michael Wetzel, München 1993, 23. 8
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fragen: Ist eine Gabe erst dann eine echte und wirkliche Gabe, wenn sie nicht den Charakter einer geschuldeten Gegengabe besitzt bzw. eine Schuldigkeit ihres Empfängers zur Gegengabe konstituiert, sondern gratis, also umsonst, gegeben wird? Nach Derrida durchbricht jede echte Gabe den systemischen Kreislauf von Gabe und Schuldigkeit zur Rückgabe oder Gegengabe, der die Gabe annulliere; die echte Gabe falsifiziere die Auffassung der Gabe als eines Kredits, der zurückbezahlt werden müsse. Dieser Annahme liegt die Überzeugung zugrunde, dass eine Gabe etwas absichts- oder intentionslos Gegebenes, etwas im radikalen Sinne des Wortes Weg- oder Hergegebenes sein müsse, sodass sich die Zirkulation bzw. die Logik eines Tauschs von Gabe und Gegengabe gar nicht erst entfalten kann. Doch Derridas gabentheoretische Position ist noch viel radikaler. Er geht in seinem dekonstruktivistischen Verständnis auch der Gabe sogar so weit, zu behaupten, dass eine echte Gabe als solche weder dem Gabenempfänger noch dem Geber erscheinen und bewusst werden dürfe. 10 Ein echtes, ein vollkommenes Geben schließt nicht nur ein geltungssüchtiges Prahlen bei anderen, sondern auch jedes selbstgefällige, selbstgratulatorische Bewusstsein des Gebers aus. Insofern hat Derrida Recht. Er hat aber nicht Recht mit seiner extremen, seiner dekonstruktivistischen These, dass die reine Gabe die notwendigen Bedingungen ihrer Möglichkeit suspendieren müsse, wie etwa das Wissen des Gebers und des Empfängers um die Gabe und damit das Erscheinen der Gabe als solcher, ja sogar ihre eigene Existenz. Denn eine nichtexistierende Gabe ist keine Gabe mehr, genauso wenig wie eine vom Geber und dem Empfänger nicht gewusste und nicht bejahte Gabe. Das ehrenwerte Anliegen Derridas, jede Form von Selbstgefälligkeit aus dem Akt des Gebens auszuschließen, wird von ihm zu dem radikalen Versuch übersteigert, jede Form von Intentionalität aus dem Akt des Gebens herauszuhalten. Das Nichtwissen bzw. das absolute Vergessen der Gabe, in dem Derrida die Grundbedingung des Gabeereignisses sieht, 11 macht in Wahrheit die Gabe unmöglich, weil eine vom Geber nicht freiwillig und damit nicht wissentlich und nicht willentlich gegebene Gabe sowie eine vom Empfänger als solche nicht freiwillig angenommene und damit auch nicht gewusste und als für den Empfang nicht gewollte Gabe überhaupt nicht mehr eine 10 11
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Vgl. Derrida, Falschgeld, 25. Vgl. Derrida, Falschgeld, 28.
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Gabe sein kann. Denn wer die Bedingungen der Möglichkeit von etwas aufhebt, der hebt auch dessen Gegebensein auf. 12
2.7 Muss eine echte Gabe immer gratis gegeben sein? Und wie steht es mit der These Derridas, dass eine echte Gabe immer umsonst und damit ohne Absicht auf eine Gegengabe gegeben sein müsse? Diese These Derridas ist falsch, sofern auch die als Tauschobjekte, d. h. die mit der Absicht und dem Anspruch auf eine Gegengabe, verliehenen Gaben Gaben sind und Gaben bleiben, weil sie die oben genannten notwendigen Bedingungen für das Gabesein erfüllen. Von dieser Art sind die allermeisten, ja beinahe alle Gaben, die wir im täglichen Leben einander geben. Denn wir leben von der von Derrida daher zu Unrecht inkriminierten Wechselseitigkeit von Geben und Nehmen, von gegebenem Wert und empfangenem Gegenwert. Die Ökonomie moderner und vormoderner Gesellschaften basiert auf dem Reziprozitäts- und dem Konvertibilitätsprinzip von Gabe und Gegengabe, von abstraktem Wert, dem Geld, und konkreten Sachwerten. Die provokative These Derridas, dass eine echte Gabe immer umsonst gegeben sein muss, enthält aber auch eine particula veri, ein Körnchen Wahrheit. Worin besteht dieses?
2.8 Verschiedene Reinheitsgrade des Gabeseins und das Kriterium für die Reinheit von Gaben Dieses Körnchen Wahrheit liegt darin begründet, dass der Gabecharakter von Gaben graduierbar und skalierbar ist, d. h. verschiedene Grade bzw. Erfüllungs- oder Verwirklichungsstufen besitzt. Denn eine, sei es als Tauschobjekt, sei es etwa nur als ein Kredit, gewährte Gabe ist und bleibt zwar eine Gabe; diese Gabe wird jedoch nicht bedingungslos gegeben bzw. gewährt. Sie begründet vielmehr eine Schuldigkeit des Empfängers zu einer bestimmten vertraglich im VoDaher sind nach Derrida, wie Hoffmann, Skizzen, 81, treffend formuliert hat, die Bedingungen der Möglichkeit von Gabe zugleich die Bedingungen ihrer Unmöglichkeit.
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raus festgelegten oder unausgesprochen feststehenden Gegengabe und ist damit an bestimmte Bedingungen geknüpft, deren Nichteinhaltung von seiten des Empfängers nicht nur zum rechtmäßigen Verlust der von ihm empfangenen Gabe, sondern darüber hinaus auch zu einem Schadensersatzanspruch des Gebers gegenüber dem Empfänger führt. In einer wechselseitigen Gaberelation bzw. Tauschbeziehung werden die Gaben also nicht umsonst, nicht absichtslos, nicht uneigennützig gegeben, sondern ihr legitimer Austausch dient den Bedürfnissen und Interessen der an diesem Handel beteiligten Personen. Der Gabecharakter der Gaben ist hier deutlich geringer als bei gratis gegebenen Gaben. Das Kriterium bzw. die Entscheidungsinstanz für die Reinheit von Gaben liegt demnach, negativ formuliert, im Maß der Eigennutz- oder Selbstlosigkeit des Gebers bzw., affirmativ formuliert, im Maß seiner wohlwollenden Güte gegenüber dem Empfänger seiner Gaben, dem er diese zu dessen Wohlergehen zuwendet. Man könnte dieses Kriterium auch rein formal definieren als das Maß des Her- oder Weggegebenseins von Gaben von Seiten eines Gebers an einen Empfänger. Denn Gaben, die ohne jeden Vorbehalt und damit unwiderruflich gegeben werden, sind ungleich mehr her- oder weggegeben als mit Vorbehalt gegebene Gaben. An diesem Gradmesser abgelesen verdienen nur gratis, d. h. wirklich umsonst, also ohne Absicht und Anspruch auf eine Gegengabe, gegebene Gaben als reine Gaben, d. h. als Gaben in der formal höchsten Erfüllungsstufe oder Verwirklichungsform von Gabesein, bezeichnet zu werden. Es gibt aber nicht nur eine Skala des formalen Gabecharakters bzw. der Reinheitsgrade von Gaben, sondern es gibt auch verschiedene inhaltliche bzw. seinsmäßige Wertigkeitsstufen von Gaben. Was ist damit gemeint?
2.9 Eine objektive Werthierarchie von Gaben Während die Reinheit einer Gabe bzw. genauer eines personalen Gebeaktes sich nach dem erläuterten Kriterium der wohlwollenden Güte des Gebers gegenüber dem Empfänger bemisst, ist der Wert einer Gabe davon unabhängig bestimmt. Denn der objektive Wert einer Gabe fällt mit dem Seinsrang der Gabe zusammen. So ist etwa die Gabe des Freibiers zweifelsohne ungleich weniger wert als die freiwillige Hingabe des eigenen Lebens für den Erhalt des Lebens eines anderen. Denn das Leben einer Person besitzt einen ungleich größeren Wert 296
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als der von mehreren Flaschen oder Fässern Bier. Mit anderen Worten: Es gibt eine Hierarchie nicht nur in Bezug auf den Reinheitsgrad einer Gabe, sondern auch in Bezug auf die Werthaftigkeit bzw. den Vollkommenheitsgrad ihres Seins. Nun hatten wir oben bereits gesehen, dass jede Gabe ihren Geber repräsentiert und manifestiert, dass sie Ausdruckscharakter für die Zuwendung und Nähe des Gebers gegenüber dem Empfänger besitzt. Wir hatten ebenfalls gesehen, dass eine umsonst, mithin ohne Absicht und Anspruch auf Entlohnung, gegebene Gabe, Erweis für die selbstlose Güte des Gebers gegenüber dem Empfänger ist. Je größer aber und wertvoller eine gratis gegebene Gabe, je höher ihr Seinsrang ist, umso größer muss daher die wohlwollende Güte des Gebers gegenüber dem Empfänger sein. Im Seinsrang am höchsten in der uns bekannten Wirklichkeit aber stehen personale Wesen. Das Größte und Höchste, was daher Personen anderen Personen geben können, sind sie selbst, ist ihre freiwillige Selbsthingabe, d. h. ihre Liebe. Je mehr daher Personen anderen Personen von sich selbst geben, desto mehr oder genauer desto Größeres geben sie ihnen. Sie können ihnen sich selbst aber nur in dem Maße geben, indem ihre Selbstgabe von den anderen auch angenommen und bereitwillig empfangen wird.
2.10 Das Glück des Gebens als das Glück der Selbstgabe Worin also liegt das Glück des personalen Gebens? Darin, dass jedes personale, von Personen vollzogene Geben eine nach dem Reinheitsgrad seines Gabe- bzw. Gebungscharakters und dem Wertigkeitsgrad seiner Gabe gestufte Weise einer Selbstgabe des Gebers an den Empfänger ist. Wo die Selbstgabe gelingt, ist sie glücksbringend für beide Seiten der Gaberelation, am meisten aber für den Geber selbst. Denn das Geben macht deshalb noch seliger als das Nehmen, weil der Geber in sich noch sehr viel mehr an wohlwollender Güte gegenüber dem Empfänger besitzen muss als dieser gegenüber dem Geber. Denn wer sich selbst aus eigenem Antrieb dem anderen zu dessen Wohlergehen und damit um des anderen selbst willen gibt, hat eine größere wohlwollende Güte in sich als der Empfänger seiner Selbstgabe. Zwar tut auch der Empfänger dem Geber etwas Gutes, indem er ihm durch seine Empfangsbereitschaft die glücksbringende Erfahrung seiner Selbstgabe an den Empfänger ermöglicht. Der Empfänger der Gabe muss selbst aber keinen eigennutzlosen Willen zum Wohlergehen Die Gabe
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des Gebers in sich besitzen. Das von einer Person besessene Maß an wahrer Güte ist aber zugleich das Maß ihres wahren Glücks.
3.
Das Verzeihen und das Vergeben als interpersonale Akte des Gebens bzw. der Gebung (Donation)
Worin liegen die strukturellen Grundzüge der Akte des Vergebens und des Verzeihens und inwiefern handelt es sich bei ihnen um Gestalten einer echten Donation?
3.1 Die strukturellen Gemeinsamkeiten der Gabeakte des Verzeihens und des Vergebens Verzeihen und Vergeben – diese beiden Vollzüge einer interpersonalen Kommunikation haben manches gemeinsam und sind doch nicht synonym. Worin bestehen ihre Gemeinsamkeiten und worin ihre Unterschiede? Gemeinsam ist ihnen der Akt einer Entschuldung, eines Nichtanrechnens oder Wegnehmens von Schuld und damit eines Verzichts auf eine dem Ausmaß des Schadens entsprechende Entschädigung bzw. Wiedergutmachung von Seiten eines Geschädigten gegenüber seinem »Schuldner«. Es handelt sich dabei um eine freiwillige, einseitige, ungeschuldete, großzügige Gewährung der Befreiung eines Schuldners von seiner Schuld gegenüber seinem Gläubiger durch diesen selbst. Wir könnten in Bezug auf diesen gemeinsamen Nenner von »Verzeihen« und »Vergeben« auch von einer einseitigen, subjektiven Aufhebung eines einseitigen Schuldverhältnisses durch einen Gläubiger gegenüber seinem Schuldner sprechen. Beim Akt des Verzeihens und Vergebens verzichtet der Gläubiger, d. h. derjenige, der einen rechtmäßigen Anspruch auf eine äquivalente Schadensersatzleistung durch einen Schuldner ihm gegenüber besitzt, aus reiner Güte bzw. aus freiem Wohlwollen auf das Geltendmachen dieses Rechtsanspruchs und damit auf den Erhalt der ihm rechtmäßig zustehenden Schadensersatzleistung von Seiten seines Schuldners. Und ist das Verzeihen bzw. Vergeben eines Gläubigers universell, d. h. bezogen auf jede bestehende subjektive Schuld seines Schuldners ihm gegenüber, dann bietet der Gläubiger dem Schuldner aus selbstloser, an298
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ökonomischer, nicht berechnender, ungeschuldeter Güte 13 gratis, d. h. umsonst, also ohne Erwartung und Einforderung einer Gegenleistung, nicht nur eine spezifische Entschuldung, sondern darüber hinaus auch ihre uneingeschränkte Versöhnung 14 miteinander, d. h. die vollständige Wiederherstellung eines qualitativ einheitlichen, friedlichen Verhältnisses zwischen ihnen an: Denn versöhnt miteinander sind zwei Personen erst dann und genau dann, wenn ihr Verhältnis zueinander qualitativ einheitlich und unentzweit, mithin vollkommen gegensatzlos und damit friedlich geworden ist. Dass wir auf die Gabe unserer spezifischen, jeweiligen, wechselseitigen Entschuldung durch Verzeihung fundamental angewiesen sind, zeigt bereits unsere alltägliche Erfahrung: Denn wir bitten uns nicht auf Grund bloßer Sprachkonventionen regel- und gewohnheitsmäßig um Verzeihung, sondern weil uns zumindest kleine schuldhafte Grenzüberschreitungen im Verhältnis zueinander ständig unterlaufen. Uns passieren diese schuldhaften Grenzüberschreitungen normalerweise so häufig, dass unser Pardon, unsere »Entschuldigung« als unsere Bitte um Entschuldung von Seiten des durch unser übergriffiges Verhalten beeinträchtigten Anderen schon zum floskelhaften Automatismus und stereotypen Reflex unserer Sprache geworden ist. Und dennoch besitzt diese sprachliche Konvention eine tiefe Berechtigung und Bedeutung: Denn wir sind auf diese Entschuldung von Seiten anderer permanent Vgl. hierzu Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz, Verzeihung des Unverzeihlichen? Ausflüge in Landschaften der Schuld und Vergebung. Vierzehnter Band: Bibliothek der Unruhe und des Bewahrens, Wien/Graz/Klagenfurt 2008, 173 f.: »Vergebung handelt aus Überschuss, einer einseitigen Vorgabe in großzügiger, unberechnender Geste – sie gibt aus eigenem Reichtum mehr als den Ausgleich. Die Gabe tilgt nicht nur das Soll, sie eröffnet überhaupt ein neues Feld des Wirkens. Ebenso scheint in der Verzeihung ein an-ökonomischer Überschuss zu walten, zudem bezieht sie einen Verlust des Gebers ein, kostet ihn also etwas, während der Schuldner keinen Gegenwert erbringen muß. Vergebung und Verzeihung sind semantisch eng verwandt: Beide wirken aus einem ›mehr als erforderlich‹, dem auf der Seite des Schuldners keine Gegengabe entspricht und entsprechen muss, sie sind ›assymmetrische Vorgabe‹. Daraus folgt mehr noch: Die wirkliche Vergebung vergibt nicht aus Schwäche oder Erpressung, sondern aus Kraft: einem ›Exzess‹. Ebenso wenig verzichtet die Verzeihung aus Schwäche, sondern aus Anteilnahme, möglicherweise gesteigert zur Liebe, die selbst den eigenen Verlust nicht scheut.« Zum Verzeihen aus der Logik der Überfülle selbstloser Güte nach Paul Ricœur vgl. Klaus-Michael Kodalle, Verzeihung denken. Die verkannte Grundlage humaner Verhältnisse, München 2013, 71–78. 14 Auf die Versöhnung stiftende Wirkung von Verzeihung und Vergebung weist Kodalle, Verzeihung denken, 44, unter Hinweis auf Vladimir Jankélévitchs Theorie des Verzeihens mit Nachdruck hin. 13
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angewiesen, weil uns ständig zumindest kleinere schuldhafte Grenzüberschreitungen passieren, für die wir oft keine oder zumindest keine adäquaten, äquivalenten Schadensersatzleistungen erbringen können, ohne die Möglichkeiten unserer eigenen Lebensgestaltung damit allzu sehr einzuschränken. Mit anderen Worten: Wir sind für das Gelingen unserer Lebensführung und Lebensbewältigung fortwährend auf das Verzeihen anderer angewiesen, ohne deren Gabe wir in einen beständig wachsenden, übermächtig werdenden Schuldzusammenhang verstrickt wären, der uns die für unsere selbstbestimmte Lebensführung erforderlichen Frei- und Spielräume, der uns gleichsam die Luft zum Atmen rauben würde. Deshalb ist die Entlastungsfunktion dieser gesellschaftlich und sprachlich institutionalisierten Entschuldungsmechanismen für uns alle in unserem täglichen Umgang miteinander geradezu überlebenswichtig und -notwendig. Schließlich dürfte auch noch das folgende Strukturelement beiden Akten, dem Verzeihen und dem Vergeben, gemeinsam sein. Wir haben das Verzeihen und das Vergeben als freie, einseitig gewährte, ungeschuldete Akte der Entschuldung, d. h. der Wegnahme von Schuld, gedeutet. Bedeutet dies nun, dass es sich bei diesen Akten nicht um ein wechselseitiges, interpersonales Gabegeschehen, sondern um eine einseitige Gebung handelt? Grundsätzlich ist es ja möglich, wenn auch nur höchst selten der Fall, dass das Opfer dem Täter, der an ihm schuldig geworden ist, verzeiht auch ohne eine Reue des Täters und ohne dessen Bereitschaft zur Annahme dieser Verzeihung. Tilgt dann das Verzeihen bzw. Vergeben auch bereits die Schuld des Schuldners? Das dürfte nicht der Fall sein, handelt es sich doch bei dem Verzeihen und dem Vergeben nicht um automatisch und determinierend wirkende, d. h. zwingende, sondern um freie, interpersonale Akte zwischen verantwortungs- und daher auch schuldfähigen Personen. Mit anderen Worten: Beide Akte können ohne ihre Annahme nur das Verhältnis des Opfers bzw. Gläubigers zu seinem Schuldner, nicht aber dessen Verhältnis zu ihm bereinigen. Dementsprechend muss eine Verzeihung bzw. Vergebung vom Schuldner auch angenommen werden, um dessen Schuld tilgen zu können. Es handelt sich also bei dem Verzeihen und dem Vergeben um interpersonale Gabeakte, wenn bzw. sofern sie ihre volle Wirkung erzielen. In diesem Sinne ist daher nur ein angenommenes auch ein angekommenes »Pardon«. Wenn nun in dieser freiwillig gewährten und angenommenen Gabe einer Entschuldung eines Schuldners durch seinen Gläubiger 300
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und der dadurch vollzogenen Bereinigung oder Heilung ihres zuvor schuldhaft beschädigten Verhältnisses zueinander das Gemeinsame zwischen dem Verzeihen und dem Vergeben liegt, worin kann dann noch das beide Akte voneinander Unterscheidende und damit ihr jeweiliges Spezifikum bestehen?
3.2 Unterschiede zwischen dem Verzeihen und dem Vergeben und eine Zusammenfassung der Ergebnisse Der grundlegende Unterschied zwischen diesen beiden interpersonalen Gabeakten besteht m. E. darin, dass das Verzeihen lediglich ein subjektives Schuldverhältnis zwischen Personen aufzuheben vermag, während das Vergeben darüber hinaus auch eine objektive Schuld zu tilgen imstande ist. Was aber ist mit einer nur subjektiven Schuld und was ist mit einer objektiven Schuld genau gemeint? Erläutern wir den gemeinten Unterschied an einem Beispiel: Hat ein Gewaltverbrecher einem unschuldigen Opfer durch physische Gewalteinwirkung einen gesundheitlichen Langzeitschaden zugefügt, dann kann es in wenn auch wahrscheinlich nur äußerst seltenen Fällen vorkommen, dass das Opfer dem Täter verzeiht und damit freiwillig dessen subjektive Schuldigkeit ihm als seinem Opfer gegenüber aufhebt bzw. tilgt; durch diesen Akt des persönlichen Verzeihens aber kann die objektive Schuld des Täters gegenüber dem Opfer seines Gewaltverbrechens nicht zugleich mitaufgehoben werden. Das Opfer kann nämlich die objektive Tatsache, dass das schuldhafte Verhalten seines Schuldners böse und (natur-)rechtswidrig war und deshalb hätte unterbleiben sollen, durch sein Verzeihen nicht zugleich mitaufheben. Dieser Umstand kommt im weltlichen Strafrecht eines demokratischen Rechtsstaates dadurch zum Ausdruck, dass ein solcher Gewaltverbrecher rechtskräftig unabhängig davon zu einer Strafe verurteilt wird, ob sein Opfer ihm persönlich verziehen hat oder nicht. Einander zu verzeihen, d. h. uns eine subjektive, spezifische, partielle Schuld vor- und beieinander wechselseitig abzunehmen, das können und sollen wir Menschen selbst leisten. Eine Wegnahme unserer objektiven Schuld können wir aber nicht mehr kraft unseres eigenen Vermögens vollbringen. Denn durch unsere subjektiven Akte des Nichtanrechnens, der Nachsicht, der Überwindung unseres Vergeltungswillens durch unser bereitwilliges Verzeihen der Schuld anderer können wir deren Verstoß gegen die objektiv gültige Norm Die Gabe
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des sittlich Guten nicht ungeschehen und daher nicht unwirksam machen. Vielmehr sind wir für die Tilgung unserer objektiven Schuld und ihrer negativen Folgen für alle von ihr Betroffenen auf die Vergebung einer Instanz angewiesen, deren einheitsstiftende Macht und Güte schuldhaft beschädigtes und sogar zerstörtes Leben heilen bzw. neu erschaffen kann. Die Ziel- und Zweckursache der Vergebung ist zwar gleichfalls, wie beim Verzeihen, eine Entschuldung des Schuldners und dessen Versöhnung mit dem, wovon er sich schuldhaft entzweit hat; sie besteht aber im Unterschied zum Verzeihen in der Wegnahme der objektiven, der sittlichen Schuld des Schuldners und damit in seiner Versöhnung mit der natürlichen Seinsordnung im Ganzen und ihrem göttlichen Prinzip, die ihm nur von diesem selbst gegeben bzw. geschenkt werden kann. Mit anderen Worten: Verziehen werden kann nur die subjektive Schuld, die in dem Schaden liegt, den jemand einer anderen Person aus eigenem Verschulden zufügt und der einen Anspruch des Geschädigten auf Wiedergutmachung von seiten seines Schuldners begründet. Die objektive sittliche Schuld eines Menschen aber kann auch durch eine angenommene menschliche Verzeihung nicht aufgehoben, sondern nur durch die Vergebung einer universell einheitsstiftenden Macht, d. h. durch Gott, getilgt werden, weil sie eine Beeinträchtigung der Seinsordnung im Ganzen und eine Entzweiung von ihrem göttlichen Prinzip darstellt. Dietrich von Hildebrand ist m. W. der Erste, der auf diesen fundamentalen Unterschied zwischen dem menschenmöglichen Verzeihen und dem nur durch Gott möglichen Vergeben hingewiesen hat. In seinem nachgelassenen Werk Moralia führt er zur Illustrierung dieses Unterschieds das folgende Beispiel an: »Im Unterschied zum Vergeben bezieht sich das Verzeihen nicht auf die sittliche Schuld, die Sünde als solche, sondern auf das jemandem angetane Unrecht. Die Frau, deren Mann sie betrog, kann ihm die Schuld gegen sie verzeihen; aber sie wird hinzufügen: ›Möge dir Gott die Sünde vergeben.‹ Allein das Vergeben Gottes löst den Fortbestand der sittlichen Schuld auf und reinigt den Sünder von der gegen Gott gerichteten Beleidigung. Es hebt die furchtbare objektive Disharmonie auf, die durch jede schwere Sünde entsteht. All dies liegt beim Verzeihen nicht vor. Es löst nur die Disharmonie in jenem Menschen auf, dem ein Unrecht zugefügt wurde, und bewirkt die Heilung der Seele des Verzeihenden. Dieser tritt damit in das Reich der sittlichen Güte ein. Auch die Harmonie zwischen ihm und dem, der ein 302
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Unrecht gegen ihn begangen hat, wird durch das Verzeihen bis zu einem gewissen Grad wiederhergestellt, völlig aber nur, wenn der Täter das Unrecht bereut, den anderen um Verzeihung bittet und dieser ihm verzeiht. Entgegen dem Vergeben ist das Verzeihen ein Akt, den ein Mensch als solcher vollziehen kann und soll.« 15 Demnach ist das Formalobjekt des Verzeihens die subjektive Schuld des Schuldners gegenüber seinem Gläubiger, die sich nach der Größe des Schadens bemisst, den dieser ihm schuldhaft zugefügt hat. Das Formalobjekt des Vergebens aber ist die objektive, die sittliche Schuld, die ein Täter durch seine Tat auf sich lädt und die in einer Beeinträchtigung der Seinsordnung im Ganzen und einer zumindest impliziten Zurückweisung des vollkommen guten Willens und Seins ihres göttlichen Prinzips besteht. Die sittliche Schuld kann einem Schuldner daher nicht durch menschliche Verzeihung, sondern nur durch göttliche Vergebung genommen werden. 16 Mit anderen Worten: Subjektive Schuld kann nur verziehen, objektive (sittliche) Schuld kann nur vergeben werden. Gleichwohl sind beide Handlungen, das Verzeihen und das Vergeben, Akte einer freiwilligen, einer nicht geschuldeten, unerzwingbaren Aufhebung und Tilgung von Schuld, deren Telos die Entschuldung des Schuldners und die dadurch ermöglichte Versöhnung mit ihm ist. Verzeihen und Vergeben – diese beiden Vollzüge sind ausgezeichnete interpersonale Akte der Gabe bzw. der Donation, in denen der Geber seine eigene sittliche Güte zum Ausdruck bringt. Sie gehören zu den höchsten und sittlich wertvollsten Gabeakten, weil in ihnen der Geber aus reiner Güte bzw. Gnade sich seinem Schuldner wieder- bzw. zurückgibt, d. h. die von dem Schuldner schuldhaft herbeigeführte Entzweiung ihres Verhältnisses zueinander wieder aufhebt, indem er ihm verzeiht bzw. vergibt. Das zwischenmenschliche Verzeihen aber ist gleichsam das menschliche und weltliche Abbild jener unübertrefflich großen Güte, die in der barmherzigen Vergebungsbereitschaft Gottes zum Vorschein kommt.
