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German Pages 265 [266] Year 2023
Empfangen
Empfangen
Die andere Seite der Gabe Herausgegeben von Beate Absalon, Nina Franz, Andreas Gehrlach, Sebastian Köthe, Antonio Lucci und Stephan Zandt
ISBN 978-3-11-121376-7 e-ISBN (PDF) 978-3-11-123379-6 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-123413-7 Library of Congress Control Number: 2023940189 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2023 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandabbildung: Privataufnahme Andreas Gehrlach, Am Kupfergraben, Berlin 2023. Satz: Dr. Hendrik Stoppel Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Für Iris
Vorwort Die Kulturwissenschaft verdankt Iris Därmann neben vielfältigen Beiträgen zur Kulturtheorie und zur kulturwissenschaftlichen Ästhetik nicht zuletzt, dass das Motiv der Gabe für die Geisteswissenschaften auf eine immens produktive Weise verwendbar wurde. Ohne ihre systematisierende und erweiternde Forschung zur Gabe hätte dieses Leitthema kulturwissenschaftlichen Arbeitens nicht in dieser vielfältigen Weise in der Forschung auftauchen können. Iris Därmann schreibt in ihrem Aufsatz zu den „Praktiken der Sozialitätsstiftung zwischen Lebenden und Toten“: In der französischen Rezeptionsgeschichte des berühmten Essays über die Gabe (1925) von Marcel Mauss fehlt es nicht an Versuchen gegenseitiger Überbietung. Dafür stehen die Figuren der exzessiven Verausgabung bei Georges Bataille, das angeborene Prinzip und Schema der Reziprozität bei Claude Lévi-Strauss, die reine und unbedingte Gabe bei Jac ques Derrida oder der Parasit bei Michel Serres.
Die erste Rezeption der Gabentheorie war geprägt von vielfältigen Versuchen, die Gabe zu steigern: ihren moralischen oder sozialen Druck zu erhöhen, ihre ökonomische Radikalität zu verstärken oder sie zu einer ganzen Lebensform zu stilisieren. Die ökonomische Verausgabung, die zwingend antwortende Reziprozität, das reine und unbedingte Geben im Sinne eines acte gratuite oder der blinde Parasitismus können fast schon als Exzesse des Gebens verstanden werden. Wie steht es jedoch um die andere Seite des Gabensprozesses: um Fragen des Empfangens? Was geschieht mit der Person, die mit geöffneter Hand, mit staunend aufgerissenen Augen oder skeptisch dreinblickender Miene das Geschenk entgegennimmt? Dieser Seite der Gabe, die nach dem Erhalten, Annehmen und willkommen Heißen statt nach dem Geben fragt, widmen sich die vielen Beiträge dieses Bandes. Das Empfangen ist eng mit dem Begriff des Pathischen verwandt, der, wie Iris Därmann und Kathrin Busch gezeigt haben, zu den Grundbegriffen der Kulturwissenschaft zählt. Ihnen zufolge stellt „die kulturwissenschaftliche Marginalisierung des Pathos [...] ein Erbe der europäischen Philosophie dar.“ Der Begriff des Pathos bezeichnet dabei „sowohl die mit allen Ereignissen und Widerfahrnissen verbundene Passivität als auch eine Sphäre der Affektivität und des (Er-)Leidens. Mit der europäischen Erfindung des Menschen als eines
Iris Därmann: „Praktiken der Sozialitätsstiftung zwischen Lebenden und Toten.“ In: Rheinsprung 11. Ausgabe 1/2011: Der Anfang. Aporien der Bildkritik. Gaben, Bilder, hg. von Iris Laner u. Sophie Schweinfurth, S. 71–78, hier S. 71. https://doi.org/10.1515/9783111233796-202
VIII Vorwort tätigen, handelnden und selbstbestimmten Wesens“ wird das „Bestimmtwerden und Ergriffensein an den Rand gedrängt“. Analog zur Marginalisierung des Pathischen gegenüber der Aktivität in der europäischen Philosophie ist eine Marginalisierung des Empfänglichen und der Praktiken des Empfangens gegenüber denen des Gebens und Adressierens festzustellen. Ein Prinzip, das Iris Därmann etwa auch in dem enormen Sendungsbewusstsein der europäischen Philosophie und ihres universellen Anspruches am Werk sieht, der sich etwa prominent in Edmund Husserls Prospekt einer zukünftigen Europäisierung der ganzen Welt formuliert und gleichermaßen die Empfäng lichkeit für eine umgekehrte „Indianisierung“ Europas vermissen lässt. Und es ist gerade die Fremderfahrung im Allgemeinen und Besonderen, in der sich die Frage des Pathischen mit derjenigen der Empfänglichkeit bei Iris Därmann immer wieder kreuzt. So ist ihre Gabenweltreise über die fremden Monde der Vernunft entsprechend auch eine Suche nach den Spuren einer – ignorierten, marginalisierten, verdrängten und überschriebenen oder umgeschriebenen – Empfänglichkeit. Nämlich die Empfänglichkeit für die Philosophien und Denkfiguren der Anderen, die überhaupt erst einen reziproken Gabentausch der europäischen und außereuropäischen Kulturen ermöglichen würden. Denn so schnell die Europäer:innen auch darin waren, die ihnen offerierten materiellen und immateriellen Güter und Gaben in Empfang zu nehmen, so sehr entgingen ihnen nicht nur die Regeln und Gesetze der Gegengabe, die der Tatsache Rechnung zu tragen suchen, dass wir alles und zuallererst uns Selbst, den Gaben der Anderen verdanken. Jenseits der Pflicht zum Geben und Erwidern war es also vor allem die Frage der Empfänglichkeit und damit eine Offenheit für Andere und Anderes, die die Logik der Gabe herausforderte und auf die die europäische Philosophie eine Antwort schuldig geblieben ist. Und dies in ganz grundlegendem Sinne: denn es sind stets Andere und Anderes, von denen das Ich seine Existenz und seine Herkunft empfängt. Wir empfangen – und werden empfangen – noch bevor wir „Ich“ sagen können. Damit gründet „die Möglichkeit jeglicher Konnexion mit dem Anderen“ in einer „Passivität“, einer „Affizierbarkeit“ und insbesondere einer Empfänglichkeit.
Kathrin Busch und Iris Därmann: Einleitung. In: dies. (Hg.): ‚pathos‘. Konturen eines kulturwissenschaftlichen Grundbegriffs. Bielefeld 2007, S. 7–8. Iris Därmann: Fremde Monde der Vernunft. Die ethnologische Provokation der Philosophie. München 2005, S. 13. Mit der notwendigen Anerkenung der von Husserl abgelehnten und geleugneten „Indianisierung“ Europas, ist entgegen der kolonialen Implikationen des Begriffs, gerade dessen antikoloniale Umkehrung angesprochen, die es weiterzudenken gilt. Iris Därmann: „Fremdgehen: Phänomenologische ‚Schritte‘ zum Anderen“. In: Die Herausforderung durch das Fremde, hg. von Herfried Münkler unter Mitarbeit von K. Meßlinger und B. Ladwig. Berlin 1998, S. 461–544, hier 503.
Vorwort IX
Weil der Andere uns in ganz fundamentaler Weise „angeht“ , wie Iris Därmann immer wieder betont, ist es notwendig dem Pathos des Erleidens und der Verletzlichkeit des Menschen, und nicht nur des Menschen, grundlegend Rechnung zu tragen. Wie und in welchen kulturellen Formen findet eine grundsätzliche Empfänglichkeit ihren Ausdruck? Wie zeigen wir uns selbst empfänglich für die Gaben der Anderen? Wie suchen wir ihnen zu entgehen, wenn wir ihnen denn entgehen können? In diesem Band fragen wir entsprechend auch und gerade nach dem „chiastischen Ineinander“ , das zwischen Praxis und Pathos genauso wie zwischen Geben, Empfangen und Empfänglichkeit besteht. Wohnt dem Empfang von Eingebungen, Flüchtenden, Postkarten, Talenten, Radiosendungen, Hilfe, Kindern oder dem Tod – um nur einige Anliegen der vorliegenden Essays zu nennen – trotz ihrer Qualitäten der Hingabe und des Pathischen, nicht ebenso eine aktive, vermögende Seite inne? Wen oder was empfangen wir wo, zu welcher Zeit und in welcher Lage? Welche Formen sowohl der Empfangsbestätigung als auch der Annahmeverweigerung konturieren das Empfangen als kulturelle Praxis – Formen des Nickens, Verneigens, Kopfschüttelns und Schulterzuckens, des renitenten Umgangs und der Dankbarkeit? Welche Gesten, Rituale, Praktiken und medialen Effekte verbinden sich mit der Annahme, Aufnahme und Übernahme? Wie steht es mit dem Verhältnis von Empfänglichkeit und Widerstand? Die Autor:innen der folgenden Texte haben sich empfänglich für das Denken Iris Därmanns gezeigt, um das von ihr eröffnete Thema der Gabe anhand einer Vielzahl von Essays produktiv weiterzudenken. Mit der Frage nach den Kulturen des Empfangens verbindet sich, das wird schon bei einem Blick ins Inhaltsverzeichnis des Bandes deutlich, ein weites Bedeutungsfeld. Dieses betrifft mit dem Empfänger und anderen Empfangsgeräten nicht nur eine zentrale Instanz der Medien- und Informationstheorie, sondern ebenso die sozialen Praktiken der Empfangenden und Entgegennehmenden, die mithin um Fragen des Juridischen, Ethischen und Ästhetischen kreisen‘. Im ersten Abschnitt wurden diejenigen Beiträge gruppiert, die sich mit Formen der Empfangsbereitschaft und mit ihnen um Politiken und Ökonomien des Empfangens beschäftigen. Im Hintergrund stehen dabei oftmals die Figuren des Politischen, mit denen ganz materielle Praktiken ihres Empfangs und Verweigerns gedacht werden. In diesem Feld sind nicht zuletzt Fragen des Zusammenlebens, aber auch der sozialen und kulturellen Distanzierungen adressiert.
Vgl. Därmann: Fremdgehen, S. 503. Vgl. Iris Därmann: Sterbende Tiere. Oudry, Buffon, Rousseau. In: Philipp Stoellger, Jens Wolff (Hg.): Bild und Tod. Grundfragen der Bildanthropologie. Tübingen 2016, S. 199–218. Busch und Därmann: ‚pathos‘, S. 12.
X Vorwort Denn die Gabe steht, woran Günther Ortmann erinnert, bei Iris Därmann ganz im Zeichen eines stets politisch zu verstehenden Living apart together: „Die Gabe ist die inter-subjektive, inter-generative, inter-kulturelle und inter-nationale Praxis des getrennten Zusammenlebens.“ Wer kommt in den Genuss des Empfangs und wer wird von ihm ausgeschlossen? Wer gehört zu den Satten, die bereits empfangen haben oder nichts zu empfangen brauchen? „Wir sind zualler erst Wesen, die angesprochen und gefüttert werden“ heißt es in Iris Därmanns Figuren des Politischen. Gewissermaßen ließe sich damit Darwins berühmtes Diktum eines survival of the fittest umformulieren in ein survival of the nourished. Und wenn es stimmt, dass das Mitsein insbesondere als „Begehren nach dem Anderen“ existiert, so ist es möglich, die Tischgesellschaft und ihre MitTeilung zum Leitfaden eines kulturwissenschaftlichen Denkens der Gemein schaft zu machen. Die Tischgesellschaft eröffnet das Thema aber dezidiert vom Alimentären zum Politischen: Wer hat so viel, dass sie oder er geben kann, wer hat so sehr im Überfluss, dass man nicht weiß, was man der Person noch schenken sollte? Es geht um Formen der Armut und des Überflusses, darum, ob Menschen überhaupt zu Essen haben, oder ob sie eine Erbschaft planen und machen können, ob sie viele Kilogramm Silber verteilen können oder schlicht genug zum Leben erhalten. Welche Verpflichtungen gibt es zur Ausrichtungen eines Empfangs und wie konstituiert sich kulturhistorisch über und mit dem Empfang eine spezifische Form der Subjektivierung und der Repräsentanz? Wie nivelliert dabei eine stereotyp geschlechtsspezifische Arbeitsteilung die Tätigkeiten des Um- und Fürsorgens? Der zweite Abschnitt des Bandes zu Empfangen und Erleiden: Körper und Passion bleibt bei der Fokussierung der Materialität des Empfangens und steigert diese noch, indem die Beiträge dieses Teils insbesondere die leibliche, passive und pathische Seite dessen beschreiben, was beim Empfangen mit den Körpern geschieht. Die Überlegungen werden dabei stets zurückgeführt auf die Grundlage des Lebens der Menschen als eben Lebendige – ein Grundthema in der Forschung Iris Därmanns, in welchem stets Körpern und ihrem Erleben gefolgt wird. Es geht in den Beiträgen dieses Teils um eine Poesie und Literatur, die das Empfangen von Zuneigung und Liebe theoretisiert, und darum, wie Empfangen als materielles Geschehen überhaupt in Sprache übersetzbar ist. Wie können Worte das ausdrücken und instituieren, was den Körpern geschieht? Die Beiträge
Därmann: Figuren des Politischen. Frankfurt a. M. 2009, S. 15. Därmann: Figuren des Politischen, S. 30. Därmann: Figuren des Politischen, S. 29. Vgl. Därmann: Figuren des Politischen, S. 27.
Vorwort XI
behandeln Schwäche und Verwundbarkeit als Teil einer conditio humana, die uns zu paradigmatisch empfangenden Wesen macht: Wir können krank werden, Hilfe brauchen und auf die Gaben, Arbeit und Zuneigung anderer angewiesen sein. Zustände der Selbstschwächung werden jedoch auch ganz dezidiert aufgesucht in Form von Rauschzuständen durch Drogen, Askese, Sex oder Philosophie, wie um die Verheißungen der archaischen Selbstauflösung als nur-nochpure-Empfänglichkeit-sein aufzuspüren. Bereits unser Eintritt in die Welt basiert auf Figuren des Empfangens. Eine weitere Perspektive dieses Kapitels ist daher die Kulturgeschichte der Empfängnis, der Fruchtbarkeit und des Gebärens – als auch die Abwendung all dessen in einem feministischen Sinn. Doch nicht nur der Beginn, sondern auch das Ende des menschlichen Lebens ist mit dem Begriff des Empfangens beschreibbar: Auch der Tod kann empfangen werden und das Sterben ist ein Annehmen eines Endes unserer körperlichen Existenzweise. Der darauf folgende Abschnitt über Empfangsräume: Beziehungen und Konstellationen scheint sich vordergründig von den Körpern und ihrer materiellen Präsenz abzuwenden – doch dies täuscht: Anstatt der Einzelkörper werden nun ihre Beziehungen und die Relationalität der Körper zueinander in den Blick genommen. Diese schwierige Frage, wie die Körper einerseits getrennt und doch verbunden sein können, ist auf eine Weise bereits im living apart together angesprochen, doch wird ihr hier in konkreteren und ebenso näheren wie weiteren Formen nachgegangen: In Form von Schlafliedern, die Eltern mit ihren Kindern verbinden. Briefen, die im Familiären über weite räumliche Distanz hinweg das Literarische erproben lassen. Das wundersame, liebevolle und doch getrennte Geben und Empfangen zwischen Geschwistern. Der Schlaf, der in vertrauende Hilflosigkeit wiegt und so noch empfangsbereiter macht als ein konzentriert-angestrengter Wachzustand. Die „rätselhaften Botschaften“ der anderen, die uns seit unseren ersten Lebenstagen heimsuchen und aus denen wir uns einen Reim machen müssen, um schließlich miteinander auf eine ‚wirkliche‘ und buchstäblich ‚eindringliche‘ Weise zu kommunizieren. Die intimen Verbundenheiten der Menschen sind aber nicht nur im funktionierenden oder gebrochenen Nahraum familiären Lebens und in intimen Beziehungen gegeben, sondern liegen auch in gewissermaßen planetarer Form und darüber hinaus vor: Botschaften können heute aus verschiedensten Himmelsrichtungen und sogar vom Mond zu uns kommen, oder sie können uns herausfordern, gänzlich fremde Menschen zu empfangen, ihnen gastfreundlich zu begegnen und sie in unseren Nahraum aufzunehmen. Die Rückkehr aus der diaspora kann bedeuten, empfangen zu werden und selbst zu empfangen, und in bestimmten historischen Konstellationen kann sogar Gastfreundschaft als offenste Form des Empfangens rechtlich sanktioniert werden.
XII Vorwort Die Beziehungen und Konstellationen des Empfangens werden im vierten Abschnitt des Bandes mit Blick auf Kommunikation und Medien noch einmal zugespitzt. Auf Empfang zu sein, kann vieles heißen. Da sind etwa die Empfänger, receiver und all jene Empfangsgeräte, von denen wir tagtäglich umgeben sind. Nicht ohne Grund sind sie zur zentralen Instanz der Medien- und Informationstheorie aufgestiegen und sie stellen uns nicht nur vor die Frage nach den sozialen Praktiken der Empfangenden, sondern ebenso danach, was der Zustand unserer permanenten Empfangsbereitschaft mit uns macht. Welche Subjektivitäten nehmen wir an, wenn wir zu Empfänger:innen werden, ganz ungeachtet der Botschaften, die uns möglicherweise auf diesem Weg erreichen. Welche Verfahren der Annahme und Aufnahme, des Sammelns und Verzeichnens, aber auch der Kompilation, Collage und der mimetischen oder technischen Wiedergabe zeichnen bestimmte Genre-, Medien- und Kommunikationspraktiken aus? Und was passiert in jenen, nicht nur für die ethnologische Fremderfahrung, typischen Momenten, in denen wir gar keine Botschaften mehr empfangen, sondern nur noch die Auf- und Abtritte der Sender und Empfänger verzeichnen können? Und wie ist es mit der Sprache selbst? Nicht nur die Linguistik, sondern auch die Psychoanalyse machen uns mehr als deutlich, dass ihre Beherrschung durch den Menschen nur eine relative ist. Wir empfangen die Sprache stets von anderen, und als großer Anderer beherrscht uns ihre eigene Intentionalität mehr, als wir es wahrhaben wollen. Welche psychischen und physischen Dispositionen bilden sich also in unserer Empfänglichkeit für die Welt heraus und welche Haltung nehmen wir gegenüber dem Empfangenen ein? Nicht zufällig berühren die hier versammelten Beiträge über Kommunikation und Medien ein Feld voller Spannungen, auf das Iris Därmann in ihrer Arbeit immer wieder verweist und das eng mit der Fremderfahrung des Gabenempfangs verknüpft ist: auf der einen Seite die Gastfreundschaft und auf der anderen die Besessenheit. Gerade diese beiden Stichworte greifen auch die Artikel des letzten Abschnittes über das Sich empfänglich machen: Techniken und Gesten auf. Sich empfänglich zu machen heißt auch dem Fremden, den Geistern und Engeln oder – nicht weniger banal – den unsterblichen und doch so flüchtigen Leidenschaften, Inspirationen und den stets lebendigen Künsten und Kulturtechniken selbst Raum zu geben. Nur wie? Die Artikel kreisen um performative Sprechakte und Gesten des Empfangens, um Techniken der Annahme und Pathosformeln der Empfänglichkeit. Aber auch um ihr Gegenteil. Es werden Staatsbankette ebenso behandelt wie kleine, individuelle Ablehnungen in Beziehungen – und immer, wie damit umgegangen wird. Auch in den von Iris Därmann stets in den Blick genommenen Künsten und Praktiken der Verneinung kann eine Empfäng-
Vorwort XIII
lichkeit zum Ausdruck kommen. Im simplen „nein“ als Empfangsverweigerung und Protestformel. Empfänglichkeit kommt ebenso zum Ausdruck in der dankenden Annahme nicht nur von Zusagen und Affirmationen, sondern gerade auch von Ablehnungen und Einwänden. Haltungen der Empfangsbereitschaft sind jedoch abhängig von der Wahl ihres Ausdrucks: der Worte, Posen, Gebärden, Habitus und Körpertechniken, die nicht immer eindeutig zu bestimmen sind. Zwischen ihnen tut sich eine Grauzone der Ambivalenz des Empfangens, wenn nicht gar ein double bind jener Gaben auf, die nicht abgelehnt werden können. So muss zur selbstverteidigenden Verhinderung und Abwehr ungewollten Gabenempfangs mithin auf fintenreiche Designideen zurückgegriffen werden. All dies verweist auf ein Feld, das mit der Frage der Kritik und des Widerständigen und der in ihnen hergestellten Subjektivitäten, sozialen Beziehungen und utopischen Potentialen auch und gerade zu den politischen Dimensionen des Empfangens zurückkehrt. Ebenso wie zu den körperlichen Dimensionen: Die Gesten und Rituale des Empfangens sind immer auch Teil jener Techniken des Körpers, denen Iris Därmann mit Marcel Mauss zu Recht einen hohen Stellenwert in ihren kulturwissenschaftlichen Studien eingeräumt hat. Schließlich sind wir als Herausgeber:innen in der Position des Empfangens, und das in mehrfacher Hinsicht. Wir danken allen Mitwirkenden dieses Bandes für die disziplinierte Arbeit an ihren im besten Sinn ,undisziplinierten‘ Beiträgen – jeder einzelne stellt eine Bereicherung dar. Der anregende Austausch zum Thema dieses Bandes mit so vielen Beiträger:innen, die auf je eigene und einfallsreiche Weise auf das Thema Bezug genommen und ihre eigenen Verknüpfungen zu Iris Därmanns Denken eingebracht haben, hat die Arbeit an diesem Band zu einer großen Freude gemacht! Aber ein Buch wie dieses ist nicht nur auf die geschriebenen Beiträge angewiesen, sondern auch auf vielfältige Hilfe und Unterstützung in finanzieller, organisatorischer und struktureller Weise. Daher danken wir dem Institut für Kulturwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin und insbesondere dem geschäftsführenden Direktor Philipp Felsch für die finanzielle Unterstützung dieses Bandes. Unser herzlicher Dank gilt genauso Liliana Feierstein für ihre großzügige Unterstützung dieser Publikation aus den Mitteln ihres Lehrstuhls. Auch der Kultur-, Sozial- und Bildungswissenschaftlichen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin danken wir für die finanzielle Unterstützung aus den Mitteln der Programmpauschale. Waldemar Isak hat uns ebenfalls tatkräftig in der Organisation der Gelder unterstützt und auch ihm danken wir sehr! Es ist immer eine Freude, mit Anja Michalski vom de Gruyter-Verlag zusammenzuarbeiten und ebenso mit Tessa Jahn und Katrin Hudey, die schnell, professionell und mit viel Verständnis für ein solches eher ungewöhnliches Buch-
XIV Vorwort projekt agiert haben! In der Kommunikation und Organisation hätten wir uns keine bessere Betreuung und Unterstützung wünschen können. Dass Hendrik Stoppel mit ausgesprochener Sorgfalt, Präzision und Liebe zum Text in seiner gestalterischen Form den Satz der Texte übernommen hat, war eine immense Erleichterung für uns. Den allergrößten Dank auch dafür! Und natürlich und nicht zuletzt danken wir Iris Därmann, der dieses Buch gewidmet ist. Wir alle haben so viele Ideen, Hinweise, Empfehlungen, Geschenke, Gesten, Ermunterungen, so viel Bestärkung, Spiegelung und Kritik, so viele ,neue Wege‘, gute Stunden in Vorlesungen, Seminaren und Abendessen von ihr entgegennehmen dürfen, dass sich uns die Frage nach den Möglichkeiten, Praktiken und Gefühlen des Empfangens geradezu aufdrängte. Vielen Dank, liebe Iris!
Inhalt Vorwort VII
Empfangsbereitschaft: Politiken und Ökonomien Günther Ortmann Living apart together 3 Antonio Lucci Die Mahlzeit der Satten Pier Paolo Pasolinis Kulturkritik des Aperitifs 7 Silvia Mazzini Mut zur Armut Eine öko-logische Suche 15 Bernhard Waldenfels Nehmendes Geben, gebendes Nehmen 21 Evke Rulffes Der Feind an meinem Tisch 25 Stefan Willer Das Erbe empfangen 29 Andreas Gehrlach Talente empfangen, aber ein Schalksknecht sein 33 Christian Kassung „Du brauchst mir nichts zu schenken.“ Über die Risikovermeidung des falschen Geschenks 39
Empfangen und Erleiden: Körper und Passion Verena Olejniczak Lobsien Kunst des Empfangens Eine Miniatur mit zwei Gedichten über die zuvorkommende Sympathie 45
XVI Inhalt Kathrin Busch Schwächen – Passionen des Empfangens 51 Claudia Bruns Wunder der Empfängnis – Verdauung der Lektüren 57 Sofie Fingado Leben geben, giving birth Schwangerschaftsabbruch und unbedingter Empfang 65 Waldemar Isak Infusion und Schreiben Notizen zu Hervé Guiberts Zytomegalievirus. Krankenhaustagebuch 73 Thomas Macho Was wir empfangen 79 Oliver Precht Empfänglichkeit und literarische Sprache Gedanken ausgehend von Clarice Lispector und Maurice MerleauPonty 85 Michael Wildt Den Tod empfangen 89
Empfangsräume: Beziehungen und Konstellationen Stephan Zandt „The beautiful land gave you a practical foundation“ Schlaflied und dekoloniale Reterritorialisierung in Celina Kalluks Naglingnarniqpaakuluk 95 Holger Brohm Wirklich hören 103 Ilka Quindeau Rätselhafte Botschaften Empfangen als anthropologische Grundsituation 107
Inhalt XVII
Maud Meyzaud Geschwisterliches Empfangen (Musil) 111 Sebastian Köthe Zwischen Schweigen und Schreiben Familienbriefe und der Roman Die größere Hoffnung 117 Brigitta Kuster Charisma, eine Widmung aus dem Süden 123 Lena Kugler Der Empfang auf dem Mond Geschichte/n der extraterrestrischen Diaspora 131 Paul Krell Strafbare Gastfreundschaft? 137 Leander Scholz Die nicht gegebene Gabe 143
Auf Empfang: Sprache und Medien Samo Tomšič Sprache als Kinderspiel 149 Friedrich Balke Erzählen, Schreiben und das „Surren eines Insekts“ Auftrittsprotokolle in Marrakesch 155 Sophia Gräfe Gegenaufnahme Blicke und ihre Stellvertreter in den Akten des MfS 163 Britta Lange Auf Empfang Zu deutschen Imaginationen des Rundfunks in seiner Frühzeit 169 Sophia Lohmann Welt empfangen, Um/Frieden verweigern Dimensionen des Versammelns, Transformierens und Affizierens im Essay. Ein Versuch 177
XVIII Inhalt Jan Mollenhauer Geben und Nehmen 183
Sich empfänglich machen: Techniken und Gesten Erhard Schüttpelz Die menschlichen Leidenschaften, der einzige unersetzliche Verlust und die Flüchtigkeit des Lebens 189 Jasmin Mersmann Begabt – begeistert – besessen Szenarien der Eingebung 197 Marianne Schuller Ein Seitenblick auf die Figur Maria 203 Charlotte Klonk Auf dem Parkett der Staatspolitik Gesten der Dankbarkeit 207 Beate Absalon Einen Korb empfangen und sich für diesen bedanken 213 Robert Stock Ungewollte Hilfe, oder: Sind medizinische Hilfsmittel politisch? 223 Nina Franz Kritik annehmen Vom Lösen des Double Bind 229 Philipp Gries Klein, undiszipliniert, unbelehrbar Vom Widerstand und von der Kritik 235 Autor:innen Biographien (alphabetisch) 241
Empfangsbereitschaft: Politiken und Ökonomien
Günther Ortmann1
Living apart together „Seit jeher“, so beginnen Iris’ Figuren des Politischen, „orientiert sich die politische Philosophie an den großen Instanzen und Institutionen – Natur, Recht, Staat –, um die Möglichkeiten von Gesellschaft, wo nicht zwingend, so doch wahrscheinlich zu machen. Dabei geraten jene kulturellen Praktiken ins Hintertreffen, die – wie Gabe, Gastfreundschaft und Tischgemeinschaft, die Feste, die Spektakel und die Künste – Sozialität je von neuem hervorbringen, vergegenwärtigen und unterhalten. Eine politische Bedeutung erhalten diese kulturellen Praktiken nicht zuletzt dadurch, dass sie Formen des getrennten Zusammenlebens gestalten und jenen Ort der Teilung angeben, an dem die Frage der Zuge hörigkeit zu einer Gemeinschaft selbst strittig werden kann.“ Das ist seit Langem ein roter Faden ihrer Arbeiten, von Fremde Monde der Vernunft (2005), wo es um die – buchstäblich unerhörte – ethnologische Provokation der Philosophie, besonders der politischen Philosophie, geht, über die Figuren des Politischen (2009), die Theorien der Gabe (2010) und die Kulturtheorien (2011) bis zu den drei jüngeren Büchern, in denen Formen der Widerständigkeit Thema werden, die, auch weil sie vordergründig nichts mit jenen großen Instanzen und Institutionen zu schaffen haben, als unpolitisch gelten und von der politischen Philosophie weithin ignoriert worden sind: Undienlichkeit (2020), sodann Widerstände (2021) und demnächst Sadismus mit und ohne Sade. (Dass die „Lebensart, die banale Existenzweise […] zum Austragungsort und Hort des Widerstandes gegen eine bestehende Ordnung werden kann“, stand schon in Figuren des Politischen. Sich undienlich zu machen, ist eine – verkannte – Weise solchen Widerstands.) In einer schönen Besprechung mit dem Titel Bella Figura hat Ino Augsberg über Figuren des Politischen zu Recht gesagt, „Living apart together fungiert nicht nur als persönliche Widmung, sondern ebenso als sachliches Motto des Buches“ , und er hat seinerseits daraus eine Passage zitiert, die das unterstreicht: „Zusammensein […] bedeutet […] nicht, ganz und gar anwesend, präsent oder präsentierbar und folglich miteinander vereint zu sein: Es bedeutet vielmehr auf Tuchfühlung mit dem Anderen, das heißt der Erfahrung einer ab ständigen Nähe ausgesetzt zu sein“ .
Iris Därmann: Figuren des Politischen. Frankfurt a. M. 2009, S. 9. Därmann: Figuren des Politischen, S. 168. Ino Augsberg: Bella Figura. In: Rechtsgeschichte 17 (2010), S. 229–231, hier: S. 231. https://doi.org/10.1515/9783111233796-001
4 Günther Ortmann Zu den kulturellen Praktiken des getrennten Zusammenlebens, Praktiken pathischer Distanz, gehören allemal Gabepraktiken, die schon in diesem Buch in Szene gesetzt werden – die „einen Zwischenraum […] eröffnen, der die Gabe partner chiastisch voneinander trennt und zugleich miteinander verbindet“ . „Trennt und verbindet“ nicht zuletzt, weil die Gabe eine Erwiderungspflicht auslöst, und damit sind wir beim Thema Empfangen. Mauss denkt die Gabe vom Empfänger her, sagt Iris, und dessen Obligation der Erwiderung sorgt für Verbindungen und Verkettungen und gibt aber der Sache eine Zweischneidigkeit, die von Mauss- und Gabenkritikern – besonders Ökonomen und Rational-ChoiceTheoretikerinnen, die nichts als Tausch kennen und in Gaben daher nichts als verkappten Tausch sehen können – noch stets nach der einen Seite gekippt und so missbraucht worden ist. Die einschlägig-einseitigen Klagen gelten eben dieser Pflicht, unter Namen wie „Verschuldungssystem“, „Überbietungs-Potlatch“, „Vernichtungsfest“ e tutti quanti. Von einer solchen Sicht der Dinge sind auch Denker großer Theorie nicht frei, Bourdieu, Coleman, Luhmann, um nur einige zu nennen, selbst Habermas nicht so ganz (siehe die spärlichen und fragwürdigen Bemerkungen zur Gabe in Theorie des kommunikativen Handelns). Eine Festschrift ist ein Konglomerat von Gaben, wem sage ich das? Und diese hier in besonderem Maße. Die Herausgeberinnen und Herausgeber erweisen einer Empfängerin eine Ehre, die schöne Texte über die Gabe geschrieben hat. Der Anlass ist ein Geburtstag – ein Gabenfest. Sie bitten um Beiträge zur Festgabe, und die Gebetenen geben Antwort – und steuern Texte wie diesen bei, der seinerseits von Gaben handelt, und sogar davon, dass er selbst, wie die Festschrift, in der er steht, eine Gabe ist, geschrieben von einem Kerl, der so manchen Rat, Hinweis, Literaturtipp und so manche Lehrstunde nicht nur, aber auch in eben dieser Sache, der Gabe, von der Empfängerin erhalten hat (zum Beispiel den eindringlichen Hinweis auf die frühe Arbeit über Day to Day Resistance to Slavery von Alice und Raymond Bauer aus dem Jahr 1942). Ein Text, der als Gabe in einer Festschrift steht und eine Art Skizze von Gaben enthält, unter anderem von Gaben namens Festschrift, ist ein bisschen wie diese Schuhcremedose, auf der ein Schuhputzjunge abgebildet ist, der eine Schuhcremedose in der Hand hält, auf der … : Schachtel, und Schachtel in der
Därmann: Figuren des Politischen, S. 23–24. Und sodann in Kapiteln zu Platons Politik der Mahlzeit, Kants Kritik der Tischgesellschaft, Schleiermachers Geselligkeit und Nietzsches politischer Vernunft der Mahlzeit. Därmann: Figuren des Politischen, S. 14–17. Därmann: Figuren des Politischen, S. 14–15. Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2. Frankfurt a. M. 1981, S. 241–242.
Living apart together 5
Schachtel. Konglomerat ist gar kein Ausdruck. Wenn man diese Festschrift als Ausstellung versteht – Ausstellung der Inspirationen, die der Empfängerin zu verdanken sind –, dann hat sie etwas von jener Ausstellung im Centre Pompidou, „La ville – art et architecture en Europe 1870–1993“, in der die Besucher und Besucherinnen Bilder von Städten, zum Beispiel Paris, sehen konnten, und an deren Ende sie durch eine rechteckige Öffnung in einer Wand, also wie auf ein Bild in einem Rahmen, einen Blick auf Paris werfen konnten, die Stadt, in der die Ausstellung stattfand, in der sie sich gerade befanden, und in der … Kommentare, und Kommentare von Kommentaren, Zitate und Zitate von Zitaten, Beiträge über Iris’ Beiträge, die ihrerseits Beiträge zu Mauss, Bataille, LéviStrauss, Derrida und Serres enthalten – Gaben münden nicht nur in Verkettungen, sondern nicht selten auch in Verschachtelungen, Rekursionen, so schwindelerregende Verhältnisse, dass es mit Menschenverstand kaum zu begreifen ist, wie leicht das Geben und Nehmen im Alltag trotz alledem fällt. (Derrida-Afficionados werden an dieser Stelle auch an Marx’ Gespenster und deren Wiedergänger denken: „Kant zeugte Hegel, dieser zeugte Marx, dieser zeugte – wen?“) Auf die Frage der Jubilarin: „Woher kommt die Verpflichtung, die Gabe – zumindest mit einem Dank – zu erwidern?“ würde, wie sie weiß, Derrida antworten: Spätestens mit der Erwiderung wäre es mit der Reinheit – der Rückkehrlosigkeit – der Gabe vorbei, eigentlich schon eher, nämlich mit der Intention der Gebenden. Das können, ja, müssen wir in unserem Zusammenhang auf sich beruhen lassen. Wir müssen hoffen können, und wir können hoffen, ja, sicher sein, dass die Festschrift als Gabe erkannt und anerkannt werden wird, auch wenn das für Derrida längst den Tatbestand der Rückkehr erfüllt. Und was ist nun mit der Erwiderungspflicht? Weit davon, in ein Verschuldungssystem zu treiben, bleibt auch ihre Erfüllung, wie schon die Gabe, der Freiwilligkeit und Großzügigkeit, diesmal der Empfängerin, überlassen. Kein Überbietungs-Potlatch weit und breit. Allerdings, in der „Reserve, […] sich ihrer [der Gabe, hier: der Festschrift] bei Nichtgefallen auf kürzestem Wege zu entledigen“, wird, das wollen wir doch hoffen, jene Erwiderungspflicht ihre Bleibe haben. Nun sind die Heraus-Gabe einer Festschrift und die Beiträge der Beteiligten ihrerseits Erwiderungen von Gaben, großzügig gewährt von der Empfängerin, in diesem Fall großherziger, als ich es je von irgendwem gesehen und erlebt habe. Niemand hat mir je so viel Schokolade geschenkt. Niederegger Marzipan. Lindt & Sprüngli (300 g-Tafeln). Nimm 2 (sic). Ich kann nur für mich sprechen – ich höre in mich hinein, und seltsam: Die Stimme von Schuld und Verschuldung höre ich
Iris Därmann: Theorien der Gabe zur Einführung. Hamburg 2010, S. 9. Därmann: Theorien der Gabe, S. 9.
6 Günther Ortmann da nicht (jedenfalls nicht sehr laut, liegt an der Großzügigkeit, mit der sie zu geben pflegt). Allerdings, dankbar bin ich schon dafür, sehr sogar, es überwiegt aber das Vergnügen an dem Hin und Her des Gebens und Nehmens, des Schlechter- und des Besserwissens, des Ballspiels, in dem Wissens- und Einfallsbälle, Gründe und Gegengründe, Fragen und Antworten, Liedzeilen, gesungen im Kanon („Heho, spann den Wagen an“), seltsame Wortschöpfungen, zarte Spitzen und zarte Retouren, Meckereien über die Politik, Witze und Klagen, Sprüche und Pfeile hin- und hergeworfen werden und es manchmal zu Themensprüngen kommt. Steht alles in Theorien der Gabe): „Der Ball, den man als Spieler gefordert ist, unmittelbar an einen geeigneten Mitspieler abzugeben“ , der macht etwas mit uns. Iris zitiert dort Serres: „Das Wir entsteht aus dem wechselnden Aufblitzen und Verdunkeln des Ich.“ Sie sagt dort sogar: „Den Ball zu werfen heißt, sich zu unterwerfen.“ Ja, und ihn zurückgeworfen zu bekommen, auch. Und sei es zwischen Berlin und Hamburg – living apart together. Manchmal apart, immer together, in Tuchfühlung. und streckt die Hand und winken mit den Augen und sagen Wünsche weinen Not sitzen an Tischen tauschen Fragen sie: was kann ich nicht und er: gedulden Friederike Mayröcker: noch leben alle die wir lieben (2)
Alle? Nein, der Eine nicht mehr. Aber von dem sagst Du: „Jedes Wort erinnert daran, dass Du es einmal ausgesprochen hast“, und Du trägst die Trauer, wie man ein Kind trägt.
Därmann: Theorien der Gabe, S. 159. Därmann: Theorien der Gabe, S. 159.
Antonio Lucci2
Die Mahlzeit der Satten Pier Paolo Pasolinis Kulturkritik des Aperitifs Als Thomas Hobbes in De Homine behauptete, „men is famished even from fu ture hunger“ , scheint er eine grundlegende historisch-anthropologische Erkenntnis zum Ausdruck zu bringen: Im Gegensatz zu dem, was Ludwig Feuer bach später behaupten sollte, ist „Der Mensch“ nicht so sehr „was er isst“ , sondern vielmehr was er nicht isst. Über weite Strecken des vorindustriellen Zeitalters (und ohne dass die Industrialisierung dem ein Ende gesetzt hätte, wie sich zeigte) war der Hunger nicht nur ein materielles, sondern auch ein kulturelles Problem aller Agrar- und Hochkulturen. Auch wenn es sicherlich nicht angemessen wäre, kulturübergreifende Praktiken wie blutige Tieropferrituale, religiöse Speiseverbote und asketische Verhaltensweisen auf bloße Bewältigungsstrategien des Nahrungsmittelmangels zu reduzieren, sollten diese allerdings nie unabhängig von diesem Bezugshorizont (sprich: dem Hunger) betrachtet werden. Die sozialen und religiösen Rituale, die die gemeinsamen Mahlzeiten begleiteten, hatten z. B. nicht nur, wie Elias Canetti in Masse und Macht prägnant darlegt, die Funktion des Aggressionsabbaus, sondern auch die Aufgabe, die faktische Lebensmittelknappheit symbolisch zu verarbeiten: Die blutigen Tier opferrituale gehörten beispielsweise zu den Ernährungsgewohnheiten und den politischen Praktiken der griechischen polis, wie die bekannten Untersuchungen zur cuisine du sacrifice von Marcel Detienne und Jean-Pierre Vernant umfassend darlegen. Das blutige Fleischopfer anzunehmen, bedeutete in der Welt der
Thomas Hobbes: On Man. übers. von Charles T. Wood, T.S.K. Scott-Craig, and Bernard Gert. In: ders.: Man and Citizen, hg. v. Bernard Gert, Gloucester, MA 1978, S. 40 (1654, X, 3). Ludwig Feuerbach: Das Geheimnis des Opfers, oder Der Mensch ist, was er ißt (1862). In: ders.: Gesammelte Werke, Bd. XI, hg. von Werner Schuffenhauer. Berlin 1990, S. 26–52. (Der berühmte feuerbachsche Spruch stammt eigentlich aus dem Jahr 1847, obwohl er erst 1850 nach Feuerbachs Rezension des Buches von Jacob Moleschott Lehre der Nahrungsmittel. Für das Volk bekannt wurde. Vgl. Werner Schuffenhauer: Vorbemerkung, S. V–X, hier: S. IX.) Vgl. Elias Canetti: Masse und Macht (1960). Frankfurt a. M. 1995, S. 244. Vgl. Marcel Detienne und Jean-Pierre Vernant: La cuisine du sacrifice en pays grec. Paris 1979, S. 10. Vgl. Detienne und Vernant: La cuisine du sacrifice, S. 10. https://doi.org/10.1515/9783111233796-002
8 Antonio Lucci polis die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft und die Annahme ihrer politi schen Regeln sowie ihrer Machtaufteilung . Die Essengewohnheiten bzw. -tabus von politisch dissidenten Gruppen wie Orphikern und Pythagoräern zeigen, dass es – gerade in der griechischen Antike – schwierig (wenn nicht gar unmöglich) ist, eine klare Grenze zwischen der symbolisch-religiösen und der politischen Bedeutung des Fastens zu ziehen. Diese performativ-politische Dimension wird noch deutlicher, wenn sie aus dem Blickpunkt einer Kulturgeschichte der Askese betrachtet wird: Der in der Öffentlichkeit exponierte Körper der Fastenden – ein emblematisches Beispiel der ‚politischen‘ Askese – wurde auf sozialer Ebene oft als provokative Instanz wahrgenommen, wie zum Beispiel eine antike juristische performance zeigt, die Maude Ellman in ihrem Buch The Hunger Artists untersucht. Im ältesten überlieferten Korpus des irischen Rechts, dem Senchus Mor (8. Jahrhundert n. Chr.), wird tatsächlich von einem bizarren Rechtsbrauch berichtet, dem trostcud, der folgendermaßen funktionierte: Wenn jemand glaubte, dass ihm/ihr von einer anderen Person höheren Ranges Unrecht zugefügt wurde, hatte sie/er das Recht, vor der Tür dieser Person zu fasten, bis diese sich verbindlich verpflichtete, den Schaden zu ersetzen. Das Versäumnis der Wiedergutmachung durch den Schuldner oder den Täter wurde automatisch bestraft: Die Person verlor das Recht, für künftiges Unrecht entschädigt zu werden. Die Frage nach asketischen Subjektivierungspraktiken, nach ihrer Rolle als kulturelle Vorbilder, nach ihrer antagonistischen ethischen Funktion findet also, wie das Beispiel des trostcud zeigt, im Falle des Hungerstreiks eine exemplarische Form. Man kann diese kulturelle Exemplarität des Hungerstreiks auf zwei Hauptgründe zurückführen: einerseits die allgegenwärtige Präsenz des Hungers als jahrtausendealtes Problem der Hochkulturen und andererseits die soziale Funktion, die die kollektiven Verhaltensweisen übernahmen, um dem Problem eine kulturelle Dimension zu verleihen. Hungersnöte, Kriege, Seuchen haben jahrhundertelang die Vorstellungswelt der Hochkulturen beherrscht, sodass die Formen der Reaktion auf den Hunger in ihren unterschiedlichsten symbolischen Kodierungen für die jeweiligen kulturellen Bezugskontexte von maßgeblicher Bedeutung waren.
Vgl. Iris Därmann: Platons politische Philosophie des Fleischesseropfers. In: Iris Därmann und Harald Lemke (Hg.): Die Tischgesellschaft. Philosophische und kulturwissenschaftliche Annährungen. Bielefeld 2008, S. 87–105. Vgl. insb. S. 93–97 für eine erhellende ex-negativo Klärung dieses Punktes aus Platons kritischer Stellung zu blutigen Opferritualen. Vgl. Maud Ellmann: Die Hungerkünstler. Hungern, Schreiben, Gefangenschaft (1993), aus dem Englischen übersetzt von Michael Müller. Leipzig 1994, S. 26–27.
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Zu Beginn des 20. Jahrhunderts, obwohl der Hunger weder im Westen noch im Rest der Welt verschwunden war, schienen die Formen der Politisierung dessen, was man als ‚Nahrungdissidenz‘ bezeichnen kann, an kultureller Bedeutung zu verlieren. Eine paradigmatische Erzählung dieser historisch-kulturellen Zäsur wurde 1922 von Franz Kafka mit dem Titel Ein Hungerkünstler veröffentlicht: Der titelgebende Hungerkünstler war ein vor aller Augen in einem Käfig eingeschlossener Performer, der die verblüffte Menge durch sein langes Hun gern in Staunen versetzte. Im Laufe der Zeit – „in den letzten Jahrzehnten“ schreibt Kafka – wurde er allerdings zunehmend vom Publikum ignoriert, weil die Gesellschaft die asketische Form des Fastens, die er auf der Bühne darstellte, nicht mehr bewunderte. Seiner Öffentlichkeit beraubt und von der Welt ignoriert, fastete der kafkasche Hungerkünstler trotzdem weiter, um am Ende seines Lebens zur Erkenntnis zu gelangen, dass er ein Hungerkünstler geworden sei, weil er nie etwas zu essen gefunden habe, das ihm wirklich schmeckte. Die Frage, die Kafka in seiner Erzählung über die Aktualität und Bedeutung des Fastens für die damalige Gesellschaft stellt, wurde wenige Jahrzehnte später von Pier Paolo Pasolini wieder aufgenommen. Pasolini, der von Thomas Macho zu Recht als Vertreter einer „metabolischen Kritik“ der Gesellschaft bezeichnet wurde, stellt in mehreren seiner Werke den Hunger als zentrales Thema dar. Die neorealistischen Filmen Pasolinis Accattone (1961) und Mamma Roma (1962) sowie die in derselben Zeit entstandenen Romane Ragazzi di vita (1955) und Una vita violenta (1959) zeigen eine westliche Welt, die das Problem des Hungers noch immer als wesentliches Anliegen kennt: Nur aus dieser Perspektive betrachtet, lassen sich die in Accattone dargestellten langen Streifzüge auf der Suche nach einem Teller Pasta sowie der Diebstahl eines Schinkens und einer Handvoll Lebensmittel am Ende des Films, der zum tragischen Tod des Protagonisten führen wird, erklären. In Mamma Roma strebt die Protagonistin (Anna Magnani) nach der Befreiung von ihrer Vergangenheit als Prostituierte den Eintritt in eine ‚anständige‘ und sichere Arbeitswelt: Während sie selbst als Obstund Gemüsehändlerin auf dem Markt des Stadtviertels ihr Geld verdient, wünscht sie sich für ihren Sohn eine Anstellung als Kellner in einer Pizzeria. In einer der eindringlichsten Szenen des Films zeigt Pasolini den Dialog zwischen Carmine und Mamma Roma. Carmine, der einst ein Freund und Geliebter Mamma Romas war, sucht diese auf, um sie um Geld zu erpressen, indem er ihr
Franz Kafka: Ein Hungerkünstler (1922). In: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 5, hg. von Max Brod. Frankfurt a. M. 1983, S. 191–200, hier S. 191. Vgl. Thomas Macho: Das Gegessene isst zurück. Pasolinis metabolische Kritik. In: Lo Sguardo 19 (2015), H. 3, S. 113–125.
10 Antonio Lucci droht, ihren Sohn Ettore über ihre Vergangenheit als Prostituierte aufzuklären. In dieser Szene wechseln verbale und physische Gewalt, Verzweiflung, Drohung und die vergeblichen Versuche seitens Mamma Romas, ihren Erpresser zu beschwichtigen, einander ab. In seiner neorealistischen Darstellung des Dialekts der römischen Vororte verzichtet Pasolini auch nicht auf eine prägnante paradigmatische Äußerung: Mamma Roma sichert Carmine in einem Anfall von Verzweiflung zu, ihm niemals einen ‚Teller Suppe‘ zu verwehren, unter der Bedingung, dass er sich von ihrem Sohn fernhält. (Carmine wird ihr Angebot zurückweisen und ihre Vergangenheit dem Sohn offenlegen – was zum dramatischen Ende des Films führen wird). Wenn in Pasolinis neorealistischen Werken der Hunger – auch als Metapher für ein ontologisches, existenzielles Bedürfnis – ein wiederkehrendes Problem darstellt, das die Protagonisten (allesamt Figuren des städtischen Subproletariats) heimsucht, so wird ab seinem Kurzfilm La ricotta (1963) die Frage nach dem Essen zu einem Thema, das Pasolini aufgreift, um eine scharfe Kulturkritik an jener Bourgeoisie zu üben, die die zentrale Rolle des Hungers im Alltag vergessen zu haben scheint. La ricotta ist ein Film im Film, in dem der Statist Stracci (Mario Cipriani) die Rolle des ‚guten‘ Schächers in einem von Orson Wells gedrehten Film über Christus spielt. Stracci ist der typische Vertreter jener subproletarischen Welt, in der die Beschaffung der täglichen Nahrung das Hauptproblem der Existenz darstellt. Er spielt als Statist nur um sich den Essenskorb zu verdienen, der ihn als Vergütung für seine Leistung erwartet. In einem tragikomischen crescendo überlässt Stracci seinen Korb zunächst seiner ausgehungerten Familie. Mithilfe einer List kann er sich zwar einen weiteren Korb verschaffen, dieser wird jedoch von dem Hund der Filmdiva (Laura Betti) gefressen. Letztlich gelingt es Stracci, sich einen ganzen Ricotta-Käse einzuverleiben, den er mit dem Geld aus dem Verkauf ebendieses Hundes erstanden hat. Der sich in einer Höhle versteckt haltende Stracci verschlingt darüber hinaus eine außergewöhnlich große Menge an Essen, das ihm die versammelte Schauspieltruppe, die ihn in seinem Schlupfwinkel aufgespürt hat, vorsetzt, um ihn zu verspotten. Kurz darauf, beim Schlagen der Filmklappe, stirbt Stracci am Kreuz aufgrund einer massiven Magenverstimmung. Die Szene, in der Stracci sich zu Tode isst, ist mit höchst symbolischem Gehalt aufgeladen. In ihrer Vielschichtigkeit verweist sie durch komplexe Bezugnahmen auf Kunstgeschichte, Kirchenmusik und Religionsgeschichte. Auffällig ist insbesondere, dass Pasolini diese Szene an einem ganz spezifischen Ort spielen lässt, nämlich in einer Höhle – der Ort der Trennung par excellence, eine Art primordiales Refugium, das die Züge eines Uterus trägt. Die Höhle steht für eine Welt, die nicht zur Welt gehört, in der der Tod und das Leben im Jen-
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seits angekündigt werden. Um die Verknüpfungen mit einer in erster Linie religiös-eschatologischen Bildwelt zu verstärken, setzt Pasolini als Hintergrundmusik zu Straccis ‚letztem Abendmahl‘ die erste Strophe der berühmten Totenmesse Dies Irae ein, dessen Komposition dem Biographen von Franz von Assisi, Thomas von Celano, zugeschrieben wird. Die Verspottung der quasichristlichen Figur Straccis in der Höhle verweist folglich auf das apokalyptische Ende der Zeit: Wenn das Subproletariat im Überfluss des Konsumismus verschwinden wird – d.h. derjenige Teil der Menschheit, der mit den einfachen, basalen Tatsachen dieser Welt verbunden ist (wie das Essen) – dann wird die Menschheit tout court verschwinden.
Abb. 1 und 2: Das letzte (opulente) Abendmahl des Außenseiters Stracci im Angesicht der versammelten Darsteller*innen, die ihn verspotten (La ricotta, 1963).
Das paradigmatische Muster dieser ‚Ernährungs-Apokalypse‘ äußert sich im schnellen Übergang von der verhängnisvollen Völlerei Straccis hin zum dekadenten Empfang/Aperitivo, der für die Angehörigen des pseudokultivierten Großbürgertums, das am Ende des Films hinzustößt, vorbereitet wird – genau im richtigen Moment, um der ‚Passio Stracci-Christi‘ beizuwohnen.
12 Antonio Lucci In diesem Kontext wird der Empfang zur Parodie einer Welt, in der die Natürlichkeit des Lebens (exemplifiziert durch den Hunger) im Namen eines Trugbildes von einer Mahlzeit – eben eines Aperitifs – vertrieben wird: ein intermezzo zwischen Mittag- und Abendessen, zwischen Hunger und Sättigung, in dem man gleichzeitig isst und doch nicht isst, in dem man trinkt und doch nicht trinkt. Die Mahlzeit der Satten.
Abb. 3: Die Tafel mit dem Aperitif, der den Vertreter*innen des Großbürgertums serviert wird, während sich gegenüber die Szene der Passio in La ricotta (1963) abspielt.
Stracci verkörpert mit seinem Körper den dramatischen Übergang zwischen zwei Welten: von einer Welt, in der der Hunger noch immer eine kulturelle Determinante war (zumindest für einen Teil der Bevölkerung, das Subproletariat) zu einer Welt, in der der Empfang die dominierende Beziehung zum Essen darstellt, bzw. in der der Hunger keine Funktion mehr auf symbolischer Ebene einnimmt. Stracci kann gar nicht anders, als einerseits die Ideale der eigenen Klasse bis zum Extrem zu verkörpern, indem er seinem atavistischen Hunger gehorcht , und andererseits die apokalyptische Niederlage ebendieser Ideale
Im Dialog zwischen Stracci und dem Christus-Schauspieler äußert Stracci diesem gegenüber, dass er mit der ‚Bestimmung‘ vor Hunger zu sterben geboren sei – eine Bestimmung, die auf das gesamte Subproletariat ausgedehnt werden kann.
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seitens der bürgerlich-industriellen Welt, zu repräsentieren. Die Zurückweisung jener Welt seitens Straccis ereignet sich im gastronomischen Exzess: Stracci isst bis er stirbt, und stirbt daher in gewisser Weise vor Hunger, da er sich einer Welt, die den Hunger auf bloßen Appetit reduziert und die Mahlzeiten verändert, nicht anpassen kann. Pasolinis „metabolische Kritik“ (Macho) an der bürgerlichen Gesellschaft findet ihre vollendete Ausdrucksform einerseits in einer christusähnlichen Figur, die stirbt, weil sie der Welt nicht mehr zurückgeben kann, was sie von ihr genommen hat, und andererseits in einer bürgerlichen Gesellschaft, die den Hunger vergessen und auf die gemeinsame Mahlzeit zugunsten eines Empfangs verzichtet hat, der zwar voll von Nahrung ist, aber keine Tischgesellschaft mehr ausmacht.
Silvia Mazzini3
Mut zur Armut
Eine öko-logische Suche Vom Minimalismus als Lebensstil bis zur Lebensmittel- oder digitalen (Selbst-)Kontrolle; vom Energie- bis zum Gassparen: Viele Reduktionspraktiken sind heute nicht nur eine Modeerscheinung, sondern sogar eine Notwendigkeit, wenn man versucht, auf die anhaltende Umweltkatastrophe zu reagieren. Sie werden oft als Neuheit dargestellt oder erlebt, haben aber ihre Wurzeln in alten westlichen und östlichen asketischen Theorien und Techniken. Viele würden über diese Feststellung die Nase rümpfen: Warum Askese? Obwohl dieser Begriff mit Kasteiungspraktiken oder Selbstverleugnung assoziiert wird, bezeichnete das Wort Askese zuerst das körperliche Training der altgriechischen Athleten: Mit wiederholten und gezielten körperlichen Übungen, einer bestimmten Diät und anderen Praktiken versuchten diese, sich nicht nur fit zu halten, sondern auch ihre Leistung zu verbessern. In seinem wortgewaltigen Werk Du musst Dein Leben ändern (2009) bemerkt Sloterdijk, dass die Askese jedoch bald über die rein körperliche Übung hinausgeht und zu einem mächtigen kulturellen Mittel wird. Durch verschiedene und wiederholte Praktiken des Selbst können bestimmte Gewohnheiten geschaffen und gefestigt werden, durch die eine Art „künstliche Natürlichkeit“ entsteht. Man denke an die Institution der Bildung und Erziehung: Gezielte Übungen und disziplinäre Praktiken wie Schreiben, Wiederholen, Auswendiglernen aber auch pädagogische Strafen und Zeitpläne usw., führen zur Ausbildung eines Individuums nach bestimmten Zielen. Bildung ist das Ergebnis von „verdeckten Übungen“; Übungen, die uns natürlich erscheinen, aber mit einer bestimmten, präzisen Richtung und Disziplin vollführt wurden. Doch wenn asketische Übungen uns helfen können, neue Gewohnheiten, neue Richtungen, neues Wissen zu schaffen; wenn sie, wie Nietzsche schrieb, zu einem Werkzeug werden können, um bessere Lebensbedingungen zu gestalten, sollten wir dann nicht bewusster und systematischer auf sie zurückgreifen? Können/sollten wir nicht verschiedene asketische Übungen und Praktiken zur „Bildung“ eines ökologischeren Lebensstils und einer ökologischeren Gesellschaft entwickeln? Anmerkung: Dieser Beitrag ist als ein Dank an Prof. Dr. Iris Därmann zu verstehen, die mir die entscheidenden Impulse gab, nicht nur die Theorien, sondern auch Praktiken der Armut zu forschen.
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16 Silvia Mazzini Auch wenn die Antwort darauf offensichtlich erscheint, müssen wir uns, wenn wir diese Praktiken kritisch kontextualisieren, mit einem unbequemen, aber grundlegenden Zweifel konfrontieren. In Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus (1920) konzentriert sich Max Weber auf die Tradition des niederländischen Calvinismus im 17. bis zum 19. Jahrhundert, in der Reichtum vor allem als Zeichen der Gnade Gottes galt. Hierzu musste das Geld gespart, angehäuft und vermehrt werden und durfte nicht dazu verwendet werden, ein reiches und bequemes Leben zu führen. Asketische Praktiken des Verzichts und des Sparens waren damals ausschließlich auf das ausgerichtet, was wir heute Kapitalbildung nennen. Das alarmierende Element aus dieser Tradition der Askese liegt in unserem Kontext meiner Meinung nach nicht nur in der ungebrochenen Bedeutung des Kapitals, sondern auch und vor allem in den Praktiken der rationalen Kontrolle und Systematisierung jedes anderen Elements des Lebens im Namen der Effizienz. Unter den verschiedenen von Weber angeführten Beispielen ist das in „administrativer“ Form geführte Tagebuch emblematisch: eine Tabelle mit einer Spalte für die guten Taten (die Einnahmen) und einer weiteren Spalte für die Sünden (die Ausgaben). Selbst das Innenleben wurde in einem solchen Kontext verwaltungstechnisch verstanden, systematisiert und durch „buchhalterische“ Praktiken kontrolliert. Übersetzt in die Gegenwart: Studien zum grünen Kolonialismus haben aufgezeigt, wie die Disziplin der Reduktion und viele als ökologisch geltende Praktiken, vom Aufbau von Windmühlenwäldern bis hin zur veganen Ernährung, auch neue Märkte eröffnen, die ein hohes Risiko mit sich bringen, wieder in das herrschende System eingegliedert zu werden – das heißt, in eine der Ursachen (wenn nicht die Hauptursache) der heutigen Umweltkatastrophe: den Spätkapi talismus mit seiner auf Produktion, Konsum und Profit basierenden Logik. Daher lohnt es sich, einen anderen Weg zu beschreiten. Einen, der die oben genannten Praktiken nicht ausschließt, aber mit einer anderen Perspektive experimentiert. Ich beginne mit der Feststellung, dass das, was ich bisher als
Friedrich Nietzsche: Zur Genealogie der Moral. In: ders.: Kritische Studienausgabe, Bd. 5, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Berlin/New York 1999, S. 245–412, hier S. 365–367. Nietzsches Gegenüberstellung zur Askese ist viel komplexer und kann leider hier nicht betrachtet werden: siehe Thomas Macho: Die neue Askese. In: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 544 (1994), H. 7, S. 583–593 und Antonio Lucci: La stella ascetica. Ascesi e soggettivazione in Friedrich Nietzsche. Rom 2020. Max Weber: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. Wiesbaden 2016, S. 106–107. Siehe Guillaume Blanc: The Invention of Green Colonialism. Cambridge 2022; Peter G. Brown und Peter Tillermann: Ecological Economics for the Anthropocene. Cambridge 2015.
Mut zur Armut 17
Praktiken der Reduktion bezeichnet habe, in der asketischen Tradition als Ar mut benannt wird. Der Begriff der Armut wirkt schrill, wenn nicht gar beleidigend, wenn man ihn auf moderne asketische Praktiken anwendet: Denn einen minimalistischen Lebensstil zu führen, sich umweltbewusst zu ernähren, Bioprodukte zu kaufen usw., kann sich nur leisten, wer überhaupt etwas zu reduzieren und aufzugeben hat. Deshalb unterscheide ich zwischen „gewählter Armut“ und „erworbener Armut“. Erstere umschreibt die oben beschriebene Askese als Verzicht, Reduktion und/oder als aktive Übung zur Erreichung eines bestimmten Ziels. Während das, was ich als „erworbene Armut“ bezeichne, als ein in gewissem Sinne passiver Mangel zu verstehen ist. Oft quantitativ als Geldund Ressourcenknappheit definiert, ist diese Form von Armut ein als problematisch erlebter Zustand, in den man geworfen wird. Doch gerade dieser Mangel ist der archimedische Hebel, auf den einige Künstler*innen und Denker*innen seit langem auch ihre Hoffnung setzen, um die gesellschaftliche Ordnung nicht nur zu verbessern, sondern radikal zu ver ändern. Hier werde ich die Armutstheorie des italienischen Philosophen Toni Negri erwähnen. Toni Negri entwickelte parallel zu seinem politischen Engagement in den 1960er Jahren, bei dem er in direktem Kontakt mit der Arbeiterklasse stand, um deren wirtschaftliche Probleme und Zwänge zu bekämpfen, eine Studie zur Analyse ihres subversiven Potenzials. Insbesondere stellte er fest, dass der Arme, indem er dem Mangel an Besitz und Produktionsmitteln ausgesetzt ist, „nackt“ ist: „[...] il corpo, nella sua nudità, è costretto all’esperienza dell’innovazione sull’orlo dell’essere [...]“ [Der Körper in seiner Nacktheit wird zur Erfah rung der Innovation am Rande des Seins genötigt]. Diese physische und zugleich existentielle Nähe zum Leben und seinen Grenzen, zur Notwendigkeit der zu beschaffenden Primärgüter, macht die Armut zu einer Kraft. Diese ist (noch?) nicht als Macht (potere, lat. und it.), sondern als Potentialität (als potentia, im
U. a. von Nietzsche, der Armut zusammen mit Demut und Keuschheit als Hauptsäule der Askese sah. Vgl. Nietzsche: Zur Genealogie der Moral, S. 352. Ein Beispiel der Vermischung dieser zwei Bedeutungen ist die Figur des Hungerkünstlers. Siehe Barbara Gronau: Askese als Norm. In: Andreas Ellmeier, Doris Ingrisch, Claudia Walkensteiner-Preschl (Hg.): Körper/Denken. Wien u.a. 2016, S. 53–68. In seinem Buch Der Philosoph und seine Armen (1983), hat Rancière darauf hingewiesen, wie seit dem Beginn des Nachdenkens über Armut bis in die Tradition des Marxismus hinein Armut immer auch idealisiert und romantisiert wurde. Dies ist ein zweiter methodologischer Zweifel, den es zu berücksichtigen gilt, wenn es um eine Erforschung der sozialen Implikationen von Armut in Theorie und Praxis geht. Antonio Negri: Kairos, Moltitudo, Alma Venus. Rom 2000, S. 83–84 (eigene Übersetzung).
18 Silvia Mazzini philosophischen Sinne) zu verstehen. Die Kraft der Armut kann ein Motor sein, der Möglichkeiten und Alternativen eröffnet. Sie versucht, aus dem Vorhandenen im gegenwärtigen System herauszukommen, um neue Mittel und Lösungen zu erfinden und zu verwirklichen. Das ist es auch, was Negri als „potente povertà“ (machtvolle Armut) bezeichnet, und was ich mit dem Begriff powerty (the power of poverty) beschreiben möchte. Für mich als Italienerin ist die Pizza ein wunderbares Beispiel für die Kraft von Erfindungen eines armen Volkes: Aus den einfachsten Zutaten (Mehl, Wasser, ein Stein zum Backen) entsteht durch Kreativität eine Innovation, die sättigt und den Gaumen eines jeden unvergleichlich bereichert. Aber ich stütze mich hier exemplarisch eher auf zwei andere Techniken und Praktiken der powerty. Die erste wurde mindestens bis in die 1940er Jahre in der bäuerlichen Wirtschaft auf dem Lande in Italien angewandt und unlängst durch den Schriftsteller Emanuele Trevi in einem Interview noch einmal genauer beschrieben. Trevi erinnerte sich daran, wie im Dorf seiner Großmutter eine Frau ihr Schwein regelmäßig zu den anderen Dorfbewohner*innen brachte, damit diese dessen anfallenden „Biomüll“ für die Düngung der Gärten und Felder verwerteten. Trevi stellte fest, dass dadurch nicht nur das Schwein gefüttert, sondern auch das Problem des Abfalls in einem positiven Kreislauf aus Konsum und Produktion gelöst wurde. Ich behaupte sicher nicht, dass es möglich ist, solche Praktiken tout court in der heutigen Gesellschaft wieder einzuführen, aber dieses Beispiel zeigt gut, wie der Mangel dazu drängt, die Perspektive zu erweitern, den Blick nach außen zu richten. Da „etwas fehlt“, ist man gezwungen, aus der eigenen Ordnung und dem eigenen System herauszugehen und sich dem Neuen zu öffnen. Hierbei geht es also nicht um Techniken des Selbst, sondern um Techniken außerhalb des Selbst, das heißt, um das Verhältnis zu, die Beziehung mit jemandem oder etwas Anderem. Beziehung und Offenheit können wertvolle Hinweise und Inspirationen sein, um der totalisierenden Logik des Profits, der Gefangenschaft in einem einzigen System zu entkommen (wie oben am Beispiel Webers erwähnt). Durch die Schaffung von Beziehungen mit dem Anderen und dem Außen wird eine ÖkoLogie (ein Diskurs nicht nur über, sondern auch mit dem Anderen und der Umwelt) freigesetzt, jenseits der Öko-Nomie (Nomos, Vorschriften, oft auferlegt oder als solche erlebt).