Dietrich von Hildebrand, Moralia. Nachgelassenes Werk. Neunter Band: Gesammelte Werke, Regensburg 1980, 324. 16 Elisabeth Seidler, Versöhnung. Prolegomena einer künftigen Soteriologie. In: Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie 24 (1995), 5–48, hier: 23 f., bringt den Unterschied in dem, was durch Verzeihung und dem, was durch Vergebung entschuldet wird, zumindest indirekt zum Ausdruck. 15
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In seinem Buch Donner le temps (1991) stellt Derrida die provokative These auf, die Bedingungen der Möglichkeit der Gabe (dass jemand etwas einem anderen gibt) seien zugleich die Bedingungen der Unmöglichkeit der Gabe: »Gabe gibt es nur, wenn es keine Reziprozität gibt, keine Rückkehr, keinen Tausch, weder Gegengabe noch Schuld.« 1 Entstehe dagegen eine Zirkulation von Gaben oder ein Kreislauf von Geben und Nehmen, werde die ›reine Gabe‹ annulliert. ›Ökonomie‹, definiert als zirkulärer Austausch von Gütern, macht die Gabe demnach unmöglich – nicht erst, wenn die Gabe in der Pflicht zur Rückgabe zum Geber zurückkehrt, sondern bereits dann, wenn der Geber sich seines Gebens bewusst wird. Sobald die Gabe als solche erscheint, erkannt und anerkannt wird, wird ihr Wert in Form eines symbolischen Äquivalents zurückerstattet. Wie kann die Gabe dann als Gabe erhalten bleiben? Derridas Antwort umfasst folgende drei Elemente, welche die Idee einer ›reinen Gabe‹ zugleich als Aporie entlarven: 1. Irreziprozität, d. h. Einseitigkeit des Gebens, 2. Nichtwahrnehmbarkeit bzw. Nicht(re)präsentierbarkeit der Gabe und 3. Vergessen des Gegebenhabens bzw. Nichtaneignenkönnen der Gabe auf Empfängerseite. Um ein Präsent zu bleiben, darf die Gabe also nicht präsent werden. Denn sobald sie in die Gegenwart eintritt, sobald sie als gegeben oder empfangen erfahrbar wird, wird sie, gleichsam postwendend, in Zeichen zurückgegeben, die das Präsent repräsentieren. 2 Umgekehrt kann die Repräsentation des Präsents jedoch nicht entbehrt werden, denn wo weder bemerkt wird, dass jemand etwas gegeben hat, noch dass jemand eine * Dies ist die revidierte Fassung meines Vortrags auf der Tagung ›Von Gabentausch, Anerkennung, Macht und Versöhnung: Interdisziplinäre Forschungen zum Phänomen der Gabe in Erfurt (19.–22. August 2013)‹. 1 Jacques Derrida, Falschgeld. Zeit geben I, übers. v. Andreas Knop / Michael Wetzel, München 1993, 22 f. 2 Vgl. Derrida, Falschgeld, 24–28.
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Gabe empfangen hat, kann auch keine Rede von einem Gabegeschehen sein. Wie also wird die Gabe Ereignis – wenn sie der Ökonomie entgeht oder wenn sie in sie eingeht? Dies werde ich im Folgenden in einem theologischen Kontext untersuchen. Dabei ist die Frage, ob bzw. inwieweit der theologische einem sozialen Kontext entspricht: Lässt sich das Verhältnis zwischen Gott und Mensch parallel zu zwischenmenschlichen Beziehungen verstehen?
1.
Vorbemerkung: Zur Diskussion über die (An-)Ökonomie der Gabe in der Theologie
Soweit ich sehe, besteht im (römisch-katholische und lutherische Christen umfassenden) DFG-Netzwerk »Gabe – Beiträge der Theologie zu einem interdisziplinären Forschungsfeld« Einigkeit in zwei Punkten: 1. Der ›göttliche Part‹ ist weder exklusiv auf der Seite des Gebers noch des Empfängers noch eines ›Dritten‹ verortbar. Die Annahme der göttlichen Gabe vollendet sich erst in ihrer Erwiderung. Da diese Gabe nie vollständig angeeignet werden kann, erfordert sie den Eintritt in eine kontinuierliche Bewegung des Gebens und Nehmens, und insofern besteht eine gewisse Reziprozität zwischen Gott und Mensch. 3 2. Zwischen göttlicher und menschlicher Gabe ist grundlegend zu unterscheiden, da göttliches und menschliches Handeln ungleichartig und asymmetrisch sind, 4 z. B. was die »Einseitigkeit der VorGabe« der Schöpfung und Gottes Selbst-Gabe in Offenbarung und Gnade angeht, sofern diese Vor-Gabe »schlechthin initiativ, voraussetzungslos« ist 5 und dem Menschen zugutekommt als Voraussetzung und Ermöglichung menschlichen Gebens und der Wechselseitigkeit im Sozialen. 6
Vgl. Veronika Hoffmann, Rück-Gabe? Weiter-Gabe? Gott in unseren Gabeverhältnissen. In: Dies. (Hg.), Die Gabe. Ein ›Urwort‹ der Theologie?, Frankfurt a. M. 2009, 145–163, 147 f., 156, 161. 4 Vgl. Hoffmann, Rück-Gabe?, 157, 162. 5 Jürgen Werbick, Gottes-Gabe. Fundamentaltheologische Reflexionen zum GabeDiskurs. In: Veronika Hoffmann (Hg.), Die Gabe, 15–32, 15. 6 Vgl. Werbick, Gottes-Gabe, 19, 21. 3
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Kontrovers ist bislang, inwiefern Wechselseitigkeit auch für das Verhältnis von Gott und Menschen konstitutiv ist. An diesen Gesprächsfaden möchte ich anknüpfen und die (An-) Ökonomie der Gabe in Liebe, Gebet und Vergebung erörtern.
2.
Selbst-Gabe aus Liebe
Søren Kierkegaard 7 betont in der Rede »Die Bestätigung in dem inwendigen Menschen« (1843) den Unterschied zwischen göttlicher und menschlicher Selbst-Gabe. Dort heißt es, dass Gott »nicht bloß die Gaben gibt, sondern sich selber mit, so wie kein Mensch es vermag«, sofern kein Mensch wie Gott »den ganzen Inhalt der Gabe durchdringen kann bis in den kleinsten Teil hinein« 8. Kierkegaard setzt Gottes Omnipräsenz voraus: Nur Gott ist allgegenwärtig und somit imstande, uns in Freud und Leid, Glück und Unglück mit seiner Anwesenheit zu überraschen. Wer in dem, was ihm sichtbar vor Augen steht und widerfährt, den unsichtbaren Geber alles Sichtbaren erkennt, kann alles als gute Gabe Gottes annehmen. Entscheidend ist nicht, was wir empfangen, sondern die Art und Weise, wie wir es empfangen. Wie aber könnten wir alles, auch das Furchtbarste, als Liebesgabe Gottes verstehen – sogar den Verlust, sogar den Tod? Dies können wir dann, so Kierkegaard, wenn wir auf den Geber schauen, der seine liebende Gegenwart mit-gibt. Wie verhält sich diese SelbstGabe zur sogenannten ›Ökonomie‹ ? Philipp Stoellger sieht den Tod Jesu als Selbsthingabe, die ein gefährliches Sich-Exponieren an die Macht der Empfangenden beinhaltet – als etwas, was erst wird, indem es rezipiert wird. Das Sein der Gabe ist im Werden. Sie eröffnet Zeit durch ihre Performanz, Zu-
Zu Kierkegaard und Franz Rosenzweig, gelesen ›zwischen‹ deutschem Idealismus (Kant, Hegel) und französischer Phänomenologie (Levinas, Derrida, Marion), auch und gerade im Blick auf das Problem der (un)möglichen Gabe göttlicher Gegenwart bzw. der Frage, wie die ›schlimmen Gaben‹ des Bösen und des Leidens empfangen und transformiert werden können, vgl. Claudia Welz, Love’s Transcendence and the Problem of Theodicy, Tübingen 2008, 337–351; Claudia Welz, Love as Gift and SelfSacrifice. In: Neue Zeitschrift für Systematische Theologie und Religionsphilosophie 50 (2008), 238–266. 8 Die Rede (samt Zitat) gehört zur Sammlung Drei erbauliche Reden (1843). In: Emanuel Hirsch / Hayo Gerdes (Hg.), Sören Kierkegaard. Gesammelte Werke (5. und 6. Abt.), Gütersloh 1980, 126–148, 146. 7
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kunft durch ihre Wiederholung. 9 Jesu Tod war kein intentionaler, gar souveräner Akt, er »ist nicht Gabe, sondern wird dazu, wenn er so wirkt«, und dementsprechend ist das Abendmahl Stoellger zufolge nicht handlungslogisch, sondern ereignislogisch zu verstehen. 10 Die soteriologische Selbstdeutung des Todes Jesu als Selbsthingabe ist die Gabe der Späteren an ihn, rückdatiert und Jesus zugeschrieben. 11 Zudem wird die Urszene erst in Erinnerung »reale Gegenwart« 12. Als irreduzible Metapher bleibt die Gabe nichtsdestotrotz anökonomisch gegenüber der Ökonomie der Zeichen – und als solche ist sie »Ermöglichung und Möglichkeitsbedingung« von Werken und Tausch, aber nicht selber Werk oder Tausch. 13 Josef Wohlmuth entwickelt die Eucharistietheologie ebenfalls als Theorie der reinen Gabe: »Die Liturgie ist als an-ökonomische Gabe möglich, wenn sie von Feiernden gestaltet wird, die ihre Lebenszeit geben, ohne sie je als solche zurückerhalten zu können.« 14 Wir können keine Sekunde unseres Lebens zurückholen – und vielleicht ist deshalb vielen Menschen die Zeit zu schade, um sie in der Liturgie zu verbringen, überlegt Wohlmuth. Die Eucharistie als gemeinschaftlicher Akt der Gottesverehrung wird auf die Selbst-Gabe Jesu zurückgeführt: »Koinonia ist Teilgabe und Teilhabe an Jesu Tod, aus dessen Gabe Leben werden kann.« 15 Aber, so mein Einwand, Koinonia setzt Kopräsenz voraus, und wenn wir wirklich an Jesu Tod teilhaben können, um das aus ihm entspringende Leben zu empfangen, fragt es sich, ob die Eucharistie und die Liturgie in Dank und Lobpreis in der Tat ›reine Gaben‹ sind wie Derrida sie definiert, denn in dem Augenblick, in dem Gegenwart geteilt und die Dankbarkeit dafür als GegenGabe mitgeteilt wird, ist die Gabe reziprok und wird (re)präsentiert. Hier stellt sich überdies die Frage, ob Menschen, wenn sie Gott und ihre Mitmenschen lieben, Gott ihre Liebe quasi als ›Gabe‹ zurückgeben, oder ob sie überhaupt nur durch Gottes Liebe lieben könVgl. Philipp Stoellger, Von realer Gegenwart im Abendmahl. Paradoxien der Gabe der Gegenwart und der Gegenwart der Gabe, oder: ›Materialität, Präsenz, Ereignis‹. In: Veronika Hoffmann (Hg.), Die Gabe, 73–97, 79 f. 10 Stoellger, Von realer Gegenwart im Abendmahl, 84. 11 Vgl. Stoellger, Von realer Gegenwart im Abendmahl., 86 f. 12 Stoellger, Von realer Gegenwart im Abendmahl, 94. 13 Stoellger, Von realer Gegenwart im Abendmahl, 91. 14 Josef Wohlmuth, ›… mein Leib, der für euch gegebene‹ (Lk 22,19). Eucharistie – Gabe des Todes Jesu jenseits der Ökonomie. In: Veronika Hoffmann (Hg.), Die Gabe, 55–72, 69. 15 Wohlmuth, Gabe des Todes Jesu, 72. 9
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nen, so dass Letztere – wie Kierkegaard in Der Liebe Tun (1847) entfaltet – nicht nur der Ursprung menschlicher Liebe ist, sondern auch deren Medium, d. h. jene ›Zwischenbestimmung‹ (Mellembestemmelse) 16, welche die Nächstenliebe ermöglicht und trägt. Mt 25,40 zufolge (»Was ihr einem meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan«) zeigt sich die Liebe zu Gott indirekt: in der Liebe zum Nächsten. Ist Gottes Liebe das, wodurch wir einander lieben können, ist Gott auch der Geber dessen, was wir einander geben können. Gott schulden wir alles – und es ist nicht einmal wünschenswert, dass wir jemals aufhören, in seiner Schuld, der Schuld der Liebe, zu stehen. Während Derrida nur von jener Schuld spricht, die durch das Empfangen einer Gabe entsteht, ist die »unendliche Schuld« 17, von der Kierkegaard spricht, eine Schuld, die gerade durchs Geben entsteht. Würde die Gabe der Liebe nicht immer wieder von Neuem gegeben, verwandelte sie sich nicht etwa in eine ›reine Gabe‹, sondern wäre keine mehr. Aufgrund der Unerschöpflichkeit, Maßlosigkeit, Unmessbarkeit der Liebe ist auch die Schuld, in die die Liebenden geraten, unendlich. Sie kann und soll nicht beglichen werden, sonst würde aus der Liebe ein endliches Objekt. Wenngleich die Liebe innerhalb einer oeconomia salutis an eine gewisse Form von Ökonomie gebunden ist, ist dies nicht die Marktökonomie. Wer berechnend mit der Liebe handelt, wird bei diesem love deal nicht reicher, sondern ärmer an Liebe. Dementsprechend sieht Kierkegaard die Liebe als eine Gabe, die verpflichtet – dazu, zu lieben ohne Ende. Die Liebe ist zugleich eine bestimmte Modalität des Gebens und Empfangens, die uns nicht gestattet, Gegenseitigkeit, Belohnung oder Rückzahlung zu erwarten. Gottes Liebe kann nicht anders empfangen werden als dadurch, dass ihre Empfänger selbst zu lieben beginnen. Liebe wird im Weitergeben und Weiterlieben empfangen. Wenn aber das Wesen dieser Gabe in ihrer Kommunikation besteht, darf sie weder vom Kreislauf des Gebens und Nehmens isoliert werden noch von dem semiotischen Prozess, der sie (re)präsentiert. Es gibt sie nicht abseits von Expression und Interpretation. Die Gabe der liebenden Ge-
Vgl. Søren Kierkegaard, Kjerlighedens Gjerninger. In: Søren Kierkegaard Forskningscenteret (Hrsg.), Søren Kierkegaards Skrifter, Bd. 9, Kopenhagen 2004 (= SKS 9), 111 / Der Liebe Tun, Bd. 1: Erste Folge. In: Emanuel Hirsch / Hayo Gerdes (Hg.), Sören Kierkegaard. Gesammelte Werke (19. Abt.), Gütersloh 31998 (= LT), 119. 17 Vgl. SKS 9, 176: en uendelig Gjeld / LT 1, 195. 16
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genwart Gottes kann nur dann als ein Präsent empfangen werden, wenn wir dieses Geschenk als gottgegeben (an)nehmen. Die Vielzahl möglicher Deutungen muss aller Ambivalenz zum Trotz begrenzt werden – sonst verschwindet die Gabe in der Gegebenheit anderer Phänomene oder in dem, was Derrida ›Dissemination‹ nennt: in einer nicht aufzuhaltenden Bedeutungsverschiebung, in der die semantische Referenz der Sprache zerstört wird. 18 Während sich für Derrida in der rückkehrlosen Dissemination des Sinnes der Sprache die »Rückkehrlosigkeit der Gabe« 19 zeigt, hält Kierkegaard fest an der Korrespondenz von Semantik und Pragmatik: In der Art und Weise, wie die Gottesgabe im Menschenleben angeeignet wird, zeigt sich, ob und wie sie verstanden wird. Wie gesagt lässt sich die Gabe der Liebe nur zu- oder aneignen, indem sie gerade nicht als Eigentum betrachtet, sondern weitergegeben wird – als Liebe, in Liebe. Liebe ist demnach eine Gabe, die man nur so geben kann, dass man ›gibt, was man nicht hat‹ : seine Zeit. 20 Dies deutet darauf hin, dass es auf die Gegenwart ankommt, in welcher Liebende als Liebende füreinander präsent werden. Ist das Präsentwerden füreinander dasselbe wie ein Sich-einander-als-Präsent-Geben? Dass die vollkommene Selbst-Gabe für Menschen unmöglich ist, weil dies zugleich ein totaler Selbst-Verlust wäre, legen so manche romantische Liebesgedichte und Erzählungen wie die von Pyramus und Thisbe nahe. 21 Nun muss die Gabe des eigenen Lebens nicht unbedingt das Opfer des eigenen Lebens bedeuten. In der Hingabe aneinander können Menschen sich (oder zumindest: etwas von sich) geben, ohne dass sie notwendigerweise daran sterben. Selbst wenn zugestanden wird, dass nur Gott sich selbst ganz geben kann, während menschliche Hingabe durch unsere Endlichkeit begrenzt ist 22 und wir nicht allezeit Derrida, Falschgeld, 67. Derrida, Falschgeld, 68. 20 Vgl. Claudia Welz, Zeit geben – geben, was man nicht hat. In: HBl 1/2 (2006), 64– 74. 21 Vgl. Bo Kristian Holm, Justification and Reciprocity. ›Purified Gift-Exchange‹ in Luther and Milbank. In: Ders. / Peter Widmann (Hg.), Word – Gift – Being. Justification – Economy – Ontology, Tübingen 2009, 87–116, 94. 22 Holm folgt Robert W. Jenson in seiner spekulativen Behauptung, nur Gott habe ein Selbst »that can be given« (Holm, Justification and reciprocity, 108), während menschliches »self-giving« nur aus der göttlichen Fülle heraus und allein im Glauben möglich sei, der an dieser Fülle partizipiere, wobei der Glaube laut Luthers Hochzeitsmetaphorik »the same characteristics as the mutual self-giving in ›romantic love‹« aufweise (Holm, Justification and reciprocity, 110). Daraus folgt: »The exchange is 18 19
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unsere volle Aufmerksamkeit einer bestimmten Person zuwenden können, gilt m. E. nichtsdestotrotz, dass wir, wenn wir dies tun und in Augenblicken, Minuten oder Stunden füreinander da sind, uns im Geben – und paradoxerweise gerade in der selbstvergessenen Hingabe – auch selbst empfangen. Dass dies so ist, liegt an der spezifischen Gestalt des liebenden Gegenwärtigseins. Die Gegenwart in der Liebe ist ein FüreinanderDasein in geteilter Aufmerksamkeit. Wird der Eine des Anderen nicht gewärtig, wird die Gegenwart des Anderen jedenfalls nicht als Gegenwart pro me erlebt. Einander-gegenwärtig-Werden ist ein transitives Geschehen. Wenn auch die Liebe nicht immer erwidert wird, muss sie doch, um als solche wahrnehmbar zu sein, in die (mehr oder weniger) gemeinsame Gegenwart des Bewusstseins eingehen: als Gabe, die dem Liebenden nicht allein gehört. So schreibt Kierkegaard die im Lieben implizierte emotionale Bewegung (Bevægelse) gerade nicht dem liebenden Menschen zu, als ob es dessen eigener Besitz (Eiendom) wäre, denn der Gefühlsausdruck, die Bewegung nach außen, gehört nach Kierkegaards Auffassung dem Geliebten, der den Liebenden bewegt. 23 Diese bewegende Gabe, die nur ›zwischen uns‹ in Bewegung und damit am Leben bleiben kann, können wir (sei’s als gegebene oder vermisste) ins Gebet nehmen – womit wir beim nächsten Thema wären.
3.
Gebet
Wie verhält sich das Gebet zur (An-)Ökonomie der Gabe? Oft wird das Dankgebet als menschliche Gabe an Gott verstanden. Mit Oswald Bayer sei jedoch betont: »Was dem Dank sagenden Beten zuvorkommt – Gottes Gabe und Zusage – darf nicht als Zitat im Gebet verthe gift« und das Evangelium »realized reciprocity« (Holm, Justification and Reciprocity., 114) nach dem Schema Deus dat, ut dem, et do ut des (Holm, Justification and reciprocity, 116). Wenn aber die größte Gabe Gottes die Gnade ist, mit welcher er das empfängt, »what is unworthy as a gift« (Holm, Justification and Reciprocity, 116), nämlich menschliche Sünde, Unglaube und Gotteshass, ist das in diesem ›Austausch‹ vom Menschen ›Gegebene‹ keineswegs die Selbsthingabe eines Liebenden. Was im Glauben an ein unverdientes Gerechtfertigtwerden durch Gott zum Ausdruck kommt, dürfte von einer verwirklichten Wechselseitigkeit gott-menschlichen SichGebens noch weit entfernt sein. 23 Vgl. SKS 9, 20.
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schwinden. Die Vorgabe lässt sich von der Gegengabe nicht einholen.« 24 Mit Paul Gerhardts Strophe »Du willst ein Opfer haben, / hier bring ich meine Gaben: / Mein Weihrauch und mein Widder / sind mein Gebet und Lieder« 25 widerspricht Bayer Derridas These, dass jede Gegengabe die Gabe zum Tausch werden lasse. Der Schöpfer als der unverschuldet Gebende wolle die Antwort des Glaubens und ermächtige zu ihr. 26 Wir lassen Gott Gott sein, indem wir ihm in der Doxologie geben, was ihm gebührt. 27 Sünde dagegen sei in erster Linie omissio: Unterlassung des Nehmens und des Gebens – das Nichtannehmenwollen der Menschenfreundlichkeit Gottes und der Widerwille, sie weiterzugeben. 28 Soweit Bayer. Wird damit einem asymmetrischen Gabentausch zwischen Gott und Mensch das Wort geredet? Christine Svinth-Værge Põder hat gezeigt, wie bei Luther und Karl Barth einerseits die unerwünschte Implikation des Tauschhandels und des do ut des, d. h. der Berechnung, ausgeschlossen und andererseits der simultane, reziproke Vollzug von Befreiung und Lobpreis im Gebet bejaht wird. Die Reziprozität wird dialektisch: Im Empfangen der Gabe Gottes bleibt Gott dem Menschen gleichwohl entzogen; der Mensch wiederum ›gibt‹ Gott nichts anderes als den Verzicht darauf, Gott etwas geben zu wollen. 29 Das Gebet versteht Barth primär als Bitte, in der die Betenden ihre eigene Bedürftigkeit vor Gott darbringen. 30 Indem die Bitte von Gott erhört wird bzw. immer schon erhört worden ist, wird sie, die Tat der Bittenden, zugleich zur Gabe an die Bittenden. 31 Die Gabe bewahrheitet sich im Lobpreis, in dem Gott als Geber anerkannt wird und der Mensch sein eigenes Geben und Empfangen vergisst. 32 Das »reziproke Grundverhältnis, nach welchem Gott die Ehre und dem Menschen das Heil zuteil werOswald Bayer, Ethik der Gabe. In: Veronika Hoffmann (Hg.), Die Gabe, 99–123, 109. 25 EG 446,5 (»Wach auf, mein Herz, und singe«). 26 Vgl. Bayer, Ethik, 115. 27 Vgl. Bayer, Ethik, 116. 28 Vgl. Bayer, Ethik, 119. 29 Vgl. Christine Svinth-Værge Põder, Reziprozität im Gebet. Die Dialektik des Gebens und Empfangens bei Karl Barth. In: Bo Kristian Holm / Peter Widmann (Hg.), Word – Gift – Being, 145–164, bes. 146 f., 155 f., 159, 162. 30 Vgl. Svinth-Værge Põder, Reziprozität, 161, mit Verweis auf Barth, Kirchliche Dogmatik (KD) III/3, 301–306; KD III/4, 106–112. 31 Vgl. ebd., mit Verweis auf KD III/3, 314. 32 Vgl. Svinth-Værge Põder, Reziprozität, 161 f., mit Verweis auf KD IV/3, 749. 24
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den soll«, lässt sich somit als gegenseitige Angewiesenheit aufeinander beschreiben. 33 Barth spricht selbst von einem wechselseitigen Verhältnis zwischen Gott und Mensch im Gebet: »Es gibt also schon eine Reziprozität […] zwischen seinem göttlichen Reden und unserem menschlichen Hören.« 34 Meine Rückfrage lautet hier, ob es nicht passender wäre, von ›Responsivität‹ statt von ›Reziprozität‹ zu sprechen. Der Vorteil wäre, dass die von Barth hervorgehobenen Aspekte der Gott-Mensch-Beziehung (d. h. die Asymmetrie zwischen erwählendem Gott und erwählten Menschen sowie das Zeitintervall zwischen einem den Menschen entzogenen göttlichen Gabevollzug und der ihnen erst im Nachhinein möglichen Teilnahme an der wiederhergestellten GottMensch-Beziehung) bewahrt würden, ohne dass das Missverständnis einer ausgleichhaften Wechselseitigkeit entstehen kann. 35 Oder ließe sich auch eine reziproke Responsivität denken, sofern Gott im Gebetsgeschehen nicht nur der Geber, sondern im Erhören eines Gebets auch in gewisser Weise der Empfänger der Rede des Menschen ist? Um diese Frage beantworten zu können, sei auf Bernhard Waldenfels und sein Buch Antwortregister (1994) verwiesen. Bei der Lektüre wird unmissverständlich deutlich, weshalb der Gedanke einer reziproken Responsivität zwischen Gott und Mensch problematisch ist. Waldenfels zufolge klafft zwischen Appell und Respons, Frage und Antwort eine unüberbrückbare Kluft: die »responsive Differenz«, welche eine Koinzidenz von Frage und Antwort unmöglich macht. »Stets wird etwas auf etwas geantwortet.« 36 Bei Waldenfels findet sich jedoch auch folgende Aussage: »Wir antworten nicht auf das, was wir hören, sondern wir antworten, indem wir etwas hören.« 37 Wie passt dies zum soeben Zitierten? Waldenfels geht es nicht etwa um eine Identität von Sprechen und Hören inmitten eines einzigen synchronen Vollzugsgeschehens, sondern er versteht Responsivität als ein diachrones Geschehen, als eine sich selbst gegenüber verschobene, temporal auseinanderstehende Erfahrung: eine Zeitverschiebung oder Heterochronie, die durch die Alterität dessen bedingt ist, was die Antwort hervorruft. Das Antworten ist ein Tun, das beim
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Svinth-Værge Põder, Reziprozität, 164. KD IV/3, 483. Vgl. KD IV/3, 152, 159. Bernhard Waldenfels, Antwortregister, Frankfurt a. M. 1994, 242. Waldenfels, Antwortregister, 250.