In einem Radiointerview vom 28. April 2022, auf Radio 3 RAI, ,,I tipi Pasoliniani“ [letzter Abruf 30.08.22]: (https://www.raiplaysound.it/audio/2022/04/I-tipi-pasoliniani-Ep13-EmanueleTrevi-8d929d6e-86ea-45cd-92be-6d54e8968907.html)
Mut zur Armut 19
Letztes Beispiel: das Kinderkrankenhaus in Entebbe, Uganda, das von Renzo Piano für die gemeinnützige Organisation Emergency entworfen und 2021 eröffnet wurde. Das Projekt kostete 23 Millionen Euro – ein dürftiges Budget für ein Spitzenkrankenhaus. Piano entschied, bei den Materialien und der Isolierung so weit wie möglich lokale, „arme“ Techniken und Materialien zu verwenden (zum Beispiel gepressten Lehm), die sich sowohl in Bezug auf die Wirtschaftlichkeit als auch auf die Nachhaltigkeit hervorragend bewährt haben. Wie im vorherigen Beispiel ging es darum, sich von Techniken und Praktiken inspirieren zu lassen, die mit den Menschen, ihrer Tradition und dem lokalen Umfeld in Verbindung stehen: nicht auf der Suche nach der schnellsten und effizientesten Lösung, sondern nach einer Offenheit, die auch, aber nicht nur, durch das Fehlen erheblicher Mittel bedingt war. Der Diskurs ist viel komplexer und muss an anderer Stelle weiter entwickelt werden. Der Begriff der „gewählten Armut“ mit den erwähnten zeitgenössischen Praktiken sollte nicht von vornherein verworfen werden: Man denke nur an die kraftvollen Implikationen, die Foucault in seiner meisterhaften Interpretation des asketischen Lebens der Kyniker in Mut zur Wahrheit aufzeigt. Doch jenseits der Tradition der gewählten Armut liegt ein – wenn auch etwas paradoxer – Schatz an Ressourcen und Innovationen, in der die Techniken und Praktiken der „erworbenen Armut“ wiederentdeckt, neu interpretiert und recycelt werden können. Und so könnte ein anderes öko-logisches Motto entstehen: Mut zur Armut. Oder besser gesagt: Mut zur Powerty.
Für weitere Implikationen siehe Silvia Mazzini: Das Prinzip Nachhaltigkeit. In: Doris Zeilinger (Hg.): Assoziation. Berlin 2021, S. 211–226. Für eine philosophische, originelle Interpretation der Armut als Instrument der Franziskaner verweise ich auf Giorgio Agamben: Höchste Armut. Ordensregel und Lebensform. Aus dem italienischen v. Andreas Hiepko. Frankfurt a. M. 2016.
Bernhard Waldenfels4
Nehmendes Geben, gebendes Nehmen Iris Därmann macht sich in ihrem großen Werk Fremde Monde der Vernunft, das ich in erster Linie heranziehe, auf eine weitläufige „Gabeweltreise“. Sie folgt dabei den Spuren von Marcel Mauss, und bedient sich aber auch des Rüstzeugs einer weit gefaßten Phänomenologie. So gelangt sie zu einer fremdenfreundlichen Form von Ethnophänomenologie, die sich von den Einseitigkeiten einer Europhänomenologie absetzt und sich mit der von mir anvisierten responsiven Phänomenologie vielfach überkreuzt. Die Gabe, die innerhalb einer jeden Kultur und zwischen den verschiedenen Kulturen hin- und herwandert, findet ihr Pendant in einem grundlegenden Prozess des Antwortgebens, mittels dessen wir in Wort und Tat und mit all unseren Sinnen auf fremde Zumutungen eingehen. Das Grundwort der Responsivität habe ich dem deutsch-jüdischen Neuropsychologen Kurt Goldstein entlehnt, der Krankheit als mangelnde Responsivität versteht, sowie dem russischen Literaturtheoretiker Michail M. Bachtin, der den Dialog in einen Polylog verwandelt, innerhalb dessen jedes gesprochene und gehörte Wort als „halbfremdes Wort“ erscheint. Das Kernmotiv des Fremden, das eine Brücke bildet zwischen der Ethnologie als einer Lehre vom kulturell Fremden und einer Phänomenologie der radikalen Fremderfahrung, stellt uns vor die Frage, wie wir mit dem Phänomen des Fremden umgehen können, ohne ihm mit den Vorbehalten eines „possessiven Individualismus“, durch aneignendes Verstehen oder mit dem Einsatz technologischer Apparaturen seine Fremdheitsqualität zu rauben. Wie geht es zu, dass wir uns auf etwas beziehen, das da ist, indem es sich entzieht, beginnend mit der eigenen Geburt, der Muttersprache und dem eigenen Namen? Das Zwischenereignis des Antwortens entfaltet hier seine Kraft. Denn Antworten bedeutet, radikal verstanden, dass wir von anderswoher reden und handeln und nicht in erster Linie aus uns selbst schöpfen. Alles Antworten unterliegt einer responsiven Differenz. Das Worauf unseres Antwortens übersteigt das Was des Antwortens, es sei denn wir geben nur wieder, was wir schon haben. Alle Kreativität, ohne die es nichts Neues gäbe, hat einen responsiven Charakter. Mit Arnold Toynbee zu reden folgt die individuelle ebenso wie die kollektive Erfahrung einem Zweitakt von Challenge und Response. Dies trifft zu auf alle intra- und interkulturelle Erfahrung. Mit der Versicherung, der Mensch sei nicht Herr im eigenen Hause, mischt sich Freuds Psychoanalyse ein, die für Iris Därmann von Anfang an das Vorgehen von Ethnologie und Phänomenologie begleitet, indem sie nicht nur in die Abgründe des eigenen und des familiären Daseins, sondern https://doi.org/10.1515/9783111233796-004
22 Bernhard Waldenfels auch in die Abgründe einer kulturellen Vorgeschichte hineinleuchtet. Der Bogen, den die Autorin schlägt, spannt sich von Husserl und Heidegger, Dilthey und Cassirer, Merleau-Ponty und Levinas über Freud und Derrida bis zu den Protagonisten der neueren Ethnologie. In dem großen Werk, das einer „ethnologischen Provokation der Philosophie“ Ausdruck verleiht, spürt Iris Därmann dem Fremden nach, indem sie viele Anzeichen des Fremden befragt. Doch leiten lässt sie sich von Marcel Mauss, dem Ethnologen aus der Schule von Émile Durkheim, indem sie im Buchtitel „fremde Monde der Vernunft“ beschwört. Der Vernunft? Wie wir sehen, geht es nicht um eine reine Vernunft; würde der Logos das Pathos überschatten, so würde er seine eigene Herkunft verleugnen. In dem astronomischen Leitbild, das uns voran leuchtet, tritt Helios, der alles überstrahlende Sonnengott, zurück hinter der Mondgöttin als einem Planeten, wörtlich einem „Irrstern“, mit dem wir die Himmelsbahnen durchwandern. Dabei verschwindet die maskuline Form „des Mondes“, die zu den Idiosynkrasien der deutschen Sprache gehört, nicht nur in der Mehrzahl „der Monde“, der Mond nimmt als Selene oder Luna selbst eine weibliche Form an. Deutschsprachige Dichter zögerten nicht, die astrale Maskulinisierung poetisch zu korrigieren. So wendet Goethe sich in einem nächtlichen Gedicht an Luna als „Schwester von dem ersten Licht, Bild der Zärtlichkeit in Trauer!“, und in den Versen Hölderlins, die abends bei Brot und Wein angestimmt werden, glänzt der Mond ebenfalls in weiblicher Gestalt als „Fremdlingin unter den Menschen, über Ge birgshöhn traurig und prächtig herauf!“ Dies sind Töne, die eher in dem frühen Werk unserer Autorin, im Umkreis einer An- und Abwesenheit von „Bild und Tod“, ihren Ort oder ihren Nicht-Ort finden. Doch mit der Mondsprache und den Mondphasen ist es allein nicht getan. Der sichtbare Mondschein zeichnet sich dadurch aus, daß die Sonne als Lichtspenderin sich hinter dem Mond als erstem Lichtempfänger verbirgt. Damit bin ich beim Kernthema des Gebens und Nehmens. Dabei geht es keineswegs um die bloße Ergänzung eines aktiven Gebens durch ein passives Nehmen, vielmehr stoßen wir auf eine synkretistische Verquickung und eine chiasmatische Überkreuzung von Geben und Nehmen, von Nehmen und Geben. Auf diese Weise öffnen sich Wege zu einer Ethnophänomenologie, die von Iris Därmann mit großer Entschlossenheit und Findigkeit beschritten werden.
Johann Wolfgang Goethe: An Luna. In: ders.: Sämtliche Werke. Bd. 1, hg. von Christian Beutler. Zürich 1977, S. 38. Friedrich Hölderlin: Brot und Wein. In: ders.: Gedichte, hg. von E. Müller. Stuttgart 1952, S. 361.
Nehmendes Geben, gebendes Nehmen 23
Der Linguist Émile Benveniste, ein etwas jüngerer Zeitgenosse von Marcel Mauss, weist in seinem Essay „Gabe und Tausch im indoeuropäischen Wortschatz“ darauf hin, dass die beiden Grundverben des Gebens und Nehmens sich nicht nur nur durch eine Polarität auszeichnen wie die Verben ‚kaufen‘ und ‚verkaufen‘, sondern zusätzlich durch eine bemerkenswerte „semantische Ambiva lenz“ , die schon im Griechischen in der Zweiheit von lambanien als ‚einem (an sich) nehmen‘ und dechesthai als einem ‚(auf- und an)nehmen‘ oder in dem englischen Wort ‚gift‘ zum Ausdruck kommt. Die Ambivalenz zeigt sich auf prägnante Weise an jenen Knotenstellen, die Iris Därmann mitten in den Praktiken der Gabe aufdeckt und im Schlusskapitel ihres großen Buches als das „Gift der pazi fischen Gaben“ vorstellt. Diese Verknotung betrifft erstens die wechselseitige Verquickung von Person und Sache im Akte des Gebens. Mauss betont, „daß etwas geben soviel heißt, wie etwas von sich selbst geben“ . Die Gabe ist kein neutrales Drittes, das von einer Person zur anderen wandert, sondern ein Zwischending, in dem sich etwas von mir als Geber und vom Anderen als Nehmer verkörpert wie etwa in dem Ritual des Pfandes. Das Geben und Nehmen spielt sich also zwischen uns ab als ein Kommen und Gehen. Etwas oder jemand kommt auf mich zu, bevor ich selbst darauf zugehe. – Hinzukommt zweitens, dass von der Kraft, die der Sache innewohnt, ein Zwang zur Erwiderung ausgeht. In diesem Sinne spricht Mauss von einer „verfremdeten Empfängerpersönlichkeit“. Empfänger oder Empfängerin sind nicht schlicht bei sich. Ich selbst spreche in diesem Zusammenhang von einer „Unausweichlichkeit“ der Antwort, die den Respondenten erst zu dem macht, was er oder sie ist. Wir können nicht nicht antworten, so wie wir laut Paul Watzlawick nicht nicht kommunizieren können. Es gibt keinen sozialen Nullpunkt. Ethnologische und phänomenologische Befunde kommen darin überein, dass traditionelle Gegensatzpaare wie Subjekt und Objekt, Aktion und Passion, Sein und Sollen und auch die defizitäre Betrachtung des Fremden, all das, was dem westlichen Denken so lieb und teuer ist, einer Revision unterzogen wird, die „von den Sachen selbst“ ausgeht und nicht von ideologischen Vorlieben. Die Provokationen enden nicht bei der Gabe. Die Autorin hat ein weiteres großes Buch folgen lassen, in dem sie unter dem Stichwort Undienlichkeit der Gewalt zu Leibe rückt, die sich in der Gewaltgeschichte des Sklaverei über Jahr-
Émile Benveniste: Probleme der allgemeinen Sprachwissenschaft. München 1974, S. 352. Iris Därmann: Fremde Monde der Vernunft. Die ethnologische Provokation der Philosophie. München 2005, S. 701. Marcel Mauss: Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften. In: ders.: Soziologie und Anthropologie II. München, S. 11–144, hier S. 26.
24 Bernhard Waldenfels hunderte hin niedergeschlagen hat und die zu den kolonialistischen Schatten der Ethnologie gehören und sie von den Verharmlosungen einer bloßen Exotik befreien. Hier stoßen wir auf die Schnittstelle von Fremdheit und Feindschaft, die bis auf die Ausgrenzung der sogenannten Barbaren im klassischen Altertum zurückgeht und die wir zur Zeit in der Ukraine Tag für Tag auf neue Weise erleben. Die Provokationen, die den Rahmen von Sinn und Regel sprengen, erfordern immer neue Antworten. Dazu gehört auch die abweichend-heilende Form des Par-don, der Ver-gebung, die allerdings nicht gefordert, sondern nur erbeten werden kann.
Evke Rulffes5
Der Feind an meinem Tisch Gäste können einem ziemlich auf die Nerven gehen. Vor allem, wenn es nicht gute Freund*innen sind, die sich über einen Topf Nudeln mit Tomatensoße oder eine Pizzalieferung freuen, sondern gesellschaftliche Regeln beachtet werden müssen, mit denen man sich positioniert, zum Beispiel in der neuen Nachbarschaft oder bei Geschäftsessen. Gibt es Prosecco, Crémant oder Champagner? Wie viel darf/sollte der Wein kosten? Wie viele Gänge gibt es? Muss das Essen selbst gekocht sein oder bestellt man einen Caterer? Mit Personal? Was als geizig oder umgekehrt als protzig gilt, ist immer wieder neu auszutarieren, gerade, wenn man im Beruf aufgestiegen ist und die Gäste – vielleicht? – aus einem wohlhabenderen Umfeld kommen als man selbst und man die Codes noch nicht beherrscht. Diese Erfahrung muss auch Arnibalde machen, eine fiktive Figur in einem Haushaltsratgeber vom Ende des 18. Jahrhunderts. Arnibalde, Witwe und Kriegsgewinnlerin, wurde aufgrund ihres Vermögens von einem sehr viel jüngeren Mann in einen höheren Stand geheiratet – ob ins gehobene Bürgertum oder in den niederen Landadel, erfahren wir nicht, weil der Autor, Christian Friedrich Germershausen, diese Schicht insgesamt als „Mittelstand“ bezeichnet. Auf jeden Fall spielt sich die Szene auf einem ländlichen Gutshof ab. In ihrem neuen Stand gibt Arnibalde zum ersten Mal ein Essen für die Nachbarn und macht dabei in einer Mischung aus angewöhntem Geiz und fehlplatzierter Großzügigkeit bzw. Verschwendung aus Unerfahrenheit alles falsch, was man falsch machen kann. Das bedeutet neben ästhetischen Verfehlungen – die Tischdecke ist gelblich und nicht gebügelt, die Ausstattung passt nicht zusammen, Butter wird in einer Büchse auf den Tisch gestellt und ist weder mit Mustern, noch mit Blumen verziert – und der Verletzung von hygienischen Standards – es werden Innereien von einem kranken Ochsen serviert, die Butter ist von Kuhhaaren durchzogen – vor allem: Das servierte Essen ist dem Stand der geladenen Gäste (und dem Stand des Ehemanns) nicht angemessen. Es gibt eine dünne Bohnensuppe, alte Hühner, die ohne Kopf, Hals, Flügel und Füße serviert werden, weil sie sonst nicht in den Topf gepasst hätten; Schwein wird mit Meerrettich statt mit Pflaumen gereicht, Käse und Butter in Resten auf den Tisch gestellt. Für zeitge-
Christian Friedrich Germershausen: Die Hausmutter in allen ihren Geschäfften, Bd. 1. Leipzig 3 1782, S. 429–465. https://doi.org/10.1515/9783111233796-005
26 Evke Rulffes nössische Leser*innen erschließen sich mehrere Grenzüberschreitungen, die für uns nicht sofort sichtbar sind. Huhn mit Kopf und Füßen zu servieren, würde heute wohl eher als Affront gesehen, nicht als Zeichen höheren Standes, und ob es Pflaumen oder Meerrettich gibt, als Frage des Geschmacks gedeutet. Eine weitere Falle beim Gastessen ist das andere Extrem: die Großkotzigkeit. Arnibalde macht natürlich auch diesen Fehler, sie hat für den Nachtisch Baumkuchen bei einem sehr teuren Konditor in der Stadt bestellt – passend für einen Anlass wie eine Hochzeit. Der schlimmste Fehler aber ist, dass sie in anderer Hinsicht zu großzügig bzw. – in den Augen der Gäste – verschwenderisch ist: nämlich bei der Verköstigung des Gesindes. Dass die Kutscher der Gäste eine Fleischsuppe bekommen, während die Gäste nur eine Bohnensuppe erhalten, macht die Verfehlung noch deutlicher. Und das gilt auch für den Meerrettich zum Schwein, den aufmerksame Leser*innen des Ratgebers für ein Gericht im Gesindekochbuch, nicht im Herrschaftskochbuch finden, was es ganz klar codiert. Der Leserschaft wird das alles vor Augen geführt von einem besonders renitenten Gast: Eine junge Nachbarin mit dem sprechenden Namen Critippa führt die Gastgeberin vor versammelter Gesellschaft vor und macht sie mit viel Ironie auf ihre Fehler aufmerksam. Der Wechsel in einen neuen Stand ist möglich – aber dann müssen die Grenzen wieder ordentlich gezogen werden, und das funktioniert über das Essen. Der unangenehmste Gast, der im Ratgeber vorkommt, ist übrigens der Autor selbst. Er belehrt seine Gastgeber darüber, was das seiner Meinung nach angemessene Essen für „den Mittelmann“ ist, indem er Gerichte, die er dem Hochadel zuordnet, zurückgehen lässt und über diese als dekadent lästert. In diesem Fall sind das farcierte Speisen, die seiner Meinung nach zur Unkenntlichkeit verarbeitet worden sind. Er plädiert für bürgerliche Hausmannskost, die durch die Einfachheit der Zubereitung den „wahren“ Geschmack der Grundzutat nicht verfälscht. Das Mittel, das der Autor bei Arnibaldes Geschichte einsetzt, ist die Angst, zum Spott der Leute zu werden. Diese Situation lässt sich hundert Jahre später verschärft wiederfinden. Es geht immer noch um die bürgerliche Schicht, die aber im 19. Jahrhundert so rapide gewachsen war, dass sich der Lebensstandard, den unser Autor für angemessen hielt, nicht mehr halten ließ. Sibylle Meyer betrachtet in ihrer Studie Das Theater mit der Hausarbeit exemplarisch eine bestimmte gesellschaftliche Gruppe, in der diese Situation kulminierte: gut ausgebildete Beamte, Juristen und Offiziere, die um die wenigen Stellen konkur-
Germershausen: Die Hausmutter, S. 136. Germershausen: Die Hausmutter, S. 358–359.
Der Feind an meinem Tisch 27
rierten. Um aufsteigen zu können, mussten sie einen Wohlstand simulieren, der als angemessen galt. Am deutlichsten wird das bei Gastessen, von denen der weitere Verlauf der Karriere abhing. Chef und Kollegen inklusive Ehefrauen wurden eingeladen; für den Verlauf des Abends, und damit den potentiellen Aufstieg des Mannes, war die Gastgeberin zuständig. Sie musste den Abend über die Gäste unterhalten und so tun, als ob sich im Hintergrund ein großer Stab an Personal um das Essen kümmerte – in Wirklichkeit konnte sich diese Schicht nur noch die Anstellung eines ‚Mädchens für alles‘ leisten. Mit diesem Dienstmädchen hatte die Ehefrau das Essen in den Tagen zuvor vorbereitet und für den Abend einen Diener gemietet, der servierte. Geschirr und Besteck wurden für den Anlass ebenfalls geliehen. Die Mode hatte sich vom Servieren à la française zu à la russe geändert: Es gab nicht mehr mehrere Gerichte auf einmal, von denen man sich am Tisch bediente, sondern die Gänge wurden nacheinander auf Tellern serviert, was sehr viel mehr Arbeitsaufwand, Geschirr und Besteck erforderte. Für den Fall, dass das Besteck für die vielen Gänge nicht reichte, hatte eine Zeitschrift einen Tipp: Das Besteck nach dem zwischenzeitlichen Abwasch in kaltes Wasser legen, damit die Gäste es nicht merken. Die nämlich waren in der gleichen Situation wie das Gastgeberpaar und warteten nur darauf, dass ein Fehler passierte. Schließlich standen sie in direkter Konkurrenz zueinander. Somit stand die Gastgeberin unter enormem Druck; die Angst vor den Gästen war durchaus berechtigt, jeder Fehltritt konnte den Aufstieg gefährden. Die Simulation des Wohlstands ließ sich nur über die Ausbeutung der Ehefrau bewerkstelligen, und so entstand das Konzept der bürgerlichen Hausfrau: Die Ehefrau musste immer mehr Aufgaben, die früher von (wenn auch schlecht) entlohnten Expert*innen ausgeführt wurden, unbezahlt übernehmen. Außerdem war es gesellschaftlich verpönt, dass die Ehefrau Erwerbsarbeit leistete (was sich aber nur eine sehr kleine Schicht leisten konnte), so dass sie ihre Arbeit, meistens textile Heimarbeit, verstecken musste. So wurde weibliche Arbeit in der bürgerlichen Schicht unsichtbar – die Lohnarbeit musste versteckt werden, ebenso wie die Hausarbeit. Die ökonomisch-gesellschaftliche Zwangslage wurde in den Haushaltsratgebern umgedeutet mit dem Argument, die Frauen sollten den Haushalt aus Liebe zum Ehemann übernehmen. Henriette Davidis, erfolgreiche Kochbuchautorin, riet den Frauen dazu, keine Köchin einzustellen, sondern selbst zu kochen. Das spare nicht nur Geld, sondern schmecke auch besser, und bekanntlich ginge Liebe bei Männern durch den Magen. Warum es
Sibylle Meyer: Das Theater mit der Hausarbeit. Bürgerliche Repräsentation in der Familie der wilhelminischen Zeit. Frankfurt a. M./New York 1982. Meyer: Das Theater mit der Hausarbeit, S. 59.
28 Evke Rulffes besser schmecken soll, wenn eine Laiin statt der Expertin kocht, ist mir bis heute ein Rätsel, aber fortan wurde das Glück in der Ehe mit den Kochkünsten der Ehefrau in einen kausalen Zusammenhang gebracht. Noch absurder wird die Situation, wenn die Ratgeber von den Frauen verlangen, dass sie die Hausarbeit sogar vor ihrem eigenen Mann verstecken und ihn zu Hause wie einen Gast behandeln sollen. Hier wird die Verschiebung der Machtverhältnisse in der Ehe deutlich: Galt das Ehepaar im 18. Jahrhundert auch im Bürgertum noch als Arbeitspaar, das gemeinsam zum gemeinsamen Vermögen beiträgt, so leistet die Ehefrau in der bürgerlichen Gesellschaft unsichtbare und unbezahlte Arbeit. Mit der ‚Hausfrauenehe‘ schrieb das Bürgerliche Gesetzbuch das dann allen verheirateten Frauen gesetzlich vor (in der BRD wurde die Hausfrauenehe de facto erst 1977 wieder abgeschafft, obwohl sie schon längst mit dem inzwischen in Kraft getretenen Grundgesetz kollidierte). Nicht nur, dass die Arbeit dadurch entwertet wird, sie hört auch nie auf – die Hausfrau ist diejenige, die nie Feierabend oder Urlaub hat oder in den Ruhestand geht. Die ‚Empfangenden‘ nehmen das als Normalität und sind so renitent wie die Gäste, wenn es nicht nach ihrer Vorstellung läuft. Der Wirtschaftswissenschafter Kenneth Galbraith beschrieb die Verbreitung des Hausfrauenmodells lakonisch als „ökonomische Leistung ersten Ranges“, die zur Folge hatte, dass „fast dem gesamten männlichen Bevölkerungsteil eine Ehefrau als Dienerin zur Verfügung“ stand – denn unser ökonomisches System funktioniert gut damit, dass kein oder kaum Geld für Care-Arbeit ausgegeben werden muss.
Henriette Davidis: Die Hausfrau. Praktische Anleitung zur selbständigen und sparsamen Führung von Stadt- und Landhaushaltungen. Leipzig 1870, S. 53. Gisela Bock und Barbara Duden: Arbeit aus Liebe – Liebe als Arbeit. Zur Entstehung der Hausarbeit im Kapitalismus. In: Gruppe Berliner Dozentinnen (Hg.): Frauen und Wissenschaft. Beiträge zur Berliner Sommeruniversität für Frauen. Berlin 1977, S. 118–199, hier S. 119. John Kenneth Galbraith: Wirtschaft für Staat und Gesellschaft. München 1974, S. 51.
Stefan Willer6
Das Erbe empfangen Dies Erben ist zugleich Empfangen und Antreten der Erbschaft; und zugleich wird sie zu einem Stoffe herabgesetzt, der vom Geiste metamorphosiert wird. Das Empfangene ist auf diese Weise verändert und bereichert worden und zugleich erhalten.
Die Sätze aus Hegels Heidelberger Antrittsvorlesung von 1816 können einige Gedanken darüber eröffnen, was es heißt, ein Erbe zu empfangen. Das gilt besonders deshalb, weil das Empfangen hier von vornherein Teil einer passivisch-aktivischen Doppelbewegung ist: „Empfangen und Antreten der Erbschaft“. Dieses Doppel ist wiederum nur eine Seite dessen, was hier Erben heißt. Entscheidend hinzu kommt die Verwandlung des Ererbten, ein Vorgang, bei dem die zum bloßen „Stoffe“ gewordene Erbschaft verschiedentlich transformiert wird: „verändert“, „bereichert“ und „erhalten“. Dass diese Metamorphose „vom Geiste“ vorgenommen wird, zeigt deutlich an, dass es hier nicht um den Umgang mit Erbstücken, Immobilien oder monetarisierbarem Vermögen geht, sondern um Immaterielles, und zwar im durchaus idealistischen Verständnis. Trotzdem ist es von Interesse, sich zu vergegenwärtigen, wie es innerhalb der materiellen Eigentumsübertragung ‚von Todes wegen‘ um das Empfangen bestellt ist. In der Sprachregelung des Bürgerlichen Gesetzbuchs ist der Tod selbst der „Erbfall“, mit dem das „Vermögen (Erbschaft) als Ganzes auf eine oder mehrere andere Personen (Erben)“ übergeht. Nicht von ungefähr sind der Definition dieses Moments, der „Zeit des Erbfalls“, im BGB mehrere Paragraphen gewidmet; so wird etwa die Regelung getroffen, dass, wer „zur Zeit des Erbfalls noch nicht lebte, aber bereits gezeugt war, […] als vor dem Erbfall geboren“ gilt. Aus der Perspektive der Erbenden, d.h. der Weiterlebenden, trägt der Erbfall die Bezeichnung „Anfall der Erbschaft“. Dass mit dem Moment des Todes ein Erbe ‚anfällt‘, ist nicht verhandelbar: „Die Erbschaft geht auf den berufenen Erben unbeschadet des Rechts über, sie auszuschlagen“. Selbst im Fall einer Ausschlagung wird also zunächst vererbt. Trotzdem gibt es immer die Alternative, den Empfang des Erbes zu bestätigen oder zu verwei-
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I. In: ders.: Werke, Bd. 18, hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Frankfurt a. M. 1986, S. 22. Bürgerliches Gesetzbuch. 77., überarbeitete Auflage. München 2016, § 1922. Bürgerliches Gesetzbuch, § 1923. Bürgerliches Gesetzbuch, § 1942. https://doi.org/10.1515/9783111233796-006
30 Stefan Willer gern; daher sind „Annahme und Ausschlagung der Erbschaft“ im BGB aus führlich geregelt. Warum man eine Erbschaft ausschlagen sollte, wird dabei nicht gesagt, doch klarerweise kann durch Vererbung nicht nur Haben, sondern auch Soll übertragen werden: vererbte Schulden oder schuldhaft erworbenes Vermögen, oder auch: Vermögen, dessen erblicher Erwerb mit Schuldgefühl verbunden ist bzw. wäre. All dies können Gründe sein, ein Erbe auszuschlagen, wobei man allerdings nicht nach Gutdünken verfahren kann: „Die Annahme oder Ausschlagung eines Teils ist unwirksam.“ Wer erbt, der erbt – und zwar alles, denn das Erbe im zivilrechtlichen Sinn ist eine „Gesam trechtsnachfolge“. Die Generalisierung des Erbes ist ein Effekt der zivilrechtlichen Reformen des 18. und 19. Jahrhunderts. Damit änderten sich vorgängige Rechtsordnungen, in denen nur das individuell Erworbene ‚eigen‘ war, während das Ererbte immer als Erbe gekennzeichnet blieb. Diese ältere Aufteilung lässt sich etwa dem Artikel „Erb und Eigen“ in Zedlers Universal-Lexicon entnehmen: „[E]in Erbe ist, was ich von meinen Eltern her habe, ein Eigen aber, dass von mir selbsten ist erworben worden.“ Demgegenüber entstand mit dem bürgerlichen Verständnis von Eigentum eine Homogenität von Erb und Eigen. Seitdem kann alles, ob erworben oder ererbt, unterschiedslos in ein und dasselbe Eigentum eingehen, und alles, was Eigen ist, wird unterschiedslos vererbt. Dennoch bleiben vielfältige Spannungen zwischen Erben und Erwerben bestehen. Das Erbe kann als schlechthin „unverdientes Vermögen“ gelten und wirkt sich doch erheblich auf individuelle Verdienst- und Erwerbsmöglichkeiten aus. Und die zivilgesetzliche Erbfolge, die die Familie ins Zentrum des Erbrechts stellt, lässt sich zwar – so wiederum Hegel in seiner Rechtsphilosophie – gegen die Testierfreiheit und die damit einherge hende „Willkür des Verstorbenen“ in Stellung bringen, begünstigt aber in ihrer Zentrierung auf das „Familienverhältnis“, ja auf die „Familie als sol che“, eine Art Automatismus des Erbes, daher wieder eine Passivierung der
Vgl. Bürgerliches Gesetzbuch, §§ 1942ff. Bürgerliches Gesetzbuch, § 1950. Bürgerliches Gesetzbuch, § 1922. Johann Heinrich Zedler (Hg.): Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste, welche bißhero durch menschlichen Verstand und Witz erfunden worden. Halle/ Leipzig 1732–1754. Bd. 8, Sp. 1475–1476. Vgl. Jens Beckert: Unverdientes Vermögen. Soziologie des Erbrechts. Frankfurt a. M./New York 2004. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse (1821). In: Werke (Anm. 1). Bd. 7, S. 333.
Das Erbe empfangen 31
Erbenden, einhergehend mit der eigentumsrechtlichen Delegitimierung all derjenigen, deren familiäre Verhältnisse sie nicht zu Erben, sondern zu Erb schaftslosen machen. Doch wenn alles Erworbene ins Erbe eingeht, dann lässt sich auch die Tätigkeit des Erwerbens, lässt sich vor allem der Zusammenhang von Erwerb und Arbeit auf programmatische Weise in Vorgänge des Vererbens und Erbens eintragen. Darin liegt eine der wichtigsten Errungenschaften des modernen Erbedenkens bei dem Versuch, dem Determinismus des Erbes entgegenzuwirken und den aktiven Anteil vom Erblasser auf die Erben zu verschieben. Genau so lässt sich Hegels eingangs genannte metamorphotische und prozessuale Wendung des Erbe-Begriffs verstehen. Kurz vor der oben zitierten Passage fasst er sein geschichtsphilosophisches Interesse insgesamt mit dem ökonomischen Vokabular des Besitzes, der Arbeit und des Erbes: Der Besitz an selbstbewußter Vernünftigkeit, welcher uns, der jetzigen Welt angehört, ist nicht unmittelbar entstanden und nur aus dem Boden der Gegenwart gewachsen, sondern es ist dies wesentlich in ihm, eine Erbschaft und näher das Resultat der Arbeit, und zwar der Arbeit aller vorhergegangenen Generationen des Menschengeschlechts zu sein.
Indem Hegel erstens die philosophische Erbschaft als Ergebnis von Arbeit definiert und zweitens die Arbeit als kollektive und sich über einen sehr langen Zeitraum vollziehende Angelegenheit, als „Arbeit aller vorhergegangenen Generationen“, ausweist, wendet er sich gegen die Vorstellung, bei jener Erbschaft handle es sich um einen gesicherten Vorrat, den es nur philosophiegeschichtlich zu verwalten gelte. Dafür spricht auch, dass hier ausdrücklich nicht von Eigentum, also einer gleichsam rechtsverbindlichen Zuordnung der „Vernünftigkeit“ zur „jetzigen Welt“, die Rede ist, sondern nur von Besitz, also einer begrenzten Verfügungsgewalt. Stattdessen ist es der philosophiegeschichtliche Vorgang der Traditionsbildung selbst, der mit dem EigentumsStatus belegt wird: Er ist nämlich, wie es gleich zu Beginn heißt, „auf eine ei-
Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 334 und 336. Auf das Problem der Erbschaftslosigkeit hat Iris Därmann in unserer Berliner und Leipziger Arbeitsgruppe zu Krisen des Erbes immer wieder hingewiesen. Vgl. in historischer Perspektive auch Gabriela Signori: Erblosigkeit. In: Das Mittelalter 26 (2021), S. 482–502. Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I, S. 21. Hegel selbst trennt die Begriffe in seiner Rechtsphilosophie deutlich: „Nur ein teilweiser oder temporärer Gebrauch sowie ein teilweiser oder temporärer Besitz (als die selbst teilweise oder temporäre Möglichkeit, die Sache zu gebrauchen), der mir zusteht, ist daher vom Eigentume der Sache selbst unterschieden.“ Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 131.
32 Stefan Willer
gentümliche Weise produktiv“. Das Eigentümliche der unter dem Aspekt ihrer Transformierbarkeit betrachteten Tradition besteht in ihrem Vermögen zu fortgesetzter Produktivität. Ein solches immer schon ‚metamorphosiertes‘ Erbe gilt es zu empfangen, anzutreten und durch Bearbeitung weiter zu verändern.
Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I, S. 20.
Andreas Gehrlach7
Talente empfangen, aber ein Schalksknecht sein [Man sieht hier] den widerlichen Trick von Erwachsenen, die, wenn sie Kindern etwas aufschwatzen, dabei die Beschenkten mit der Sprache ü berfallen, von der es ihnen paßte, wenn jene sie redeten, und die ihnen die meist fragwü rdige Gabe mit eben dem Ausdruck des schmatzenden Entzü ckens präsentieren, das sie hervorrufen wollen.
Es gibt gelegentlich Wendepunkte in der Kulturgeschichte, die auf kleine Bedeutungsverschiebungen innerhalb von Worten zurückführbar sind: Wenn die Verwendung eines Begriffs verändert wird, verwandeln sich auch alle Texte, in denen dieses Wort auftaucht. Manche Begriffe erhalten durch diesen Umbesetzungsprozess eine zusätzliche konnotative Ebene, andere werden von der neuen Bedeutung komplett übernommen und können geradezu zerstörerisch werden. Insbesondere die ab der Neuzeit entstehenden „Wissenschaften vom Menschen“ mussten für ihre Gründung und Entwicklung auf einen theologisch dominierten Wortschatz zurückgreifen, der in keiner Weise für sie vorbereitet oder besonders geeignet war. Die lateinische und altgriechische Sprache wurden für die Begriffsfindung der modernen Wissenschaften dienlich gemacht und fast alle ihrer Begriffe wurden mit neuen Bedeutungen angereichert: Dass ‚Materie‘ eigentlich von der mater herkommt und dass der Materialismus daher als späte Form einer Mutterreligion deutbar ist, ist ebenso gleichzeitig poetisch wie befremdlich. Ähnlich verhält es sich mit der Tatsache, dass die psyche eigentlich ein Schmetterling ist und dass ‚Demokratie‘ einmal ein Schimpfwort war. – Der weitgehend theologisch-scholastisch fundierte Wortschatz der voraufklärerischen Weltdeutung wurde mit den in Europa entstehenden Geistes-, Sozial- und Humanwissenschaften einer fast vollständigen Resignifizierung unterworfen; es geschah ein umfassender Prozess der Umschreibung aller Begriffsverwendungen der Welt- und Selbstreflektion, der bisher fast völlig unaufgearbeitet ist. Hier soll ein besonders bezeichnendes und perfides Beispiel einer solchen begrifflichen Umschreibung skizziert werden, das die Produktion von Subjektivität und die psychische Verfassung des modernen Menschen bis heute zutiefst prägt.
Theodor W. Adorno: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Gesammelte Schriften, Bd. 4, hg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt a. M. 2003, S. 229 https://doi.org/10.1515/9783111233796-007
34 Andreas Gehrlach Um diese hier beispielhaft angeführte Begriffsüberlagerung zu beschreiben, muss zuerst nochmals die alte Frage befragt werden, ob Max Weber recht hatte: Ist die Ethik des protestantischen Christentums tatsächlich der ideelle Ort, von dem der Kapitalismus seinen unseligen Geist bezogen hat? Die lokalen Entstehungsherde und der historische Ablauf primärer kapitalistischer Anhäufung und Ausbeutung geben Webers These ein gewisses Gewicht. Doch selbst wenn es so wäre wie Weber sagt, hätte sich der Kapitalismus mit bemerkenswerter Leichtigkeit von den Heimatdiskursen und Prinzipien seines Ursprungs ablösen und an anderen Orten mit gänzlich anderen Geistern, ethischen Verbindlichkeiten und Symbolsystemen seinen zweifelhaften Erfolg zeigen können, indem er sie sich aneignete und nach seinen Prinzipien umgestaltete. Der kapitalistische Kolonialismus hat nicht nur Waren und Menschen aus allen Kontinenten zu Profitzwecken auf andere Kontinente geschafft, sondern er hat im Tausch Ideen hinterlassen, die nicht selten gewaltsam aufgedrängt und in die Seelen gesenkt wurden. Der Kapitalismus kolonisiert Kontinente, er kolonisiert Zeiten, Sprachen, Religionen und ganze Symbolsysteme und Kulturen. Max Weber setzte in der Protestantischen Ethik die bezeichnende Fußnote 257, die mit einem klaren Satz beginnt: „Dies ist das Entscheidende.“ Die Fußnote bezieht sich auf einen Satz, in dem Weber das Gewinnstreben als absolutes christliches und kapitalistisches Gebot beschreibt: „Als Ausübung der Berufspflicht aber ist es [das Gewinnstreben, A. G.] sittlich nicht nur gestattet, sondern geradezu ge boten.“ Dieser Satz ist der Fußnote zufolge also das Entscheidende in Webers Buch; im kapitalistisch-christlichen Imperativ zum Erarbeiten irdischen Gewinns sieht Weber den zentralen Punkt seines Arguments. Im darauf folgenden Satz führt Weber einen Bibelverweis an, der das Gewinnstreben als persönliches Gebot Gottes festschreibt: „Das Gleichnis vom Schalksknecht, der verworfen wurde, weil er mit dem von Gott ihm anvertrauten Pfunde nicht gewuchert hatte, schien das ja auch direkt auszusprechen.“ Diese Geschichte vom „Schalksknecht“ ist das oben angekündigte besonders prägnante Beispiel für die Bedeutungsverschiebung von einer ‚alten‘ Begriffsverwendung in eine gänzlich neue. In diesen wenigen Versen zeigt sich überraschend vollständig die Formierung einer protestantisch-kapitalistischen Ethik und Subjektivität. Webers ganzes „Entscheidendes“ ist in einigen Versen der Bibel zusammengefasst. Und alles dreht sich bei diesen Versen um die Frage, wie ein bestimmter Begriff zu übersetzen und zu verstehen ist.
Max Weber: Die protestantische Ethik und der „Geist“ des Kapitalismus. Wiesbaden 2016. Weber: Die protestantische Ethik, S. 152. Weber: Die protestantische Ethik, S. 152. Weber: Die protestantische Ethik, S. 152–153.
Talente empfangen, aber ein Schalksknecht sein 35
Das Gleichnis findet sich im Matthäus- und im Lukasevangelium. Dort erzählt Jesus von einem reichen Mann, der auf eine Reise geht und der seine Diener zusammenruft, um ihnen sein Geld zu übertragen: Denn es ist wie bei einem Menschen, der außer Landes reisen wollte, seine Knechte rief und ihnen seine Güter übergab. Dem einen gab er fünf Talente, dem anderen zwei, dem dritten eins, jedem nach seiner Kraft, und er reiste sogleich ab.
Bis dahin könnte die Erzählung eine vertrauensvolle Übertragung von Reichtum sein. Man weiß jedoch, wie die Geschichte weitergeht, in der zwei Knechte das empfangene Geld dienerisch anlegen und vermehren, während einer der Knechte sich weigert, ganz so servil zu sein: Da ging der hin, welcher die fünf Talente empfangen hatte, handelte mit ihnen und gewann fünf weitere Talente. Und ebenso der, welcher die zwei Talente [empfangen hatte], auch er gewann zwei weitere. Aber der, welcher das eine empfangen hatte, ging hin, grub die Erde auf und verbarg das Geld seines Herrn. Nach langer Zeit aber kommt der Herr die ser Knechte und hält Abrechnung mit ihnen.
Was aber sind Talente? Eigentlich ist das „Talent“ eine antike Maßeinheit. Es ist nicht mehr als das, es hat im biblischen Urtext keine weitere Konnotation: Es bedeutet etwa dreißig, manchmal etwa fünfzig Kilogramm, eine beachtliche Summe jedenfalls, aber nichts anderes. Das griechische τἀλαντον wurde von Luther mit „Zentner“ übersetzt, später taucht es als ‚Pfund‘ in den Bibeltexten auf. In der lateinischen Vulgata, in der King James Version und in der hier benutzten Schlachter-Übersetzung wurde es als talentum und Talent übernommen. Es blieb aber eine Gewichtsangabe. Eine Aussage über Subjektivität, die einer heutigen Leser:in ins Gesicht springt, ist darin nicht getroffen – und doch hat das Wort Talent aufgrund einer gezielten Umbesetzung des Begriffs heute eine gänzlich andere Bedeutung. Diese Bedeutungswandlung, die ‚Talent‘ zu ‚Begabung‘ machte, ist eine radikale Verzerrung des Textes – und sie ist weder historisch noch theoretisch oder interpretativ nachzuvollziehen, sie bleibt eine artifizielle und nicht begründbare Zusatzbedeutung. Nichts deutet an, dass Talent für Jesus etwas anderes als „30kg“ hieß, und gewiss macht es keine Aussage über den Willen oder das Können der handelnden Personen, es bezeichnet nur das überlassene Geld. Wann diese folgenreiche Umdeutung geschah, die sich so tief in unsere Alltagssprache eingesenkt hat, ist unklar: Blättert man durch die unterschiedlichen etymologischen Wörterbücher europäischer Sprachen, so kann
Matthäus 25, 14–15 (Schlachter-Übersetzung, Ausgabe 2000.) Matthäus 25, 17–19.
36 Andreas Gehrlach man jedes einzelne Jahrhundert ab dem Spätmittelalter als den Zeitraum bezeichnet sehen, in dem die Gewichtsangabe zur Chiffre für menschliche Begabung umgeschrieben worden sein soll. Spätestens im 19. Jahrhundert wird die Bedeutungsverschiebung jedoch abgeschlossen, dann ist Talent ‚Begabung‘ und ‚Gewicht‘ ist in den Hintergrund getreten, ist nur noch eine denotative Bedeutung des Wortes. Hier liegt eine Metapher vor, die irgendwann die vorhergehende Bedeutung des Wortes kolonisiert hat: Zuerst wurde Talent nur metaphorisch-bibelhermeneutisch als Begabung interpretierbar, irgendwann jedoch wurde diese Metapher zur Hauptbedeutung und überschrieb das, was ursprünglich etwas ganz anderes war. Das ökonomische System der Neuzeit und Moderne schrieb die Bibel um. Es legte so ein vollständig gewandeltes Gleichnis vor, das wie keine andere Geschichte der Bibel die kapitalistische Subjektivität begründete. Es kann kaum überbetont werden, weshalb Webers Fußnote recht hatte: „Dies ist das wesentliche“, denn dieses Kippen der Bedeutung von Talent ist tatsächlich wesentlich, will man die Entstehung und Durchsetzung des Kapitalismus und der mit ihm einhergehenden Subjektivität verstehen. Dafür, dass der Geist des Protestantismus zum Kapitalismus führen konnte, musste das Christentum buchstäblich umgeschrieben werden. Mit dieser sich spätestens im Protestantismus endgültig durchsetzenden Bedeutungsverschiebung wird ein metrisches Raster über den Menschen gelegt: Wert wird internalisiert, die Menschen sind ab dann numerisch gedachte und hierarchisch geordnete ‚zwei Talente‘ oder ‚fünf Talente‘. Sie sind ihr Wert in Geld und nichts weiter – knapper und prägnanter lässt sich der Kapitalismus kaum zusammenfassen: Er besteht in der Monetarisierung alles Humanen. Es wird im Gleichnis jedoch nicht nur eine rechnerisch-ökonomische Matrix über den Menschen gelegt, sondern auch ein Zwang zur Wertsteigerung eingeführt: Wo nicht aus fünf zehn gemacht wird, ist kein weiterer Wert zu finden, dort sind auch die fünf wertlos. Über jedem Menschen wacht ein abwesender, aber deswegen nicht weniger imperativer Herr, der unablässig zur Arbeit und zur Gewinnsteigerung zwingt. Nur der Schalksknecht macht nicht mit. Er sieht die Überreichung der Talente nicht als Gabe auf Zeit, nicht als Leihung oder als acte gratuit, der endlos verpflichtet. Er ist aber auch kein Parasit, der die Gabe verzehrt, er entzieht sich einfach dem unsichtbaren Zwang zum Talenteinsatz: „Es wird immer mehr Scharfsinn, Fintenreichtum, List und affektive Kraft erforderlich sein, um zu widerstehen, als es nicht zu tun“, schreibt Iris Därmann in Undienlichkeit, und
Iris Därmann: Undienlichkeit. Gewaltgeschichte und politische Philosophie. Berlin 2020, S. 133.
Talente empfangen, aber ein Schalksknecht sein 37
auch wenn die Geschichte dies nicht erzählt, ist das Vergraben seines Talents eine Möglichkeit, sich dem Zwang zur Selbstausnutzung zu widersetzen und der Erniedrigung des Gabenempfangs zu entgehen. Man kennt die Gedanken des Schalksknechts nicht. Aber wahrscheinlich hat er nicht leichtfertig zum Spaten gegriffen, sondern nachgedacht und sich bewusst dafür entschieden, zu bewahren statt zu vermehren. Die anderen Knechte bezwangen sich in Abwesenheit des Herrnund arbeiteten in seiner Abwesenheit unter hohem Druck. Der Schalksknecht hatte dagegen vielleicht eine mit ruhigen Gewissen gelebte Pause, und man darf sich vorstellen, dass er eine gute und gewiss ruhigere Zeit hatte als seine Knechtskollegen. Eine Begabung ist dieser ganz unseligen Etymologie nach nur ein leihweise und auf Zins empfangenes Kapital, das mindestens verdoppelt werden muss, weil der Herr sonst böse wird. Talent bedeutet, sich verausgaben zu müssen, um es zu vervielfältigen. Der Kapitalismus ist eine triumphal heulende Produktionsmaschinerie, er produziert aber nicht nur neuen und immer neuen ökonomischen Wert, sondern auch von seinem Beginn an neue Bedeutungen. Alle alten Worte und Bedeutungen unserer Kultur und aller anderen Kulturen, mit denen er in Berührung kommt, werden von ihm geraubt, umgedeutet und in sein metrisch-ökonomisches Raster eingepresst. Doch wo Macht ist, ist immer auch Widerstand, wie Iris Därmann betont. Diese Metrisierung und Ökonomisierung geschieht in der kapitalistischen Kultur überall, aber ebenso sind auch überall die Weigerungen zu erkennen, die empfangenen Talente nach Maßgabe des Herrn der Welt einzusetzen. Die Aufgabe der Wissenschaft, die die kapitalistische Kultur untersucht, ist es, diesen Zwang zur Dienstbarkeit festzustellen, und ebenso Selbstentzüge festzustellen, Möglichkeiten zu eröffnen, dem entgegenzustehen, sich schalksknechtartig zu widersetzen, sich undienlich zu machen. Wenn die Kultur des Kapitalismus sich traut, die Bibel zu verändern, indem ihren Worten andere Bedeutungen gegeben werden, so darf auch die Kulturwissenschaft die Bibel umschreiben. Es gilt, die Heilige Schrift nochmals zu revidieren und den Schalksknecht zu seinem Recht kommen zu lassen. Für die ausstehende Bibelrevision schlage ich also vor, die oben zitierten Verse des Matthäusevangeliums hierdurch zu ersetzen: ‚Das Himmelreich ist wie mit einer Person, die auf eine Reise ging: Sie rief die Freunde zusammen und sagte ihnen, wie traurig sie sei, dass sie weg müsse.
Därmann: Undienlichkeit, S. 133. – Sie bezieht sich dazu auf Foucault, bei dem diese Gewissheit aber eher beiläufig erwähnt wird; dabei ist die Gegenmacht der Schalksknechte eine Gewissheit, die für die Kulturwissenschaft als paradigmatisch verstanden werden kann. Siehe dazu z.B. Michel de Certeau: Kunst des Handelns. Übers. v. Ronald Voullié. Berlin 1988.
38 Andreas Gehrlach Er sei sich jedoch sicher, dass sie ihn in ihren Gedanken behalten würden und ermahnte sie, auch weiterhin zu aller Zeit gemeinsam über die Dinge zu sprechen, die für sie von Belang seien, miteinander nachzudenken und zusammen darauf zu achten, dass es allen wohl ergehe. Sie sollen ihre Begabungen pflegen, sich unterstützen, das genießen, was sie haben und neue Freunde finden. Und sie sollen darauf achten, niemandem dienlich zu sein oder von irgendjemandem Dienstbarkeit zu erwarten. Und sollte er vielleicht irgendwann zurückkommen, sei er froh, die Freunde als Freunde wiederzufinden. So geschah es auch und der Mann ging und wurde lange Zeit nicht mehr gesehen und die Freunde lebten ein gutes Leben.‘
Christian Kassung8
„Du brauchst mir nichts zu schenken.“ Über die Risikovermeidung des falschen Geschenks Immer öfter höre ich den Satz: „Du brauchst mir nichts zu schenken.“ Zuerst von meinen Eltern, dann von meinen Freunden, jüngst sogar von meinem Sohn. Aber heißt das wirklich, dass wir wunschlos geworden sind? Dass wir eine stille Vereinbarung getroffen haben, Gaben gehörten nicht mehr in unsere Lebenswelt? Zumindest wäre dies die erste, naheliegendste Erklärung für die nicht gerade subtile Form der Gabenvermeidung bzw. Gabenverweigerung, die dieser Satz zu legitimieren sucht: Wir leben im europäischen 21. Jahrhundert in einer Gesellschaft, welche die Dinge so weit entwertet hat, dass deren Gabe zum Problem geworden ist. Wir haben bereits alles; wir haben zu viel von allem; und das, was uns womöglich fehlt, können wir uns doch selbst besser, passender und eventuell auch günstiger besorgen. Inklusive Recht zum Umtausch. Diesem Gegenwartsbefund schließt sich sogleich die zugehörige genealogische Erklärung an: Das maßlose Wuchern der industriell hergestellten Dinge ist an die Stelle deren vormaliger Knappheit getreten und hat damit zugleich die Möglichkeit des Schenkens von Dingen obsolet werden lassen. Wir, die wir mit so vielen Dingen zusammenleben wie keine Generation zuvor – oder leben gar die Dinge mittlerweile mit uns zusammen –, können keine Dinge mehr schenken. Ich möchte an dieser Stelle nicht über die Geburtstagsfeiern, Weihnachtsbäume und Gabentische hinwegfegenden Alternativen vom Geschenkgutschein bis zum Wichteln sprechen – wiewohl dies sicherlich interessante Auswüchse der allgemeinen Gabenverunsicherung sind. Vielmehr möchte ich mich mit der Frage nach der fiktiven Dimension des falschen Geschenks auseinandersetzen. Bekanntlich gründete Niklas Luhmann sein systemtheoretisches Denken auf der These, dass Realität für einen Beobachter erst dann entsteht, „wenn es in der Welt etwas gibt, wovon sie unterschieden werden kann.“ Bestenfalls gilt genau dies auch für ein ‚schönes‘ Geschenk: Ich erhalte etwas, das vielleicht nicht unbedingt mein Leben verändert; das sich aber so in meinen Alltag integriert, dass dieser eine Veränderung erfährt. Das Geschenk sollte, so würde man in einem anderen Theoriekontext formulieren, eine agency besitzen. Kindheitserinnerungen lassen diese agency in der Selbst-Erinnerung unmittelbar greifbar werden. Als ich mein erstes Fahrrad geschenkt bekam, gehörte ich mit einem Mal zu den
Niklas Luhmann: Die Religion der Wissenschaft. Frankfurt a. M. 2002, S. 59. https://doi.org/10.1515/9783111233796-008
40 Christian Kassung Kindern auf der Straße, die eben auch die nächste und übernächste Straße erkunden konnten. Als mir danach eine Gitarre geschenkt wurde, war mit der Straße plötzlich Schluss, und meine Fingerkuppen fingen an, Hornhaut auszubilden. Und als mir meine Eltern wiederum später ein Kochbuch schenkten, verbrannte ich mir die Hornhaut ordentlich bei meinen ersten Backversuchen. Ist es Nostalgie, von Geschenken eine derartige Realitätswirksamkeit zu erwarten? Wechseln wir die Seite der Beobachtung: Mit Elena Esposito gesprochen wäre das Geschenk eine Wette auf die Zukunft. Nämlich eine Fiktion, die zu einer wirklichen Realität werden kann und soll. Nostalgie hin, Nostalgie her: Wenn ich etwas schenke, verbinde ich damit die Erwartung an eine Differenz, die in irgendeiner Weise die Realität des Beschenkten verändert. Bleibt diese Veränderung aus, landet das Geschenk ungeöffnet oder unbesehen in der Ecke, bricht der temporale Konnex des Schenkens in sich zusammen, war das Geschenk eine Gegenwart ohne Zukunft. Schenkende antizipieren eine Zukunft, in der es eine Differenz gibt, die von dem Geschenk ausgeht. Geschenke sind, nochmals mit Esposito, eine Fiktion, von der ich erwarte, dass diese nicht folgenlos für die reale Realität ist. Das heißt dann aber, Ödipus hin oder her, dass die Suche nach dem ‚richtigen‘ Geschenk von der Sorge um eine stabile oder reale Fiktion geprägt ist. Also von dem Bemühen, ein Geschenk aus dem schier endlosen Meer der Dinge auszuwählen, das eine Differenz markiert. Diese Wette auf die Zukunft eines erfolgreichen Geschenks ist, und damit komme ich zum Kerngedanken meiner Überlegungen, zwei fundamentalen Schwierigkeiten ausgesetzt. Die erste schlägt den Bogen zur Industrialisierung zurück und zum Paradox der Dinge im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit. Je mehr Dinge nämlich eine Kultur produziert, umso subtiler werden die Unterschiede zwischen ihnen. Was dann aber auf der anderen Seite bedeutet, dass sich eine schenkende Person genau diesem Meer der Dinge ausgesetzt sieht. Welches Ding macht da den Unterschied, der zur Differenz der Gabe werden kann? Genau an diesem Punkt, beim Nachdenken darüber, ob ein Geschenk passen könnte, ob es ausgefallen genug ist, ob es nicht zu individuell ist und so weiter, kommt eine zweite Schwierigkeit ins Spiel: die Risikovermeidung. Denn die Differenz, die ein Ding zu einer Gabe macht, darf doch nicht zu groß sein, darf den fiktiven Rahmen einer Freundschaft, einer Verwandtschaft, eines kollegialen Verhältnisses usf. nicht sprengen. Ich lasse hier mal die aktuell ebenfalls grassierende Praxis unnötiger, überflüssiger oder anderweitig trashiger Ge-
Elena Esposito: Die Fiktion der wahrscheinlichen Realität. Frankfurt a. M. 2007, S. 11. Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt a. M. 1999.
„Du brauchst mir nichts zu schenken.“ 41
schenkpraktiken außen vor. Wir haben also auf der einen Seite das industrielle Wuchern nahezu ununterscheidbarer Dinge und auf der anderen Seite die eigentlich unabschließbare Suche nach der ‚richtigen‘ Differenz. Sind wir an dieser Stelle schon bei meinem Eingangssatz: „Du brauchst mir nichts zu schenken.“ angelangt? Ja und nein zugleich. Ja, denn wenn alle den vorliegenden Text gelesen haben und wir uns über die Problemanalyse einig sind, dann kann die Gabe ja durch die geteilte Beobachtung ersetzt werden: „Du brauchst mir nichts zu schenken.“ Nein, denn wie Esposito schreibt: „Der Versuch, Risiken zu vermeiden, ist selbst riskant, während die Suche nach Sicher heit keineswegs sicher ist.“ Wer also versucht, sich aus dem Geschenkdilemma herauszuwinden, indem sie oder er sich auf die Beobachterposition zurückzieht, landet doch nur umso härter auf der Sachebene. Denn das nicht geschenkte Geschenk ist genau dies: das falsche Geschenk. In der Situation der Gabe tritt die Leerstelle nur umso deutlicher hervor. Die hohle Beobachtung, wir seien uns doch eigentlich einig, dass wir uns nichts mehr zu schenken brauchen, bleibt genau das: hohl, weil die Situation nach einer Gabe verlangt. Was bleibt? Womöglich ein adäquater Umgang mit den genannten Risiken und Nebenwirkungen des Schenkens – und Beschenkt-Werdens. Denn neue Risiken bedeuten immer auch neue Möglichkeiten und damit Zukunft. Risikovermeidung ist das Falscheste aller Geschenke, einfach, weil es das ist: kein Geschenk.
Esposito: Die Fiktion der wahrscheinlichen Realität, S. 79.
Empfangen und Erleiden: Körper und Passion
Verena Olejniczak Lobsien9
Kunst des Empfangens Eine Miniatur mit zwei Gedichten über die zuvorkommende Sympathie Kein Empfangen ohne Sympathie; keine Sympathie ohne Empfangen. Zwei kurze Gedichte, ein halbes Jahrtausend voneinander entfernt, haben viel über die im Empfangen vorausgesetzte und von der Sympathie ins Spiel gebrachte Wechselseitigkeit zu sagen. Ebenso viel geben sie über die Art dieser Voraussetzung zu denken. Sie sollen beispielhaft für ungezählte weitere Texte stehen, die zusammen eine Poesie des Empfangens bilden könnten. Damit ist auch vermutet, dass das Empfangen eine Kunst ist, die ein Unterkapitel der Kunst der Sympa thie bildet. Von Sympathie und ihrer Geschichte wäre lange zu handeln; nur ein Aspekt soll hier in den Vordergrund rücken, der aber eigentlich auch nicht in eine Miniatur passt und deshalb nur angedeutet werden kann: dass Sympathie nämlich mehr umfasst als das bloß Menschliche, mehr auch als das Natürliche, weit mehr. Beide Gedichte sprechen den großen sympathetischen Zusammenhang – dessen kleiner Teil auch das Menschliche ist – mit dem Wort Liebe („Love“, caritas) an. Beide machen klar, dass es zuletzt um Unbedingtes geht; beide lassen die Überforderung spüren, die darin liegt, anzunehmen, was uns voraus ist. Der Sprecher des ersten Textes, verfasst von George Herbert zu Beginn des 17. Jahrhunderts, tut sich erkennbar schwer mit dem, was da in der Konstellation ,Liebe‘ auf ihn zukommt. Denn das – die Person, die ihn empfängt, und die er, wie sich herausstellt, wird empfangen müssen – kommt nicht nur umstandslos auf ihn zu, sie ist ihm auch immer einen Schritt voraus. „Love“ kommt ihm zuvor, einerlei, was er einzuwenden hat und wohin er ausweicht. Der Text zeigt allegorisch, weshalb das so ist:
Worin die bestehen könnte, habe ich versucht zu zeigen in Verena Olejniczak Lobsien: Die vergessene Sympathie. Zu Geschichte und Gegenwart literarischer Wirkung. Paderborn 2022. Mit der vorliegenden Miniatur möchte ich natürlich nicht nur an diese ausführlichere Erkundung im größeren Format anknüpfen, sondern vor allem bekunden, was, wie ich glaube, seit langem zwischen mir und der mit diesem Band Gewürdigten besteht – von meiner Seite dankbar für in vielen Zusammenhängen Empfangenes: Sympathie. https://doi.org/10.1515/9783111233796-009
46 Verena Olejniczak Lobsien Love bade me welcome: yet my soul drew back, Guiltie of dust and sinne. But quick-ey’d Love, observing me grow slack From my first entrance in, Drew nearer to me, sweetly questioning, If I lack’d anything. A guest, I answer’d, worthy to be here: Love said, You shall be he. I the unkinde, ungratefull? Ah my deare, I cannot look on thee. Love took my hand, and smiling did reply, Who made the eyes but I? Truth Lord, but I have marr’d them: let my shame Go where it doth deserve. And know you not, says Love, who bore the blame? My dear, then I will serve. You must sit down, sayes Love, and taste my meat: So I did sit and eat.
Im Willkommen liegt Empfangen, und es besteht kein Zweifel daran, wer hier der zuerst Handelnde ist. Die Christusfigur „Love“ heißt den Sprecher als Gast willkommen – aber in dessen Zurückscheuen wird sofort deutlich, dass es im Empfangensgeschehen insgesamt zwei Empfänger braucht: den, der das Willkommen ausspricht, und den, der es annimmt und so empfängt, was der Gastgeber zu geben hat. Beide sind darin gleichsam aus unterschiedlichen Richtungen aktiv. Das beschreibt zugleich die intrikate Wechselseitigkeit der großen Sympathie, in der nicht nur Mensch und Natur, sondern auch Mensch und Gott aufs innigste verbunden sind, inniger als dem menschlichen Empfänger offenbar lieb ist und daher geradezu schockierend. Denn zweierlei wird dem offenherzig Empfangenen und zögernd Empfangenden (und ebenso uns als Lesenden) in dieser lakonisch berichteten Erfahrung offenbar: Zum einen ergeht die Einladung so liebenswürdig und unwiderstehlich wie nur möglich – „sweetly“ – mit einer dulcedo, wie sie sich als Kernbeschreibung der mystischen Gottesbegegnung durch die geistliche Literatur zieht, und wie sie auch im zweiten Text anklingt. Zum anderen wird hier auch ein leibliches, natürliches, physisches Erfahren geschildert, das in seiner Radikalität bestürzt. Denn der einladende Christus ist inkarniert. Das Wort ist Fleisch geworden (Joh 1, 14). Er, der Schöpfer von allem, „Love“, bietet sich dem verständlicherweise und nicht nur wegen der eigenen
F.E. Hutchinson (Hg.): The Works of George Herbert. Oxford 1978 (1941), S. 188–189.
Kunst des Empfangens 47
Unwürdigkeit scheuen Gast zur Speise an: allegorisch, das heißt zugleich figural und literal. „You must sit down […] and taste my meat“: Das ist sakramental gesprochen, in eben genau der Doppeltheit, die die Allegorie wie die Sympathie auszeichnet. Herberts Dialog führt ein eucharistisches Gespräch vor, in Danksagung des Empfangenden für die Gabe dessen, der sich hier als Empfänger und Empfangener mitteilt und zwar in seinem eigenen Fleisch und Blut. Eine größere Verbindung zwischen Göttlichem und Menschlichem als die im Mysterium der Inkarnation angedeutete und in der Eucharistie besiegelte kann es nicht geben. Eine größere Schwierigkeit als die, diese Gabe recht zu empfangen, vielleicht auch nicht. Aber der so radikal empfangene Sprecher tut es einfach. Er willigt ein, lässt seinen Affekt umkehren und wird so zum Empfangenden: „So I did sit and eat“. Sein Tun („eat“) wird das, was es in der Sympathie immer schon ist, Teil des Empfangenen („meat“) und von ihm liebevoll umarmt. Ein wenig wird so, im hörbaren, sichtbaren, ‚unreinen‘ Reim auch sein eigenes, materielles, poetisches Wort Fleisch und das Gedicht zur wirksamen Kunst des Empfangens. Hildegard von Bingen kommt im 12. Jahrhundert George Herbert historisch und poetisch zuvor, indem sie bereits die dulcedo feiert, die Herbert aus frühmoderner Selbsteinsicht sich zunächst nicht zu empfangen traut. Die zuvorkommende Liebe des Göttlichen ist aber auch ihr Thema. Die Beziehungskonstellation erscheint in ihrem Text zwar anders, die Affektlage gelassener, doch die verwickelte Wechselseitigkeit von Selbstvoraussetzung und Selbstmitteilung, durch die sich die Sympathie auszeichnet, ist beibehalten und erscheint auch hier zuletzt als Grund erstaunlicher Furchtlosigkeit. Hildegard preist in ihrer Dichtung die unwiderstehliche Liebe der Schöpfung zu ihrem Schöpfer, der sie ja überhaupt erst zu sich und in ihr Selbstsein gerufen hat (zuvorkommend, zugleich kalauernd in Herberts pun: „Who made the eyes but I?“). Auch sie spricht allegorisch: Karitas habundat in omnia, de imis excellentissima super sidera atque amantissima in omnia, quia summo regi osculum pacis dedit.
Vgl. zu dieser Art des Lebensverstehens aus dem Unbedingten und Vollkommenen auch Dieter Henrichs Meditation über 1 Joh 4, 18: Furcht ist nicht in der Liebe. Philosophische Betrachtungen zu einem Satz des Evangelisten Johannes. Frankfurt a. M. 2022.
48 Verena Olejniczak Lobsien Dass die Liebe alles überflutet, hat seinen Grund in einer vorgängigen Handlung der Liebe. Als Miniaturszene wird sie am Schluss der Antiphon nachgetragen, obwohl sie allem vorausliegt: Sie hat dem Höchsten den Friedenskuss gegeben. Die Liebe, caritas, die in allem waltet, alles Geschaffene kraftvoll bewegt, mitfühlen und energisch mitschwingen lässt, Grenzen überschießt, im Überfluss gibt und sich verschwendet, ohne sich zu verausgaben, – sie geht zum Äußersten von den Tiefen bis zu den Sternen, alles übersteigend und so verbindend (excellentissima). Selbst den Allherrscher hat die Himmelsstürmerin geküsst und so kühn den Frieden bezeugt und nochmals bekräftigt, der im Beginn der Schöpfung herrschte. Das kann sie, weil sie ist, was sie als selbst schöpferische – und geschaffene! – Kraft bewirkt: amantissima, allerliebst und alles liebenswürdig machend. Daher ist sie am liebenswertesten, weil sie in allem und für alle ist, ausnahmslos (nachdrücklich wiederholt: in omnia). In der gesamten Schöpfung ist dies das dynamische Lebensprinzip, das fortwährend über sich selbst hinaus geht, weil es fortwährend gibt und empfängt, was es immer schon empfangen und gegeben hat. Versteht sich, dass wir uns hier in Bereichen bewegen, die mehr als das Menschliche umfassen, auch wenn sie das Menschliche mitnehmen. Knapper kann man die Schwierigkeiten und das Wunder, die im Empfangen liegen, wohl nicht artikulieren als in dieser Antiphon. Freilich beschreiben beide Gedichte die gleiche Grundfigur, die man Sympathie nennen kann. Sie besteht im Hinweis darauf, dass alles Empfangen auf einer Voraussetzung ruht, die sich vielleicht nur mit den Mitteln der Poesie wenn nicht sagen, so doch immerhin andeuten lässt. Vorausgesetzt ist, dass Empfangende:r und Empfangene:r im gleichen, Identität und Beziehung stiftenden Medium verbunden sind,
Zit. nach Barbara Newman, Saint Hildegard of Bingen. Symphonia. A Critical Edition of the Symphonia armonie celestium revelationum [Symphony of the Harmony of Celestial Revelations]. Ithaca/London 1988, S. 140. Die Übersetzung ist nicht ganz einfach. Barbara Stühlmeyer schlägt vor: „Die Liebe überflutet alles | von den Tiefen bis zu den höchsten Sternen. | Und sie ist voller Liebe zu allen, | weil sie dem höchsten König | den Kuss des Friedens gab.“ (Hildegard von Bingen: Lieder. Symphoniae. Neu übers. von Barbara Stühlmeyer, hg. von der Abtei St. Hildegard, Beuron 2018, S. 59). Newman übersetzt: „Charity | abounds towards all, | most exalted from the depths | above the stars, | and most loving | toward all, | for she has given | the supreme king the kiss of peace“ (S. 141). Peter Adamsons Übersetzung erscheint in mancher Hinsicht näher am Original: „Love | abounds in all, | from the depths exalted and excelling | over every star, | and most beloved | of all, | for the highest King the kiss of peace | she gave“ (Peter Adamson: A History of Philosophy Without Any Gaps, Bd. 4: Medieval Philosophy. Oxford 2019, S. 134). Bemerkenswert ist vor allem der Dissens in der Wiedergabe des Richtungssinns der Präposition in Zeile 6 (in omnia). Vermutlich kann es eine Übersetzung kaum vermeiden, die Präposition in die eine oder andere Richtung zu desambiguieren („toward“ bzw. „zu“ vs. „of all“), während das lateinische in genau aus der Mehrdeutigkeit seinen Reichtum gewinnt.