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Anderen und mit uns woanders beginnt, sofern das pathisch-responsive Selbst immer schon von einer Fremdheit heimgesucht ist und aus Widerfahrnissen hervorgeht. Wenngleich sich nur in der Respons der Appell zeigt und nur im vernehmenden Antworten der Anspruch, handelt es sich hier um eine niemals aufzuholende Nachträglichkeit des Antwortens gegenüber dem Getroffensein. 38 Ein phänomenologischer Zugang zum Gebet befasst sich mit der Art und Weise, wie Gottes Ruf oder Rede, sein Hören oder Erhören in der menschlichen Erfahrung gegeben sind. Die Annahme, Gott habe das Gebet des Menschen je schon erhört, bevor es überhaupt ausgesprochen wurde, bleibt aus dieser Perspektive rein hypothetisch, da derlei für den Menschen weder wahrnehmbar noch überprüfbar ist. Die Annahme einer reziproken Responsivität impliziert, dass Gott genau wie der Mensch auf die Antwort seines Gesprächspartners warten muss, das Zwiegespräch ›in‹ der Zeit kontingent verläuft und sein Ausgang offen ist. Inwieweit lässt sich dies mit der Barth’schen Frage-Antwort-Dialektik vereinbaren, wonach Gott dem Menschen dergestalt antworten und widersprechen kann, dass dieser sich selbst zur Frage wird und somit auch unangebrachte Bitten im Dialog mit Gott gereinigt und transformiert werden? 39 Die dem Betenden widerfahrende Veränderung, in der sich die göttliche Erhörung manifestiert, sowie der Gedanke, dass menschliches Handeln das ihm vorangehende göttliche Wirken nur nachvollziehen kann, 40 sind Indizien dafür, dass die Gottesbeziehung nicht je schon reziprok ist, sondern erst auf der Basis der Responsivität wechselseitig werden kann. Die Reziprozität bleibt aus, wo Menschen nicht beten wollen und Gottes Ruf ungehört oder unbeantwortet bleibt. Vgl. Matthias Flatscher, Das doreatische Selbstverständnis des Da-seins. Ein Denken der Gabe vor dem Hintergrund von Vollzugsidentität und Responsivität. In: Reinhold Esterbauer/ Martin Ross (Hg.), Den Menschen im Blick: Phänomenologische Zugänge. Festschrift für Günther Pöltner zum 70. Geburtstag, Würzburg 2012, 109– 135, 121 f., mit Verweis auf Bernhard Waldenfels, Bruchlinien der Erfahrung. Phänomenologie, Psychoanalyse, Phänomenotechnik, Frankfurt a. M. 2002, 98. 39 Vgl. Christine Svinth-Værge Põder, Doxologische Entzogenheit. Die fundamentaltheologische Bedeutung des Gebets bei Karl Barth, Berlin 2009, 152 f., 158 f. KD III/4, 111 zufolge gibt Gott selbst einer Bitte wie jener um »Befreiung from this untimely rain, um die ein amerikanischer Armeeführer während der Ardennenoffensive 1944 gebetet haben soll […], indem er sie entgegennimmt, wie sie lautet, die reine und heilige Gestalt, den geordneten und geläuterten Sinn, den sie in unserem Herzen und Mund noch nicht hatte«. 40 Vgl. Svinth-Værge Põder, Entzogenheit, 163. 38
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Waldenfels nennt einen weiteren Grund, weshalb Responsivität nicht mit Reziprozität in eins fällt: »Reziprozität von Geben und Nehmen setzt etwas voraus, das weitergegeben und geteilt wird. Ich gebe weg, was der andere entgegennimmt, und er nimmt entgegen, was ich weggebe.« 41 Die Frage ist dann, ob dies auch für Nicht-Dinge gilt wie z. B. für Aufmerksamkeit. Kann sie wirklich geteilt werden? Aufmerksamkeit in liebevoller Zugewandtheit ist konstitutiv für Responsivität im Gebet. Waldenfels spricht nicht von einer Gegenseitigkeit des Gebens und Nehmens, in welcher jeder empfängt, was der andere gibt, sondern von einem Chiasmus von Geben und Nehmen: Antworten ist gebendes Nehmen. »Indem ich eine Antwort gebe, empfange ich, worauf ich antworte. Der fremde Anspruch gibt etwas zu sagen und zu tun, nicht etwas zu haben oder zu verzehren.« 42 Wird dies auf die Gebetssituation übertragen, heißt dies dann, dass in der Hinwendung zu Gott schon die Erhörung liegt? In diesem Sinne könnte Franz Rosenzweigs Beschreibung des Dankgebets im Stern der Erlösung (1921) gelesen werden: Im Dativ, im »Gott sei Dank« des Dankens für die Gabe wird Gott als Geber bekannt und als Erfüller des Gebets erkannt. Schon im Betenkönnen ist das Gebet des Einzelnen erfüllt; im gemeinsamen Dankgebet, das die väterliche Güte Gottes anerkennt, geht »die Erfüllung jeglichen Gebets« dem Gebet sogar voraus: »es ist erfüllt, ehe es gebetet wird; seine Erfüllung wird in Dank und Lob vorweggenommen« 43. Die Erfüllung ist bislang nur vorweggenommen, weil das Gebet, so Rosenzweig, »noch verdunkelt und verwirrt« ist von mancherlei Bitten, z. B. um Vergebung der Sünden. Nichtsdestotrotz geschieht die Vorwegnahme »heute schon« 44. Die vorweggenommene Erfüllung ist also keine Wunscherfüllung, und so mancher Bitte wird Gott nicht nachkommen; dennoch kann im Blick auf Gottes immer schon geschehene Selbstzuwendung für die Erfüllung des Gebets gedankt werden. Im Dank an Gott erscheint Gott sowohl als Geber aller guten Gaben wie auch als eine sich selbst gebende Gabe, deren dankbarer Empfang jegliches Bittgebet schon im Vorhinein erfüllt. Wie aber lernen wir zu empfangen? Kierkegaard beginnt seine nach Jak 1,17–22 benannte erbauliche Rede »Alle gute und alle voll41 42 43 44
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Waldenfels, Antwortregister, 610. Waldenfels, Antwortregister, 614. Franz Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, Frankfurt a. M. 51996, 260. Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, 261.
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kommene Gabe kommt von oben herab« (1843) mit dem Gebet »Aus Deiner Hand, o Gott, wollen wir alles empfahen [sic!]« 45. Damit ist nicht gesagt, dass schon alles gut ist. Vielmehr wird dem Beter zugesagt, dass Gott alles gut macht, wodurch alles zu einer guten und vollkommenen Gabe wird »für einen jeden, der Herz genug hat, demütig zu sein, Herz genug, zu vertrauen.« 46 Heißt dies, dass der Mensch alles, auch Unrecht und Kränkungen, aus Gottes Hand mit Danksagung empfangen soll, als wäre es eine gute und vollkommene Gabe? Mit Röm 8,28 spricht Kierkegaard dafür, allezeit Gott zu danken und dadurch verstehen zu lernen, dass alle Dinge zum Besten dienen denen, die Gott lieben. 47 Das Annehmenkönnen dessen, was geschieht, ist eine Gabe. Das Problem des Menschen ist aber gerade, dass er nicht alles annehmen kann und will. Er verhält sich nicht »rein empfangend«, sondern »ist selber mitteilend«, wobei das, was vom Menschen ausgeht, schädlich sein kann. 48 Dennoch, so Kierkegaard, vergönnt Gott dem Betenden die kindliche Freude, dass er dessen Danksagung als eine Gabe von ihm betrachtet – wie die Eltern vom Kind das wiederempfangen, was sie ihm selbst gegeben haben. 49 Wie kommt der Mensch dann dazu, Gott für alles zu danken? Auch darum will gebeten sein. Dementsprechend endet Kierkegaards erbauliche Rede, wie sie begonnen hat: mit einem Gebet. Gott wird darum gebeten, er möge uns Menschen »Ohren bereiten, willig die Worte zu empfangen« – d. h. es wird nicht nur um Gottes Wort als Gabe gebeten, sondern auch um das Verständnis des Wortes und Gehorsam ihm gegenüber. 50 Nicht nur die Gabe, sondern auch die Fähigkeit des Gabenempfangs will also erbeten sein; nicht nur das Sprechen, sondern auch das Hören- und Antwortenkönnen.
Zitat aus Zwei erbauliche Reden (16. V. 1843). In: Emanuel Hirsch / Hayo Gerdes (Hg.), Sören Kierkegaard. Gesammelte Werke (2. und 3. Abt.), Gütersloh 1987, 407– 424, 407. 46 Kierkegaard, Reden, 416. 47 Vgl. Kierkegaard, Reden, 418 f. 48 Kierkegaard, Reden, 421. 49 Vgl. Kierkegaard, Reden, 422. 50 Kierkegaard, Reden, 424. 45
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Vergebung
Ich komme nun zu meinem dritten Thema, der Vergebung. Wie die Gabe betrachtet Derrida auch die bedingungslose, gnadenvolle Vergebung als »Erprobung des Unmöglichen«, das gleichwohl notwendig ist und auch global praktiziert wird – wenngleich besonders dann, wenn Staatsoberhäupter stellvertretend um Vergebung für crimes against humanity (Verbrechen gegen die Menschheit bzw. Menschlichkeit) bitten, oft »die Scheinheiligkeit, das Berechnende oder das Nachäffen« beteiligt sind. 51 Sofern die Vergebung nur unter der Bedingung in Betracht gezogen wird, dass die Verbrecher Reue zeigen, handelt es sich nach Derrida um eine Tausch-Logik, »eine ökonomische Transaktion«; da aber das Einzige, was nach Verzeihung rufe, das Unverzeihbare sei, ist der Vergebungsbegriff für ihn paradox, ja aporetisch: »es gibt nur Vergebung – wenn es sie denn gibt –, wo es Unverzeihbares gibt.« 52 Mit Verweis auf Jankélévitch, Le pardon, sucht Derrida nach einer hyperbolischen Ethik jenseits der Ethik, die »vielleicht der unauffindbare Ort des Vergebens« wäre, und insistiert darauf, ein »anökonomisches Vergeben aufrechtzuerhalten«, das jenseits von Erlösung oder Versöhnung steht. 53 Nichtsdestotrotz weiß er, dass die Vergebung als ›reine Gabe‹ sich auf das ihr Entgegengesetzte einlassen muss, damit sie überhaupt historisch und konkret werden kann – und so bleibt er gespalten zwischen Vision und Realität. 54 Wie verhält es sich mit der göttlichen Vergebung – kann sie anökonomisch bleiben? Zu bedenken ist, dass die ›Gabe‹ hier in etwas besteht, was der (Ver-)Geber wegnimmt. Mit Risto Saarinen gesprochen geht es in der Vergebung um ›Geben als Wegnehmen der Schuld‹. Er fragt dementsprechend, ob die Vergebung auch eine positive Gabe enthalte, ein par-don, so dass der Mensch nicht nur Nutznießer, sondern auch Empfänger des göttlichen (Sich-)Gebens sein kann. 55 Hier rühren wir an Fragen, die in der Rechtfertigungslehre Vgl. Jacques Derrida, Jahrhundert der Vergebung. Verzeihen ohne Macht – unbedingt und jenseits der Souveränität. Gespräch mit Michel Wieviorka. In: Lettre Internationale 48 (2000), 10–18, 10. 52 Derrida, Vergebung, 11. 53 Derrida, Vergebung, 12. 54 Vgl. Derrida, Vergebung, 14, 16. 55 Risto Saarinen, Im Überschuss: Zur Theologie des Gebens. In: Bo Kristian Holm / Peter Widmann (Hg.), Word – Gift – Being, 73–85, 84. 51
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behandelt werden. Nach Luther geht der Empfang der Gerechtigkeit bzw. ihr Zuspruch zusammen mit der Sündenvergebung. Die Sünde wird von Gott nicht mehr angerechnet, wodurch der Mensch neue Handlungsfähigkeit erlangt. Ist dies an bestimmte Bedingungen geknüpft oder reine Gnadengabe? Bo Kristian Holm argumentiert, dass die Alternative ›entweder Gegenleistung oder einseitiges Geben‹ das Anliegen Luthers in seiner Rechtfertigungslehre verfehle. Die reale Gabe sei immer Teil einer Ökonomie. 56 Er sieht es als theologische Aufgabe, die Einseitigkeit des göttlichen Gebens und die Gegenseitigkeit des Gott-Mensch-Verhältnisses sowie zwischenmenschlicher Verhältnisse gleichzeitig zu sichern. 57 Die Rechtfertigung des Sünders definiert er als »Befreiung zur Gegenseitigkeit« mit der Liebe als »Austausch-Form« identischer Gaben: »Jeder gibt sich selbst.« 58 So werde auch die göttliche Gabe erst Gabe als Tausch. Die Gabe der Rechtfertigung sei »ein fröhlicher Verkehr von empfangenem Geben und gebendem Empfang«, und es sei ein Missverständnis, sie als unilaterale Gabe zu verstehen, denn nur die Gabe, die den Empfänger zum Geber mache und ihm auf diese Weise die Möglichkeit gebe, an der Gemeinschaft teilzunehmen, sei wirkliche Gabe. 59 Die Gabe der Rechtfertigung sei eröffnete oder wiederhergestellte Gegenseitigkeit. 60 Ingolf U. Dalferth dagegen hält diese Behauptung, wonach nicht nur etwas für etwas getauscht wird, sondern Gott und Mensch sich selbst geben und empfangen, theologisch für falsch. 61 Dalferth zitiert u. a. Luthers Predigt vom 19. November 1531 (»Christianus est homo mere passivus, non activus, der ym nur lesst geben. Si non sinis tibi dari, non es Christianus«) 62 sowie seine Auslegung von Ps 90,16 in der 2. Psalmenvorlesung (1534/35), wo betont wird, dass Gott in der Rechtfertigung allein wirkt und die Menschen nur rein passiv beteiligt sind, als spectatores et receptatores, d. h. nicht als Akteure, sonBo Kristian Holm, Der fröhliche Verkehr. Rechtfertigungslehre als Gabe-Theologie. In: Veronika Hoffmann (Hg.), Die Gabe, 33–53, 35, 40 f., 44. 57 Vgl. Holm, Der fröhliche Verkehr, 42. 58 Holm, Der fröhliche Verkehr, 47 f. 59 Holm, Der fröhliche Verkehr, 51. 60 Vgl. Holm, Der fröhliche Verkehr, 52. 61 Ingolf U. Dalferth, Mere Passive. Die Passivität der Gabe bei Luther. In: Bo Kristian Holm / Peter Widmann (Hg.), Word – Gift – Being, 43–71, 71. 62 Vgl. Dalferth, Mere Passive, 46, mit Zitat von WA 34/II, 414, 46. Übers.: Der Christ ist ein rein passiver, kein aktiver Mensch, der sich nur lässt geben. Wenn du dir nicht(s) geben lässt, bist du kein Christ. 56
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dern lediglich als Zuschauer und Empfänger des Werkes Gottes. 63 Dem lässt sich entgegenhalten, dass auch das Empfangen und Zuschauen eine Aktivität ist; doch um die Heilsgewissheit nicht zu gefährden, will Luther alles ausschließen, wodurch der Mensch seinem eigenen Erlöstwerden im Wege stehen könnte. So wählt er ein radikales Leitmodell für seine rechtfertigungstheologische Argumentation: ex nihilo creare (Röm 4,17). 64 »Denn wo immer es um Schöpfung, also das Werden von Neuem und nicht nur das Anderswerden von Altem geht, sind nicht die Geschöpfe die Akteure, sondern allein Gott« 65, erklärt Dalferth. Die dem Sünder geschenkte Gerechtigkeit bleibt iustitia aliena: eine Gabe, die der alte Mensch nicht akzeptieren kann und will, weil genau darin sein Altsein besteht, während der neue Mensch sie nicht akzeptieren muss, weil er schon neu ist – d. h. diese Gabe macht den Menschen neu, ohne dass sie von ihm rezipiert wird, da sie der Aktivität des neuen Menschen »prinzipiell vorausund zugrunde liegt«. 66 Dies wird übersehen, wenn davon ausgegangen wird, eine Neuschöpfung sei überflüssig, da lediglich die menschliche Fähigkeit, Gottes gute Gaben zu empfangen, restituiert werden müsse. Wenn es dagegen Heiligung (neues Leben) nicht ohne Rechtfertigung (neue Schöpfung) geben kann 67, ist Gottes Gabe an den Menschen in diesem Kontext die Konstituierung des Menschen als geliebtes Geschöpf, das – der Sünde zum Trotz – neu anfangen darf. Der kontroverse Knackpunkt ist, ob bzw. inwiefern das Verhältnis zwischen Gott und Mensch wechselseitig ist. Bleibt es bei der einseitigen göttlichen Gabe, die der sündige ›alte‹ Mensch (homo vetus) nicht einmal empfangen kann, bevor er als gerechtfertigter ›neuer‹ Mensch (homo novus) ein neues Leben der Heiligung beginnt, oder ist Holm darin zu folgen, dass Luthers Ehemetapher, die den ›fröhlichen Wechsel‹ illustriert, in welchem der Sünder Christus seine Sünde und Christus dem Sünder seine Gerechtigkeit überlässt, als Gemeinschaft gegenseitigen Gaben-Gebens beschrieben werden kann, die durch Gott eröffnet wurde? 68 Vgl. Dalferth, Mere Passive, 47, mit Zitat von WA 40/3, 588, 2–10. Vgl. Dalferth, Mere Passive, 48–50. 65 Dalferth, Mere Passive, 51. 66 Dalferth, Mere Passive, 57. 67 Vgl. Dalferth, Mere Passive, 60. 68 Vgl. Bo Kristian Holm / Peter Widmann, A Summary of the Discussion. In: Bo Kristian Holm/ Peter Widmann (Hg.),Word – Gift – Being, 187–194, 189. 63 64
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Meiner Ansicht nach zeigen sich in dieser Debatte die Grenzen der Gabemetaphorik. Die menschliche Sünde (d. h. das Desinteresse an Gott, den Unglauben oder die Untaten, die zum Zerbrechen der Relation zu Gott führen, soweit diese am Menschen liegt), als ›Gabe‹ zu bezeichnen, die der Mensch Gott ›gibt‹ oder ›überlässt‹, wirkt nicht nur wie eine Fehlbezeichnung, sondern wie ein frecher Euphemismus, durch den der Mensch sich besser macht, als er ist. Was könnte er geben an Gutem, was er nicht zuvor empfangen hätte? Was kann er anbieten als Gegengabe für den Empfang von Gerechtigkeit, Heil und neuem Leben, wenn er doch im Ausgangspunkt nichts anderes hat als sein altes Leben, das er in Unheil und Ungerechtigkeit lebt? Wäre es nicht eine Zumutung, wollte man dem Geber alles Guten die eigene Schlechtigkeit als ›Gabe‹ anbieten – ganz abgesehen davon, dass man allein von ihr gar nicht loskommt, so dass man sie auch nicht via Gabentausch ›loskriegen‹ kann? Kurz: Luthers ›fröhlicher Wechsel‹ ist nicht automatisch mit Wechselseitigkeit in eins zu setzen. Die Rede von einem ›Ortswechsel‹ mag zunächst als eine gangbare Alternative erscheinen, sofern sie Bewegung suggeriert. Was ihr mit der Metapher des Gabentausches gemeinsam ist, ist das Ausgehen von menschlicher Aktivität. Wenn es stimmt, dass es im Rechtfertigungsgeschehen gar nicht darum geht, was der Mensch macht und wo er sich hinbewegt, sondern allein um ein unverfügbares, passiv erlittenes Verändertwerden, hilft die Raummetaphorik jedoch auch nicht weiter. Bevor der Mensch als möglicher Empfänger konstituiert ist, ergibt es keinen Sinn, von einer Reziprozität zwischen Gott und Mensch zu sprechen. Was die sachlogisch auf die Rechtfertigung folgende Heiligung angeht, so ist die Wechselseitigkeit unstrittig. Fraglich ist der Übergang vom Alten zum Neuen: Wie lässt sich sowohl der Bruch wie auch die Kontinuität zwischen ›altem‹ und ›neuem‹ Menschen aufzeigen? Während der Mensch sich (im Blick auf Gottes Handeln an ihm) bereits als gerechtfertigt betrachten darf, muss er sich (im Blick auf sein eigenes Fehlverhalten bzw. auf seine Rückfälle) immer noch als Sünder sehen, welcher der Vergebung bedarf; und doch glückt die Gottes- und Nächstenliebe bereits hier und da, sobald das neue Leben begonnen hat. Diese Gleichzeitigkeit verschiedener Aspekte sei anhand von Ludwig Wittgensteins ›Aspektsehen‹ verdeutlicht. 69 Ein und dieselbe 69
Im Folgenden stütze ich mich auf den Eintrag »Aspektsehen« im Tübinger Portal
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Zeichnung kann z. B. die Konturen eines Hasen- oder eines Entenkopfes zeigen. Wittgenstein beschreibt das Aspektsehen als »halb Seherlebnis, halb ein Denken« 70, als ein semantisches ›Sehen-als‹, bei dem etwas als etwas gesehen wird. Was das Verhältnis von Wahrnehmung und Interpretation beim Sehen von Kippfiguren angeht, fragt er sich: »Sehe ich jedesmal wirklich etwas anderes, oder deute ich nur, was ich sehe, auf verschiedene Weise?« 71 Perzeption und Sinnbildung sind für ihn sachlich untrennbare und phänomenal ununterscheidbare Vorgänge. Zusammen mit dem visuellen Erfassen ist bereits der Eindruck entweder des Hasen oder der Ente gegeben, d. h. das Urteil wird nicht erst nachträglich nach längerem Überlegen gebildet. Vom Sehen der Bilder gilt vielmehr: Wir »sehen sie, wie wir sie deuten.« 72 Die Deutung wiederum ist abhängig von der Perspektive des Sehenden, doch nicht völlig arbiträr, da die Amphibolie der beiden verschiedenen Sichtweisen aufgrund zweier in der Strichzeichnung angelegten Sehmöglichkeiten entsteht. Dementsprechend können der homo vetus und der homo novus als ›Zeitgenossen‹ verstanden werden, die man jedoch nicht simultan ›ins Auge fassen‹ kann, da hierzu ein Perspektivenwechsel vonnöten ist. Sofern der dem Menschen vergebende Gott mehr sieht als dessen Unzulänglichkeit und sofern damit eine »rekognitive Differenz« 73 zwischen dem anerkannten Menschen wie er ist bzw. sich selbst sieht und dem, als der er von Gott anerkannt wird, entsteht, eröffnen sich ihm neue, noch nicht ergriffene, ihm aber schon vorab zugesprochene Entfaltungsmöglichkeiten. 74 Glossar der Bildphilosophie: http://www.gib.uni-tuebingen.de/netzwerk/glossar/ index.php?title=Sehen (4. 12. 2015). 70 Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, Frankfurt a. M. 1971, 525. 71 Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, 550. 72 Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, 519. 73 Vgl. Veronika Hoffmann, Skizzen zu einer Theologie der Gabe. Rechtfertigung – Opfer – Eucharistie – Gottes- und Nächstenliebe, Freiburg i. Br. u. a. 2013, 321, mit Verweis auf Thomas Bedorf, Verkennende Anerkennung. Über Identität und Politik, Berlin 2010, 125. 74 Die rekognitive Differenz enthält folglich auch ein ›Noch-nicht‹ : die spannungsvolle Differenz zwischen So-Sein und Anders-Werden, zwischen Sich-sehen-als-etwas und Gesehenwerden-als-etwas-anderes. Die Figur des Anerkennens-als unterläuft die Gegenüberstellung von forensischer und effektiver Rechtfertigung bzw. von Urteil und Sein (vgl. Hoffmann, Skizzen, 323) dergestalt, dass die Möglichkeit neuen Seins Gottes erlösendem Urteil geschuldet ist, welches das Noch-nicht-Seiende nicht nur voraus-, sondern gleichsam ›hervorsieht‹.
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Die (An-)Ökonomie der Gabe
Im Unterschied zu Wittgensteins Aspektsehen, das zwischen zwei alternativen, aber gleichermaßen im Bild angelegten Sehmöglichkeiten oszilliert, ist das Verhältnis zwischen ›Altsein‹ und ›Neuwerden‹ nicht als gleichberechtigtes Entweder/Oder zu bestimmen, denn ohne Gerechtfertigtwerden durch Gott wäre dem Menschen jegliches Heiligungshandeln unmöglich. Aufgrund dieses (nicht umkehrbaren) konditionalen Verhältnisses können wir auch nicht beliebig den Referenzrahmen wechseln. Menschliche ›Vorbereitung‹ auf den Empfang der Gnade Gottes kann nur so genannt werden, wenn diese Gnade zuvor schon ins geistige Gesichtsfeld getreten ist, d. h. in unserer Lebenswirklichkeit als wirk- und heilsam erfahren wurde. Die Sichtweise des Gläubigen kann dieser sich nämlich nicht selbst geben, sondern sie muss ihm durch Gott eröffnet werden. 75 Damit sind auch die Grenzen des Vergleichs mit der Kippfigur erreicht: Die theologische ›Optik‹ muss mehr umfassen als das, was uns ›ins Auge fällt‹. Sie muss auch die (unsichtbaren) Bedingungen der Möglichkeit des So-oder-anders-sehen-Könnens reflektieren. 76
5.
Schlussfolgerungen: Was in Ökonomie nicht aufgeht
Was sollen wir konkludieren aus der voraufgehenden Diskussion – basieren die Liebe, das Gebet und die Vergebung auf einer ›reinen‹, anökonomisch bleibenden Gabe oder auf der Ökonomie reziproken Gebens und Empfangens? Um die Antwort vorwegzunehmen: Dies ist eine falsche Alternative. 77
Jürgen Werbick sei für den treffenden Vergleich gedankt, mit dem er die Diskussion auf der Erfurter Tagung bereicherte: Wie ein in sich verschlossener, an einer inneren Blockierung leidender Mensch (man denke an Luthers homo incurvatus in se) die ›Tür‹ zu sich nicht selbst öffnen kann, sondern sich gleichsam von außen erschlossen werden muss, so eröffnet bzw. erweitert uns auch das gnadenvolle Geschehen des Gerechtfertigtwerdens den Horizont. 76 Dies habe ich an anderer Stelle entfaltet: Claudia Welz, God – A Phenomenon? Theology as Semiotic Phenomenology of the Invisible. In: Studia Theologica 62/1 (2008), 4–24. 77 Vgl. Peter Widmann, Einseitigkeit als Grund von Gegenseitigkeit. In: Bo Kristian Holm / Peter Widmann Word – Gift – Being, 165–186, 165: »Es könnte ja sein, dass es eine Einseitigkeit gibt, die ein neues Gegenüber, Zueinander und Wechselverhältnis allererst ermöglicht.« 75
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Derrida schlägt folgenden Ausweg aus der von ihm diagnostizierten Aporie vor: »gib du der Ökonomie ihre Chance.« 78 Die Gabe ist Derrida zufolge »Erster Beweger des Kreises«; gleichzeitig »kontrahiert sie sich zum Kontrakt«, ja verträgt sich mit dem Vertrag. 79 Damit wird ein Doppeltes gesagt: Die Ökonomie macht zwar einerseits die ›Reinheit‹ der Gabe zunichte und kontaminiert sie mit ihrem Gegenteil; andererseits tritt die ›Reinheit‹ der Gabe aber auch erst im Kontrast zur Ökonomie hervor und hält so den Kreislauf in Gang. Will man von einer anökonomischen Gabe Rechenschaft ablegen, begibt man sich mitten hinein in die Ökonomie der Zeichen. Nur indem man das Präsent re-präsentiert, wird es als Gabe identifizierbar. Zu Derrida sei kritisch angemerkt, dass Repräsentation sich nicht auf Ökonomie reduzieren lässt, genauso wenig wie Reziprozität. Dass auch etwas Kontraintuitives, ja Absurdes darin liegt, die Gegenseitigkeit einer Beziehung bzw. deren Darstellung als Zeichenoder Gabenzirkulation zu explizieren, die durch eine vermeintlich ›reine Gabe‹ ermöglicht wird, sei zunächst am Beispiel der Liebe gezeigt – und zwar mithilfe einer Gegenprobe ex negativo, d. h. im Blick auf die imaginierte Situation, dass das, was zuvor als ›Gabe‹ verstanden wurde, fehlt.
Ad 1) Nichterfahrbarkeit der Liebe Dass sie nicht erfahrbar wird, ist Derrida zufolge die Bedingung der Möglichkeit einer ›reinen Gabe‹. Wird Liebe nicht als solche phänomenal, kann man nur noch wider den Augenschein an ihre unsichtbare Gegenwart glauben – oder sie als fehlend, vermisst, abwesend registrieren. Ist die Nichterfahrbarkeit der Liebe in diesem Fall als Mangel von Zeichen bzw. als nicht gegebene oder nicht empfangene Gabe zu erklären? Dies wäre keine einleuchtende Erklärung, da das wirklich dringliche Problem keineswegs ein Mangel an Zeichen ist, sondern deren Vieldeutigkeit. Sofern Liebe sich nur vermittelt (d. h. durch anderes bzw. in und an anderem) zeigen kann, wäre es ein Fehlschluss, von der Vieldeutigkeit der Zeichen und Phänomene auf die Lieblosigkeit eines sich der Zeichengebung versagenden Gebers zu schließen, insbeson78 79
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Die (An-)Ökonomie der Gabe
dere wenn dieser – wie Gott – transzendent ist. Weder göttliche noch menschliche Liebe lässt sich als ›reine Gabe‹ oder immer greif- und fassbares, zwischen uns zirkulierendes Geschenk verstehen.
Ad 2) Mangelnde Gebetserhörung Auch im Blick auf das Gebet lässt sich das Modell einer (an-)ökonomischen Gabe in Frage stellen. Kants Gebetslehre in seiner Religionsschrift (1793–94) radikalisiert den Gedanken der Nichtreziprozität: Während Kant ein Handeln im »Geiste des Gebets« gutheißt, d. h. den moralischen »Wunsch, Gott in allem unserem Tun und Lassen wohlgefällig zu sein«, kritisiert er das Gebet, sofern es als Anrede eines als persönlich gegenwärtig vorgestellten Gottes gefasst wird, dessen Gunst der Betende sich verschaffen will, als abergläubischen Wahn bzw. Wahnsinn. 80 Kant begründet seine Kritik damit, dass Gott keiner Erklärung der inneren Gesinnung des Wünschenden bedarf und dass ein Beter, der sich Gott durch Worte erklärt, auf Gott zu wirken sucht, anstatt die Pflichten auszuüben, die ihm als Gebote Gottes obliegen. Fazit: Durch das Gebet als wortreiche Anrede, die »durch die pochende Zudringlichkeit des Bittens« versucht, Gott vom »Plane seiner Weisheit« abzubringen, wird Gott nicht gedient. 81 Im Gegenteil – ein solches Gebet ist laut Kant vermessen. In ihm werde nämlich »die Wirkung der moralischen Idee« geschwächt, weshalb schon Kindern einzuschärfen sei, dass selbst die nur innerlich ausgesprochene Rede an Gott »nicht an sich etwas gelte, sondern nur um die Belebung der Gesinnung zu einem Gott wohlgefälligen Lebenswandel zu tun sei« 82. Kants Kritik bestätigt die Vorteile des Vorschlags, im Verständnis des Gebets statt vom Paradigma der Wechselseitigkeit zwischen Gott und Mensch vom Paradigma der Responsivität auszugehen. Gott ist kein Handelnder unter anderen, gleichsam auf Augenhöhe mit uns. Die Erhörung oder ›Beantwortung‹ eines Gebets geschieht allenfalls indirekt – nicht so, dass eine erbetene ›Gabe‹ als solche erkennbar ihrem Empfänger ›zugeschickt‹ würde, sondern eher so, dass Immanuel Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, hg. v. Karl Vorländer (Philosophische Bibliothek Bd. 45), Hamburg 91990, 220–225, 221. 81 Vgl. Kant, Die Religion, 220–222 (Zitate von S. 222 Anm.). 82 Kant, Die Religion, 224. 80
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der Beter selbst in seiner veränderten Haltung Gott gegenüber gleichsam ›durchsichtig‹ wird auf den, der menschliches Tun und Lassen allererst ermöglicht – somit auch das Beten.
Ad 3) Nichtvergebenwollen Dass die Paradoxie der (An-)Ökonomie auch beim Thema Vergebung mit Vorsicht zu genießen ist, zeigt wiederum die Negation der Vergebung: das Nichtvergebenwollen im Sinne des Belassens der Schuld. Im zwischenmenschlichen Bereich können wir einander die Schuld auch gar nicht nehmen, sondern sie allenfalls großzügig übergehen, sie sehenden Auges ›übersehen‹ und uns nicht mehr von ihr bestimmen lassen. Avishai Margalit spricht hier von covering it up, sie überdecken und nicht mehr beachten, jedoch ohne sie vergessen zu haben. 83 Der biblischen Tradition zufolge kann nur Gott über das Verbergen der Schuld hinaus auch das, was Margalit blotting out the sin nennt: die Schuld tilgen, sie auslöschen – und völlig vergessen. 84 Wollte Gott uns nicht vergeben, blieben wir sitzen auf unserer Schuld. Wie aber werden wir sie los, die ungewollte ›Gabe‹ ? Nun, noch einmal: nicht, indem wir sie weggeben und Gott sie an sich nimmt, sondern indem sie für Gott nicht mehr als etwas gilt, was die Gemeinschaft mit uns unmöglich macht. Wieder zeigen sich die Grenzen der Gabe-und-Ökonomie-Metaphorik. 85 Vgl. Avishai Margalit, The Ethics of Memory, Cambridge (Mass.) / London 2002, 189. 84 Vgl. Margalit, Ethics, 189 f. 85 Mit Hoffmann, Skizzen, 306, stimme ich darin überein, dass ein anökonomisches Denken, das das ökonomische Modell nur unter ein negatives Vorzeichen stellt, aber faktisch weiterverwendet, den Denkrahmen des Sünders nicht wirklich verlässt. Ob es allerdings gelingt, mithilfe einer Theologie der Gabe diesen Denkrahmen durch einen grundlegend anderen zu ersetzen, wage ich zu bezweifeln – zumindest wenn die Gabe nicht nur als Teilbeschreibungskategorie für das Wirken des erlösenden Gottes und erlösten Menschen dienen, sondern den prekären Übergang vom Gefangen- zum Freisein beschreiben soll. Was wird gewonnen dadurch, dass die Rechtfertigung des Sünders nicht lediglich als Anerkennung oder imputatio verstanden, sondern als »Gabe der Anerkennung« reformuliert wird (Hoffmann, Skizzen, 315–346)? Beschreibungen wie diese, dass Gott »den kalkulierenden […] Sünder aus einer ökonomischen Logik zu einer ›Logik der Überfülle‹« (Hoffmann, Skizzen, 324) befreie, wodurch dieser »wieder gabe-fähig« werde (Hoffmann, Skizzen, 326), reif zur »Wechselseitigkeit göttlicher und menschlicher Selbstgabe« (Hoffmann, Skizzen, 336), können kaum beanspruchen, sich jenseits der altbekannten Alternativen zu bewegen. Angeb83
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Die (An-)Ökonomie der Gabe
Knut Wenzel zufolge hat die im Vergebungsgeschehen wirkende Gnade »nicht eine soteriologische oder rechtfertigungstheologische, sondern eine schöpfungstheologische Struktur«, da sie Ausfluss jenes Anerkennungsgeschehens sei, das das von ihm Anerkannte so sehr will, dass es dies allererst hervorbringt. 86 Ich stimme ihm darin zu, dass Vergebung von Gottes schöpferischer Gnade ermöglicht wird; allerdings will ich ihm nicht in seiner Entgegensetzung von Schöpfungs- und Rechtfertigungstheologie folgen. Denn es gäbe weder don noch pardon zwischen Menschen ohne das Wirken der Gnade Gottes, die all unserem (Ver-)Geben je schon zuvorgekommen ist und es zugleich ›begabt‹. * Da sich die Gnade Gottes nur so gibt, dass sie sich gleichzeitig dem Zirkulieren menschlicher Gaben und Zeichen entzieht, lässt sie sich auch nicht von uns in eine sog. ›Heilsökonomie‹ einschleußen. Vielleicht ist sie das beste Beispiel einer ›reinen Gabe‹, die einen Kreislauf an Gaben in Gang setzt, selbst aber außerhalb jeder von Menschen überschaubaren Ordnung bleibt. Wird sie genau so, außer-ordentlich, Ereignis, ›gibt es‹ sie zwar in unserer Menschenzeit, doch nur so, dass sie zugleich incognito bleibt. Sie schließt ihrerseits die Ökonomie nicht aus, wird aber kein sichtbarer Teil von ihr, sondern bleibt irreziprok und wird in ihrem Wirken oft gar nicht wahrgenommen. Denn um sie wahrnehmen zu können, müsste man das Unsichtbare sehen – und dies erfordert, metaphorisch gesprochen, die ›Augen‹ des Glaubens. Deren Sichtweise ist jedoch alles andere als selbst-verständlich.
lich funktioniert die symbolisch vermittelte Selbstgabe »weder nach ökonomischen noch nach an-ökonomischen, sondern nach wiederum anderen Regeln« (Hoffmann, Skizzen, 335), doch könnte man mit Derrida die Überfülle zur Anökonomie und die Rückerstattung des Wertes dieser Gabe in Form eines symbolischen Äquivalents zur Ökonomie rechnen, ohne andere Regeln bemühen zu müssen. Wo Hoffmann die Einund Wechselseitigkeit in einer »dialektischen Spannung« (Hoffmann, Skizzen, 512) sieht, wird diese (m. E. weiterführende) Dialektik leider nicht näher ausgeführt. 86 Knut Wenzel, Vergebung: Von der Gabe zur Anerkennung. Überlegungen zu einem philosophisch-theologischen Transversionsbegriff. In: Veronika Hoffmann (Hg.), Die Gabe, 125–143, 141. Die Gabe
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Kann Gott unseren Schuldigern vergeben? Über die Schwierigkeiten der Vergebung Ulrike Link-Wieczorek
»Was wir heute zu verzeichnen haben, ist ein vollständiger Kollaps des sozialen Systems, der gewohnten Weise, Geschäfte zu machen und seine Beziehungen aufzubauen; alles was kulturell heilig war, wurde verletzt; alles was gewohnt war, wurde fremd …« 1 Die Rede ist hier von der Lage des afrikanischen Landes Rwanda ein Jahr nach den gewaltsamen Ausschreitungen von Hutus und Tutsis im April des Jahres 1994. Das Zitat soll als ein Beispiel dienen von vielen möglichen dafür, dass Vergebung auch über einen persönlichen Kontext hinaus im wahrsten Sinne des Wortes lebensnotwendig ist. Das Zitat und sein historischer Kontext der totalen Zerstörung von Lebensmöglichkeiten nach einem versuchten Genozid lassen Vergebung aber auch als etwas eigentlich Unvorstellbares erscheinen. Man kann erahnen, wie die Erinnerung an gegenseitige Verwundungen und die Erfahrung ihrer spürbaren Folgen wie große Felsbrocken zwischen den Menschen liegen, um die herumzugehen man sich im Alltag eher angewöhnen mag als sie wegzurollen. Geradezu euphemistisch wirkt da das Bild in Calvins Institutio, in dem er die Sünde als eine »große Wolke« beschreibt, die zwischen Gott und den schuldigen Menschen hinge und die durch Christus beseitigt werde. 2 Schon eher passt die drastische Beschreibung der Schmerzen und der Todesangst Jesu in der Passion und der anschließenden Höllenfahrt, die sich der an sich doch eher nüchterne Calvin leistet, zu der Erfahrung von Gewalt, Desillusionierung und tiefer Depression der Menschen in Rwanda. 3 Freilich steht die Wolke bei Calvin zwischen Gott und Menschen, die
Jacob Johannes Kritzinger, The Rwandan tragedy as public indictment of Christian mission. Missiological reflections of an observer. In: Missionalia 24, 1996, Heft 3, 340–357; hier 340. 2 Calvin, Inst. II,12,1. 3 Ebd., II, 16,10. 1
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Kann Gott unseren Schuldigern vergeben?
»Felsbrocken« im Fall der Menschen in Rwanda jedoch liegen zwischen Menschen und Menschen. Diese Beobachtungen führen uns zu gleich mehreren Kernproblemen der theologischen Rede von Vergebung, um die es im Folgenden gehen wird: Zum einen lassen sie etwas von den Schwierigkeiten der Vergebung erahnen, wie sie sich faktisch im zwischenmenschlichen Leben erfahren lassen. Sie stehen im Zentrum der gegenwärtigen Reflexion des Phänomens der Vergebung in Philosophie und Sozialwissenschaften, kaum jedoch in der Theologie. (1) Hier scheint dagegen immer noch eine geradezu problemlos wirkende Rede von der Vergebung Gottes gepflegt zu werden – das zu Vergebende scheint einer Wolke gleich, die sich durch einen Windstoß des Heiligen Geistes vertreiben lässt. Somit lässt sich auch im kirchlichen Leben eine zunehmende Ratlosigkeit beobachten, wie eigentlich Gottes Vergebung bzw. die Bitte darum mit der konkreten Erfahrung von zwischenmenschlicher Unversöhntheit verbunden sind. Was hat Gottes Vergebung mit der der Menschen untereinander zu tun? (2) Angesichts dieser Problemkonstellation soll nun hier geprüft werden, ob der Diskurs über das Phänomen der Gabe Hilfreiches zu bieten hat, um den Zusammenhang der beiden unterschiedlichen Erfahrungs-Dramaturgien von Gottes Vergebung und der Vergebung unter den Menschen zu erklären. Hilft der Diskurs über die Zusammenhänge von Geben und Empfangen, den Zusammenhang von Gottes Vergebung und zwischenmenschlicher Vergebung besser zu verstehen? (3) Diese Überlegungen münden in einen Vorschlag, die Rede von der Vergebung Gottes und der zwischenmenschlichen Vergebung in einer Verschränkung von unterschiedlichen, aber verbundenen Gabekreisen zu denken. (4) Was das für das Verständnis der Bitte um Vergebung an Gott bedeutet, soll am Schluss überlegt werden. (5)
1.
Grundstruktur, Schwierigkeiten und Grenzen der Vergebung
Die jüngere philosophische und sozialwissenschaftliche Diskussion würdigt Vergebung als ein ausgesprochen komplexes Geschehen, dessen Grundform sich auf das Verhältnis zwischen zwei Menschen bezieht, die sich jedoch bei Berücksichtigung der sozialen Eingebundenheit von Menschen schnell in größere Dimensionen – transindiDie Gabe
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viduell und transgenerational – ausweitet. 4 Letzteres ist besonders deutlich in Bezug auf historische oder politische Schuld – häufig diskutiert in Bezug auf Überlebende des Vernichtungslagers Auschwitz, auf Nachkommen von hier Ermordeten oder in Bezug auf die Konfliktbewältigung in gesellschaftlichen Transformationsprozessen wie etwa der Neuformierung der südafrikanischen Gesellschaft nach dem Ende des Apartheitregimes. 5 Auch in diesen trans-personalen Feldern von Vergebung bleibt das Geschehen von Vergebung zwischen zwei Menschen eine Art grundlegende regulative Idee, an der sich dann auch die Wahrnehmung ihrer Schwierigkeiten und Grenzen fest macht. In diesem Grundmuster bedeutet Vergebung das Losgelöstwerden von den Folgen einer schädigenden Tat und von der Identifikation mit ihr, auf dass die geschehene Verletzung nicht mehr zwischen den beteiligten Menschen stehe und ihnen eine gemeinsame Zukunft – Versöhnung – ermöglicht wird. Je nach Grad und Komplexität der Verletzung können hier noch Differenzierungen eingetragen werden. Die philosophische Diskussion versucht zum Beispiel seit dem entsprechenden Vorschlag von Hannah Arendt, zwischen Vergeben und Verzeihen zu unterscheiden und das Verzeihen für die leichteren Loslösungen von Verfehlungen im Alltag zu reservieren. 6 Sie realisiert sich beim Verzeihenden in einer Haltung der Nachsicht, die nicht nachträgt und die aus der Einsicht in die generelle Fehlbarkeit und Verstrickung des Menschen lebt. 7 Die Bezeichnung ›VerAus der Fülle der Titel seien genannt: Johannes Brachtendorf/Stephan Herzberg (Hg.), Vergebung. Philosophische Perspektiven auf ein Problemfeld der Ethik, Münster 2014; Charles L. Grisworld, Forgiveness. A Philosophical Exploration, Cambridge 2007; Mariano Crespo, Das Verzeihen. Eine philosophische Untersuchung, Heidelberg 2002; Klaus-Michael Kodalle, Verzeihung denken. Die verkannte Grundlage humaner Verhältnisse, München 2013; Bas van Stokkom, Neele Doorn, Paul van Tongeren (Hg.), Public Forgiveness in Post-Conflict Contexts, Cambridge/Antwerpen/ Portland 2012. 5 Vgl. z. B. von Stokkom u. a. (Hg.), Public Forgiveness; Kodalle, Verzeihung denken; Magdalene L. Frettlöh, »Der Mensch heißt Mensch, weil er … vergibt«? Philosophisch-politische und anthropologische Vergebungs-Diskurse im Licht der fünften Vaterunserbitte. In: Jürgen Ebach/Hans-Martin Gutmann/Dies./Michael Weinrich, »Wie? Auch wir vergeben unsern Schuldigern?« Mit Schuld leben, Gütersloh 2004, 179–215. 6 Vgl. Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 1967 (orig. The Human Condition, Chicago 1958); Dies., Freiheit und Politik. In: Zwischen Vergangenheit und Zukunft: Übungen im politischen Denken I, hg. von Ursula Ludz, 2. Aufl. München / Zürich 2000, 201–226; s. dazu Frettlöh, Der Mensch, hier 191–199. 7 Zur Nachsicht vgl. Kodalle, Verzeihung denken, 237–265. 4
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gebung‹ bleibt für schwerere Fälle – bis, so schon Hannah Arendt, zur Einsicht in ihre Unmöglichkeit, weil es in den schweren Fälle eben um das eigentlich »Unvergebbare« geht. Wenn das zwischenmenschliche Grundmuster Vergebung als ein Geschehen zwischen Täter und Opfer zeigt, ja, sie sogar an das Opfer selbst bindet, das allein das Subjekt der Vergebung sein kann – dann stößt sie bei schweren Vergehen (Hannah Arendt denkt hier an die Shoah) – sozusagen an ihre strukturellen Grenzen, wenn dem Opfer die Vergebung als Loslösung der Täter von ihrer Tat nicht zugemutet werden kann bzw. dem Täter eine Einsicht in die Verwundung durch seine Tat oder seine Beteiligung an der Verwundung nicht möglich ist. Die Komplexität des Vorgangs erweist sich zudem als noch dichter, wenn man Täter/Täterin und Opfer in ihrem weiteren sozialen Zusammenhang wahrnimmt. Da kommen besonders schwierige Fragen auf: Darf ein Opfer überhaupt einem Täter / einer Täterin vergeben, wenn es weiß, dass es noch viele andere Opfer derselben Person gibt, die nicht vergeben wollen bzw. können? Wird ihnen nicht auch durch die Vergebung eines anderen eine Vergebung aufgenötigt und werden sie damit nicht erneut zum Opfer gemacht? Und wie viel Recht auf Mitbestimmung im Vergebungsvorgang haben die Opfer der Opfer, Kinder von Opfern von Gewalt z. B., deren eigene Entwicklungsmöglichkeiten eingeschränkt wurden durch die Tat? Noch komplexer wird es, wenn man bedenkt, dass sich die ereignete Vergebung u. U. auf noch künftige weitere Opfer des Täters oder der Täterin auswirken könnte – werden auch diese durch die vergangene Vergebung desselben Täters verstärkt zu Opfern? Deutlich wird so, dass der Vergebungsvorgang, wie er sich im zweipoligen Verhältnis von Täter und Opfer darstellen mag, bereits eine Verkürzung der wirklichen Verhältnisse der Verstrickung in den Zusammenhängen menschlicher Schuld darstellt. Den anglikanischen Theologen John Milbank treibt diese Beobachtung so weit zu sagen, dass man eigentlich nicht erwarten könne, dass Vergebung durch die Vergebung der Opfer zustande käme. 8 Allenfalls in ganz kleinen Problembereichen überhaupt sei das möglich; schwerwiegende Schädigungen des Lebens jedoch haben es mit zu vielen Opfern zu tun und zudem in der Regel noch zusätzlich mit vielen toten Opfern, die selbst nicht mehr vergeben können. John Milbank, Being Reconciled. Ontology and Pardon, London/New York 2003, 51; ebenso ders, Forgiveness and Incarnation. In: John D. Carputo/Mark Dooley/ Michael J. Seanlon (Hg.), Questioning God, Bloomington 2001, 92–128, hier 99.