Kunst des Empfangens 49
deshalb ihre Plätze tauschen können und fortwährend tauschen. Diese zugrundeliegende, im ortlos Tiefsten oder Höchsten, aber allemal im Guten zu vermutende Einheit schafft erst die Möglichkeit des Empfangens. Wir können empfangen, weil wir schon immer empfangen sind, in Sympathie.
Kathrin Busch10
Schwächen – Passionen des Empfangens
„Jeder Brief ist ein Liebesbrief“ – wie auch jeder Text in einer Festschrift. Hingegeben an die Adressatin, ragt sie in das Schreiben hinein. Mich adressierend, bin ich porös, Partikel der Anderen, ihr Denken und Fühlen breiten sich in den Höhlungen meines Selbst aus, die in mir sind wie in einem löchrigen Gesteinsbrocken, der durchströmt werden kann, von fremden Stoffen, die in unterschiedlichen Fließgeschwindigkeit herangeschwemmt werden und mich durch spülen. Manche Stoffe sind zu grob, manche Höhlungen zu klein, manche Wandstücke im Selbst zu solide, um Eingebungen offen zu stehen. Wie schafft man größere Höhlungen im Selbst, wie macht man sich durchlässiger für den Empfang der Anderen, wenn man kein Gestein ist, sondern Fleisch, ein sensibler Körper, bei dem noch die Knochen von feinen Nervensträngen durchzogen sind? „Den Anderen ansprechen, heißt seinen Ausdruck empfangen; in seinem Ausdruck überschreitet der Andere die Idee, die sich ein Denken von diesem Ausdruck machen könnte. Eben dies heißt, vom Anderen über die Aufnahmefä higkeit des Ich hinaus empfangen,“ schreibt Emmanuel Lévinas. Über die eigenen Fähigkeiten hinaus empfangen: überstrapaziert, erschöpft, geschwächt, erst dann empfange ich die Anderen – als wären alle Praktiken des Empfangens genau genommen Praktiken, die in ein passivisches Empfangen zwingen, also: Praktiken der Passionen des Empfangens. Ein Wortungetüm, eine unelegante Formel, nicht nur schlecht im Sinne von Ilse Aichinger. Sie nennt mit „den Un tergang vor sich her schleifen“ eine viel bessere schlechte Formulierung als „Praktiken der Passionen des Empfangens“. Aichinger hat eine Aversion gegen die starken Worte, man müsse die schlechten wählen, weil sich darin ausdrücke, was zu kraftlos ist, um sich zu behaupten und dominant zu werden – als wäre das schwache Wort ein „Wort zum Empfang“ .
Chris Kraus: I love Dick. Übers. v. Kevin Vennemann. Berlin 2017, S. 127. Vgl. Carolin Meister und Jean-Luc Nancy: Begegnung. Zürich/Paris 2021, S. 85. Emmanuel Lévinas: Totalität und Unendlichkeit. Übers. v. Wolfgang Nikolaus Krewani. Freiburg/München 1993, S. 64. Ilse Aichinger: Schlechte Wörter. Frankfurt a. M. 1991, S. 11. Derrida betitelt seine Lektüre von Totalität und Unendlichkeit so. Lévinas’ Buch sei eine einzige, „unermeßliche Abhandlung über die Gastlichkeit“. Vgl. Jacques Derrida: Das Wort zum Empfang. In: ders.: Adieu. Nachruf auf Emmanuel Lévinas. Übers. v. Reinold Werner. München/Wien 1999, S. 40. https://doi.org/10.1515/9783111233796-010
52 Kathrin Busch Was besagt die Formel? Dass es Techniken gibt, die empfänglich machen. Es sind Praktiken, die in Passionen umschlagen. Sie hören auf, Vermögen zu sein. Für ein wirkliches Empfangen muss man unvermögend werden und den eigenen „Untergang vor sich herschleifen“, den Untergang des Könnens, der eigenen Möglichkeiten, sogar den eigenen Tod, in den ich nicht vorlaufe, sondern den ich erschöpft vor mir her schleife. Für Lévinas bestehen die Passionen des Empfangens in nichts anderem als in einer wunden, ungewählten Offenheit. Er vergleicht sie mit dem aufreißenden Entsetzen, das man verspürt, wenn jemand stirbt. Eine erlittene Empfänglichkeit als Schmerzöffnung angesichts des radikalen Nicht-mehr-Seins eines geliebten Wesens. Wenn Lévinas sich vorstellt, dass dieses Gefühl der entsetzlichen Machtlosigkeit, diese exponierte, hautlose Empfindsamkeit, in die man sich durch die Schreckensnachricht vom Tod versetzt sieht, eben derjenigen Offenheit ähnelt, die empfänglich für Alteritätserfahrung macht, dann scheint es einmal mehr widersinnig, von Praktiken des Empfangs zu sprechen. Er wird erlitten. Die Idee, es könne Techniken des Empfangens geben, scheint unangemessen ermächtigend angesichts der heimsuchenden Passionen, durch die man empfänglich wird. Nach Lévinas hat diese Sensibilität, die ein wirkliches Empfangen der Anderen ermöglicht, immer schon stattgefunden, sie geht uns voraus, hat uns unwillentlich subjektiviert. Und nur weil sie zugedeckt wird, werden Praktiken der Empfänglichkeit ersonnen, nachträgliche Enthäutungen, um ein sensibles Fleisch-Ich freizulegen. Noch vor allen kulturellen Praktiken der Gastlichkeit, den gesellschaftlichen Ritualen, Empfängen, Eröffnungen und Willkommensheißungen, gibt es diese mehr erlittene als kultivierte Empfänglich- und Empfindlichkeit, die nötig ist, um etwas zu empfangen, das sich nicht vorwegnehmen lässt und das nicht schon in mir war, bevor es überhaupt begegnet ist. Welche Selbstgebräuche rühren an diese Heimsuchungen? In allen Religionen kennt man passivische Praktiken des Empfangens und Empfänglich-Werdens. Man muss sich entleeren, man fastet, reinigt und neutralisiert sich. Man strebt nicht nach Gott, sondern schafft Aushöhlungen im Selbst. Das Ich durchlöchert sich, um aufnahmebereit für etwas zu werden, das es nie wird umfassen oder aneignen können: für das Unvorhergesehene, Andere, Hohe, Allerhöchste, Außerirdische. Das Ich gebrauchen, um das Ich zu zerstören, fordert Simone Weil. Sie gehört zu den Theoretikerinnen, die das Ich für un-
Emmanuel Lévinas: Gott, der Tod und die Zeit. Übers. v. Astrid Nettling und Ulrike Wasel. Wien 1996, S. 117. Vgl. Simone Weil: Schwerkraft und Gnade. Übers. v. Friedhelm Kemp. München 1981, S. 38.
Schwächen – Passionen des Empfangens 53
gastlich halten. Das Ich muss zersetzt werden, um empfänglich und empfindsam zu werden. (Anders Lévinas, der meint, die Subjektivität sei per se gastlich, wenn auch in einem ungewollten, exzessiv passivischen Sinne. Im ungewählten und unwillkürlichen den Anderen-immer-schon-empfangen-haben ist das Selbst heimgesucht und zur Gastlichkeit verurteilt noch bevor es sie praktiziert. Das Selbst hat immer schon etwas empfangen, das über es hinausgeht, wie die Idee des Unendlichen bezeugt, von der es überschwemmt wird, weil es auf diese Weise mehr in sich enthält als es zu fassen vermag.) Nach Weil muss man sich „mit aller Kraft in einen Raum der Schwäche“ zwingen und das Ich entschaffen oder rückschöpfen. „Die Rückschöpfung ist eine Auflösung des Geschöpfs in uns – dieses Geschöpfs, das im Selbst beschlossen liegt und vom Selbst definiert wird. Aber um das Selbst aufzulösen, muss man sich durch das Selbst bewegen, bis zum Innersten seiner eigenen Definition.“ Beispielsweise durch Selbstaushungerung, die ähnlich ekstatisch oder enteignend wirkt wie Sex und Drogen, folgt man Chris Kraus’ Lektüre von Schwerkraft und Gnade. Kraus entwickelt aus Weils Idee eines zersetzenden Selbstgebrauchs eine andere Theorie der Empfindung: der Empfindung als enteignende Empfänglichkeit. Man schwächt sich, um aus sich herauszutreten und empfindsam zu werden. Die Empfindung ist im Außen, das Gefühl ist eine Landschaft. Porös und durchlässig geworden, verflochtenheitssensibel, habe man Teil an dieser Gefühlslandschaft. Kraus konstelliert Weils mystische Selbstaushöhlungen mit Texten zu Drogen, Sadomasochismus und künstlerischen Arbeiten. Anorexie, Sucht, Liebe und Kunst sind die Praktiken der Passionen des Empfangs, Techniken, um in eine exzentrische Empfänglichkeit zu geraten. Gerade die Drogenliteratur ist voll von ichverlorener Empfänglichkeit. In der Genealogie der Drogentexte als Empfänglichkeitsstudien kann man bis zu Charles Baudelaires Künstlichen Paradiesen zurückgehen. Er beschreibt den Haschischrausch als eine derartig intensive Überschärfung der Sinne, dass man zu dem wird, was man empfindet. Eben das bedeutet empfänglich zu sein: Das Selbstgefühl schwindet und in einer absoluten Hingegebenheit wird man zum Wahrgenommenen (und sei es die Pfeife, die man gerade raucht und der man „in einer Art Umstellung“, nun die merkwürdige Fähigkeit zuspricht, einen
Chris Kraus: Aliens & Anorexie. Übers. v. Kevin Vennemann. Berlin 2021, S. 110. Anne Carson: Decreation. Gedichte, Oper, Essays. Übers. v. Anja Utler. Frankfurt a. M. 2005, S. 187. Vgl. Kraus: Aliens & Anorexie, S. 111. Vgl. Charles Baudelaire: Die künstlichen Paradiese. Übers. v. Friedhelm Kemp. München/ Wien 1991, S. 77.
54 Kathrin Busch selbst zu rauchen – alle Aktionen werden zu Passionen: ich werde geraucht, das Ich löst sich in Rauch auf). Roland Barthes hat Baudelaires Drogentexte aufgegriffen, allerdings um sie umzuwenden und aus dem übersteigerten Gebrauch des eigenen Bewusstseins selbst ein Elixier mit Drogenwirkung zu gewinnen. Normalerweise wird den Drogen eine Beeinträchtigung des Bewusstsein nachgesagt: Halluzinationen, eine verschobene Wahrnehmung, unrealistische Vorstellungen. Barthes nun fasst das Bewusstsein „sobald es ein wenig übersteigert ist, selbst als Droge auf –› übersteigertes, überempfindliches Bewußtsein: unmoralisch, ungesetzlich, anstößig, ausgeschlossen, marginalisiert wie alle Drogen.“ Bewusstseinsübersteigerung bis zur Hypersensibilität – als gäbe es eine Empfindsamkeit des Denkens, nicht nur des Fleisches. Die derart sensibilisierte Vernunft ist so empfänglich, so sehr exponiert und vernehmend, dass sie zum Gedachten wird. „Die Dinge denken sich in mir“, wäre die richtige Formulierung für ein sensibles Wissen, das man als ästhetisches Denken auch in der Kunst kultiviert. Die gesteigerte Empfänglichkeit führt nach Barthes zu einer neuen Form von „Mit-wisserschaft“, zu einer anderen Idee, was überhaupt das „mit“ in „conscience“ bedeuten kann. Zum einen neutralisiert sie die gewohnte Funktion des Bewusstseins, sich introspektiv des eigenen Ichs zu vergewissern, und öffnet es für das Außen, das Anteil am Wissen hat. Zum anderen hat man sich das hypersensible Bewusstsein als ein berührungsfähiges Organ vorzustellen, in dem sich „Intellekt und Affekt“ zu einer neuen Wissensform vermählen Diese „Mit-wisserschaft“ stabilisiert nicht, sondern schwächt, so dass beispielsweise kleinste „Feilspäne von Affekten“ wie eine winzige Zärtlichkeit oder auch eine „Idee“ zu „Ohnmachtsanfällen“ führen könnten. Die Vernunft wird zum Empfangsorgan, sie empfängt, was sich zu denken gibt, aber auch das, was sich aufdrängt und sich möglicherweise mit „pulsierende[r] Vorstellungsenergie […] im Rhythmus von Peitschenhieben ausbreitet“ und bis zur Abwehr schreckt.“ Die Überempfänglichkeit erzeugt Idiosynkrasien, hypersensible denkerische Eigenheiten, die den verallgemeinerbaren Ansprüchen einer geteilten Vernunft entgleiten. Eine ähnliche Idee, dass man die Gaben der Idiosynkrasie als Praktiken der Passionen der Empfindsamkeit zu kultivieren hat, findet man schließlich auch bei Walter Benjamin. Für ihn sind die sensiblen Eigenheiten wie „schwache
Roland Barthes: Das Neutrum. Vorlesung am Collège de France 1977–1978. Übers. v. Horst Brühmann. Frankfurt a. M. 2005, S. 169–170. Barthes: Das Neutrum, S. 177. Barthes: Das Neutrum, S. 178–179. Barthes: Das Neutrum, S. 183.
Schwächen – Passionen des Empfangens 55
Pflanzen, Moose“ , die in die Fugen unerschütterlicher Denkgebäude dringen, um sie von Innen zu zersetzen. Als „höchstes kritisches Organ“ zeichnen sie Linien der Empfänglichkeit in die Fundamente der Vernunft.
Walter Benjamin: Deutsche Menschen. In: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. IV.1. Frankfurt a. M. 1991, S. 212. Walter Benjamin: Karl Kraus. In: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. II.1. Frankfurt a. M. 1991, S. 346.
Claudia Bruns11
Wunder der Empfängnis – Verdauung der Lektüren Rückblickend mag es erstaunen, dass Fragen leiblicher ‚Empfängnis‘ von Beginn an ins Zentrum einer christlichen Theologie rückten, die sich eigentlich der Askese verschrieben hatte. In verschachtelten Argumentationen versuchten bereits die frühen Christen zu ergründen, auf welche Weise sich der allmächtige Gott als logos auf den Weg gemacht haben mochte, um vom ‚Fleisch einer Jungfrau‘ empfangen zu werden und in ihr Gestalt anzunehmen. Dieses Wunder der Vermählung Gottes mit einer irdischen Magd geriet ins Zentrum eines Nachdenkens über das verwickelte Verhältnis zwischen Naturhaftigkeit und Geistigkeit, Menschlichkeit und Göttlichkeit, Männlichkeit und Weiblichkeit, aber auch Materialität und Medialität. Dabei haftete der Verführung einer menschlichen Schönen durch einen in Leidenschaft entbrannten Gott zunächst wenig Überraschendes an. Im Gegenteil, derartige Szenarien waren in der antiken Götterwelt so gewöhnlich und verbreitet, dass sie für Spott unter den Heiden sorgten, die den Christen vorwarfen, hier allzu Bekanntes für etwas Besonderes nehmen zu wollen. Die zahlreichen Geschichten von gieriger Lust, Raub und Verführung erregten jedoch unter den frühen Christen Verärgerung und empörten Widerspruch. Weniger um sinnliche Ekstase und wollüstige Theogamie sollte es dem christlichen Gott zu tun sein als um einen Prozess der Vergeistigung – ausgerechnet im Moment seiner Leibwerdung. Als Kontaktzone zum Göttlichen und damit als Brücke zwischen Transzendenz und Immanenz rückte der Körper Marias in den Fokus. So habe diese zwar den Samen Gottes empfangen, sei aber nach der Verkündigung noch Jungfrau geblieben, erläutert Justinus bereits Mitte des 2. Jhdts. Andere dehnten ihre sexuelle Unberührtheit noch weiter aus, sodass zur Lehrmeinung wurde, dass Maria nicht nur vor, sondern auch während (in partu) und nach der Geburt (post partum) weiterhin Jungfrau geblieben (semper virgo) und sie sogar selbst ohne Sünde empfangen worden sei, wie man noch im 19. Jhdt. im „Dogma von der unbefleckten Empfängnis“ festschrieb. Den Hintergrund dieser sich über Jahrhunderte erstreckenden Erörterungen bildeten verwickelte Auseinandersetzungen an der Schnittstelle zwischen Medizin, Philosophie und Theologie, die um die Grenzen ihrer jeweiligen Gültigkeitsbereiche kreisten und dabei noch drängendere Fragen nach dem zugrundeliegenden Verhältnis zwischen Gott und Natur aufwarfen. War Gott als allumfassender Schöpfer selbst an Naturgesetze gebunden und diesen unterworfen oder zeigte sich seine Göttlichkeit gerade in deren https://doi.org/10.1515/9783111233796-011
58 Claudia Bruns gezielter, partieller, wunderhafter Überwindung? – Indes schloss auch die Idee der Jungfrauengeburt an aus der Antike Bekanntes an. Ältere ägyptische Traditionsstränge aufnehmend, zeichnete es schon im vorchristlichen Rom herausragende Menschen aus, mithilfe geistiger Kräfte gezeugt und von einer Jungfrau geboren worden zu sein. Dennoch verbanden sich mit der Jungfräulichkeit zunächst noch keine asketischen Ideale sexueller Enthaltsamkeit, sondern vielmehr geschätzte Attribute der Fruchtbarkeit, Lebendigkeit und Jugend; ließ sich doch die Jungfräulichkeit großer Göttinnen rituell und dem Rhythmus der Jahreszeiten entsprechend immer wieder erneuern. In vor-monotheistischen Göttinnenkulten finden sich drei Phasen des weiblichen Lebenszyklus’ oft noch in einer einzigen mächtigen weiblichen Figur verbunden. In mythischen Beschreibungen folgte auf eine Jugendphase der Jungfrauenschaft eine der reifen Mutterschaft, die in eine dritte Phase der weise-dämonischen alten Frau überging, die das Reich der Unterwelt regieren und über den Tod gebieten würde, bevor sie alles wieder lebendig werden ließ. Die Erdgöttin tanzte im Chaos, umwunden von einer Urschlange, dem Ozean, und zeugte oft aus sich selbst heraus oder sie tötete ihren Geliebten rituell nach der Heiligen Hochzeit, um ihn später zu neuem Leben zu erwecken. Attribute der großen Magna Mater, die in prämonotheistischer Zeit (über ca. 10.000 Jahre) im gesamten Mittelmeerraum verbreitet waren, gingen in den Marienkult ebenso ein wie das Vorbild der jungfräulich gebärenden ägyptischen Isis oder der beliebten Allmuttergottheit Artemis, auf deren Trümmern im 5. Jhdt. ein Marienheiligtum errichtet wurde. Und obwohl Maria als Gottesgebärerin von der Bedeutung älterer weiblicher Gottheiten zehren konnte, wurden Fruchtbarkeit, Schöpferkraft und Erweckung zu neuem Leben – zumindest der amtlichen Lehre nach – sämtlich auf einen einzigen männlichen Gott übertragen, der das Geheimnis der Trinität nunmehr für sich beanspruchte und ins Abstrakte umzudeuten wusste. Trotzdem sollte es eine Weile dauern, bis seine wesentlichen Eigenschaften das Geschlecht wechselten, so galt der Heilige Geist (bzw. die jüdische shekinah) noch lange als weiblich bevor er im spiritus sanctus vermännlicht werden sollte. Maria kam in diesem Prozess des Übergangs eine Schlüsselfunktion zu. Ausgerechnet anhand einer Umdeutung der Art, wie sie empfangen haben soll-
Marina Warner: Maria. Geburt, Triumph, Niedergang – Rückkehr eines Mythos?, aus dem Engl. übers. von Luna G. Steiner. München 1982, S. 60. Heide Göttner-Abendroth: Die Göttin und ihr Heros. Stuttgart 101993, S. 36ff.; Mithu M. Sanyal: Vulva. Die Enthüllung des unsichtbaren Geschlechts. Berlin, S. 40ff. Helga Kaiser: Gott weiblich. Eine verborgene Seite des biblischen Gottes. In: Welt und Umwelt der Bibel 48 (2008), S. 2–7, hier S. 5.
Wunder der Empfängnis – Verdauung der Lektüren 59
te, wollten Theologen die leiblichen Prozesse zu einem transzendenten Ereignis geistigen Zeugens transformiert sehen. So erklärt ein Engel im Matthäus-Evangelium dem hadernden Josef, der sich mit dem Gedanken trug, seine vermeintlich untreue Verlobte zu verstoßen, dass die Schwangerschaft Marias allein durch den „heiligen Geist“ zustande gekommen sei. Josef war daraufhin bereit, das Kind als seines anzunehmen, es der Linie Davids (der Abrahamsohnschaft) einzufügen und sich jeder sexuellen Annäherung an Maria bis zur Geburt des Kindes zu enthalten. (Mt 1,24–25) Als Sohn entspringt Jesus daher einer doppelten männlichen Genealogie, er „ist nach dem Gesetz aus dem Stamm Davids – und er kommt von Gott her“. Diese Geschichte warf von Anfang an die pikante Frage auf, wie die geistige Zeugung mit natürlichen Erklärungsmodellen zusammen gedacht werden konnte. So machte der frühchristliche Gelehrte Origines (gest. ca. 253) zur Erklärung der Jungfrauengeburt einerseits eine Analogie zur Legende um die Geburt Platons auf, nach welcher der Gott Apollo dem Vater Platons erschienen sei und ihm geboten habe, die Ehe nicht zu vollziehen. Andererseits spekulierte er über mögliche natürliche Erklärungsmuster, etwa parthogenetische Prozesse, die bei Tieren zu finden seien. Und Laktanz brachte die Empfängnis Jesu mit der Be fruchtung von Erichthonius’ zwölf Stuten durch den Nordwind in Verbindung. Eine Erklärung, die sich mit biblischen Vorstellungen durchaus vereinbar zeigte, wurde doch göttliche Schöpferkraft etwa in der Genesis prominent als Lebensatem, der Adam eingehaucht wurde, metaphorisiert und überdies mit dem gesprochenen Wort selbst identifiziert. So erschließt sich auch die Metaphorik des „Überschattet werdens“ durch „den heiligen Geist“, die im Lukasevangelium gewählt wird. Diese nahm die se xuelle Dimension des Zeugungsgeschehens noch weiter zurück und verstärkte den Eindruck eines göttlichen Wesens, das sich weitgehend immateriell offenbart – als bloßer Schatten eines Sonnenstrahls, als Atemhauch, der als sinnhaftes Wort (fort)zeugende Wirkung entfaltet, erklärt doch ein Engel Maria ihre Schwangerschaft damit, dass „kein Wort (, das) von Gott her (kommt,) unwirksam sein“ wird. (Lk 1,6–38, hier: 35–37) Origenes brachte den Gedanken ein,
Michael Theobald: ‚Siehe, die Jungfrau wird empfangen‘ (Jes 7,14). Die ‚Geburtsankündigungen‘ Mt 1,18–25 und Lk1,26–38 im Licht ihrer schrifthermeneutischen, religionsgeschichtlichen und anthropologischen Voraussetzungen. In: Hans-Ulrich Weidemann (Hg.): „Der Name der Jungfrau war Maria“ (Lk 1,27). Neue exegetische Perspektiven auf die Mutter Jesu. Stuttgart 2018, S. 20–106, hier S. 34. Warner: Maria, S. 61. Warner: Maria, S. 61. Theobald: ‚Siehe, die Jungfrau wird empfangen‘, S. 44.
60 Claudia Bruns dass Jesu daher auch abstrakt, nämlich als „Wort Gottes“, verstanden werden könne, welches Maria auf die Worte des Engels hin in sich aufgenommen habe. Ein solch seelisches Empfangen heiliger Worte mithilfe der Macht des Geistes schloss an antike Vorstellungen an und inspirierte zu vermehrter Kunstproduktion. Da die Worte der Heiligen Schrift noch überwiegend mündlich weitergegeben und durch lautlichen Vortrag memoriert werden mussten, imaginierten mittelalterliche Künstler den Kontaktpunkt der Empfängnis vermehrt im Ohr, dem aufnehmenden Organ des Hörens. So hieß es in einer Hymne aus dem 6. Jh., dass „die Jungfrau durch das Ohr empfing und in ihrem Herzen gläubig gebar“. Und doch waren diese Ideen von geistiger Zeugung natürlichen Befruchtungsvorstellungen nicht gänzlich entgegengesetzt: So war im Physiologus, eine Art Bestiarium aus dem 2. Jh., etwa zu lesen, dass die Gattung der Wiesel über ihre Ohren trächtig würden. Auch Plutarch gab ägyptische Vorstellungen über Katzen wider, die über das Ohr befruchtet und aus dem Maul gebären würden. Mit dem apostolischen Glaubensbekenntnis verbreitete sich wiederum die Ansicht, dass der Heilige Geist das Kind als Ganzes in den Leib Marias eingepflanzt habe, wo es von Maria lediglich genährt worden sei, sodass Marias Mit wirkung am Geschehen weiter in den Hintergrund rückte. Maria geriet zum ‚Backofen‘, in dem das ‚Brot des Lebens‘ – das Jesuskind – ausgebacken werden sollte, wie auch das farbenprächtig illustrierte lateinische Blatt aus dem Stundenbuch des Chevalier de Rohan (ca. 1425–1430 angefertigt) zeigt, welches die Jungfrau mit dem Schuber eines Bäckers in der Hand präsentiert, während das Jesuskind entlang eines Lichtstrahls zu ihr gleitet. Der florentinische Erzbischof Antonius sollte diese Auffassung bald als Irrlehre kritisieren, denn der Leib, den Jesu annahm, stamme durchaus aus der Körpersubstanz von Maria, womit er wiederum an neu rezipierte aristotelische Zeugungslehren anschloss, welche den Gegensatz zwischen stofflichen und nicht-stofflichen Elementen in den Zeugungsakt einführten. Die Frau bringe die
Heathcote William Garrod (Hg.): The Oxford Book of Latin Verse, from the earliest fragments to the end of the fifth century AD. Oxford 1921, S. 23–24. Warner: Maria, S. 65. Das Barberini-Stundenbuch von Rouen: Cod. Barb. lat. 487. Ein Meisterwerk französischer Buchkunst 1510. Faksimile aus der Biblioteca Apostolica Vaticana, Rom, Stuttgart 1994. Vgl. Michael Baxandall: Painting and Experience in Fifteenth-Century Italy. Oxford 1972, S. 43. Zuvor hatte die zeitgenössische präformistische Pangenesis als Zweisamenlehre angenommen, dass sich gleichermaßen männliche und weibliche Samen mischten und um die Hoheit rangen. Vgl. Christian G. Bien: Der ‚Bruch‘ in Aristoteles’ Darstellung des Zeugungsbeitrags von Mann und Frau. Oder: Muß, wer a sagt, immer auch b sagen? In: Medizinhistorisches Journal 33.1 (1998), S. 3–17.
Wunder der Empfängnis – Verdauung der Lektüren 61
Materie ein, während der Mann dem Embryo Gestalt und Bewegung verleihe, womit ihm die ungleich höhere Aufgabe zukomme. Sein Same ‚verdampfe‘ nachdem er das Leben gespendet und das Blut gebildet habe. Das theologische Bemühen, die Lehre von der Jungfrauengeburt mit den jeweils neu aufkommenden ‚natürlichen‘ Zeugungslehren zu versöhnen, erwies sich somit immer wieder als Herausforderung. Der Widerspruch zwischen einem Gottesverständnis, das Gott im Einklang mit den Gesetzen der Natur stehend sah und ihn andererseits als Kraft, diese Natur selbst noch zu überwin den, überdauerte letztlich die Jahrhunderte. In diesem Zwiespalt wurde die jungfräuliche Empfängnis als von Natur aus möglich verstanden und zur gleichen Zeit als erhabenes Zeichen Gottes, die natürliche Ordnung transzendieren zu können. Die Reduktion der Jungfrau auf eine nicht-zeugende, sondern bloß aufnehmende oder widerspiegelnde, in sich selbst völlig entleerte Funktion wurde bereits im 13. Jhdt. durch den fahrenden Poeten Rutebeuf besungen, der Maria als eine „Fensterscheibe“ beschrieb, durch die die Sonne „tritt und wieder zurück kommt, ohne sie zu zerstören“. Auch die mit dem Mond identifizierte Maria wurde zwar mit den Mächten der Fruchtbarkeit ehemals weiblicher Gottheiten assoziiert und doch hieß es nun, dass der Mond seine Kraft eigentlich nur durch die Sonne, deren Strahlen er lediglich widerspiegele, gewonnen habe. Einen späten Nachhall dieses Phänomens mag sich in Irigarays kritischer Freudlektüre zu erkennen geben, in welcher sie scharfzüngig das Ausmaß aufdeckt, in welchem sich weibliche Geschlechtsidentität und Sexualität außerhalb des abendländischen „Systems der Repräsentation“ bewegen und auf eine rein widerspiegelnde Funktion für eine männliche Bedeutungsökonomie festgelegt sehen. „Ein Auto-Erotismus, der erlaubt, autorisiert und ermutigt wird, weil er in erhabenere Spektakel verschoben ist“, so Irigaray. Ein anderer Rezeptionsstrang des mariologischen Empfängnisdiskurses mag in die moderne Biologie hineinreichen, wurde doch die weibliche Eizelle bis in aktuelle naturwissenschaftliche Darstellungen der Zeugung hinein als rein passiv empfangend beschrieben. Die aktiv anziehenden Kräfte der weiblichen Eizelle konnten so lange nicht als Teil des Zeugungsprozesses wahrgenommen werden.
Bien: Der Bruch, S. 6. Warner: Maria, S. 65 Rutebeuf: Le Miracle de Théophile. Hg. von Grace Frank. Paris 1925. Warner: Maria, S. 65. Luce Irigaray: Speculum. Spiegel des anderen Geschlechts. Frankfurt a. M. 1980, S. 61.
62 Claudia Bruns Indes lässt sich die mit dem Ohr empfangende Maria auch als Beginn eines weiblichen Weges zu einem eigenen kontemplativen Leben lesen, einer erstmals sich eröffnenden Möglichkeit für Frauen, sich als hingebungsvolle „Bräute Christi“ wie in der imitatio mariae Orte der Intellektualität jenseits der Ehe zu erschließen. So finden sich bereits im Mittelalter Bilder einer Maria, die in Bücher vertieft ist, die Psalter liest, während sie Josef die Beaufsichtigung des Jesuskindes überlässt. Und in deren Leseerlebnis Leibhaftigkeit, Anschaulichkeit und Abstraktion im Übergang von der mündlichen zur schriftlichen Kultur eine neue Synthese eingehen. So wird das Abstrakte des Buchstabens zugleich eingeholt durch eine Metaphorik des sich Verliebens und erotischen Verschmelzens mit dem Text (dem Wort Gottes). Neben Märtyrerinnen, die sich die Beine aufritzten, sich entleibten und hungerten, um dem abstrakten Göttlichen so nahe wie möglich zu kommen, entwickelte sich eine Metaphorik, in der die Schrift selbst einverleibt, verspeist und genossen werden sollte, was gar das Essen heiliger Texte als magische Praktik einschloss. So ist vielfach von der „köstlichen Süße“ und „Speise“ des Evangeliums die Rede, welche „verschlungen“ und „verdaut“ werden soll, um selbst verwandelt und neu gezeugt zu werden, womit das verschobene, abgewertete Leibliche göttlicher Zeichenhaftigkeit ungewollt in die Konkretion zurückgeholt wurde und an die Vorgänge der Transsubstantia tion selbst erinnert. – In dieser Hinsicht ist der die Schrift bergende und aufnehmende, vermittelnde und weiterleitende Jungfrauenkörper selbst als Medium zu lesen. Gerade am heiklen Übergang von einer Memorial- und Manuskriptkultur zu einer Druckkultur lud Marias aufnehmender Leib zu körperlichen Metaphorisierungen abstrakter Vorgänge ein, die ihrerseits als frühe Form der Reflexion über Medialität selbst gelesen werden können. Die „das Wort empfangende“ und fortzeugende Maria mag auch als ein christlicher Nachklang zur viel rezipierten Allegorese der doctissima virgo philologia des Martianus Capella aus der Mitte des 5. Jhdts. erscheinen, welche sich ebenfalls mit einem Gott, mit dem antiken Merkur, vermählen wollte und als
Bettina Bock von Wülfingen: Die Familie unter dem Mikroskop. Das Bürgerliche Gesetzbuch und die Eizelle 1870 – 1900. Göttingen 2021, S. 93. Susanna Elm und Barbara Vinken (Hg.): Braut Christi. Familienform in Europa im Spiegel der sponsa. München, S. 7ff. Elm und Vinken: Braut Christi, S. 12. Horst Wenzel: Die ‚fließende‘ Rede und der ‚gefrorene‘ Text. Metaphern der Medialität. In: Gerhard Neumann (Hg.): Poststrukturalismus. Herausforderungen an die Literaturwissenschaft. Stuttgart 1997, S. 481–503, S. 486. Wenzel: Die ‚fließende‘ Rede und der ‚gefrorene‘ Text, S. 482. Wenzel: Die ‚fließende‘ Rede und der ‚gefrorene‘ Text, S. 482.
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„Besitzerin nicht nur des humanen Wissens, sondern überirdischer Geheimnisse“ im Fortgang des apotheotischen Geschehens – getragen von labor und amor – indes keine Kinder gebar, sondern jede Menge Bücher und damit enzyklopädisches Wissen in die Welt erbrach, das von den Freien Künsten sorgfältig eingesammelt wurde. Ein allegorisches Geschehen, das auf die Vergeblichkeit verweisen mag, den Wissenspraktiken, und mögen sie noch so abstrakt sein, die inwendige Sinnlichkeit auszutreiben wie auch die Repräsentation des symbolisch Weiblichen als schöpferische Figuration gänzlich auszulöschen.
Alexandru Cizek: Virgo Doctissima Philologia: Allegorie und Personifizierung in Artianus Capellas Werk De Nuptiis Philologiae et Mercurii. In: Sbornik Praci Filozofické Brnenské Univerzity: Studia Minora facultatis Philosophicae Uniersitatis Brunensis 13 (2008), S. 127–131.
Sofie Fingado12
Leben geben, giving birth Schwangerschaftsabbruch und unbedingter Empfang Die Debatte um Schwangerschaftsabbrüche hat im Juli 2022 neue Dringlichkeit erfahren: Mit der Entscheidung des US-amerikanischen Obersten Gerichtshofs in Dobbs v. Jackson Women’s Health Organization, das am 24. Juni 2022 die Entscheidung Roe v. Wade kippte, geht es um juristische Fragen, die ganz zentral das – nun nicht mehr durch die Verfassung garantierte – Recht auf den Abbruch von Schwangerschaften betreffen. Um das Recht auf Schwangerschaftsabbruch rankt sich eine scharf geführte Debatte: Während für Vertreter:innen der „pro life“-Bewegung das Leben von „ungeborenen Kindern“ auf dem Spiel steht und ultimativ auch die Vorstellung von „fetal personhood“ mit all ihren Implikatio nen rechtlich manifestiert werden soll, steht dem gegenüber die Position der „pro choice“-Bewegung, die das Leben, die Rechte und Freiheiten von Personen, die schwanger werden können, in der Debatte zu zentrieren sucht. Dass das Recht auf Schwangerschaftsabbruch in den USA nun erneut infrage gestellt wird, hat weitreichende Konsequenzen vor allem für diejenigen Personen, die sich von ungewollten Schwangerschaften bedroht und sich mit der Unmöglichkeit kon-
Mit dem Fall von Roe unterliegt das Recht auf Schwangerschaftsabbruch nun der Rechtsprechung einzelner Bundesstaaten und ist in 13 Bundesstaaten bereits aufgehoben und in einem weiteren äußerst begrenzt, siehe: The New York Times: „Tracking the States Where Abortion Is Now Banned“, zuletzt aktualisiert am 23. November 2022, The New York Times, https:/ /www.nytimes.com/interactive/2022/us/abortion-laws-roe-v-wade.html (letzter Zugriff: 28. November 2022). Auch und gerade ein Artikel über das Geben und Empfangen kommt ohne großzügige Gaben nicht aus: Hier sei Neela Janssen, Waldemar Isak und Jonathan Wilby im Besonderen gedankt. „Fetal personhood“ beschreibt die Vorstellung, dass ab dem Moment der Befruchtung der Eizelle embryonalem Gewebe bzw. dem Fötus Personenstatus und entsprechende Verfassungsrechte zustehen. Dies hat massive rechtliche Konsequenzen, die nicht nur das Verbot des Schwangerschaftsabbruchs, sondern insbesondere auch die Kriminalisierung schwangerer Personen betreffen: Sollten diese durch ihr Verhalten in der Schwangerschaft (etwa Drogenkonsum, die Einnahme von Medikamenten oder die Anwesenheit in als „gefährlich“ eingestuften Situationen) das Leben der „ungeborenen Person“ gefährden oder schädigen, können diese für Kindesmissbrauch oder, im Fall einer Fehlgeburt, für Totschlag oder Mord verurteilt werden; vgl. z. B. Elizabeth Downer, Susana Draper, Alejandra Estigarribia u. a. [Feminist Research on Violence Platform]: „Criminalization of Pregnancy. A War on Reproduction“, 15. Dezember 2020, Feminist Research on Violence, https://feministresearchonviolence.org/wp-content/uploads/ 2021/05/Booklet_MAY62021_HALF-LETTER-SIZE.pdf (letzter Zugriff: 30. August 2022), S. 9–10. https://doi.org/10.1515/9783111233796-012
66 Sofie Fingado frontiert sehen, ihre Schwangerschaft etwa durch Reisen in andere Bundesstaaten oder Länder und so auf sichere Weise (und ohne rechtliche Konsequenzen durch Kriminalisierung) zu beenden. Damit jedoch sind Schwarze Personen, people of color und Personen, die unter Armut leiden, ungleich stärker von dem Wegfall eines Rechts auf Schwangerschaftsabbruch betroffen. Die mit der Debatte um Schwangerschaftsabbruch angestoßene Verhandlung reproduktiver Selbstbestimmung wirft zugleich lange historische Schatten, die sich gerade nicht auf das Recht auf die Beendigung von Schwangerschaften reduzieren lassen, sondern Fragen nach „reproduktiver Gerechtigkeit“ auch als Fragen sozialer Gerechtigkeit stellen, wie insbesondere Schwarze Theoretikerinnen betont haben: Wer kann Kinder empfangen, sie zur Welt bringen, sie in Sicherheit großziehen? „Reproductive liberty […] must encompass the full range of procreative activities, in cluding the ability to bear a child“ , schreibt Dorothy Roberts und erinnert damit auch an die Gewaltgeschichte erzwungener Sterilisationen und Kontrazeption, die insbesondere Schwarze Personen im vergangenen Jahrhundert bedrohten. The American abortion conflict pits choice against life: either you are in favor of a woman’s right to choose what happens to her body, or you believe zygotes, embryos, and fetuses are alive. But what if you believe both?
Es ist die Organisation SisterSong Women of Color Reproductive Justice Collective, die den Begriff „reproductive justice“ maßgeblich geprägt hat, vgl. Meehan Crist: „Is it OK to have a child?“, 5. März 2020, London Review of Books, https://www.lrb.co.uk/the-paper/v42/n05/ meehan-crist/is-it-ok-to-have-a-child (letzter Zugriff: 30. August 2022); sowie Marian Jones: „Empty Choices. Women of Color and the History of Reproductive Justice“, in: Natalie Adler u. a. (Hg.): We Organize to Change Everything. Fighting for Abortion Access and Reproductive Justice. London/Brooklyn 2022 [publiziert als E-Book]. Auch verfügbar unter: dies.: „Empty Choices“, 16. Juni 2022, Verso Blog, https://www.versobooks.com/blogs/5373-empty-choices (letzter Zugriff: 30. August 2022). Der Begriff von „reproductive justice“ steht dabei auch einer Rhetorik individueller Wahlmöglichkeit („choice“) kritisch gegenüber und sucht den begrifflichen Rahmen damit auf systemischer Ebene zu erweitern, vgl. ebd. Vgl. z. B. Downer, Draper, Estigarribia u. a. [Feminist Research on Violence Platform]: „Criminalization of Pregnancy“, S. 4: „A core tenet of the reproductive justice movement, is the idea that true justice ensures not only that one has the right not to have a child, but that one has the right to have a child and to raise that child in a safe world.“ Dorothy Roberts: Killing the Black Body. Race, Reproduction, and the Meaning of Liberty. New York 1997, S. 6. Zur Geschichte von Zwangssterilisation, unfreiwilliger Verhütung, Verhütungsexperimenten und der Eugenik-Bewegung in den USA des 20. Jahrhunderts, der insbesondere Schwarze Frauen und Frauen of color ausgesetzt waren, siehe: Marian Jones: „Empty Choices“. Jones betont auch, dass Zwangssterilisationen von Frauen keineswegs der Vergangenheit angehören und im Gefängnissystem der USA auch heute noch praktiziert werden (vgl. ebd.).
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Die Intensität, mit der die Debatte um Schwangerschaftsabbrüche und reproduktive Selbstbestimmung geführt wird, ist so einerseits in ihren Berührungspunkten mit Gewaltgeschichte und sozialen Ungleichheiten zu verorten. Andererseits rührt sie von immer schon ethischen Fragestellungen, die sich mit dem Dilemma konfrontiert sehen, es gerade nicht mit zwei voneinander zu trennenden Personen zu tun zu haben, sondern unmittelbar auf die Angewiesenheit, Abhängigkeit und Interdependenz sozialer Beziehungen verwiesen zu werden: „[H]ow do we make ethical decisions […] when we are faced not with discrete, bounded individuals, but with persons who are more than one, and yet not qui te two?“ . Wie ließe sich aus kulturwissenschaftlicher Perspektive ein Zugang zu diesen Fragen entwickeln, der sich den ethischen Ansprüchen zu erkennen gibt, dabei jedoch die Frontstellung von life vs. choice nicht zur ultima ratio werden lässt? Was wüssten Überlegungen zu kulturellen Praktiken der Gabe und des Empfangs, zu Sozialität und der Unbedingtheit ethischer Ansprüche einem Nachdenken über Schwangerschaft und deren Abbruch an die Seite zu stellen? Es sind nicht zuletzt Gabentheorien, die eine Terminologie bemühen, die unmittelbar an die Situation von Empfängnis, Schwangerschaft und Mutterschaft anklingen lassen: Mit der „Fremderfahrung der Gabe“, der „Vermischung, der mélange von Person und Sache“, einer „alternierenden Besessenheit“ durch die Gabe und die gegebenen, dabei immer jedoch „beseelte[n]“ Gaben sind nur einige Wörter ins Spiel gebracht, die einen gabentheoretischen Zugang zu Schwangerschaft unmittelbar werden lassen und auf ebenjene Vermischungsverhältnisse verweisen, die sich der Idee „separierbarer“ Individuen verschlie ßen. Auch Schwangerschaft, deren Abbruch und Verhütung scheinen sich mindestens terminologisch einer gabentheoretischen Annäherung anzubieten:
Mari Jørstad: „A Choice and a Child“, 26. November 2018, The Kenan Institute for Ethics at Duke University, https://kenan.ethics.duke.edu/a-choice-and-a-child/ (letzter Zugriff: 28. November 2022). Jørstad: „A Choice and a Child“. Zum Begriff der „Separabilität“ siehe Denise Ferreira da Silva: „On Difference Without Separability“, in: 32nd Bienal De São Paulo Art Biennial: Incerteza viva, 2016, S. 57–65, hier insbesondere S. 63. Ich beziehe mich hier auf Iris Därmann und ihre Arbeit zu Gabentheorien, an dieser Stelle ganz besonders zu Marcel Mauss’ Essay sur le don, siehe dies.: Theorien der Gabe zur Einführung. Hamburg 2010, S. 16–19. Iris Därmann weist selbst an ebendieser Stelle darauf hin, dass es im Besonderen die mütterliche Gabe ist, die eine Besonderheit der Gabe zu charakterisieren weiß: „Nichts kann im Übrigen diese mélange, den ganzen und ungeteilten Eintritt der Person in ihre Sache, deutlicher zum Ausdruck bringen als der erste Schluck Nahrung: Was ist Muttermilch?“, ebd., S. 21.
68 Sofie Fingado Das englische „gift of life“ und „giving birth“ verweisen ebenso auf Praktiken des Gebens wie „das Leben schenken“ oder „jemandem ein Kind schenken“. „Ein Kind bekommen“ sowie die „Empfängnis“ und ihre Verhütung konturieren neben dem Geben explizit auch das Empfangen – und dessen Verweigerung und vorsorgliche Verhinderung. Dabei wird Empfangen und Empfänglichkeit in Überlegungen zu Gabepraktiken durchaus als mütterliche und weibliche Position gedacht, nicht zuletzt im Sinne eines „vorursprüngliche[n]“ Empfangs, der die Fähigkeit zur Gabe überhaupt erst ermöglicht. Iris Därmann beobachtet dies unter anderem in ihrer Lektüre von Michel Serres, in der „die Frau in ihrer Eigenschaft als ‚universelle Wirtin‘ und Ernährerin der Welt“ zu erkennen gegeben wird. Hier ist „sie die einzige, die gibt, ohne zu nehmen: Beim Austragen, Stillen und Lieben gibt sie einen Teil von sich (ihren ganzen Körper, die Brust, die warme Milch)“. Als Gastgeberin und empfangende Instanz ist sie die Einzige, der die Fähigkeit einer Gabe ohne Gegengabe zugedacht wird, eines Empfangens, das unbedingt auf die Gabe verpflichtet, bis hin zur Gabe „ihres ganzen Körpers“. Wenn „Gastlichkeit“ und Empfänglichkeit in gleicher Weise weiblich wie mütterlich sind, inwiefern kann gerade diese Verbindungslinie weitergedacht werden? Inwiefern kann das Empfangen als genuin weiblich theoretisierte Position von der tatsächlichen Situation von Schwangerschaft, sowie deren Verhütung und Abbruch informiert werden? Zugleich: Inwiefern dringt ein sol-
In Iris Därmanns Derrida-Lektüre wird das Empfangen in seiner Weiblichkeit sichtbar, wenn „[d]er vorursprüngliche Empfang, das Empfangen selbst […] weiblich“ gedacht wird (ebd., S. 126): „Der Gastgeber muss zuerst Gast in seinem eigenen Haus gewesen sein, die weibliche Gastfreundschaft und Intimität des Hauses aus den Händen der Frau empfangen haben, um dem Anderen und Fremden sein Haus öffnen zu können“, ebd., S. 125. Ebd., S. 156. Ebd. Vgl. Iris Därmann: „Die Tischgesellschaft. Zur Einführung“. In: dies. und Harald Lemke (Hg.): Die Tischgesellschaft. Philosophische und kulturwissenschaftliche Annäherungen. Bielefeld 2008, S. 15–33, S. 33: „Die Gastlichkeit, sie ist und sie bleibt weiblich.“ Dass sich diese In-Eins-Setzung von Weiblichkeit und Mütterlichkeit gerade nicht auf Schwarze Frauen bezieht und damit gewissermaßen „color blind“ ist, beobachtet etwa Dorothy Roberts, vgl. z. B. Roberts: Killing the Black Body, S. 21. Die Betonung von Schwarzem „dangerous mothering“ (ebd., S. 9) spricht Schwarzen Frauen die Befähigung zur Mütterlichkeit gerade im Sinne mütterlicher Empfänglichkeit und Gabe ab und produziert eine kulturelle Leerstelle: „American culture […] upholds no popular image of a Black mother tenderly nurturing her child“ (ebd., S. 15). Während die Identifizierung von Weiblichkeit und Mütterlichkeit ihrerseits zu hinterfragen ist, zeitigt die rassifizierte Bestimmung dieser Identifizierung nichtsdestotrotz Effekte: „Because women have been defined in terms of motherhood, devaluing this aspect of a woman’s identity is especially devastating. It cuts to the heart of what it means to be valued as a woman“ (Roberts: Killing the Black Body, S. 10).
Leben geben, giving birth 69
cher Erfahrungsraum darauf, dem unbedingten Anspruch auf Empfänglichkeit eine Aufmerksamkeit auf Praktiken der Zurückweisung, der Verweigerung oder Verhütung an die Seite zu stellen? Es ist Maggie Nelson, die darauf insistiert, Mutterschaft nicht allein in Analogie einer selbstlosen Gabe ohne Gegengabe zu denken, sondern mit dem Erfahrungsraum „tatsächlicher Mütter“ das Bild zu verkomplizieren und Ambivalenzen gegebener Sorge offenzuhalten: The problem with this analogizing is that it continues a long tradition of relying on the maternal as an idealized model for selfless care provision without contending with the experience of actual mothers themselves, who complicate the picture by having their own needs, not to mention an understanding of caregiving as historically and psychically inter woven with disintegration, failure, inequity, and coercion.
Sorge und Empfang können so gerade nicht als ein „given“, als schon Gegebenes genommen werden, sondern müssen in ihrer Besonderheit und Einzigkeit erkannt und im Lichte der Möglichkeit einer Zurückweisung und Empfangsverweigerung abgewägt und evaluiert werden. Dabei ist es tatsächliche Mutterschaft, die es notwendig werden lässt, nicht nur Zwang und Absprache von Mütterlichkeit, sondern auch Scheitern und Situationen der Abwägung und Zurückweisung mitzudenken. Aus dieser Perspektive begibt sich die Verneinung von Schwangerschaft auch auf die Spuren eines unbedingten Anspruchs besonders exzessiver Gaben und eines besonders prekären Empfangens. Mit der Debatte um Schwangerschaftsabbrüche wird die eingeforderte mütterliche Gabe in ihrer Unbedingtheit verhandelt: Muss die schwangere Person im Zweifel auch ihr Leben geben? Und kann sie – rechtlich, gesellschaftlich, ethisch – auf diese Gabe verpflichtet werden? Verhandelt wird dabei einerseits eine Gabe von Leben, Lebenszeit und des eigenen Körpers, andererseits die ganz konkrete Frage, ob Mütterlichkeit und die Unbedingtheit einer Verpflichtung zum Empfang bis zur tatsächlichen Zerstörung und Gabe des eigenen Körpers reichen muss – und inwiefern dieser Anspruch in einer juristischen Verpflichtung fixierbar ist. Ist Empfänglichkeit hier nicht allein über Analogie an Mutterschaft gebunden, so informiert sie vielmehr über die ungleiche Verteilung eines solchen ethischen Anspruchs, sowie über
Nelson: On Freedom. Four Songs of Care and Constraint. Dublin 2021, S. 68. Zu solch maßlosen Gaben und dem Unbedingtheitsanspruch, der sie umgibt, beziehe ich mich auf Iris Därmanns Arbeit zu Derrida, siehe etwa Därmann: Theorien der Gabe, S. 129: „Die Unbedingtheit des Anspruchs, der vom Anderen ausgeht, gebietet die exzessive Maßlosigkeit bis hin zur Selbstvernichtung.“
70 Sofie Fingado Verweigerungs-, Zurückweisungs- und Unterbrechungspraktiken, die Praktiken des Empfangs auf je eigene Weise zur Seite gestellt werden. Never in my life have I felt more prochoice than when I was pregnant. And never in my life have I understood more thoroughly, and been more excited about, a life that began at conception. Feminists may never make a bumper sticker that says IT’S A CHOICE AND A CHILD, but of course that’s what it is, and we know it.
Tatsächliche Mutter- und Schwangerschaft informiert die Debatte nicht im Sinne neugewonnener Eindeutigkeit, sondern hält Ambivalenzen offen: Inmitten eines unbedingten Anspruchs auf Empfang, inmitten der unbedingten Verpflichtung auf Gabe und Sorge, bleiben Praktiken der Verweigerung, des Scheiterns und des Zwangs möglich, denkbar und präsent. Fern jeder Eindeutigkeit geht es mit Maggie Nelson nicht darum, sich Dimensionen des Verlusts in Schwangerschaftsabbrüchen anästhetisch zu versperren. Dass sich der Gabe des eigenen Körpers verweigert wird, gewissermaßen trotz der Unbedingtheit der Forderung; dass Sozialität abgebrochen und unterbrochen wird und dass es – möglicherweise – damit auch etwas zu betrauern gibt, wird hier weniger bestritten als die Notwendigkeit ebenjenes trotzdem, das sich dem Empfangen verweigert und das sich der Unterbrechung des „Strom[s] der Gaben“ aussetzt. Die Anerkennung der Unbedingtheit des ethischen Anspruchs von Mutterschaft und der Forderung verausgabender Gaben kann hierin gerade nicht die Verrechtlichung dieses Anspruchs zur Konsequenz haben; ebensowenig, wie es darum gehen kann, einen solch unbedingten Anspruch an einzelne Personen und Körper zu binden. Gerade in der Einsicht um die Unbedingtheit eines Anspruchs auf (mütterlichen) Empfang, der sozialitätsstiftende und zum Geben befähigende „vorursprüngliche“ Funktionen trägt, kann dieser nicht als die individualisierte Aufgabe einzelner schwangerer Personen und ihrer Körper gedacht werden: „[C]are and responsibility can and should circulate apart from the
Maggie Nelson: The Argonauts, London 2015, S. 117. Von einer bemerkenswert ähnlichen Erfahrung berichtet auch Jia Tolentino: „As happens to many women, though, I became, if possible, more militant about the right to an abortion in the process of pregnancy, childbirth, and caregiving.“, dies.: „Is Abortion Sacred?“, 16. Juli 2022, The New Yorker, https://www.newyorker.com/ culture/essay/is-abortion-sacred (letzter Zugriff: 31. August 2022); siehe auch:. Jørstad, die ebenfalls die oben zitierte Passage von Nelson herausstellt: „The reason I am prochoice is not because I believe fetuses are insufficiently alive to matter, but because I am convinced that the person most competent to make normative decisions about a particular baby is the woman carrying it.“, dies.: „A Choice and a Child“. Zu dem „Strom“ bzw. der „ununterbrochene[n] Kette“ der Gaben bei Marcel Mauss, siehe: Därmann: Theorien der Gabe, S. 24–25, 92.
Leben geben, giving birth 71
maternal body, as well as apart from biological ties […].“ Empfänglichkeit jedoch kann gerade aus dieser Einsicht heraus im Sinne einer „Sozialisation des Mütterlichen“ einer Neu- und Umverteilung zugeführt werden und als Aufgabe einer Gesellschaft wahrgenommen werden, die sich der Prekarität und Verausgabung solcher zugleich alltäglicher und alles zumutender Gaben bewusst ist.
Nelson: On Freedom, S. 68. Fred Moten: „The General Antagonism. An Interview with Stevphen Shukaitis“, in: ders. und Stefano Harney: The Undercommons. Fugitive Planning & Black Study. Brooklyn 2013, S. 100–159, hier: S. 155 („the possibility of a general socialisation of the maternal“). Auch an dieser Stelle beziehe ich mich auf Nelson, die in ihrer Lektüre von Moten diese Stelle hervorhebt: „I see this possibility too, and in many ways hope for it (if by „socialiation“ [sic] Moten means a redistribution of the burdens and entanglements that have heretofore lodged in the maternal.)“, Nelson: On Freedom, S. 68.
Waldemar Isak13
Infusion und Schreiben Notizen zu Hervé Guiberts Zytomegalievirus. Krankenhaustagebuch Krank zu sein – alles daran wird zuerst in unsere Körper geschrieben, und irgendwann später vielleicht in ein Notizbuch.
Inwiefern könnten wir von einer Körperlichkeit des Empfangens sprechen? Was wüsste der Körper von den Kulturen des Empfangens? Auf welche Verfahren der Annahme und Aufnahme würde er uns hinweisen? Was wäre das Aisthetische der Aufnahme, wie würde es sich in einer ästhetischen Praxis vollziehen? Das Schreiben, zum Beispiel: Gäbe es eines, das dem aufnehmenden Körper antwor tet? Ein Schreiben, das der aufnehmende Körper ist? Ein „Entschreiben“ des aufnehmenden Körpers?
*** Zur Theoriegeschichte der Körpertechniken gehört das Krankenhauszimmer: Hier macht Marcel Mauss eine entscheidende Beobachtung, um seine Theorie der Techniken des Körpers auszuarbeiten. Die Aufmerksamkeit des liegenden Körpers scheint für die Beobachtung von Körpertechniken besonders geeignet zu sein. Wenn es so etwas wie eine Körpertechnik des Krankseins gäbe, wäre sie für Virginia Woolf wohl das Liegen selbst. Für Hervé Guibert wären es die Körpertechniken der Einnahme und Aufnahme. Zytomegalievirus. Krankenhausta-
Anne Boyer: Die Unsterblichen. Krankheit, Körper, Kapitalismus, übers. v. Daniela Seel. Berlin 2021, S. 47. Vgl. Jean-Luc Nancy: Corpus, übers. v. Nils Hodyas u. Timo Obergöker. Zürich/Berlin 2014. „Eine Art Erleuchtung kam mir im Krankenhaus.“ Marcel Mauss: Der Begriff der Technik des Körpers. In: ders.: Soziologie und Anthropologie. Bd. 2, übers. v. Eva Moldenhauer, Henning Ritter u. Axel Schmalfuß. München 1978, S. 199–217, hier S. 202. S. dazu auch Iris Därmanns wegweisende Einführung in Mauss’ Theorie der Körpertechniken vor dem Hintergrund seiner Hospitalisierung: Iris Därmann: Statt einer Einleitung. Plädoyer für eine Ethnologisierung der Kulturwissenschaft(en). In: dies. und Christoph Jamme (Hg.): Kulturwissenschaften. Konzepte, Theorien, Autoren. München 2007, S. 7–33, hier insb. S. 8. Vgl. Virginia Woolf: On Being Ill. In: The New Criterion VI (1926), H. 1, S. 32–45. https://doi.org/10.1515/9783111233796-013
74 Waldemar Isak gebuch, ein Text, an dem der Schriftsteller und Fotograf kurz vor seinem Suizid im Jahr 1991 gearbeitet hat, ist ein Bericht von drei Wochen, in dem er in kurzen Fragmenten die affektiven und körperlichen Eindrücke eines Krankenhausaufenthalts notiert. Sein Krankenhaustagebuch ist voller Beobachtungen von Momenten des körperlichen Aufnehmens, die sich zugleich kommunikativ nach Außen wenden. Besonders anschaulich wird das am Speiseplan, den Guibert an einer Stelle in sein Notizheft abschreibt: Heute: „Mittagessen – 1x Normalkost (ich schreibe ab). Eingelegte Champignons. Rochenflügel, braune Butter. Salzkartoffeln. Frischkäse 40% – Pflaumen – Brot 50gr.“ Es ist eine bekannte Manie, eine geheimnisvolle, unwiderstehliche und erdrückende, dass die Leute im Krankenhaus ihren Besuchern, die sowieso schon angewidert sind, in allen Einzelheiten beschreiben müssen, was sie alles geschluckt haben (versprochen, den abendlichen Speiseplan behalte ich für mich, es sei denn, es gibt etwas ganz Spezielles).
Das Gegessene, Geschluckte, Eingenommene und Aufgenomme gehört für Guibert zur Sprache derer, die im Krankenhaus sind. Sein Text vollzieht die Geste der Aufnahme noch einmal nach, indem er einen im Krankenhauszimmer vorhandenen Text – den Speiseplan, der als Hinweis auf die Mahlzeit bedeutsam für die temporale Erfahrung des Krankenhaustages ist (der Abschnitt beginnt mit „Heute“ und einem Doppelpunkt) – übernimmt. Ihn gibt er nicht nur den Besucher:innen, sondern auch den vielleicht „sowieso schon angewidert[en]“ Leser:innen seines Textes zu sehen. Es ist der Raum des Unzumutbaren, den Zytomegalievirus. Krankenhaustagebuch literarisch auslotet: Die Grenzen des Zumutbaren für den Kranken unter den Bedingungen des Krankenhauses, von denen das Tagebuch berichtet; und die Grenzen des Zumutbaren für einen Text, der das Erleben des kranken und behandelten Körpers aufzunehmen versucht.
*** Es gibt ein Wissen der Infusion, das im pharmakologischen Sinne ein Wissen der Dosis ist – und damit der Gabe und des Geschenks (dósis [griech.] Gabe, bestimmte Menge Arznei). Was wird dem Körper verabreicht, und wie viel? Die richtige Dosis versucht die unhintergehbare „Ambivalenz“ des pharmakons, das
Hervé Guibert: Zytomegalievirus. Krankenhaustagebuch, übers. v. Hinrich Schmidt-Henkel. Berlin 2021, S. 18. „Auch der Schriftsteller kann zu Fall kommen, wenn er auf einmal idiotisches Zeug oder Unzumutbares schreibt.“ Guibert: Zytomegalievirus, S. 17.
Infusion und Schreiben 75
Jacques Derrida in seiner Platon-Lektüre als „Heilmittel und Gift zugleich“ beschrieben hat, unbedenklich zu machen. Als Verunsicherung, die das pharmakon ist, taucht es in Guiberts Krankenhaustagebuch auf. Die ansonsten oft harmlos verlaufende Infektion mit dem titelgebenden Zytomegalievirus ist für den an AIDS erkrankten Autor mit lebensgefährlichen Komplikationen verbunden. Während des in Zytomegalievirus beschriebenen Krankenhausaufenthalts droht ihm der Verlust des Sehvermögens seines rechten Auges. Die schlechter werdende Sicht, die ihn am Lesen hindert, verbunden mit der Angst vor einer Augenoperation, die mitdiskutiert wird, ist einer der zentralen Fluchtpunkte des Tex tes. Die Unterteilung der fragmentarischen Absätze in Tagesabschnitte, die mit der Angabe von Tag und Monat einsetzen, machen den Tagebuchcharakter eines Textes aus, dem Guibert die ganze Ambivalenz des pharmakons beilegt, wenn er schreibt: „Ich weiß nicht, ob ich mir mit diesem Krankenhaustagebuch etwas Gutes tue oder etwas Schlechtes.“
*** In Guiberts Krankenhaustagebuch ist das Wissen der Infusion aber auch ein Wissen der Zeit, das eine Verbindung mit dem Schreiben eingeht (der künstliche Rahmen eines Tagebuchs von zwei Wochen, den Guibert sich für seinen Text vorstellt, als würde er genau wissen, wie lang sein Aufenthalt werden würde). Der regelmäßige Rhythmus der Blutabnahme und der Rhythmus des Tropfs strukturieren die temporale Erfahrung des Krankenhausaufenthalts, aber: Schreiben ist auch eine Art, die Zeit zu strukturieren und sie sich zu vertreiben. Ich warte, dass sie mir den Tropf anhängen (ich lerne mit Begeisterung den Fachjargon – wegen des Zytomegalievirus machen sie mir keine LP, keine Lumbalpunktion), ich werde
Jacques Derrida: Platons Pharmazie. In: ders.: Dissemination, übers. v. Hans-Dieter Gondek. Wien 1995, S. 69–190. Für eine ausführliche Kontextualisierung von Guiberts Krankenhaustagebuch s. Todd Meyers: Remainders. In: Hervé Guibert: Cytomegalovirus. A Hospitalization Diary, übers. v. Clara Orban. New York 2016, S. 75–82. Meyers erinnert: „Cytomegalovirus retinitis was the most serious ocular complication of AIDS, related most commonly to the reactivation of latent infection. It is cytomegalovirus, or rather the threat of blindness, that is bound up with a sense of a life’s being eclipsed in Guibert’s writing. As Guibert suggests, Cytomegalovirus is a backward premonition, an anticipation of blindness, of death, and of other forms of loss, as a kind of flattening of the self or what makes the individual.“ Meyers: Remainders, S. 77. Guibert: Zytomegalievirus, S. 23.
76 Waldemar Isak mich dafür hinlegen, es ist acht Uhr abends, ich bin müde. Es war ein langer Tag. Bis morgen. Ich stehe noch mal auf, um die Sätze zu notieren, die mir im Kopf herumgeistern, sonst verfolgen sie mich bis zum Morgen.
In sein Heft notiert Guibert seine unaufhörlichen Kämpfe mit dem Infusionsständer, der zu einem zentralen Referenzpunkt seines Schreibens wird. Der Infusionsständer hakt, er müsste ausgetauscht werden, er wird Teil seines Körpers, er hindert ihn in seinen Bewegungen, zeichnet seine Bewegungen mit. Mit Blick auf den Infusionsständer werden nicht nur die Bedingungen der Behandlung im Krankenhaus – wie die materielle Ausstattung und die Arbeitssituation des Pflegepersonals – mitbeschrieben. In der beständigen Referenz auf den Infusionsständer stellt Guibert in seinem Notizheft auch eine körperliche Zusammengehörigkeit zu diesem her, die den Körper des Schreibenden als einen aufnehmenden Körper konturiert. Die konkreten Medikamente, die Guibert auf diese Weise zugeführt werden, spielen dabei fast eine Nebenrolle. Es sind die Mit-Gaben der Infusion, ihre Materialität und Temporalität, mit denen Guibert und der Text ringen.
*** Zytomegalievirus. Krankenhaustagebuch artikuliert eine Aufmerksamkeit für die affektiven und körperlichen Konturen der Aufnahme. Der Infusionsständer gehört zum schreibenden Körper, er wird Teil schreibender Körperlichkeit: die Blockade, das Sperrige, der Zustand des Ständers, auf den sich Guiberts ganze Aufmerksamkeit richtet. Das Notizheft steht insofern in Beziehung zum Infusionsständer, als es ebenfalls mit dem Körper des Schreibenden verbunden bleibt. Guiberts Text ist zunächst das Heft, das er ganz nah an seinem Körper behält und auf das er Acht gibt: „Als sie mich heute früh mit dem Rollstuhl zum Röntgen abholten […], habe ich mein Heft erst unterm Kissen versteckt, dann dachte ich, das ist eine sehr schlechte Idee, es passte in die Tasche meines Kittels.“ Die Sorge um das Heft und damit um das Geschriebene drückt sich auch darin aus, dass Guibert das erste befüllte Heft einem Freund übergibt,
Guibert: Zytomegalievirus, S. 11–12. S. auch Clara Orban: Body [in] Parts. Bodies and Identity in Sade and Guibert. Bethlehem (PA) 2008, S. 82–83. Guibert: Zytomegalievirus, S. 44.
Infusion und Schreiben 77 in einem verschlossenen Umschlag, ohne ihm zu sagen, was drin war, denn morgen früh um neun gehe ich in den OP und ich hatte Angst, der Umschlag könnte mir aus dem Zimmer oder sogar noch aus meiner Tasche gestohlen werden. Ein rollender Ständer, endlich, wahrscheinlich haben sie den irgendwem gestohlen, viel leicht. Jemand ist gestorben.