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Die sozialwissenschaftliche Diskussion rankt sich schließlich um die Frage, ob Vergebung auch ohne die Bitte um Vergebung durch den Täter erfolgen könne. Sie ragt damit zum einen in den Gabe-Diskurs um die Alternativen von reiner Gabe und Gabentausch hinein, zum andern in das christlich-theologische Konzept der wie auch immer zu begreifenden Verschränkung von Gottes Vergebung und zwischenmenschlicher Vergebung. Die Frage nach dem Subjekt der Vergebung berührt letztlich auch den Zusammenhang von Vergebung und Versöhnung: Wenn Vergebung als Bestandteil von Versöhnung verstanden wird, stellt sich die Frage nach der »einladenden Vergebung« als einem Akt im Prozess von Versöhnung, der wiederum als solcher angenommen oder abgelehnt werden kann. 9 Als ein historisches Beispiel aus der jüngeren europäischen Vergangenheit mag der Hirtenbrief der polnischen katholischen Bischöfe an ihre deutschen Amtsbrüder aus dem Jahr 1965 gelten, der unter dem Titel »Wir vergeben und wir bitten um Vergebung« veröffentlicht wurde und an dessen Wirkungsgeschichte sich die Schwierigkeiten der Vergebung ebenfalls gut aufzeigen ließen – von Schwierigkeiten der Annahme der Vergebungsbitte bis zur politisch erzwungenen Zurücknahme der ausgesprochenen Vergebung. 10 Verbunden mit diesen Problemen ist die Frage, ob es auch kollektive Vergebung geben könne, bei der Gruppen als Subjekte gelten müssten. 11 Hier spielen Fragen der Repräsentation eine Rolle. Sie verdeutlichen letztlich aber auch ein Grundphänomen bipolarer zwischenmenschlicher Vergebung: ihre Ambivalenz. Bitte um Vergebung ebenso wie die Gewährung von Vergebung sind in der Gebrochenheit des Lebens immer darauf angewiesen, vom Empfänger / von der Empfängerin auf ihren Sinn hin ergänzt zu werden, denn über die ungetrübte Aufrichtigkeit sowohl der Bitte als auch ihrer Gewährung kann sich kein Mensch sicher sein. Sie können beeinflusst sein von Kalkülen des (Über)Lebens, von Selbsttäuschung Vgl. Trudy Govier/Colin Hirano, A Conception of Invitational Forgiveness. In: Journal of Social Philosophy 39 / 3, 2008, 429–444. 10 Vgl. dazu Basil Kerski, Thomas Kycia, Robert Żurek: »Wir vergeben und bitten um Vergebung«: Der Briefwechsel der polnischen und deutschen Bischöfe 1965 und seine Wirkung, Osnabrück 2006, Einleitung, 43–44; sowie Urszula Pękala, Wechselwirkungen von Religion und Politik beim Briefwechsel der polnischen und deutschen Bischöfe 1965. In: Kirchliche Zeitgeschichte 26/2, 2013, 468–485; hier 480. 11 Vgl. dazu Alice MacLachlan, The philosophical controversy over political forgiveness. In: van Stokkom u. a. (Hg.), Public Forgiveness, 37–64 (Lit.). 9
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oder vieldimensionalen Fehleinschätzungen und bleiben auf allen Seiten der Beteiligten ein Risiko. 12 Jeffrie G. Murphy warnt daher vor einer Überbewertung der Möglichkeiten von Vergebung und betont in der philosophischen Diskussion ihre Begrenztheit. 13 Zum Risiko, sich auf die Ambivalenz einzulassen, kommt im Vergebungsgeschehen noch hinzu, dass es sich um einen schmerzhaften Prozess handelt. Denn weder ist Vergebung ein Leichtes für den Täter / die Täterin, für den /die Vergebung erbittende/n oder auch nur empfangende/n, noch ist sie leicht für das Opfer. Beide müssen sich in Angst um den Verlust ihrer Würde ihrer Schuld bzw. Entblößung und einer entsprechenden Form von Scham stellen. 14 In der Regel wird der Felsbrocken umrundet, um sich dem Schmerz der Schuld-Scham nicht stellen zu müssen, vor allem angesichts des Risikos misslingender Vergebung, das um so größer ist in einer gesellschaftlichen Atmosphäre, in der zwar öffentliche Schuldvorwürfe und –tribunale geübt, Vergebung jedoch nicht für möglich gehalten wird. 15 Nicht weniger schmerzhaft mag die Zumutung zu vergeben für die Opfer sein, die sich im Prozess des Vergebens dem Leiden der Vergangenheit, der Scham der Kränkung, wieder stellen müssen. 16 Nicht zuletzt aus der Zur von Dietrich Bonhoeffer gebrauchten Wendung »Ambivalenz des Lebens« s. Friederike Barth, Die Wirklichkeit des Guten. Dietrich Bonhoeffers »Ethik« und ihr philosophischer Hintergrund, Tübingen 2011, 180 ff. 13 Jeffrie G. Murphy, Getting Even. Forgiveness and its Limits, Oxford 2003. 14 Der Schamforscher Stephan Marks schreibt dazu: »Erlebt eine Person ein überwältigendes »Zuviel« an Schamgefühlen, dann können sich die konstruktiven Entwicklungsimpulse der Scham nicht entfalten. In diesem Fall wird das Ich von Schamaffekten überwältigt und gerät in einen Zustand existenzieller Angst. Dadurch werden andere, primitivere Gehirnregionen aktiviert; die höheren Gehirnfunktionen werden durch das sogenannte »Reptilienhirn« in den Hintergrund gedrängt. Das ganze Verhalten ist nur noch darauf reduziert, von der Angstquelle – der Scham-auslösenden Person oder Situation – wegzukommen: durch Angreifen, Verteidigen oder Verstecken (der Wunsch, »im Boden zu versinken«).«, vgl. Stephan Marks: Scham – Hüterin der Menschenwürde. In: Ulrike Link-Wieczorek (Hg.), Verstrickt in Schuld – gefangen von Scham? Neue Perspektiven auf Sünde, Erlösung und Versöhnung, Neukirchen-Vluyn 2015, 33–42; vgl. auch ders., Scham – die tabuisierte Emotion, Ostfildern 5. Aufl. 2015. 15 Vgl. dazu die Ausführungen von Geiko Müller-Fahrenholz zu den »Canossa-Spielen« heutiger medialer Öffentlichkeit: G. M.-F., Vergebung macht frei. Vorschläge für eine Theologie der Versöhnung, Frankfurt 1996, 29–33, sowie zu diesem Thema auch Józef Niewiadomski, Hetzjagden der Gegenwart und die Frage nach dem Kreuz. René Girards und Raymund Schwagers Impulse zu einer gegenwartbezogenen Soteriologie. In: Ökumenische Rundschau 64/2 (2015), 165–183. 16 Zum »Schmerz der Entblößung« vgl. Müller-Fahrenholz, Vergebung, 33–36. 12
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Grunderfahrung der Ambivalenz des Lebens, des Risikos angesichts der Gefahr des Misslingens und der in jedem Fall schmerzhaften Entblößung wird Vergebung, wiewohl im Grundmuster ein spezifisches Geschehen zwischen Täter/in und Opfer mit bestimmbaren Erwartungen und Möglichkeiten (Bitte um Vergebung, Zeichen der Reue, Zeichen der gegenseitigen Akzeptanz), doch als unplanbares Ereignis, als Widerfahrnis, erfahren. Hier liegt zweifellos die Brücke zur theologischen Perspektive, zu finden in der bekannten Formel Jacques Derridas von der »unmöglichen Möglichkeit der Vergebung«, die als ein Wunder erfahren werde und die er als einen »Einbruch« einer »Gabe von oben«, dem »Messianischen«, bezeichnet. 17 Paul Ricœur gebraucht in seinen Überlegungen zur »schwierigen Vergebung« den ebenfalls theologischen Begriff »eschatologisch«. 18 Und während sich Ricœur und Derrida ausdrücklich auf das jüdisch-christliche bzw. das islamische einschließende »abrahamitische« kulturelle Erbe beziehen, wirft der niederländische Philosoph Bert van Roermund ein, dass Vergebung auch Thema in den afrikanischen Religionen sei. 19 Diese nun seien wiederum nicht – wie das »abrahamitische Erbe« – »vertikal« strukturiert, sondern in ihnen komme eine ganzheitliche, die Interessen des Individuums überragende Perspektive aus dem Bewusstsein der lebenstragenden Gemeinschaft, in der Vergebung mit der Erfahrung von gemeinschaftstragendem Neuanfang verbunden werde. Der philosophische Diskurs über die zwischenmenschliche Vergebung kann uns also hinein führen in die Diskussion über ein adäquates Gottesbild einschließlich des Verständnisses von göttlicher Vergebung. Zusammenfassend wäre zum sozialwissenschaftlich-philosophischen Diskurs über die Schwierigkeiten der Vergebung zu betonen, dass Vergebung als ein Geschehen zwischen mindestens zwei Beteiligten zu verstehen ist, wobei die Schwierigkeiten darin bestehen, Vgl. Jacques Derrida/Michel Wieviorka, Jahrhundert der Vergebung. Verzeihen ohne Macht – unbedingt und jenseits der Souveränität. Jacques Derrida im Gespräch mit Michel Wieviorka, in: Lettre International 48 (2000), 10–18, hier 14 und 18. Vom Messianischen spricht Derrida schon in seiner Auseinandersetzung mit dem Marxismus, vgl. Jacques Derrida: Sprectres de Marx, dt. Marx’ Gespenster, Frankfurt 1995, 54 f. und passim. 18 Paul Ricœur, Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, hg. v. Hans-Dieter Gondek, München 2004, 701. 19 Bert van Roermund, Time Beyond Time – Time Before Time: Comments on Ricœur. In: Bas van Stokkom u. a. (Hg.), Public Forgiveness, 91–105, hier bes. 97–101. 17
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Sicherheit über die Echtheit (Reinheit) der Beteiligung zu erlangen, – Vergebung nicht an den Beteiligten – vor allem der Opfer – vorbei zu veranschlagen sowie – zu klären, wer überhaupt die Beteiligten sind und ob Vergebung auch ein kollektives bzw. transgenerationales Geschehen sein kann. Angesichts dieser Schwierigkeiten vermag es eigentlich nicht mehr zu verwundern, dass die christliche Religion Vergebung als einen Akt propagiert, der letztlich Gott allein zu verdanken ist. Doch wie ist das zu denken, ohne die beteiligten Menschen quasi zu enteignen?
2.
Gottes Vergebung und die Vergebung der Menschen
Als eine »befreiende Energie im Leben der Gläubigen« bezeichnet Geiko Müller-Fahrenholz die Vergebung der Sünden durch Gott. Er entfaltet diese These in einem kleinen Büchlein mit dem Titel »Vergebung macht frei«, das er aus Anlass der zweiten europäischen ökumenischen Versammlung 1997 in Graz publizierte. 20 Die Metapher der Energie weist auf den theologischen Topos des heiligen Geistes, mit dessen Wirkung ja die Vergebung im dritten Artikel des Apostolikums in Verbindung gebracht wird. Für diese Wirkung habe die Kirche Zeugnis zu geben. Allerdings habe die Christenheit diese Befreiung in drei Aspekten immer wieder verraten: 1. im Missbrauch des Amtes der Vergebung als Machtinstrument im Sakrament der Buße, 2. in der Reduktion auf eine reine Gottesbeziehung in Form einer vertikalen Konzentration im reformatorischen Vergebungsbegriff sowie 3. durch eine exklusive Täter-Orientierung in der Sünder-fixierten abendländischen Theologie. 21 Müller-Fahrenholz plädiert also für eine deutlichere Verbindung von Gottes Vergebung und zwischenmenschlicher Vergebung und eine Loslösung von der bi-polaren Konzentration auf das Gott-Mensch-Verhältnis. Im Folgenden werden nun drei Ansätze der gegenwärtigen evangelischen Theologie vorgestellt, die sich mit dieser Frage beschäftigen. Ganz und gar ohne das Modell der Bi-Polarität versucht Jochen Schmidt theologisch von der »Wirklichkeit der Vergebung« zu spre20 21
Müller-Fahrenholz, Vergebung. Ebd., 21–22.
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chen. Sie erscheint bei ihm als ein Leben in authentischer Identität. Im Zentrum steht das Individuum in seinem Selbstverhältnis, das in der Vergebungswirklichkeit (Gottes) ein Leben in der Freiheit, »nicht auf uns selbst festgelegt zu sein« 22 erfährt. Das Problem, das in der Vergebung gelöst wird, ist ein Leben in schambesetzter Selbst-Verachtung, die durch den »fixierenden Blick« anderer genährt wird, in dem man sich entblößt fühlt und den man verinnerlicht. Die »Wirklichkeit der Vergebung« lässt den Menschen zu einer Identität finden, in der er unabhängig von dem ist, »zu dem er sich, gegen seinen Willen, aber nicht ohne sein Zutun, gemacht hat«. 23 In der Vergebung wirkt die Hoffnung, ein anderer zu werden, und unter Verweis auf Paul Ricœur beschreibt Schmidt den Grundvollzug des Vergebens als einen Akt des Vertrauens, »einen Kredit, der den Erneuerungsmöglichkeiten des Selbst eingeräumt wird.« 24 Hier ist etwas zu spüren von dem Risiko, von dem oben im Zusammenhang mit den Schwierigkeiten der Vergebung die Rede war. Das Risiko, das Vertrauen auf die Erneuerung des Selbst aufbringen zu können und es vom andern zu erwarten, wird paradigmatisch in der Erfahrung der Hingabe, des sich Einlassens, erlebbar, die auf festgelegte Erwartungen und Bedingungen verzichtet. Und so kommt Schmidt schließlich tatsächlich auf die Überlegungen Jacques Derridas über die freie Gabe zurück: »Folglich gibt es keinen Ritus, keine Therapie oder Ökologie der Erinnerung, in der alle Beteiligten einen definierten Part zu spielen hätten.« 25 Sie ermöglicht ihm, Vergebung als ein Geschehen zu beschreiben, das ganz und gar daraus lebt, dass die Beteiligten alle Ansprüche und Erwartungen der Reziprozität aufgeben. Vergebung ist der Vorgang dieses Aufgebens. Die Bitte um Vergebung ist nur eine solche, wenn sie »offen« bleibt, wenn sie also ausgesprochen wird im Bewusstsein (und wohl auch dem Signal), dass die Gewährung keine »Pflicht« ist. 26 Schmidts Ansatz ist ein Beispiel für eine existentialistische Theologie der Vergebung, die das Bild, dass der Mensch vor Gott steht, ganz und gar zu vermeiden sucht. Gottes Wirken wird im VorVgl. zum Folgenden: Jochen Schmidt, Wahrgenommene Individualität. Eine Theologie der Lebensführung, Göttingen 2014, 91–97; Zitat 91. 23 Ebd., 91/92. 24 Ebd., 93 mit Verweis auf Ricœur, Gedächtnis, 755. 25 Ebd., 93 mit Verweis auf Derrida, Jahrhundert, 10. Vgl. dazu den folgenden Abschnitt dieses Beitrags. 26 Ebd., 95/96 mit Verweis auf Ricœur, Gedächtnis, 739. 22
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gang der Entdeckung der Selbstachtung der Menschen gedacht. Erst im zweiten Schritt wäre die zwischenmenschliche Beziehungshaftigkeit von Menschen im Blick, die – im Leben in der Ambivalenz – alle darauf angewiesen sind, um ihre Selbstachtung und authentische Identität zu ringen. Ganz anders verfährt Karin Schreiber, die den Gläubigen, die aus Gottes Vergebung leben, ausdrücklich eine »Pflicht« zur Vergebung nahelegt. 27 Dabei versteht sie zwischenmenschliche Vergebung als einen Akt moralischer Kommunikation, durch den eine gestörte Beziehung wiederhergestellt werden soll und für den es gewisse Konstituenten gibt: vorliegende Verletzung, Betroffenheit und Übelnehmen der verletzten Person, Anerkennung der Verletzung durch den Verursacher / die Verursacherin, also Reue, und schließlich eine Haltung der Versöhnlichkeit. 28 Zu diesem Kommunikationsprozess ist der Mensch grundsätzlich fähig, und zwar deswegen, weil er im Einfluss des stetigen Bemühens Gottes lebt, aus dem schädigenden Einfluss der Sünde und damit der lebensgefährdenden Beziehungsstörung Gott gegenüber herausgezogen zu werden. 29 Diese ganzheitliche Heilungsbemühung Gottes nennt Schreiber in ausdrücklich metaphorischer Weise »Vergebung«. Dem Menschen, der im Glauben sein Gehaltenwerden durch Gott erkennt und zu ihm »umkehrt«, kann darin die Haltung der »Reue« im Vergebungsprozess zugeschrieben werden. 30 Die zwischenmenschliche Vergebung und die Vergebung Gottes sind also in einer Art analogia proportionalitatis miteinander verbunden. Sie sind durch vergleichbare Konstitutionsbedingungen gekennzeichnet, wiewohl Gottes Vergebungsmöglichkeiten und -fähigkeiten über das Maß der Menschen hinausreichen und diese in einer grundsätzlichen Asymmetrie umfasst und ermöglicht. Gottes Vergebung und zwischenmenschliche Vergebung werden hier so miteinander verbunden, dass die zwischenmenschliche Vergebung nicht Karin Schreiber, Vergebung. Eine systematisch-theologische Untersuchung, Tübingen 2006. 28 Schreiber, Vergebung, 290–296. 29 Vgl. dazu das gesamte erste Kapitel »Göttliche Vergebung« über das vergebende Handeln Gottes als Vater, Sohn und Heiligem Geist, in der Zusammenfassung auf den Punkt gebracht: »… Gott bemüht sich um den Menschen, sucht den Menschen herauszulösen aus dem entstellenden Einfluss, welchen die Sünde auf sein Erkennen, sein Wollen, sein Fühlen und sein Handeln ausübt.« Schreiber, Vergebung, 15–111; Zitat 110. 30 Ebd., 293–294. 27
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nur durch die göttliche vergebende Beziehungsarbeit ermöglicht wird. Vielmehr wird die zwischenmenschliche Pflicht zur Vergebung als Akt des Vergebungsgeschehens zwischen Gott und Mensch in diese eingegliedert, so dass die Einsicht in die Pflicht auf zwischenmenschlicher Ebene den Akt der Reue gegenüber Gott bedeutet, durch den sich die Restitution der Gottesbeziehung im Glauben vollzieht. Im Grunde zeichnet dieser Ansatz zwei miteinander verschränkte, aber doch in sich unterschiedliche Vergebungszusammenhänge auf göttlicher und menschlicher Seite. In der Vorstellung einer »Pflicht« zur Vergebung, durchaus als Identitätsmarker im christlichen Gemeindeleben aller Konfessionen spürbar, liegt allerdings auch ein Problem. Es besteht in der Atmosphäre des heimlichen Zwangs zur Vergebung, die den Opfern zugemutet wird. Diese Seite der Schwierigkeiten der Vergebung wurde in jüngster Zeit vor allem im Zusammenhang der Seelsorge an Opfern sexuellen Missbrauchs deutlich. Es gehört zur zwischenmenschlichen Realität des Vergebens inmitten der Ambivalenz »nach dem Fall«, dass Menschen ihren Tätern nicht vergeben können – noch nicht zumindest. Dieses nichtKönnen wird in einem pauschal-formalistischen christlichen Habitus oft nicht ernst genug genommen. 31 Hier tut sich eine Zwickmühle auf: Grenzenlose Vergebungsfähigkeit kann man allenfalls von Gott erwarten. Dieses Credo ist der Sinn eines schlicht-bipolaren Modells, das den Prozess der Vergebung mit Gott als den eigentlichen Ort des Geschehens denkt. Die Unfähigkeit traumatisierter Opfer, sich auf die Bedingungen des Vergebungsprozesses einzulassen, müsste darin akzeptiert und aufgehoben gedacht werden können. Andernfalls müssten sie sich zusätzlich verurteilt fühlen und erneut zum Opfer werden. Allerdings vermeidet Schreiber ausdrücklich ein Verständnis zwischenmenschlicher Vergebung, das als eine imitatio der Vergebung Gottes verstanden werden müsste. Das könnte einer Gelassenheit bezüglich der Ambivalenzen des Lebens Raum geben. Auch der praktische evangelische Theologe Frank Michael Lütze ringt mit dem bi-polaren Modell der Rede von Gottes Vergebung, wenn er mit der klassischen Form der deklaratorischen Absolution, der Vergebungszusage als Lossprechung von der Schuld durch Gott, Vgl. dazu auch Magdalene L. Frettlöh, Der auferweckte Gekreuzigte und die Überlebenden sexueller Gewalt. Kreuzestheologie genderspezifisch wahr genommen. In: Rudolf Weth (Hg.), Das Kreuz Jesu. Gewalt, Opfer, Sühne, Neukirchen-Vluyn 2001, 77–104.
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in der Eingangsliturgie des Gottesdienstes ringt. 32 In ihrer generalisierenden und typologisch-abstrakten Weise, von der Schuld der Menschen gegenüber Gott zu sprechen, werde letztlich der Effekt in Kauf genommen, dass die Realität tatsächlicher Schuldverhältnisse vernebelt und verdrängt wird. Es komme zu einer Enteignung der Opfer, weil die zwischenmenschliche Schuld in diesen Sprechakten zum Verschwinden gebracht wird in einer generellen, alle betreffenden Schuld gegenüber Gott. In Lützes liturgischen Beispieltexten wird am deutlichsten, was Geiko Müller-Fahrenholz an der klassischen Bipolarität des Vergebungskonzepts reformatorischer Theologie kritisiert. Aber Lütze zeigt auch auf, wie jüngere Alternativkonzepte, in denen nun wirklich in Schuldbekenntnis-Gebeten zwischenmenschliche Schuld zur Sprache kommen und Vergebung erbeten (und zugesagt) werden soll, ebenfalls in die Falle einer gottesdienstlich-pädagogischen Enteignung konkreter Schuld-Verhältnisse geraten. 33 Sehr deutlich plädiert er schließlich dafür, das Zusprechen von Vergebung in der Eingangsliturgie des Gottesdienstes nicht mit der Zusage konkreter zwischenmenschlicher Vergebung zu identifizieren. 34 Also eine Trennung von göttlicher und menschlicher Vergebung? Lütze schlägt letztlich einen Bildwechsel im Verständnis von Vergebung Gottes vor: Nicht mehr die Metaphern des Lossprechens, des »negativen Gebens«, wie John Milbank das protestantische Modell charakterisiert, 35 sollen im Zentrum stehen, sondern eine tatsächlich »positive« Gabe in Form eines Versprechens Gottes, die Schuldigen weiter zu begleiten, dabei wirksam zu helfen, die Schuld mit zu tragen und mit ihr auch die noch offenen zwischenmenschlichen Vergebungsprozesse. 36 Gottes Vergebung ist sein Versprechen heilsamer Begleitung. Auch bei Lütze wird von Gottes Vergebung und der Vergebung der Menschen allenfalls äquivok gesprochen. Entgegen der klassischen, punktuell wirkenden Vergebungszusage im Vgl. zum Folgenden Frank M. Lütze, Im Angesicht der Schuld. Liturgische Wege zur Entwicklung von Schuldfähigkeit. In: Alexander Deeg, Irene Mildenberger, Wolfgang Ratzmann (Hg.), Angewiesen auf Gottes Gnade. Schuld und Vergebung im Gottesdienst, Leipzig 2012, 59–76. 33 Vgl. ebd., 65–67. 34 Ebd., 67: »Ein Mandat zur Lossprechung von aller Schuld, eingeschlossen die Schuld gegenüber anderen Menschen, ist der Kirche hingegen nicht gegeben.« 35 S. dazu den folgenden Abschnitt dieses Beitrags. 36 Lütze, Im Angesicht, 72–75. 32
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Gottesdienst können auf diese Weise sowohl die Prozesshaftigkeit von Vergebung als auch die Realität von offener Schuld, die (noch) nicht vergeben ist, ins Auge gefasst werden.
3.
Ver-Gebung im Gabe-Diskurs
Der interdisziplinäre Diskurs zum Phänomen des Gabegeschehens lässt sich bekanntlich in zwei Grundpositionen typologisieren: das Konzept der »reinen Gabe« und das Konzept des Gabentausches. In der theologischen Rezeption wird sie konfessionstypologisch dem Protestantismus bzw. Katholizismus zugeordnet. Wie der Anglikaner und Vertreter der »Radical Orthodoxy« John Milbank dies ausdrücklich auf das Konzept von Vergebung bezieht, sei kurz erinnert: 37 Die spätscholastische und so auch protestantische Tradition habe Vergebung im Modell eines Freispruchs (durch Gott) zu denken gelernt. Sie folge damit dem Modell der »freien Gabe«. In der Konsequenz bleibe diese Rede von der Vergebung unverbunden mit der zwischenmenschlichen Vergebung und einem entsprechend gestalteten Rückfluss der Gabe der Vergebung an den Geber. Man kann mit dieser These auch den oben erwähnten Vorwurf Geiko MüllerFahrenholz’ verbinden, dass sich die protestantische Tradition eine Verengung der Versöhnungstheologie auf das Gott-Mensch-Verhältnis geleistet habe. 38 Milbank allerdings kann der hochmittelalterlichen Bußtheologie mehr abgewinnen als Müller-Fahrenholz, weil sie immerhin eine Verbindung von Gottes Versöhnungshandeln und menschlichem »Zurückgeben« stark macht. Sie sehe das in Gottes inkarnatorischem Wirken sozusagen ontologisch installiert und den Menschen in Kirche und Sakramenten zugänglich gemacht. 39 Vergebung erscheint hier als Element innerhalb des weiteren Versöhnungswirkens Gottes, seiner Gabe von Lebensmöglichkeit schlechthin, die von den Menschen akzeptiert und »zurückgegeben« wird, indem sie versuchen, in friedlicher und gerechter Gemeinschaft zu leben, also kreative Versöhnungsarbeit zu leisten und Gottes Gabe dadurch zu realisieren. Das nennt Milbank Vergebung als »positives Geben« im christologisch von jeglicher berechnender Ökonomie 37 38 39
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Vgl. zum Folgenden Milbank, Being Reconciled, 44–60. S. o., Anm. 21. Milbank, Being Reconciled, 45.
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gereinigten, an-ökonomischen Gabentausch. 40 Dank der repäsentativen Bewältigung der Schwierigkeiten der Vergebung im Christusgeschehen können sich die Menschen nun getrost um Vergebung mit ihren Mitmenschen kümmern – ein Thema, das Milbank dann aber nicht mehr weiter entfaltet. 41 So bleibt auch noch unklar, wie die Schwierigkeiten außerhalb von Sakrament und Gottesdienst bewältigt werden können und was genau wir bitten, wenn wir Gott um Vergebung bitten. Nach Milbank wäre also im hochmittelalterlichen GabentauschDenken menschliche Versöhnung und damit auch Vergebung in das schöpferisch-erlösende Wirken Gottes integriert und aktiviert, während sie im protestantischen Modell im menschlichen mere passive geradezu überflüssig werde. Diese steile Typologie findet sich zumindest auch in Lützes Klage über die Gottesdienstliturgie wieder. Gerade im Konzept der forensisch gefüllten »reinen Vergebung« Gottes gerät die zwischenmenschliche Ebene – da sie nicht als Fläche der Rück-Gabe betrachtet wird – zunächst in den Schatten der Aufmerksamkeit. 42 Wie wirkt sich das aus in der Verbindung von Gottes Vergebung und zwischenmenschlicher Vergebung? Unter dieser Frage sei noch einmal ein Blick in die drei im vorangegangenen Abschnitt referierten evangelisch-theologischen Ansätze geworfen. Zunächst fällt auf, dass hier durchaus beide Modelle, »freie Gabe« und an-ökonomischer Gabentausch vorkommen. Jochen Schmidt wäre wohl am deutlichsten in die Milbanksche Typologie einzugliedern, was durch seine ausdrückliche Bezugnahme auf das Konzept der »freien Gabe« bei Jacques Derrida bestätigt wird. 43 Die Konzentration auf die Identität des Individuums lässt – auch das gäbe Milbank Recht – den zwischenmenschlichen Aspekt der Vergebung unterbelichtet. John Milbank, Can a Gift be Given? Prolegomena to a Future Trinitarian Metaphysic. In: Modern Theology 11/1, 1995, 119–161, bes. 145–150. 41 Aber er erwähnt, dass es jeweils konkret ansteht; vgl. Milbank, Forgiveness and Incarnation, 109. 42 Dass dies eine grobe Typologisierung ist, die eine bestimmte lutherische Auslegung generalisiert, muss in diesem Band, in dem mit den Beiträgen von Bo Holm und Risto Saarinen die finnische Lutherinterpretation genügend Raum bekommt, jetzt nicht richtig gestellt werden. Außerdem ändert sich das Bild auch, wenn die reformierte Zuordnung von Rechtfertigung und Heiligung stärker ins Auge gefasst wird. 43 Die ent-transzendentalisierende Tendenz bei Schmidt ließe sich zudem auch sehr gut mit dem zweiten Vertreter der »reinen Gabe«, mit Jean-Luc Marion, verbinden. Vgl. dazu J.-L. M., Gegeben sei: Entwurf einer Phänomenologie der Gegebenheit, Freiburg 2015. Vgl. dazu auch den Beitrag von Christine Büchner in diesem Band. 40
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Im Gedanken der Pflicht zur Vergebung bei Karin Schreiber findet sich jedoch durchaus auch das Konzept der Reziprozität des Gabentausches zur Pflege und Erhaltung von Beziehung. Nicht gebannt scheint aber auch hier die Gefahr, dass die konkreten Schwierigkeiten der Vergebung im »großen« Konzept des Gabentausches von Gott und Mensch enteignet werden könnten. Bei Frank Lütze scheint sich zunächst keine Anlehnung an die Gabe-Thematik zu finden. Allerdings entspricht es Milbanks Typologie, wenn er göttliche und menschliche Vergebung deutlich entketten will. Wenn von Gottes Vergebung gesprochen wird, ist das (noch) nicht identisch mit der konkreten zwischenmenschlichen Vergebung. Vergebung Gottes kann in konkrete zwischenmenschliche Vergebung führen, aber diese kann auch in einer anderen / eigenen Struktur zu denken sein. In der Sprache der Gabe-Modelle könnte man hier Gottes Vergebung als ein in Milbanks Sinn »positives Geben« bezeichnen. Lütze formt es in die Performanz des Versprechens der ungebrochenen heilsamen, tragenden Gottes-Gegenwart. Darin hat es eine der Zeit enthobene an-ökonomische Struktur. Man kann darin aber genauso gut Elemente der »freien Gabe« sehen: Das Versprechen Gottes gibt bedingungslos Zeit und Anerkennung – Würdigung – und somit Raum für Prozesse konkreter Vergebung als (neuem) Leben mit der Schuld einschließlich ihrer eventuellen Verzögerung. Lützes Ansatz zeigt also eine komplexe Verbindung von freier, positiver Gabe als Versprechen der bleibenden Gegenwart Gottes und einem Gabentausch in der Struktur von Reziprozität der schuldverstrickten Menschen. Sie bilden im Wagnis dieser Reziprozität ein realisiertes Empfangen der Gabe des Versprechens Gottes und somit auch eine Rückgabe – ein ähnliches Rückgabe-Konzept also wie bei Karin Schreiber. Allerdings sagt Lütze sehr klar: Die Weise des Empfangens muss nicht zwangsläufig ein reziproker Vergebungsprozess sein. Zwischenmenschliche Vergebung ist nicht einfach geklonte göttliche Vergebung. Man kann also sagen: Die »freie Gabe« erscheint in den drei Modellen in vielfältigerer Gestalt als die Typologie von Milbanks despotischer Lossprechung eines negativen Gebens zulässt. Sie ist Zeichen einer Asymmetrie von Gott und Mensch, die gerade mit dem Ziel betont werden kann, um der konkreten Eigenart menschlicher Vergebung Raum zu geben. Interessanterweise lässt sich diese Intention auch im Plädoyer für die »freie Gabe« bei Jacques Derrida wahrnehmen. Das zeigt sich in seinem Interview über das »Jahrhundert der 340
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Vergebung«. Hier ringt er mit der Einsicht, dass das Ideal einer bedingungslosen Vergebung eine Abstraktion der konkret sich vollziehenden Vergebung und ihrer Entfaltung im zwischenmenschlichen Versöhnungsprozess bedeuten könnte. Das heftige Plädoyer für die reine Gabe aus »Falschgeld« ist auch hier erkennbar im Plädoyer für die reine, bedingungslose Vergebung des Unverzeihlichen, aber sie bekommt ausdrücklich einen Kompagnon beigesellt, nämlich »die Ordnung der Bedingung«, die »historische Ökologie« eines jeden konkreten Kontextes von Vergebungsgeschehen. 44 Das Verhältnis dieser beiden Dimensionen wird in einer Spannung beschrieben, die an die theologische Zwei-Naturen-Lehre erinnert: »unversöhnlich, aber unzertrennlich«. 45 Es ist Derridas Grundvertrauen in die Wirklichkeit zuzuschreiben, dass die Paradoxie der notwendigen Bedingungslosigkeit von Vergebung nicht ins Erfahrungschaos führt. Vergebung des sogar Unverzeihlichen ist zwar ein »Wahnsinn«, vielleicht kann man sagen: ein Wunder, auf das mit Risiko-Freude gesetzt und das mit allem Mut zum Sein erwartet werden kann – aber es ist ein Wahnsinn, der dennoch »ankommen« will und darum in eine Ökonomie der Versöhnung übergehen muss. Die paradoxe Spannung hält Derrida für erfahrbar. In ihr leuchtet die bedingungslose Vergebung in einer geradezu prophetischen Funktion auf und warnt vor jeglicher Festschreibung von Strukturen des Vergebungsprozesses. Je nach Situation und Konstellation müssen sie neu ausgehandelt werden – stets auf der Hut vor Missbrauch durch Machtdynamiken oder oberflächlicher Gleichgültigkeit.
4.
Vorschlag: Vergebung im Überschuss Gottes
Die »freie Gabe« könnte also besser sein als ihr Ruf. Vor allem muss sie nicht als eine ausschließende Alternative zum Gabentausch gedacht werden. Auch ein Blick in die Ergebnisse der Analyse der lutherischen Theologie im Rahmen des Gabe-Diskurses zeigt, dass hier durchaus nicht die freie Gabe als »negatives Geben« allein regiert. Vielmehr findet vor allem die finnische Luther-Rezeption hier das Konzept einer Schöpfungsgabe als Ausdruck überschwänglicher Liebe. 46 44 45 46
Vgl. Derrida, Jahrhundert, 14. Ebd. Risto Saarinen, Im Überschuss. Zur Theologie des Gebens. In: Bo Kristian Holm/
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Zwar bleibt die Diskussion der lutherischen Theologie deutlich auf die Bipolarität von Gott und Mensch allein konzentriert. Risto Saarinen spricht dabei von einer »Kondensation« eines an sich mindestens vierpoligen Gabe-Geschehens in die Bipolarität, in der die besondere »Intimität« des Gott-Mensch-Verhältnisses zum Ausdruck gebracht werde. 47 Die Passivität des Menschen wäre dann, so Bo Kristian Holm, 48 die Entsprechung der göttlichen liebenden Selbsthingabe als sich ihm liebend hingebender Partner, vorgestellt im Modell der romantischen Liebe. Die monolaterale Gabe wäre so also gerade als Ausdruck eines relationalen Gottesverständnisses verstanden. Allerdings bleibt seine »Ausstrahlung« auf die zwischenmenschlichen Verhältnisse in der Struktur der Kondensation zunächst unterbelichtet. Die Rede vom Menschen wird nicht differenziert in ihre konkreten unterschiedlichen Erscheinungsformen der Macht der Sünde in der Welt. Ingolf Dalferth stellt heraus, dass das lutherische Konzept der Passivität des Menschen im Empfangen der Gnade Gottes nicht als eine Defizitaussage verstanden werden dürfe, sondern als die Ankündigung des »Gewinns« von Gottes Gabe, die eine Ermöglichung zur Weitergabe der Gabe Gottes vorsieht. Reziprozität als Weitergabe statt Rückgabe kann eine Enteignung der zwischenmenschlichen Sphäre als »Fortsetzung« Gottes oder als eigentlich an Gott gerichtetes Liebeswerk verhindern. Es wäre außerdem eine tiefere Auseinandersetzung mit entsprechenden philosophischen Konzepten wert, etwa mit dem von Paul Ricœur, um zu prüfen, ob hier nicht doch von einer »Befähigung« durch Gottes neuschöpferisches Gnadenwirken gesprochen werden könnte. 49 Die zwischenmenschliche Vergebung jedenfalls könnte in der Perspektive des Neuanfangs durch Gottes Gnaden-Wirken als ein offenes responsorisches Geschehen gedacht werden, das je nach Konstellation und Situation neu bestimmt wird – bis zur Erlaubnis des Verzichts auf Vergebung zwischen Opfer und Täter/in. Das erfordert eine Aktivität in Würdigung geschöpflicher Freiheit als Mitgehen in Gottes Heilswirken. Die Idee des lutherischen mere passive ist somit, dass es gerade in der zwiPeter Widmann (Hg.), Word – Gift – Being. Justification – Economy – Ontology, Tübingen 2009, 73–85, hier 81. 47 Ebd. 48 Bo Kristian Holm, Justification and reciprocity. »Purified gift-exchange« in Luther and Milbank. In: Ders./Widmann (Hg.), Word, 87–116, hier 103. 49 Vgl. Ingolf U. Dalferth, Mere Passive. Die Passivität der Gabe bei Luther. In: Holm/ Widmann (Hg.), Word, 43–71, hier 52 ff.
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schenmenschlichen Weitergabe des Beschenktseins eine Freiheit der konkreten Form der Weitergabe entwickeln kann. Gerade die Offenheit der Weitergabe versteht sich also als Respons des Beschenktseins durch Gottes gnadenhafte Gabe permanenter heilsamer Lebensbegleitung. Diese Verbindung von Gott-Mensch-Verhältnis und zwischenmenschlichem Vergebungsgeschehen setzt voraus, dass die freie Gabe Gottes als ein überfließendes Geben verstanden werden kann, das die zwischenmenschlichen Gabe-Vorgänge umfasst. Man kann das mit Veronika Hoffmann als ein Ineinandergreifen von einem großen und einem kleinen Gabe-Kreislauf denken, die in der Form der Rückund Weitergabe unterschiedlich gestaltet sein können. 50 Die Bedingungslosigkeit der Gabe Gottes ist ein Phänomen des überfließenden Gebens als eine erste Gabe, wobei auch dieses als ein Geben in Beziehungshaftigkeit gedacht werden muss. Der Ausdruck »monolaterale Gabe« ist also ausgesprochen missverständlich. Denn es ist dem Geber nicht gleichgültig, was mit seiner Gabe geschieht, wem sie gegeben wird und ob sie »ankommt«. Andernfalls handelte es sich nicht um ein Gabe-Geschehen und der Rückgriff auf dieses Metaphernfeld für die Theologie wäre unsinnig. 51 Im Modell des Überflusses vorgestellt kann das Wirken Gottes am Menschen in einer zeitübergreifenden Weise ins Bild gefasst werden, in der die biblisch-eschatologische Perspektive stärker integriert werden kann als in das klassische historisch-assoziierte Reden vom grundlegenden Christusereignis. Denn der Überfluss kann als immer weiter fließend und stets neue Weitergaben anstoßend vorgestellt werden. Das ermöglicht für das zwischenmenschliche Vergebungsgeschehen, dass nicht die Offenheit des konkreten Gestaltungsprozesses als von Gottes Gebe-Wirken umfasst gedacht werden kann, sondern auch eine Vielfalt unterschiedlicher »Schwere«-Grade. Die erfahrbaren Differenzen der philosophischen Diskussion von (leichtem) Verzeihen über (schwieriges und schmerzhaftes) Vergeben bis zum Unvergebbaren bzw. dem Nicht-Vergeben-Können dürften sich Vgl. Veronika Hoffmann, Skizzen zu einer Theologie der Gabe. Rechtfertigung – Opfer – Eucharistie – Gottes- und Nächstenliebe, Freiburg u. a. 2013, hier bes. 507 ff. 51 Vgl. dazu Risto Saarinens Überlegungen zur Gebe- und Empfängerorientierung von östlicher und westlicher Theologie in ders., Im Überschuss, 78; ausführlicher s. ders., God and the Gift. An Ecumenical Theology of Giving, Collegeville/Minnesota 2005, 135–142 sowie den schönen Aphorismus Theodor W. Adornos »Umtausch nicht gestattet«, Minima Moralia 21. 50
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in gleicher Weise von Gottes Neu-Geben umfangen fühlen. Das bedeutet auch, dass ein befreiendes Wegsehen oder zukunftseröffnendes heilsames Vergessen nicht kategorisch als schlechtes Vergeben außerhalb der Perspektive der Gottesbeziehung betrachtet werden dürfte. Darauf weisen ja schon die unterschiedlichen Metaphern und Gleichnis-Bilder des Vergebens in den biblischen Texten in ihrer Vielfalt, die – werden sie zwischenmenschlich veranschlagt – nicht auf nur eines reduziert werden dürfen. Aber sie dürfen alle als umfasst vom befreiungsintendierten Wirken Gottes gesehen werden, das sich in kleine Kreise von konkreten Vergebungsprozessen hinein verwirklichend gedacht werden muss, ohne damit einfach mit dem Überfluss Gottes identifiziert werden zu können. Das zeitenthoben vorgestellte Überfluss-Wirken Gottes erlaubt aber vor allem, die konkreten Vergebungsprozesse als noch weiterhin offen für eine Zukunft Gottes zu denken. Auch das von Gottes Wirken umfasste Nicht-Vergeben-Können und –Müssen kann damit weiter fließend im Überfluss gedacht werden und seiner Vollendung noch entgegenstrebend. Veronika Hoffmann sagt das trinitätstheologisch: Wir sind noch auf dem Weg in die vollendete Teilhabe am trinitarischen Leben. 52 Die Metapher des Versprechens, auf die Frank Lütze zurückgreift, wäre eine ebenfalls in diese Richtung strebende Redeweise. Die biblische Bildwelt hat für die Vorstellung der noch ausstehenden Vollendung unter anderem das Bild des Jüngsten Gerichtes, das innerhalb der Metaphorik des Überfließens seiner straf-juridischen Konnotation enthoben werden könnte. 53 Das Bild der großen Klärung am Ende steht für die Hoffnung, dass es auch in den von Gottes Überfluss-Wirken umfassten Prozessen des Nicht-Vergebens eine Erschließung gemeinsamer Zukunft – also eines Lebens in Versöhnung – geben wird. Der glaubende Mensch, der sich in empfangender Passivität vor Gott verortet, lebt sein Leben durchaus aktiv gestaltend aus der stets neu erbetenen Gelassenheit der Gewissheit auf diese Vollendung – und gibt darin Gott das seine. 54 Vgl. Hoffmann, Skizzen, 508. Vgl. dazu auch Magdalene L. Frettlöh, Leben aus der Hoffnung auf die Zurechtbringung aller. Notizen zu Schuld und Vergebung, Sühne und Strafvollzug in eschatologischer Perspektive, in: Evangelische Theologie 74/5 (2014), 364–379. 54 Vgl. dazu auch Ralf Miggelbrink zur situativen Konsequenz der Lebensgestaltung aus der Fülle Gottes mit dem Plädoyer für eine präsentische Eschatologie; R. M., Lebensfülle. Für die Wiederentdeckung einer theologischen Kategorie, Freiburg u. a. 2009; vgl. dazu meine Rezension in: Theologische Revue 2011, Sp. 63–64. 52 53
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Kann Gott unseren Schuldigern vergeben?
5.
Zum Schluss: Gott um Vergebung bitten
Das Modell der zwei verschränkten Gabenkreisläufe hat auch eine Auswirkung auf das Verständnis der Bitte um Vergebung an Gott. Ebenso wie die Zusage ihrer Gewährung kann sie nicht als Ersatz für ein entsprechendes zwischenmenschliches Geschehen genutzt werden. Das wäre, wie die bisherigen Überlegungen mehrfach zeigten, eine Enteignung der am konkreten zwischenmenschlichen Geschehen Beteiligten. Verstanden als Bitte im großen Gabenkreis des Lebens im überfließenden Geben Gottes bedeutet die Bitte um Vergebung an Gott zunächst einen vergewissernden Appell an Gottes Gemeinschaft mit allen Menschen, der Umfassung des kleinen Gabenkreises durch den großen. Man kann sagen, dass sich der betende Mensch in die Bipolarität der Gott-Mensch-Intimität »zurückbeamt«, um aus ihr die befreiende Perspektive der Vergebung zu vergewissern, von der Geiko Müller-Fahrenholz spricht. Die Kondensation in die Intimität des Gottesverhältnisses ist so verstanden eine Kondensation im Gebet. Es richtet sich an einen Gott des Überflusses, der multilateraler wirkt als es die Gebets-Situation abbildet. In der christlich-theologischen Konzeptbildung wäre hier an das Phänomen der Stellvertretung zu denken, das ja vor allem in der Christologie seine Geschichte hat. 55 Im Bild der Stellvertretung kann Gott – in Risto Saarinens Sprache – so gedacht werden, dass er die Nutznießer seiner Gabe differenziert – etwa nach Täter oder Opfer-Situation. Das Gebet um Vergebung wendet sich an Gott im impliziten Glaubens-Wissen, dass dieser in seinem Überfluss-Wirken jeweils stellvertretend für die konkret zu adressierenden Vergebenden da ist und damit den Mut gibt, das Risiko von Vergebungsprozessen zu wagen.
Vgl. dazu J. Christine Janowski, »Stellvertretung«. Polysemie, Ambivalenzen und Paradoxien. In: Dies./Bernd Janowski/Hans-Peter Lichtenberger (Hg.), Stellvertretung. Theologische, philosophische und kulturelle Aspekte, Neukirchen-Vluyn 2006, 177–211.
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Führen Reparationen zu Versöhnung? Ausgewählte Beispiele aus der Geschichte Tobias Weger
Nach einer landläufigen Definition handelt es sich bei »Reparationen« um Entschädigungen und finanzielle Wiedergutmachungen, die häufig zur Behebung der Schäden kriegerischer Gewalt oder gewaltsam zugefügten Unrechts geleistet werden. Etymologisch steckt in dem Wort »Reparationen« die lateinische Vokabel »reparare« (wiederherstellen). Als »reparieren« bezeichnet man auch im Deutschen das Wiederherstellen eines ursprünglichen Zustands, also zum einen die Ausbesserung eines schadhaften Gegenstands, eines Verkehrsmittels oder Gebäudes, aber auch die Wiederherstellung einer beschädigten Ehre bzw. die Erneuerung eines früheren Standes. 1 Im Folgenden sollen exemplarisch Prozesse von zwischenstaatlichen bzw. innergesellschaftlichen Reparationen nach einem vorausgegangenen Konflikt vorgestellt werden. Entscheidend ist dabei die Frage nach den Möglichkeiten einer Versöhnung, die zur Überwindung der für den Gegensatz verantwortlichen Faktoren führen kann. Im Idealfall enthält ein Reparationsvorgang folgende juristische bzw. ethische Schritte: –
– –
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die Wiederherstellung des früheren Zustands, der vor dem Umstand bestand, der zur Reparation Anlass bietet (Naturalrestitution, réparation en nature). Allerdings ist dieser Zustand im Falle von schweren Kriegszerstörungen oder dem Verlust von Menschenleben nicht zu erreichen. den Schadensersatz in Geld- oder Materialwert (réparation pécuniaire), und die moralische Genugtuung (Entschuldigung) durch das Eingeständnis der Schuld und Verantwortung.
Vgl. Lemma »Repariren«. In: Pierer’s Universal-Lexikon 14 (1862), 48.
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Führen Reparationen zu Versöhnung?
Für viele Historiker, die sich mit dieser Thematik bisher auseinandergesetzt haben, beschränkt sich die Perspektive auf die materiellen Leistungen, also den ersten und den zweiten Schritt. Durch sie soll ein ursprünglicher Zustand wieder erreicht werden oder als Ersatz für die Irreversibilität des Geschehenen ein finanzieller Ausgleich geschaffen werden. Im traditionellen Verständnis wurde im Deutschen unter dem Begriff »Reparationen« lange fast ausschließlich die finanzielle Kompensation von Kriegsfolgen verstanden. Diese traditionelle Verengung hat sich auch im europäischen Sprachgebrauch niedergeschlagen. Im Englischen spricht man etwa von »war reparations«, im Französischen von »réparations de guerre« bzw. von »indemnités des guerre«, im Italienischen von »riparazioni di guerra«, im Polnischen von »reparacje wojenne«, im Niederländischen von »herstelbetaling«. Der moderne deutsche Sprachgebrauch kennt das Wort »Reparationen« ausschließlich im Plural. Dass dies nicht immer so war, verrät etwa ein Blick in die Zedlersche Enzyklopädie, das deutschsprachige Standard-Nachschlagewerk des 18. Jahrhunderts. Dort wird das Lemma »Reparation« noch im Singular angegeben, mit dem Hinweis, es heiße »bey denen Rechtsgelehrten allgemein so viel als die Gnugthuung wegen der angethanen Beschimpffung«. 2 Heute werden Reparationen nach internationalem Recht, die zu den Kriegsfolgeregelungen gehören, und individuelle Reparationen unterschieden, die als Wiedergutmachung für Beeinträchtigungen der Gesundheit, für Verfolgung oder Zwangsarbeit während eines Kriegszustandes gedacht sind. In der Literatur zu Transitional Justice findet sich darüber hinaus der Begriff der »symbolischen Reparationen«, zu denen etwa öffentliche Gesten der Entschuldigung für geschehenes Unrecht zählen. 3
1.
Internationale Reparationen
In zwischenstaatlichen Beziehungen sind Reparationen zumeist ein Mittel der Kriegsfolgenbereinigung. Daher lassen sie sich auch tref-
Vgl. Lemma »Reparation«. In: Johann Heinrich Zedler, GVUL 31 (1741), 634. Vgl. etwa Florian Ranft, Verspätete Wahrheitskommissionen in Theorie und Praxis (Potsdamer Studien zu Staat, Recht und Politik 4), Potsdam 2010, 24; Felix Paul, Transitional Justice unter dem Regime Hun Sens. Der Kriegsverbrecherprozess in Kambodscha, Hamburg 2012, 29
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fend mit den Worten des Althistorikers Holger Müller als »zwischenstaatliche Kriegsentschädigungszahlungen« definieren. Bereits am Beispiel der Römischen Republik konnte Müller dabei zwei Grundmotive für die Auferlegung solcher Zahlungen ausmachen: – –
die Kompensation von entstandenen Kosten, und die finanzielle und damit auch militärische Kontrolle des Gegners. 4
Unter Historikern herrscht eine gewisse Uneinigkeit darüber, wann in der Geschichte der erste dokumentierte Fall von Reparationszahlungen erfolgt sei. Die prominentesten und daher auch in Lexikoneinträgen oder Handbuch-Einführungen am häufigsten angeführten Beispiele scheinen die der französischen Reparationen nach 1871 bzw. der deutschen Reparationen nach 1918 und 1945 zu sein. Doch reicht bei exakterer Betrachtung der gesamten Geschichte die Chronologie bis in die Antike zurück. Dabei ist, so der bereits zitierte Holger Müller, zu berücksichtigen, dass im Altertum noch kein allgemein verbindliches Völkerrecht existierte und daher die Regelung von Reparationen eine Frage der jeweiligen Aushandlung zwischen den einstigen Kriegsgegnern war. Müller erforschte eine Reihe von Reparationszahlungen und -regelungen, die aus der antiken Historiographie für die Zeit zwischen 294 v. Chr. bis 85 v. Chr. überliefert sind. Mit Hilfe von Reparationen ließ sich die Römische Republik einen Teil der von ihr aufgebrachten Kriegskosten von unterlegenen Gegnern ersetzen. Durch die Verteilung auf Raten, die sich unter Umständen über Jahre erstrecken konnten, gelang es dabei der Römischen Republik, eine längerfristige Abhängigkeit ihrer Vasallen in Italien, Nordafrika, Griechenland und Kleinasien aufzubauen. Müller betont, dass solche Reparationen eher einen politischen als einen wiedergutmachenden Effekt gehabt hätten. Derartige Zahlungen hätten es dem Sieger, in diesem Falle dem aufstrebenden Rom, ermöglicht, regelmäßige Einnahmen zu beziehen; gleichzeitig sei der Rhythmus der Zahlungen jedoch von dem Spannungsverhältnis zwischen dem Zahlungswillen des Unterlegenen und dem möglichen Druck abhängig gewesen, den Rom
Vgl. Holger Müller, Reparationszahlungen an Rom zur Zeit der römischen Republik. In: Tyche. Beiträge zur Alten Geschichte, Papyrologie und Epigraphik 24 (2009), 77–95, hier 77.