Die Zeit des Krankenhausaufenthaltes folgt eigenen Rhythmen und Brüchen. Infusion und Schreiben liegen in Guiberts Krankenhaustagebuch nah beieinander und erzeugen eine Sensibilität des aufnehmenden Körpers, der die Zeit des Krankenhausaufenthalts durchschreitet, in der – im Angesicht dessen, was Guibert im langsamen Erblinden kommen sieht – nichts zu belanglos ist, um es zu notieren: Leer heute Abend, als hätte ich krank einen zwei Tage und zwei Nächte langen Boxkampf gegen fünfzig mehr oder weniger gesunde Leute hinter mir. Der Mond hat heute Abend auf sich warten lassen, dann war er nichts als ein kleines Lichtlein am verhangenen Himmel. Dank einer freundlichen Schwester konnte ich meinen Tropf um zwanzig Uhr kriegen, und er dauerte nur eine Stunde, wie verabredet. Jetzt ist es halb zehn. Gerade habe ich mit dem Strohhalm eine kleine Packung Milch getrunken, wie Schulkinder sie bekommen. Aufdruck auf dem Karton: „Nur für die Verwendung in Schulen.“ Ich hoffe, ich werde ge nug Zeit haben, mich auszuruhen.
Guibert: Zytomegalievirus, S. 34. Guibert: Zytomegalievirus, S. 28.
Thomas Macho14
Was wir empfangen Empfangen: Das Wort klingt nach Anfangen, nach Empfängnis, also nach einer Geburt. Das Leben ist die erste Gabe, die nicht erwidert werden kann: ein Geschenk, das – nicht erst seit Arthur Janov – häufig mit einem Trauma assoziiert wird. Was aber ist ein Trauma? Der Begriff ist längst in die Alltagssprache eingewandert; noch im deutschen Wörterbuch der Brüder Grimm taucht er nicht auf. Das inzwischen in vielen Sprachen verbreitete Wort stammt aus dem Altgriechischen und bezeichnet ursprünglich eine Wunde oder Verletzung. Zu seiner Popularisierung hat die Psychoanalyse entscheidend beigetragen: Schon in den frühen, gemeinsam mit Josef Breuer verfassten Studien zur Hysterie bezeichnet Freud das Trauma als eine Art von „Fremdkörper“, der „noch lange Zeit nach seinem Eindringen als gegenwärtig wirkendes Agens gelten muss“; und er schlägt als Therapie vor, „die Erinnerung an den veranlassenden Vorgang“ in der Hypnose „zu voller Helligkeit zu erwecken“. Heilung wird also von einer Wiederholung der traumatischen Affekte und Erfahrungen erwartet; sie tritt ein, sobald „der Kranke den Vorgang in möglichst ausführlicher Weise“ schildern und den Affekten Worte geben kann. Wer gelitten hat, muss reden. Das Ursprungstrauma kann nicht in Erinnerung und Sprache übersetzt werden; es zeigt sich bloß in den Symptomen der Angst und panischen Schreckens. Das Trauma verschlägt die Sprache. „Ein Ereignis ist kein Trauma, ein Ereignis war auch kein Trauma, ein Ereignis wird ein Trauma gewesen sein“, es ist nicht, es war nicht, es wird einmal gewesen sein; so beschreibt der Psychoanalytiker August Ruhs die Zeitform des Traumas. Dieser Zeitform hat der libanesische Schriftsteller und Regisseur Wajdi Mouawad eine dramatische Gestalt verliehen. Protagonistin seines Theaterstücks Incendies, Verbrennungen (2003) ist Nawal Marwan, deren Testament eine Zeitspanne von fünf Jahren abschließt, in denen Nawal dauerhaft geschwiegen hat. Kein Wort, nicht einmal zu ihren Zwillingskindern Jeanne und Simon, nicht einmal in Schlaf und Traum, wie der Notar, der das Testament verliest, allzu genau weiß; denn er hat ihre stummen
Vgl. Josef Breuer und Sigmund Freud: Über den psychischen Mechanismus hysterischer Phänomene. Vorläufige Mitteilung. In: Sigmund Freud: Gesammelte Werke. Erster Band: Werke aus den Jahren 1892–1899. London 1952, S. 81–98, hier S. 85. August Ruhs: Zum Metabolismus von Gewalt und Grausamkeit. In: texte. psychoanalyse. ästhetik. kulturkritik. 26 (2006), H. 3, S. 21–49, hier S. 28. https://doi.org/10.1515/9783111233796-014
80 Thomas Macho Nächte mit Hilfe eines Kassettenrecorders aufgenommen, in der Hoffnung, dass Nawal zumindest im Schlaf sprechen würde. Während die Tondokumente lediglich leise Geräusche wiedergeben, wirkt das verlesene Testament wie ein Schrei. Es erteilt einen Auftrag, der zunächst das jahrelange Schweigen zu erklären scheint: Kein Stein soll auf meinem Grab und mein Name nirgends stehen. Keine Inschrift für die, die ihr Wort brechen und ein Wort wurde gebrochen. Keine Inschrift für die, die Schweigen bewahren. Und Schweigen wurde bewahrt. Kein Stein. Kein Name auf dem Stein. Kei ne Inschrift für einen abwesenden Namen auf einem abwesenden Stein. Keinen Namen.
Kein Ort, keine Erinnerung, kein Name: Die Tote will verschwinden. Ihren Zwillingskindern sagt sie aber noch: „Die Kindheit ist ein Messer in der Kehle. Man zieht es nicht so leicht heraus.“ Mit einem Messer in der Kehle kann niemand sprechen. Um das Messer der Kindheit herauszuziehen, um die transgenerationale Weitergabe des Traumas zu beenden, müssen Jeanne und Simon jeweils einen Brief überbringen, und zwar an einen Empfänger, den sie nicht kennen: ihren Vater (so lautet der Auftrag für Jeanne) und an ihren Bruder (so lautet der Auftrag für Simon). Bisher dachten die Zwillinge stets, ihr Vater heiße Wahab und sei erschossen worden; von einem Bruder wussten sie nichts. Also machen sie sich auf den Weg von Kanada in den Nahen Osten, Jeanne zuerst, später auch Simon, um den Spuren des Lebens ihrer Mutter zu folgen. Was sie aufklären müssen, ist nichts weniger als die Geschichte ihrer eigenen Geburt. Als »Urszene« hatte Sigmund Freud die Beobachtung des Geschlechtsverkehrs der Eltern bezeichnet, erstmals in seiner Fallgeschichte vom Wolfsmann. Implizit war jedoch stets klar: Das Pathos dieses Begriffs bezieht sich nicht allein auf den Koitus der Eltern, sondern vielmehr auf das nachträgliche Wissen, selbst einer solchen Szene entsprungen zu sein. Es geht um die Frage, woher wir kommen. Das erste Problem schon der kleinsten Kinder, so argumentiert Freud, betreffe „nicht die Frage des Geschlechtsunterschiedes, sondern das Rätsel: Woher kommen die Kinder?“ Woher kommen wir selbst? Die Antworten, die Jeanne und Simon auf ihrer Reise in Erfahrung bringen, verkehren allerdings die zentrale Lehre der Psychoanalyse vom Ödipuskomplex
Wajdi Mouawad: Verbrennungen. Aus dem Frankokanadischen übersetzt von Uli Menke. Frankfurt a. M. 2019, S. 15. Mouawad: Verbrennungen, S. 15. Sigmund Freud: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. In: Sigmund Freud: Gesammelte Werke. Fünfter Band: Werke aus den Jahren 1904–1905. Frankfurt a. M. 1968. S. 27–145, hier S. 95.
Was wir empfangen 81
geradezu in ihr Gegenteil. Im Alter von vierzehn Jahren hatte Nawal mit Wahab ihre erste und letzte Liebesgeschichte erlebt; sie wurde schwanger, von ihrer Mutter und Familie beschimpft, ins Haus gesperrt, von Wahab getrennt und sofort nach der Geburt von ihrem Sohn, dem sie lediglich versprechen kann, was Wahab ihr bei der letzten Begegnung gesagt hat: „Was auch geschieht, ich wer de dich immer lieben“. Und sie steckt eine kleine rote Clownsnase in die Windel des Kindes, das die Hebamme mitnimmt. Ödipus wurde im Wald ausgesetzt; Nawals Sohn wird der jungen Mutter entrissen. Später verlässt sie ihr Heimatdorf, um in die Schule zu gehen; noch später sucht sie nach Wahab, vor allem aber nach ihrem Kind. Sie erschießt den Anführer der Milizen, die das Waisenhaus, in das ihr Sohn gebracht wurde, im Zuge eines Massakers verwüstet und in Brand gesetzt hatten, wird in ein berüchtigtes Gefängnis geworfen, wo sie viele Jahre lang regelmäßig gefoltert und vergewaltigt wird. Sie verstummt, wird jedoch zur „Frau, die singt“, weil sie, allen Qualen und Schrecken zum Trotz, ein Lied anstimmt, oft nachdem sie gerade erst vergewaltigt wurde. Die Frau, die schweigt, war die Frau, die singt. Und allmählich erfahren Jeanne und Simon nicht nur ihre eigenen Geburtsnamen Jannaane und Sarwane, die ihnen vor der Flucht nach Kanada gegeben wurden, sondern auch, dass ihr Vater zugleich ihr Bruder ist, nämlich der Folterer und Vergewaltiger im Gefängnis, das inzwischen zum Museum geworden ist. Im Zuge eines Prozesses gegen den Brudervater, den Kriegsverbrecher und Heckenschützen, können sie ihm die beiden Briefe aushändigen, die sie bei der Testamentseröffnung erhalten hatten. Just an der Clownsnase hatte ihre Mutter den lange gesuchten Sohn im Gefängnis erkannt. Nicht Jokaste verführt also Ödipus, den Sohn, den sie nicht erkennt, sondern der Sohn vergewaltigt die Mutter, die er nicht erkennt. Die traumatischen Urszenen werden wiederholt; sie werden nicht durch jahrelanges Schweigen aufgeklärt, sondern ausgerechnet durch eine Clownsnase und die Briefe, zuletzt durch den Brief an Jeanne und Simon, den sie nach der Übergabe der beiden Briefe an den Vaterbruder vom Notar erhalten. In diesem Brief heißt es, bezogen auf die Frage, woher wir kommen: „Wo beginnt eure Geschichte? Mit eurer Geburt? Dann beginnt sie im Schrecken. Mit der Geburt eures Vaters? Dann ist sie eine große Liebesgeschichte.“ Im selben Brief beschreibt Nawal den Zyklus der transgenerationalen Übermittlungen traumatischer Erfahrungen, jener ‚Fremdkörper‘, die uns die Sprache verschlagen und auslöschen können. „Die Frauen unserer Familie sind im Zorn gefangen. Ich zürnte meiner Mutter, so wie du mir zürnst, und so wie mei-
Mouawad: Verbrennungen, S. 35. Mouawad: Verbrennungen, S. 118.
82 Thomas Macho ne Mutter ihrer Mutter zürnte. Man muss den Faden zerreißen“, um dann vielleicht zu entdecken, dass eine „Liebesgeschichte im Blut, in der Vergewaltigung entspringt, und dass wiederum der Blutrünstige und Vergewaltiger von der Lie be abstammt.“ Aber wie kann dieser Faden zerrissen werden? Offenkundig hilft das Reden allein nicht; denn gerade das Versprechen, das Nawal ihrem Sohn kurz nach der Geburt gegeben hatte, ihn immer zu lieben, egal was geschieht, kann sie nicht halten; darum beginnt sie zu schweigen und schreibt nicht nur das Testament und die drei Briefe, sondern auch eine Zeugenaussage, die im Prozess gegen den Sohn, den Kriegsverbrecher, vorgelesen werden kann. Und sie nennt eine dritte Urszene – nach den beiden Schwängerungen, die erst einer jungen Liebe, und danach einer Vergewaltigung folgen. In dieser dritten Urszene ist Nawal sechzehn Jahre alt; ihre Großmutter Nazira liegt im Sterben und ermahnt sie: Vor einem Jahr ist dein Kind aus deinem Bauch gekommen, seitdem läufst du mit den Gedanken in den Wolken herum. Falle nicht, Nawal, sag nicht ja. Sag nein. Verweigere dich. Deine Liebe ist fort. Dein Kind ist fort. Ein Jahr ist es jetzt alt. Siehst du, deine Augen tränen sogleich. Akzeptiere es nicht, Nawal, akzeptiere es niemals. Höre mir deshalb zu. Höre mir zu: Um dich verweigern zu können, musst du reden können. [...] Lerne lesen, lerne schreiben, lerne rechnen, lerne reden. Lerne. Das ist die einzige Möglichkeit, um nicht zu sein wie wir. Lerne. Versprich es mir.
Ein zweites Versprechen, eine klare Reihenfolge: lernen, lesen, schreiben, rechnen, reden. Denn der Tod, so erklärt der Notar bei der Testamentseröffnung, „hat keine Sprache. Er vernichtet alle Versprechen“ , die nicht aufgezeichnet wurden. Die traumatische Erfahrung und der sprachlose Tod, mit dem man keine Verträge schließen kann, verhindern sonst, dass ein Name auf einen Stein geschrieben wird. Darin besteht die eigentliche Urszene: Im Alter von neunzehn Jahren schreibt Nawal den Namen der Großmutter auf ihren Grabstein ; und darum betont sie im Brief an ihre Zwillingskinder: „Wenn man euch nach eurer Geschichte fragen wird, so sagt, dass eure Geschichte, ihr Ursprung, auf den Tag zurückgeht, an dem ein junges Mädchen in ihr Heimatdorf zurückkehrt, um dort den Namen seiner Großmutter Nazira auf ihren Grabstein zu ritzen. Dort beginnt die Geschichte.“ Erinnerung bedarf der Medien, nicht nur der Hypnose oder
Mouawad: Verbrennungen, S. 118. Mouawad: Verbrennungen, S. 36–37. Mouawad: Verbrennungen, S. 12. Mouawad: Verbrennungen, S. 43. Mouawad: Verbrennungen, S. 118.
Was wir empfangen 83
einer talking cure, sondern auch der Schrift, der Lektüre, der gemalten Bilder, der Rechenkunst, die Jeanne unterrichtet, ja selbst der technischen Medien, der Fotografie, der Tonaufzeichnung in stummen Nächten, des Films. Als Heckenschütze montiert der Sohn Nawals eine Fotokamera auf sein Gewehr, um den Moment der wahllosen Tötung mit einem letzten Bild zu synchronisieren. Er nimmt sein späteres Geständnis vor Gericht als eine Art von Kunstprojekt vorweg. Und nicht umsonst beschließen seine Zwillingsgeschwister am Ende des Theaterstücks, noch einmal die Tonkassetten in den Recorder einzulegen, um dem Schweigen ihrer Mutter zu lauschen. Denis Villeneuve hat Wajdi Mouawads Incendies 2010 verfilmt. Sein Film, 2011 nominiert für den Oscar als bester fremdsprachiger Film, verzichtet auf viele Details; die Geschichte der schweigenden Frau hat er weitgehend ausgeblendet, ebenso wie die Tonaufzeichnungen des Notars oder den Prozess gegen Nawals Sohn, der die beiden Briefe seiner Mutter im kanadischen Exil erhält und am Ende vor ihrem Grabstein steht, der nun endlich auch einen Namen tragen darf. Die Mordfotos des Heckenschützen spielen im Film keine Rolle; der Film selbst ist das Medium, das keine Referenzen auf weitere Medien – von der Schrift bis zum Fotoapparat – zu brauchen scheint. Allerdings tritt das Trauma, die Frage nach der Sprache, die verschlagen wird, in den Hintergrund. Wie kann der Faden der Weitergabe zerrissen werden? Souha Fawaz Bechara, das wirkliche Vorbild für Mouawads Nawal, hat jedenfalls ein Buch über ihr Leben und ihre zehnjährige Inhaftierung im Foltergefängnis geschrieben; die französische Originalausgabe (von 2000) trägt den schlichten Titel Résistante, mit Iris Därmann: Undienlich.
Oliver Precht15
Empfänglichkeit und literarische Sprache Gedanken ausgehend von Clarice Lispector und Maurice Merleau-Ponty „Vivam os mortos, porque neles vivemos“, schreibt Clarice Lispector in Um sopro de vida (dt.: Ein Hauch von Leben), ihrem letzten, noch unübersetzten Buch, dessen Fertigstellung ihr eigener Tod verhinderte: „Lang leben die Toten, denn wir leben in ihnen“. Es sind rätselhafte, sperrige Worte, denen keine Erfahrung zu entsprechen scheint. Hätte Lispector umgekehrt behauptet, dass die Toten in uns weiterleben, hätte sie es den Leser_innen leichter gemacht. Sie hätten diese gängige Redensart zumindest vage mit ihrer eigenen Erfahrung in Einklang bringen können. Der Satz ließe sich sogar auf den Akt des Schreibens und Lesens selbst beziehen. Lispector schreibt sich mit ihren Worten in eine Institution ein: Sie reproduziert und tradiert die Struktur, die Ausdruckskraft und die Geschichte der portugiesischen Sprache. Ihr Schreiben nimmt an einem Leben der Sprache teil, an einer langsamen Transformation, die aus der beständigen Variation, aus kleinen Verschiebungen und Abweichungen hervorgeht. Die Reproduktion der instituierten Sprache lässt sich mit Edmund Husserl als die „passive Übernahme“ eines ursprünglichen schöpferischen Ausdrucks begreifen. Ohne dass dieser ursprüngliche Ausdrucksakt bei jedem neuen Sprechakt bewusst übernommen oder reaktiviert würde, lässt sich die passive Übernahme doch auf eine Erfahrung zurückführen, die an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit gemacht und durch den Ausdrucksakt nicht nur expliziert, sondern auch transformiert wurde. Als passive setzt die Übernahme ein Vergessen des ursprünglichen, instituierenden Ausdrucksaktes voraus. Durch dieses konstitutive Vergessen kann sich der ursprüngliche Sinn des Ausdrucks in der Sprache sedimentieren und unabhängig von einem neuen instituierenden Akt, durch die bloße Iteration und die darin implizierte beständige Variation verändern. Das Vergessen ermöglicht erst den Eigensinn der instituierten Sprache: Es ermög-
Clarice Lispector: Um sopro de vida. Rio de Janeiro 1999, S. 13, Übers. des Autors. Edmund Husserl: „Beilage III“ [besser bekannt als: Die Frage nach dem Ursprung der Geometrie als intentionalhistorisches Problem]. In: ders.: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie (= Husserliana, Bd VI.), hg. von Walter Biemel. Den Haag 1962, S. 365–386, hier S. 374. https://doi.org/10.1515/9783111233796-015
86 Oliver Precht licht den unintendierten Wandel der Laute, Schreibungen und Bedeutungen, die ganze teilweise regelhafte, teilweise von den merkwürdigsten Zufällen bestimmte Sprachgeschichte. Damit dieser Eigensinn nicht erstarrt, damit die Institution der Sprache lebendig bleibt, bedarf es bisweilen einer Erneuerung, eines Rückgangs auf die Erfahrungen, die den instituierenden Ausdrucksakten zugrundeliegen. Das Leben der Sprache setzt eine Empfänglichkeit der Lebenden für die sedimentierten und verschütteten Erfahrungen voraus, die zu einer bestimmten, oft vergessenen Zeit und an einem bestimmten, oft unbekannten Ort von einer oder einem oft anonymen Toten zum Ausdruck gebracht wurden. Doch das rätselhafte Zitat von Clarice Lispector zielt auf eine andere Empfänglichkeit ab, verweist auf eine andere Erfahrung als die einer passiven Reproduktion oder einer Reaktivierung, einer Wiederbelebung der Institution. Der Gedanke, dass wir in den Toten leben, verweist auf eine andere, schöpferische Art von Empfänglichkeit. Denn es gibt neben der Reproduktion der instituierten Sprache, neben dem Rückgang auf einen zuvor verschütteten, nur passiv übernommenen instituierenden Ausdrucksakt auch eine instituierende Sprache. Diese Sprache, die man mit Merleau-Ponty literarisch nennen kann, geht auf eine Erfahrung zurück, die in der instituierten Sprache noch nicht zum Ausdruck gebracht werden kann. Da alle Erfahrung von der Ausdrucks- und Sprachwelt bestimmt ist, kann diese unsagbare Erfahrung jedoch nicht gänzlich außerhalb der Sprache liegen. Sie ist kein schlechthin Unsagbares, keine mystische Erfahrung, die dem Wort grundsätzlich unzugänglich ist, sondern findet mit den Worten Merleau-Pontys in den Zwischenräumen der Zeichen statt. Zahlreiche Interpret_innen haben versucht, aus Clarice Lispector eine mystische Autorin zu machen, die auf eine schlechthin vor- oder außersprachliche Erfahrung abzielt, die sich per definitionem nie sagen oder schreiben lässt. Doch scheint die von Merleau-Ponty vorgeschlagene Rede von den Zwischenräumen der Sache sehr viel näher zu kommen. Lispectors Romane und Kurzgeschichten bezeugen nicht den gescheiterten Versuch, eine unkommunizierbare Erfahrung zum Ausdruck zu bringen. Sie gehen eher auf eine Erfahrung zurück, die zwischen den Zeichen stattfindet, und weil die Sprache immer eine geteilte Welt ist, auch zwischen den Schreibenden und den Lesenden. Weil diese Erfahrung in einer Zwischenwelt stattfindet, verweigert sie den Ausdruck gerade nicht, sondern drängt
In einer Zusammenfassung seiner Vorlesung Recherches sur l'usage littéraire du langage erkennt Merleau-Ponty das Spezifikum der literarischen Sprache in ihrer „erobernden Funktion“ (Maurice Merleau-Ponty: Vorlesungen I, hg. u. übers. von Alexandre Métraux. Berlin 1972, S. 58; für die Vorlesungsnotizen, vgl.: Recherches sur l'usage littéraire du langage: Cours au Collège de France. Notes, 1953, hg. von Benedetta Zaccarello u. Emmanuel de Saint Aubert. Genf 2013).
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selbst zur Sprache. Um diese Erfahrung zum Ausdruck zu bringen, bedarf es einer Empfänglichkeit für das noch nicht Gesagte, das kein Unsagbares ist. Darüber hinaus muss die Schreibende auch für ihre zukünftigen Lesenden empfänglich sein. Und gerade diese Erfahrung einer doppelten Empfänglichkeit ist es, die Lispectors eingangs zitierte Worte zum Ausdruck bringen und die sich mit den hier freilich nur angedeuteten Gedanken von Merleau-Ponty auf den Begriff bringen lässt. Das noch nicht Gesagte, das in den Zwischenräumen der Sprache durchscheint und zum Ausdruck drängt, verlangt eine Transformation der Sprache. Lispector will etwas sagen, das die Ausdruckskraft der instituierten Sprache übersteigt, das eine Transformation der bestehenden Sprache erfordert. Dabei muss es sich nicht um eine agrammatische Konstruktion oder einen Neologismus handeln. Ihr genügte in diesem Fall die Umkehr der Binsenweisheit, dass die Toten in uns weiterleben, um der Erfahrung einer schöpferischen Empfänglichkeit zum Ausdruck zu verhelfen. Die instituierende Sprache gelangt erst dann an ihr Ziel, wenn sie die instituierte Sprache tatsächlich transformiert hat. Wenn die neue Formulierung niemanden anspricht, wenn sie nicht einmal passiv übernommen wird, hat keine Transformation stattgefunden. Die im Sinne Merleau-Pontys literarische Sprache muss also mit den Lesenden rechnen, die ebenso in der Sprache der Schreibenden leben, wie diese umgekehrt in ihnen fortlebt. Die so verstandene literarische Sprache beschränkt sich freilich nicht auf im engeren Sinne literarische Texte, sie erfordert aber eine Aufmerksamkeit für oder eine Sorge um die Sprache, die Ausdruck nicht nur einer bisher ungesagten Erfahrung, sondern auch der Empfänglichkeit für die künftigen Leser_innen sein muss. Die Erfahrung dieser Empfänglichkeit hat Lispector an einer besonders interessanten Stelle in Worte gefasst, in einer Widmung „an mögliche Leser“, die dem Buch vorangestellt ist, das zweifellos am meisten zu ihrem mystischen Ruf beigetragen hat: Die Passion nach G.H. Dort heißt es: Dieses Buch ist wie jedes andere auch. Aber ich würde mich freuen, wenn es nur von Menschen gelesen würde, deren Seele bereits geformt ist. Jene, die wissen, dass die Annäherung, an was auch immer, sich gradweise und schmerzlich vollzieht, indem man selbst das Gegenteil dessen durchquert, dem man sich annähern wird. Jene Menschen – und nur die –, die ganz langsam verstehen werden, dass dieses Buch niemandem etwas weg nimmt.
Das Buch ist wie jedes andere auch, es schreibt sich in die Institution der Sprache ein, es wird gelesen, ignoriert, imitiert, honoriert, kritisiert und zitiert. Es reproduziert die Institution der Sprache. Aber Clarice Lispector würde sich freuen, wenn es noch mehr wäre, wenn es von solchen Leser_innen gelesen würde,
88 Oliver Precht die verstehen, dass die Annäherung an diese Erfahrung, die sie zum Ausdruck bringen will, ihr Gegenteil durchqueren muss. Um einen neuen Ausdruck zu stiften, um die Erfahrung weiterzugeben, muss sie selbst empfänglich gegenüber den Empfangenden sein. Und umgekehrt müssen die Empfangenden selbst geben, sich selbst einschreiben, mit der Schreibenden kommunizieren, um überhaupt empfangen zu können. Und so verstehen sie im Lesen dieses gar nicht mystischen Buches, dass es ihnen nichts „wegnimmt“. Denn das ganze Buch bringt keine Erfahrung des Unkommunizierbaren zum Ausdruck, die den Lesenden für immer unzugänglich bleiben muss, sondern eine wechselseitige Empfänglichkeit, die für Lispector wie für Merleau-Ponty das Wesen der literarischen Sprache ausmacht.
Clarice Lispector: Die Passion nach G.H. Übers. von Christiane Schübers u. Sarita Brandt. Berlin 1984, S. 5 [Übersetzung leicht modifziert]. Im Original lautet die Stelle: „Este livro é como um livro qualquer. Mas eu ficaria contete se fosse lido apenas por pessoas de alma ja formada. Aquelas que sabem que a aproximação do que quer que seja, se faz gradualmente e penosamente – atravessando inclusive o oposto daquilo que se vai aproximar. Aquelas pessoas que, só elas entenderão bem devagar que este livro nada tira de ninguém.“ (Clarice Lispector: A paixão segundo G.H. Rio de Janeiro 2009, S. 5). Vgl. zum Verständnis dieser Widmung auch den wegweisenden Essay von Hélène Cixous: „L'auteur en vérité“. In: dies.: L'heure de Clarice Lispector. Paris 1989, S. 121–168.
Michael Wildt16
Den Tod empfangen Die mir vielleicht liebste Fotografie meiner Mutter stammt vom Tag vor ihrem Tod. Im Bett ihres Pflegeheims liegend, bekleidet mit einem sonnengelben Pullover, die Haare offen, die seit längerem schon nicht mehr geschnitten worden sind, die Hände gefaltet über der Decke, schaut sie den Fotografen, ihren Enkel, zugewandt lächelnd an. Dieses Lächeln gilt Yann, der sie an diesem Sonntag besucht; es weist aber darüber hinaus auf eine Stimmung hin, die bei ihr bereits in den Wochen zuvor zu spüren war: sie schloss mit ihrem Leben ab in dem Gefühl, zufrieden mit dem Geleisteten zu sein. Gut zwei Monate vor diesem Tag war eine schwere Anämie diagnostiziert worden. Damals noch wehrte sie sich gegen die Aussicht, bald sterben zu müssen. Sie willigte ein, sich einer mühseligen diagnostischen Prozedur in der Onkologie einer Fachklinik zu unterziehen, hoffte mit den Ärzten auf eine stabilisierende, medikamentöse Therapie, bestimmte selbst ein Pflegeheim, in das sie nach dem Krankenhausaufenthalt zur Kurzzeitpflege aufgenommen werden wollte, um dort ihren Lebensabend, wie es so euphemistisch heißt, verbringen zu können. Es war ihr klar, dass sie nicht mehr in ihr Haus, in dem sie fast sechzig Jahre gelebt hatte, würde zurückkehren können. Doch als sich die Blutwerte in der Kurzzeitpflege wieder drastisch verschlechterten, wusste sie als Ärztin, dass sie nicht mehr lange leben würde. Lebensverlängernde Maßnahmen wie regelmäßige Bluttransfusionen lehnte sie ab. In diesen letzten Wochen begann sie, Abschied zu nehmen, vor allem für sich von ihrem Leben, von der Welt. Kann man sagen: sie empfing ihren Tod? Wir sind gewohnt, den Tod als etwas Äußeres zu verstehen, der uns ereilt, obwohl er uns zugehörig ist. Heideggers Formulierung vom Sein zum Tode blitzt in akademischen Gesprächen als bildungsbürgerliche Floskel auf, hat aber keinen Nachhall, wenn es wirklich um das Sterben und den Tod geht. Das Bild vom Tod, der uns wie ein unerwarteter Schlag trifft, ist weit geläufiger. Wir sehen ihn nicht kommen, er (er)schlägt uns jäh und unvermittelt – in Begriffen wie Herzschlag oder Schlaganfall wird diese Vorstellung sprachlich explizit. Es gibt ein jahrhundertealtes Bild, das dem Schlag ähnelt, aber nicht identisch damit ist: der Tod als Schnitter, als Sensenmann. „Es ist ein Schnitter, der heißt Tod“, dichtete Clemens Brentano nach einem alten Volkslied, „er mäht das Korn, wenn’s Gott gebot; schon wetzt er die Sense, dass schneidend sie glänze. Bald wird er dich schneiden, du wirst es nur leiden“. Der Schnitter kommt plötzhttps://doi.org/10.1515/9783111233796-016
90 Michael Wildt lich, aber nicht unerwartet, denn nach der Aussaat, der Blüte und Reifung des Korns ist die Ernte, das Mähen des Getreides unausweichlich. Vor allem ist der Schnitter ein unerbittlicher Gleichmacher. „Was heute noch frisch und blühend steht, wird morgen schon hinweggemäht“, heißt es weiter bei Brentano. „Viel hunderttausend ohne Zahl, ihr sinket durch der Sense Stahl; weh Rosen, weh Lilien, weh krause Basilien! Selbst euch Kaiserkronen wird er nicht verschonen“. Dieser Schnitter ist kein anonymer Schlag von außen; er ist eine Person, die unweigerlich ins Leben tritt. Mitunter kommt er früh, was nur als Unglück empfunden werden kann; in der Regel stellt er sich im Alter ein, wenn der Lebenslauf sein Ende erreicht hat. Der Schnitt ist jäh und hart, doch zu erahnen. Man kann diesen Tod am Horizont erkennen und sein Nahen spüren. Und es gibt ein Bild, das dieses intime, personale Verhältnis zum Tod noch verstärkt, in dem er Gevatter genannt wird. Dieser Tod kommt und nimmt an die Hand und geleitet in eine andere Welt. In einem Märchen, das die Brüder Grimm aufgezeichnet haben, erscheint der Tod als freundlicher Gevatter, der seinem Patenkind Heilkräuter zeigt, mit denen dieser ein berühmter und wohlhabender Arzt werden kann, und tritt sogar selbst an das Bett der Kranken, um dem Arzt ein Zeichen zu geben, ob der Kranke geheilt werden kann oder sterben muss. Selbst als der Arzt seinen Paten überlistet, zeigt sich der Tod nachsichtig und löscht dessen Lebenslicht erst aus, nachdem der ein zweites Mal den Frevel versucht hat. Und noch ein weiteres tröstliches Bild hält dieser Tod bereit. In der unterirdischen Halle, in der die Lebenslichter aller Menschen brennen, mal groß und kaum verbraucht die einen, mal heruntergebrannt und kurz vor dem Verlöschen die anderen, erklärt der Tod die Regel, dass für ein erloschenes Licht ein anderes, neues angezündet werden muss. Jeder Tod gebiert ein neues Leben. Ich weiß nicht, ob meine Mutter diese Geschichten vom Tod kannte. Aber über ihren Tod haben wir gesprochen. Es war ihr wichtig, die materiellen Dinge zu ordnen und von mir und meinem Bruder die Gewissheit zu haben, dass wir ihren Willen, keine lebensverlängernden Maßnahmen im Krankenhaus zu erhalten, respektieren und vertreten, wenn sie dazu nicht mehr in der Lage sein sollte. Für sie kam der Tod nicht jäh und überraschend, sondern sie war, nun fast 93 Jahre alt, auf ihn vorbereitet und wartete auf ihn. Es war sehr schön mitzuerleben, wie sie in den letzten Wochen noch einmal ihr Leben Revue passieren ließ und es sich in ihrem Blick, wie sie sagte, rundete. Yann, ihrem Enkel, erzählte sie etliche Episoden aus ihrem Leben, und mit meinem Bruder und mir wollte sie über Entscheidungen in ihrem Leben sprechen, darunter auch, warum sie nach dem frühen Tod ihres Ehemanns, unseren Vater, nicht wieder geheiratet hat. Dazu ist es nicht mehr gekommen. An dem Tag, an dem sie starb, erlitt sie am Vormittag einen Schwächeanfall und wurde ins Krankenhaus ge-
Den Tod empfangen 91
bracht. In voller Klarheit erläuterte sie dem Notfallarzt, dass sie keine lebensverlängernden Maßnahmen wolle, und als er fragte, was er denn für sie tun könne, antwortete sie, dass sie nur Ruhe wünsche. Die Krankenschwester, die nachmittags nach ihr schaute, sah, dass sie schlief. Zwei Stunden später stellte der Arzt ihren Tod fest. Mein Bruder, der sie nur kurze Zeit danach erreichte, berichtete, wie friedlich ihr Gesichtsausdruck gewesen sei. Kann man sagen, dass unsere Mutter den Tod empfing? Ja, aber nicht passiv, ihrem Schicksal ergeben, sondern aufmerksam für ihn wie einen Begleiter, auf den sie wartete und dem sie sich anvertraute.
Empfangsräume: Beziehungen und Konstellationen
Stephan Zandt17
„The beautiful land gave you a practical foundation“ Schlaflied und dekoloniale Reterritorialisierung in Celina Kalluks Naglingnarniqpaakuluk Isumaksaqsiukainnarit, kulu, nunarjuavut inngiusiqalirmat tusarniqtumik pijjutigillunitit. Sinittiarit. Qaukpat utaqkittiarniaqpuq. Sailittiarit, kulu quviasuutiksaqaravit, suuqaimma naglingnimmariugavit. Versuch ein wenig zu träumen, Kulu [wörtl. süße/r Kleine/r], unsere Welt [wörtl. das große Land, in dem du zuhause bist] ist es gewohnt dir jetzt ein Lied zu singen, für dessen Schönheit du der Grund bist. Schlaf gut. Morgen wird geduldig warten. Werde ruhig, Kulu, denn du besitzt etwas, das glücklich macht, kein Wunder: denn du bist wirkliche Liebe.
Sich in den Schlaf und in die Welt der Träume wiegen oder gewiegt werden: vielleicht gibt es keine grundlegendere Form, um sich in der existentiellen Not und im Offenen der Welt zu stabilisieren. Und so ist das Wiegen von Kindern auf dem Arm oder dem Schoß, in Tüchern und Tragen, in aufgehängten Schalen und Teppichen oder auf Schaukelbrettern montierten Bettchen eine kulturübergreifend gelebte Praxis, die den durchaus schwierigen Übergang von Wachen und Schlafen ritualisiert. Rhythmisch schwingende und schaukelnde Bewegungen beruhigen und schläfern ein. Umso mehr, wenn sie von monotonen, dem Rhythmus des Wiegens angepassten Liedern, Lautfolgen und Gesängen begleitet werden. Denn die zumeist von der Mutter oder einer anderen vertrauten Person halblaut gesungenen einfachen Melodien und Lautfolgen erzeugen, wie die Musikethnologin Gerlinde Haid bemerkt hat, „eine Schwingungsharmonie, die das rhythmische Gleichmaß der Bewegungen fortsetzt, mit denen das Ungeborene im Mutterleib heranwächst, wodurch die Beruhigungswirkung verstärkt wird.“ In der Intensivierung der wiegenden Bewegungen ergreifen die Rhythmen der vertrauten
Celina Kalluk: Naglingnarniqpaakuluk. Titiraujaqti Aliksanturia Niunakis. Iqualuit, NU 2014. Meine Übersetzung unter Zuhilfenahme der engl. Ausgabe: Celina Kalluk: Sweetest Kulu. Illustrated by Alexandria Neonakis. Iqaluit, NU 2014. https://doi.org/10.1515/9783111233796-017
96 Stephan Zandt Stimme den ganzen Körper und stiften zwischen den nahen und doch getrennten Körpern von Mutter und Kind einen Raum intensiver Geborgenheit und geteilter körperlicher Resonanz. Gerade in dem unsicheren Zwischenraum zwischen den Zeiten – zwischen Anspannung und Ruhe, körperlicher Zu- und Abwendung, Wachen, Schlafen und Träumen – erzeugt der sich alltäglich wiederholende Rhythmus eine ebenso vertraute wie verlässliche Ordnung: einen safe space und ein Zuhause. Das Lied webt ein wiederkehrendes, territoriales Gefüge, das Kind und Bezugsperson in einen rituell verfügten, intimen Beziehungsraum ein- und die beängstigende Außenwelt auszuschließen sucht. Das Wiegenlied bildet einen „musikalischen ‚Nomos‘“: „eine kleine Weise, eine melodische Formel, die wiedererkannt werden kann“ und die als ordnendes und stabilisierendes Fundament für die Polyphonie der Welt fungiert. Wie das Ritornell oder der Refrain, deren milieustiftende Funktion Gilles Deleuze und Felix Guattari in ihren Tausend Plateaus hervorgehoben haben, so hat auch und gerade das Wiegenlied in seiner rhythmisierenden Dimension „eine wichtige Beziehung zum Heimatli chen, zum Geburtsort“ . Eine Beziehung, die, noch bevor sie von den eigenen kleinen Liedern aufgegriffen wird, durch einen mütterlichen Rhythmus empfangen wird, der sich im wiegenden Gesang wortwörtlich: mater-ialisiert. So ist das Schlaflied in vielfacher Hinsicht ein Übergangsphänomen , mit dessen Wieder holung und Erinnerung wir lernen, „in uns selbst zu ‚wohnen‘“ . Kaum verwunderlich, dass die historischen Konjunkturen, in denen die alltäglich praktizierten Schlaf- und Wiegenlieder eine Neuverhandlung erfahren, oftmals von gesellschaftlichen Umbrüchen und Krisenzeiten zeugen, in denen die gewohnte Weltordnung ihre Selbstverständlichkeit einbüßt, oder gar, wie im Falle vieler indigener Kulturen, durch physische und kulturelle Genozide und gewaltvolle Assimilationspolitiken in ihrer Existenz bedroht ist. In diese Richtung weist auch das 2014 erschienene und mehrfach ausgezeichnete Kinderbuch Naglingnarniqpaakuluk der Katajjaq-Sängerin Celina Kalluk, das sich nachdrücklich als ein in Schrift und Bilder übersetztes Einschlaflied gestaltet, in dessen Verlauf der Säugling Kulu, vermittelt durch die Stimme und Erzählung der
Gerlinde Haid: Wiegenlied. In: Oesterreichisches Musiklexikon online, begr. von Rudolf Flotzinger, hg. von Barbara Boisits, URL: https://dx.doi.org/10.1553/0x0001e6bb (letzter Aufruf 26.10.2022). Gilles Deleuze und Felix Guattari: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie. Hg. von Günther Rösch, übers. von Gabriele Ricke und Ronald Voullié. Berlin 2005, S. 426. Deleuze und Guattari: Tausend Plateaus, S. 426. Vgl. Donald W. Winnicott: Vom Spiel zur Kreativität. Übers. von Michael Ermann. Stuttgart 2009, S. 11. Gaston Bachelard: Poetik des Raumes. Übers. von Kurt Leonhard. Frankfurt a. M. 2007, S. 26.
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Mutter, die Melodien des Windes und die Eigenschaften und Gaben der arkti schen Tiere und des Landes als „thoughts, feelings, and best wishes“ empfängt. Dabei verweist Kalluks Buch, neben seinen Anschlüssen an die traditionelle, exemplarisch-didaktische und spielerische Verwendung von Tier- und Natur exempeln in Mythen und Geschichten (unikkaaqtuat) , insbesondere auf die Revitalisierung unterschiedlicher Traditionen von Schlafliedern. Im kreativen Spannungsfeld von Gesang, Erzählung und Imagination dienen diese nicht nur dazu, einen kindgerechten Diskurs über Identität und Beziehungen zum Land zu führen, sondern diese kolonial prekär gewordenen Verbindungen in performativer Absicht neu zu vermitteln. Im Gespräch mit der Inuit-Radiomacherin Jessie Kangok betont Kalluk dabei nachdrücklich den Kontext der eigenen Schwangerschaft in Toronto, fernab von ihrem Heimatort und ihrer Familie in Resolute Bay, Nunavut, die Entstehung des Buches. Das Wechselspiel der Ge fühle von Heimweh und zärtlicher Liebe zu ihren Kindern, begründet hierin nicht nur den Anlass des Buches, sondern auch seine Liedform, die eine für die Erwachsenen-Kind- und insbesondere die Mutter-Kind-Beziehung essenzielle Tradition und Kulturpraxis von kleinen rhythmischen Liedern oder Wortfolgen aufgreift: die sogenannten Aqausiit. Während es in den frühen 1990er Jahren so schien, als wäre die Beziehungspraxis der Aqautsiit bei jungen Inuit-Frauen unter dem Stress des kulturellen Wandels in eine Krise geraten, werden diese inzwischen wieder als lebendige Tradition wahrgenommen und als essentiell für die kindliche Bindung sowie die Bildung von Zugehörigkeit, Identität und Selbstvertrauen erachtet. Schon der Titel des Buches, Naglingnarniqpaakuluk, der in einer zärtlichen Koseformel das süße Kleine (kulu) als am meisten liebenswertes (nagling -naq -niqpaq) auszeichnet, verweist auf die mit dem Schaukeln des Kindes auf dem Knie oder an
Kalluk: Sweetest Kulu, o.S. Zur Bedeutung der unikkaaqtuat für die Erziehung von Kindern vgl. Naqi Ekho, Uqsuralik Ottokie: Interviewing Inuit Elders. Vol. 3: Childbearing Practices. Ed. by Jean Briggs. Iqaluit, NU 2000, S. 19. Jessie Kangok interview's Celina Kalluk of her book Sweetest Kulu. Uqallagvik Wednesday June 1st, 2022, min 14:20 – 15:25, URL: https://bit.ly/3hhlJVY (letzter Aufruf: 11.12.2022). Martha B. Crago, Betsy Annahatak und Lizzie Ningiuruvik: Changing Patterns of Language Socialization in Inuit Homes. In: Anthropology and Education Quaterly 24.3 (1993), S. 205–223, hier S. 211–212. Vgl. kritisch hierzu Laakuluk Williamson Bathory: Aqausiit: Can You Hear How Much Love You Envoke In Me?! In: Native Studies Review 20.2 (2011), S. 1—29, hier S. 23–24. Vgl. National Collaborating Centre for Indigenous Health [NCCIH] and the Aqqiumavvik Society: Family Connections. A resource booklet about building strength in families based on Inunnguiniq teachings. Prince George, BC 2021, S. 12—13, sowie Bathory: Aqausiit, S. 24.
98 Stephan Zandt der Brust (aqaq) verbundene beziehungsstiftende Praxis des Aqaqtuq: Eine Form der Liebesbekundung, die über das für jedes Kind-Erwachsenen-Paar einzigartige Aqausiq vermittelt wird und im Wechsel mit der spezifischen affektiven Antwort (qaqajuq) des empfangenden Kindes – etwa lächeln, gurren oder auf und abhüpfen – eine intime Relation stiftet. Und auch die von Alexandria Neonakis gezeichnete Eingangsszene greift die spezifische durch das Lied und den körperlichen Kontakt mit der Mutter gestiftete intime dyadische Beziehung des aqatuq auf, deren rhythmische Grundstruktur durch die sich in Wellen bewegende Haare und Worte unterstrichen wird (Abb. 1). Dabei bleibt Kalluks Buch nicht bei der Beziehung von Mutter und Kind stehen, sondern erweitert diese zu einer triadischen Kommunikationssituation, in der die Stimme der Mutter die Soundscape der arktischen Landschaft – von den Melodien des Windes, über die Tiere bis zum Lied des Landes selbst – evoziert und beschwört. Das Lied öffnet hierin einen Resonanzraum zu einer weiteren Tradition von Gesängen: die in den Inuit-Gebieten Nunaviks und South Baffin Islands ausschließlich von Frauen und nicht zuletzt von Kalluk selbst praktizierten Kehlgesangsspiele der Katajjait, die jenseits ihrer öffentlichen Auffüh rung auch und gerade als Einschlafhilfe für Kinder dienen. Wie die Aqausiit,
Hinsichtlich der Frage der Gabe ist es bemerkenswert, dass der Wortstamm naglik (jdn. lieben) und das Suffix -nag (verursachen, dass) in der substantivierten und personalisierten Form Naglingnaktuq sowohl jemanden bezeichnet, der liebenswert ist, als auch jemanden der bedürftig, wenn nicht gar in seiner Bedürftigkeit erbärmlich erscheint; sei es ein Kind oder auch jemanden, der sonst auf spezifische Weise in seiner (Über-)Lebensfähigkeit eingeschränkt ist und entsprechende Zuwendung nötig hat. Vgl. Inuktitut – A Multidialectal Outline Dictionary (with an Aivilingmiutaq base), written and compiled by Alex Spalding, with the cooperation and help of Thomas Kusugaq, Iqaluit 1998, URL: https://inuktitutcomputing.ca/Spalding/index.php (letzter Aufruf: 05.11.2022). Vgl. etwa die Beschreibung der Ältesten Uqsuralik Ottokies in: Ekho und Ottokie: Childbearing Practices, S. 108. Zur Schwierigkeit der wörtlichen Übersetzung der Praxis von aqaq und aqaqtuq vgl. Peter Irniq: Learning the Inuit language the Qablunaaq Way. 2008, URL: http:/ /www.isuma.tv/our-changing-language/learning-inuit-language-qablunaaq-way-0 (letzter Aufruf: 11.12.2022). Die von der Inuit-Performance-Künstlerin Laakuluk Williamson Bathory als „counterstone of Inuit rhythm“ (Bathory: Aqausiit, S. 13) charakterisierten Gesänge unterlagen wegen ihrer animistischen Anklänge seit den 1920er Jahren jahrzehntelang einem Verbot durch die anglikanischen Missionare (vgl. Nattiez: Inuit Throat-Games, S. 417) und erleben seit den 1990er Jahren eine nachdrückliche Revitalisierung. Heute sind es vor allem junge (inter-)nationale Musikgrößen wie Tanja Tagaq und andere, die Katajjait erfolgreich in diverse moderne Musikgenres integrieren und so zu einer dekolonialen, feministischen Form des Protestsongs haben werden lassen. Vgl. Freda D’Souza: From Vocal Game to Protest Song. The Complexities of Katajjaq. In: SOAS Undergraduate Research Journal 2.1 (2021), S. 53–61.
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so vollziehen auch die Katajjait eine rhythmische Beziehungsbildung auf der Grundlage der körperlichen Nähe von Mutter und Kind. Vor den Bauch oder auf den Rücken der Mutter gebunden, empfangen die Kinder die beruhigenden Vibrationen und meditativen Rhythmen; ihre Körper werden von den verwendeten Silben, Toponymen, den Ahnen- und Tiernamen, vor allem aber von den arktischen Tier- und Naturlauten in Schwingung versetzt. Und wie die Aqausiit schließen auch die Katajjait – die die Sängerin Tanja Tagaq wegen der durch sie gestifteten, intimen Beziehung zwischen den beteiligten Frauen scherzhaft als „uterus singing“ bezeichnet –, die Beteiligten durch das Geben und Empfangen eines Rhythmus in eine dyadische Intimität ein. Dabei gibt, ganz in Über einstimmung mit Kalluks Buch, die „multifunctional host-structure“ des Katajjaq nicht nur Raum für die Laute und Gaben der Tiere und des Landes, vielmehr gibt sich die eigene Gabe – die Gabe der Töne und des Rhythmus wie die der Liebe – selbst als vermittelnde Weitergabe der Gabe der Anderen zu erkennen: im Medium des mütterlichen Liedes mater-ialisiert sich ein umfassendes vom Land ausgehendes Gabensystem, das geradezu kausal auf die Bedürfnisse des Kindes bezogen ist und als Fundament einer Subjektivierung und Charakterbildung dienen soll: „Isumaksaqsiukainnarit, Kulu, Inunarjuavut inn giusiqalirmat tusarniqtumik pijjutigillunitit“ , heißt es auf der letzten Seite des Buches: „Versuch ein wenig zu träumen, Kulu [wörtl. süße/r Kleine/r], unsere Welt [wörtl.: das große Land, in dem du zuhause bist] ist es gewohnt, dir jetzt ein Lied zu singen, für dessen Schönheit du der Grund bist.“ Dabei erfasst die Übersetzung von „Isumaksaqsiukainnarit“ als „versuch ein wenig zu träumen“ – wörtl.: suche für eine kurze Zeit etwas, was zu isuma werden wird – nur eingeschränkt die umfassende Bedeutung des für die Persönlichkeitsentwicklung zentralen Begriff von isuma, der nicht nur das Träumen,
Vgl. Mary Caroline Rowan: Co-constructing early childhood programs nourished by Inuitwolrdviews. In: Ètudes/Inuit/Studies 38, 1–2 (2014), S. 73–94, hier S. 81. Bereits Jean-Jacques Nattiez betont, dass sich Aqausiit und Katajjaq oftmals wechselseitig befruchten: Nattiez: Some aspects of Inuit vocal games. In: Ethnomusicology 27.3 (1983), S. 457–475, hier S. 460. Tanja Tagaq: Inuit Throat Singing. Culture within Singing. Transcript. In: The Open University online, URL: http://media-podcast.open.ac.uk/feeds/aa317-words-music-inuiti-singing/ transcript/aa317tanya3.pdf (letzter Aufruf 15.11.2022). Der traditionell von zwei Frauen praktizierte Kehlgesang, besteht dabei aus einem mimetisch ineinander greifenden Nachahmungsspiel, in dem die beiden Akteurinnen sich eng gegenüberstehen und einen gleichen kurzen, aus einer Silbe und einem tonlosen, rhythmischen von den Taschenbändern produzierten Teil zusammengesetzten Ausdruck, wechselseitig wiederholen bis einer der Sängerinnen der Atem ausgeht oder sie in Lachen ausbricht. Vgl. Nattiez: Inuit Throat-Games, S. 401–403. Nattiez: Inuit-Throat Games, S. 405–406. Kalluk: Naglingnarniqpaakuluk, o.S.
100 Stephan Zandt sondern alle in unserer westlichen Kultur als kognitiv apostrophierten Funktionen bezeichnet: von der Fähigkeit zur Imagination, über die Gedanken und das Erinnerungsvermögen, Gefühle und Intelligenz bis hin zum eigenen Willen. Wie die Ethnologin Jean Briggs betont, ist es erst die Entwicklung von isuma, die es möglich macht, in adäquater Weise auf die eigene, physische wie soziale Umwelt zu reagieren und den gesellschaftlichen Anforderungen gerecht zu wer den. Entsprechend erscheint isuma als der beherrschende Faktor des erwachsenen Lebens, während es dem Kind – insbesondere dem kleinen Kind – noch an den entsprechenden Fähigkeiten mangelt, die es erst nach und nach durch die Imitation von Vorbildern und Modellen, durch eigene Erfahrungen, Versuch und Scheitern entwickelt. Was Kulu vermittelt durch das Lied und den Rhythmus der Mutter ebenso wie durch die Worte und Bilder des Buches als „thoughts, feelings, and best wishes“ des Landes empfängt, ist isuma. Und so erscheint Kulu auch auf der Titelzeichnung des Buches in seinem Atajuq auf einer Tundra-Grassode liegend, die im Angesicht der Schneeammer, die mit mehreren Stängeln arktischen Wollgrases im Schnabel herbeifliegt, wie ein Nest wirkt. Wach und in freudiger Erwartung die Hände ausgestreckt, empfängt das Kind die Gabe des Vogels in Form von Samen und Blüten „to plant and grow with“ (Abb. 3). Eine Gabe, die nach dem Vorbild des Wachstums der Pflanzen, nicht nur daran erinnern soll, stets auf sich selbst zu vertrauen, sondern gleichermaßen das Kind im Empfang der Gabe und dem durch sie wachsenden isuma auch in die Lage versetzt und verpflichtet, die empfangenen Gaben mit entsprechenden Gegengaben in Form von Respekt, Freundlichkeit und Verbundenheit gegenüber dem Land zu erwidern. Beginnt das Buch auf der Titelseite mit der Gabe des Landes an das (noch) wache Kleinkind, so endet das Buch mit einer in Herzform ineinander gebetteten reziproken Doppelfigur von Kind und Eisbärenjungen (Abb. 4). In der Ferne von zuhause und in der kolonialen Krisenhaftigkeit der eigenen indigenen Identität, bildet das Empfangen des Liedes, der Worte des Buches und der Gaben der Mutter und des Landes nicht nur eine beruhigende Basis für den Schlaf, sondern gleichermaßen den Versuch einer dekolonialen Reterritorialisierung des Selbst und seiner wechselseitigen Beziehungen zum Land.
Jean L. Briggs: Never in Anger. Portrait of an Eskimo Family. Cambridge, MA, London 1970, S. 358–359. Vgl. Hugh Brody: Living Arctic. Hunters of the Canadian North. Vancouver, Toronto, Seattle 1987, S. 139–141. Kalluk: Sweetest Kulu, o.S. Kalluk: Sweetest Kulu, o.S.
„The beautiful land gave you a practical foundation“ 101
Abb. 1: Die dyadische Beziehung des Aqaqtuq. Quelle: Kalluk: Sweetest Kulu, o.S.
Abb. 2: You had many wondrous and grand visitors! They shared thoughts, feelings, and best wishes with you, darling Kulu.“ Quelle: Kalluk: Sweetest Kulu, o.S.
Abb. 3: Die Gabe der Schneeammer und Abb. 4: Reziprozität. Quelle: Kalluk, Sweetest Kulu, o.S.
Holger Brohm18
Wirklich hören In einem kurzen Prosastück der amerikanischen Lyrikerin Mary Rufle erzählt eine Frau, wie sie als Mädchen im Alter von 18 Jahren das erste Mal in ihrem Leben ein klassisches Konzert besucht und dabei die eigentliche musikalische Präsentation verpasst hatte, weil sie beim Zuhören bereits nach wenigen Minuten eingeschlafen war. Die Erzählung umfasst zwar nur drei Druckseiten, ist aber voller Beobachtungen und Reflexionen, die zu einer kleinen Rêverie über das Schlafen in Räumen wie dem Konzertsaal oder dem Kino anregen. In Rufles Text, der den Titel Wiegenlied trägt, schildert die sich erinnernde Ich-Erzählerin die Atmosphäre in dem engen Raum der überfüllten Kapelle im Gebirge, die ihrem ersten Konzertbesuch als Aufführungsort diente. Trotz des großen Gedränges war es ihr gelungen, auf einer Kirchenbank einen Platz zu ergattern. In der Menge des Publikums verschwindend, so lässt sich die Szene weiter ausmalen, wurde sie von den Körpern der anderen umschlossen, und sie glitt aus dem Zustand des Wachens hinüber in den Schlaf, der von keinem Nachbarn gestört wurde. Hat sie sich in ihrer Hingabe an den Schlaf, den sie empfangen hatte, sogar an jemanden angelehnt, um nicht von der Bank zu fallen? Schlafen, stellt Roland Barthes fest, setzt schließlich die „Mobilisierung von Vertrauen“ voraus. Auf diese Weise den eigenen schlafenden Körper ungeschützt ausstellend, hatte die Erzählerin zwar an einer gemeinschaftlichen Aufführungssituation teilgenommen, ohne diese aber bewusst wahrgenommen zu haben. Die namenlos bleibende Frau kann sich im Rückblick nicht erklären, wie sie in diese Lage geraten war. Sie war voller Vorfreude in das Konzert gegangen. Weder übermäßige Erschöpfung, die in ein „Fallen vor Müdigkeit“ umschlägt, noch anhaltende Schlafstörungen, zu deren Therapie auch Musik eingesetzt wird, konnten für das unwillkürliche Eingeschlafensein verantwortlich gemacht werden. Ebensowenig ging dem Einschlafen als Übergang in eine andere Wahrnehmungsform ein Wille zum Schlaf voraus, bei dem der zu erreichende Zustand der Körpers vorgeahmt wird: bewegungslos daliegend, die Augen ge schlossen, keine störenden Gedanken zulassend. Der Vorgang des Einschlafens
Mary Rufle: Wiegenlied. In: dies.: Mein Privatbesitz. Berlin 2022, S. 37–39. Roland Barthes: Das Neutrum. Vorlesung am Collège de France 1977–1978, hg. von Eric Marty. Frankfurt a. M. 2005, S. 86. Jean-Luc Nancy: Vom Schlaf. Zürich, Berlin 2013, S. 9. https://doi.org/10.1515/9783111233796-018
104 Holger Brohm in der Menge scheint daher kaum den aus der Selbstbeobachtung von Philosophen gewonnenen Modellen zu entsprechen. Die Situation erweist sich aber als noch merkwürdiger, denn in ihrer Erinnerung hatte die junge Frau nach dem Ende des Konzertes beim Hinausgehen einen der achtlos weggeworfenen Programmzettel aufgehoben, um zu erfahren, was sie nicht gehört hatte: „,Brahms’ Wiegenlieder‘ – das war das ganze Konzert!“ Auch ohne genauere Kenntnis des Programms ist zu vermuten, dass die Zusammenstellung verschiedener, von Brahms komponierter Lieder, die in der romantischen Tradition der Motivik von Schlaf und Traum stehen, das Wiegenlied op. 49 Nr. 4 enthielt. Das zwei kurze Strophen umfassende Musikstück, das auch unter seiner ersten Zeile „Guten Abend, gut’ Nacht“ bekannt ist, erfreut sich dank seiner am Volkslied orientierten „unauffälligen Kunstfertigkeit“ großer Beliebtheit. In der Erzählung bleibt es unklar, in welcher Version das Wiegenlied vorgetragen wurde – es existieren zahlreiche Bearbeitungen für unterschiedliche Besetzungen –, Brahms selber hatte es für eine weibliche Stimme und Klavierbegleitung geschrieben. Den Text der ersten Strophe entnahm er einem Gedicht, das in Achim von Arnims und Clemens Brentanos Sammlung von Volksliedern Des Knaben Wunderhorn veröffentlicht wurde. Anders als es der Titel suggeriert, verweist die Überlieferungsgeschichte des Textes jedoch darauf, dass es sich ursprünglich um ein Liebesgedicht handelte. Erst die später hinzugefügte zweite Strophe schafft die klare Zuordnung zum Genre der Wiegenlieder, die Frage aber, an wen sich das Lied richtet, bleibt widersprüchlich. Spricht die Mutter zum Kind oder die liebende zur geliebten Person? Die Erzählerin in Rufles Prosaminiatur scheint sich mit solchen Überlegungen nicht aufgehalten zu haben, erklärt ihr der Blick auf den Programmzettel die eigene Situation: „Mit einem Mal hatte ich das Gefühl, dass ich mit meinem Einschlafen als Einzige die Musik wirklich gehört hatte.“ Im Ausruf der Überraschung wird ein Paradox formuliert: Wenn es dem allgemeinen Bild des Schlafes entspricht, dass die Schlafenden gerade der Wahrnehmung der äußeren Wirklichkeit entzogen sind, wie kann es diesen Bedingungen zum Trotz gelingen, wirklich zu hören? Zielt das Wiegenlied in seiner repetitiven Struktur nicht darauf, die Wachsamkeit und damit die Aufmerksamkeit einzuschläfern, um unhörbar zu werden? Was konnte die Schlafende dann aber hören?
Vgl. Maurice Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung. Berlin 1966, S. 196. Rufle: Wiegenlied, S. 38. Peter Jost: Lieder und Gesänge. In: Wolfgang Sandberger (Hg.): Brahms Handbuch. Stuttgart 2009, S. 239. Rufle: Wiegenlied, S. 38 (Hervorhebung im Original).
Wirklich hören 105
Das Thema des Schlafes in den Räumen gemeinschaftlicher Rezeption von ästhetischen Produktionen, der nicht durch Langeweile bedingt ist, wird in den unterschiedlichen Feldern der Kunstkritik des Öfteren zitiert. Sprichwörtliche Beliebtheit hat in diesem Zusammenhang der Spruch „Im Kino schlafen heißt dem Film vertrauen“ erlangt. Das Zitat wird unterschiedlichen Urhebern zugeschrieben, der Einfall scheint zu schön, um ihn einer Person allein zu überlassen. Der Spruch nimmt Bezug auf das dem Film und dem Traum gemeinsame Begehren des Imaginären und die daraus resultierende Ähnlichkeit von technisch-apparativ erzeugtem Filmbild und den mentalen Phantasmagorien der Traumbilder. Das Halbdunkel des Kinos markiert den Ort, in dem der Schlaf – als Voraussetzung des Träumerischen – und die Filmwahrnehmung miteinander verknüpft werden. Dem Wunschtraum des Kinos vom Ineinandergehen der auf der Leinwand gezeigten Imaginationen mit den in der Psyche der Zuschauenden evozierten Bildern hatte Buster Keaton bereits in seinem 1924 entstandenen Stummfilm Sherlock Junior Gestalt verliehen. In der Komödie schläft die von Keaton selbst verkörperte Figur des jungen Filmvorführers während der Vorstellung ein und träumt, dass er vor den Augen des Kinopublikums in die Filmhandlung einsteigt, die der von ihm bediente Apparat auf die Kinoleinwand projiziert. Der Film erzählt damit die Gleichzeitigkeit der unterschiedlichen Zustände von Anwesenheit und Abwesenheit im Schlaf, der nach Jean-Luc Nancy als „die große Gegenwart, die gleichzeitige Gegenwart aller Kompossiblen, selbst der Unvereinbaren“ verstanden werden muss. Was aber in der filmischen Narration mit einigem technischen Aufwand in der unmittelbaren Gleichzeitigkeit gezeigt werden kann, wird im wirklichen Leben erst nachträglich im Zustand des Wiedererwachtseins erfahrbar. Nicht nur die Traumbilder, auch die Filmbilder und musikalischen Schallereignisse sind flüchtig. Womit wir wieder in dem eingangs beschriebenen Konzertsaal sind, in dem ein anderes Wahrnehmungsregister als im Kino dominiert. Während man die Augen schließen und die visuelle Wahrnehmung der äußeren Wirklichkeit unterbrechen kann, lassen sich die Ohren ohne entsprechende Hilfsmittel nicht verschließen. Im Gegenteil, die geschlossenen Augen verstärken die räumliche Wahrnehmung durch das Gehör. Wer auf diese Weise ganz Ohr ist, dem öffnet sich im Hören ebenso der Zugang zum Selbst. Tritt in diesem Zugang auch jene Ebene des WirklichHörens zutage, das die Erzählerin in Rufles Miniatur für sich in Anspruch nimmt? Zu bedenken ist, dass hier das Hören des Liedgesangs aus der (spät-)romantischen Musik zur Diskussion steht, der ein besonderes Affizierungspotential zu-
Nancy: Vom Schlaf, S. 15. Vgl. Jean-Luc Nancy: Zum Gehör. Zürich, Berlin 2014, S. 20.
106 Holger Brohm geschrieben wird. Die Bemerkungen von Roland Barthes, für den die Musik die konventionellen Ebenen der Darstellung übersteigt, mögen dies verdeutlichen: Für ihn trägt die „gesamte romantische Musik […] diesen Gesang des natürlichen Körpers vor“, der aus der Interferenz von Sänger oder Sängerin und den Zuhörenden hervorgeht. Die Liebe zur romantischen Musik, insbesondere zu Franz Schubert, verbindet Barthes mit Theodor W. Adorno, bei dem sich – auch wenn er Brahms in seinen musiktheoretischen Schriften ansonsten weniger Beachtung schenkt – ein Wiederhall des „Wiegenlieds“ findet. In den Minima Moralia bezeichnet er das Stück als älteste Erinnerung an den Komponisten, weshalb es auch in den Horizont der kindlichen Musikerfahrung gerückt wird, die von einem Missverständnis des Textes begleitet ist. Adorno fasst das Denkbild, in dem auch andere Wiegenlieder reflektiert werden, unter dem Titel „Regression“ zusammen – einem Begriff, den er in seinen musiktheoretischen Überlegungen an den in der Kulturindustrie diagnostizierten Fetischcharakter der Musik bindet, der das Zuhören entfremdet und ein Regredieren ins Kindische befördert. In den Minima Moralia erfährt der Begriff, der nunmehr an die den Gefahren der Entfremdung entzogene Figur des Kindes gebunden wird, eine prinzipielle Wendung. Als Regression wird jetzt der Rückgang auf einen unvordenklichen Zustand beschrieben, der nur als unmöglicher Traum, „wir wären nie geboren“, imaginiert werden kann. Wenn auch nicht konkret auf Brahms „Wiegenlied“ bezogen, hält Roland Barthes der Vorstellung einer vorsubjektiven Existenz ein emphatischeres Bild der durch die Musik ausgelösten Lust entgegen, das eine andere Idee vom „wirklich hören“ vermittelt: Die Welt des romantischen Gesangs ist die Welt der Liebe, die Welt im Kopf des liebenden Subjekts: ein einziges geliebtes Wesen, aber ein ganzes Volk von Figuren. Diese Figuren sind keine Personen, sondern kleine Bilder, die jeweils aus einer Erinnerung bestehen, aus einer Landschaft, einer Wanderung, einer Stimmung, aus jedem beliebigen Anlaß zu einer Verletzung, einer Sehnsucht oder einem Glücksgefühl.
Roland Barthes: Der romantische Gesang. In: ders.: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Kritische Essays 3. Frankfurt a. M. 2005, S. 288. Vgl. Theodor W. Adorno: Über den Fetischcharakter in der Musik und die Regression des Hörens. In: ders.: Dissonanzen. Einleitung in die Musiksoziologie, Gesammelte Schriften, Band 14. Frankfurt a. M. 2003, S. 34. Vgl. Theodor W. Adorno: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Gesammelte Schriften, Band 4. Frankfurt a. M. 1993, S. 227. Barthes: Der romantische Gesang, S. 290.
Ilka Quindeau19
Rätselhafte Botschaften Empfangen als anthropologische Grundsituation Die Psychoanalyse Laplanches kreist um den Primat des Anderen. Als anthropologische Grundsituation gilt ihm die Situation zwischen dem Infans, dem noch nicht sprachbegabten Kind, und der Erwachsenen, die nicht nur mit Sprache, sondern auch mit einem Unbewussten ausgestattet ist. Von diesem gehen „rätselhafte Botschaften“ aus, die sich auf das Kind richten und empfangen, verarbeitet werden müssen. Konstituiert werden dabei die psychische Struktur des Kindes, sein Unbewusstes und das Sexuelle. Das Empfangen steht so gleich am Beginn des Lebens und macht den Menschen zuallererst zu einem Empfangenden. Wahrnehmungen, Befriedigungen, Versagungen schreiben sich in die entstehenden psychischen und körperlichen Strukturen ein. Diese Einschreibungen sind die ersten Formen des Empfangens. Sie können erregend, beruhigend, sanft oder auch bedrohlich, gewaltsam und überwältigend sein. Sie vollziehen sich ohne und noch vor jedem Ich und tragen zu seiner Entstehung erst bei. Nach Laplanche entstehen das Ich und das Unbewusste aus einer gemeinsamen Bewegung des Übersetzens. Das Kind sucht die rätselhaften Botschaften der Erwachsenen zu entziffern, ihnen Sinn abzugewinnen, was freilich nur ansatzweise gelingen kann. Aus diesen Versuchen der Aneignung des Empfangenen bilden sich allmählich die psychischen Strukturen. Das Kind ist passiv empfänglich für die rätselhaften Botschaften, es übersetzt „aus Not“, um die Eindrücke, die auf es einströmen und manchmal auch überwältigen, erträglich zu machen, ihnen einen Sinn zu geben. Diese sinn-stiftende Tätigkeit, die schließlich Narrationen und Meta-Erzählungen generiert, beginnt mit dem Eintritt in die menschliche Existenz. Die Übersetzungsarbeit lässt sich dabei als Transposition der rätselhaften, potentiell traumatogenen Botschaften in ein neues Idiom verstehen. Sie geschieht indes nicht im luftleeren Raum, sondern wird gefördert von den besonderen narrativen Strukturen, Codes und Mythen, welche die Gesellschaft dem Kind anbietet. Der unübersetzbare Rest dieser Botschaften liegt dem Unbewussten zugrunde. Schon Freud fasste die Verdrängung als „Scheitern der Übersetzung“. Das Verdrängte, Unbewusste wäre demnach das „Nicht-Empfangene“, das weiterhin wirksam ist und – aus der Sicht des sich selbstbewusst wähnenden Subjekts - sein Unwesen treibt wie die dreizehnte Fee im Märchen. Das Empfangen wird hier zur grundlegenden anthropologischen Position. Es macht die fundamentale Passivität des Subjekts sowie seine Angewiesenheit https://doi.org/10.1515/9783111233796-019
108 Ilka Quindeau auf den, die und das Andere sichtbar. Der Moderne erscheint diese Subjektposition indes so unerträglich, dass sie in das Geschlechterverhältnis eingetragen und der Frau zugeschrieben wurde. Zwar kommt dem Empfangen in der Psychoanalyse Laplanches ein so zentraler, konstitutiver Stellenwert zu, doch ist es bemerkenswert, dass dies nicht explizit benannt wird. Er denkt seine Konstitutionstheorie vom Primat des Anderen her und fasst die komplementäre Position des Empfangens lediglich mit dem Begriff der Passivität. Aus dem Blick fällt dabei das konstituierende, produktive Moment. In der traditionellen Psychoanalyse gilt der Modus des Empfangenden, Rezeptiven, als komplementär zur Penetration, zum Eindringenden. Freud erfand indes keine eigene Wissenschaftssprache mit spezifischen Fachbegriffen und entwickelte seine Theorie fast ausschließlich aus dem alltäglichen Sprachgebrauch heraus. Die oft so vagen, vieldeutigen deutschen Worte scheinen dem schwer fassbaren Seelischen entgegenzukommen und es eher zu umschreiben denn präzise zu erfassen wie etwa die weit wortreichere und trennschärfere englische Sprache, in der die Psychoanalyse dann auch neue, wissenschaftliche Begriffe bekam. Diese Besonderheit der deutschsprachigen Psychoanalyse findet allerdings eine Grenze in der Beschreibung der Rezeptivität, sie bleibt ein Fremdwort. Vielleicht mag dies als Abwehr dieser grundlegenden ontologischen Position verstanden werden, die keinen Namen findet. Jedenfalls wird diese Position durch die Substantivierung des Verbs ,empfangen‘, dem Empfangen oder der, die, das Empfangende, nicht so wirklich zutreffend beschrieben. Während der Modus des Empfangens im Freudschen Werk noch nicht explizit auftaucht und später im psychoanalytischen Diskurs dem Weiblichen zugeschrieben wurde, erfährt er in den letzten Jahren einige Aufmerksamkeit. Im Fokus steht neuerdings der Versuch, die Haltung der Analytiker:in zu beschreiben. Doch geht es dabei nicht um die Passivität des Aufnehmens und Empfangens, sondern um die stellvertretende Verarbeitung von überfordernden, überwältigenden Erfahrungen der Analysand:in im Sinne der Projektiven Identifizierung der Post-Kleinianischen oder Bionschen Psychoanalyse. So scheint, was zunächst nach einem Paradigmenwechsel aussieht, erneut der Versuchung zu erliegen, sich als Subjekt, dem Wissen unterstellt wird, anzubieten anstatt diesen Wunsch, den die Analysand:in an die Analytiker:in heranträgt, zu hinterfragen. Zentral für die alteritätstheoretische Psychoanalyse ist daher auch die Dekonstruktion, die Auflösung von Sinnzusammenhängen und nicht die Konstruktion von Narrativen und Lebensgeschichten. Die psychoanalytische Deutung lässt sich eher im Sinne eines Hin-deutens auf Widersprüche und Risse in den Narrativen der Analysand:in verstehen denn als externes Angebot von Sinnzusammenhängen.
Rätselhafte Botschaften 109
Denn diese stellen sich nach der Dekonstruktion gleichsam von selbst wieder her, in hoffentlich weniger leidvoller und symptomhafter Weise. Als grundlegende ontologische Position geht das Empfangen, die Rezeptivität der kodifizierten binären Ordnung, der phallischen Logik voraus; es ist ihr vorgängig. In kongenialer Weise findet diese anthropologische Grundsituation des Empfangens eine ästhetische Form in einem Film von Peter Greenaway, einem Meister der Verrätselung, der rätselhaften Botschaften. In The Pillow Book (1996) bekommt Nagiko an jedem Geburtstag von ihrem Vater, einem Schriftsteller und Kalligraphen, einen Segensspruch aufs Gesicht geschrieben und ihren Namen auf ihren Nacken. Diese Einschreibungen in den kindlichen Körper vollziehen sich ritualisiert und in Anwesenheit von Mutter und Tante; sie transportieren rätselhafte Botschaften und konstituieren das Begehren der Tochter, dessen verschiedene Formen im Film entfaltet werden. Zeitlebens ist Nagiko mit Übersetzungsversuchen befasst, die freilich im Wesentlichen scheitern. Die kalligraphischen Einschreibungen des Vaters werden begleitet von den Erzählungen der Tante, die aus dem über 1000 Jahre alten Kopfkissenbuch der Hofdame Sei Shonagon vorliest. Nagiko erwartet diese Einschreibungen später auch von ihrem Ehemann, mit dem sie zwangsverheiratet wird; sie erscheinen gleichsam als Bedingung ihrer Lust. Nachdem er sich als unfähig erweist, verlässt sie ihren Mann schließlich und sucht ihren idealen Liebhaber unter den Kalligraphen. Diese gleichsam ödipale Suche scheitert ebenfalls, bis sie einen Ausländer trifft, einen jungen Schriftsteller und Übersetzer aus dem Westen, der ihr seinen Körper zur Kalligraphie anbietet. Indem er sich zum Empfänger ihrer Botschaften macht, nimmt er symbolisch ihre Rezeptivität und Offenheit für die Botschaften des Anderen an. Nagiko weist dieses Angebot zunächst als vollkommen inakzeptabel zurück, bis sie schließlich doch darauf zurückkommt. Mit der Erweiterung ihrer Positionen entfaltet sich ihre Kreativität, Nagiko wird von einer passiv empfangenden zu einer selbst (ein-)schreibenden und weiterhin empfangenden Frau. Was ihr bislang passiv widerfahren ist, wird nun auch zu ihrer Aktivität. Ihrem Vorbild – der Hofdame Sei Shonagon – entsprechend, arbeitet auch sie an einem Buch, bislang erfolglos. Der Verleger, der auch ein sexuelles Verhältnis mit ihrem Vater und ihrem Freund unterhielt, hatte es zurückgewiesen. Erst als sie es auf die Haut des gemeinsamen Liebhabers schreibt, nimmt er es an und fordert immer neue Bände. Als der Liebhaber, ironischerweise selbst ein Übersetzer, sich aufgrund eines tragischen Missverständnisses das Leben nimmt, konserviert der Verleger dessen Haut. Nagiko sinnt auf Rache; am Ende ist auch der Verleger tot und Nagiko begräbt die kalligraphierte Haut des Liebhabers unter einem blühenden Bonsai-Baum.
110 Ilka Quindeau Die komplexe und vielfach überdeterminierte Bild- und Filmsprache Greenaways enthüllt eine Fülle von Bedeutungen, was hier lediglich unter dem Aspekt der ontologischen Grundposition des Empfangens angedeutet werden kann. Es ist hervorzuheben, dass Greenaway diese häufig der Frau zugeordnete Position vielfach unterläuft und damit die binäre Geschlechterordnung in produktiver Weise auflöst. Wenn Nagiko zur Feder greift, ist dies keine einfache Umkehrung der Rollen, sie übernimmt nicht allein die phallische Position. Sie empfängt weiterhin die Einschreibungen ihres Liebhabers und schreibt auch auf dessen Haut. So kommt es zu einer allgemeinen Rezeptivität, zu einer wechselseitigen Öffnung zur Alterität, zum Anderen und zu dessen Botschaften.
Maud Meyzaud20
Geschwisterliches Empfangen (Musil) Der Mann ohne Eigenschaften ist in Robert Musils gleichnamigem epochalen, gigantischen Romanfragment zunächst vieles und zugleich nichts davon. Er ist der Sohn eines „Mannes mit Eigenschaften“ und wird sich bald mit der entsprechenden Selbstverständlichkeit in den besten Kreisen der Hauptstadt Kakaniens (dem Wien der Vorkriegszeit) bewegen, deren Aktivitäten er als Sekretär registriert, ohne jedoch damit mehr als eine Beobachterposition zu verbinden. Er ist ein Mann – einer allerdings, dem die morgigen gymnastischen Übungen zum Beweis der eigenen Männlichkeit zunehmend komisch vorkommen und der sich mit Mätressen umgibt, die entweder unter Esssucht oder Nymphomanie leiden. Er ist Kakanier und damit, wie die Erzählerinstanz spöttisch anmerkt, ein Österreicher plus ein Ungar minus diesen Ungarn. Er war zuvor sukzessive Offizier und Ingenieur und ist seit einiger Zeit ein begabter Mathematiker, ohne sich jemals mit einem Beruf identifizieren zu können. Er ‚ist‘ also ein Subjekt, dem man eine Reihe an Eigenschaften zuschreiben kann und der zugleich nichts davon ist – denn wie sein Wagner-besessener Jugendfreund anmerkt: Er besitzt die Eigenschaften nicht, die er hat. Dass dieses (Eigenschaften-)Haben unter der schlichten grammatikalischen Form des prädikativen Verhältnisses dem Protagonisten nicht gelingen will, erfährt die Leserin durch einen „eskamotierten Bildungsroman“ (Mülder-Bach), nämlich die dem Romangeschehen vorgeschobene Bildungsgeschichte der „Drei Versuche“. Der Startschuss für das überdimensionale Gedankenexperiment namens „Mann ohne Eigenschaften ist Ulrichs nüchterne Feststellung, er müsse für seine Eigenschaften einen Gebrauch finden und der daraus abgeleitete Entschluss, „Urlaub von seinem Leben“ zu nehmen. Unschwer lässt sich hier wie auch in dem triumphierenden Ausruf des neidischen Jugendfreunds „[E]r mag alle diese Eigenschaften haben. Denn er hat sie doch nicht!“ eine moderne Spielart des paulinischen hôs mê erkennen, des ‚Habens, als habe man nicht‘. Zunächst ist freilich unklar, auf welcher Ebene die messianische Berufung in diesem Roman von Bedeutung sein wird.
Vgl. Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. In: ders.: Gesammelte Werke. 9 Bde: Bd. 1– 5: 1, hg. von Adolph Frisé. Reinbek bei Hamburg 1978, S. 64. Im Folgenden wie folgt zitiert: Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, GW 1, S. 64. Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, GW 1, S. 47. Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, GW 1, S. 64. https://doi.org/10.1515/9783111233796-020
112 Maud Meyzaud Musils Figur buchstabiert die Welt der frühen Moderne als eine Welt aus, in der es an Eigenschaften geradezu wimmelt, die jedoch keinen – jedenfalls keinen anthropomorphen – Träger mehr finden, als eine Welt, in der das Privatleben noch an einem primitiven Erzählen haftet, weil die Welt den Menschen schlichtweg zu kompliziert geworden ist, und die kurz davor steht, den Weltkrieg zur kathartischen Krise und zur universellen Problemlösung zu erklären: „Alle Linien münden in den Krieg“ . Entsprechend schlecht steht es um das Empfangen im ersten Buch des Mannes ohne Eigenschaften: Eigenschaften flottieren als freie Atome in einer Gesellschaft, die ja doch gerade eins will, nämlich Eigenschaften zuweisen und Menschen ausweisen können. Liebe wird selten erwidert und Sexualität erscheint insgesamt als beschädigt. Empfange finden im Haus der Kusine Diotima statt, in dem jedoch die große Idee nicht gedeihen will und die geistige Sterilität der sogenannten Parallelaktion geradezu komisch an mutet. Ulrich ist zugleich „Produkt und Denker einer neuen Logik“ und doch will dieses Leben als wissenschaftliches Experiment bzw. als „Utopie des Essay ismus“ , diese Laborsituation, in der die unermessliche Kraft des „Unpersönli chen am Menschen“ freigesetzt werden soll, nicht die dazu erforderliche Konkretion gewinnen. Die Beobachterposition, die Ulrich freilich gewählt hat, wird ihm nach und nach zum Verhängnis. Mitten im Getümmel der Großstadt, in der Aufregung der Parallelaktion oder des Lustmordfalles Moosbrugger, im Verkehr mit dem bedeutenden Menschen par excellence, Paul Arnheim, und der schönen Kusine Diotima wächst allmählich eine grenzenlose Leere. Selbst die berühmte Ironie, die Musils Erzählhaltung ausmacht, greift hier nicht mehr: Am Ende des ersten Buchs haben sich Ulrichs persona und dessen ‚innerer Mensch‘ voneinander abgekoppelt. Die biographische Form, die den Roman seit Friedrich
Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, GW 5, S. 1902. Vgl. Gilles Deleuze: „Barleby, ou la formule“. In: Critique et clinique. Paris 1993, S. 89–114, hier S. 96. Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, GW1, S. 247–248. Vgl. hierzu Maurice Blanchot: Der Gesang der Sirenen. Essays zur modernen Literatur, aus dem Franz. von Karl August Horst. München 1962, S. 195–196: „Daß Ulrich, der Mann ohne Eigenschaften, in dem die unpersönliche Bewegung des Wissens, die Neutralität der großen Kollektivwesen, die reine Kraft des Valéryschen Bewußtseins, die erst dort beginnt, wo sich der Mensch jeder Eigenschaftsbestimmung versagt, zum Leben erwacht – daß sich Ulrich, der ein Gedankenmensch, der sein eigenes theoretisches Exempel und der Versuch ist, auf rein abstrakte Art zu leben, in den Strudel mystischer Erfahrung stürzt, ist zwar überraschend, aber notwendig, denn es gehört mit zum Bedeutungsbereich der Bewegung, die er vollzieht, zu jener Unpersönlichkeit, der er sich aus voller Überzeugung hingibt, und die er bald in der Form souveräner Unbestimmtheit der Vernunft, bald als unbestimmte Leere, die in Fülle umschlägt, in der Form mystischer Daseinserfahrung lebt.“
Geschwisterliches Empfangen (Musil) 113
von Blankenburgs Romantheorie im späten 18. Jahrhundert auszeichnet, erreicht damit ihren ultimativen Krisen- und Wendepunkt: „Er wartete hinter seiner Person, sofern dieses Wort den von Welt und Lebenslauf geformten Teil eines Menschen bezeichnet, und seine ruhige, dahinter abgedämmte Verzweiflung stieg mit jedem Tag höher.“ Es ist der Moment, an dem die „vergessene“, und das wird heißen: „die un bekannte Schwester“ , Agathe, auf den Plan tritt. Mit ihr beginnt das sittliche „Abenteuer“ des zweiten Buchs, von dem aus der Roman kein Ende finden wird. Als Frau ist die Schwester mit einer frühkindlichen Erinnungsschicht ver bunden, in der „wir [uns] nicht selbst [besaßen]“ . Sie ist damit eine Frau und keine Frau: sie ist die Frau, die ‚man‘ nicht haben kann. Mit ihr bahnt sich eine Subjektwerdung zu zweit an, eine Art geschwisterliche Entsubjektivierung, die in unendlich wiederholten Annäherungen stattfindet. Und dies mitunter durch sprachliche Wendungen, die das Erzählen erheblich verkomplizieren, weil sich in ihnen zuweilen die chiliastische Lehre des hôs mê und eine ungesicherte Wahrnehmung einschreiben: In einem ohnehin ausgesprochen langen Satz befindet sich dann etwa folgende Formulierung: „man hätte denn sagen müssen, daß sein Körper ebenso davon angegriffen wurde, daß er eine Frau, wie daß er keine Frau in nächster Nähe vor sich habe“. Agathe, das weibliche Pendant des Mannes ohne Eigenschaften, wird dabei als eigentümlich passiv charakterisiert – bedingt durch eine unbestimmte lange kindliche Krankheit und ein traumatisches Erlebnis an der Schwelle zum Erwachsenwerden. Und doch ist diese charakterliche Passivität die Spitze des Eisbergs: In ihr schlummern Kräfte, die durch die Begegnung mit dem Bruder im Haus des verstorbenen Vaters freigesetzt werden. Eine Um- und Neuordnung der Affekte kommt in Gang, eine neue Verwebung von Affekt und Intellekt, die von einer höheren Passivität begleitet wird. Musil hat nicht nur Meister Eckhart gelesen und in einem frühen Stadium der sukzessiven Romanpläne entsprechende mystische Wendungen der Passivität als unmarkierte Zitate eingespeist, er kennt auch Lucien Lévy-Brühls Les fonctions mentales des sociétés primitives und verbindet mit ihm den Gedanken der – passiven – Partizipation oder: geschwisterlichen Teilhabe. Es geht hier um nichts weniger, als darum, sprachliche Bilder aus dem Zustand ihres Verbrauchtseins zu befreien, Gedanken zu verlebendigen
Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, GW 1, S. 256–257. Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, GW 3, S. 674. Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, GW 3, S. 761. Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, GW 3, S. 902. Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, GW 3, S. 898.
114 Maud Meyzaud und das Erzählen an einen Punkt heranzuführen, an dem eine bildlose Intellektion – ein mystisch-geschwisterliches Empfangen – eintreten soll. Dieses Schreibexperiment erfordert eine ungeheuerliche Kraft. Der Zweite Weltkrieg ist im vollen Gang, wir schreiben das Jahr 1942 und ein Ende ist nicht absehbar. Robert und Martha Musil leben im Genfer Exil in Armut, sie sind auf Gaben angewiesen, die stets in Form von sozialen Verpflichtungen erwidert werden müssen. Vor dem Schreibtisch liegt der Garten und Musil entwickelt Kapitelvarianten der „Atemzüge eines Sommertags“, bei denen sich das Schreiben bis zu dem Punkt verlangsamt, an dem der Schreibende kein Zurück ins Leben finden wird. Im Roman wird die latente Gewalt des inzestuösen Begehrens seit geraumer Zeit durch geschwisterliche Gespräche aufgeschoben, die stets ins Stocken geraten. Es sind zuletzt die Gartengespräche, die der Romanerzählung eine Luft schenken, in der sie noch atmen kann. Im Roman der Geschwisterlichkeit ist es Hochsommer geworden und wir ahnen, dass das Jahr Auszeit, das sich Ulrich genommen hat, nun bald verstrichen ist. Der Krieg, stets eingefangen in der „Zeitform des Futur II“, bleibt auch hier außen vor, gewissermaßen vor dem Tor des Gartens, auf den Agathe/ Ulrich genauso wie der schreibende Musil schauen. Im Garten verbinden sich Ulrichs und Agathes Wahrnehmung geschwisterlich mit ihrer Umwelt. In den Stillständen des Gesprächs zieht ein Schwebezustand mystischer Kontemplation ein. Das natürliche Leben von Bäumen, Rasen und Sträuchern beseelt sich und gewinnt subjektive Züge, während Leben und Tod im mystischen Schweben ineinander aufzugehen scheinen. Auf einmal – diesen Augenblick wiederholen alle sukzessiven Fassungen der „Atemzüge eines Sommertags“ – schaut „das Grün des Rasens“ zurück. Für einen, für diesen Augenblick ist Agathe nun rein geschwisterliches, mystisches Empfangen geworden: Ein geräuschloser Strom glanzlosen Blütenschnees schwebte, von einer abgeblühten Baumgruppe kommend, durch den Sommerschein; und der Atem, der ihn trug, war so sanft, daß sich kein Blatt regte. Kein Schatten fiel davon auf das Grün des Rasens, aber dieses schien sich von innen zu verdunkeln wie ein Auge. Die zärtlich und verschwenderisch vom jungen Sommer belaubten Bäume und Sträucher, die beiseite standen oder den Hintergrund bildeten, machten den Eindruck von fassungslosen Zuschauern, die, in ihrer fröhlichen Tracht überrascht und gebannt, an diesem Begräbniszug und Naturfest teilnahmen. Frühling und Herbst, Sprache und Schweigen der Natur, auch Lebens- und Todeszauber mischten sich in dem Bild; die Herzen schienen stillzustehen, aus der
Joseph Vogl im Gespräch mit Thomas Kretschmer: Erzählen von Statistik und Ereignissen. In: Katarina Agathos und Herbert Kapfer (Hg.): Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften. Remix. München 2004, S. 660—671, hier S. 666.
Geschwisterliches Empfangen (Musil) 115 Brust genommen zu sein, sich dem schweigenden Zug durch die Luft anzuschließen. „Da ward mir das Herz aus der Brust genommen“ hat ein Mystiker gesagt: Agathe erin nerte sich dessen.
Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, GW 4, S. 1232.
Sebastian Köthe21
Zwischen Schweigen und Schreiben Familienbriefe und der Roman Die größere Hoffnung
Am 4. Juli 1939 wird Ilse Aichinger von ihrer Zwillingsschwester Helga getrennt. Helga flieht mit dem Kindertransport einer Quäker-Organisation von Wien nach London. Ilse bleibt zusammen mit der Mutter Berta Aichinger in Wien zurück – als seelischer Beistand, aber auch als rechtlicher Schutz. Ilses geschiedene Mutter war vom Judentum zum Katholizismus konvertiert; dennoch galt sie den Nationalsozialisten als jüdisch. Ilse Aichinger galt ihnen, aufgrund des nicht-jüdischen Vaters, als „Halbarierin“, ein Status, der ihre Mutter als Erziehungsberechtigte vorläufig vor der Deportation schützte. Während des Zweiten Weltkriegs wird Helga in London Protegé der fürsorglichen Tante Klara Kremer. Aus Wien werden die Großmutter Gisela Kremer, die Tante Erna Kremer und der Onkel Felix Kremer nach Minsk bzw. in die Vernichtungsstätte Maly Trostinez deportiert und getötet. Ilse und ihre Mutter leben bis zum Kriegsende in Wien. Enteignungen, Zwangsarbeit und die bald drohende Deportation der Mutter lassen ihre Lage noch prekärer werden. In dieser Situation wurden die „Bomben für mich ein Trost“, sagt Ilse Aichinger später in einem Interview, weil sie das Ende des NS-Regimes herbeibrennen. Die verbliebene Familie wird sich erst nach mehr als acht Jahren Trennung am 8. Dezember 1947 wiedersehen. In all den Jahren davor mussten Briefe zwischen den Familienmitgliedern die Sehnsucht stillen und ihren Beziehungen und Erfahrungen einen notdürftigen Platz in der Sprache geben. Bei den Briefen handelte es sich um regelrechte Familienbriefe: sie wurden Angehörigen und Bekannten vorgelesen, die verschickten Fotos herumgereicht und abgeküsst, meist finden sich Ergänzungen und Grüße von Verwandten am Schluss. Die frühen Briefe sind besonders ausführlich, sie beschreiben die Details der neuen und alten Leben: Zimmer, Ausflüge, Mahlzeiten, Lohn- und Zwangsarbeit. Sie enthalten Gedichte, Zeichnungen und Reflexionen. Als sich auch Großbritannien in den Krieg involviert, sind nur noch auf 25 Wörter begrenzte Nachrichten über das Rote Kreuz möglich. Nach dem Krieg müssen Ilse Aichinger und
Geboren als Helga Aichinger wird sie in erster Ehe den Namen Helga Singer annehmen, in der zweiten Ehe den Namen Helga Michie, den sie auch nach der Scheidung von Donald Michie behalten wird. Ilse Aichinger: Es muss gar nichts bleiben. Interviews. Wien 2011, S. 100. https://doi.org/10.1515/9783111233796-021
118 Sebastian Köthe ihre Mutter in den Briefen nach Großbritannien um Anziehsachen, Zigaretten und Speisen bitten. Helga, die sich in einer schwierigen Ehe befindet und selbst Mutter geworden ist, schreibt weniger und meidet oft, Einblick in ihr Innenleben zu geben. Umso sehnsüchtiger werden die Briefe Ilses: „Alles – selbst das Kleins te Eures Lebens interessiert mich so brennend“, schreibt sie. Dabei gleiten das Literarische und das Persönliche ineinander; Ilse Aichingers Entwicklung zur Autorin, die 1948 ihren ersten und einzigen Roman Die größere Hoffnung im Bermann-Fischer Verlag veröffentlichen wird, geschieht auch in diesen Briefen. Die Kulturwissenschaftlerin Iris Därmann hat daran erinnert, dass es eine Widerstands- und Gewaltforschung avant la lettre gibt, die maßgeblich um die Frage des Überlebens kreist. Sie erinnert etwa an das Archiv von Oyneg Shabes um Emanuel Ringelblum, welches umfassend das Alltagsleben im Warschauer Ghetto dokumentierte. Es ist diese Sensibilität für die übergangenen Zeugnisse, für die Politiken scheinbar wirkungsloser Handlungen, für die Kraft gerade in Schwäche und Ohnmacht, die für eine Lektüre des Briefwechsels der AichingerSchwestern unabdingbar ist. Obwohl der Briefwechsel nicht mit dem Hintergedanken einer solchen Ar chivierung verfasst wurde, wurden die Briefe „wie ein Tagebuch“ geschrieben und in einer eigenen Schachtel aufbewahrt. Sie wurden schon damals von mehreren Personen gelesen und haben den familiären Bund gestärkt. Sie zeugen von dem Wunsch, die familiär-historischen Widerfahrnisse im Schreiben füreinander aufzuzeichnen und miteinander zu bewältigen. In der Sehnsucht, in der wechselseitigen Tröstung, in der literarischen Aspiration finden sie eine Kraft in der Schwäche, persönliches Erleben und Zeitgeschehen in Worte zu fassen und gleichzeitig die Grenzen der Sprache anzuzeigen. Der Roman Die größere Hoffnung und die Briefe sind sozusagen in derselben Tinte geschrieben. Ilse Aichinger bezeichnet ihn auch als „Tagebuchroman“, „in Bruchstücken geschrieben […] während der letzten 6 Jahre.“ Die Grenze zwischen (Selbst-)Portrait, Verallgemeinerung und Erfindung verschwimmt im Falle der Hauptfigur Ellen: „Dieses junge Mädel bist Du und ich und alle jungen Mädeln und Kinder und Halbwüchsige, die gelitten haben [während der sieben letzten Jahre der Verfol gung]“. Der Roman wurzelt nicht nur in der historischen Erfahrung, sondern in
Helga Aichinger und Ilse Aichinger: „Ich schreib für Dich und jedes Wort aus Liebe.“ Briefwechsel, Wien-London 1939–1947. Herausgegeben, kommentiert und mit einem Nachwort von Nikola Herweg, Wien 2021, S. 228. Iris Därmann: Widerstände. Gewaltenteilung in statu nascendi. Berlin 2021. Aichinger und Aichinger: „Ich schreib für Dich und jedes Wort aus Liebe“, S. 207 Aichinger und Aichinger: „Ich schreib für Dich und jedes Wort aus Liebe“, S. 189.
Zwischen Schweigen und Schreiben 119
der geschwisterlichen Beziehung. Die Sehnsucht, die Liebe, der Trost – die alle ihre eigenen Geschichten haben und sich mit Medien, Ästhetiken und Praktiken verändern – sind eine notwendige Bedingung wie auch ein essentieller Bestandteil sowohl des Überlebens als auch der Literatur. Dabei bleiben die der Verfolgung abgerungenen Bruchstücke des Lebens unsicher und fragil, wie das Verhältnis von Schweigen und Schreiben/Sprechen verdeutlicht. Während die Briefe die Entwicklung einer privaten Sehnsuchtssprache und einer eigensinnigen literarischen Sprache dokumentieren, so sind sie auch Zeugnis eines vielschichtigen Schweigens. Im Dezember 1946 zerbricht sich Ilse in einem „Weihnachtsbrief“ den Kopf, warum die Schwester – ein Leitmotiv in den Briefen der späten Jahre – nicht schreibt. Helga Aichinger hat dieses Schweigen durch die nachträgliche Zerstörung eigener Briefe in späten Jahren noch unterstrichen. Ilse hält ihr in dem frühen Brief das eigene Schreiben entgegen: «[I]ch muß ja auch immer wieder versuchen, Dinge zu sagen, von denen ich nicht glaube, daß ich sie sagen kann und die ich manchmal auch lieber verschweigen würde und für mich behalten. Aber das darf man nicht immer. Wenn Du mich lieb hast – Helgi, dann verschweig es mir bitte nicht – ich brauch es gerade jetzt so notwendig, das zu wissen und genau zu wissen, wie lieb Du mich hast.“ Die Passage führt von der Selbsterfahrung der Schreibenden über einen verallgemeinerten Imperativ hin zur Adressierten. Man darf nicht immer schweigen; auch wenn die Worte ungenügend sind. Vor allem, wenn es um die Zärtlichkeit geht, darf man nicht schweigen, sondern muss genau sein. Viele Jahrzehnte später wird Ilse Aichinger bei einer Preisverleihung sagen, dass ihr das Wort „Dichtung“ zu vage klänge, „nach einer Wolke, die rasch zerblasen werden kann.“ Stattdessen wird es „immer um Genauigkeit gehen, die gerade im Be reich der Literatur leicht abhanden kommt.“ Von den Jugendbriefen aus gelesen, ist diese Genauigkeit eine Sprache der Liebe.
Aichinger und Aichinger: „Ich schreib für Dich und jedes Wort aus Liebe“, S. 261. Ein Brief im September desselben Jahres hatte ebenfalls das Leiden am Schweigen Helgas, das Ausbleiben der Briefe thematisiert: „ich hab oft geglaubt, ich kann einfach nicht mehr weiter – so trostlos war mir wie einem Verdurstenden und ein Wörterl von Dir hätt den Durst gelöscht und es ist nicht gekommen.“ Vielleicht „durstlöschend“ weil die Briefe so oft sich und anderen laut vorgelesen wurden, dass sie nicht mit den Augen gelesen wurden, sondern selbst gesprochen, getrunken, mit dem Mund empfangen wurden. Aichinger und Aichinger: „Ich schreib für Dich und jedes Wort aus Liebe“, S. 259. Aichinger und Aichinger: „Ich schreib für Dich und jedes Wort aus Liebe“, S. 275. Ilse Aichinger: „Der Boden unter unseren Füßen. Rede zum Großen Österreichischen Staatspreis“, in: Film und Verhängnis. Frankfurt a. M. 2001, S. 24.
120 Sebastian Köthe Ilse differenziert die Bedeutung des Geschriebenen für die Schreibenden und die Lesenden, „allen leidenden, wirklichen Menschen klingen Worte leer, wenn sie sie niederschreiben, aber gerade diese Worte sind ja diese Erfülltesten und gerade, wenn man sich selbst ganz leer und müde vorkommt, hat man die Kraft zu trösten.“ Sie erinnert daran, dass man für andere schreibt. Es geht nicht um Selbstverwirklichung oder um eine Berauschung an der eigenen Sprachgewalt. Es geht auch nicht um ein ausgestelltes Leiden am Schreiben, um Schreibblockaden und sonstige Selbstquälereien. Das Schreiben fußt auf einer Asymmetrie des Sinns: die Bedeutungsfülle entsteht nicht beim Schreiben, beim Sagen, beim Geben, sondern beim Empfangen. Trösten zu können ist hier eine Kraft der Schwäche, Leere und Müdigkeit. Sie besteht nicht in einer besonderen Gewissheit oder Überzeugungskraft, die einfach geteilt werden könnte, sondern in dem Mut, die Erschöpfung und Ungewissheit mit der oder dem anderen zu teilen. Sich noch zu exponieren, wo kein Glaube mehr besteht. Ilse fährt fort: „Ich danke Dir, daß Du mich getröstet hast, denn nichts kann mich trösten wie Du.“ Vielleicht kann das Wissen darum, dass man der Trostmensch eines anderen ist, da zu sprechen verhelfen, wo es keinen Glauben mehr an den Sinn der Worte gibt. Auch dieser Brief führt unmerklich von der Familie zur Literatur. Ilse, die ihren Roman am Küchentisch, in einer geteilten Wohnung schreiben muss, teilt ihren Frust, keinen room of one’s own zu haben: „Ich leid ja sehr darunter, keinen Boden unter den Füßen zu haben, keinen Raum, in dem man sich zurückziehen kann – immer nur bei fremden Menschen und keine Heimat, ein Bild oh ne Rahmen.“ Das literarische Schreiben am geteilten Küchentisch ist einer Erinnerung abgerungen, die die Gegenwart überschreibt: „Ich versuch in diesem Buch, die Tiefe aufzubrechen und den Sinn, der hinter den Schmerzen ist, aber ich muß eben noch einmal zurücktauchen und alles noch einmal erleben und erleiden.“ Während die Liebesworte der Schwester Helga in den Briefen den „Durst gelöscht“ haben, droht hier im Tauchgang in die Vergangenheit das Ertrinken in der Tiefe. Ilse Aichinger ist erst Mitte Zwanzig, als sie das schreibt. Das Überleben der nationalsozialistischen Verfolgung verändert das Verhältnis von autobiografischer und historischer Zeit. Die Kindheits- und Jugenderinnerungen gehören einer anderen Zeit an, die biographischen Schwellen werden von der großen Geschichte verschoben und vertieft.
Aichinger und Aichinger: „Ich schreib für Dich und jedes Wort aus Liebe“, S. 275. Aichinger und Aichinger: „Ich schreib für Dich und jedes Wort aus Liebe“, S. 275. Aichinger und Aichinger: „Ich schreib für Dich und jedes Wort aus Liebe“, S. 260. Aichinger und Aichinger: „Ich schreib für Dich und jedes Wort aus Liebe“, S. 261. Vgl. FN 8.
Zwischen Schweigen und Schreiben 121
Einerseits hat Ilse Aichinger das Schweigen als Unterbrechung der tröstenden Verbindung angeklagt und für die leeren, kalten, müden Wörter Fürsprache gehalten. Andererseits bedarf es zum Erinnern und Erfinden auch eines umfassenden Schweigens: „Ich leb fast nicht, denn wenn ich nicht schreib, muss ich ganz still sein und warten, um nichts zu überhören und muß schweigen und für etwas anderes hab ich keine Zeit, nicht einmal zum Lesen komm ich richtig und dabei sehn ich mich so danach, richtig zu leben, wirklich zu leben […].“ Schreiben erfordert Stille: das Warten, das Lauschen, das Schweigen. Das Schweigen, wie häufig bemerkt worden ist, zieht sich durch Aichingers Lebenswerk: es liegt in den jahrelangen Pausen zwischen ihren Veröffentlichungen, in der zwischenzeitlichen Abkehr vom Erzählen, in ihrer oft geäußerten Affinität zum Nicht-Sein. In diesem Jugendbrief ist das Schweigen einerseits die drohende Zerstörung einer Beziehung und die Ausbreitung der Trostlosigkeit, und andererseits ein angespannter Modus der literarischen Zeugenschaft und Beziehungsstiftung. Die innige Beziehung der Geschwister, über alle inneren und äußeren Distanzen hinweg, macht es möglich: zu schweigen, um sprechen zu können, und zu sprechen, um das Schweigen zu brechen.
Aichinger und Aichinger: „Ich schreib für Dich und jedes Wort aus Liebe“, S. 261. Toni Morrison bezeichnet ihr literarisches Verfahren im Vorwort zu ihrem Roman The Bluest Eye als „shap[ing] a silence while breaking it“. Toni Morrison: The Bluest Eye. New York, Toronto 2007 [1970], S. XIII.
Brigitta Kuster22
Charisma, eine Widmung aus dem Süden 0. Ich bin eine Gabe (je suis don), schreibt Frantz Fanon am Ende seines namhaften fünften Kapitels in Schwarze Haut weiße Masken. Als rittlings beschreibt er sich, zwischen dem Nichts und der Unendlichkeit. Ist es diese katastrophische „Unverantwortlichkeit“, die Heerscharen von Leser:innen dazu gebracht hat, sich ihrerseits schreibend diesem tödlichen Ausströmen in Fanons Schriften zuzuwenden?
1. Ein afrikanisches Sprichwort: „Fais comme l’arbre fruitier, quand on lui jette des pierres, il répond en laissant tomber ses fruits pour confondre celui ou celle qui l'attaque par le bas !“ Es gibt aber auch ein französisches, das lautet: “On ne jet te des pierres qu’à l’arbre chargé de fruits.“
2. Wenn eine Sprache sich soweit öffnet, dass sie die Wörter ganz anderen Begabungen zuführt als denen, die sie bis dato trugen, dann wird das Zungenreden des Wortguts charismatisch. Philolog:innen haben im Besonderen das Griechische damit befähigt. Jedoch operiert diese allzu leichte gräkophile Neigung oft gerade am Charisma vorbei, weil sie es auf dessen Nutzen abgesehen hat. Sie will auf eine Zeug:in zurückgreifen, die zugleich etwas in Aussicht zu stellen vermöchte. Charisma ist aber niemals prädestiniert, sondern immer unvorhersehbar, übersteigt sowohl die Erwartung wie das Erwartbare.
Deutsch etwa: Mach es wie der Obstbaum: Wenn man ihn mit Steinen bewirft, antwortet er, indem er seine Früchte fallen lässt, um denjenigen oder diejenige zu verwirren, der oder die ihn von unten angreift! – Man wirft Steine nur auf einen Baum, der mit Früchten beladen ist. https://doi.org/10.1515/9783111233796-022
124 Brigitta Kuster
3. Es ist heiß. Niederdrückend, lähmend, betäubend. Ich wollte im Sommer, im Urlaub schreiben. Der ausladende Sommer, die lethargische Zeit vor den Erträgen. In unnachahmlicher Weise hat Marguerite Duras Hitze mit Wörtern entfacht. In L’Été 80 schreibt sie: „Die ganze Stadt hat sich der Hitze geöffnet.“ In Un barrage contre le Pacifique, auf Deutsch Heiße Küste, geht es um die Dämme gegen den Pazifik, die beständig zu brechen drohen. Barré, verstellt, abgegrenzt. Dagegen das Fiebrige und Feuchte, das sich ausbreitet. Marguerite Duras‘ Hitze ist schwindelerregend, lastend, süßlich, vergoren, klebrig wie glühend heißer Staub, zusammengepappt in der überfüllten, nicht-weißen kolonialen Stadt. Unterstadt ist diese nicht zu kontrollierende flüssige Physis, die schmutzige Erotik peinlicher Durchlässigkeiten der Körper. Dagegen die Barrieren und Kühlanlagen der Oberstadt. Insgesamt eine dekadente Welt, in der sich die brutale Dehiszenz zwischen perlig-schwülem boudoir, empfindsamem, einschläferndem ennui auf der einen und schmutzigen Krusten aus Schweiß, Urin und scharfem Essen auf der anderen Seite nur mühsam verbergen lässt. Sie ist eine erstickende Hitze, die das Atmen erschwert, wie es Kummer tun kann. Mitten in dieser Umgebung beschreibt Duras aber auch ein Loch, in das man sich verkriechen kann, das Dunkel des Kinos nämlich: Wenn man mit einem Unbekannten vor einem [...] Bild saß, sehnte man sich nach dem Unbekannten. Das Unmögliche wurde greifbar, alle Hindernisse schwanden, wurden imaginär. Hier wenigstens fühlte man sich verbunden mit der Stadt, während sie einen auf der Straße floh und man vor ihr floh.
4. Nimmt man Bilder oder macht man sie? Je te prends en image. Legt man etwas in ein Bild hinein, so dass etwas – anderes – daraus entnommen werden kann? Wie kommt es, dass man ohne sich jemals an sie zu halten, Dinge in einem Bild sieht? Jean Epstein, Filmemacher und Filmtheoretiker, war ein großer Zauberer des Bilderempfangens als Einverleibung. Nicht Geschichten waren es, die für ihn zählten, sondern nur „Situationen, ohne Schwanz oder Kopf, ohne Anfang, ohne Mitte und ohne Ende; ohne Vorderseite und ohne Rückseite; man konnte
Marguerite Duras: Heiße Küste. Frankfurt a. M. 1988, S. 174.
Charisma, eine Widmung aus dem Süden 125
sie rundherum betrachten. Rechts wird links, ohne Grenzen der Vergangenheit oder Zukunft, sie sind Gegenwart“, so schrieb er 1921 in Bonjour Cinema. Ihm zufolge war die Sache des Kinematographen die Darstellung der Beweglichkeit der Welt. Alles Veränderliche, das Werdende und Vergehende erwies sich für Epstein als bildwirksam, und die Regel dafür nannte er photogénie. Diese erfasst Erscheinungen und Phänomene nach dem Prinzip der Nicht-Identität und in der Weise einer Verbildlichung, die sich immer als eine vergrößernde Erhöhung erweist, als eine kumulierende An- und Heraushebung. Die photogénie kann die Motive, die sie darstellt, jedoch auch übersteigen und verzehren. Und da das kinematographisch zu Beschreibende unsicher und flüchtig ist, bietet es sich der Amplifikation, dem ins Unendliche steigerbaren Beschreibungsvorgang geradezu an. Kino funktioniert zum einen über Ähnlichkeit, zum anderen aber auch darüber, dass es die zu beschreibenden Phänomene an sich selbst binde, um sie gerade auf diese Weise – scheinbar paradox – einer „realen Gegenwart“ zuzuführen, so Epstein. Kino erzeugt Präsenz, als wäre das Reale aufgesprungen, geplatzt, aus sich selbst herausgesprungen. Gesteigerte, exaltierte Mimesis, die in Gegenwart umschlägt; für Epstein lag ihre maximale Dauer unter einer Minute. Filmbilder werden also weder genommen noch gemacht, sie werden hervorgelockt, herausgelöst. Dieser Vorgang geschieht an der Grenze des Bildlichen, dort wo die Erscheinungen sich selbst fundamental fremd sind. Die photogénie im Kino gehorcht keineswegs den Regeln der Repräsentation oder Verdoppelung des Wirklichen, sondern dem Exzess des Einleuchtenden, dem Blitz, dem Sprung, „ouverte comme une belle grenade, peleìe de son eìcorce, assimilable, barbare“, „offen wie ein schöner Granatapfel“. Die reale Gegenwart des kinematographischen Bildes bringt das Unbewusste eines Phänomens zu Tage und es bewirkt seinen Wandel. Deshalb ist es immer erschreckend, sich selbst im Film zu begegnen. Heide Schlüpmann hat davon gesprochen, dass der Zusammenhang zwischen den Zuschauer:innen und dem Leinwandgeschehen im Kino der „Affinität der Einbildungsvermögen“ geschuldet sei. Es hat sie interessiert, dass die besondere Fotogenität von Schauspieler:innen und Stars in der Frühzeit
„Il n’y a pas d’histoires. Il n’y a jamais eu d’histoires. Il n’y a que des situations, sans queue ni tê te; sans commencement, sans milieu, et sans fin; sans endroit et sans envers; on peut les regarder dans tous les sens; la droite devient la gauche; sans limites de passeì ou d’avenir, elles sont le preìsent.“ (Jean Epstein: Bonjour Cinéma [1921]. In: ders.: Écrits sur le cinéma, tome 1. Paris 1974, S. 87). Jean Epstein: Le cinéma et les lettres modernes (1921). In: ders.: Écrits sur le cinéma, tome 1, Paris 1974, S. 66. Vgl. Jean Epstein: Photogénie de l’impondérable (1935). In: ders.: Écrits sur le cinéma, tome 1, Paris 1974, S. 249.
126 Brigitta Kuster des Films nachweislich daran gebunden war, dass diese es verstanden haben, sich von ihrem Vermögen zu Lebendigkeit, Sichtbarkeit und Schönheit zu lösen, zugunsten der Einbildungskraft der Zuschauer:innen. Schlüpmann beschreibt dies als „Rücknahme der Körperführung in die Bewegtheit äußerer Wirklichkeit“ zugunsten ihrer Herstellung im Kino. Seinen Körper in den Dienst des Filmemachens zu stellen, bedeutet, den eigenen Leib und dessen Begehren so zurückzunehmen, dass die Einbildung Physis wird. Die Pointe hierbei ist diese: Mit der Zurücknahme aber geht das Versprechen einer Wiederkehr einher, die in der Aufführung des Films stattfindet. Zur Erscheinung, die die Aufnahme herstellt, gehört daher untrennbar die Aufführung; mit ihr erst tritt die äußere Wirklichkeit der filmischen Erscheinungen hervor […]. Das lässt sich gar nicht genug betonen: Im frühen Kino ist, eine Film aufnahme zu machen, ohne zugleich deren Aufführung mitzudenken, nicht vorstellbar.
Folgen wir Schlüpmann, so hat der frühe Film die Verbindung zwischen Film und Publikum über die – auch utopische – Imagination hergestellt – und zwar sofern er zum einen untrennbar Aufnahme und Aufführung war und zum anderen, sofern aus der Aufführung ein Prozess hervorging, der dem der Aufnahme ähnlich war: nämlich ein erneuter Einbildungsprozess.
5. Jean Daniel Pollet, Mediterranée, 1963: Ein Film auf der Suche nach dem photogénie der Geschichte und der Erinnerung tausender Jahre im Mittelmeerraum. Mediterranée ist ein Versuch – mit der Sicherheit der Gewohnheit und der Zerstreuung, so Pollet bzw. Philippe Sollers, der nachträglich zu den Bildsequenzen den Off-Text besorgte –, die Zeit, ihre longue durée – heute, damals, anderswo – zu empfangen: sterbend wie der Stier in der Arena, betäubt wie das Mädchen auf dem Operationstisch, wie die reifende Orange, das Gesicht einer Mumie…. In diesem Süden, den wir bewohnten, vielleicht ohne es zu wissen, voller unvorhergesehener und vergessener Bilder, die sich beständig verändern, während hoch oben und weitab von unseren Geschicken eine massive Stille den Norden anzeigt, in dem die kleinste Sache so groß (vaste) wäre wie die allergrößte (la plus vaste) und der Fokus auf allem lag.
Heide Schlüpmann: Ungeheure Einbildungskraft. Die dunkle Moralität des Kinos. Frankfurt a. M. 2007, S. 260. Schlüpmann: Ungeheure Einbildungskraft, S. 255–256.
Charisma, eine Widmung aus dem Süden 127 Mais si l’on était regardé, rien ne parle plus, mais c’est une sorte de parole tacite, arrêtée, endormie juste avant la parole qui ne peut traverser ce champ où elle est freinée. Parole enfermée, basculant en surface. Wenn wir beobachtet würden, spricht nichts mehr, sondern es ist eine Art stillschweigende Äußerung, angehalten, eingeschlafen kurz vor dem Sprechen, das dieses Feld, in dem es gebremst wird, nicht durchqueren kann. Eingeschlossenes Wort, An der Oberfläche kippend.
Abb. 1: Schnappschüsse aus Mediterranée. Sphinx, 560–550 v. Chr., Archäologisches Museum Athen.
Aus dem Off-Text von Jean-Daniel Pollet: Mediterranée, 1963. Übersetzung der Autorin.
128 Brigitta Kuster
Abb. 2–3: Schnappschüsse aus Mediterranée. Sphinx, 560–550 v. Chr., Archäologisches Museum Athen.
Charisma, eine Widmung aus dem Süden 129
6. χάρισμα Chárisma, eine besondere Fähigkeit, die einem nicht profanierbaren theokratischen Prinzip gehorcht. Nichts kann gegen Charisma getan werden und nichts lässt sich dafür tun; Charisma ist unverdient und bedingungslos. Anti-sozial. Sein Anzeichen, oft körperlich wie die weißen Strähnen der Kassandra, markiert die Allgegenwart des Göttlichen, dem man sich nicht erkenntlich zeigen kann. Mit Charisma gibt es keine ver/antwortliche Umgangsweise wie etwa mit der Hybris, die von Dämonen bewohnt und von Titanen zerstört wird.
Lena Kugler23
Der Empfang auf dem Mond Geschichte/n der extraterrestrischen Diaspora In der nahen Zukunft des Jahres 1953, wie sie der Berliner Rabbiner und Schriftsteller Martin Salomonski in seinem 1934 erschienenen Roman Zwei im andern Land beschreibt, wird der Empfang auf dem Mond gleich in mehrfacher Hinsicht überaus gut gewesen sein. Nicht nur wird nahegelegt, dass die Protagonistin Mica nirgendwo anders als auf dem Mond ihr Kind empfängt, auch die technischen Empfangsbedingungen sind im Vergleich zur Erde erstaunlich. Der zukünftige Kindsvater Victor, selbst Erfinder eines auf der Erde heißbegehrten Apparats, der jede noch so verborgene Erinnerung aus den „Vorratskammern des Gehirns“ zu holen und in bewegten Bildern auf eine Leinwand zu projizieren vermag, kommt jedenfalls beim Betrachten einer lunaren Rundfunk- und Fernsichtübertragung „fast in Versuchung, einige Sonderwellen zur Erde zu funken […]. Aber was hilft es, wenn die irdischen nicht die richtige Einstellung haben!“ Dabei unterscheiden sich lunare und irdische Empfangs- und AufnahmeEinstellungen noch in anderer Hinsicht. Denn in Salomonskis Roman, in dem es im Jahr 1953 kaum mehr Jüdinnen und Juden in Berlin gibt, wird gerade der Mond zum jahrhundertealten Empfangsraum der verfolgten und womöglich gar der gesamten Weltjudenheit. Nach ihrer unvermittelten und traumhaften Verbringung auf den Mond werden Mica und Victor jedenfalls von einer Delegation jüdischer Mondbewohner:innen willkommen geheißen, deren Anführer ihnen erklärt: Wir sind Israels Kinder und einst in alter Zeit, als Samarias Herrlichkeit und Zions Heiligtum in Trümmern sanken, von Gott selbst […] aus der Knechtschaft, der Verfolgung der Welt durch seinen starken Arm hierhergetragen worden. […] Viermal in 2500 Jahren sind neue Siedler […] hierhergekommen: als Titus freventlich Jerusalem aufs Neue zerstörte, als die Kreuzzüge und die Verfolgungen des Schwarzen Todes uns ausrotten wollten, als Spanien und Portugal eine halbe Million Juden auf die Scheiterhaufen und zur Auswanderung
Salomonskis Text wurde zunächst ab Juni 1933 unter dem Pseudonym Stefan Reginald Marknes als Fortsetzungsgeschichte in der Berliner Jüdisch-liberalen Zeitung publiziert, um im darauffolgenden Jahr unter seinem tatsächlichen Namen und mit Fußnoten eines nun als Kritiker auftretenden Stefan Marknes als eigenständiges Buch zu erscheinen. Im Jahr 2001 wurde sein Roman von Alexander Fromm neu herausgegeben: Martin Salomonski, Zwei im andern Land, hg. von Alexander Fromm. Berlin 2021. Salomonski: Zwei im andern Land, S. 85. https://doi.org/10.1515/9783111233796-023
132 Lena Kugler zwangen. Auch vor kurzer Zeit kamen Menschen zu uns herauf. Ich selbst habe den Mond erst vor neunzehn Jahren betreten […].
Obwohl es den auf der Erde verbliebenen Juden und Jüdinnen in der Jetztzeit der Romanhandlung ausdrücklich „am bürgerlichen Recht nicht gebr[icht]“ und ihr Leben in recht beschaulicher Bequemlichkeit verläuft, ist mehrfach davon die Rede, „dass in Deutschland und in Berlin nicht allzu viele von Israels Stamm zurückgeblieben waren, und dass es dort kaum mehr eine Jugend gab“. Wieder zurück auf der Erde scheint Mica jedenfalls nicht nur die deutsche, sondern die gesamte Weltjudenheit immer deutlicher „zum Hinschwinden verurteilt zu sein“. Gemeinsam mit Victor sammelt sie eine immer größer werdende Schar um sich, deren Ziel es ist, „losgelöst von allen Völkern – irgendwo auf der Welt –, in einem ganz andern Lande […] mit der völligen Neugestaltung der Judenheit ernst“ zu machen. Petitionen und Aufrufe werden geschrieben, die „vereinigten Mächte Europas und die Union der Staaten Nordamerikas“ und schließlich sogar der Papst beschwören sie eindringlich, doch bitte zu bleiben. Gleichwohl wird ihnen ein Territorium an der Nordküste Afrikas zur „ausschließlichen und freien Verfügung“ zugesprochen und unter höchster internationaler Medienbeachtung beginnt der Auszug nahezu der gesamten Weltjudenheit in die dort er richtete „gewaltige Zeltstadt“, die allerdings, und das ist die erwartbare Pointe des Romans, noch längst nicht ihr eigentliches „Wanderungsziel“ darstellt: Eines Morgens sind auch von dort alle Jüdinnen und Juden verschwunden, und während die Welt noch immer darüber rätselt, wo sie denn sind, weiß das allein die Leserschaft des Romans: nirgendwo anders als auf dem Mond. Salomonskis Reiseroute zum Mond zeichnet damit zwar weniger den tatsächlichen Gestaltungs-, sehr wohl aber den Denk- und Diskussionsraum der zeitgenössischen Konzepte jüdischer Lebens- und Überlebensweisen erstaunlich präzise auf und verweist auf die in sich selbst heterogene Geschichte des Zionismus und des sogenannten Territorialismus. Wie in der Forschung seit eini-
Salomonski: Zwei im andern Land, S. 78. Salomonski: Zwei im andern Land, S. 154. Salomonski: Zwei im andern Land, S. 154. Salomonski: Zwei im andern Land, S. 167–168. Salomonski: Zwei im andern Land, S. 173. Vgl. Philipp Theisohn: Sie werden vermisst. Jüdischer Exodus ins Außerirdische: Martin Salomonskis Mondreise-Roman ‚Zwei im andern Land‘ von 1934 erscheint neu. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15. April 2021, Nr. 87, S. 10. Salomonski: Zwei im andern Land, S. 176. Salomonski: Zwei im andern Land, S. 181. Salomonski: Zwei im andern Land, S. 182.
Der Empfang auf dem Mond 133
gen Jahren verstärkt in den Blick kommt, stellte nämlich der im heutigen Israel verwirklichte Zionismus für viele nur eine und weder die wünschenswerteste noch die wahrscheinlichste Option dar. Auch Theodor Herzl konnte sich durchaus verschiedene Territoriallösungen vorstellen und zog in seinem Entwurf eines souveränen jüdischen Gemeinwesens bekanntermaßen nicht nur Palästina, sondern auch Argentinien in Betracht. Die Liste der Promised Lands before Israel ist jedenfalls erstaunlich lang, erstreckt sich über den ganzen Globus und betrifft jeden Kontinent mit der Ausnahme der Antarktis. Hauptargument des um pragmatische Lösungen bemühten Territorialismus war, dass die jüdische Not exponentiell zunahm, während die in Palästina sich verwirklichenden Projekte nur arithmetisch voranschritten, dass also einfach nicht genug Zeit blieb, um mit Palästina allein jüdisches Leben zu retten. Bekanntermaßen scheiterte jedoch jeder einzelne territorialistische Versuch, irgendwo auf der Welt für das jüdische Volk ein auch von Mica gewünschtes „gro ßes Terrain“ zu finden, und zwar erst recht eines, „das keinem gehört“. Der Erdglobus allein schien für einen wohlwollenden Empfang all der jüdischen Flüchtlinge schlichtweg nicht groß genug. Francis Montefiores Bemerkung, ein politisch jungfräuliches Territorium könne wohl nur auf dem Mond gefunden werden, konterte dabei schon Israel Zangwill mit der Bemerkung: „Not even there, I fear. For there is a man in the moon, and he is probably an Anti-Semite.“ Hannah Arendt wiederum konstatierte in einem 1941 publizierten Artikel, der sich um die Frage nach einer eigenen jüdischen Kampftruppe gegen Hitler drehte: „Vor Antisemitismus ist man aber nur noch auf dem Monde sicher; und der berühmte Ausspruch Weizmanns, daß die Antwort auf den Antisemitismus der Aufbau Palästinas sei, hat sich als ein gefährlicher Wahn erwiesen.“ Für Arendt ergeben sich daraus im Jahr 1941 drei Einsichten, nämlich erstens, dass der Antisemitismus nur bekämpft werden könne, wenn Juden, und zwar als ein
Vgl. Theodor Herzl: Der Judenstaat. Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage. Berlin, Wien 1896, S. 28. Adam Rovner: In the Shadow of Zion. Promised Lands before Israel. New York, London 2014, S. XV. Vgl. Gur Alroey: Zionism without Zion: Territorialist Ideology and the Zionist Movement, 1882 – 1956. In: Jewish Social Studies: History, Culture and Society 18 (2011/2012), S. 1–32, hier S. 10. Salomonski: Zwei im andern Land, S. 167. Israel Zangwill: A Land of Refuge. London 1907, S. 13. Hannah Arendt: Ceterum Censeo … In: dies.: Vor Antisemitismus ist man nur noch auf dem Monde sicher. Beiträge für die deutsch-jüdische Emigrantenzeitung »Aufbau« 1941–1945, hg. und komm. von Marie Luise Knott. München 2019, S. 33–39, hier S. 34–35.
134 Lena Kugler europäisches Volk, mit der Waffe in der Hand gegen Hitler kämpften. Zweitens, dass Palästina nur als Siedlungsgebiet der europäischen Juden betrachtet werden kann. Mit anderen Worten: daß die Politik Palästinas von einer Gesamtpolitik des europäischen Judentums aus zu leiten ist und daß nicht umgekehrt die Palästinapolitik die gesamte jüdische Politik bestimmen kann. Denn es gibt drittens keine Lösung der Judenfrage in einem Lan de, auch nicht in Palästina.
Auf das katastrophale Fehlen einer gesamtpolitischen Antwort auf den erstarkenden Antisemitismus verweist auch Salomonskis kurz nach Hitlers Machtergreifung publizierter Roman. Und zwar zum einen mit seiner so deutlich klaffenden Leerstelle, um die der Text beständig kreist: dem fast völligen Fehlen einer Darstellung der beginnenden 30er Jahre, in denen die fünfte und zunächst letzte Fluchtbewegung auf den Mond stattgefunden haben soll. Nirgendwo wird auch nur ansatzweise erklärt, welcher Art die Verfolgungen waren und wie es denn dazu kam, „dass in Deutschland und in Berlin nicht allzu viele von Israels Stamm zurückgeblieben waren“. Zum anderen aber auch überhaupt mit der Geschichte einer märchenhaften Landnahme des Mondes als einzig sichere jüdische Heimat- und Fluchtstätte. Auch nach der Staatsgründung Israels und dem Ende der nationalsozialistischen Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden und Jüdinnen – Salomonski wurde am 16. Oktober 1944 in Auschwitz ermordet – kommen mit Zukunftsnarrativen von Jews in Space immer wieder planetarische Territorialisierungsprojekte und -hoffnungen in den Blick. In einer Erzählung William Tenns von 1974 geht es beispielsweise um die Geschehnisse auf der „ersten In terstellaren Neozionistischen Konferenz“ auf dem Planeten Venus. Und in Phobee Norths Starglass-Reihe von 2013 steuert die jüdische Population eines Raumschiffs seit nunmehr fünfhundert Jahren auf ihren Bestimmungsort, den Planeten Zehava, zu, nur um kurz vor dem Eintritt in seine Atmosphäre festzustellen, dass er schon bewohnt ist. Israel als jüdisches Territorium und mitunter der Planet Erde überhaupt existieren in solchen Zukunftsszenarien meist schon lange nicht mehr, Pogrome und Vertreibungen haben dagegen planetarische Ausmaße gewonnen, so dass man vor Antisemitismus auch auf dem Mond, wie Arendt noch meinte, keines-
Arendt: Ceterum Censeo …, S. 36. Salomonski: Zwei im andern Land, S. 154. Vgl. William Tenn: On Venus, Have We Got a Rabbi. In: Jack Dann (Hg.): Wandering Stars. An Anthology of Jewish Fantasy & Science Fiction. Woodstock, Vermont 2009, S. 7–40.
Der Empfang auf dem Mond 135
wegs sicher ist. Im fiktional erschlossenen Universum dieser diasporischen Möglichkeits- und Empfangsräume stellt sich aber nicht nur die Frage nach der jeweiligen Beschaffenheit der zukünftigen jüdischen Welt, sondern auch die nach ihren Bewohner:innen: Sind blaue Juden und Jüdinnen noch jüdisch oder solche, die – ich zitiere wohlgemerkt – nicht nur „nicht jüdisch aussehen“, son dern „gar nicht mehr menschlich“? Welche Herkunftsgeschichte werden zukünftige Space Age Jews haben, wie wird sie erinnert, wem erzählt und auf welche Weise dereinst empfangen werden? Und wird diese Geschichte überhaupt eine menschliche gewesen sein? Die israelische Sonde Bereshit (im Anfang), die am 11. April 2019 auf dem Mond zerschellte und ursprünglich losgeschickt worden war, um das lunare Magnetfeld und die Entfernung zur Erde zu vermessen, hatte jedenfalls nicht nur „die Memoiren eines Holocaust-Überlebenden, eine hebräische Bibel sowie die Israeli sche Unabhängigkeitserklärung an Bord.“ Als Teil eines planetaren DNA-Archivs flogen auch sogenannte Bärtierchen (Tardigrada) in dehydriertem Zustand mit, winzige und als Überlebenskünstler geltende Kleinstorganismen, die der Aufprall über die Oberfläche des Mondes zerstreute. Was aus dieser, im Wortsinn: lunaren diaspora wird und überhaupt werden kann, muss sich noch zeigen.
Carol Carr: Look, You Think You’ve Got troubles. In: Jack Dann (Hg.): Wandering Stars. An Anthology of Jewish Fantasy & Science Fiction. Woodstock, Vermont 2009, S. 59–71, hier S. 59. So Alexander Fromm in seinem Nachwort zu Salomonskis Roman, S. 202. Vgl. beispielsweise zu diesem breit in den Medien berichteten lunaren Vor- und Unfall: Patrick Illinger: Bärtierchen sind die ersten Mondbewohner. In: Süddeutschen Zeitung, 7. August 2019. https://www.sueddeutsche.de/wissen/baertierchen-weltraum-mond-israel-1.4554839 (letzter Zugriff September 2022).
Paul Krell24
Strafbare Gastfreundschaft? Die Bandbreite dessen, was man empfangen kann, ist nach dem heutigen Sprachgebrauch groß. Im rechtlichen Kontext denkt man vermutlich zunächst an Willenserklärungen, aber auch an Leistungen aller Art. Praktisch geht es häufig um den Empfang von Rundfunksignalen; insbesondere die Parteien von Mietverträgen streiten oft und intensiv um die Anbringung von Parabolantennen. Ein Punkt, über den ebenfalls viel gestritten wird, ist der Empfang von Paketen im Strafvollzug. Als Strafrechtswissenschaftler denke ich zudem vor allem an den Empfang von Vorteilen, der bei der Korruption eine wichtige Rolle spielt. Die Bandbreite dessen, was man empfangen kann, war indes nicht immer so groß: Die ursprüngliche Bedeutung des Wortes (aus dem mittelhochdeutschen empfahen und dem althochdeutschen intfahan) bezog sich noch auf den Empfang von Menschen. In Theorien der Gabe zur Einführung weist Iris Därmann darauf hin, dass eine unbedingte Gastfreundschaft im Sinne Derridas und Lévinas‘ mit der Gefahr verbunden sei, selbst einem Mörder oder einer Mörderin Einlass zu gewähren oder sogar ethisch dazu verpflichtet zu sein. Auch wenn es auf den ersten Blick fernliegend erscheinen mag, dass der Empfang von Menschen rechtliche oder gar strafrechtliche Relevanz haben könnte, leiten diese Überlegungen von einem ethischen Problem zu einem rechtlichen über. Das eindrücklichste Beispiel in der deutschen Geschichte dürfte der Fall des Psychologieprofessors Peter Brückner sein, der 1975 vom Landgericht Hannover (damals noch wegen persönlicher Begünstigung, dem Vorgänger der Strafvorschrift zur Strafvereitelung) zu einer Geldstrafe von 4.800 DM verurteilt wurde, weil er Ulrike Meinhof in seiner Wohnung beherbergt hatte. Es ist ungewöhnlich, dass ein Landgericht Geldstrafen verhängt: Das Landgericht ist in Strafsachen grundsätzlich nur zuständig, wenn eine Haftstrafe von über vier Jahren zu erwarten steht (bei Brückner ging man seinerzeit ursprünglich davon aus, er habe eine terroristische Vereinigung unterstützt). Das Gericht blieb mit seinem Urteil noch hinter dem Antrag der Staatsanwaltschaft zurück. 7.200 DM hatte der Staatsanwalt für angemessen gehalten, da es sich nur um einen Akt „unreflektierter Solidarität“ gehandelt habe.