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aufzubauen vermochte. 5 Am Ende des Ersten Punischen Kriegs (264– 241 v. Chr.) etwa sah sich der karthagische Feldherr Hamilcar Barca (um 275–228 v. Chr.) gezwungen, die römischen Friedensbedingungen zu akzeptieren. Sie sahen in territorialer Hinsicht die Räumung Siziliens vor, womit die Römische Republik endgültig zur unumstrittenen Führungsmacht in Italien aufstieg. Außerdem sollten alle römischen Kriegsgefangenen aus karthagischer Haft freigelassen werden, und Karthago sollte innerhalb von zehn Jahren 3.200 Goldtalente als Reparationen an Rom transferieren. 6 Diese Bestimmungen mussten Karthago, das ebenfalls ein auf Expansion im Mittelmeerraum bedachtes Staatswesen war, demütigen. Die Friedensregelungen, die Hamilcar Barca hatte akzeptieren müssen, machten den Nordafrikanern keinerlei konstruktives Gegenangebot. Langfristig führten sie daher in Karthago zu Revisionsbestrebungen und damit zum Ausbruch des Zweiten Punischen Krieges (218–201 v. Chr.), sobald sich die Kräfte Karthagos wieder regeneriert hatten. Zur Versöhnung trugen also die ab 241 v. Chr. gezahlten Reparationen nicht bei, sondern vielmehr zur Etablierung eines kolonialen Abhängigkeitsverhältnisses und zur Herausbildung eines großen Imperiums unter römischer Führung. Auch die mittelalterliche Geschichte kennt Beispiele für zwischenstaatliche Reparationen. Eine der berühmtesten und größten Schlachten des Spätmittelalters fand am 15. Juli 1410 zwischen einem Heer des Deutschen Ordens und einem preußisch-litauischen Allianzheer in der Nähe der masurischen Ortschaften Tannenberg/Stębark und Grünfelde/Grunwald statt. 7 Bereits zeitgenössische Chronisten haben die Bedeutung dieser Auseinandersetzung, bei der der Deutsche Orden eine vernichtende Niederlage erlitt, erkannt und entsprechend gewürdigt. Doch haben vor allem erinnerungspolitische Maßnahmen seit dem 19. Jahrhundert die Schlacht in Deutschland und in Polen zu einem – auf beiden Seiten jeweils abweichend konnotierten – Erinnerungsort werden lassen. 8 Im Kontext dieses BeiVgl. Müller, Reparationszahlungen, 94. Vgl. Rolf Dewald, Reparationszahlungen. In: Holger Müller (Hg.), 1000 x 1 Talente. Visualisierung antiker Kriegskosten. Begleitband zu einer studentischen Ausstellung, Gutenberg 2009, 95–114. 7 Vgl. Sławomir Jóźwiak/Krzysztof Kwiatkowski/Adam Szweda/Sobiesław Szybkowski, Wojna Polski i Litwy z Zakonem Krzyżackim w latach 1409–1411 [Der Krieg Polens und Litauens gegen den Deutschen Orden 1409–1411], Malbork 2010. 8 Vgl. Frithjof Benjamin Schenk, Tannenberg/Grunwald. In: Étienne François/Hagen Schulze (Hg.), Deutsche Erinnerungsorte I, München 2001, 438–454. 5 6
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trags spielt allerdings weder das Schlachtgeschehen, noch die Art, wie es erinnert worden ist, eine Rolle, sondern die Frage der zeitgenössischen Kriegsfolgenlösung. Am 1. Februar 1411 schlossen der unterlegene Deutsche Orden und das Königreich Polen den Ersten Thorner Frieden, in dem die Freilassung von Gefangenen auf beiden Seiten, die Rückgabe eroberter Gebiete sowie die Leistung von Reparationszahlungen festgelegt wurden. Konkret sollte der Deutsche Orden bis zum Jahre 1412 an das Königreich Polen insgesamt 100.000 Schock böhmischer Groschen bezahlen. 9 Dies hätte einer Menge von insgesamt 22,2 Tonnen Silber entsprochen. Bis zum zweiten Fastensonntag (Reminesce) des Jahres 1411, das war der fünfte Sonntag vor Ostern, gelang es dem Deutschen Orden, die erste Rate der vereinbarten Reparationen – 25.000 Schock Groschen – zu übergeben. Der Orden hatte dafür an die an der Schlacht beteiligten Söldner Schuldscheine ausstellen müssen. Außerdem gelang die Zahlung aufgrund eines massiven finanziellen Aufgebots der damals noch vom Deutschen Orden abhängigen Stadt Thorn/Toruń. Eine zweite Ratenzahlung des Ordens an die polnische Krone erfolgte zu Johannis (24. Juni) 1411, allerdings konnte der Deutsche Orden in diesem Falle anstelle von 25.000 Schock Groschen nur etwa 20.000 auftreiben. Die dritte Rate – weitere 25.000 Schock Groschen – sollte an Martini (11. November) 1411 an Polen ausbezahlt werden. Allerdings sah sich der Deutsche Orden zwischenzeitlich außerstande, seinen Verpflichtungen nachzukommen. Es bedurfte einer diplomatischen Intervention des ungarischen Königs Sigismund von Luxemburg (1368–1437), der vor der Schlacht bei Tannenberg ein Bündnis mit dem Deutschen Orden gegen Polen eingegangen war, 10 und des französischen Königs Karl/Charles VI. (1368–1422) beim polnischen König Władysław II. Jagiełło (um 1362–1434), um einen Aufschub der noch ausstehenden Reparationsraten zu vermitteln. Die Frage der Reparationsleistungen des Deutschen Ordens wurde zu einem Gegenstand des europäischen Mächtespiels, des Aushandelns zwischen Herrschern, die alle Großmachtpläne verfolgten und für die
Vgl. Józef Szujski, Dzieje Polski podług ostatnich badań [Die Geschichte Polens aufgrund jüngster Forschungen]. Band II, Lwów 1862, 36. 10 Vgl. František Šmahel, Evropské panorama 1378–1437 [Das europäische Panorama 1378–1437]. In: Ders./Lenka Bobková (Hg.), Lucemburkové. Česká koruna uprostřed Evropy [Die Luxemburger. Die böhmische Krone inmitten Europas], Praha 2012, 595–632, hier 616. 9
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der Deutschordensstaat entweder ein Instrument der eigenen Machterweiterung oder ein Stachel im eigenen Fleisch war. In der Schlacht bei Tannenberg hatte der Hochmeister des Deutschen Ordens Ulrich von Jungingen (um 1360–1410) das Leben verloren. Sein Nachfolger Heinrich von Plauen (1370–1429) versuchte zwischenzeitlich, unter der Bevölkerung des Deutschordensstaates durch die Erhebung einer direkten Sondersteuer, des so genannten »Schoss«, zumindest einen Teil des für die Reparationen erforderlichen Geldes einzutreiben. Diese Steuerpolitik aber trug Heinrich von Plauen den Unmut der preußischen Landstände ein, die in einem gewissen Konkurrenzverhältnis zu den Ordensrittern standen. 11 Doch auch innerhalb seiner eigenen Ordensstrukturen sank der Stern des Hochmeisters, so dass ihn schließlich am 13. Oktober 1413 ein Generalkapitel des Deutschen Ordens seines Amtes enthob und an seiner Stelle den bisherigen Ordensmarschall Michael Küchmeister (um 1370–1423) zum Nachfolger wählte. Doch sah sich auch Küchmeister nicht in der Lage, den noch ausstehenden Forderungen Polens nachzukommen. Die Folge waren weitere Kriegszüge polnischer Truppen ins Deutschordensland, die einen neuen Konflikt unvermeidlich machten. Auch in diesem Beispiel hatten die Reparationen nicht nur den Zweck, tatsächliche Kriegsschäden zu beheben, die im Thorner Frieden von 1411 ausdrücklich aufgeführt worden waren. 12 Darüber hinaus sollte der aus polnischer Sicht hochmütige und usurpatorische Orden so stark gedemütigt und geschwächt werden, dass sein Staatswesen für die Pläne der polnischen Krone künftig keine Konkurrenz mehr darstellen würde. Der Gedanke einer Versöhnung nach heutigem Verständnis stand dem Machtdenken des 15. Jahrhunderts fern. Mit einem großen zeitlichen Sprung von beinahe 500 Jahren kommen wir in die Zeit der napoleonischen Expansion in Europa. Im Frieden von Tilsit endete am 7. bzw. 9. Juli 1807 der Vierte Koalitionskrieg zwischen dem Königreich Preußen und dem Russischen Kaiserreich auf der einen sowie dem Kaiserreich Frankreich auf der anderen Seite. Das Königreich Preußen, das zuvor am 14. Oktober 1806 in der Schlacht bei Jena und Auerstedt eine empfindliche Nie-
Vgl. Ferdinand Hahn, Heinrich, Hochmeister des Deutschen Ordens. In: Allgemeine Deutsche Biographie 11 (1880), 573–577. 12 Dazu ausführlich Robert Krumbholtz, Die Finanzen des Deutschen Ordens unter dem Einfluß der Polnischen Politik des Hochmeisters Michael Küchmeister (1414– 1422), In: Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 8 (1892), 226–272. 11
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derlage gegen die napoleonischen Truppen erlitten hatte, wurde zu einer untergeordneten Macht degradiert. Neben dem Verlust an Prestige, der psychologisch schwer auf dem Königreich Preußen, seiner Herrscherfamilie und seinen kulturellen und politischen Eliten lastete, wurde Preußen in der Pariser Konvention vom 8. September 1808 auch dazu verpflichtet, an Frankreich insgesamt 120 Millionen Francs an Kontributionen zu entrichten. 13 Mit diesen Reparationszahlungen sollten die Versorgungskosten der napoleonischen Armee in den nicht-verbündeten deutschen Staaten gedeckt werden. Das gedemütigte und wirtschaftlich stark geschwächte Preußen war nicht in der Lage, diese enorme Summe aufzubringen. Der preußische Politiker Karl Freiherr vom Stein zum Altenstein (1770–1840) regte daher im Kreise seiner Kollegen an, Teile der wirtschaftlich lukrativen Provinz Schlesien an Frankreich abzutreten, um damit die Schulden zu tilgen. 14 Als dem preußischen König Friedrich Wilhelm III. (1770– 1840) das aus seiner Sicht ungeheuerliche Ansinnen seines Ministers zu Gehör kam, fühlte er sich von jenem hintergangen und entließ ihn kurzerhand. 15 Im Jahre 1815 kehrten sich dann die Verhältnisse im europäischen Mächtespiel um. Preußen nahm wieder seinen Platz im Konzert der europäischen Großmächte ein. Die Vertreter der alliierten Mächte Europas verhandelten in Wien über die Neuordnung Europas nach der Niederwerfung Napoleons und die Behandlung Frankreichs als unterlegener Staat. Laut dem zweiten Frieden von Paris (20. November 1815) musste Frankreich an die Siegermächte innerhalb von fünf Jahren die monströse Summe von 700 Millionen Francs an Reparaturen entrichten. 16 Damit sollten unter anderem die etwa 150.000 Besatzungssoldaten unterhalten werden, die für die Dauer von fünf Jahren auf dem Territorium Frankreichs stationiert wurden. Frankreich hat übrigens die Zahlung in Gänze und ohne Verzug geleistet. Vgl. Akten und Verfügungen zur Vollziehung des Tilsiter Friedenstraktats. In: Christian Daniel Voß (Hg.), Die Zeiten. Archiv für die neueste Staatengeschichte und Politik. Siebzehnter Band, Leipzig 1809, 201–225 14 Vgl. Johannes Scherr, Blücher. Seine Zeit und sein Leben. Zwölf Bücher in drei Bänden. Zweiter Band: Napoleon (1800–1812), Leipzig 1863, 351. 15 Vgl. Heinz Gollwitzer, Altenstein, Karl Sigmund Franz Freiherr von Stein zum Altenstein. In: Neue Deutsche Biographie 1 (1953), 216 f. 16 Vgl. Der zweite Pariser Friede vom 20. November 1815. In: Ludwig Hauff (Hg.), Die Verträge von 1815 und die Grundlagen der Verfassung Deutschlands […], Bamberg 1864, 57–60. 13
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Wirkliche Versöhnungsbereitschaft der anderen europäischen Mächte konnte es sich damit nicht erkaufen: Antifranzösische Ressentiments blieben im 19. Jahrhundert im deutschen Sprachraum verbreitet, wie etwa das beliebte Napoleon-Spiel unter preußischen Kindern jener Zeit, darüber hinaus aber auch zahllose Spottverse, Karikaturen und Lieder andeuten. Dabei blieb diese Zahlung im 19. Jahrhundert nicht die einzige exorbitante Reparationsleistung Frankreichs. Nach dem DeutschFranzösischen Krieg von 1870/71 musste Frankreich als Verlierer des Konflikts im Friedensschluss von Frankfurt am Main am 10. Mai 1871 nicht nur die beiden Regionen Elsass und Lothringen an das neu entstandene deutsche Kaiserreich abtreten, wodurch es etwa acht Prozent seines Industriepotenzials verlustig ging. 17 Es sollte zudem innerhalb eines Zeitraums von fünf Jahren Reparationen in Höhe von 5,57 Milliarden Goldfrancs zahlen. Dies entsprach dem Gegenwert von 1,49 Milliarden Thalern und damit dem Eineinhalbfachen des damals im Deutschen Reich zirkulierenden Geldes. Als spätestes Zahlungsziel wurde der 2. März 1874 vereinbart. 18 Ferner musste Frankreich Preußen die so genannte »Meistbegünstigungsklausel« (clause de la nation la plus favorisée) im See- und Landhandel einräumen. Bis zur Zahlung der letzten Reparationstranche blieben preußische Soldaten als Besatzung in rund 20 Departements auf französischem Territorium stationiert. 19 Frankreich gelang es, seiner finanziellen Verpflichtung innerhalb von etwas mehr als zwei Jahren gerecht zu werden und damit bis zum September 1873 die volle Souveränität des um das Elsass und Lothringen dezimierten Staatsgebietes wieder herzustellen. Dies war dank zweier Staatsanleihen über 2,78 Milliarden Francs im Juni 1871 und über 4,14 Milliarden Francs im Juli 1871 möglich geworden. 20 Für das deutsche Kaiserreich bildeten die riesigen Reparationssummen ein willkommenes Anfangskapital, das nicht unerheblich zu dem wirtschaftlichen Aufschwung der Jahre Vgl. François Crouzet, The Historiography of French Economic Growth in the Nineteenth Century. In: The Economic History Review N.S. 56 (2003), 215–242, hier 235. 18 Vgl. Markus Baltzer, Der Berliner Kapitalmarkt nach der Reichsgründung 1871. Gründerzeit, internationale Finanzmarktintegration und der Einfluss der Makroökonomie, Berlin 2007, 5. 19 Vgl. Jean-Marie Mayeur, Les débuts de la IIIe République 1871–1898, Paris 1973, 9 (Nouvelle de la France contemporaine 10). 20 Vgl. Baltzer, Berliner Kapitalmarkt, 5. 17
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1871–1873 beigetragen hat, die im deutschen Sprachgebrauch für gewöhnlich als »Gründerzeit« bezeichnet werden. 21 470 Millionen Thaler wurden in »Gemeinschaftsaufgaben« des Deutschen Reiches, etwa den Ausbau des Eisenbahn- und des Post- und Telegrafennetzes, investiert. Mit der Tilgung von 290 Millionen Thalern an Schulden an die Bundesstaaten stand das Deutsche Reich im September 1873 schuldenfrei da. 22 Allerdings führte der rasche Geldzufluss auch zu riskanten Spekulationen, aufgrund derer es 1873 zunächst in Wien, dann in Berlin zu Börsenkrachs und zu einer starken Rezessionsphase in Mitteleuropa kam. 23 Auf den seifenblasenartigen »Gründerboom« folgte eine »Gründerkrise«, zumindest in finanzpolitischer Hinsicht. Auch nach 1871 standen die Zeichen im deutsch-französischen Verhältnis nicht auf Versöhnung. Das am 18. Januar 1871 im Spiegelsaal des Königsschlosses von Versailles proklamierte Deutsche Reich triumphierte angesichts der willkommenen Geldspritze aus Frankreich; in Frankreich hingegen riefen viele politische Kräfte nach Revanche für die erlittene Schmähung der nationalen Ehre. Der Erste Weltkrieg revolutionierte nicht nur die Kriegsführung in einer bis dahin nicht gekannten, überaus brutalen Art und Weise, sondern führte auch zu einem Überdenken des Völkerrechts, insbesondere auf Seiten des amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson (1856–1924). Die in den Pariser Friedensregelungen von 1919 vereinbarten Reparationen unterschieden sich in mancher Hinsicht von den bisher praktizierten. Dennoch herrschte in der deutschen Öffentlichkeit der Weimarer Republik beinahe parteienübergreifend der Eindruck vor, es sei der Wunsch der Alliierten gewesen, Deutschland durch unbotmäßige Forderungen zu ruinieren. Aus deutscher Sicht stellten sich dabei »die Alliierten« als erratischer Block dar, den der gemeinsame Hass auf Deutschland geeint hätte. Der Friedensvertrag von Versailles wurde, um Hans-Ulrich Wehler zu zitieren, zu einer »unstillbaren Kränkung des deutschen Nationalismus«. 24 Eine geDie Geschichtswissenschaft tendiert heute dazu, diesen Prozess nach vorne hin auszuweiten, vgl. etwa Christian Jansen, Gründerzeit und Nationsbildung 1849– 1871, Paderborn 2011. 22 Vgl. Baltzer, Berliner Kapitalmarkt, 5. 23 Vgl. etwa das Lemma »gründen«. In: Meyers Konversationslexikon. Band 7, Leipzig–Wien 41892, 871: »In der That wurden Anfang der 70er Jahre (sogen. Gründerzeit) viele faule Gründungen ins Leben gerufen und infolgedessen das Wort ›gründen‹ mit dem Nebenbegriff des Unsoliden und Betrügerischen behaftet.« 24 Vgl. Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Vom Beginn des Ers21
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nauere Betrachtung der Vertragsvorbereitungen auf der Friedenskonferenz von Paris 1919 erweist jedoch ein durchaus differenziertes Bild. Einigkeit bestand zwischen den so genannten »Großen Vier« – den USA, Großbritannien, Frankreich und Italien – hinsichtlich der Notwendigkeit einer wie auch immer gearteten Haftbarmachung Deutschlands. Woodrow Wilson, ein akademisch sozialisierter Politiker der Democratic Party, hielt dem Kaiserreich insbesondere vor, während des Weltkriegs ausschließlich machtpolitische Ziele verfolgt und damit mehrfach das Völkerrecht verletzt zu haben. 25 Lange diskutierten die Vertreter der Siegermächte darüber, welche konkreten Kriegsfolgen gegenüber Deutschland in Ansatz gebracht werden könnten: die Kriegszerstörungen, insbesondere in Belgien und Frankreich, der millionenfache Tod von Zivilisten oder die Hinterbliebenenzahlungen an Witwen und Waisen gefallener Soldaten auf Seiten der Alliierten? Dabei sollte der Friedensschluss zu einer gerechten Bestrafung führen, ohne Deutschland niederzuringen. »No annexations and no punitive peace« lautete das Motto vieler Delegierter in Paris. Die deutsche Kriegsschuld ergab sich für die Beteiligten aus drei konkreten Sachverhalten: dem Überfall auf das neutrale Belgien ab dem 4. August 1914, die Verknechtung Rumäniens als Zwangsverbündeter Deutschlands im Vertrag von Bukarest vom 7. Mai 1918 sowie die im Vertrag von Brest-Litowsk am 3. März 1918 der russischen Seite auferlegte Zahlung von 1.000.000 Goldrubel an Reparationen als Preis für das Innehalten der deutschen Truppen an der zwischen Deutschland und Russland vereinbarten Demarkationslinie. 26 Diese Regelung, und darauf hatte Woodrow Wilson bereits in seiner berühmten Rede zu den »14 Punkten« vor dem amerikanischen Kongress hingewiesen, habe das Ziel verfolgt, auf Kosten des innerlich geschwächten Russlands eine deutsche Großmachtpolitik im östlichen Europa zu betreiben. 27 In Paris zeigte sich 1919, dass es sehr viel leichter war, den Krieg militärisch zu gewinnen als anschließend einen dauerhaften Frieden zu gestalten. Die Frage der deutschen Reparationen entwickelte sich ten Weltkriegs bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten 1914–1949, München 2003, 241. 25 Vgl. Margaret MacMillan, Paris 1919. Six Months That Changed the World, New York 2003, 161. 26 Vgl. MacMillan, Paris 1919, 161. 27 Vgl. Address of the President of the United States delivered at a joint session of the Two Houses of Congress. January 8, 1918, Washington 1918. Die Gabe
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zum schwierigsten Verhandlungspunkt zwischen den USA, Frankreich und Großbritannien. Neben persönlichen Animositäten zwischen den führenden Staatsmännern Woodrow Wilson, dem französischen Staatspräsidenten Georges Clémenceau (1841–1929) und dem britischen Premierminister David Lloyd George (1863–1945) kamen innenpolitische Schwierigkeiten in allen drei Ländern und nicht zuletzt ein unterschiedlicher Grad der Betroffenheit vom Krieg als erschwerende Faktoren für einen Kompromiss hinzu. Die USA wollten in erster Linie ein moralisches Zeichen setzen; sie verzichteten weitgehend auf eigene Ansprüche und forderten lediglich die Rückzahlung derjenigen Anleihen, die von den europäischen Verbündeten während des Kriegs bei den Vereinigten Staaten aufgenommen worden waren. Frankreich hatte von den am Verhandlungstisch beteiligten Mächten die größten Kriegsschäden zu beklagen, sowohl menschliche als auch materielle Verluste durch die starke Verwüstung weiter Teile seines östlichen Staatsgebiets. Großbritannien hatte sich mit hohem menschlichem und finanziellem Einsatz am Krieg beteiligt. Zunächst wurde, ganz im traditionellen Verständnis des Völkerrechts und der Friedensvertragspraxis, an einen Fixbetrag gedacht, den Deutschland an die Alliierten hätte zahlen sollen. Wie stark die Vorstellungen dabei divergierten, belegen folgende Zahlen: Frankreich hatte mit 220 Milliarden US-$ die höchsten Ansprüche, während sich Großbritannien mit Forderungen in Höhe von 120 Milliarden US-$ vergleichsweise moderat ausnahm. Weitaus bescheidener war der Erwartungshorizont der amerikanischen Delegation, die sich mit etwa 22 Milliarden US-$ begnügt hätte. 28 Die schwierigen Verhandlungen erforderten angesichts so stark voneinander abweichender Auffassungen viel diplomatisches Geschick. Die Voraussetzung für die Durchsetzung von Reparationen war die Anerkennung der Kriegsschuld für den Ersten Weltkrieg durch Deutschland und seine Verbündeten. Dies geschah Ende Juni 1919 in Artikel 231 des Friedensvertrags, in dem die Verantwortung »für alle Verluste und Schäden« übernommen werden musste, »die die alliierten und assoziierten Regierungen und ihre Staatsangehörigen infolge des ihnen durch den Angriff Deutschlands und seiner Verbündeten aufgezwungenen Krieges erlitten haben«. 29 In den folgenden Artikeln wurde vereinbart, dass Deutschland für die Schäden, die es anderen Ländern zuge28 29
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Vgl. MacMillan, Paris 1919, 184. Vgl. Gesetz über den Friedensschluss zwischen Deutschland und den alliierten und
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fügt hatte, »Wiedergutmachungen« zu bezahlen habe. Eine Reparationskommission sollte bis zum Mai 1921 deren genaue Höhe festlegen. Für die Zahlung wurde eine Frist von dreißig Jahren vorgesehen. Als eine Art Abschlag für 1919/20 sollte Deutschland bereits eine erste Zahlung in Höhe von 20 Milliarden Mark leisten. Wir treffen also auch hier wieder das Modell der Ratenzahlungen an, das bereits seit der Antike in der internationalen Friedensregelung bekannt war. Neu war allerdings im Jahre 1919 eine andere Überlegung: Die künftigen Zahlungen sollten sich an der tatsächlichen Wirtschaftskraft Deutschlands orientieren. Realpolitischer Pragmatismus, der dem neuen, republikanisch verfassten Deutschland die Möglichkeit bieten sollte, erhobenen Hauptes aus dem Konflikt herauszugehen, hatte gegen konkurrierende Vorstellungen von strengster Bestrafung oder gar Revanche die Oberhand gewonnen. Bedenkt man, welche propagandistische Tätigkeit in der Weimarer Republik von Politikern, Intellektuellen, Künstlern und auch vielen Vertretern der Kirchen gegenüber den Reparationen entfaltet wurde, überrascht eigentlich der Befund einer tatsächlich verhältnismäßig gerechten Lösung der Reparationsfrage. Der Kompromiss wurde am 29. Januar 1921 bekannt gegeben: 226 Milliarden Goldmark, zahlbar innerhalb von 46 Jahren; zusätzlich die Abgabe von jährlich zwölf Prozent der deutschen Ausfuhrgewinne. Frankreich unter seinem Premierminister Raimond Poincaré (1860–1934) hatte sich gegenüber den anderen Alliierten behauptet, dabei aber auch nicht den vollem Umfang seiner ursprünglichen Forderungen realisieren können. Frankreich war bereit, seine Forderungen durchzusetzen. Als der finanzielle Spielraum der Weimarer Republik in Zeiten der Hyperinflation stark eingeengt war, ließ die Regierung in Paris im Januar 1923 das Ruhrgebiet besetzen. Allerdings steuerte die deutsche Diplomatie einer Eskalation der deutsch-französischen Beziehungen entgegen. Eine erste Erleichterung erbrachte nach der Währungsreform im Jahre 1924 der »Dawes-Plan«. Im Jahre 1926 konnte die deutsche Regierung nicht nur die Entsetzung des Ruhrgebiets erreichen, sondern im Jahre 1928 den nach dem amerikanischen Finanzexperten Owen D. Young (1874–1962) benannten »Young-Plan«, der die Gesamtsumme der deutschen Reparationen auf 112 Milliarden Reichsmark reduzierte und bei reduzierten Jahresraten zwischen 1,6 und 2,2 Milliarden assoziierten Mächten. In: Reichsgesetzblatt 1919, Nr. 140, 687–1316, hier 985: Teil VIII. Wiedergutmachungen, Abschnitt I: Allgemeine Bestimmungen, Artikel 231. Die Gabe
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Mark die Zahlungsfrist auf 59 Jahre verlängerte. 30 Die Folgen der Weltwirtschaftskrise ab 1929 bewirkten, dass Deutschland schließlich den alliierten Forderungen nicht nachzukommen vermochte. Im Juli 1931 wurden sie de facto eingestellt, im Juni 1932 setzten die Alliierten die Forderungen an Deutschland vorübergehend aus; sie wurden erst 1953 mit dem Londoner Schuldenabkommen wieder reaktiviert. Der Machtantritt der Regierung Adolf Hitlers (1889–1945) am 30. Januar 1933 trieb Europa und die Welt in die neue globale Katastrophe des Zweiten Weltkriegs. Abermals bildete sich ab 1939 mit der so genannten »Anti-Hitler-Koalition« ein internationales Bündnis, das sich den Sieg über Nazideutschland auf die Fahnen schrieb. Auf der Konferenz von Jalta einigten sich die Vertreter der USA, der UdSSR und Großbritanniens am 11. Februar 1945 darauf, für die infolge des Kriegs erlittenen materiellen Verluste »in weitestmöglichem Maße Ersatz in Waren« von Deutschland zu fordern. Dazu sollten deutsche Sach- und Geldwerte in Deutschland selbst, aber auch in Form von deutschen Auslandsguthaben requiriert werden. Außerdem sollte Deutschland jährliche Warenlieferungen an die Alliierten tätigen und deutsche Arbeitskräfte zur Zwangsarbeit verpflichtet werden. 31 Auf der Konferenz von Potsdam wurden im Sommer 1945 getrennte Lösungen für die Ansprüche der UdSSR an die Sowjetische Besatzungszone und der Westmächte an die deutschen Westzonen getroffen. Einheitlich war das Prinzip von Demontagen, die allerdings in West und Ost mit unterschiedlicher Intensität betrieben wurden. 32 Eine abschließende Reparationslösung sollte einem künftigen Friedensvertrag mit Deutschland vorbehalten bleiben. Dennoch wurden 1946 Teile der deutschen Devisenbestände und Auslandsvermögen konfisziert.