Vgl. Iris Därmann: Theorien der Gabe zur Einführung. Hamburg 2016, S. 129. Vgl. Die Zeit, 17. Oktober 1975. https://doi.org/10.1515/9783111233796-024
138 Paul Krell Im U.S.-amerikanischen Recht gibt es eine eigene Strafvorschrift mit ziemlich klaren Voraussetzungen, die die Beherbergung von Straftätern und Straftäterinnen unter Strafe stellt (18 U.S. Code § 1071): Es muss einen Haftbefehl geben, die empfangende Person muss darum wissen, sie muss der gesuchten Person Unterschlupf gewähren oder sie verstecken und dabei mit dem Ziel handeln, die Festnahme oder Auffindung zu verhindern. Im deutschen Recht ist es etwas komplizierter. Das liegt vor allem daran, dass wir nur einen allgemein gehaltenen Straftatbestand der Strafvereitelung (§ 258 des Strafgesetzbuchs) haben. Danach macht sich strafbar, wer absichtlich oder wissentlich verhindert, dass jemand wegen einer Straftat verurteilt oder eine bereits verhängte Strafe vollstreckt wird. Ein Kernproblem dieser Vorschrift liegt darin, dass sie die Grenzen des zulässigen und des strafbaren Verhaltens weitestgehend offenlässt. Die damit verbundenen Schwierigkeiten lassen sich an der Strafverteidigung beispielhaft aufzeigen: Es wäre offensichtlich absurd, Strafverteidigerinnen und Strafverteidiger, die wissen, dass die angeklagte und von ihnen verteidigte Person schuldig ist, für jeden Freispruch zu bestrafen. Das Gesetz bietet indes keinerlei Anknüpfungspunkte für Differenzierungen. Um trotz dessen zu angemessenen Lösungen zu kommen, orientieren sich Rechtsprechung und Literatur bei der Strafbarkeit von Strafverteidigerinnen und Strafverteidigern grob daran, ob sie die Grenzen des prozessrechtlich Zulässigen überschritten haben. Aber wo wird der Empfang von Menschen, wo wird Gastfreundschaft zu einer Strafvereitelung und damit zu einer Straftat? Um sich dieser Frage anzunähern, ist es sinnvoll, zunächst zu erläutern, wann eine Strafbarkeit in jedem Fall ausscheidet. Angehörige können sich nach deutschem Recht nicht wegen Strafvereitelung strafbar machen, da das Gesetz für sie einen persönlichen Strafausschließungsgrund vorsieht. Hintergrund dessen ist, dass sich Angehörige in der Regel in einer Konfliktsituation befinden und es ihnen daher nicht bei Strafe verboten werden sollte, ihre Angehörigen vor Strafe zu schützen. Außerdem setzt eine Strafvereitelung eine erhebliche Verzögerung der Verurteilung voraus, die man überwiegend ab einem Zeitraum von zwei bis drei Wochen annimmt. Aus diesem Grund kann eine kurze Beherbergung grundsätzlich nicht für eine Strafbarkeit ausreichen. Eine Ausnahme ist allerdings für den Fall denkbar, dass eine kurze Beherbergung eine solche Wirkung hat, etwa weil sie nachweisbar dazu führt, dass ihretwegen die gesuchte Person bei einer kurzen und intensiven Fahndung nicht gefunden wird und sich anschließend der Festnahme erfolgreich entzieht. In allen anderen Fällen bleibt die Frage, wann Gastfreundschaft zur Strafvereitelung wird. Sie hat deutsche Gerichte auch jenseits des Falls Brückner
Strafbare Gastfreundschaft? 139
schon ein paar Mal beschäftigt. Die übliche Antwort lautet: Strafbar ist es nicht schon, einer anderen Person Obdach zu gewähren, wohl aber sie zu verstecken. Diese Unterscheidung wirft einige Fragen auf. Es geht hier nicht nur um die Abgrenzungsschwierigkeiten, die uns Juristinnen und Juristen so oft umtreiben, sondern auch um die Frage danach, ob und wann es überhaupt legitim ist, eine Person dafür zu bestrafen, dass sie einer anderen Person Obdach gewährt. Die Antwort auf die erste Frage hängt von der auf die zweite ab. Denn während die Gesetzgebung in den Vereinigten Staaten eine offensichtliche Entscheidung dafür getroffen hat, Gastfreundschaft gegenüber Straftäterinnen und Straftätern unter gewissen Voraussetzungen unter Strafe zu stellen, fehlt eine solche unzweideutige Grundsatzentscheidung im deutschen Recht. Es handelt sich um ein Paradebeispiel für strafrechtsdogmatische Arbeit, die oft bei solchen Gesetzen notwendig wird, die nur einen groben Rahmen vorgeben. Diese Arbeit hat wenig mit der Arbeit eng am Gesetz zu tun. Es geht vielmehr darum, auf einer prinzipiellen Ebene Grund und Grenzen der Freiheit menschlichen Handelns sachgerecht zu bestimmen. Bei unserem Problem geht es, anders als in den Theorien der Gabe, nicht um eine Ethik der Gastfreundschaft, sondern um die Freiheit derjenigen Person, die einer anderen Person Obdach gewähren möchte. Kann diese Freiheit schon deshalb begrenzt werden, weil die beherbergende Person um die Straftat derjenigen Person, die sie beherbergt, weiß? Wie schwer eine Antwort fällt, wird deutlich, wenn man auf einzelne Entscheidungen zu unserem Problem blickt. Die Oberlandesgerichte Stuttgart und Koblenz waren der Ansicht, das Problem vom Begriff des Verstecks her lösen zu können: Ein Versteck sei ein Ort, wo niemand die gesuchte Person vermutet. Im Koblenzer Fall befand sich die Wohnung, in der die gesuchte Person untergebracht war, in einer kleinen Gemeinde in der Nähe der Stadt, von der aus die Ermittlungsbehörden nach ihr fahndeten. Dem Oberlandesgericht genügte das, um die Strafbarkeit zu begründen: In dieser Gemeinde vermute schließlich niemand die gesuchte Person, weshalb der Angeklagte sie nicht nur beherbergt, sondern versteckt habe. Dieser Ansatz ist in mehrerlei Hinsicht problematisch. Zunächst einmal ist er wenig praktikabel, weil ein Maßstab für die Frage, wo die gesuchte Person vermutet wird, fehlt (und nicht leicht zu entwickeln ist). Auf wessen Vermutung kommt es an? Auf die tatsächliche Vermutung der fahndenden Ermittlungsbehörden? Oder auf einen verallgemeinernden Maßstab? Lassen sich sinnvolle Erfahrungssätze aufstellen, an welchen Orten üblicherweise gesucht wird und an welchen nicht? Noch schwerer wiegt, dass die Unterscheidung zwischen zulässigem Obdach und Versteck – jedenfalls in der Form, in der sie die Rechtsprechung ver-
140 Paul Krell tritt – zu offensichtlich willkürlichen Ergebnissen führt. Hätte das Oberlandesgericht Koblenz ernsthaft die Strafbarkeit des Angeklagten verneinen wollen, wenn dieser der gesuchten Person zufällig eine Wohnung in der Stadt, in der die Ermittlungsbehörden gefahndet hatten, zur Verfügung hätte stellen können? Soll meine Strafbarkeit, wenn ich einen Freund, der wegen einer Straftat gesucht wird, bei mir übernachten lasse, ernsthaft davon abhängen, wo die Ermittlungsbehörden nach ihm suchen? Eine befriedigende Lösung für unser Problem hat die Strafrechtswissenschaft bis heute nicht gefunden. Ich möchte mich nicht zu sehr in strafrechtsdogmatischen Einzelheiten verlieren und beschränke mich auf eine holzschnittartige Skizze: Der im Ausgangspunkt plausibelste Vorschlag beruht auf dem Gedanken, dass die Beherbergung als solche sozialadäquat ist und das Wissen um die Straftat der beherbergten Person allein die Strafbarkeit nicht begründen kann. Straflos bleiben nach dieser Ansicht deshalb alle Verhaltensweisen, die auch gegenüber einer Person vorgenommen werden dürften, die keine Straftat begangen hat. Das Problem an diesem Ansatz ist jedoch, dass es kaum Verhaltensweisen gibt, die nur Straftätern und Straftäterinnen gegenüber verboten sind. Zudem wird gegen diese Ansicht eingewandt, dass sie (vor allem jenseits der Beherbergungsfälle) die Strafbarkeit zu sehr einschränke. So wird etwa auf Fluchthilfe mit dem Auto oder ein falsches Alibi verwiesen, die dann gleichfalls stets straflos bleiben müssten, weil man auch einen Freund spazieren fahren oder eine Freundin nach einem Seitensprung decken dürfe. Ein anderer Ansatz stellt darauf ab, ob die beherbergende Person mit der Absicht handelt, die gesuchte Person zu verstecken. Damit wird eine Voraussetzung ins Gesetz gelesen, die sich in der U.S.-amerikanischen Vorschrift ausdrücklich findet. Allerdings tut sich die Jurisprudenz traditionell schwer damit, dem Gesetz solche besonderen subjektiven Voraussetzungen zu implantieren, obwohl es sie nicht vorsieht. Das mag kleinlich wirken, doch gibt es für eine solche Strenge häufig gute Gründe. Darüber hinaus wird eingewandt, die subjektivierende Lösung laufe auf ein Gesinnungsstrafrecht hinaus. Damit ist ein schillernder Begriff angesprochen. Hinter ihm steht die Überlegung, dass die Strafbarkeit in einem rechtsstaatlichen Strafrecht nicht allein durch eine mutmaßlich falsche Gesinnung begründet werden soll. Nun ist es gleichzeitig so, dass das Strafrecht an vielen Stellen an die Gesinnung anknüpft und sich niemand daran stört. Letztlich ist die Frage, wann der Gesinnung zu viel Gewicht zukommt. Eine sonderlich befriedigende Antwort darauf hat man nicht, und deshalb steht der Einwand eines unzulässigen Gesinnungsstrafrechts häufig auf brüchigem Fundament. Das heißt aber nicht, dass er keinen
Strafbare Gastfreundschaft? 141
berechtigten Kern hätte. Bei unserem Problem beispielsweise mutet es in der Tat nicht ganz einleuchtend an, dass sich eine Person, die einen Straftäter oder eine Straftäterin mit schlechtem Gewissen beherbergt, straflos bleibt, während eine andere Person, die es dabei gutheißt, dass die gesuchte Person angesichts der Beherbergung auch nicht gefunden werden wird, strafbar ist. Hinzu kommt, dass sich hier neben Beweisproblemen auch erhebliche Abgrenzungsschwierigkeiten stellen: Max Frischs Drama Biedermann und die Brandstifter bietet ein schönes Beispiel dafür, wie leicht die Grenze zwischen Gastfreundschaft, Pflichtgefühl, Bequemlichkeit, Solidarisierung und Mitläufertum verschwimmt. Der Haarwasserfabrikant Biedermeier nimmt zwei Hausierer als Gäste auf, obwohl es immer wieder Anzeichen gibt, dass diese Brandstifter seien. Er gefällt sich zunächst als Menschenfreund, möchte die beiden dann doch hinauswerfen, rudert wieder zurück und argumentiert, man müsse doch noch an das Gute im Menschen glauben. Zunehmend verschließt er die Augen vor der Realität. Solange sich kein brauchbares Abgrenzungskriterium findet, bleibt wohl nur eine pauschale Lösung. Wie sie aussieht, hängt schlussendlich von der Frage ab, ob das Interesse, auch Straftätern und Straftäterinnen Obhut gewähren zu dürfen, höher zu gewichten ist als die Beeinträchtigung des staatlichen Strafverfolgungsinteresses, die mit dieser Obhut einhergeht. Die Antwort fällt deshalb so schwer, weil das Spektrum der denkbaren Fälle von der einige Wochen dauernden Gastfreundschaft für Ladendiebinnen bis zum jahrelangen Verstecken von Mörderinnen oder Vergewaltigern reicht. Solange man zwischen solchen Fällen nicht irgendwie trennen kann, ist ausschlaggebend, dass ein strafbewehrtes Verbot der Beherbergung von Straftäterinnen und Straftätern zu weit geht, auch wenn dann möglicherweise strafwürdige Fälle ebenfalls straffrei bleiben.
Leander Scholz25
Die nicht gegebene Gabe Ich komme aus einem bildungsfernen Haushalt, wie man heute sagt. Früher wurden wir Arbeiterkinder genannt. Als ich fü nf Jahre alt war, sind wir in ein kleines Dorf an den westlichen Rand der Republik gezogen. Von diesem Dorf aus ist mein Vater über 30 Jahre lang jeden Tag in die gleiche Fabrik gependelt. Bis kurz vor seiner Rente hat er immer in wechselnden Schichten gearbeitet. Morgens ganz früh aufstehen und am späten Nachmittag wieder nach Hause kommen, das mochte mein Vater am liebsten. Dann konnte er noch etwas machen. An den Wochenenden und wann immer es ging, hat er an unserem Haus gebaut. Wir sind eingezogen, als die Wände noch roh waren und der Boden noch ohne Teppich und Fliesen. Alles, was man selbst machen konnte, hat mein Vater selbst gemacht. Er arbeitete viel und diszipliniert. Abends trank er ein Bier, rauchte eine Pfeife und ärgerte sich regelmäßig über das Fernsehprogramm, bevor er früh zu Bett ging. Ich habe nie herausgefunden, was er gerne geschaut hätte. Meine Mutter war Hausfrau. Mit dem ersten Kind hatte sie ihre Stelle aufgegeben und sich ganz der Familie gewidmet. Bis dahin hatte sie als Sekretärin bei einer kirchlichen Zeitung gearbeitet. Sie hat das Haus sauber gehalten und sich um unseren Gemüsegarten gekümmert. Sie hat die Wäsche gemacht, gekocht, manchmal zweimal am Tag. Sie war immer da für uns Kinder. Obwohl das Geld meistens knapp war, hat es uns nie an irgendetwas gemangelt. Morgens hat sie uns geweckt, uns Sachen zum Anziehen herausgelegt, uns Frühstück und unser Pausenbrot gemacht, dann sind wir mit dem Bus zur Schule gefahren. Wenn wir mittags wieder zurückkamen, stand schon das Essen auf dem Tisch. Nachmittags hat sie uns bei den Hausaufgaben geholfen. Abends, wenn wir schon im Bett waren, hat meine Mutter sich an ihre Schreibmaschine gesetzt und Examensarbeiten für Studenten getippt. Und jeden Samstag, wenn mein Vater nicht arbeiten musste, hat sie in einem kleinen Lebensmittelladen in der Nähe ausgeholfen. Ein einziges Mal in meinem Leben hat mein Vater mir ein Buch geschenkt. Ich musste früher von der Schule abgeholt werden, mein Kopf tat weh, und ich hatte mich wieder einmal übergeben. Zu Hause durfte ich auf dem Sofa im Wohnzimmer liegen. Mein Vater hielt seine Hand an meine Stirn und sagte, das sei der Weltschmerz. Es war nicht der Weltschmerz. Mein Vater war hilflos. Das Buch, das er mir gab, war der berühmte Ratgeber von Dale Carnegie. Sorge dich nicht – lebe! lautete der Titel der deutschen Übersetzung. Eines der erfolgreichshttps://doi.org/10.1515/9783111233796-025
144 Leander Scholz ten Bücher der Nachkriegszeit überhaupt. Es war sein eigenes Exemplar, das er sich gekauft hatte in der schwierigen Zeit nach seiner Flucht aus der DDR. Als junger Mann hatte mein Vater eines Nachts heimlich die Wohnung seiner Eltern verlassen, ist zusammen mit einem Freund nach Ost-Berlin gereist und hat dort die Grenze überquert. Weder seine Eltern noch sein Bruder wussten davon. Er hatte Angst, dass sie ihn von seinen Plänen abbringen würden. Er wollte unbedingt in den Westen. Und das bedeutete für ihn damals Amerika. Wenn mein Vater mir als Kind von seiner Flucht erzählt hat, stellte ich mir vor, wie es hätte sein können, wenn ich dort, im Land seiner Sehnsucht, aufgewachsen wäre. Ich habe ihn immer bewundert für seinen Mut. Mein Vater war nie in Amerika. Er ist nicht im Land seiner Sehnsucht angekommen. Als Kind habe ich dieses Buch immer wieder durchgelesen, in der Hoffnung, darin die Hilfe finden zu können, die ich brauchte und nicht bekommen hatte. Heute weiß ich, dass es ein ziemlich furchtbares Buch ist. Dann fing ich an, einzelne Sätze aus dem Buch in ein Schulheft zu übertragen und sie mehr und mehr abzuwandeln. Auf diese Weise begann ich mit dem Schreiben. Ich weiß bis heute nicht, ob mein Vater je eines meiner Bücher gelesen hat. Er hat nie etwas dazu gesagt. Und ich habe ihn nicht gefragt. Jetzt ist es zu spät. Alles andere, was er mir zum Geburtstag oder zu anderen Anlässen geschenkt hat, hat meine Mutter für ihn ausgesucht und besorgt. Ich nehme an, dieses Buch hat ihm selbst einmal beigestanden in seiner Einsamkeit. Neben einem französischen Maßband, mit dem er immer alles ausgemessen hat und mit dem ich schon als Kind spielen durfte, ist es die einzige Erbschaft, die mir etwas bedeutet. Wir haben selten miteinander geredet. Ich hatte das Glück, auf ein SPD-Gymnasium gehen zu dürfen, das naturwissenschaftlich ausgerichtet war, mehr aus Zufall als aufgrund einer Wahl. Weder meine Eltern noch ich hatten zu dieser Zeit eine genaue Vorstellung davon, wie wichtig diese Entscheidung war. Letztlich habe ich alles dem Engagement einer jungen Lehrerin zu verdanken, die sich bereits der neuen Reformpolitik verpflichtet sah. Im alten humanistischen Bildungswesen hätte ich keine Chance gehabt. Meine Schwester und ich waren überhaupt die ersten in unserer Familie, die Abitur machten. Der höchste Bildungsabschluss war bis dahin die Volksschule. Und ich kann mich noch gut erinnern, als ich sehr viel später mein Studium abschloss und dann promoviert wurde, war die Sorge in der dörflichen Nachbarschaft groß, ob ich überhaupt noch grüßen würde. Ich bin mir auch heute noch des Umstands bewusst, dass mein Zugang zur Universität nur aufgrund der sozialdemokratischen Bildungsoffensive möglich war. Ohne sie hätte ich das soziale Milieu, in das ich hineingeboren wurde, vermutlich nicht verlassen können.
Die nicht gegebene Gabe 145
Ich weiß nicht mehr genau, wie alt ich war, vielleicht fünfzehn, als ich nachts heimlich den Film YENTL mit Barbara Streisand angeschaut habe. Wie bekannt der Film heute noch ist, kann ich nicht sagen. Ich habe ihn seitdem nicht mehr gesehen. Es geht um eine junge jüdische Frau, die sich als Mann verkleiden muss, um studieren zu können. Eine bestimmte Szene aus dem Film hat sich mir tief eingeprägt. Als die Protagonistin zum ersten Mal eine Bibliothek betritt, ist sie überwältigt. Auch wenn ich nicht gleich wie Barbara Streisand angefangen habe zu singen, habe ich mich über viele Jahre mit dieser jungen Studentin identifiziert, bis ich später mein Philosophiestudium aufnahm. Genau wie sie empfand ich es als ein Wunder, in die große Welt des Geistes eintreten zu dürfen. Anfangs habe ich viel Zeit in den Seminarbibliotheken verbracht und einfach wahllos Bücher aus den Regalen genommen. Beim Lesen fühlte ich mich, als wäre ich einem schwerwiegenden Geheimnis auf der Spur, ohne zu wissen, wonach ich eigentlich suchte. Wie in vielen Fällen hatte der Wechsel des sozialen Milieus auch in meinem Fall seinen Preis. Wenn ich nach Hause kam, konnte ich meinen Eltern nicht erklären, was ich da eigentlich tat an der Universität. Für sie ist es immer rätselhaft geblieben, warum ich mich für Philosophie entschieden habe. In der akademischen Welt merkte ich bald, dass mir bestimmte Voraussetzungen fehlten, die für andere selbstverständlich waren. Auch heute noch muss ich manche Wörter nachschlagen, um sicherzugehen, dass ich sie nicht falsch verwende. Während mir die Sätze, die ich zuhause gelernt hatte, fremd wurden, suchte mich in meiner neuen Umgebung die Angst heim, irgendwann aufzufliegen, weil ich hier eigentlich nicht hingehörte. Manchmal kam es mir so vor, als wäre ich eingeschlafen und in einer ganz anderen Welt aufgewacht. Mein erster Gedanke war dann, dass ich nicht weiß, wie ich hierhingekommen bin. Es hat eine Zeitlang gedauert, bis ich verstanden habe, dass sich die Geistesgeschichte im Grunde genommen nur aus solchen Szenen zusammensetzt. Es geht immer darum, aufzuwachen und eine bestimmte Anzahl von neuen Sätzen einzuüben, die dann für eine bestimmte Denkrichtung oder eben für ein bestimmtes Milieu stehen. Aus diesem Grund haben mich immer die konkreten Erfahrungen interessiert, die den Bruch mit den gegebenen Sätzen möglich gemacht haben. Das habe ich später als das Geheimnis verstanden, dem ich seit dem Beginn meines Studiums auf der Spur war. Geisteswissenschaft bedeutet für mich auch heute noch, nicht nur ein bestimmtes Wissen über einen bestimmten Gegenstand zu haben, sondern auch sagen zu können, wie dieses Wissen möglich geworden ist. Vor meinem biographischen Hintergrund ist es nicht überraschend, dass ich versucht habe, den Umständen meines Werdegangs treu zu bleiben, auch in politischer Hinsicht. Was ich aber viel schwieri-
146 Leander Scholz ger finde, besteht darin, sich die Kontingenz dieser Erfahrungen klarzumachen, ohne sie in eine Geschichte zu überführen, deren Sinn ihre Herkunft überlagert. It all depends on the point of view.
Auf Empfang: Sprache und Medien
Samo Tomšič26
Sprache als Kinderspiel Die klassische Sprachphilosophie hat die Kindersprache praktisch nie zu einem Gegenstand der systematischen Untersuchung genommen. Stattdessen gingen die philosophischen Überlegungen von einem idealen, erwachsenen und letztlich maskulinen Sprecher aus, dessen Sprachaktivität vermeintlich stabilen und invariablen Regeln folgt. Der Festlegung der logischen Sprachgrundlagen lag so die bekannte ontologische, epistemologische und politische Entscheidung zugrunde, die die Sprache als organon (Organ und Werkzeug) im Dienst der Kom munikation und der Realitätsdarstellung festlegt. Vor diesem Hintergrund deutet etwa Aristoteles’ berühmt gewordene Definition des Menschen als ein mit logos (Wort, Rede, Verstand) ausgestattetes Tier diskret darauf hin, dass das Sprechen allein noch kein ultimatives Kriterium des Menschseins ausmacht. Kinder, Frauen, Sklaven und nicht-hellenische „Barbaren“ sprechen zwar, aber diese Laute, wenn auch scheinbar artikuliert, bilden angeblich noch keinen lo gos. Die Abstraktion von konkreten Erfahrungen und Praktiken des Sprechens zeigt zudem, dass es dem sprachphilosophischen Normativismus vielmehr darum ging, wie Menschen sprechen sollen, und nicht, wie sie tatsächlich sprechen oder sprechen können. Sobald die Sprache als ein Werkzeug begriffen wird, bedeutet dies, dass das Sprechen imperative Regeln, Vorschriften und Normen befolgen und das sprechende Tier diese also verinnerlichen muss, um überhaupt als Mensch anerkannt zu werden. Spätestens zu Beginn des 20. Jahrhunderts geriet diese normative Sprachauffassung in eine Grundlagenkrise. Eine der treibenden Kräfte dahinter war die Etablierung der Linguistik als eigenständige Wissenschaft durch Figuren wie Ferdinand de Saussure, aber auch Sigmund Freuds Psychoanalyse, die in ihrer
Für eine kritische Auseinandersetzung mit dem logischen und grammatischen Normativismus der Sprachphilosophie, siehe Barbara Cassin: Aristote et le logos. Paris 1997. Man kann erinnern, dass die Altgriechen als „Barbaren“ diejenigen beschreiben, deren Sprechen für den griechischen Sprecher unverständlich oder undurchdringlich blieb. Das Wort ist onomatopoetisch und imitiert den Klang „bar-bar“, der unserem „bla-bla“ entspricht. „Barbaren“ sind so diejenigen, deren Sprechen letztlich bloßes Gelaber darstellt. Daher Lacans Pessimismus bezüglich der Verflechtung von Sprache und Macht, der in der Gleichsetzung der „Logik des Signifikanten“ mit dem „Diskurs des Herren“ seinen ultimativen Ausdruck findet. Lacan war dem Aristotelismus gegenüber notorisch abgeneigt; sein gesamtes Seminar XX (1972–1973) enthält u.a. eine wiederkehrende Zurückweisung der aristotelischen Philosophie, von Logik über Ontologie zur Ethik. https://doi.org/10.1515/9783111233796-026
150 Samo Tomšič klinischen Praxis einer wesentlich komplexeren Erfahrung der Sprache und des Sprechens konfrontiert. Mit der Erforschung der Spracherwerbsprozesse, der Instabilität und Produktivität symbolischer Ordnungen und nicht zuletzt mit der Berücksichtigung des Unbewussten kam es zu einer konsequenten Dezentralisierung der Sprache. Letztere erschien nicht mehr als ein rein pragmatisches Werkzeug, sondern als eine dynamische, wechselseitige Beziehung zwischen dem Sprechenden und dem Gesprochenen – eine Beziehung, in der beide Seiten ineinander übergehen bzw. unscharf abgegrenzt sind. Dass die Sprache auf das sprechende Subjekt einwirkt und transformative Werdensprozesse unterstützt, ist die wohlbekannte Grundeinsicht der freudschen Psychoanalyse, die in Träumen, Versprechern, psychosomatischen Symptomen wie Hemmung oder Angst symbolische Aktivität par excellence detektiert. Sie demonstriert somit, wie die Sprache sowohl ihre vermeintlich werkzeugartigen Leistungen als auch die bewusste Intentionalität ihrer Benutzer:innen übersteigt. Inmitten der Aktivität des Sprechens emergiert eine Intentionalität ohne Bewusstsein, die auf kein beherrschendes Subjekt zurückgeführt werden kann. Es ist diese eigentümliche Intentionalität der Sprache, die im Lacans Begriff des „großen Anderen“ benannt wird. Durch das Interesse an der phonetischen Sprachentwicklung, an der Instabilität und Prozessualität linguistischer Strukturen, ausgedrückt in der Verflechtung der Synchronizität (Aktualisierung eines Sprachsystems in der Gegenwart) und der Diachronizität (historische Entwicklung desselben Sprachsystems), und nicht zuletzt an den unbewussten Aspekten des Spracherwerbs wurden Kindersprache, Sprachstörungen und Neologismen zum Gegenstand epistemischer Reflexion. Im Gegensatz zum idealen Sprecher der klassischen Logik und Grammatik wurde hier ein real existierender sprechender Körper zum paradigmatischen Subjekt der Sprache. Zudem handelt es sich hier um einen Körper, der die Sprache nicht meistert, sondern vielmehr von dieser gemeistert wird, in dem die Sprache also am deutlichsten als eine Störung oder Fremdkraft erscheint. Die Kindersprache wird so zu einem privilegierten Einstieg in das Leben der Sprache selbst, wobei eine zentrale Einsicht darin besteht, dass Sprechen überhaupt ein Experimentieren darstellt, mit anderen Worten, dass Sprachspiel ein wesentlicher Bestandteil des Spracherwerbs ist. Die Sprache ist somit weniger ein Werkzeug oder Instrument als ein Labor oder Experimentalraum, aus dem die Machtverhältnisse natürlich nicht ausgeschlossen sind.
Einer der wichtigsten Vertreter in dieser Entwicklung war Roman Jakobson, der schon in den 1930ern das wissenschaftliche Interesse auf Kindersprache, sowie auch auf die linguistischen Aspekte des Unbewussten und der Sprachstörungen wie die Aphasie ausdehnte. Siehe z.B.: Roman Jakobson: Langage enfantin et aphasie. Paris 1969.
Sprache als Kinderspiel 151
Obwohl der Begriff des Sprachspiels mit Wittgensteins Sprachphilosophie assoziiert bleibt, besteht eine implizite Verbindung zwischen Sprache und Spiel auch in Saussures These über die Arbitrarität linguistischer Zeichen. Saussure brach mit der philosophischen Tradition, die die Beziehung zwischen linguistischen Zeichen und ihren Bedeutungen oder Referenten als auf logischer Notwendigkeit beruhend betrachtete. Arbitrarität suggeriert, dass die Sprache mehrdeutige Verbindungen zur Realität unterhält bzw. dass die Beziehung zwischen den beiden Zeichenkomponenten, dem Signifikanten und dem Signifikat eine immanente Verschiebbarkeit und Nichtrelation enthält. Das Konzept des Sprachspiels weist in diese Richtung, indem argumentiert wird, dass Sprechen mit Spielen wie Schach vergleichbar sei, bei denen die Züge und Handlungen zwar einem festgelegten Regelwerk folgen, aber innerhalb dieser Festlegung dennoch ein gewisses Freiheitsgrad im Spiel ermöglichen. Kinder machen genau diese Willkür spürbar, wenn sie zum Beispiel Dinge umbenennen, Namen vertauschen, Eigennamen oder fiktive Wörter erfinden. Damit überschreiten sie die provisorischen Grenzen des „erwachsenen“ Sprachkonsenses und experimentieren mit dem, was die Linguistik spätestens seit Jakobson als poetische Funktion der Sprache bezeichnet. Doch im Gegensatz zu Wittgenstein, der darauf bestand, dass die Spielregeln den Spielern bekannt sein müssen, zeigt die Kindersprache, dass der Spielprozess von Regeln durchzogen ist, die nicht nur unbekannt bleiben, sondern auch Mikroveränderungen durchmachen. Die Verflechtung von Spiel und Struktur stellt auch die affektiven Sprachaspekte in den Vordergrund, die Erzeugung von körperlichen Affektzuständen, die von der Materialität des Signifikanten zeugen. Ein witziges Beispiel dafür findet man in Freuds Fallstudie zum Rattenmann, der von einer Kindheitsszene berichtet, in der er seinen Vater mit Wörtern wie „Lampe“, „Handtuch“ oder „Teller“ beschimpfte. Das mentale Bild, das mit dem Signifikanten verbunden wird, umgeht den Bezug zum Referenten, dem umbenannten Objekt, um den gewünschten Effekt (die Verletzung durch den Gebrauch des Signifikan-
Wittgenstein und Saussure haben weiterhin das kommunikative Sprachmodell privilegiert. Zudem können für Wittgenstein die Sprachspielregeln dem Subjekt nicht unbekannt sein; die Idee einer unbewussten Regel ist für ihn eine contradictio in adiecto. Die Psychoanalyse ging wesentlich weiter in der Abschaffung der Funktion des bewussten Sprechers und brachte somit die eigentliche Dezentralisierung der Sprache hervor. Der Vergleich der Sprache bzw. der Artikulation der Synchronizität und der Diachronizität mit dem Schachspiel kommt von Saussure selbst; es ist jedoch symptomatisch, dass auch er die Möglichkeit eines unbewussten Spielers ausschließt. Vgl. Ferdinand de Saussure: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft. Berlin, New York 2001, S. 104–105 und insb. S. 106. Sigmund Freud: Studienausgabe, Bd. VII. Frankfurt a. M. 2000, S. 71–72.
152 Samo Tomšič ten) zu erzielen. Sprache, Begehren und Spiel bilden so ein temporäres symbolisches System, in dem die objektive Realität als solche ein Signifikanteneffekt ist. Es wäre daher zu einfach, die Umbenennung von Gegenständen oder deren affektive Besetzung, wie in Freuds Beispiel, sowie Worterfindungen und Neologismen oder Sprachfehler als Ausdruck eines sprachlichen Voluntarismus oder eines linguistischen Unwissens zu betrachten, der den vermeintlich normalen Sprachgebrauch verletzt. Vielmehr verdeutlichen solche Sprachhandlungen, dass jeder Akt des Benennens ein Eingriff in die Welt ist und dass die einfache Parallelität von linguistischer und objektiver Wirklichkeit unhaltbar ist. Weil die Wirklichkeit immer schon von der Sprache durchdrungen und bearbeitet wird, gibt es keine neutrale Sprache und keine Sprache ohne ein inneres Surplus: Repräsentation und Produktion sind untrennbar. Nirgendwo wird diese Verflechtung von Spiel, Begehren und Sprache deutlicher als im Konzept der psychischen Realität, der Freud zufolge nicht weniger Wert beigemessen werden sollte als der objektiven Realität. Ein anschauliches Modell zum Verständnis dieses Zusammenhangs lieferte Freud mit seiner Beschreibung des Fort-Da-Spiels, das sein Enkel immer dann spielte, wenn er sich von seiner Mutter verlassen fühlte. Das Spiel bestand bekanntlich darin, dass das Kind eine Holzspule von sich wegwarf und sie dann an der daran befestigten Schnur zurückzog. Diese Aktion wurde von den Lauten „o-o-o-o“ und „da“ begleitet, die Freud als fort (weg) und da (hier) interpretierte. Für Freud bestand der Spielwert darin, dass das Kind versuchte, die Abwesenheit der Mutter zu meistern und so mit dem Spiel eine lustvolle Befriedigung zu erzielen. Obwohl diese Interpretation oft kritisiert wurde, besteht ihr Wert darin, dass sie die Beziehung zwischen dem infantilen Spieler, der unbewussten Spielregel und der Lustproduktion aufzeigt. In diesem Spiel durchläuft das Kind einen Subjektivierungsprozess, in dem sich die Ökonomisierung der Abwesenheit schließlich mit seiner eigenen Emergenz als Subjekt der symbolischen Ordnung verbindet, die sie sich wiederum in und durch die Spielhandlung konstituiert. Das Kinderspiel ist ein symbolischer Mikrokosmos, der eine doppelte Dynamik enthält: das Beherrschen einer unlustvollen subjektiven Lage durch das Spiel und das Beherrschtwerden durch das Spiel selbst. Das Spiel bleibt mehrdeutig. Es ist nicht nur unbestimmbar, wer was beherrscht; die Spielregeln sind dem Kind weder bekannt („öffentlich“) noch unbekannt („privat“). Da ihr Status unbewusst ist, gehört die Regel zu einem dritten Register, in dem das Subjektive und das Intersubjektive ununterscheidbar sind. Die kritische Pointe der Psycho-
Vgl. Jacques Lacan: Le Séminaire, livre XI: Les quatre concepts fondamentaux de la psychanalyse. Paris 1973.
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analyse besteht darin, dass diese Ambiguität das ganze Leben des Subjekts überdauert. Das Kind ist somit das Unbewusste des Erwachsenen, jedoch nicht als eine Figur des Unveränderbaren, sondern als eine Figur des Veränderns und des Werdens. Überträgt man die Zweideutigkeiten des Fort-Da-Spiels auf die Sprache, so muss man schließen, dass die Sprache einen Doppelcharakter besitzt. Auf der einen Seite gibt es die Sprache, die in erster Linie als stabiles (epistemisches) Objekt verstanden wird, das die Linguistik und andere Disziplinen aus der Sprachaktivität isolieren oder extrahieren. Andererseits gibt es die Sprache als gelebte Erfahrung, die instabil und zwischen unterschiedlichen sprechenden Subjekten variabel ist. Um diesen Aspekt der Sprache zu pointieren, prägte Lacan den Neologismus lalangue, der in seiner lautmalerischen Qualität ausdrücklich auf die Kindersprache anspielt. Trotz ihrer subversiven Neuerungen hat die moderne Linguistik den alten philosophischen Normativismus nicht ganz überwunden und vertritt weiterhin die Auffassung, dass die Sprache erst dann zu einem wissenschaftlichen Objekt werden kann, wenn sie schrittweise vom lebendigen Körper gelöst wird. Auf diese Weise konstruiert die Linguistik eine Abstraktion, die Phänomene wie die Kindersprache oder das Unbewusste, aber auch die poetische Sprache als Abweichungen, Kuriositäten, Ausnahmen oder Fehler erscheinen lässt. Dem kommunikativen Modell zufolge beschreibt die „normalisierte Linguistik“ (wenn man sie so nennen darf) den Austausch zwischen zwei oder mehreren bewussten Sprechern. Sprache erscheint somit als Dialog und als Tauschverhältnis. Aber die gelebte Erfahrung der Sprache enthält einen Überschuss, der nicht auf die Kommunikation eingeschränkt werden kann. In Anbetracht des Doppelcharakters der Sprache könnte man argumentieren, dass jedes sprechende Wesen zweisprachig ist, nicht in dem Sinne, dass es zwei verschiedene Sprachen spricht, sondern dass es, während es ein und dieselbe Sprache verwendet, eine „öffentliche“ und eine „private“ Sprache spricht, eine Sprache der Kommunikation und eine Sprache des Genießens. Wir haben es also mit einer umgekehrten oder introvertierten Zweisprachigkeit zu tun, die die immanente Verdoppelung jeder natürlichen Sprache widerspiegelt. Die Sprache könnte dann als etwas Zweideutiges betrachtet werden, das zwei verschiedene Gesichter hat, die dennoch untrennbar zu einer organischen Einheit verwachsen sind, ein "erwachsenes" und ein "infantiles". Betrachtet man die Funktion und die Dynamik der Sprache vom Standpunkt des Kinderspiels aus, so zeigt sich, dass die Sprache auf einer Ebene
Die Neurolinguistik mag diese Behauptung widerlegen. Aber die Pointe ist in der Idealisierung der Sprache durch ihre epistemische Aneignung.
154 Samo Tomšič funktioniert, die noch nicht sozialer Austausch, aber auch nicht mehr privater Monolog ist. Die Aufhebung der Sprache in diesem Zwischenraum, zwischen „noch nicht“ (Dialog, öffentlich, bewusst) und „nicht mehr“ (Monolog, privat, bewusstlos), zeigt, wie sich die Sprache ständig an einem „anderen Ort“ befindet, in ständiger Verschiebung und Dislozierung. Die Lektionen der Psychoanalyse bleiben entscheidend für das Verständnis dieser exzentrischen Verortung der Sprache. Der freudsche Begriff des Unbewussten beschreibt genau die dezentralisierte Natur der Sprache sowie eine gewisse Fremdheit, die der Sprache aufgrund ihrer Dislozierung zukommt. Diese Fremdheit mag zwar mit dem Spracherwerb „domestiziert“ oder „beherrscht“ werden, wenn die Sprache beginnt, „Sinn zu machen“ und ihre Verbindungen zur Außenwelt zu stabilisieren, aber sie wird dennoch nie ganz überwunden. So lässt sich die Tätigkeit des Sprechens, die sich immer zwischen den beiden Seiten der Sprache entfaltet, letztlich als ein Durcharbeiten der Fremdheit der Sprache beschreiben, auch wenn es sich um die Muttersprache handelt. Insofern das Sprachspiel eine Erfahrung des Unbekannten, ja des Extimen (um Lacans sehr treffenden Neologismus zu verwenden) und dessen Subjektivierung beinhaltet, die sich im Erwachsenenleben fortsetzt, eröffnet die Figur des Kindes eine kritische Perspektive auf die klassische philosophische Sprachnormativität und ihre modernen Derivate. Im Gegensatz zu den fortgehenden Normierungstendenzen des Wissensdiskurses zeigt die infantile Spracherfahrung, dass es andere Wege gibt, mit der Fremdheit der Sprache umzugehen, als sie zu verdrängen, zu umgehen oder zu ignorieren. Die Kindersprache vermittelt eine grundlegende Spracherfahrung, die einen essenziellen Paradigmenwechsel von der Objektivierung (epistemischer Aneignung) zur Subjektivierung der Sprache (in aller Mehrdeutigkeit der Formulierung) mit sich bringt. Anders gesagt, mit der Verschiebung vom aristotelischen idealen Sprecher zum Kind kann die gängige Auffassung der Sprache als Organ etwa durch ihre Auffassung als Organismus ersetzt werden. In diesem Fall werden die sprechenden Tiere zu Elementen eines Systems, das über sie hinausgeht, während es ihren Körper durchquert und ihr Denken disloziert.
Friedrich Balke27
Erzählen, Schreiben und das „Surren eines Insekts“ Auftrittsprotokolle in Marrakesch
1 Erzähler und Schreiber Elias Canettis „Erzähler und Schreiber“ aus den Stimmen von Marrakesch, die im Untertitel als „Aufzeichnungen nach einer Reise“ ausgewiesen sind, ist ein Text über sehr unterschiedliche Auftritte, die auf einer urbanen Bühne, einem großen Platz stattfinden, der dafür da ist, dass sich dort Menschen und Dinge (z. B. Waren) zeigen und austauschen. Der Djemaa el Fna ist der zentrale Marktplatz in Marrakesch. Die Bedeutung des Namens ist umstritten. Im Arabischen heißt ,Djemaa el Fna‘ etwa ,Versammlung der Toten‘. Eine andere Übersetzung lautet drastischer ,Platz der Gehenkten‘ und bringt damit eine politische Dimension des Platzes ins Spiel, insofern es eben die souveräne Macht ist, die über das Recht verfügt, über ihre Bürger den Tod zu verhängen. Für Canettis Aufzeichnung ist charakteristisch, dass ihr Autor von jedem kommunizierten Inhalt, den Erzähler und Schreiber übermitteln, absehen muss: Weder versteht er die Erzähler, an deren Worten und Gesten er fasziniert hängt, noch kann er mitlesen, was die Schreiber aufzeichnen. Canetti empfängt eine Botschaft, die nicht für ihn gedacht ist und über deren Bedeutung er nur spekulieren kann. Die Botschaft, um es mit Shannon/Weaver zu formulieren, ist für Canetti nicht mehr als noise, denn er fungiert zwar als ihr receiver, aber sie verfehlt ihr Ziel (destination). Die Botschaft ist nämlich das, was nach ihrem Empfang noch zu decodieren bleibt. Aber Canetti empfängt Signale, ohne über den Code zu ihrer Entschlüsselung zu verfügen. Dennoch empfängt er, worüber sein Text Zeugnis ablegt, mehr und anderes als diejenigen empfangen, die als reguläre Instanzen in das Flussdia gramm der Kommunikation eingefügt sind.
Warren Weaver: The Mathematics of Communication, in: Alfred.G. Smith (Hg.): Communication and Culture. Readings in the Codes of Human Interaction, New York 1966, S. 15–24. Zur Ikonografie und zu den theoretischen Implikationen des Flussdiagramms der Kommunikation vgl. Erhard Schüttpelz: Eine Ikonographie der Störung. Shannons Flußdiagramm der Kommunikation in ihrem kybernetischen Verlauf. In: Ludwig Jäger und Georg Stanitzek (Hg.): Transkribieren. Medien/Lektüre. München 2002, S. 233–280. https://doi.org/10.1515/9783111233796-027
156 Friedrich Balke Auch wer nichts von dem versteht, was gesprochen und aufgeschrieben wird, kann zu beschreiben versuchen, was sich auf einem Platz oder einer Bühne vollzieht. Auch „informelle“ oder kaum wahrnehmbare Auftrittsvorgänge entziehen sich nicht ihrer Thematisierung. Die Worte der Erzähler in Canettis Text sind wie Objekte, die „länger in der Luft hängen als die gewöhnlicher Menschen. Ich verstand nichts und doch blieb ich in ihrer Hörweite immer gleich gebannt stehen. Es waren Worte ohne jede Bedeutung für mich, mit Wucht und Feuer hervorgestoßen“ . Im Falle des Schreibers potenziert sich die Verständnislosigkeit Canettis dem beobachteten Geschehen gegenüber noch. Das verhindert allerdings nicht seine erhöhte Teilnahme an den Abläufen. Was die Familie, die sich an den Schreiber mit einem Anliegen gewandt hat, diesem mitteilt, darüber lässt sich nur spekulieren: „Ich sah ihnen aus geringer Entfernung zu, ohne ei nen Laut zu vernehmen, ohne eine Bewegung zu gewahren.“ Bei den Erzählern ist viel und auffällige Bewegung – die Bewegung der Masse von Zuhörenden, die ständig wächst, die aufmerksamkeitserheischenden Posen und Gesten der Erzählenden, die Wucht der sprachlichen Laute, die sie ausstoßen. Bei der Familie, die sich am Tisch des Schreibers versammelt hat, ist alles rätselhaft, selbst und vor allem der Grund für diese Versammlung. Erst nachträglich wird für Canetti der Grund für die Zusammenkunft zu einem Problem, nicht während des Auftritts. Dennoch ist der Auftritt der Schreiber nicht weniger distinkt und hervorgehoben wie derjenige der Erzähler – nur ganz anders: Die Bescheideneren „unter ihnen kauerten auf dem Boden. Hier überlegten oder schrieben sie in einer diskreten Welt [die zugleich die Welt des Diskreten, also der Verkettung von Buchstaben ist, FB], vom tosenden Lärm des Platzes umgeben [darunter auch der ‚Lärm‘, den die Erzähler machen, FB], und doch abgeschnitten.“ Die Schreiber sind nicht nur vom Lärm umgeben und zugleich abgeschnitten, sie haben sich, im Unterschied zu den großen und hochragenden Erzählern, „alle etwas Verschwindendes angewöhnt. Sie selber waren kaum da, es zählte nur eines: die stille Würde des Papiers.“ Die Schreiber sind „kleine, schmächtige Männer“, die ihr Können nicht anpreisen, son-
Zum Konzept des Auftrittsprotokolls vgl. Juliane Vogel: Aus dem Grund. Auftrittsprotokolle zwischen Racine und Nietzsche. Paderborn 2018, S. 16–20. Auftritte gelingen niemals aus sich selbst heraus, sondern müssen durch eine „Empfangsgesellschaft gelesen“ werden (Juliane Vogel: Aus dem Grund, S. 16). Elias Canetti: Die Stimmen von Marrakesch. Aufzeichnungen nach einer Reise. Frankfurt a. M. 1980, S. 66. Canetti: Die Stimmen von Marrakesch, S. 68. Canetti: Die Stimmen von Marrakesch, S. 68. Canetti: Die Stimmen von Marrakesch, S. 68.
Erzählen, Schreiben und das „Surren eines Insekts“ 157
dern bloß dasitzen vor ihrem „Schreibzeug“, so dass etwas von seiner sachli chen Bescheidenheit auf sie übergeht. Der Auftritt der Schreiber ist also, im Unterschied zu dem der Erzähler, auf eigentümliche Weise mit ihrem Abtritt oder Beinahe-Verschwinden verknüpft. Auch sind die Sender/Empfänger-Rollen vertauscht: Anders als im Falle der Erzähler sind die Schreiber Empfangende, die das ihnen Erzählte oder Mitgeteilte übersetzen. Hinter die Botschaft, die sie empfangen, scheinen sie ganz zurück zu treten. Aber die Schreibszene lässt sich keineswegs nur als ein Verlust bilanzieren, wie ja auch für den Autor gilt, dass er über das Werk zu herrschen beansprucht , hinter das er vollständig zurücktritt: Ein Medium, eine Beschreiboberfläche, weit davon entfernt nur von instrumenteller oder technischer Bedeutung zu sein, eignet sich jene „Würde“ an, die die Erzähler auf ihre Personen zu konzentrieren verstehen – wobei die Autoren über dem Umweg eines solchen Werkes ihr Prestige über das der Erzähler hinaus noch zu steigern versuchen. Mit einer existenzialphilosophischen Unterscheidung ließe sich sagen: Das Papier ist in dieser Schreibszene weder bloß vorhanden noch zuhanden. Es eignet sich nichts weniger als die Sorge und damit dem Spielraum des „Seinkönnens“ an, die Martin Heidegger als fundamentale Struktur des Daseins selbst auszeichnete , denn das Papier wird das Anliegen der Familie, die sich an den Schreiber gewandt hat, aufnehmen, um dann später und an einem anderen, öffentlich unzugänglichen Ort zum Gegenstand von (behördlichen) Entscheidungen von möglicherweise schicksalshafter Tragweite zu werden.
2 Das braune Bündel Die Schlussaufzeichnung der Stimmen von Marrakesch, der Text, mit dem der Erzähler Canetti abtritt und in dem er noch einmal auf den großen Platz zurückkehrt, behandelt einen Auftritt, dessen Unheimlichkeit beängstigend ist, wes-
Martin Heidegger: Sein und Zeit. Tübingen 1979, S. 68: „Zeug ist in seiner Zeughaftigkeit entsprechend immer aus der Zugehörigkeit zu anderem Zeug: Schreibzeug, Feder, Tinte, Papier, Unterlage, Tisch, Lampe, Möbel, Fenster, Türen, Zimmer“ – Heidegger vergisst lediglich die Schreiber, die dieses Zeug handhaben und sich von ihm handhaben lassen, in seine Liste aufzunehmen. Das unterläuft ihm aus dem Grund, den Canetti angibt: „Die Schreiber preisen ihr Können nicht an“ (Canetti: Die Stimmen von Marrakesch, S. 67) und werden eben deshalb leicht übersehen. Heinrich Bosse: Autorschaft ist Werkherrschaft. Über die Entstehung des Urheberrechts aus dem Geist der Goethezeit. Paderborn u. a. 1981. Heidegger: Sein und Zeit, S. 191–196.
158 Friedrich Balke halb Canetti die Aufzeichnung mit „Der Unsichtbare“ überschrieben hat. Ich zitiere aus dem ersten Abschnitt des Textes: In der Dämmerung ging ich auf den großen Platz in der Mitte der Stadt, und was ich da suchte, waren nicht seine Buntheit und Lebendigkeit, die waren mir wohl vertraut, ich suchte ein kleines braunes Bündel am Boden, das nicht einmal aus einer Stimme, das aus einem einzigen Laut bestand. Es war ein tiefes langgezogenes, surrendes ‚ä-ä-ä-ä-ä-ä-ä-ä‘. Es nahm nicht ab, es nahm nicht zu, aber es hörte nie auf, und hinter all den tausendfälti gen Rufen und Schreien des Platzes war es immer vernehmbar.
Das kleine braune Bündel ist immer schon da. Es ist „Dasein“, das auf dem großen Platz „unter anderem Seienden vorkommt“ und zugleich zu sich selbst und zu anderen ein Verhältnis hat, denn das Bündel kommuniziert. Es richtet sich an niemand Bestimmten, sondern an alle anderen, bei denen es ist. Seine monotone Stimme bleibt „immer vernehmbar“. Sie übertrifft noch das „Surren eines Insekts“ mit dem Canetti sie vergleicht, denn das Surren des Bündels kennt keine Pausen. Das kleine braune, gesichtslose Bündel am Boden des riesigen Platzes „war an der Grenze des Lebendigen“ . Es erweist sich damit als ein noch geringfügigeres Phänomen als die Schreiber, die sich „alle etwas Verschwindendes angewöhnt“ hatten. Die Unscheinbarkeit der Schreiber, die vollständig in ihrer medialen Funktion aufgehen, wird durch die „stille Würde des Papiers“ und die eindrucksvolle Haltung derjenigen, die sich ihm anvertrauen, aufgewogen. So sehr die Schreiber auch an den Rand des Platzes rücken mögen, sie sind doch keine „Unsichtbaren“. Der Würde des Papiers steht im Fall des kleinen braunen Bündels „ein dunkles und rauhes Stück Stoff“ gegenüber, das alles ist, was Canetti je von dem lebendigen Bündel (denn das Bündel lebt!) gesehen hat. Man könnte von einem ausrangierten Zeug spre chen, dem jede Funktionalität eines „Um-zu (Verweisung)“ abhanden gekommen ist. Wie es Iris Därmann für Heideggers „Phänomenologie der Störung“ gesagt hat, „kündigt sich in dem Rückzug des Zeugs aus seiner Zuhandenheit eine Widerständigkeit, Unzugehörigkeit und Fremdheit des
Canetti: Die Stimmen von Marrakesch, S. 87. Heidegger: Sein und Zeit, S. 12. Das Bündel ist der Beleg dafür, dass der philosophische „Ansatz eines zunächst gegebenen Ich und Subjekts den phänomenalen Bestand des Daseins von Grund aus verfehlt.“ (Ebd., S. 46) Canetti: Die Stimmen von Marrakesch, S. 87. Canetti: Die Stimmen von Marrakesch, S. 87. Heidegger: Sein und Zeit, S. 82.
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Dings an, insofern es nicht restlos darin aufgeht, dem Dasein und Mitsein dienlich zu sein.“ Die Geschäftigkeit, die den Alltag des Platzes definiert, entfaltet sich daher um das Bündel herum: „ein unaufhörliches Kommen und Gehen auf allen Sei ten des braunen Häufleins“ , über das aber niemand stolpert, denn der kontinuierliche Laut, den es von sich gibt, signalisiert den Geschäftigen zugleich seine Anwesenheit und hält sie zur Vorsicht an. Canetti kehrt immer wieder zum Bündel zurück. Und dann folgt einer der erstaunlichsten Sätze der Stim men von Marrakesch. Er lautet: „Ich war stolz auf das Bündel, weil es lebte.“ Canetti schließt die Aufzeichnung und das Buch mit einer Spekulation über den Laut, der als langgezogen-iteratives „ä-ä-ä-ä“ scheinbar jedem Verständnis oder jeder Verstehbarkeit entzogen ist, eine Lautfolge, die nichts von dem gewährt, wofür Phoneme erfunden wurden. Aber die Lautfolge wird trotzdem empfangen, Canetti nennt sie sogar einen „Ruf“ . Sie steht damit an Bedeutung den Worten der Erzähler, die ja für den, der ihre Sprache nicht versteht, ebenfalls ohne Bedeutung sind, in Nichts nach: „Vielleicht“, so Canettis Spekulation, „besaß es keine Zunge, um das ‚l‘ in ‚Allah‘ zu formen, und der Name Gottes verkürzte sich ihm zu ‚ä-ä-ä-ä‘. Aber es lebte, und mit einem Fleiß und einer Beharrlichkeit ohnegleichen sagte es seinen einzigen Laut, sagte ihn Stunden und Stunden, bis es auf dem ganzen weiten Platz der einzige Laut ge worden war, der Laut, der alle anderen Laute überlebte.“
3 Der Stand des Schriftstellers und die Verachtung des Papiers Wer mit Canetti ein wenig vertraut ist, weiß um die Dimensionen des letzten Wortes der Aufzeichnungen: „überlebte“ . Nicht auf die Aneignung oder Appropriation des Überlebens durch das kleine braune Bündel möchte ich abschlie-
Iris Därmann: Kulturtheorien zur Einführung. Hamburg 2011, S. 198f. Canetti: Die Stimmen von Marrakesch, S. 88. Canetti: Die Stimmen von Marrakesch, S. 89. Canetti: Die Stimmen von Marrakesch, S. 89. Canetti: Die Stimmen von Marrakesch, S. 89. Canetti: Masse und Macht. Frankfurt a. M. 1980, S. 249–257. Der Überlebende ist die Figur des Machthabers und das Überleben wird mit dessen Illusion der „Unverletzlichkeit“ verbunden. Die Unverletzlichkeit des Bündels ist an den Laut geknüpft, sie ‚sichert‘ ihn gegen den jederzeit möglichen „Zugriff“ oder versehentlichen Tritt der mächtigeren Anderen. (Ebd., S. 250).
160 Friedrich Balke ßend eingehen, sondern auf eine andere Verschiebung, die mit dem Überleben im Zusammenhang steht: den Stolz. Canetti wusste vom Stolz des Auftretenden, also desjenigen, der sich erhebt, nach vorne bewegt, ins Rampenlicht tritt, sich dem Publikum zeigt und in dieser Weise ‚steht’. Das Stehen ist für Canetti bekanntlich eine exemplarische Figur der Macht: Während das Liegen „eine Ent waffnung des Menschen“ ist, ist das Stehen die Einnahme einer Position, die Unabhängigkeit signalisiert: „Der Stolz des Stehenden“, so Canetti in Masse und Macht, „ist, daß er frei ist und sich an nichts lehnt“ . Der Stehende ist derjenige, der Souveränität verkörpert, weil er von niemandem abhängig ist. Nun leiden weder der Schreiber in seiner relativen Unscheinbarkeit noch das kleine braune Bündel in seiner defigurierten Vitalität an der Verweigerung des Stands. Leidet aber der Berichtende, leidet Elias Canetti (immerhin ein Nobelpreisträger) an dieser Verweigerung? „Erzähler und Schreiber“ ist diejenige Aufzeichnung, die zugleich die Position des Schriftstellers reflektiert. In der Mitte des Textes stellt sich der Moment einer Autoreflexion ein, deren Zentrum wieder der Affekt des Stolzes ist. Die Erzähler auf dem großen Platz hatte Canetti aufgesucht, weil er in ihnen sein bewundertes Vorbild erkennt: Ihre Sprache war ihnen so wichtig wie mir meine. [...] Ich war stolz auf die Macht des Erzählens, die sie über ihre Sprachgenossen ausübten. Sie erschienen wie ältere und bessere Brüder von mir. In glücklichen Augenblicken sagte ich mir: Auch ich kann Menschen um mich versammeln, denen ich erzähle; auch mir hören sie zu.
Aber dieses politisch-rhetorische Vokabular – die Ausübung von sprachlicher Macht, die Fähigkeit, Menschen zu versammeln und in den Bann zu ziehen – geht an der Medialität des Schriftstellers vorbei, die er mit den Schreibern teilt: das Papier, oder allgemeiner: das Schreibzeug. Alles was Dichter erscheinen las sen können, ist „weiße Magie“ , hängt am Papier und den medientechnischen Substituten der weißen Seite. Zum Leben erweckt wird dieses Dichterpapier allenfalls durch Leser, die allerdings nicht, wie im Falle des Publikums, das gebannt den Erzählern lauscht, anwesend sind und die sich jederzeit der Macht des Papiers durch Abbruch der Lektüre entziehen können. Literatur ist, anders als die Dichtung der Rhapsoden, Kommunikation zwischen Abwesenden, woran auch die Dichterlesung nichts ändert, denn Vorlesen ist nicht Erzählen. Das ist der Grund, warum Canetti von sich sagt, dass er dem Medium, auf das seine
Canetti: Masse und Macht, S. 437. Das Bündel liegt. Canetti: Masse und Macht, S. 434. Canetti: Die Stimmen von Marrakesch, S. 67. Lothar Müller: Weiße Magie. Die Epoche des Papiers. München 2012.
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schriftstellerische Existenz angewiesen ist, zugleich mit tiefer Verachtung begegnet: Die Schreiber habe er verachtet, „weil ich etwas an mir selbst verachte, ich glaube, dieses Etwas ist das Papier.“ Canetti reflektiert das präzise, wenn er seine Liebe für die Rhapsoden und damit für eine Zeit, in der die Muse noch nicht schreiben gelernt hat , als Ausdruck eines Stolzes entlarvt, der Weigerung der Dichter, die mediale Grundlage und Beschränkung ihres Tuns anzuerkennen: „Hier [also in Marrakesch auf der Djema el Fna, FB] fand ich mich plötzlich unter Dichtern, zu denen ich aufsehen konnte, weil es nie ein Wort von ihnen zu lesen gab.“ Das Lesen bzw. das Gelesenwerdenmüssen von Literatur wird von Canetti daher als eine paradoxe Geschichte des Abtretens des Erzählers erzählt, des Verzichts auf sein souveränes Darstellungsprivileg: ein Abtreten, das ihn in die Gesellschaft derer eingliedert, die sich „alle etwas Verschwindendes“ angewöhnt haben, den Schreibern: „Im Schutz von Tischen und Türen lebe ich nun, ein feiger Träumer“ und nicht län ger wie die großartigen Erzähler „im Gewühl des Marktes“ . Und vor dem Hintergrund dessen, was Literatur dann an Buchstäblichkeiten realisiert bzw. was sie an Experimenten am Buchstaben vorführt und die Zumutungen, die sie für die Empfänger:innen ihrer Botschaften bereithält, fällt dann möglicherweise auch ein anderes Licht auf das „ä-ä-ä-ä“ des Unsichtbaren.
Canetti: Die Stimmen von Marrakesch, S. 67. Vgl. dazu Eric A. Havelock: Als die Muse schreiben lernte. Eine Medientheorie. Berlin 2007. Canetti: Die Stimmen von Marrakesch, S. 67. Canetti: Die Stimmen von Marrakesch, S. 67. Das Publikum der Erzähler hängt fasziniert an deren „Worten und Gesten“. Seit 1895, so hat Friedrich Kittler mit Blick auf die Erfindung des Kinematografen argumentiert, wird Literatur zu einem „bilderlosen Letternkult“, weil sie erst gar nicht mehr versucht, „mit den Wundern der Unterhaltungsindustrie zu konkurrieren“. Friedrich Kittler: Romantik – Psychoanalyse – Film: eine Doppelgängergeschichte. In: ders.: Draculas Vermächtnis. Technische Schriften. Leipzig 1993, S. 81–104, hier S. 91.
Sophia Gräfe28
Gegenaufnahme Blicke und ihre Stellvertreter in den Akten des MfS Akten lesen sich in unterschiedlicher Geschwindigkeit. Da gibt es Massenakten, die den immer gleichen Sachverhalt in eine Reihe bringen. Das vorbeieilende Auge weiß um die Stellen im Text, an denen sich die entscheidende Abweichung finden lässt. Die Pointe des Falls erscheint vorhersehbar, immer gleich; Anlass und Ende der Verzeichnung sind wie mustergültig vorgegeben. Ein Vorgang, so das Ziel, muss, sobald begonnen, lediglich im routinierten Voranschreiten zwi schen Formaten und Formularen durchlaufen und derart abgeschlossen werden. Und es gibt Akten, deren Lektüre in die Langsamkeit führt, deren Gegenstand sich trotz regelgerechter Verzeichnung nur schwer fassen lässt. Aktenseiten, die sich quer stellen, unterbrechen, wie ein Stück Braunkarton im Lesesaal der ehemaligen BStU am Alexanderplatz in Berlin (Abb. 1). Eigentlich hätte es knistern sollen. Die Papierknappheit in der DDR bedingte auch im Fall der Aktenführung des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) ein Schreiben und Verwalten auf dünnstem Papier (transparent sind dessen Inhalte jedoch nicht). Ein in die Akte eingeheftetes Stück Karton, welches bei der Durchsicht steif in die Höhe springt. Kleiner als eine DINA4-Seite trägt es die handschriftliche Kennzeichnung „Video-Band“, die Paginierung der Stasi-Unterlagen-Behörde „BStU 000001b“ und zwei gleichförmige Löcher, die im Schattenriss die Außenlinie eines Gegenstands imitieren. Anstelle des Kartons hatte ursprünglich eine VHS-Videokasset te der Akte beigelegen. Der papierne Stellvertreter des Bildträgers verweist auf
Zur Geschichte und kulturellen Bedeutsamkeit des Formulars siehe Peter Plener, Niels Werber und Burkhardt Wolf (Hg.): Das Formular. Berlin. Heidelberg 2021. Cornelia Vismanns Monografie zur Genealogie der Akten bleibt ein wesentlicher Orientierungspunkt für eine Beschäftigung mit der Medialität administrativer Praktiken: Cornelia Vismann: Akten. Medientechnik und Recht. Frankfurt a. M. 2000. Die Behörde des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik ist seit 2021 Teil des Bundesarchivs. In der Archivpraxis werden bisweilen Bildmedien aus Schriftgutakten entnommen und getrennt aufbewahrt. Als Kennzeichnung der Entnahme wird ein sogenannter Stellvertreter in die Akte gelegt. Er verweist auf die abwesende Archivalie. Siehe Norbert Reimann (Hg.): Praktische Archivkunde. Ein Leitfaden für Fachangestellte für Medien- und Informationsdienste, Fachrichtung Archiv. Münster 2014, S. 155. https://doi.org/10.1515/9783111233796-028
164 Sophia Gräfe dessen Entnahme. Als Surrogat eines nun getrennt gelagerten Bilddepots verweist es auf ein ureigenes Anliegen der geheimdienstlichen Aktenführung: Die mediale Rekonstruktion eines fremden Blicks. George Didi-Huberman weist in seinen bildtheoretischen Ausführungen zur „Geschichte der Blicke“ auf die Dynamik des Blicks hin. Dem Blick wohne eine Form des Sehens inne, in der der Betrachter nicht begreifen kann, nicht in Besitz nehmen kann, was er sieht. Der Blick bleibe nicht bei der Betrachtung des Gegenstandes stehen. Er suche nach Bereichen im Jenseits der Sichtbarkeit. Ein fremder oder vergangener Blick ist in diesem Sinne schwer zu rekonstruieren, von ihm bleiben nur indirekte Zeugnisse übrig. Das Ministerium für Staatssicherheit hingegen steht genau vor ebenjener Aufgabe. Tritt ein Blick in Verdacht, muss er sich nacherzählen lassen. Im Bericht der Blicke soll sich das einfache Sehen vom speziellen Blick unterscheiden. Auch der Fall „Kontrolleur“ steht im Zusammenhang mit einer abweichenden Blickführung. So traf im Jahr 1987 an einem sowjetischen Militärstützpunkt bei Naumburg einen Besucher aus Westdeutschland und dessen Verwandte aus der DDR der Spionageverdacht des Ministeriums für Staatssicherheit. Die beobachtete Person geriet aufgrund ihrer häufigen Vorbeifahrten an militärischen Objekten in Verdacht. Da sie diese nicht nur einfach passierte, sondern anblickte, trat sie die Überwachungsmaschinerie des Geheimdienstes los. In den Begründungen des aufwändig betriebenen Ermittlungsfalls werden die Kopfbewegungen des Autofahrers angeführt. Durch „mehrfaches Kopfwenden“ zeigten die beobachtete Person und ihre Beifahrer „sichtbares Interesse“ . Ein möglicher Spion enttarnt sich an dieser Stelle im neugierigen Blick, der anhand der Straßenansicht militärischer Gebäude geheimes Wissen erspäht. Die Beobachter beschließen daraufhin, die betreffenden Personen und ihr Verbindungsnetz zu dokumentieren und ihre Bewegungen fortan verdeckt zu kontrollieren. Jeder weitere Besuch des BRD-Bürgers und die Aktivitäten seiner DDR-Kontakte werden umfassend überwacht, in den Akten notiert und bildlich dokumentiert. In der Sammlung des Archivs gelten die Videoaufnahmen zum Fall „Kontrolleur“ als eine der umfangreichsten Beschattungen vermittels Film.
Vgl. Wiebke-Marie Stock: Die Geschichte des Blicks. Zu Texten von Georges Didi-Huberman. Berlin 2004. Vgl. Stock: Die Geschichte des Blicks, S. 76. BArch, MfS BV Halle KD Naumburg, VIII 1248 / 87, Informationen zur OPK „Kontrolleur“, Band 3, Bl. 27. BArch, MfS BV Halle KD Naumburg, VIII 1248 / 87, Informationen zur OPK „Kontrolleur“, Band 3, Bl. 27.
Gegenaufnahme 165
Zusammenkopiert auf eine einzelne FUJI-Videokassette begleiteten sie im Frühjahr 1989 die Akten des Vorgangs auf ihrem Weg zur Hauptabteilung II für Spionage nach Berlin, welche über die Weitergabe des Falls an die Strafverfolgung des Ministeriums für Staatssicherheit entscheiden sollte. Wie sich zeigt, lässt sich diese Beigabe als eine Operation der Stellvertretung lesen. Für die Bearbeitung des Falls „Kontrolleur“ fand das Ministerium für Staatssicherheit eine bemerkenswerte Methode. Es sandte zwei Mitarbeiter an den Ort der verdächtigen Blickführung. An seiner statt sollten sie eine filmische Nachfahrt der registrierten Fahrtstrecke des „Kontrolleur“ vornehmen. Ihr „Gegenbe richt“ versucht das Rätsel seines Blicks zu lösen. Da die Motivation des Verhaltens der beobachteten Personen zunächst unklar ist, soll das filmische Panorama einer Autofahrt ihr mögliches Interesse erkunden. Die visuelle Phänomenologie des Ministeriums für Staatssicherheit spekuliert über das Erscheinen von Militärgeheimnissen im Bild. Die Gegenaufnahme wird dabei mehrfach gerahmt. Sie geschieht vom Platz des Beifahrers heraus durch die Scheiben des Ermittlungsfahrzeuges. Der Fahrer des Wagens ist ein ortskundiger Geheimdienstmitarbeiter, der dem Kamera-
Die auf die „Beobachtung“ spezialisierte Hauptabteilung VIII beschattete Personen im Auftrag der anderen Abteilungen des Ministeriums für Staatssicherheit. Zu ihren Mitteln gehörte neben dem Einsatz „Inoffizieller Mitarbeiter“, der Mitschnitt von Telefongesprächen und die heimliche Aufnahme von Fotografien und Filmen. Einführend zur Hauptabteilung VIII: Angela Schmole: Hauptabteilung VIII. Beobachtung, Ermittlung, Durchsuchung, Festnahme (MfSHandbuch). Hg. BStU. Berlin 2011. Zur Figur des Beobachters, siehe: Sophia Gräfe: Die Figur des Beobachters im Ministerium für Staatssicherheit. In: Friedrich Balke, Joseph Vogl und Bernhard Siegert (Hg.): Medien der Bürokratie (Archiv für Mediengeschichte, Bd. 16). München 2016, S. 77–86. Neben 111 Kilometer Papierakten, 1,95 Millionen Fotodokumenten, ca. 22.700 Tondokumenten und 46 Datenprojekten sowie 15.500 Säcken vorvernichteter Unterlagen bilden die 2.875 Filme des Ministeriums für Staatssicherheit einen kleinen Teil seiner Hinterlassenschaft. Quelle: 15. Tätigkeitsbericht des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik für die Jahre 2019 und 2020, BStU Berlin sowie Die Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik – Abteilung Archivbestände (Hg.): Verzeichnis der Filme und Videos des Ministeriums für Staatssicherheit. Bearb. von Renate Hedli, Einleitung von Katrin Rübenstrunk. Berlin 2009. Obwohl in vielen Dienststellen das Filmbild zur Unterstützung der geheimdienstlichen Arbeit herangezogen wurde, sind bisher keine Grundsatzdokumente oder Richtlinien zum Einsatz der Filmkamera in den Akten des Ministeriums für Staatssicherheit aufgefunden geworden. Eine Charakterisierung der Filmpraxis des Ministeriums für Staatssicherheit muss sich entsprechend abseitig liegenden Zeugnissen widmen. Eine wesentliche Quelle zu den Schwerpunkten des Stasi-Überwachungsfilms sind die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Stasi-Unterlagen-Archivs, welche im Zuge von Filmsichtungen ihre Kenntnisse teilen.
166 Sophia Gräfe mann auf dem Beifahrersitz die Ausrichtung der Videokamera befiehlt. In weiten Strecken der Plansequenz sind leere Straßen und die Horizontlinie von endlosen Feldern zu sehen. Der unterrichtete Fahrer weiß jedoch die unsichtbare Funktion der fernen militärischen Stellungen und architektonisch verkleideten Aktivitäten zu deuten. Neben den Einrichtungen des sowjetischen Militärs moderiert der Eingeweihte die Stationierungen des sowjetischen Geheimdienstes (KGB) und die verdeckten Beobachtungspunkte des Ministeriums für Staatssicherheit an. Sein nun im Video festgehaltenes Wissen kanalisiert den Informationsgehalt der Filmdokumentation. In seinen Kameraanweisungen bilden sich die Stützpunkte des Geheimdienstes ab. Dabei entstehen Ansichten einer arkanen Infrastruktur, deren bildliche Wiedergabe sonst verboten ist. Um dem Verbrechen auf die Spur zu kommen, müssen die Beobachter es selbst begehen. Der Blick des Geheimdienstes verfehlt derweil das in Verdacht geratene Sehen. Die archivierte Videokassette hat gänzlich anderes erhalten. In der medialen Mimikry des verdächtigen Blicks wiederholt sich vielmehr das Beobachtungsregime der Observation. Es ist nicht Aufgabe dieses Texts, Ihnen nun auch den Ausgang der Falls darzulegen. Auch wenn sich die Aktenvermerke des Ministeriums für Staatssicherheit wiedergeben ließen, so verfehlen sie doch das Anliegen dieses Beitrages, welcher in stellvertretender Lektüre des „Kontrolleur“ von den Tücken bildlicher Imitation handelt. Ist die epistemische Analyse einer geheimdienstlichen Filmpraxis von Belang, dann gebietet sich eine Zurückhaltung in der erneuten Dokumentation der von ihr verdeckt in Beobachtung genommenen Personen. Mit dem Versuch, fremde Blicke zu simulieren und einem Publikum nahezubringen, entgrenzen die Filmbilder das Kontrollphantasma des Geheimdienstes. In der Vorstellung einer restlosen Sichtbarkeit spekulieren sie über die Bereiche jenseits seines Sichtkreises. Dies führt zu der Frage, ob sich der geheimdienstliche Blick in der Betrachtung seiner filmischen Hinterlassenschaften in Ansicht bringen lässt. Gelingt der historischen Analyse das, was dem Ministerium für Staatssicherheit misslang?
Archivsignatur der Videoaufzeichnung: BStU, MfS, HA II, Vi, Nr. 180. Weiterführend zum Bildmodus der Gegendokumentation siehe: Esra Canpalat u. a. (Hg.): GegenDokumentation. Operationen – Foren – Interventionen. Bielefeld 2020. Zum Zusammenhang von Medien, Mimikry und Mimesis siehe: Friedrich Balke, Bernard Siegert und Joseph Vogl (Hg.): Mimesis. Archiv für Mediengeschichte, Bd. 12. Paderborn 2012; Jessica Ullrich und Antonia Ulrich: Mimesis, Mimikry, Mimese. Tierstudien 11. Berlin 2017 sowie Friedrich Balke und Elisa Linseisen (Hg.): Mimesis expanded. Die Ausweitung der mimetischen Zone. Paderborn 2022.
Gegenaufnahme 167
Die Beweiskraft historischer Quellen wird zumeist mithilfe der Idee des Speichers beschrieben. Der Wunsch der geschichtlichen Aufarbeitung, die Geschichte des Ministeriums für Staatssicherheit aus seiner Selbstaufzeichnung heraus zu schreiben, entspricht jener Vorstellung einer störungsfreien Überlieferung im Archivdepot. Rechtsmissbrauch, Straftaten und Schicksale sollen sich anhand ihrer materiellen Spuren aufdecken und erinnern lassen. Aus der spekulativen Verwendung des Filmbildes durch das Ministerium für Staatssicherheit und den Inkonsistenzen seiner eigenen Archivpraxis und Überlieferung ergeben sich die Herausforderungen der historischen Forschung. Anhand der Leerstellen der Filmbestände lassen sich relevante Fragen über die Bildpraxis und visuelle Epistemologie des Geheimdienstes stellen. Eine Hinwendung zu dem, was nicht in den Zeugnissen des Geheimdienstes enthalten ist oder in seiner archivischen Aufarbeitung aus dem Sichtkreis gerät, erweitert die historische Aussage. Den meisten vom Geheimdienst erfassten und verfolgten Personen blieb derweil das Ausmaß ihrer Beschattung bis zur Öffnung der Geheimdienstarchive verborgen. Die Effekte des geheimdienstlichen Wissens trafen das Leben und die Biografien der DDR-Bevölkerung. Ihr zweites Leben in den Registern, Suchprofilen, Bildern und Berichten des Ministeriums für Staatssicherheit war jedoch dem Zugriff des Geheimdienstpersonals vorbehalten. So fallen die verwaisten Filmbilder des Ministeriums für Staatssicherheit in den Wirkungsbereich einer Asymmetrie des Wissens. Die Behauptung einer Deutungshoheit über die gesellschaftliche Realität des geteilten Deutschlands und der exklusive Zugang zu weitreichenden Informationen dürfen als einer der Pfeiler der diktatorischen Macht des Geheimdienstes gelten. Im Archiv der Robert-Havemann-Gesellschaft in Berlin sind gegenwärtig Quellen der DDR-Opposition zugänglich. Impliziert der der Bestand des Stasi-Unterlagen-Archivs eine die Narration der Überwachung im in der DDR im Blick des Ministeriums für Staatssicherheit, so haben
Zu den Fotografien des Ministerium für Staatssicherheit siehe: Karin Hartewig: Das Auge der Partei: Fotografie und Staatssicherheit. Berlin 2004; dies.: Die DDR im Bild: zum Gebrauch der Fotographie im anderen deutschen Staat. Göttingen 2004; Philipp Springer: Der Blick der Staatssicherheit. Fotografien aus dem Archiv des MfS. Dresden 2020. Siehe auch Annette Vowinckel: Agenten der Bilder. Fotografisches Handeln im 20. Jahrhundert. Göttingen 2016 und dies., Michael Wildt und Jan-Holger Kirsch: Fotografie in Diktaturen. Göttingen 2015 sowie die künstlerischen Bildstudien von Arwed Messmer: Reenactment MfS. Ostfildern 2014; Simon Menner: Top Secret: Bilder aus den Archiven der Staatssicherheit. Ostfildern 2013 und Jens Klein: Hundewege. Index eines konspirativen Alltags. Leipzig 2013 und ders.: Sunset. Leipzig 2018. Siehe Frank Ebert und Anja Schröter (Hg.): Gegenentwurf. Ausschnitte deutscher Demokratiegeschichte. Berlin Robert Havemann Gesellschaft, Archiv der DDR-Opposition. Berlin 2020.
168 Sophia Gräfe sich auch auf der Seite der Beobachteten bildliche Zeugnisse bewahrt. Ihre Gegenaufnahme der geheimdienstlichen Observation ist als Ausgangspunkt für eine kontrastierende Perspektive auf die Bildpolitik des SED-Regimes zu wählen.
Abb. 1: Bildscan eines Stellvertreters im Stasi-Unterlagen-Archiv:: BArch, MfS BV Halle KD Naumburg, VIII 1248 / 87, Dokumentation zur OPK Kontrolleur, Band 3, Bl. 1.
Britta Lange29
Auf Empfang Zu deutschen Imaginationen des Rundfunks in seiner Frühzeit Der Publizist Siegfried Kracauer, der vor allem durch seine Arbeiten zu deutschen Filmen der Zwischenkriegszeit bekannt wurde, beobachtete auch die Wirkungs- und Wahrnehmungsweisen von Fotografie und Radio aufmerksam. Der Rundfunk, wie man damals die Aussendung von Hörfunkwellen vor allem nannte, wurde in Deutschland 1922 für die öffentliche Nutzung freigegeben. Am 16. November 1924, etwa zwei Jahre später, veröffentlichte Kracauer im Feuilleton der Frankfurter Zeitung, das er von 1930 bis 1933 leiten sollte, einen Essay zur Langeweile. Darin stellte er fest, dass echte Langeweile – die einzig eine gewisse Gewähr dafür biete, „dass man sozusagen noch über sein Dasein ver fügt“ – sich deutlich von jenen Formen der Ablenkung und Zerstreuung unterschied, die zu dieser Zeit verfügbar waren. Neben Reklame, Kino und dem Näherrücken der Kontinente zählte er den Rundfunk auf: „Auch das Radio zerstäubt die Wesen, noch ehe sie einen Funken gefangen haben. Da viele senden zu müssen glauben, befindet man sich in einem Zustand dauernder Empfäng nis, trächtig stets mit London, dem Eiffel-Turm und Berlin.“ Der Funken der Inspiration spielte zugleich auf das Funken des Senders an: Bereits vor dem Fangen des Funkens, so suggeriert Kracauer, wirkt das Radio als Möglichkeit zerstreuend. Auch den „Zustand dauernder Empfängnis“ hielt der Autor bewusst doppeldeutig, physisch und psychisch konnotiert: Einerseits steht die Empfängnis als Vorbedingung für eine explizit körperliche „Trächtigkeit“ oder Schwangerschaft, die theoretisch jeden Sender gebären, also vernehmbar machen könnte. Andererseits ist die Empfängnis Metapher für die körperlich-konkrete Möglichkeit des Empfangs, die technische Voraussetzung für das Hörbarmachen von Schallwellen, welche von Rundfunkstationen ausgesendet wurden. In diesem Sinne kennzeichnete Kracauer den „Zustand dauernder Empfängnis“ als Potenzial oder Potenzialität. Ständig „auf Empfang“ zu sein, wie wir heute formulieren würden, bedeutet ständig potenziell abgelenkt, zerstreut werden zu
Siegfried Kracauer: Langeweile (Frankfurter Zeitung, 16. November 1924). In: ders.: Das Ornament der Masse. Essays. Mit einem Nachwort von Karsten Witte. Frankfurt a. M. 1977, S. 321– 325, hier S. 324. Kracauer: Langeweile, S. 322–323. https://doi.org/10.1515/9783111233796-029
170 Britta Lange können – selbst, wenn der Apparat nicht eingeschaltet ist. Schon die Möglichkeit des Empfangens „zerstäubt die Wesen“. „Auf Empfang“ zu sein, potenziell alles empfangen zu können, hatte in den Augen der Zeitgenoss*innen auch Auswirkungen auf die psychische Disposition von Menschen. Nahe lag der Bezug zum menschlichen Nervensystem, das immer bereit ist, Reize zu empfangen, aber auch überreizt werden kann. Im Neurasthenie-Diskurs des 19. Jahrhunderts wurde als Quelle von Reizüberflutung etwa das Zusammenwirken von Lärm, Verkehr und vielen Menschen in der Großstadt diagnostiziert. So hatte Georg Simmel 1903, zwanzig Jahre vor Verfügbarkeit des Rundfunks, „die Steigerung des Nervenlebens, die aus dem raschen und ununterbrochenen Wechsel äußerer und innerer Eindrücke hervorgeht“, als „psychologische Grundlage, auf der der Typus großstädtischer Individualitäten sich erhebt“ , gesehen.
Abb. 1: Werbung für den „Friho“-Detektor aus den 1920er Jahren. Historisches Archiv des Bayerischen Rundfunks, https://www.br.de/unternehmen/inhalt/organisation/ werbungdeutschestunde-100.html (letzter Zugriff 14.6.2023).
Während die technischen Voraussetzungen für den Radioempfang bereits vor dem Ersten Weltkrieg bekannt waren und im genuinen Zusammenhang zu militärischen Zwecken standen, wurde er erst später für Unterhaltungszwecke frei-
Vgl. Joachim Radkau: Das Zeitalter der Nervosität. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler. München u.a. 1998. Georg Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben (1903). In: ders.: Gesamtausgabe, Bd. 1: Aufsätze und Abhandlungen 1901–1908, hg. von Rüdiger Kramme, Angela Rammstedt, Otthein Rammstedt. Frankfurt a. M., S. 116–131, hier S. 116.
Auf Empfang 171
gegeben. Die erste Rundfunkübertragung in Deutschland brachte ein Weihnachtskonzert der Reichspost am 22. Dezember 1920. Nach einem zwischen– zeitlichen Verbot aus Sorge um politischen Missbrauch begann mit der Ausstrahlung einer Unterhaltungssendung durch den ersten Hörfunksender FunkStunde Berlin am 29. Oktober 1923 die Durchsetzung des Mediums. Hohe Rundfunkgebühren sorgten allerdings für einen nur langsamen Anstieg der Zahl offi ziell registrierter Hörer*innen.
Abb. 2: Werbung für ein Radio mit Detektor und Kopfhörer vom Oktober 1924, als Kracauer seinen Essay schrieb. Frankfurter Zeitung, 1.10.1924, Zweites Morgenblatt, Nr. 734, S. 4; UB der HU Berlin, AC 61021:Fgr2.
Der Rundfunk konnte damit potenziell überall in Deutschland empfangen werden, war man als Hörer*in auf Empfang – was jedoch den Zugang zu den technischen Möglichkeiten des Empfangs voraussetzte: einen Empfänger. Der Funk war immer da, aber unsichtbar und unhörbar, solange der Radioapparat nicht eingeschaltet wurde. Als mit der Währungsreform die Rundfunkgebühr auf zwei
Zur Geschichte des Rundfunks in Deutschland vgl. etwa: Winfried B. Lerg: Rundfunkpolitik in der Weimarer Republik. München 1980.
172 Britta Lange Reichsmark heruntergesetzt wurde, stieg die Anzahl der angemeldeten Radios, bis Ende 1925 mehr als eine Million Geräte registriert waren. Zu Beginn hießen die technischen Empfänger nicht Radio, sondern Detektor. Mit einem solchen Detektorapparat, der „Mimikry eines Grammophons“ , wie Kracauer schrieb, konnte man nur per Kopfhörer in kurzer Reichweite um den Apparat herum zuhören. Die technische Beschränkung des Auf-Empfang-Seins produzierte eine Hörsituation in Gesellschaft und doch zugleich in Isolation: Wer wollte dem Werben der zierlichen Kopfhörer widerstehen? Sie glänzen in den Salons, sie ranken sich selbsttätig um die Häupter – und statt eine gebildete Unterhaltung zu pflegen, die ja gewiß langweilen mag, wird man zum Tummelfeld von Weltgeräuschen, die, ihrer etwaigen objektiven Langeweile ungeachtet, nicht einmal das bescheidene Recht auf die persönliche Langeweile zugestehen. Stumm und leblos sitzt man beisammen, als wanderten die Seelen weit umher; aber die Seelen wandern nicht nach ihrem Gefallen, sie werden von der Nachrichtenmeute gehetzt, und bald weiß niemand mehr, ob er der Jäger ist oder das Wild.
Erst 1926 lösten Röhrengeräte die Detektoren flächendeckend ab, sodass dem Rundfunk nun bei besserem Empfang über Lautsprecher und damit kollektiv ohne Kopfhörer zugehört werden konnte. Gehört werden konnte nun auch im Raum – und damit potenziell immer und überall. Das Auf-Empfang-Sein brachte eine weitere Erfahrung für die Zeitgenoss*innen mit sich: Es schien, als wendeten sich die Sprecher*innen im Radio direkt an den/die Empfangende/n persönlich. Jedoch war dies nicht der Fall, denn das Massenmedium, das rund-funkte, war von der Kommunikationssituation one-to-many bestimmt, oder wie Rudolf Arnheim es 1933 ausdrückte: „Rundfunk: einer spricht, ohne zu hören, und alle übrigen hören, ohne sprechen zu können.“ Walter Benjamin, der zwischen 1927 und 1933 in verschiedenen Rollen, etwa als Hörspielautor, an über 80 Radiosendungen mitgewirkt hatte, ließ im Jahr 1932 die Figur des Kasperl auf einen Herrn Maulschmidt treffen. Dieser stellt sich als „Sprecher des Rundfunks“ vor und lädt Kasperl ein, dort ins Mikrophon zu sprechen. Nachdem Kasperl sich zunächst weigert, weil er sich an den herum springenden Funken verbrennen könne, kommentiert er den Anblick des
Kracauer: Langeweile, S. 323. Kracauer: Langeweile, S. 323. Rudolf Arnheim: Psychologie des Rundfunkhörers [engl. Erstveröffentlichung 1936]. In: ders.: Rundfunk als Hörkunst. Frankfurt a. M. 2001, S. 161–171, hier S. 169. Walter Benjamin: Radau um Kasperl (1932), Hörspiel für das Radio. In: ders.: Gesamtausgabe. Werke und Nachlass, Kritische Band 9.1: Rundfunkarbeiten, hg. von Thomas Küpper und Anja Nowak. Berlin 2017, S. 58–86, hier S. 62.
Auf Empfang 173
Münchner Rundfunk-Palais mit der Frage: „Da sind ja mehr Fenster, als was man zählen kann. Da werden die eingesperrt, die Rundfunk hören müssen?“ Aus der Möglichkeit des ständigen Sendens und potenziellen Empfangs leitet er das Hörenmüssen gleichsam als Zwang ab. Die Architektur erscheint ihm als ein Panopticon, in dem das Auf-Empfang-Sein nicht als Hörenwollen, sondern als Strafe auftrat. Kasperl versichert sich anschließend bei seinem Gastgeber, dass man ihn „auf der ganzen Welt“ hören würde, wenn er ins Mikrophon spricht, auch in Putzingen, wo der Seppl wohnt. Da er von diesem annimmt, dass er auf Empfang ist, wettert er ohne Vorwarnung laut ins Mikrophon: „Du miserabliges Mistviech, Du! Elende Kreatur! Hörst mich? […]“, woraufhin Herr Maulschmidt panisch ausruft: „Um Himmelswillen! Ausschalten! Unterbrechen! […]“. Kasperl, so die Pointe, hat nicht bedacht, dass ihn nicht nur der Seppl hören wird, sondern potenziell auch alle anderen, die gerade auf Empfang sind, doch er nutzt intuitiv die Situation, in der Seppl nicht antworten kann. Der Rundfunk war noch nicht auf das Senden der Hörenden eingerichtet – eine Forderung, die vor allem Bertolt Brecht in seinen Überlegungen zum Radio ausbrachte. Nachdem er bezüglich der Inhalte der Sendungen polemisch festgestellt hatte: „Ein Mann, der was zu sagen hat und keine Zuhörer findet, ist schlimm daran. Noch schlimmer sind Zuhörer daran, die keinen finden, der ihnen etwas zu sagen hat.“ , hatte sich Brecht für die Nutzung des Rundfunks nicht nur als Distributionsapparat, sondern als Kommunikationsapparat verwendet: Die Hörer*innen sollten sich potenziell auch in Sender*innen verwandeln, also das passive Emp fangen in das aktive Mitteilen ändern können. Die Vorstellung einer politischen Teilhabe über die Massenmedien verband Brecht wiederum mit Benjamin. Letzterer erkannte in seinen theoretischen Reflexionen über den Rundfunk noch eine andere Dimension des Empfangens. Benjamin erinnerte daran, dass die Stimme der Sprechenden eine große Bedeutung für die Hörenden habe. Es sei eben „die Stimme, die Diktion, die Sprache“ des Vortragenden, die die „Rundfunkhörer“ dazu bewege, ihren Lautsprecher nach den ersten anderthalb Minuten der Darbietung wie eine Buchseite zuzuklappen: „Man braucht sich nur einmal überlegen, was es ausmacht, daß die Rundfunkhörer, im Gegensatz zu
Benjamin: Radau, S. 63. Benjamin: Radau, S. 64. Bertolt Brecht: Radio – eine vorsintflutliche Erfindung? (1927/28). In: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 18: Schriften zur Literatur und Kunst I. Frankfurt a. M. 1967, S. 119–121. Bertolt Brecht: Der Rundfunk als Kommunikationsapparat. Rede über die Funktion des Rundfunks; Vorschläge für den Intendanten des Rundfunks. In: ders.: Werke, Bd. 3: Stücke III. Berlin u.a. 1989.
174 Britta Lange jedem anderen Publikum, das Dargebotene bei sich zu Hause, die Stimme ge wissermaßen als Gast empfangen.“ Den Hörfunk wie eine Person als Gast in den eigenen Räumen zu empfangen, verweist auf das Gastrecht (in der jüdischen Kultur), nach dem eigentlich dem Gast höchste Aufmerksamkeit einzuräumen ist. Die Stimme – als pars pro toto für die Person – als Gast zu empfangen, musste Benjamin auch bedeuten, sie nicht missachten zu können.
Abb. 3: Werbung vom Dezember 1924 für die Berliner Funkausstellung und nervenstärkendes Klima in der Schweiz. Frankfurter Zeitung, 3.12.1924, Zweites Morgenblatt, Nr. 903, S. 5: UB der HU Berlin, AC 61021:Fgr2.
Arnheim dagegen, der vor allem aus einer pädagogischen und bildungsbewussten Perspektive über das Radio schrieb, prangerte den „passiven Charakter des Rundfunkhörens“ an: Die Konzentration, die im Konzertsaal oder in der Kirche durch die Gesamtsituation gefördert wird, muß sich der Hörer zuhaus gegen sein Milieu erkämpfen, und dazu kommt es nur selten. Der Rundfunk ist Dauergast, und mit einem solchen macht man bekanntlich ‚keine Umstände‘: das Leben geht weiter, als wäre er garnicht da.
Walter Benjamin: Reflexionen zum Rundfunk. In: ders.: Rundfunkarbeiten, S. 531–533, hier S. 532. Rudolf Arnheim: Psychologie des Rundfunkhörers (1936). In: ders.: Rundfunk als Hörkunst. Frankfurt a. M. 2001, S. 161–171, hier S. 167.
Auf Empfang 175
Anders als Benjamin betonte Arnheim die Gleichgültigkeit, die Rundfunkhörer*innen gegenüber dem alltäglichen Dauergast des Hörfunks in der Öffentlichkeit, aber auch in ihren privaten Räumen ausbildeten – war doch das Radio in den 1930er Jahren bereits fester Bestandteil von vielen Haushalten. Technisch immer auf Empfang zu sein, alles empfangen zu können, hatte Siegfried Kracauer bereits zu Zeiten des Detektors kritisch bewertet: Die Menschen würden als „Tummelfeld von Weltgeräuschen“ fungieren und ein „Antennenschicksal“ erleiden: „Nicht wir sind es in Wahrheit, die zu ihnen [den Kontinenten] ausschweifen, ihre Kulturen vielmehr nehmen in grenzenlosem Imperialismus von uns Besitz.“ Jahre bevor der Volksempfänger im Nationalsozialismus vollends für politische Zwecke instrumentalisiert werden sollte, produzierte die Tatsache, die „ganze Welt“ im Hören empfangen zu können, sowohl Phantasien der Weltbeherrschung als auch Imaginationen des Berherrschtwerdens.
Arnheim: Rundfunkhörer, S. 167. Kracauer: Langeweile, S. 323.
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Welt empfangen, Um/Frieden verweigern Dimensionen des Versammelns, Transformierens und Affizierens im Essay. Ein Versuch Der Essay kann ein Weltempfänger sein. Seit seinen Anfängen bei Montaigne ist er frei von Phantasmen der Originalität und Genieästhetik, von der Vorstellung, Kunst und Denken entstünden in einem Geist – oder überhaupt im Geist allein. Montaignes Essays begannen als „Sammlung von Lesefrüchten mit begleitenden Bemerkungen“ bis Letztere überhandnahmen und „nicht nur das Gelesene, sondern auch das Gelebte“ im Text Platz fand. Das prominente Ich des Essays verweist immer bereits auf die rational nicht vollends greifbare, geteilte Lebenswelt und auf einen vorgängigen Anderen, auf eine Bezüglichkeit, die freimütig bejaht wird: Anstatt wissenschaftlich etwas zu leisten oder künstlerisch etwas zu schaffen, spiegelt noch seine Anstrengung [die des Essays, S. L.] die Muße des Kindlichen wider, der ohne Skrupel sich entflammt an dem, was andere schon getan haben. Er reflektiert das Geliebte und Gehaßte, anstatt den Geist nach dem Modell unbegrenzter Arbeitsmoral als Schöp fung aus dem Nichts vorzustellen. Glück und Spiel sind ihm wesentlich.
Bedeutender Teil dieser essayistischen Praxis besteht somit im Finden und Sam meln , im Kompilieren, Kuratieren und im transformierenden Zusammenbasteln von Fremdmaterial: in ästhetischen und gedanklichen Formationen des Empfangens. Das Verwiesensein auf das Un-Eigene kann in der essayistischen Hingabe daran, im großzügigen Einlassen fremder Gedanken in das eigene Denken und Schreiben einen gastfreundlichen Textraum eröffnen. Die derart relationale Ästhetik des Essays ist dann bedingt durch das Vermögen, und bezieht ihre Originalität daraus, die Geladenen in ein inspirierendes Gespräch zu bringen – und das essayistische Ich mit ihnen –, aus der eigenwilligen Konstellierung, aus dem Verweben wie auch dem Querstellen verschiedener Stimmen. In diesem aktivisch-passivischen Verfahren geht es zum einen darum, das Empfangene und das davon mobilisierte eigene Denken und Fortschreiben
Erich Auerbach: L'Humaine Condition. In: Mimesis: Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur. Bern, Berlin 1959, S. 280. Theodor W. Adorno: Der Essay als Form. In: ders.: Noten zur Literatur I. Frankfurt a. M. 2003, S. 10. Bart Verschaffel: Het Essay als Denkvorm. In: ders.: Figuren: Essays. Amsterdam: 1995, S. 11. https://doi.org/10.1515/9783111233796-030
178 Sophia Lohmann nicht einzuhegen, keine fest- und stillstellende Inbesitznahme von Gedanken vorzunehmen, sondern Heterogenität und Differenz in der essayistischen Assemblage bestehen zu lassen. Zitate und deren Kommentierung haben nicht primär die Funktion, eine These oder Autorität zu unterstreichen, sondern erhalten die Dynamik des essayistischen Gesprächs – und damit bestenfalls auch Widerspruch. Impliziert sind darin die Anerkennung fremder Stimmen, aber auch die verschiedenen Stimmen, das Wechselhafte im schreibenden Subjekt selbst und die antizipierten Stimmen der Lesenden. Ein Gleiten zwischen Selbstgespräch, Performanz eines freundschaftlichen Dialogs, und die Einladung der Lesenden ist bedingt durch eine ganzheitliche Empfänglichkeit und deren affizierende Übertragung in den Text, die Erich Auerbach in Montaignes Essays findet. Denn dieser, „der mit sich allein ist, findet in seinem Denken genug Leben und gleichsam körperliche Wärme, um zu schreiben, als ob er spräche. Dies hängt zusammen mit der Art, in der er seinen Gegenstand, sich selbst, zu fassen bemüht ist; [...]. Sie ist ein beständiges Anhören der wechseln den Stimmen, die in ihm klingen […]“ . Ein bezogenes Lauschen und die leichtfüßige Kuration eines polyphonen Diskurses, in dem das eigene Denken als Teil einer ‚Verflechtungsgeschichte‘ performativ im Text vollzogen wird, ist ein Ideal. Das Gefundene, Gehörte, Gelesene wird im Essay aber auch aus Kontexten gerissen, umgedeutet, er ist seit Anbeginn auch eine Praxis des ungefragten Entleihens, Stibitzens und Einverleibens, seinem großzügig gedeuteten Empfang geht nicht notwendigerweise eine Gabe voraus. Gerade aber im frechen Neu-Arrangement jenseits von Befugnissen, Syste men und Hierarchiekriterien , im ungebärdigen Umgang mit Fremdmaterial liegt auch eines der transformatorischen und kritischen Potenziale des Essays, epistemische Ordnungen zu befragen und die Welt aus neuen Blickwinkeln sichtbar zu machen. Einerseits nimmt er „den antisystematischen Impuls ins eigene Verfahren auf und führt Begriffe umstandslos, ‚unmittelbar‘ so ein, wie er sie empfängt“ ; ohne wissenschaftliche Herleitung und Explikation also, nur um sie aber in ihrer sonst unbewusst bleibenden Verortung in Sprachkontexten
Michael L. Hall: The Emergence of the Essay and the Idea of Discovery. In: Alexander J. Butrym (Hg.): Essays on the Essay: Redefining the Genre. Athens, Ga 1989, S. 80. Leslie Fiedler: The Discovery of the Self. Introduction to Part One. In: Leslie Fiedler (Hg.): The Art of the Essay. New York 1958, S. 1–2. Auerbach: L’Humaine Condition, S. 276. Verschaffel: Het Essay als Denkvorm, S. 10. Adorno: Der Essay als Form, S. 20.
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bewusst zu machen. Von diesem Ort einer ersten Beschauung läuft der essayistische Impuls jedoch auf eine emphatische Empfangsverweigerung hinaus, nämlich hinsichtlich vorgefertigter Meinungen, „received opinions [meine Her vorhebung, S.L.]“ . Unter anderem die skeptische Grundhaltung des Essays, die Betonung experimenteller und erfahrungsgeleiteter Erkenntnis und das nicht auf Schließung gerichtete Denken markieren sein kritisches Potenzial und rü cken ihn, wie auch Niklaus Largier unter anderen Vorzeichen feststellt, in die Nähe dessen, was Foucault unter Kritik versteht: „Nicht als wahr annehmen, was eine Autorität als wahr ansagt, oder jedenfalls nicht etwas als wahr annehmen, weil eine Autorität es als wahr vorschreibt. Es heißt: etwas nur annehmen, wenn man die Gründe es anzunehmen selber für gut befindet.“ Im gleichzeitigen Bestehen auf dem Ephemeren, dem Ungeordneten, dem nicht Einzufriedendem ist der Essay seinem Ideal nach einer Verweigerung von verwaltetem, einkastelndem Denken und damit epistemischer und textueller Machtproduktion verpflichtet. Dies ist aber nur dann einlösbar, wenn der Essay sich 1) nominal ernstnimmt, als Versuch: wenn tastendes und fragendes Den ken den möglichen Irrtum zu Gunsten einer „offenen geistigen Erfahrung“ in Kauf nimmt. 2) Wenn diese geistige Erfahrung und ihr künstlerischer Niederschlag die Möglichkeiten der Weltwahrnehmung und Bedeutungsgenese multipliziert und Denk- und Betrachtungsgerüste wackelig werden lässt. Wenn der Essay „ein Ding von vielen Seiten nimmt, ohne es ganz zu erfassen“ , flexibilisiert er sowohl Perzeptionen als auch ihre sprachlichen und (sprach-)bildlichen Repräsentationen. Wenn der Essay damit abhebt, „[g]egenüber der Unterkühlung und Militarisierung der Sprache, die die Philosophie produziert, […] eine Erwärmungs- und Verflüssigungstechnik [zu sein], die der Zeit und den Zeitläufen der Welt multiple Zeiterfahrungen, den Substanzlogiken multiple Figurationsmöglichkeiten gegenüberstellt“, ist dies 3) nur vorstellbar aus einem Modus erfindungsreicher, mehrdimensionaler Affizierung. Iris Därmann hat in verschiedenen Kontexten auf die vielschichtige Bedeut samkeit des Affiziertwerdens, des Heimgesuchtseins , ebenso wie auf passivier-
Adorno: Der Essay als Form, S. 10. Hall: The Emergence of the Essay and the Idea of Discovery, S. 86. Christian Schärf: Geschichte des Essays: Von Montaigne bis Adorno. Göttingen 1999, S. 35. Niklaus Largier: Zeit der Möglichkeit: Robert Musil, Georg Lukács und die Kunst des Essays. Ästhetische Eigenzeiten Kleine Reihe 3. Hannover 2016, S. 37–42. Michel Foucault: Was ist Kritik? Berlin 1992, S. 14–16. Adorno: Der Essay als Form, S. 21. Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften: [1. und 2. Buch], hg. von Adolf Frisé. Hamburg 2012, S. 250–251.
180 Sophia Lohmann te Zustände und passivierende Praktiken hingewiesen, die sich häufig in Grauzonen ereignen und in der europäischen Geistesgeschichte und Philosophie seit jeher marginalisiert sind. Neben der primären Bezüglichkeit und Gestaltung des Eigenen aus der Aufnahme von Anderem kann das Bewohnen der Grauzone zwischen Affizierung und Gestaltung, zwischen Aktivischem und Passivischem auch in weiteren Formen als eine Möglichkeitsbedingung von Essayismus betrachtet werden: In Robert Musils essayistischem Roman Der Mann ohne Eigenschaften wird dieser erkennbar als eine Vision von Kunst und Leben, in der nicht geschieden wird zwischen Episteme und Kunst, zwischen Welt und Selbst, zwischen Gefühl und Verstand, zwischen „Genauigkeit und Leidenschaft“ , zwischen Ratio und Mystik. All dies ist versuchsweise in der Schwebe zu halten, im Essay als hypothetische Lebensform. In der real bestehenden Praxis des Essays finden sich oftmals nur milchige Schatten dessen, indem subjektive Anschauungen und Emotionen mit Argumentation verschränkt werden. Folgt man Musils Vision, birgt die Kunst, und der literarische Essay gehört dazu, jedoch die Möglichkeit einzigartige Zustände der Entrückung zu erwirken, in welchen sich eine „außerbegriffli che Korrespondenz des Menschen mit der Welt und abnormale Mitbewegung“ einstelle. Das Pathische wird hier in seiner Entstehung (Erhalten des Dazwischen), als das „heimsuchende Ereignis, das Repräsentationen und Performati ve selbst darstellen“, und in den hervorgerufenen Affekten, der „pathischen Wirksamkeit“ erkennbar. Musil bezieht sich in seinem Denken auf Anschlüsse und Aneignungen moderner Kunst aus der Rezeption von nicht-europäischen und „fremdkulturellen Darstellungspraktiken“ , die pathische Wirkungen beto nen. Während diese Aneignung unter anderem kritisch zu betrachten ist, geht
Iris Därmann und Kathrin Busch: „pathos“: Konturen eines kulturwissenschaftlichen Grundbegriffs. Kultur- und Medientheorie. Bielefeld 2007, S. 7. Iris Därmann: Widerstands- und Gewaltforschung, überkreuz. In: Kulturwissenschaftliche Zeitschrift 4 (2019) Nr. 1, S. 5. Anne Fleig: Körperkultur und Moderne: Robert Musils Ästhetik des Sports. Berlin, New York, 2008, S. 238. Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, S. 252. Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, S. 1141. Därmann und Busch: „pathos“, S. 20. Därmann und Busch: „pathos“, S. 20–21. Därmann und Busch: „pathos“, S. 24. Nicola Gess: Expeditionen im Mann ohne Eigenschaften. Zum Primitivismus bei Robert Musil. In: Norbert C. Wolf und Rosmarie Zeller (Hg.): Musil-Forum: Studien zur Literatur der klassischen Moderne. Band 31 - 2009/2010. Berlin 2011.
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es ihm auch darum, einen westlichen Rationalismus und die entsprechenden vorgefertigten Gefühls-, Sprach- und Sehmuster punktuell zu stören. So „hat die Kunst die Aufgabe unaufhörlicher Umformung und Erneuerung des Bildes der Welt und des Verhaltens in ihr, indem sie durch ihre Erlebnisse die Formel der Erfahrung sprengt.“ Iris Därmann und Katrin Busch betonen, dass diese affi zierende Ereignishaftigkeit jedoch stets unkalkulierbar bleibt. So ist auch der Essay am Ende auf die Empfangsbereitschaft der Rezipierenden verwiesen, erst im sich-Ergreifen-lassen, im Aufgreifen des essayistischen Dialogs, im Einlassen auf austestendes Denken kann der Essay, gewissermaßen als kulturelle Gabe, seine Wirkkraft entfalten. Die hochtrabenden Transformationsvisionen, das demokratische und dialogische Potenzial der Form und Denkfigur des Essays, werden jedoch brüchig, wenn man die tatsächlichen Produktionsvoraussetzungen, die geistesgeschichtliche Tradition und werkhistorische Materialisierung des Essays betrachtet: Ökonomisches, kulturelles und soziales Kapital und weiße Männlichkeit waren bis ins 20. Jahrhundert nicht nur Norm der essayistischen Praxis, sondern auch deren Möglichkeitsbedingungen. Diese sich in vielen literarischen Gattungen zeigende Ausschlusskonstruktion findet sich im Essay so verschärft, da die für den Essay zentrale Autorität subjektiver Erkenntnis, die Positionierung zu gesellschaftlich relevanten Themen und die textuelle Signatur eines selbst-bewussten Subjekts historisch beinahe ausschließlich von und für (gesellschaftlich anerkannte) Männer beansprucht wurde. Die Essays davon abweichender Subjekte und Subjektivitäten waren mit einer renitenten kulturellen und sozialen Empfangsverweigerung konfrontiert, denn am Ende zählte die Autorität der Stimme des Essayisten , wie vielen anderen Stimmen sie auch im Text Raum
Robert Musil: Ansätze zu neuer Ästhetik. Bemerkungen über eine Dramaturgie des Films [März 1925]. In: ders.: Gesammelte Werke 2. Hamburg 1978, S. 1137–1154, hier S. 1152. Därmann und Busch: „pathos“, S. 22–23. Vgl. dazu auch die blumigen Ausführungen im Mann ohne Eigenschaften zum Versuch, „solche große Essayisten auszulegen, die Lebenslehre, so wie sie ist, in ein Lebenswissen umzuwandeln und der Bewegung der Bewegten einen ‚Inhalt‘ abzugewinnen; es bleibt von allem ungefähr so viel übrig wie von dem zarten Farbenleib einer Meduse, nachdem man sie aus dem Wasser gehoben und in Sand gelegt hat. Die Lehre der Ergriffenen zerfällt in der Vernunft der Unergriffenen zu Staub, Widerspruch und Unsinn“ (Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, S. 254). Carsten Junker: Frames of friction: Black genealogies, white hegemony, and the essay as critical intervention. North American studies 27. Frankfurt a. M. 2010. Renate Hof: Engendering Authority: Das wiedererwachte Interesse am Essay. In: dies. (Hg.): Inszenierte Erfahrung: Gender und Genre in Tagebuch, Autobiographie, Essay. Tübingen 2008, S. 214.
182 Sophia Lohmann geben mochte. Auch diejenigen Stimmen hörbar zu machen, die unvernehmbar gemacht wurden, und die sich in ihnen ereignenden Widerstände lesbar zu machen, sind Dimensionen einer wissenschaftlichen Ethik und Praxis, für die Iris Därmann steht und einsteht.
Jan Mollenhauer31
Geben und Nehmen Wie schreibt man eine Postkarte? Wohl mit dem Ziel der Ankunft, sie soll ja wo hin, aber „gibt es keinen Schickungsort vor der Ankunft?“ Womöglich also verrät die Postkarte nicht nur etwas über die Beziehung des Senders zum Empfänger sondern zugleich über das Senden als solches, über Absichten, offene und geheime, über Irrwege, über envois und détour. Das war meine erste Überlegung, die mir assoziativ in den Sinn kam, als ich darüber sinnierte, einen Text über Zirkulation zu schreiben. Zwar habe ich damit auch schon zur Sache gesprochen, andererseits aber auch daran vorbei, habe mich ge- oder verirrt. Aber man hat mich gelehrt, zunächst Situationen des Denkens zu ergründen, das Denken selbst, erst recht das Urteilen aufzuschieben, kurz und gut: meine eigenen Voraussetzungen zu hinterfragen, mein Begehren aufzuschreiben. Bei Fragen des Sendens und Empfangens könnte die Antwort sehr leichtfallen, ließe sich sämtliche Komplexität ignorieren und auf die antiquierte Dreifaltigkeit einer überholten Medientaxonomie verweisen: Absender-Botschaft-Empfänger (männlich, klar). Ich frage mich, wozu diese Vereinfachung dienen soll, außer einer Einführung von Lachsschnitten in die Zoologie, ist es doch gerade im Zusammenfallen dieser drei künstlich getrennten Pole, wo sich am meisten übers Senden und Empfangen lernen lässt; wer an wen, und vor allem natürlich warum, das ist doch das, worum es sich dreht. Das Verirren also als produktiv wahrzunehmen, nicht „the medium is the message“ oder so etwas, sondern im Verfehlen, Fehlen, Fehlleistung das Produktive zu ergründen. Um zur Kulturwissenschaft zu gelangen, musste ich anfangs in die Georgenstraße (wo sie dann bald hinzog, was meinen Weg zu ihr deutlich verkürzte) einbiegen, dann am Kupfergraben entlang, am Bode-Museum vorbei, Monbijoustraße, über die Oranienburger Straße hinweg, linkerhand die Synagoge, in die Krausnick-, über die Große Hamburger schließlich in die Sophienstraße. Num-
Jacques Derrida: Die Postkarte von Sokrates bis an Freud und jenseits – 1. Lieferung. Envois / Sendungen. Berlin 1989, S. 294. Vgl. Johann Huizinga: Aufgaben der Kulturgeschichte, in: ders.: Wege der Kulturgeschichte, Mü nchen 1930, S. 7–77, hier S. 72. Marshall McLuhan: The medium is the message. In: ders.: Understanding Media. The Extensions of Man. Cambridge 1994 [1964], S. 7–21. https://doi.org/10.1515/9783111233796-031
184 Jan Mollenhauer mer 22, zweiter Hinterhof. Hatte ich Zeit, ging ich zu doyoureadme – man bekam beim Kauf eines Magazins eine Postkarte dazu. Oder Kaffee und Teilchen bei jener Bäckerei, deren Name mir entfallen ist, aber die Älteren und Eingeweihten werden sich erinnern. Mir gefiel der Weg sehr, ich fühlte mich ganz als Student, Akademiker, Intellektueller (die Phantasien wechselten je nach Gemüts- und Witterungszustand). Jedenfalls so, wie ich mich bisher nicht gesehen habe, mich aber sehen wollte. Meine Strategie folgte der klassischen Hochstapler-Grammatik: möglichst schnell herauszufinden, was kanonisch ist, um das dann bei geeigneter Gelegenheit zu referieren, letztlich ein zum Scheitern verurteiltes Unterfangen, da es auf eine Zentralperspektive des Sprechens abzielt. Dabei bin ich es, der spricht. Die Zentralperspektive aber schien, wie mir dann bald aufging, schon länger abgeschafft, erst recht in der Sophien-, späteren Georgenstraße. Stattdessen gab es Leute in einem Raum und die redeten miteinander über das, was sie zur Lektüre bekommen und/oder gegeben hatten. Danach war man idealerweise schlauer. Nein, vielleicht hatte man eher gelernt, anders zu denken, das eigene Denken zu befragen anstatt Autoritätsformeln auswendig zu lernen. Wie Bernhard Siegert uns verständlich machte, handelt es sich bei Postkarten um „Autofrankierung“. Damit meint er, dass sich die Postkarte selbst verschickt, sie ist ein Postwertzeichen mit Notizfeld. Ihre Botschaft trägt sie offenherzig umher, sie plappert jeden an, der sie in die Hand bekommt. Wer könnte schon dem Drang widerstehen, sie umzudrehen? Mit und an ihr verschränken sich also Praktiken des Öffentlichen und des Privaten. Sie frankiert sich nicht nur selbst, sie markiert und destabilisiert zugleich Grenzen – lokal, zwischen hier, dort und dort drüben; personal, zwischen dir, mir und denen da; temporal, zwischen vorgestern, jetzt und etlichen morgen – und zwar im Handumdrehen. Zugleich spielt man mit ihr ein Vexierspiel zweier Seiten, denn nur eine Seite ist vor mir, während die andere, abgeschattet, auf ihr Wiederkommen wartet, auf dass ich sie empfange. Die Postkarte fungiert somit als psychoanalytische Praxis: Fort/Da in Aktion. Freuds Enkel Ernst hantiert mit dem Jojo, wobei er das Spielzeug abwechselnd über die Bettkante rollen lässt, was das Kind mit einem „Fort!“ quittiert. Beim Wiedererscheinen der Holzspule nach dem Heranziehen stellt es fest: „Da!“. Das Ganze spielt sich während der Abwesenheit der Mutter ab, was Sig-
Leider konnte mir auch das Internet nicht helfen; bei der Recherche fand ich heraus, dass sich da jetzt die Filiale einer Donut-Kette befindet. Bernhard Siegert: Relais. Geschicke der Literatur als Epoche der Post. 1751–1913. Berlin 1993, S. 167.
Geben und Nehmen 185
mund Freud dazu verleitet, im Spiel eine symbolisch-vorzeitige Bewältigung der maternalen Letalität zu sehen. Aber das Kind, Freuds Enkel, kann ebenso eine Herrschaft über die Mutter instituieren: Es bestimmt, wann die Muttermetonymie Holzspule auftaucht und wann sie zu verschwinden hat, das Oszillieren zwischen zwei Polen, zwischen Spannungslosigkeit und totaler Verfügbarkeit des Begehrten. Was wir hier beobachten können, ist der „Zirkel des Lustprinzips, das nach Gleichgewicht, nach Wiederherstellung seines geschlossenen Kreislaufs strebt und dem traumati schen fremden Körper des exzessiven Genießens.“ Natürlich, das muss einfach gesagt werden, beobachten wir Freud, wie er sein Privates ins Öffentliche zieht, an ihm wie an einem Forschungsobjekt seine Theorien entwickelt und exemplifiziert. Es gehört aber zu den hirnwindenden Denkwendungen der Psychoanalyse, dass Freuds Position eben nicht als Zentralperspektive daherkommt, sondern sich ebenso zur Beobachtung anbietet: Opa ist auch sichtbar. Insofern böte sich die Psychoanalyse auch nicht als Flaschenpost an, aber schon als Postkarte: Sie ist da ganz offen. Sie ist entstanden aus einer Praxis des Loslaberns und als Disziplin und Theorie macht sie auch genau da weiter, indem sie offenherzig ihre Konstruktionsprinzipien sowie die mannigfaltigen Subjektivitäten (Fallgeschichten) herzeigt, die sie hervorbrachten und immer noch, im Handumdrehen, herzeigbar sind. Das ist selbstbezüglich – als therapeutische Praxis (es geht um mich) wie als Theorie. In der Ökonomie des psychischen Apparates kommt dem Sendungsweg besonderes Gewicht zu, denn das Unbewusste schickt unentwegt Postkarten von uns (und anderen) an uns und vielleicht auch an andere. Diese Sendungswege nachzuzeichnen ist entweder eine Aufgabe persönlicher Reflexion, in wilder oder institutioneller Analyse, oder eines Arbeitens, das sich kulturwissenschaftlich und psychoanalytisch zugleich nennt. Dabei fand ich, wie so viele vor, mit und nach mir, heraus, dass Denken im engeren Sinne im Modus des „immer schon“ stattfindet, eine Unhintergehbarkeit, die sich in das Denken eingeschrieben hat, bevor wir einen Begriff davon hatten. Dank der Psychoanalyse haben wir nun wenigstens einen Begriff von
Sigmund Freud: Jenseits des Lustprinzips. In: Anna Freud u.a. (Hg.): Gesammelte Werke, Band 13, London 1940 [1920], S. 2–70, hier S. 11–15. Slavoj Zizek: Jenseits des Fort-Da-Prinzips, in: Der Freitag, online https://www.freitag.de/ autoren/der-freitag/jenseits-des-fort-da-prinzips (zuletzt aufgerufen am 19.10.2022). Vgl. Jean Laplanche: Von der eingeschränkten zur allgemeinen Verführungstheorie. In: Jean Laplanche, Die allgemeine Verführungstheorie und andere Aufsätze. Tübingen 1988, hier S. 199–233.
186 Jan Mollenhauer dieser Unhintergehbarkeit: „Kein Weg ohne Umweg: der Umweg überkommt nicht den Weg, er konstituiert ihn, er bahnt ihn sogar.“ Meine Aufgabe darin kann nur die „Dekonstruktion der alten Konstruktio nen“ sein. Was ich dachte, gehört stets auf den Prüfstand, denn in der Zwischenzeit war ich Ziel von Affekten und Gedanken, die mich – vielleicht irrigerweise – erreichten. Eine Postkarte vermag ein Eigenleben zu entwickeln, eine operationale Potentialität. Sie trägt in sich eine Vielzahl möglicher Sendungswege und damit einen schier endlosen Empfangskreis. Nicht das Ich ist Herr im Sendehaus. Insofern ist es schon fast egal, was draufsteht, sie kommt an, ob ich will oder nicht. Der erste Empfänger bin ich selbst, wenn ich noch einmal lese, was jeder lesen kann, meine Botschaft an die Empfängerin, deren Adresse ich selbst empfing – als Angebot, ihr einen Gruß zu übermitteln. Aber wer diese meine Botschaft liest, das liegt nicht mehr in meinen Händen. Es ist raus, kann analysiert werden und diese Analysen können ihren Weg zu mir zurückfinden. Ein (potentiell) gigantisches intersubjektives Aufschreibesystem, durch das mein Begehren zur mir zurück zirkuliert – als verfremdetes und daher umso deutlicheres. Hoffentlich habe ich dabei trotz oder wegen all der Unübersichtlichkeit, der notwendigen Heteronomie meiner Lust, etwas gelernt: Eine Art zu denken, psychoanalytische Kulturwissenschaft, bei der wir alle immer schon Empfangende sind, eine Denkart, bei der es auf mich ankommt; eine Denkart, die ich empfing und die ich zurückschicke. Mitlesen notwendigerweise erlaubt.
Jacques Derrida: Die Postkarte von Sokrates bis an Freud und jenseits – 2. Lieferung. Spekulieren – über/auf „Freud“. Berlin 1987, S. 38. Jean Laplanche: Deutung zwischen Determinismus und Hermeneutik. Eine neue Fragestellung. In: Die unvollendete kopernikanische Revolution in der Psychoanalyse, Frankfurt a. M. 1996, S. 142–176, hier S. 171.
Sich empfänglich machen: Techniken und Gesten
Erhard Schüttpelz32
Die menschlichen Leidenschaften, der einzige unersetzliche Verlust und die Flüchtigkeit des Lebens Das französische Original liegt mir momentan nicht vor, aber der Gedanke ist so bestechend, daß er zwei unterschiedliche und auffallend unbeholfene Übersetzungen verdient: Im Maßstab der Jahrtausende sehen sich die menschlichen Leidenschaften zum Verwechseln ähnlich. Die Zeit fügt den von den Menschen empfundenen Gefühlen, der Liebe oder des Hasses, ihren Verpflichtungen, ihren Kämpfen und ihren Begierden weder etwas hinzu, noch nehmen sie ihnen etwas: einst wie heute sind es stets dieselben. Aufs Geratewohl zehn oder zwanzig Jahrhunderte Geschichte auszulöschen, würde unsere sinnliche Kenntnis der menschlichen Natur nicht tangieren. Der einzig unersetzliche Verlust wäre der der Kunstwerke, denen diese Jahrhunderte das Leben geschenkt haben. Denn die Menschen unterscheiden sich und existieren sogar nur durch ihre Kunstwerke. Wie die Holzstatue, die einen Baum gebar, sind sie der Beweis dafür, dass sich im Laufe der Zeiten unter den Menschen tatsächlich etwas ereignet hat. Im Maßstab von Jahrtausenden gesehen, verfließen die menschlichen Leidenschaften ineinander. Die Zeit fügt den Liebes- und Hassregungen der Menschen nichts hinzu, noch entzieht sie ihnen etwas, ihren Verstrickungen, ihren Kämpfen und ihren Hoffnungen: es sind, einst und heute, immer dieselben. Die zufällige Unterdrückung von zehn oder zwanzig Jahrhunderten Geschichte beeinträchtigte unsere Kenntnis des Wesens der Menschen nur unmerklich. Der einzige unersetzliche Verlust wäre der Verlust an Kunstwerken, die diese Jahrhunderte hätten entstehen sehen. Denn die Menschen unterscheiden sich nur, ja, existieren überhaupt nur durch ihre Werke. Wie die Holzstatue, die einen Baum zur Welt brachte, liefern allein sie den Beweis, daß sich im Laufe der Zeiten unter den Men schen wirklich etwas ereignet hat.
Diese Sätze bilden den jeweiligen Abschluss einer Reflexion zur Rolle des Künstlers in außereuropäischen Gesellschaften, mit Varianten zum Pygmalion-Mythos in einer Gesellschaft an der Nordwestküste Nordamerikas, dem einzigen Gebiet, zu dessen Kunstgeschichte Claude Lévi-Strauss eine monographische
Claude Lévi-Strauss: Wir sind alle Kannibalen. Mit dem Essay „Der gemarterte Weihnachtsmann“, Vorwort von Oliver Olender, übers. v. Eva Moldenhauer. Berlin 2014 [frz. 2013], S. 129. Claude Lévi-Strauss: Sehen Hören Lesen. Übers. v. Hans-Horst Henschen. München 1995 [frz. 1993], S. 172. https://doi.org/10.1515/9783111233796-032
190 Erhard Schüttpelz Arbeit beigesteuert hat. Dort waren die Fähigkeiten der Holzbehandlung derart alltäglich und zugleich ausgefeilt, dass Schnitzen, Bildhauerei und Schreinerei eine virtuose Synthese hervorbrachten, in deren Mitte der mythische Gedanke nahe lag, aus Holzstatuen seien – über die Vermittlung ihrer Vermenschlichung – Bäume geworden. Aber diese Inversion ist bei Claude Lévi-Strauss nur ein Anlass, um einen seiner trickreichen Gedanken zu entwickeln, der Züge einer typischen Bastelarbeit aufweist: Hier wird ein Gemeinplatz variiert, durch eine gekonnte Umkehrung. Ars longa vita brevis: vom kurzen Leben und der langen Dauer der Kunst. Das menschliche Leben ist kurz, nein, das menschliche Leben ist unsterblich, denn es bleibt sich selbst gleich. Die Menschen und ihre menschlichen Beziehungen haben sich nicht verändert. Wenn es eine menschliche Natur gibt, dann können wir erwarten, dass wir sie quer zu den Zeiten und Orten wiedererkennen, in Liebe und Hass, Sympathie und Ressentiment. Für immer. Die Kunst überdauert die Zeiten ebenfalls, aber nicht, weil sie sich gleichbleibt, sondern weil sie der Mode unterliegt und sich permanent wandelt. Sofern die menschlichen Leidenschaften in der Kunst eine Darstellung finden, gewinnen sie durch die Kurzlebigkeit der Kunst eine historische Abwechslung. Sie werden einmalig und unwiederholbar, oder erscheinen so. Nur durch diese Variabilität unterscheiden sich die Menschen voneinander und gelangen zu einer eigenständigen Existenz. Nur deshalb gibt es Geschichte und eine abwechslungsreiche Geschichte der Menschheit. Dieser Blickwinkel spricht aus dem Museum und aus dem Archiv. Er spricht aus einer ethnographisch-kontrastiven und historischen Ausstellungspraxis des Vergleichs: Wenn zehn oder zwanzig Jahrhunderte ausfallen, nicht bearbeitet werden oder nicht überliefert sind, dann wissen wir, dass uns eine künstlerische Überlieferung fehlt: keine Ausgrabung ohne künstlerische Überraschung. Er spricht aber auch aus der Kunsterfahrung der Moderne und ihrer Moden: Wenn wir Saison für Saison etwas Neues erlebt haben, was ist dann kurzlebiger, die Mode oder unser Leben? Sicher, die Kunstmoden wandern ins Archiv und ins Museum und werden uns überdauern. Und am Ende laufen wir der nächsten Generation hinterher, die nie im Ratinger Hof war, aber die Deutungshoheit über die BRD Noir für sich beansprucht. Und wir waren doch nichts anderes gewesen als BRD Noir, und können es immer noch nicht artikulieren. Wie schockgefroren sind wir Teil einer Generation und ihrer Geschichte geworden, deren Deutung uns ausspuckt wie das laue Wasser, das weder heiß noch kalt genannt zu werden verdient. Und wenn wir aus Versehen einmal die drittklassige Kunst zu Gesicht bekommen, die anlässlich einer vergangenen Mode gestaltet worden ist, dann haben wir das deutliche Gefühl einer obsolet gewordenen Zeit, und erleben den Anschein einer Erfahrung der Art, dass man sich das damals „so vorge-
Die menschlichen Leidenschaften 191
stellt hat“, und dass diese drittklassige Kunst aufgrund ihrer Subjektivität im Grunde ein Missverständnis darstellt, und dass wir etwas Besseres gewohnt sind und daher auch mehr von der Sache verstehen als die damaligen Zeitgenossen. Wir gehen davon aus, dass uns die Beste, nur die allerbeste Kunst erhalten geblieben ist, und dass diese beste Kunst überdauern wird, und wir wissen, dass unser Geschmack an dieser Konzeption geschult worden ist. Aber wir wissen auch, dass diese Konzeption nur einen winzigen Ausschnitt bildet, wenn wir das gesamte Kunstschaffen der Gegenwart als Summe betrachten würden. Unsere Option für die radikalen Ausschnitte, die wir durch Moden und für vergangene Moden bilden, beweist, dass wir die Verschiedenartigkeit wollen, die maximalen Kontraste, und nicht die Auflösung des Kanons in ein Meer von verwandten Erscheinungen, die uns an der Einzigartigkeit des Überlieferten zweifeln ließen. Deswegen sollte man sie immer wieder einmal in geballter Fülle ausstellen: die Pop-Art-Schwemme am Ende der 1960er Jahre, die Salonkunst der angeblich vom Impressionismus geprägten Epoche um 1900. Dann stellen wir schmerzlich fest, wie sehr wir uns über die Ziele und Absichten der damaligen Zeit geirrt haben, wie wenig wir die historischen Grundlagen unserer eigenen Geschmacksbildung und vor allem der von uns hofierten Einzigartigkeiten verstehen. Ja, unsere Kunstgeschichte ist eine einzige Verzerrung, denn historisch gesehen, ist genau das für eine Epoche repräsentativ, was wir uns nicht näher anschauen wollen. Was die Künste betrifft, können wir mit Fug und Recht behaupten: Geschichte ist ein Irrtum. Aber in unserer Gegenwart könnten wir ohne Schwierigkeiten umgekehrt vorgehen und der Mode vertrauen. Wenn wir jung sind, tun wir das ohnehin, nur um dieser Mode unser ganzes Leben lang nachzutrauern. Und das nicht nur, weil wir uns in unsere Jugend zurückwünschen, sondern auch, weil sie das Versprechen in sich barg, für immer das zu fixieren, was wir empfanden und anderen begreiflich machen wollten. Es hat keinen Sinn, diese Empfindlichkeit im einzelnen zu rekonstruieren, denn das wäre nur ein nostalgisches Unternehmen. Sicher, die „Recherche“ ist geschrieben worden. Aber der komplementäre Roman, der dem Diktum Kierkegaards entspricht - „Die Erinnerung macht unglücklich, die Wiederholung macht glücklich.“ – ist nie geschrieben worden, es sei denn, dieser Roman wäre von Claude Lévi-Strauss und hieße „Mythologiques“. Schonen wir daher seinen Autor nicht, sondern überprüfen wir sein Kunstund-Leben-Postulat an seiner eigenen Relation von Kunst und Leben. LéviStrauss befand sich im Zentrum eines Wirbels, aus dessen Turbulenzen Theorien zu Mode-Erscheinungen wurden. Von heute aus gesehen ist der Strukturalismus tot und Lévi-Strauss ein ebenso provokativer wie tiefgründiger Wissenschaftler, der immer noch einen Joker mehr im Ärmel hatte als jeder andere, aber auch
192 Erhard Schüttpelz mehr als einmal zu viel rechtbehalten wollte, und zwar, wie es scheint, aus einem Temperament heraus, das ihm keine andere Wahl ließ, als seine eigene Überlegenheit zu demonstrieren. Heute kann es so scheinen, als sei der Strukturalismus an Lévi-Strauss das Unwichtigste gewesen, und das Bleibende die überbordende Fülle seiner Strukturierungsvorschläge, die Vielschichtigkeit und der Einfallsreichtum einer sich ständig wandelnden Persönlichkeit. Es scheint, als sei der Strukturalismus für Lévi-Strauss nur ein Gehäuse gewesen, das ihm gute Dienste als Gelehrtem leistete, ein kunstvolles Gelände aus Angriffs- und Verteidigungslinien, um eine einzigartige Persönlichkeit zu schützen, die sich posthum wieder in ihrer spekulativen Gedankenfreiheit zu erkennen gibt, in einer Vielschichtigkeit, die sie durch das Labyrinth ihrer Scheingefechte vor allen ernsthaften Nachstellungen geschützt hat, und dem der Autor, der ein untrügliches Auge für die innere Widersprüchlichkeit von Sozialbeziehungen, kulturellen Traditionen und politischen Forderungen besaß, die Diagnose einer gelegentlichen Beimischung inkonsistenter Ansprüche kaum versagt hätte. Theorien können betören und verblüffen, aber dann ist es ihre Artistik, die wir bewundern, und nicht ihre Erkenntnisleistung, und manchmal sogar ihr bloßer Bluff. Wenn unsere Lieblingsmusiker sterben, spielen wir ihre Lieder und weinen; und nur wenn Theorien für uns zu Liedern geworden sind, können ihre Protagonisten auf einen ähnlichen Anklang hoffen. Lévi-Strauss kam aus einer Komponistenfamilie und träumte davon, seine Mythologiques seien ein musikalisches Vorhaben. „Er träumte, was für einen Gelehrten ungewöhnlich genug ist, von einem musikalischen Ruhm.“ Könnte es ein schöneres Epitaph geben? Es kann gut sein, dass Lévi-Strauss für diesen Traum auf die Wissenschaftlichkeit seines Unternehmens im Laufe der langen Arbeit an den Mythologiques mehr und mehr verzichtete (die Zeitgenossen hatten einen ähnlichen Verdacht). In seiner Bearbeitung des Gemeinplatzes vom Baum im Holz schwingt das mit. Nur Kunstwerke sind Ereignisse, sie sind flüchtige Erfahrungen, die sich wundersam fixieren und auf diese Weise ihre Verschiedenartigkeit und die des Menschen enthüllen. Rasch geht das Leben vorbei und es bleibt nur die Kunst. Nein! Nichts flüchtiger als die Kunst und zählebiger als das menschliche Leben. Die Verblüffung über diese kunstvolle Umwertung der alten Kunstmetaphysik hält allerdings nur den Bruchteil einer Sekunde an, denn auch aus dem Museum und dem Archiv regen sich die Gegeneinwände: Was ist mit der Technikgeschichte? Ist sie Kunst? Und was ist mit den Ritualen? Sind sie Werke? Gibt es nicht jede Menge flüchtige Künste und ereignisreiche Technikgeschichten, und ist die Liste der vergänglichen Techniken nicht länger als die der permanenten künstlerischen Monumente?
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Technikgeschichte ist akkumulativ geordnet und datiert die Geschichte ohne schriftliche Überlieferungen am genauesten; die Geschichte der Rituale ist vielleicht zeitlos, aber ebenso abwechslungsreich wie die der Künste und Moden und kennt keine Akkumulation. Es sind also nicht die „Werke“, die alleine eine Abwechslung und Kreativität ausmachen, die uns existieren lassen, und es ist nicht die „Kunst“, die uns als einzige zur Geschichte befähigt. Diese Komplikationen führen uns zu einer anderen möglichen Vermittlung zwischen dem Abwechslungsreichtum der Künste und dem unwandelbaren Leben der Leidenschaften und Gefühle. Es gibt eine unwandelbare ritualistische Form, die sich in allen Zeiten manifestiert und mit deren Hilfe wir die Künste verstehen, auch wenn wir sie auf Anhieb missverstehen und uns nur das Gefühl des Verstehens zu weiterer Kennerschaft antreibt. Wir verstehen die Künste besser als die Techniken, und die Künste in jeder technischen oder technologischen Verfassung, aber nur weil wir sie von Anfang an verstanden und missverstanden haben. Das Finale der Mythologiques beweist, dass Lévi-Strauss vor dieser anderen Unwandelbarkeit der menschlichen Leiden und Leidenschaften Angst hatte, und dass er sie mit einem Bannfluch belegte, um sich auf den Ereignisreichtum der mythologischen Künste zu konzentrieren. Victor Turners leichtfertiger Umgang mit dem Vokabular von „Struktur“ und „Antistruktur“ stieß dem Erzstrukuralisten übel auf, und er bemühte sich nach Kräften, den Usurpator aus seinen theoretischen Überlegungen, und das Ritual aus der Epistemologie zu verjagen. Aber es hilft alles nichts: Es sind die von Arnold van Gennep diagnostizierten „rites de passage“ , in der sich die Ewigkeit und die Flüchtigkeit der menschlichen Künste und Leidenschaften begegnen und bis zur Ununterscheidbarkeit vermischen. Es ist die von Victor Turner aus van Gennep extrahierte „Liminalität“ , die wir auf Anhieb in der Kunst verstehen, aber auch in fremden Ritualen, auch dort, wo uns die Sozialbeziehungen und Machtbeziehungen fremd bleiben, abstoßend oder verlockend fremd und undurchsichtig. Auch Edmund Leach, der unbestechlichste Bewunderer des strukturalistischen Meisters, fand nichts anderes heraus, als er seine Frage nach der Universalität außereuropäischer Kunst – oder ihrer Musealisierung – stellte: Künste sind Schwellen zu Schwellenwerten. Selbst wenn wir am Eingang stehen bleiben und nur aus der Ferne einen Blick
Claude Lévi-Strauss: Mythologica IV. Der Nackte Mensch. Übers. von Eva Moldenhauer. Frankfurt a. M. 1975 [frz. 1971], S. 783—793. Vgl. Arnold van Gennep: Übergangsriten. Frankfurt a. M. 2005 [frz. 1909]. Vgl. Victor W. Turner: Betwixt and Between. The Liminal Period in Rites de Passage. In: June Helm (Hg.): Symposium on New Approaches to the Study of Religion. Proceedings of the 1964 Annual Spring Meeting of the American Ethnological Association. Seattle (WA) 1964, S. 4—20.