Vgl. Hans Gestrich, Der Youngplan. Inhalt und Wirkung. Gemeinverständlich dargestellt, Leipzig 1930 (Reclams Universal-Bibliothek 7061–7062); Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, 252. 31 Vgl. Protocol of the Proceedings of the Crimean Conference [11. 02. 1945]. In: Foreign Relations of the United States. Diplomatic Papers. The Conferences at Malta and Yalta, 1945, Washington DC 1955, 975–982, hier 978 f. (V. Reparation); Protocol on the Talks between the Heads of the Three Governments at the Crimean Conference on the Question of the German Reparation in Kind [11. 02. 1945]. In: Ebenda, 982 f. 32 Vgl. Rainer Karlsch, Allein bezahlt? Die Reparationsleistungen der SBZ/DDR 1945–53, Berlin 1993. 30
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Mit dem »Londoner Schuldenabkommen« (Abkommen über deutsche Auslandsschulden) vom 27. Februar 1953 wurde völkerrechtlich wirksam bestätigt, dass bis zu einem Friedensvertrag auf Reparationen für die Kriegsschäden infolge des Zweiten Weltkriegs verzichtet werden sollte. Die Alliierten gingen davon aus, dass der bisherige Grad von Konfiskationen und Demontagen angesichts der gewaltigen möglichen Ansprüche »geringfügig« sei. Stattdessen sollten vorrangig die noch ausstehenden Zahlungsleistungen, die noch aus den Reparationen nach dem Ersten Weltkrieg resultierten, beglichen werden. 33 Es ist im öffentlichen Bewusstsein in Deutschland kaum bekannt, dass am 3. Oktober 2010 die letzte Rate dieser noch offenen Rechnung an die USA, an Frankreich und an Großbritannien ausbezahlt worden ist. 34 Die UdSSR hatte, nachdem sie zuvor in der SBZ/DDR massive Demontagen vorgenommen hatte, am 22. August 1953 einseitig die DDR von weiteren Reparations- oder Entschädigungszahlungen infolge des Zweiten Weltkriegs entlastet. Hier wirkte sich auch die antisowjetische Haltung in der DDR aus, die am 17. Juni 1953 im Volksaufstand kurzfristig zum Tragen gekommen war.
2.
Individuelle Reparationen
Ein neues Kapitel der Rechtsgeschichte läutete das am 10. September 1953, also etwa ein halbes Jahr nach dem Londoner Schuldenabkommen, geschlossene »Wiedergutmachungsabkommen« der Bundesrepublik Deutschland mit dem Staat Israel ein, dem am selben Tag auch ein Abkommen mit der Jewish Claims Conference als Repräsentanz der außerhalb Israels lebenden jüdischen NS-Opfer folgte. Im September 1951 hatte Bundeskanzler Konrad Adenauer (1876–1967) erstmalig in der Öffentlichkeit von einer Verpflichtung Deutschlands Vgl. Abkommen über deutsche Auslandsschulden. Abgeschlossen in London am 27. Februar 1953. In: Schweizerische Eidgenossenschaft/Systematische Rechtssammlung, http://www.admin.ch/opc/de/classified-compilation/19530026/index.html (12. 09. 2015). 34 Vgl. Sven Felix Kellerhoff, Deutschlands Reparationen laufen aus. In: Die Welt, 28. 09. 2010, 3; Rückzahlung abgeschlossen. Deutschland hat keine Kriegsschulden mehr. In: Stern online, 03. 10. 2010, http://www.stern.de/politik/geschichte/rueck zahlung-abgeschlossen-deutschland-hat-keine-kriegsschulden-mehr-1609987.html (12. 09. 2015). 33
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zu einer Wiedergutmachung an die Juden gesprochen. 35 Bis heute hält sich in latent antisemitischen Kreisen der deutschen Gesellschaft der Mythos, Israel habe damals begierig die Hand nach dem deutschen Geld ausgestreckt. Auch hier lohnt wieder ein Blick auf die Fakten, um sich mit den Realitäten vertraut zu machen. Das Ansinnen Adenauers stellte nämlich in der Tat die politische Klasse Israels auf eine Zerreißprobe. Würde man sich nicht in ein Abhängigkeitsverhältnis gegenüber den Nachfolgern der Täter stellen, wenn man solche Reparationen annahm? War es nicht generell ungeheuerlich, Geldzahlungen für die nicht mit Geld aufzuwiegende Shoah anzunehmen? Diese und viele andere Fragen stellten sich die Abgeordneten der Knesseth in einer hitzigen, aber die ethischen Grundsätze einer Annahme stark abwägenden Debatte im Januar 1952. Nach drei Tagen des Abwägens fiel die Entscheidung knapp aus: Von den 120 Knesseth-Mitgliedern votierten lediglich 61 für die Annahme des deutschen Angebots, 50 dagegen, der Rest enthielt sich oder nahm an der Abstimmung nicht teil. Im so genannten Wiedergutmachungsabkommen von 1953 wurden Zahlungen in Höhe von 3 Milliarden DM an Israel und 450 Millionen DM an die Jewish Claims Conference zugesagt. 36 In Folgeabkommen mit einer ganzen Reihe von Staaten brachte die Bundesrepublik Deutschland weitere 971 Millionen DM auf, um diese Staaten in die Lage zu versetzen, ihrerseits Entschädigungsleistungen an Überlebende des Holocaust entrichten zu können. Der so genannten Wiedergutmachung gegenüber Israel liegt im Grunde noch das Prinzip zwischenstaatlicher Zahlungen zugrunde. Die Bundesrepublik Deutschland zahlte Gelder an den Fiskus des Staates Israel, der selbst darüber befand, wie er sie den NS-Opfern zukommen ließ. Eine neue Form der Reparationen wurde nach der Wiedervereinigung Deutschlands im Falle der Zwangsarbeiterentschädigung getroffen. Hierbei ging es um die noch lebenden Personen, die während des Zweiten Weltkriegs in den von deutschen Truppen besetzten Ländern oder auf dem Territorium des Deutschen Reiches für die nationalsozialistische Kriegswirtschaft zwangsweise
Vgl. Constantin Goschler, Wiedergutmachung. Westdeutschland und die Verfolgten des Nationalsozialismus 1945–1954, München / Wien 1992, vor allem 257–285 (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte 34). 36 Vgl. Helmut Rumpf, Die deutsche Frage und die Reparationen. In: Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 33 (1973), 344–371, hier 353. 35
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zur Arbeit herangezogen worden waren. Nach einer langen und komplexen Vorgeschichte wurde ein Fonds eingerichtet, in den zu je 50 Prozent die Bundesrepublik Deutschland und Unternehmen der deutschen Wirtschaft einzahlten. Hier waren nun Einzelpersonen antragsberechtigt, die nachweisen konnten, Opfer nationalsozialistischer Zwangsarbeit gewesen zu sein. Der amerikanische Historiker John Torpey hat für die zurückliegenden Jahrzehnte einen globalen Trend hin zu einer »Reparationspolitik« (reparation politics) diagnostiziert. Deren Quellen lägen in dem während des Zweiten Weltkriegs verübten Unrecht, in staatlich verübtem Terror sowie im Kolonialismus. 37 Dabei bilde häufig der Holocaust eine gewisse Referenzgröße, auf die sich auch andere Gruppen bezögen. 38 In Afrika etwa ist im Zuge der Dekolonisation gelegentlich die Frage erhoben worden, weshalb bei der Entschädigung der Opfer von Sklaverei, Unterdrückung, Ausbeutung und Fremdherrschaft nicht vergleichbare Maßstäbe angelegt würden wie bei den Reparationen für jüdische Opfer der Shoah. 39 Zu Reparationen im Sinne einer individuellen Wiedergutmachung ist es inzwischen etwa in Südafrika, in Kambodscha, aber auch in zahlreichen Staaten des ehemaligen Ostblocks gekommen. Janna Thompson unterscheidet drei Hauptkategorien von Reparationsforderungen in dem genannten Sinne: 1. 2.
3.
die Forderungen von Individuen, denen vor längerer Zeit selbst Unrecht widerfahren ist, die Forderungen von Angehörigen bestimmter sozialer Gruppen, etwa Stämme, Nationen u. a., für das Unrecht, das der gesamten Gruppe widerfahren ist, und Forderungen von Nachfahren von Unrechtsopfern. 40
Thompson diskutiert in einem Beitrag insbesondere die Rechtfertigung der dritten Kategorie, die nicht unbedingt unter den Begriff Vgl. John Torpey, »Making Whole What Has Been Smashed«. Reflections on Reparations. In: Journal of Modern History 75/2 (2001), 333–358, hier 335 f. 38 Vgl. Torpey, Making Whole, 338. 39 Vgl. Rhoda E. Howard-Hassmann / Anthony P. Lombardo, Framing Reparations Claims. Differences Between African and Jewish Social Movements. In: African Studies Review 50 (2007), 27–48, hier 28. 40 Vgl. Janna Thompson, Historical Injustice and Reparation. Justifying Claims of Descendants. In: Ethics 112/1 (2001), 114–135, hier 114 f. 37
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der restaurativen Gerechtigkeit im klassischen Verständnis zu subsumieren sei. Als Quintessenz ethischer und juristischer Überlegungen sieht sie in der Entschuldigung eine mögliche Form der symbolischen Kompensation. 41 Dies wirft für den deutschen Kontext Fragen für den Umgang mit dem nie juristisch gesühnten Unrecht an den Herero und Nama im ehemaligen Deutsch-Südwestafrika, dem heutigen Namibia, in den Jahren 1904–1908 auf. Der Völkermord an den Herero ist in Deutschland lange nicht thematisiert worden, so dass heute keiner der Überlebenden oder Angehörigen von damals ums Leben gekommenen Menschen mehr am Leben ist, sondern nur noch deren Nachfahren. Als erste Politikerin nahm die damalige Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Heidemarie Wieczorek-Zeul am 14. August 2004 an einer Gedenkfeier an die Massaker in Okakarara am Waterberg in Namibia teil. Sie entschuldigte sich für die deutschen Verbrechen, stellte aber keine individuellen Entschädigungen in Aussicht, sondern weitere Entwicklungshilfeprojekte. Von manchen Vertretern der Herero wurde diese einseitige Geste, die nicht vorher mit ihnen besprochen worden war, als koloniale Attitüde zurückgewiesen. 42
3.
Fragen und Ausblicke
Aus den vorausgegangenen Fällen historischer Reparationsprozesse, von denen einige abgeschlossen, andere vorzeitig beendet worden und wieder andere niemals zum Tragen gekommen sind, ergeben sich eine Reihe von Denkanstößen und Fragen, die sich möglicherweise für eine künftige eingehendere Untersuchung zu diesem Thema als hilfreich erweisen könnten: Viel zu wenig berücksichtigt wurde bisher bei den meisten wissenschaftlichen Betrachtungen zu Reparationsfragen der Aspekt der Interkulturalität, also die konstruktive Wahrnehmung kultureller Unterschiede beim Geben und Nehmen in unterschiedlichen nationalen, ethnischen und religiösen Kulturen. Dies dürfte heute insbesondere im Fall postkolonialer Verhältnisse von Bedeutung sein. Daher müssten in solchen Problemstellungen neben Rechtshistorikern Vgl. Thompson, Historical Injustice, 135. Vgl. Reinhart Kössler, Facing a Fragmented Past. Memory, Culture and Politics in Namibia. In: Journal of Southern African Studies 33 (2007), 361–382, hier 381.
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unbedingt auch Philosophen, Religionswissenschaftler und Ethnologen in die Analyse, aber auch in die praktische Realisierung mit einbezogen werden. Wie kann mit konkurrierenden Reparationsansprüchen umgegangen werden, ohne eine Hierarchisierung mehrerer Opfer eines Kriegs oder eines Unrechtsregimes zu bewirken? Dies betrifft etwa die unterschiedlichen Opfergruppen des NS-Regimes, die bis heute eine unterschiedliche Wertigkeit in der öffentlichen Wahrnehmung haben, aber auch global unterschiedliche Wahrnehmungen diverser Opfergruppen, die zum Teil von der Medialisierung der betreffenden historischen Phänomene abhängen. Welche bedenkenswerten symbolischen Handlungen, eventuell auch aus außereuropäischen Kulturkreisen, gibt es zur Schaffung eines Täter-Opfer-Ausgleichs jenseits der zwischenstaatlichen Ebene? Den Nachkommen der von deutschen Kolonialsoldaten ermordeten oder dem Hungertod ausgelieferten Herero in Namibia geht es bei ihren Forderungen an Deutschland weniger um geldwerte als etwa um symbolische Leistungen. 43 Dazu zählt auch die würdige Beisetzung von medizinischen Präparaten, die man getöteten Hereros entnommen hatte und die in der Berliner Charité noch bis in die 1990er Jahre als Anschauungsobjekte benutzt worden waren. 44 Erst mit der Beisetzung konnten, so die den religiösen Vorstellungen der Herero zugrunde liegende Idee, die Seelen der Toten ihre Ruhe finden. Durch den Zwang, Reparationen zu leisten, entsteht automatisch ein hierarchisiertes Geber-Nehmer-Verhältnis. Vielfach werden die Zahlungen vom Betroffenen nicht als ein Akt der Kompensation, sondern als Bestrafung empfunden. In zwischenstaatlichen Beziehungen trägt eine gesamte Bevölkerung, darunter auch diejenigen Menschen, die sich möglicherweise gegen einen Krieg oder gegen die Ausübung von Gewalt im Innern ausgesprochen hatten, die materiellen Folgen einer verfehlten Politik ihrer Regierung. Wie lässt sich, etwa durch begleitende vertrauensbildende Maßnahmen die Übergabe regeln, ohne dass der Geber, dem das Stigma eines Täters
Vgl. Howard-Hassmann / Lombardo, Framing Reparations Claims, 28; Kössler, Facing a Fragmented Past, 381. 44 Vgl. Holger Stoecker, Knochen im Depot. Namibische Schädel in anthropologischen Sammlungen aus der Kolonialzeit. In: Jürgen Zimmerer (Hg.), Kein Platz an der Sonne. Erinnerungsorte der deutschen Kolonialgeschichte, Frankfurt a. M. 2013, 442–457, hier vor allem 450–454. 43
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anhaftet, bei dieser Transaktion seine Würde verliert und damit möglicherweise mit neuen Ressentiments belastet wird? Diese Überlegung führt zu der Relevanz von Stereotypen, also – um mit Walter Lippmann zu sprechen – den »Bildern in unseren Köpfen«. 45 Wie bei allen zwischenmenschlichen Interaktionen schwingen sie auch bei der Regelung von Reparationen mit. Wirken sie auf die erhoffte Versöhnung, die nur durch Vertrauensbildung und Einsicht gewonnen werden kann, hemmend oder lässt sich eine Form des Umgangs mit ihnen finden, die dies ausschließt?
Vgl. Walter Lippmann, Public Opinion, Wading River, Long Island 1922, 1. Zur historischen Stereotypenforschung vgl. Eva Hahn / Hans Henning Hahn, Nationale Stereotypen. Plädoyer für eine historische Stereotypenforschung. In: Hans Henning Hahn (Hg.), Stereotyp, Identität und Geschichte. Die Funktion von gesellschaftlichen Diskursen, Frankfurt am Main 2002, 17–56 (Mitteleuropa – Osteuropa. Oldenburger Beiträge zur Kultur und Geschichte Ostmitteleuropas 14).
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Personenregister
Adorno, Theodor W. 57, 80, 85, 102, 120, 343 Arendt, Hannah 54, 68, 100, 328– 329 Aristoteles 51–52 Auffarth, Christoph 23–24, 222– 223, 227, 229, 232, 234, 240 Barth, Karl 96, 161, 311–313, 331 Bayer, Oswald 14, 141–142, 147– 148, 150, 152, 156, 158, 310–311 Bedorf, Thomas 40–41, 46–47, 89, 320 Bonhoeffer, Dietrich 331 Büchner, Christine 15, 23, 29, 31, 35, 38, 198, 210, 254, 339 Calvin, Jean 326 Dalferth, Ingolf U. 141, 143, 145– 148, 153, 158, 161, 317–318, 342 Derrida, Jacques 11, 14, 19, 26, 30, 52, 57, 62, 65–67, 112, 120, 144, 151, 155, 161–162, 167, 171, 218, 241, 248, 293–295, 304, 306–309, 311, 316, 322, 325, 332, 334, 339– 341 Enders, Markus 26, 29, 287 Falcioni, Daniela 22, 53, 179 Frettlöh, Margarete L. 167, 171– 172, 264, 328, 336, 344
Gerl-Falkovitz, Hanna-Barbara 15, 128, 292, 299 Gutmann, Hans-Martin 21–22, 165, 168, 170, 176, 328 Hamm, Berndt 20, 141, 145–146, 151–152, 155, 157–159, 161 Hegel, G. W. F. 12–13, 18, 42, 51, 55, 63, 65, 68–69, 72–74, 78–80, 85–86, 100, 102, 269, 306 Heidegger, Martin 52, 56, 113, 127, 204 Hénaff, Marcel 13, 17, 24, 30, 39– 40, 56–58, 128, 151–153, 173, 220, 225, 240–243, 245, 247, 251 Hildebrand 302–303 Hobbes, Thomas 54–55, 67–68, 74, 100 Hoffmann, Veronika 9, 14–16, 24, 31, 34, 39, 76, 80–81, 84, 89, 108, 141–142, 145–149, 151–152, 155, 158, 161, 171, 173, 220, 239, 241, 243, 254, 258–259, 264, 267, 290, 295, 305, 307, 311, 317, 320, 324– 325, 343–344 Holm, Bo K. 15, 20, 29, 40, 141– 143, 146, 154–155, 157, 207, 309– 311, 316–318, 321, 339, 341–342 Honneth, Axel 12–13, 18, 39, 41, 55, 63, 68, 70–71, 78, 80–81, 99, 116–118 Joas, Hans 15, 52, 201, 241, 250– 252
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Personenregister
Kant, Immanuel 67, 81, 103, 123, 306, 323 Kiekegaard, Søren 26, 113, 162, 306, 308–310, 314–315 Kodalle, Klaus-Michael 299, 328 Lévi-Strauss 56 Levinas, Emmanuel 20, 32, 52–54, 66, 72–73, 127–128, 130–132, 134–140, 306 Link-Wieczorek, Ulrike 9, 27–28, 206, 326, 331 Lukács, Georg 78, 104 Luther, Martin 15, 20, 22, 31, 141– 143, 145–162, 176–177, 222, 309, 311, 317–319, 341–342 Malinowski, Bronislaw 62, 223, 227, 242 Mandry, Christof 9, 15 Margalit, Avishai 324 Marion, Jean-Luc 11, 14–15, 23, 25, 38, 52–53, 96, 199, 201–203, 206–208, 257–258, 260, 267–268, 281, 289–290, 306, 339 Mauss, Marcel 9–10, 19, 23, 30, 53, 56–57, 65, 67, 76–77, 108, 111, 127, 167, 171–172, 176–177, 185, 218, 222–225, 227, 241–242, 248, 251, 257, 264 Meister Eckhart 23, 121, 203–206, 215, 219–220 Melanchthon, Philipp 20, 142–146, 148–153, 156, 159–162 Menke, C. 120 Menke, K.-H. 81, 87, 90, 141 Miggelbrink, Ralf 207, 212, 214, 260–262, 264–265, 276, 344 Milbank, John 14, 28, 309, 329, 337–340, 342 Müller-Fahrenholz, Geiko 331, 333, 337–338, 345
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SCIENTIA
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Negel, Joachim 24–25, 29, 257 Nietzsche, Friedrich 55, 120, 276 O’Gara 250 Ricœur, Paul 13, 15, 17, 32, 39–40, 51–52, 54–55, 60–61, 64–66, 69– 76, 79–81, 84, 101, 108, 116–117, 135, 212, 220, 258–259, 299, 332, 334, 342 Rosenzweig, Franz 306, 314 Saarinen, Risto 15, 17, 30–31, 34, 46, 141, 147, 149, 153, 158, 161, 250, 316, 339, 341–343, 345 Sartre, Jean-Paul 51, 57–58, 63–65 Seneca, Lucius Annaeus 31, 51, 56, 143, 149, 153 Starobinski, Jean 56, 68, 186, 239 Stoellger, Philipp 157–158, 306– 307 Svinth-Værge Põder, Christine 311–313 Taylor, Charles 13, 39, 63 Waldenfels, Bernhard 11, 21, 171, 312–314 Weger, Tobias 28–29, 346 Welz, Claudia 26–27, 304, 306, 309, 321 Wenzel, Knut 17, 19, 92–93, 112, 118, 121, 124, 325 Werbick, Jürgen 17–18, 29, 76, 78, 85, 87, 158, 162, 220, 271, 305, 321 Widmann, Peter 15, 40, 141, 146, 207, 309, 311, 316–318, 321, 342 Wittgenstein, Ludwig 319–321 Wohlmuth, Josef 14, 202–203, 271, 278, 307 Wolf, Kurt 20, 127, 140
V. Hoffmann / U. Link-Wieczorek / Chr. Mandry (Hg.) https://doi.org/10.5771/9783495817698 .
Autorinnen und Autoren
Christoph Auffarth, Dr. phil. und Dr. theol., ist Professor für Religionswissenschaft am Fachbereich für Kulturwissenschaften der Universität Bremen. Christine Büchner, Dr. theol., ist Professorin für Katholische Theologie an der Fakultät für Geisteswissenschaften der Universität Hamburg. Markus Enders, Dr. phil. und Dr. theol., ist Professor für Christliche Religionsphilosophie am Institut für Systematische Theologie an der (katholischen) Theologischen Fakultät der Universität Freiburg i. Br. Daniela Falcioni, Dr. phil., ist Professorin für Moralphilosophie an der Fakultät für Politische Wissenschaften und Sozialwissenschaften der Universität von Kalabrien in Cosenza, Italien. Hans-Martin Gutmann, Dr. theol., ist Professor für Praktische Theologie am Fachbereich Evangelische Theologie der Universität Hamburg. Veronika Hoffmann, Dr. theol., ist Professorin für Systematische Theologie am Institut für Katholische Theologie der Universität Siegen. Bo Kristian Holm, PhD., ist Professor für Dogmatik an der Abteilung für Theologie der Universität Aarhus, Dänemark. Burkhard Liebsch, Dr. phil., ist Professor für Philosophie an der Fakultät für Philosophie und Erziehungswissenschaft der Ruhr-Universität Bochum.
Die Gabe
A https://doi.org/10.5771/9783495817698 .
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Autorinnen und Autoren
Ulrike Link-Wieczorek, Dr. theol., ist Professorin für Systematische Theologie und Religionspädagogik am Institut für Evangelische Theologie der Universität Oldenburg. Christof Mandry, Dr. theol., ist Professor für Moraltheologie/Sozialethik am Fachbereich Katholische Theologie der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Joachim Negel, Dr. theol., ist Professor für Fundamentaltheologie an der Theologischen Fakultät der Universität Freiburg/Schweiz. Risto Saarinen, Dr. theol. und Dr. phil., ist Professor für Ökumenische Theologie an der Universität Helsinki. Tobias Weger, Dr. phil., ist Privatdozent am Institut für Geschichte der Universität Oldenburg und Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bundesinstitut für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa in Oldenburg. Claudia Welz, Dr. theol., ist Professorin für Systematische Theologie und Religionsphilosophie an der Universität Kopenhagen. Knut Wenzel, Dr. theol., ist Professor für Fundamentaltheologie/ Dogmatik am Fachbereich Katholische Theologie der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Jürgen Werbick, Dr. theol., war Professor für Fundamentaltheologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Kurt Wolf, Dr. phil., war Lehrbeauftragter für Gegenwartsphilosophie an der Hochschule für Philosophie München und den Universitäten München und Bordeaux III; Generalkonsul a. D.
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V. Hoffmann / U. Link-Wieczorek / Chr. Mandry (Hg.) https://doi.org/10.5771/9783495817698 .