194 Erhard Schüttpelz in die fremden Paläste, auf ihre Altäre oder Fadenspiele werfen, verstehen wir, dass es sich um Schwellen handelt, und dass diese Zonen von Schwellenwesen bevölkert sind. Ist diese Zone selbst eine Kunst, ist sie eine Lebenserfahrung, ist sie das Leben? Sagen wir, sie sei alle drei. Sie ist künstlerisch, sie manifestiert sich in heftigen und langandauernden Leidenschaften und ruft sie hervor. Aber sind diese Leidenschaften dann weniger geschichtsträchtig oder modisch oder abwechslungsreich als die Kunstwerke? Wohl kaum. Wir geraten damit auf die Spur einer Relativierung der Antworten auf die Frage, welche Größen als immerwährend, modisch vorübergehend, als leicht verständlich und als schwierig und voraussetzungsreich theoretisiert werden sollten. Wie sollten wir das jemals entscheiden? Die tiefe Gläubigkeit religiöser Menschen ist nichts anderes als die Leichtgläubigkeit der Gegenwart und aller Zeiten; die Sitten und Gebräuche, an denen einige wenige Gruppen über Jahrtausende festhalten, sind auch nur Verhaltensmodi und Verhaltensmoden wie andere auch, und sind bei uns vielleicht psychopathologisch verfemt oder als Straftat kriminalisiert. Umgekehrt gilt: Unser Begriff des Eigentums und unsere materielle Akkumulation von Gegenständen war und bleibt für andere Kulturen derartig unbekannt und widersinnig, daß selbst die Kombination von Kriminalität und Psychopathologie nicht ausreicht, um den Tatbestand zu umreißen. Und mit dieser Eskalation des persönlichen Eigentums und seiner materiellen Kultur, die historischen wie rezenten Wildbeuterkulturen ganz und gar fremd war und ohne die wir unseren Alltag weder bewältigen noch denken könnten, kommen wir zur vierten, von Lévi-Strauss ungenannten Größe: der technischen Entwicklung. Vor den Techniken waren die Körpertechniken, und diese Techniken partizipieren an allen drei Ecken der Fragestellung: sie werden künstlerisch gestaltet, sie unterliegen einer emotionalen Anfälligkeit und Gestaltbarkeit, und sie stehen rituellen Abläufen nahe oder sind sogar Anlass eigener ritueller Verrichtungen. Wir kommen der Lösung des Rätsels immer näher. Wird es sich uns entziehen? Versuchen wir, das Rätsel erst einmal gedanklich zu lösen, und nehmen wir ein Beispiel hinzu. Tätowierung ist eine Kunst, eine technische Körpermodifikation, sie unterliegt der Mode und ist so alt wie die Ausbreitung der Menschheit. Tätowierungen konnten weltweit dazu dienen, den Weg zur Unsterblichkeit der Ahnen zu beschreiten, oder das Heilige zu inkorporieren, das, was über die Einzelperson hinausreichte und ihn oder sie in
Vgl. Edmund R. Leach: The Gatekeepers of Heaven (1983) In: ders.: The Essential Edmund Leach. Vol. II: Culture and Human Nature, hg. von Stephen Hugh-Jones und James Laidlaw. New Haven und London 2000, S. 119–140.
Die menschlichen Leidenschaften 195
den Zusammenhang einer überdauernden Einheit stellte. Tätowierungen konnten aber auch das sterbliche Leben betonen, den Weg in den unausweichlichen menschlichen Ruin, eine Rebellion, die sich nur durch ihr Scheitern in Würde und Ehre einhüllte, durch das Aufbäumen vor dem endgültigen Fall. Die körperliche Grundlage der Tätowierung war dieselbe: der Schmerz der großflächigen Abschürfungen, der Heilungsprozess und die tote Hautfläche der gefärbten Partien. Die Erfahrung dieser drei war in dem einen Weltbild plausibel, und in dem anderen auch: die unsensible Hautpartie verband einen mit den überdauernden Ahnen oder Göttern; oder sie war ein Teil der Mortifizierung, der eigenen und jemeinigen Sterblichkeit. Die Erfahrung, wenn man so will, war dieselbe, die Interpretation grundverschieden. Oder sollte man auch hier nachfragen, durch den von Lévi-Strauss ausgeübten Vertauschungstest? Die Interpretation war dieselbe, nur diametral entgegengesetzt, die körperliche Erfahrung war grundverschieden? Einmal die Erfahrung des Irreparablen, der Vergänglichkeit, ein andermal die Erfahrung, dass im eigenen Körper der Ahne erscheint, der nach dem eigenen Tod aus der eigenen Person gemacht werden soll. Beides mortifiziert uns, beides können wir durch die Tätowierung erfahren, denn die tätowierte Haut ist kalt und unempfindlich und lebt nicht mehr, außer durch unsere Empfindlichkeit für diese Differenz. Wir geraten an den Rand dessen, was wir mit diesem simplen Spiel sagen können. Außerdem haben die Modernen die Einheit von „Kunst“ und „Technik“ ein für alle Mal auseinanderdividiert, und diese Einheit würden wir für das Gedankenspiel dringend benötigen. Bleiben wir bei unserer Argumentation: Zwischen den vielfältigen Kunstmoden und der überwältigenden Vielfalt der Kunstformen, und der Unveränderlichkeit der menschlichen kognitiven, körperlichen und psychosomatischen Natur vermitteln die biographische Erfahrung und die rituelle Gestaltung der Liminalität. Sie geben uns keinen Leitfaden, aber ein Gefühl der Wiedererkennbarkeit, das uns in Verwechslungen führen kann, aber auch in eine Nachahmung und Aneignung der fremden Künste und der fremden Emotionalität. Körpertechniken und auch ästhetische Körpertechniken laborieren an der Unverständlichkeit der fremden Schönheit. Aber wir wissen, dass wir nur einen Körper haben, und dass die körperlichen, psychosomatischen, geistigen Erfahrungen dieselben bleiben, und ihre Verschiedenartigkeit nur durch Kunstausübung hervortreten kann. Das Fazit ist zweifelsohne vorläufig, es ist an die Vernunft der Vorläufigkeit gebunden und muss daher vorläufig bleiben. Nur die vorläufige Einsicht ist vernünftig, und daher kann es sein, dass sie selbst auch nur auf vorläufige Weise vernünftig ist. Das Gemeinsame und die gemeinsame
Alfred Gell: Wrapping in Images. Tattooing in Polynesia. Oxford 1993.
196 Erhard Schüttpelz Erfahrung bleiben unterdeterminiert und damit vage, wenn man sie fixieren will; und sie werden in ihrem flüchtigen und von äußeren Faktoren abhängigen Verlauf präzisiert und nur dort. Wir können das Gemeinsame durch Kunstwerke, Theorien, Körpertechniken, Diagnosen fixieren, wir können es transponieren und transkribieren; und in diesem Moment tragen wir zur Vielfalt und Flüchtigkeit der Welt und ihrer Menschheit bei. Es bedeutet keinen Schaden, das Universale der Kunst, der Menschheit, der Technik zu fixieren, ja es in der Kunst selbst zu reduzieren, denn jede Reduktion kann zum Reichtum der Künste beitragen; und die Suche der menschlichen Institutionen nach Unsterblichkeit, nach dem, was die Generationen überdauert, schafft nicht deshalb etwas Unsterbliches, weil es das Überdauernde fixiert hat, sondern den flüchtigen Augenblick eines für alle damaligen Insider wenig spektakulären Gebrauchs, im Vorbeilaufen aus den Augenwinkeln erspäht und notdürftig fixiert. Wenn die Flüchtigkeit der Moden die Kunstwerke zum Gefühlsleben erweckt wie den zum Leben erwachten Baumstamm der Nordwestküste, dann deshalb, weil die Flüchtigkeit der Gefühle zur Technik werden konnte und kann – zu einem technischen Gegenstand, zum technisch zugerichteten Gefühl, zur rituellen Erstarrung und Belebung, mit einem Wort: zur Pathosformel.
Jasmin Mersmann33
Begabt – begeistert – besessen Szenarien der Eingebung „Höhere Wesen befahlen: obere rechte Ecke schwarz malen!“ Mit diesem auf das Gemälde selbst gesetzten Protokoll seiner Entstehungsgeschichte konterkariert Sigmar Polke romantische Vorstellungen von Inspiration ebenso wie die moder ne Genieästhetik (Abb. 1). Der Künstler ist weder ein begeistertes Medium noch ein aus sich heraus schöpferisches Ausnahmeindividuum, sondern ein Befehlsempfänger, der Anweisungen von oben korrekt ausführt. Die rechte Ecke ist schwarz, der Lack schluckt jeden Pinselduktus, gemalte Schreibmaschinenlettern ersetzen die Künstlerhandschrift. Auf welche Weise der Befehl übermittelt wurde, bleibt offen. Das Schwarz bedeckt just die Region, aus der traditionell das Absolute wirkt. Die Kunstgeschichte ist dagegen reich an Inspirationsszenarien: Tauben zwitschern ins Ohr von Schreibenden, Licht strahlt auf ihre Köpfe, Engel führen die Hand von Evangelisten, Musen küssen die Wange von Dichtern oder befähigen Künstler zur Prokreation, Genien beleben die Imagination mit Posaunen, Dämonen bedienen sich gern eines Blasebalgs, um Menschen Trugbilder in den Kopf zu setzen. Der Effekt auf die Empfangenden zeigt sich in ihren Körpern – gesträubtem Haar, flatternden Gewändern, glänzenden Augen, geröteten Wangen. Letztlich handelt es sich bei all diesen Figurationen um Versuche, mit der Blackbox Kreativität umzugehen. Wir können Künstler:innen nicht in den Kopf, nur über die Schulter schauen. Wir können ihre Arbeitstechniken beobachten, sie nach ihren Ritualen befragen, ihre Werkstätten, Atelierbilder oder Selbstporträts betrachten, wir können dem Eigensinn ihrer Materialien nachspüren, ihre Vorbilder oder ihre Skizzen studieren. Wieviel an dem Prozess ist aktiv, wieviel passiv; wieviel empfangen, wieviel erarbeitet; wieviel geplant, wieviel
Vgl. Martin Hentschel: Solve et Coagula. Zum Werk Sigmar Polkes. In: Britta Schmitz (Hg.): Sigmar Polke. Die drei Lügen der Malerei, Ausst.-Kat. Ostfildern 1997, S. 41–95, bes. S. 65–67. Vgl. u.a. Irving Lavin: Divine Inspiration in Caravaggio’s Two St. Matthews. In: The Art Bulletin 56 (1974), H. 1, S. 59–81; Ulrich Pfisterer: Kunst-Geburten. Kreativität, Erotik, Körper. Berlin 2014; Michael Cole: The Demonic Arts and the Origin of the Medium. In: The Art Bulletin 84 (2002), S. 621–640, hier S. 625. Alexander Markschies: „Höhere Wesen befahlen: rechte obere Ecke schwarz malen!“. Der Künstler und der Kuss der Muse. In: Hermann Parzinger, Stefan Aue und Günter Stock (Hg.): ArteFakte. Wissen ist Kunst – Kunst ist Wissen. Bielefeld 2014, S. 135–144, hier S. 136–137. https://doi.org/10.1515/9783111233796-033
198 Jasmin Mersmann zufällig? Oder: Wie aktiv ist das Warten, wie passiv die Planung, wieviel Arbeit steckt im Empfangen?
Abb. 1: Sigmar Polke, Höhere Wesen befahlen, 1969, Lack auf Leinwand, 150 x 125,5 cm, Sammlung Froehlich, Stuttgart © Bildrecht, Wien 2023.
1 Begeisterung In der Antike wurde der Begriff inspiratio nur im medizinischen Kontext für das „Einhauchen“ oder „Einatmen“ verwendet. Das christliche Latein bezeichnet damit den göttlichen Hauch oder Geist (spiritus), der Menschen, aber auch Tex te, durchweht. Die ekstatische Dimension des dichterischen enthousiasmós, der Besessenheit durch einen Gott, wurde damit diszipliniert, die menschliche Autorschaft minimiert. Der Wortherkunft entsprechend stehen die meisten Figurationen von Inspiration in Zusammenhang mit Luft: sie tragen Flügel und nutzen Blasinstrumente oder Pumpen, um den Hauch technisch zu erzeugen. Eingege-
Vgl. Christoph Markschies: „Nenne mir, Muse...“ oder „Komm Gott, Schöpfer, Heiliger Geist“? Inspiration, heidnisch wie christlich. In: Parzinger, Aue und Stock (Hg.): ArteFakte, S. 99–109.
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ben wird der Spiritus durch Körperöffnungen, v.a. das Ohr, aber auch Mund und Nase. Die Begeisterung verläuft damit analog zur Besetzung von Menschen durch Dämonen – mit ganz ähnlichen Symptomen. In beiden Fällen spricht ein Anderer aus dem Mund, in beiden Fällen oszilliert der Zustand zwischen Aktivität und Passivität. Der Geist kommt plötzlich und ungerufen, die Empfangenden aber sind entsprechend veranlagt. Ein Scharnier zwischen Begeisterung und Besessenheit ist die Melancholie. Sie disponiert zu lebhafter Imagination, galt aber zugleich als ein „dem Teufel bereitetes Bad“ (balneum diaboli). So allgegenwärtig der Begriff heute ist – auf die bildenden Künste wurde „Inspiration“ erst spät übertragen. Im 15. Jahrhundert allerdings etablierte sich das Konzept des furor als einer von Gott, aber auch von Wein oder Liebe ausgelösten Begeisterung, die es durch Regeln produktiv zu machen galt. Zeitgenössische Stimmen schwanken zwischen Bewunderung und Skepsis und zwischen dem Wunsch nach transzendenter Legitimation und künstlerischen Autonomieansprüchen. Mit der Genieästhetik schwingt das Pendel in Richtung Autonomie: Goethe verortet die schöpferische Kraft allein im Menschen; Sulzer beschreibt „Begeisterung“ 1771 als Zustand, in dem „das Genie wie von einer göttlichen Kraft geleitet“ arbeitet und Gedanken „ströhmen, als wenn sie von einer höhern Kraft eingegeben würden“. Der Vorbehalt markiert die aufgeklärte Distanzierung von der Inspirationsästhetik. Mit der Romantik allerdings schwingt das Pendel zurück, Inspiration erscheint nun wieder als Got tesgabe. Auf der anderen Seite aber wird sie pathologisiert: Paradigmatisch dafür sind die Künstlergestalten E.T.A. Hoffmanns – eher heimgesucht als begnadet, eher besessen als begeistert. In der Moderne verlegt sich die Quelle der Inspiration schließlich häufig ins Unbewusste oder Okkulte. Die schwedische Malerin Hilmar af Klimt etwa verstand sich als Medium astraler Geistwe sen. Die vom Taoismus beeinflusste Malerin Agnes Martin hingegen erklärt 1976: „Inspiration comes from a clear mind. Right straight through. We have nothing to do with it.“
Grundlegend dazu: Anna Magnago Lampugnani: Furor. Vorstellungen künstlerischer Eingebung in der Frühen Neuzeit. München 2020, bes. S. 14. Johann Georg Sulzer: Begeisterung. In: Allgemeine Theorie der schönen Künste. Bd. 1. Leipzig 1791, S. 136–142, zit. S. 137 (meine Hervorheb.). Zum Übergang von Genie- zu Inspirationsästhetik vgl. Ernst Osterkamp: Romantische Inspirationsszenen. In: Parzinger, Auge und Stock (Hg.): ArteFakte, S. 125–134, bes. S. 126–128. Vgl. Julia Voss: Hilma af Klint – „Die Menschheit in Erstaunen versetzen“. Biographie. Frankfurt a. M. 2020. Agnes Martin im Interview mit Kate Horsfield 1976, vgl. https://www.vdb.org/titles/agnesmartin-1976-interview (zuletzt aufgerufen am 19.10.2022).
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2 Eingebung ~ Arbeit Mehr als auf plötzliche Eingebung setzten frühneuzeitliche Autoren auf Arbeit. Voraussetzung für große Werke waren – neben dem angeborenen ingenium – vor allem studium und industria. Statt auf Inspirationen zu warten, galt es zu lesen, antike und moderne Vorbilder oder ‚die Natur‘ zu studieren und sich in künstlerischen Techniken zu üben. „Welche eingeflößte Kraft?“ (Che virtù infusa?) empört sich der Maler Guido Reni – seine „Gaben“ (doni) verdankten sich weder Eingebungen noch dem Schicksal, sondern einzig emsigem Studium und unablässiger Arbeit. Noch Rodin, der sich intensiver als jeder andere Bildhauer mit der Figur der Muse auseinandergesetzt hat, hat nur ein Credo: „Arbeit, Arbeit, Arbeit“. Etwa zeitgleich eröffnet der Schweizer Literaturnobelpreisträger Carl Spitteler seinen Kommentar Zur Psychologie des künstlerischen Schaffens mit einem originellen Plädoyer für den Fleiß – nicht als Gegenpol zur Inspiration, sondern als deren „Vorarbeiter und Bahnbrecher“. Statt auf eine Eingebung oder die richtige Stimmung zu warten, sei sie „zu ertrotzen oder anzulocken“. Die „Ureingebung“ komme zwar immer überraschend und nie an der Stelle, auf die man sich gerade konzentriere, „wohl aber rückwärts und vorwärts auf der Bahn des Werkes, und zwar in einer Menge, welche der Energie der Arbeit proportional ist.“ Die Formel {Eingebung}~ Energie der Arbeit umstellt der Autor mit Metaphern aus einer Welt zwischen Agrikultur und Moderne: Die Arbeit fungiert als „Pflug, der allerlei gute schlummernde Dinge aufrührt“, als Fischerin und als „Blitzableiterin“, die dabei hilft, „die Phantasie mit befruchtenden Elementen zu füllen, aus welchen sich eines unvorhergesehenen Augenblicks das Visionsbild entladet wie der Blitz aus der elektrizitätsschwangeren Atmosphäre.“ Auch im Arbeitsprozess interagieren aktive und passive Elemente. Hat sich die „Ureingebung“ einmal eingestellt, müsse sie reifen, bis sich „Untereingebungen“ von selbst ansetzen. Dann aber übernehme das Werk selbst die Regie: Es pflege „den Patienten derart zu beunruhigen, da[ss] es ihn zur Arbeit zwingt, ob er möge oder nicht“. Wie man sich eine solche Eigendynamik vorstellen
Carlo Cesare Malvasia: Felsina pittrice, vite de’ pittori bolognesi. Bd. 2, hg. von Giampietro Zanotti. Forni 2004, S. 22. Anne-Marie Bonnet: Der Künstler und der Kuß der Muse oder Inspiration als Versuchung. In: dies. u.a. (Hg.): Le Maraviglie dell’arte. Köln, Weimar, Wien 2004, S. 109–122, zit. S. 117. Carl Spitteler: Fleiss und Eingebung. Zur Psychologie des dichterischen Schaffens. In: Der Kunstwart 4 (1890/91), S. 113–115, hier S. 113. Spitteler: Fleiss und Eingebung, S. 113–114. Spitteler: Fleiss und Eingebung, S. 114.
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kann, zeigt ein Bericht des Schriftstellers Ray Bradbury, der morgens zum Zuschauer eines inneren Theaterstücks wird: „… meine Figuren reden miteinander, und wenn ein gewisser Grad an Aufregung erreicht ist, springe ich aus dem Bett, renne hinterher und fange sie ein, bevor sie weg sind“. In einem anderen Interview erklärt er: „Etwas Neues explodiert in mir und plant mich, ich plane es nicht. Es sagt: Geh sofort zur Schreibmaschine und vollende es.“ – Virtuelle Wesen haben befohlen. Das Werk selbst drängt auf seine Realisierung. Interessanter als die Frage ‚Woher kommen Eingebungen?‘ ist die, wie man sich für sie empfänglich macht. Agnes Martin leert ihren Geist; Bradbury horcht auf seine Romanfiguren; Spitteler legt mit Schreibarbeit Netze aus, „in welchen eines schönen Morgens die Visionen zappeln“. Manche lesen, andere dösen; manche arbeiten mit Zettelkästen, andere mit Mindmaps; manche kritzeln, andere experimentieren mit Materialien. Manchen kommen die Ideen beim Bügeln, anderen in der U-Bahn; manche brauchen Stille, andere Musik; manche Kaffee, andere bestimmte Kulis, die meisten: Austausch mit anderen. Nicht nur unser Schreibzeug arbeitet mit an unseren Gedanken.
Ray Bradbury in einem Gespräch mit Rob Couteau, dt. Übers. in: Mason Curry und Arno Frank: Mehr Musenküsse. Die täglichen Rituale berühmter Künstler, übers. von Anna-Christin Kramer. Zürich, Berlin 2015, S. 170. Ray Bradbury in einem Interview mit Sam Weller. In: Curry und Frank: Mehr Musenküsse, S. 170. Spitteler: Fleiss und Eingebung, S. 115. Ein breites Spektrum an Routinen versammelt Curry und Frank: Mehr Musenküsse.
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Ein Seitenblick auf die Figur Maria Der Iris Därmann gewidmete Sammelband betrifft die viele Bereiche durchquerenden Fragen nach den Kulturen und Medien, Gesten und Praktiken des Empfangens. Dazu gehören nicht nur mediale Fragen, sondern ebenso die sozialen Praktiken der Empfangenden und der Entgegennehmenden, die sich um Phänomene wie Gabe und Gastfreundschaft, um juristische und ethische Problematiken drehen. Werden diese weiten Gebiete in ihrer alltäglichen und theoretischen Brisanz angedeutet, so steht in dem kleinen einführenden Text der Herausgeber dann die provokante Frage des Widerstandes gegen das Empfangen, noch deutlicher und provokanter: die Frage was es mit einem möglichen renitenten Umgang mit der sozialen Praxis des Empfangens, mit dem Empfangen als soziale Praxis auf sich haben könnte. Im Horizont dieses Bedeutungsfeldes, das sich um das Empfangen als kulturelle Praxis auftut, fügt sich eine, gegenwärtig vielleicht eher unscheinbare Erzählung ein: ich meine den Mythos von Maria, die als Jungfrau den Gottessohn empfangen und zur Welt gebracht hat. „Wie soll das zugehen, da ich doch von keinem Manne weiß?“, so wird Marias erste, durchaus empörte Reaktion im Lukas-Evangelium festgehalten. Dann aber wendet sich das Blatt: Maria erscheint als die, welche sich in die Empfängerin des göttlichen Wunders verwandelt. Es sind nicht Worte, sondern es sind die Gesten des Empfangs, die den Mythos konturieren. Löst man jedoch den Mythos von seiner Referenz auf die christliche Tradition (wie Gunnar Schmidt es vorgeschlagen hat), so ergibt sich in der mythischen Erzählung eine nahezu übersehene und in der traditionellen Lesart verdeckte, jedoch in medialer Hinsicht weitreichende Frage. Zunächst einmal fällt auf, dass das mit dem Empfangen eng verbundene Motiv der ‚Verkündigung‘ weniger in Texten auftaucht, sondern im Modus bildlicher Darstellungen. Es gibt, zumal in der Zeit der Renaissance, zwischen dem 14. und dem 16. Jahrhundert, eine Unzahl von Verkündigungsbildern unterschiedlicher Gestaltung, die aber meist eine vergleichbare Bildarchitektur aufweisen. Ohne eine Analyse eben dieser Architektur auch in ihrer geschichtlichen Variation hier vorzunehmen, bezieht die Bilderfülle nicht zuletzt daraus eine Spannung, als sich das Motiv der Verkündigung durch absolute Unsichtbarkeit auszeichnet. Dieser Umstand verleiht den
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204 Marianne Schuller Bildern und dem Ansturm in ihren verschiedenen Formen und in ihrer Vielzahl eine besondere Bedeutung. Sie zeigen, dass das Numinose, das Entstehen nicht auf den penetrativen Akt verengt werden kann, sondern sich auch in anderer Weise repräsentieren kann und will. Nach den Bildern geht es insbesondere um eine berührende Atmosphäre, welche nicht zuletzt in der schwer fassbaren Beziehung zwischen Maria und dem Engel, und vor allem zwischen ihr und dem Erzengel Gabriel, entsteht, der als Abgesandter Gottes die Botschaft überbringt. Die in den Verkündigungsbildern verschieden gestalteten Flügel des Engels (die manchmal auch schmal zusammengelegt sind) lassen noch den Wind oder den Atem Gottes spüren, ihn gleichsam hüten. Das göttliche Diktum löst sich auf, indem es die Botschaft gleichsam in eine Praxis des Empfangens einhüllt. Und dann ist es noch das Luftwesen Taube, das sich dem Ohr Marias nähert, es berührt und, ohne dass wir es wissen, die Verkündigung empfängt. Die Bilder der Verkündigung, deren Blütezeit zwischen dem 14. und dem 16. Jahrhundert liegt, erzeugen eine Luftigkeit, eine Spürbarkeit von Atmen und Wehen und Hauch, so als würde das Bild für einen Augenblick eine Existenz der Schwerelosigkeit öffnen, die eben nicht an das bindende Wort mit seinen Botschaften geheftet ist. Julia Kristeva hat einmal von dem „stimmhaften Atem“ der Mutter gesprochen, von einer Sprache, die weniger eine Aussage als das Zeichen einer Präsenz ist. Dem korrespondiert der Umstand, dass Maria fast immer mit einem meist aufgeschlagenen Buch, der Bibel, dargestellt ist. Die Anwesenheit Gottes ist also an zwei sprachliche Medien geknüpft. Einmal an die von Gott gesandte Taube, die, ohne dass wir es hören, die Verkündigung der Geburt des Gottessohnes ins Ohr von Maria spricht. Einmal durch die Schrift, die der Verkündigungsengel (nicht immer, aber häufig) auf einem aus dem Munde hängenden Spruchband zeigt. Es scheint so, als würde mit der Verkündigung, die Maria empfängt, nicht nur das christliche Wunder in Gestalt des Gottessohnes zur Debatte stehen, sondern zugleich eine Neuregelung des Verhältnisses von Sprache und Erfahrung angedeutet. Denn, wie schon Gunnar Schmidt und in einem weiter gesteckten theoretischen Rahmen Julia Kristeva beobachtet haben, zeichnet sich Maria nicht zuletzt dadurch aus, dass sie das ihr stets beigegebene Buch nicht liest; es scheint geradezu, als würde sie keine Notiz davon nehmen. Diese Konstellation der Verkündigung ist also keineswegs eindeutig, sondern es entsteht in ihren eher gestreuten Elementen und Bezügen eine rätselhafte Anordnung, aus der kaum eine Botschaft präpariert werden kann. Eben diese schwer fassbare und nicht zur Ruhe kommende Konstellation gibt der Bild-Szene ihre Faszination. Julia Kristeva hat diesen Zug der konstellativen Darstellung des Empfangens auf das Moment der Abwesenheit von Sprache im Modus von
Ein Seitenblick auf die Figur Maria 205
Ankündigung hervorgehoben. Und hier ist wohl der Scheidepunkt, der das Bild in seinen verschiedenen Anordnungen, die sich vor allem durch das intensive und zugleich leere, wortlose Zusammentreffen von Maria und dem Engel, merklich-unmerklich von der christlichen Aussage trennt. Das Bild geht sozusagen eigene Wege, welche die sichere, geschlossene christliche Weltsicht verschieben. Diese Verschiebungen geschehen im stimmhaften Atem, der eine Figur des Anderen ist und zugleich eine Figur der Nähe. In den Geschichten von der Liebe heißt es bei Kristeva mit Blick auf die Jungfrau Maria: Von der hohen auf Christen bezogenen Sublimierung, die sie anstrebt und zeitweise übersteigt, bis hin zu den außersprachlichen Regionen des Unbenennbaren besetzt die Jungfrau Maria das riesige Territorium, das sich diesseits und jenseits der Klammer der Spra che erstreckt.
Die Stummheit oder besser Stille, die von den Bildern der Verkündigung ausgeht, die Tatenlosigkeit Marias, ihre Passivität, die einzig von den Gesten des Empfangens gehalten wird, sind von weitreichender, den christlich codierten Glauben verändernder Bedeutung und Wirkung. Denn die Stille und die Wortlosigkeit zeigen paradoxerweise nicht nur einen Mangel, ein (weiblich konnotierbares) Unvermögen gegenüber der All- und Wortmächtigkeit Gottes. Vielmehr scheinen sie ein Zeichen dafür, dass Maria sich den Worten und ihrer Macht nicht nur nicht einfügt, sondern eine nicht durch Worte und Dinge begrenzte Welt andeutet. Daher die Fülle der Bilder, die niemals ganz zur Ruhe oder zum Ende oder zur Vollendung kommen. Maria empfängt, ohne dass wir es wissen, eine unbestimmte Welt ohne diktatorische Gesetzeskraft, zumindest die Sehnsucht nach einer Nähe, die den Atem der Berührung und damit den wehenden Hauch der Liebe des Anderen empfangen kann.
Julia Kristeva: Geschichten von der Liebe. Aus dem Franz. von Wolfram Bayer und Dieter Hornig. Berlin 2019, S. 243.
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Auf dem Parkett der Staatspolitik Gesten der Dankbarkeit Es ist noch nicht lange her, dass der sozialistische Bruderkuss von der Bühne der politischen Gesten und Rituale verschwunden ist. Obwohl seitdem autokra tische Regime weltweit wieder zunehmen, scheint bis auf Weiteres das westliche Begrüßungsritual des Händeschüttelns im Kontext der Staatsdiplomatie nicht in Frage zu stehen. Selbst König Salman von Saudi-Arabien hat die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel 2017 mit dieser Geste empfangen, obwohl in Teilen der islamischen Welt, wie auch im orthodoxen Judentum und im traditionellen Hinduismus, die Handreichung zwischen Männern und Frauen abgelehnt wird. Mit der Verbreitung der Covid-19-Pandemie zu Beginn des Jahres 2020 änderte sich jedoch kurzzeitig das Bild. Im Bemühen, die geltenden Abstandsregeln einzuhalten, sah man nun plötzlich zahlreiche Staatsrepräsentanten, wie sie mit Körpersprachen anderer Kulturen experimentierten, unter anderem mit dem hinduistischen Namasté-Gruß der vor der Brust zusammengelegten Hände, mit dem zum Beispiel Angela Merkel den französischen Staatspräsidenten in Meseberg 2020 begrüßte, oder dem in arabischen Ländern üblichen Auflegen der rechten Hand auf das Herz, das vom philippinischen Parlament im Januar 2021 per Gesetz als neues, kulturell bisher nicht übliches Willkommenszeichen eingeführt wurde. Doch Gesten sind wie Bilder selten eindeutig. Für ihre Bedeutung ist die Haltung des Körpers, von dem sie ausgehen, so wichtig wie der kulturelle Kontext, in dem sie sich ereignen. Der Körper ist wie der Grund des Bildes, aus dem, in den Worten des Bildwissenschaftlers Gottfried Boehm, „etwas ganz anderes, etwas Immaterielles, eine Ansicht, mithin ein Sinn aufsteigt, ohne sich je von diesem Grund zu lösen“. Ohne Bezug zum Körper, aber vor allem auch zur sozialen Welt, die Anlass für die Geste gegeben hat, ist, genauso wie bei der Interpretation von Zeichen in Bildern, die Gefahr gegeben, dass man ihre Bedeutung missversteht. Der englische Kunsthistoriker Michael Baxandall beispielsweise
Nazifa Alizada u. a.: Autocratization Turns Viral. V-Dem Democracy Report. University of Gothenburg 2021, S. 13. Siehe https://hrep-website.s3.ap-southeast-1.amazonaws.com/legisdocs/basic_18/HB07333.pdf (letzter Zugriff: 5. September 2022). Gottfried Boehm: Wie Bilder Sinn erzeugen. Die Macht des Zeigens. Berlin 2007, S. 9. https://doi.org/10.1515/9783111233796-035
208 Charlotte Klonk hat gezeigt, dass man die Botschaft in Filippo Lippis Verkündigungsszene in San Lorenzo in Florenz verkennt, wenn man, wie es nahezuliegen scheint, die gehobene, mit der Innenseite nach außen gekehrte linke Hand Marias zusammen mit ihrem vom Engel weggedrehten Körper als Abwehrreaktion deuten würde. Florentiner Volksprediger legten im fünfzehnten Jahrhundert großen Wert auf die emotionale Ausgestaltung der Bibelgeschichten, und so kann Baxandall zeigen, dass die Geste dem Zustand der Conturbatio entspricht, der Aufregung, die Maria bei der Begrüßung des Engels empfindet, nicht aus Unglaube und Angst, sondern in „Demut über die gewaltige und erhabene Verkündigung“. „Prediger und Maler“, so schreibt er, „dienten sich hier gegenseitig als repetiteur“. Entsprechend sind auch Gesten der Begrüßung keineswegs eindeutig. Je nach Situation kann der Handschlag ebenso bedeuten, dass eine Abmachung besiegelt wird, Namasté eine respektvolle Unterwerfung anzeigen und die Hand auf dem Herz einen Schwur. Entscheidend ist dabei nicht nur die Körperhaltung – ist der Kopf tief gesenkt oder der Blick direkt und geradeaus? –, sondern auch die Kenntnis des kulturellen Kontexts. Ob die Geste in El Grecos berühmtem Bildnis eines Edelmanns mit der Hand auf der Brust (um 1580) im Prado zum Beispiel eine Selbstbehauptung, eine Bekundung christlicher Demut oder einen Eidschwur darstellt, ist heute aufgrund der fehlenden Identität des Porträtierten nicht mehr mit Sicherheit zu klären. Als Zeichen der Begrüßung wurde sie jedenfalls nie verstanden. Was aber sowohl Handschlag, Namasté und Hand-aufsHerz verbindet, ist nicht nur ihre Funktion in förmlichen Begrüßungsritualen, sondern auch ihre Verwendung als Ausdrucksformen der Dankbarkeit – von den kumpelhaften Faust- oder Ellenbogenanschlägen, mit denen ebenfalls während der Pandemie experimentiert wurde, kann man Gleiches nicht sagen. Mit allen drei Gesten wird nicht nur eine Beziehung zwischen Menschen verkörpert, sondern es werden vor allem auch innige Empfindungen, die im Zusammenhang mit dem Gefühl der Dankbarkeit stehen, wie Zuneigung, Respekt und besondere Würdigung, zum Ausdruck gebracht. Während die Handreichung jedoch ohne Erwiderung ihren Sinn verlöre, ist die Mitwirkung und selbst die Anwesenheit eines anderen Körpers für das Verständnis der innigen Empfindungen bei den beiden anderen Gesten nicht unbedingt notwendig. Das Emoji der Namasté-Hände als Geste des Dankes ist aus diesem Grund zu einem der populärsten Bildzeichen in der sozialen Mediennutzung des globalen Nordens aufgestiegen. Zu verstehen ist das allerdings wiederum nur innerhalb eines be-
Michael Baxandall: Die Wirklichkeit der Bilder. Malerei und Erfahrung im Italien des 15. Jahrhunderts. Übers. von Hans-Günter Holl. Frankfurt a. M. 1977, S. 67. Baxandall: Die Wirklichkeit der Bilder, S. 65.
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stimmten Kontextes, nämlich der Verbreitung der Geste in westlichen YogaPraktiken, die über die gewöhnliche Verwendung als Grußformel unter Hindus hinausgeht. Eine wie auch immer vage Erinnerung an eine Möglichkeit des christlichen Gebets, in dem der Dank ein wesentlicher Bestandteil ist, mag bei der Bedeutungsverschiebung geholfen haben: das Vorbild der aufrecht vor der Brust zusammengelegten Hände, wie es unter anderem durch Albrecht Dürers beliebte Zeichnung Betende Hände von 1508 überliefert ist. Für den Kulturwissenschaftler avant la lettre Georg Simmel ist Dankbarkeit grundlegend für das Leben und den Zusammenhalt der Gesellschaft. Wie auch bei allen anderen Formen der Beziehungen zwischen Menschen geht es dabei um ein „Hin- und Hergehen von Leistung und Gegenleistung“. Doch im Unterschied vor allem zum „wirtschaftlichen Tauschen“ ist die Dankbarkeit eine Form der Wechselwirkung, in der kein „äußerer Zwang“, in Form des Rechts zum Beispiel, die Beziehung gewährleistet. „Die Dankbarkeit ist“, so schreibt er, „ein ideelles Fortleben einer Beziehung, auch nachdem sie etwa längst abgebrochen und der Aktus des Gebens und Empfangens längst abgeschlossen ist“. Für diese Form der Innerlichkeit, ein im Subjekt nachklingendes Echo einer Gabe, sind tatsächlich Namasté und Hand-aufs-Herz anschaulichere Formen als die Handreichung. Auch in der christlichen Ikonographie finden sich daher beide Gesten als Ausdruck der Dankbarkeit häufiger als der Händedruck, denn in der Beziehung zu Gott, vor allem im Neuen Testament, wäre die Erwartung eines „Hinund Hergehen[s] von Leistung und Gegenleistung“ nichts anderes als Hybris. Ohne Hybris und das Prinzip von Leistung und Gegenleistung ist jedoch Staatspolitik kaum denkbar. In ihrem säkularen Kartenspiel, wie auch in dem der Wissenschaft und Wirtschaft, ist beides in der Regel Trumpf. Für ohne Zweifel existente, im Subjekt nachklingende Echos tief empfundener Verbundenheit ist im Tagesgeschäft kein Platz und kein Fototermin vorgesehen. Umso außergewöhnlicher war als einseitige Geste ohne körperliches Gegenüber der Kniefall des damaligen Bundeskanzlers Willy Brandt am 7. Dezember 1970 in Warschau vor dem Mahnmal des jüdischen Ghetto-Aufstands von 1943, mit dem er nicht nur demütig der Opfer gedachte, sondern auch die Schuld der Deutschen im Zweiten Weltkrieg anerkannte. Die Aufnahmen, die damals anlässlich des offiziellen Termins entstanden, gingen um die Welt und gehören noch heute zu den Ikonen der Pressefotografiegeschichte.
Georg Simmel: Exkurs über Treue und Dankbarkeit. In: ders.: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung [1908]. Gesammelte Werke. Bd. 2. Berlin 2013, S. 459. Simmel: Exkurs über Treue und Dankbarkeit, S. 459. Simmel: Exkurs über Treue und Dankbarkeit, S. 461.
210 Charlotte Klonk Angesichts der Seltenheit von Gesten dieser Art auf der großen Bühne der Staatsdiplomatie fiel daher auf, dass der Präsident der Ukraine, Wolodymyr Selenskyj, im Frühjahr 2022 mit der Hand auf der Brust und leicht gesenktem Kopf seine Dankbarkeit für den stürmischen Beifall zum Ausdruck brachte, der ihm im Anschluss an seine Reden vor zahlreichen Parlamenten des globalen Nordens nach dem russischen Angriffs auf sein Land am 24. Februar 2022 entgegengebracht wurde. Jedes Mal war er per Video zugeschaltet, jedes Mal zog er geschickt Parallelen zwischen den Lektionen des Zweiten Weltkriegs im jeweiligen Land und der gegenwärtigen Situation in der Ukraine, und jedes Mal erhielt er stehenden Applaus, für den er sich demütig wahlweise mit der linken oder rechten Hand auf der Brust und kurzem Kopfnicken bedankte. Nur einmal, im Zuge seiner Verabschiedung aus dem britischen Parlament, streckte er auch noch kurz einen Faustarm in die Luft. Überhaupt hielt er sich mit kämpferischen Gesten dieser Art erstaunlich zurück, obwohl er, der unter Lebensgefahr im Land geblieben war, für den mutigen ukrainischen Widerstand gegen den völkerrechtswidrigen Überfall der Russischen Föderation bewundert wurde. Als Jassir Arafat seine berühmte erste Rede als Anführer der Palästinensischen Befreiungsorganisation vor der UN-Vollversammlung im November 1974 hielt, trug auch er wie Selenskyj bei seinen Auftritten keinen Anzug, sondern zivil modifizierte Kampfkleidung – bei Selenskyj war es ein olivgrünes T-Shirt, bei Arafat das Palästinenser-Kopftuch, eine helle Jacke und ein Pistolenhalfter. Im Gegensatz zu Selenskyj jedoch bedankte sich Arafat für den stehenden Applaus, den auch er erhielt, mit der kämpferischen Geste der Solidarität, den über dem Kopf zusammengefalteten und geschüttelten Händen. Beide kamen gleichsam mit leeren Händen – diejenigen Arafats waren noch dazu durch die Terroraktivitäten der PLO beschmutzt; an den Händen Selenskyjs klebte Derartiges nicht, aber sein Name war vor dem Krieg in den sogenannten Panama Papers aufgetaucht und von Kritikern wurden ihm Rechtsstaatsbrüche und Vetternwirtschaft vorgeworfen. Beide hatten wenig zu bieten, außer dem Appell an die Verteidigung der Menschenrechte, der Freiheit, der Selbstbestimmung der Völker, und beide wollten viel: Sanktionierung des Feindes, militärische Unterstützung, finanzielle und humanitäre Hilfe. Doch wo sich Arafat siegesgewiss gab, übte sich Selenskyj gegen alle Erwartungen in dankbarer Demut. Das Bemerkenswerteste aber an Selenskyjs Geste war, dass sie überall sofort verstanden wurde, obwohl man vielleicht ein anderes Auftreten erwartet
Christoph Schneider: Der Kniefall von Warschau. Spontane Geste – bewusste Inszenierung? In: Gerhard Paul (Hg.): Das Jahrhundert der Bilder. Bd. 2. Göttingen 2008, S. 410–417. Sergji Rudenko: Selenskyj. Übers. von Beatrix Kersten und Jutta Lindekugel. München 2022.
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hätte und unter Umständen andere Ausdrucksformen möglich gewesen wären – ein einfaches Kopfsenken zum Beispiel oder das mittlerweile in den sozialen Medien ubiquitäre Namasté. In Präsenz hätte der ukrainische Präsident vielleicht sogar einfach nur die Hand der jeweiligen Parlamentspräsident*innen geschüttelt. Er aber wählte eine andere Körpersprache – und das Fazit ist offensichtlich: Gesten des Dankes sind zwar nicht bedeutungsspezifisch – sie können auch zum Beispiel in anderen Kontexten eingesetzt werden und dann Ausdruck von anerkennender Begrüßung sein –, aber sie sind mehr oder weniger universell verständlich und zugleich begrenzt. Eine zum anderen gewendete Handinnenfläche ist beispielsweise unter keinen Umständen eine Form der Dankesbekundung. Das heißt, Gesten funktionieren im Grunde wie Pronomen in den meisten Sprachen. Es gibt ein mehr oder weniger fest umrissenes Repertoire, dessen Bedeutung sich über die jeweilige deiktische Funktion erschließt. Eine besondere Sprachkompetenz ist jedoch nicht notwendig, nur die Präsenz von Körpern und Kenntnis der besonderen Situation. Insofern sind Gesten im Mittelgrund zwischen den offenen, aber systemimmanenten Differenzierungslogiken der Sprache und den geschlossenen, aber polyvalenten Erscheinungen von Bildern angesiedelt. Im Fall von Selenskyjs Hand auf dem Herzen war die Wirkung groß. Umgehend beschloss man Sanktionen gegen Russland, und umfangreiche militärische Hilfezusagen folgten, wenngleich auch nicht sofort und in dem Maße, in dem sie im Land benötigt wurden. Ob sich die Geste aber im säkularen Kartenspiel der Staatsdiplomatie als Trumpf etablieren wird, bleibt zu bezweifeln. Zu groß ist der alltägliche Druck des äußeren Zwangs, der für nachklingende Echos der Dankbarkeit in der Regel wenig Spielraum lässt.
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Einen Korb empfangen und sich für diesen bedanken „Geht durch den Raum, in eurem eigenen Tempo. Bemerkt die anderen Menschen, die mit euch durch den Raum laufen. Dann bleibt an einem Augenpaar kleben, steht für einen Moment voreinander und sagt: ,Nein’“, lautet die Anweisung der Workshopleiterin. Im Raum ist eine Kakophonie von Verneinungen zu hören. Manche klingen streng und bestimmt. Andere freundlich oder auch belustigt, nehmen Formen wie „Nö“, „Neee“ oder verschwiegenes Kopfschütteln an. Wir werden anschließend aufgefordert, weiter durch den Raum zu gehen und mit möglichst vielen verschiedenen Menschen kurze Interaktionen des Verneinens auszuführen. Nachdem wir zunächst nicht wissen, was wir hier eigentlich ablehnen, sollen wir in der zweiten Phase dieser Gruppenübung unserem Gegenüber ein Angebot machen. Unserer Phantasie ist dabei keine Grenze gesetzt. Wir können ehrliche, vorgetäuschte oder vollkommen absurde Angebote machen – von „Darf ich dir die Füße massieren?“ bis hin zu „Begleitest du mich morgen zu einem Trip auf den Mars?“. So oder so, jedes Angebot soll unser Gegenüber stur abschlagen. Dabei ist freigestellt, ob dies wieder mit einem simplen „Nein“ geschieht oder elaborierte Formulierungen gefunden werden. Die Spannbreite ist erstaunlich. Ich bekomme höfliche Absagen – oder Ausreden? – („Das ist eine gute Idee, aber leider habe ich jetzt keine Zeit. Vielleicht später?“), rabiates Abschlagen („Auf gar keinen Fall!“) oder emotionale Reife widerspiegelnde Verneinungen („Ich muss erst mehr Vertrauen zu dir aufbauen, bevor ich bereit bin, das in Betracht zu ziehen.“). In der dritten und entscheidenden Phase der Workshopübung erproben wir, auf die Verneinung zu reagieren, indem wir uns für sie bedanken. Das wirkt für einige kontraintuitiv. Ihre Danksagungen wirken holprig und künstlich, wenn in ihnen Enttäuschung oder Brüskierung mitschwingen, als würde die Ablehnung sie vor den Kopf stoßen oder kränken. Anderen hingegen fällt es leichter. Manche feiern ihr Gegenüber („Danke für deine Ehrlichkeit – und mega gut wie du auf deine Grenzen achtest!“) oder bedanken sich für das, was das „Nein“ ermöglicht: beispielsweise ein Gefühl von Sicherheit und Klarheit, da sie wissen, woran sie beim anderen sind und sich nicht weiter mit einer Anfrage im Leerlauf aufhalten. Diese Interaktionen finden während eines semi-öffentlichen Erfahrungsraums in einem queer-feministisch, sexpositiven Kontext statt. Die Teilnehmenden haben sich versammelt, weil sie Formen experimenteller Sexualkultur miteinander erleben möchten. Stunden später verabreden sie sich für Ganzhttps://doi.org/10.1515/9783111233796-036
214 Beate Absalon körpermassagen, Flogging- oder Kuss-Sessions und ähnlich verspielt ausgelegtes intimes Miteinander. Der Etikette der Veranstalter*innen entsprechend, welche einen sogenannten Safer Space kreieren möchten, sollen diese Interaktionen nur unter der Bedingung gegenseitiger Einvernehmlichkeit vorgenommen werden. Dadurch wird sichergestellt, übergriffige Handlungen zu vermeiden, die Beteiligten nur tun zu lassen, was sie tun möchten und sich zu keinen Sexualhandlungen verpflichtet zu fühlen. Statt auf unbewusste Vorannahmen, Pauschalisierungen oder scheinbare Selbstverständlichkeiten zurückzugreifen, werden in der Gruppe die Umgangsweisen auf eine Weise arrangiert, deren Basis kollaboratives Aushandeln ist. Das verlangt ein gewisses Reflexionspotential: Auf welche Handlungen möchte ich mich (nicht) einlassen – und warum? Wie kann ich meine Grenzen und Wünsche spüren und kommunizieren – und die von anderen wahrnehmen? Was steht dem Bewusstwerden von und Umgehen mit (eigenen wie fremden) Grenzen möglicherweise im Weg? Konsens- oder Verhandlungsprinzipien gelten als moderne, westliche Form der Sexualmoral, welche die vorherige Sittlichkeitsmoral abgelöst haben. Vornehmlich seit den Liberalisierungsversuchen, die mit der historischen Chiffre 1968 verbunden werden, sollte gesellschaftlich akzeptierter Sex weniger anhand bestimmter Praktiken beurteilt werden. Entscheidender sei, ob sich alle Teilnehmenden auf den Akt – welchen auch immer – einigen. Dafür müssen jedoch bestimmte Bedingungen erfüllt sein. Streng genommen sind diese Bedingungen als Idealformen zu verstehen, die es bestmöglich anzustreben gilt, auch wenn sie von Fall zu Fall mit Ambivalenzen einhergehen. Beispielsweise muss überhaupt erst die Fähigkeit gegeben sein, aus freien Stücken zustimmen zu können. Befähigung und Freiheit werden jedoch von vielen Faktoren determiniert. Das können ein veränderter Bewusstseinszustand durch Substanzen (wie Alkohol und Drogen) oder Affekte (wie Angst, Verliebtheit oder Erschöpfung) sein. Auch strukturelle Ungleichheitsverhältnisse spielen eine Rolle, die sich beispielsweise auf eine je nach gender, race, class unterschiedliche Sozialisierung oder auf das Alter, den Entwicklungsstand oder auch auf wahrgenommene Attraktivitätsunterschiede zurückführen lassen. Ebenso prägend sind bestimmte biografische Erfahrungen, die sich wie Sedimente in einer Person festsetzen und ihr Verhalten formen. All diese Faktoren beeinflussen auch die Fähigkeit, ein „Nein“ formulieren zu können respektive seine eigenen Bedürfnisse und Grenzen wahrzunehmen und für diese einzustehen. Sie beeinflussen ebenso die Fähigkeit, mit einer Absage resilient und respektvoll umzugehen. Ist das eine oder das andere nicht möglich, verliert auch eine klar kommunizierte Zustimmung an Gültigkeit, da sie kaum freiwillig getätigt werden kann, wenn der Alternative der Ablehnung kein praktikabler Möglichkeitsraum gewährleistet wird. Dies ist in Extremsitua-
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tionen der Gewalt und Unterdrückung der Fall, jedoch auch in subtiler wirkenden Machträumen wirksam. Eine Kultur, welche das Ausschlagen, Absagen, Abweisen und Ablehnen gemeinhin als unhöflichen und persönlich zu nehmenden Affront oder als Versäumen von Chancen und Verpassen von Spaß konnotiert, erschwert das angstfreie Ausdrücken persönlicher Grenzen und Uneinigkeiten. Eine neoliberal prämierte Ausrichtung auf Akkumulation und Optimierung erschwert zudem das Wahrnehmen zufriedener Sättigung oder die Fähigkeit, etwas Abschließen und auf Distanz treten zu können. „Neinsagen ist die Formel des Protests“, heißt es einleitend in Klaus Hein richs Versuch über die Schwierigkeit Nein zu sagen. Doch lässt sich diese Formel auch umdrehen. „Hinter jedem ,Nein‘ stecken eintausend ,Jas‘“, fasst die Workshopleiterin diese neue Formel zusammen. Ein ,Nein‘ muss nicht per se als etwas verstanden werden, das im Dissens und Protest seinen Endpunkt hat. So wie Kritik nach Michel Foucaults bekanntem Diktum nicht gänzlich ablehnt, sondern eine Kunst darstellt, „nicht auf diese Weise und um diesen Preis regiert zu werden“ [Kursivsetzung BA], lässt sich auch die Formulierung eines ,Nein‘ zunächst als ein nützliches Navigationsmittel deuten, das im Aushandeln gegenseitiger Einvernehmlichkeit unabdingbar ist, um gemeinsam herauszufinden, auf welche andere als diese vorgeschlagene Weise miteinander etwas angestellt werden mag. Genau an diesen Verstrickungen setzt der Workshopversuch der Umcodierung konventioneller Bedeutungen von Ablehnungen in der Bedanken-für-Verneinungen-Übung an. Mit ihr wird dreierlei angestrebt: Zunächst gewöhnen die Teilnehmenden sich daran, ein „Nein“ überhaupt über die Lippen zu bringen. Aus traumasensibler, körperpsychotherapeutischer Sicht ist dies gerade für diejenigen Personen eine essentielle Lernerfahrung, welche in frühen Entwicklungsphasen gelernt haben, sich anbiedernd und gefällig zu verhalten und diese als Fawning- oder Bambi-Response bezeichnete Überlebensstrategie inkorporiert haben. Dann werden auch im Erwachsenenalter zugunsten eines unbedingten Gefallenwollens die Bedürfnisse anderer vor den eigenen priorisiert. Zweitens wirkt die Wiederholung des Verneinens entdramatisierend. Der Akt der Ablehnung wird normalisiert. All dies wird, drittens, verstärkt durch die Sprachformel des Bedankens, welche das Verneinen als ein wertvolles Gut affirmiert und damit neu besetzt. Der Automatismus, die Zurückweisung mit einem kränkenden Beweis des Scheiterns oder einer Beleidigung gleichzusetzen, wird suspendiert. Die pädagogische Anleitung, auf die Absage mit Dank zu reagie-
Klaus Heinrich: Versuch über die Schwierigkeit nein zu sagen. Frankfurt a. M. 1964, S. 9. Michel Foucault: Was ist Kritik? Berlin 1992, S. 12.
216 Beate Absalon ren, ist als ein transformatives Bildungsvorhaben zu verstehen. Denn in der Übung werden nicht einfach neue Fertigkeiten angeeignet, sondern grundlegen de Selbst- und Weltverhältnisse qualitativ verändert. Nicht entscheidend ist dabei, ob die Dankbarkeit der Wahrheit entspricht. Mit dem Begründer der modernen Sprechakttheorie John L. Austin gesprochen, handelt es sich bei den Äußerungen in der Workshopübung nicht um feststellende oder deskriptive Aussagen, sondern um performative Sprechakte, mit denen eine Handlung voll zogen wird: „[…] by saying or in saying something we are doing something“. Was sollen die Sprecher*innen lernen zu tun, das im Sprechakt des Bedankens auch direkt vollzogen wird? Und welche Wirkung soll damit bei den Adressat*innen des Dankes hervorgerufen werden? Mögliche Antworten liefert der Volksmund mit der Redensart „einen Korb bekommen“. Die Ursprünge dieser Wendung sind nicht eindeutig. Mal wird es auf traditionelle Tanzspiele zurückgeführt, bei denen die wartenden Damen oder Herren einen Korb auf dem Schoß halten, bis sie von zwei Umwerbenden gleichzeitig zum Tanz aufgefordert werden und einer Person den Korb in die Hand drücken können, wenn sie sich für die andere entscheiden. Andere Quellen führen die Redewendung auf die Rücksendung von korbförmigen Brautge schenken zurück. Entscheidend ist, dass dem Wortlaut nach, die mit ihrem Angebot abgelehnten nicht leer ausgehen. Sie bekommen etwas. Fabuliert mit der feministischen Science-Fiction Autorin Ursula K. Le Guin erhalten sie, was vermutlich eines der frühesten und notwendigsten Werkzeuge der Menschheitsgeschichte sein könnte – eine Tragetasche, ohne die das Sammeln, Zusammenhalten und Forttragen wertvollen Guts nicht möglich wäre. Le Guin konfrontiert in ihrem Essay The Carrier Bag Theory of Fiction die klassische Heldengeschichte, wie sie paradigmatisch in Stanley Kubricks 2001: Odyssee im Weltraum durch die Affen erzählt wurde, die mit einem Knochen einen Rivalen totschlagen. Der Knochen verwandelt sich in einem kunstvollen Match Cut schließlich in das Raumschiff. Die phallischen Gegenstände wie Speer, Lanze, Stock dienen als
Vgl. Hans-Christoph Koller: Bildung anders denken: Einführung in die Theorie transformatorischer Bildungsprozesse. Stuttgart 2011. J. L. Austin: How to Do Things with Words: The William James Lectures delivered at Harvard University in 1955, hg. von J. O. Urmson and Marina Sbisà, Oxford 1962, S. 12. Ludwig Berghold und Walter Deutsch: Volkstänze aus Niederösterreich. Bd. 2. Mödling 1988, S. 21–22. Vgl. Korb geben. In: Meyers Großes Konversations-Lexikon. 6. Aufl. Bd. 11, Bibliographisches Institut, Leipzig/Wien 1907, S. 481. Ursula K. Le Guin: The Carrier-Bag Theory of Fiction. In: Denise Du Pont (Hg.): Women of Vision. Essays by women writing science fiction. New York 1988, S. 1–12.
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Requisiten für actiongeladene Ursprungsgeschichten des Jagens und Überlebens, denen Le Guin die grundlegenderen Beutel, Flaschen, Körbe entgegenstellt, ohne die das Erjagte wenig Wert hat, geht es doch verloren. Erhalten wir für unsere Avancen nun einen sprichwörtlichen Korb, reagieren wir vielleicht zunächst mit dem immer auch kulturell antrainierten Wunsch, unserem Gegenüber für diese als Demütigung wahrgenommene Ablehnung mit dem Knochen einen über den Kopf zu ziehen. Sollen wir uns stattdessen umgewöhnen und uns für den Korb bedanken, verändert sich das intersubjektive Zusammenspiel ums Ganze. Nicht mehr stehen wir vor dem Nichts, indem wir passiv eine Abfuhr ertragen, sondern nehmen sie aktiv handlungsfähig als einen Aufbewahrungsraum entgegen. Der in Empfang genommene Korb beinhaltet ein wichtiges Gut: The more you ask for what you want in your intimate and daily life, the more you’re likely to hear both yesses and nos. Rejection can sting, but there’s also an opportunity to build connection [Kursivsetzung BA] when you can hear a no gracefully
verheißt es beispielsweise die Sexualpädagogin Marcia Baczynski, auf deren Arbeit sich die zu Beginn vorgestellte Workshopleiterin bezieht. Auch in anderen Erfahrungsräumen mit intensivem, potentiell auf Eskalation ausgerichtetem Körperkontakt oder inhaltlich herausfordernden Themen – wie in der Perfor mancekunst, im Sport oder Live Action Role Playing (LARP) – werden solche auf Safer Spaces und eine „Culture of Care“ ausgerichteten Rituale des Bedankens ausgeführt. Ziel ist das Schaffen einer wohlwollenden Atmosphäre, in der bestimmte Werte vermittelt werden. So schreibt die LARP-Veranstalterin Johanna Koljonen in einem Handbuch über ihre Workshopdidaktik: To make it easier for participants to state boundaries in calibration negotiations, and support a culture where opting out is easy, I remind participants that the appropriate response when someone states a boundary is always ,thank you.‘ If you invite someone to some
2001: A Space Odyssey, Stanley Kubrick (Regie, Produktion), USA, UK, 1968. Marcia Baczynski: 8 Ways to Hear a No Gracefully. https://askingforwhatyouwant.com/8ways-to-hear-a-no-gracefully/ (letzter Zugriff: 15. Oktober 2022). Gemeint sind analoge Treffen, bei welchen Personen sich verkleiden und in fiktive Rollen meist fantastischer Narrative schlüpfen, um sich anhand eines groben Skripts beispielsweise als verfeindete Vampire und Werwölfe zu bekämpfen. Johanna Koljonen: Larp Safety Design Fundamentals. In: Japanese Journal of Analog RolePlaying Game Studies (2020), H.1, S. 3e–19e, hier S. 11e.
218 Beate Absalon kind of play escalation, and your co-player turns you down or makes a countersuggestion, they are giving you a gift – a gift of trust – and you must thank them.
Ein ,Nein‘ ist dann weniger die von Heinrich beschworene Protestformel, sondern eher etwas, das man neben Le Guin auch mit dem Psychoanalytiker Wilfred Bion einen Container nennen könnte, in welchem ein anderes, entspannte res und vertrauensvolleres Begegnen Platz findet. Der Begriff des Containers dient Bion zur Beschreibung von Umgangsweisen mit psychischen Ladungen, die das Selbst zu stark irritieren und überlasten. Dies kann auch die Angst vor Verneinungen sein, mit der eine Ablehnung von sich als ganzer Person kurzgeschlossen wird. Durch ein achtsames Gegenüber könnte eine solche unannehmbare, die Psyche quasi zu vergiften drohende Aussage ,contained‘ werden, um sie anschließend in gehaltener und entgifteter Form anzunehmen und zu verarbeiten. Ein solches Containment kann sich vollziehen, wenn die ablehnende Person ihr Nein bereits „gracefully“ formuliert und diesem so etwas von der heftigen Ladung nimmt (auch hierfür hat Baczynski Beispielsätze parat, wie „I’m a No to that but I’m a yes to you“, „I’m not so into that – but you go have fun!“ oder schlicht „No, Thank you“). Ebenso kann die Absage durch die dankende Annahme in einen elegant angenommenen Korb verwandelt werden. In ihrer Arbeit zu Persönlichkeitsentwicklung, self-advocacy und Beziehungsarbeit betont Baczynski, dass die würdevolle Akzeptanz eines fürsorglich in Empfang genommenen „Nein“ nicht damit verwechselt werden sollte, sich über die Absage freuen zu müssen: „You’re allowed to feel sad, disappointed, angry, etc.“ Was jedoch gewonnen wird, ist eine stärkere Verbindung zu sich und zum Anderen: „In the long run, gracefully accepting other people’s nos builds trust.“ Mit den von Marcia Baczynski vorgeschlagenen Sprechakten wie „I appreciate knowing where your boundary is“, „Thank you for taking care of yourself“ oder „Sounds good! Do you want me to ask again later?“ wird das
Koljonen: Larp Safety Design Fundamentals, S. 8e. Wilfred Bion: Lernen durch Erfahrung. Frankfurt a. M. 1997. Marcia Baczynski: 12 Ways To Say a No Gracefully (Without Saying „Maybe Later“). https:/ /askingforwhatyouwant.com/12-ways-to-say-no-gracefully-without-saying-maybe-later/ (letzter Zugriff: 15. Oktober 2022). Die Stabilität einer sich etablierenden Gruppe und Szenekultur von LARP bis BDSM, in der die neuen Höflichkeitsformen des Bedankens immer gängiger werden, könnte als Äquivalent zu der stabilen und auf eine längere Dauer angelegten Beziehung zum*zur Therapeut*in verstanden werden, welche*r in tiefenpsychologisch arbeitenden Kontexten das Containment übernimmt. Baczynski: 8 Ways. Baczynski: 8 Ways. Baczynski: 8 Ways.
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Gegenüber darin bestärkt, eigene Bedürfnisse und Grenzen wahrzunehmen und zu kommunizieren, ohne Angst mit einem solchen Einstehen für das eigene Selbst kausal die Angst vor dem Verlust sozialer Zugehörigkeit verknüpfen zu müssen. Im Gegenteil. Die Klarheit in der Kommunikation befreit die Teilnehmenden von der Last, vage wahrgenommene, aber vielleicht nur scheinbare zwischenmenschliche Signale voreilig zu überinterpretieren und daraus bevormundende Schlüsse zu ziehen. Oder sich selbst in einem permanenten Karussell der Sorgen und des Mikromanagements der Bedürfnisse anderer zu drehen, was gerade die zu Beginn erwähnten people pleaser mit einverleibter Bambioder Unterwerfungs-Response erleichtern kann. Das beobachtet auch Koljonen, für die der Akt des Bedankens immer auch einen politisch emanzipatorischen Sinn erfüllt: Many of your participants – especially those socialised as women or belonging to minorities – will have learned in life that it is better or safer to stay quiet or remain in an uncomfortable situation than to draw attention to their discomfort. They will often allow themselves to be miserable or fearful out of sheer habit, even in a larp to which they have come for entertaining or fulfilling experiences. This socialisation runs deep and obviously can’t be broken by a single larp workshop, but temporary norm systems and verbal habits can be established very rapidly in a group and thankfully they will partly override our internal anxieties. This is why I make participants thank each other out loud for stating boundaries in calibration exercises: I need them to feel in their bodies that in this context, taking responsibility for your own experience and boundaries is desirable and celebrated.
Nichtsdestotrotz: So sehr die Umwertung der empfangenen Abfuhr durch Danksagung bestärkend, erfrischend und für ein solidarisches Miteinander förderlich sein kann, wird in ihr doch auch eine unbehagliche Grauzone „ambivalenter Selbstpraktiken“ erkennbar. Diskutiert werden müsste, wo in dieser Übung der Container für die nach der Absage doch möglicherweise aufkeimenden Gefühle der Scham, Enttäuschung oder Traurigkeit ist, die durch die Vorschrift zum Bedankenmüssen verdrängt, negiert oder sogar selbst beschämt werden könnten. Auch wenn keiner dem anderen eine Interaktion schuldet, stellt sich die Frage, inwiefern es sich bei der Übung (wiederum anschließend an Foucault) nicht auch um Disziplinarprozeduren handelt, welche auf eine normierende Weise Verhaltensweisen vorgeben und dressierend umformen. Aus dieser Perspektive wird in den alternativen Benimmregeln zwar eine Kritik an gesellschaftlich
Koljonen: Larp Safety Design Fundamentals, S. 8e. Ich danke Valentin Dander für den Lektürehinweis zu einer auf ähnliche Beobachtungen abzielenden Studie am Beispiel von Weblogs: Jenny Lüders: Ambivalente Selbstpraktiken. Eine Foucault’sche Perspektive auf Bildungsprozesse in Weblogs. Bielefeld 2015.
220 Beate Absalon vorherrschenden Normen geäußert, die umgewandelt werden sollen – im Wandel selbst wird jedoch wiederum eine ebenso repressive wie produktive Norm etabliert, der sich die Individuen unterwerfen. Somit ließe sich auch die Hypothese des Projekts transformativer Bildung in der Gruppenübung hinterfragen, da der Workshopgruppe sehr wohl auch etwas in einem klassisch programmatischen, erzieherischen Sinne vorgegeben wird, wenn es heißt, dass sie ihrem Gegenüber danken müssen. Gleichzeitig kommt kein Miteinander ohne Regelwerk aus, denn auch ohne Vorgabe der Workshopleitung würden bloß auf subtilerer Ebene gesellschaftliche Vorgaben und Machtverhältnisse wirken. Der Unterschied zu den hegemonialen Top-Down-Vorgaben im Gegensatz zu den auf Sexpositivität, Spiel und Sport ausgelegten Veranstaltungen wäre, dass die neuen Regeln eines anders-regiert-werden-Wollens in einem Bottom-Up-Verfahren in den jeweiligen Graswurzelbewegungen entwickelt wurden. All diese Bedenken treten wohl vor allem dann auf, wenn befürchtet wird, dass die Umgangsformen feministischer und auf Safer Spaces ausgerichteter Szenen selber übergriffig ausufernd vorschreibend auf weitere Lebensbereiche wirken könnten. Dabei handelt es sich meist um fehlinterpretierte „Moralpanik“. Gegen diese kann eingewandt werden, dass das Kernstück der Workshops das Ausprobieren, Aufführen, Performen und Einüben einvernehmlichen Miteinanders ist. Übungen zeichnen sich dadurch aus, dass sie wiederholt werden müssen – und Wiederholungen wiederum dadurch, dass durch sie sowohl die Wahrscheinlichkeit des Gelingens wächst, als auch die Wahrscheinlichkeit des Scheiterns oder zumindest des Verschiebens des eigentlichen Vorhabens. Mit der Theaterwissenschaftlerin Barbara Gronau gesprochen, „haben wir es [im Üben] mit einem tendenziell unabgeschlossenen, selbstreflexiven Prozess zu tun“ , der nicht gleichgesetzt werden sollte mit „Training, Drill und ,Exerci se‘“ , die eher auf ein Eintrichtern scheinbarer Unhinterfragbarkeiten ausgelegt
Vgl. Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses Frankfurt a. M. 1976. Freilich ließe sich hier schlicht einwenden, dass Regeln zum Spiel gehören und es sich nicht gleich um eine Unterwerfung handeln muss, wenn man beim Fußballspiel den Ball nicht mit den Händen berühren darf. Zudem ist niemand gezwungen, an den Veranstaltungen zu partizipieren. In der Soziologie beschreibt Moralpanik eine Form gesellschaftlicher, auf Emotionalisierung und Übertreibung ausgelegter Debatten, in welchen Bedrohungen tradierter Werte bestimmt werden und die auf Angst, Empörung und Skandalisierung ausgelegt sind. Vgl. Kenneth Thompson: Moral Panics. New York 1998. Barbara Gronau: üben. In: wissenderkuenste.de, Ausgabe #10, 2021. https://wissenderku enste.de/texte/10-2/ueben/pdf/ (letzter Zugriff: 15. Oktober 2022).
Einen Korb empfangen und sich für diesen bedanken 221
sind. In den durchdachten Sicherheitsprogrammatiken, die in den Workshops der erwähnten Szenen vermittelt werden, wird zudem immer wieder betont, dass es sich dabei nie um universelle Rezepte handelt, die sich beliebig kopieren ließen: „Even a good mechanic does not fit every player group, every larp, or every system“ , schreibt beispielsweise Koljonen. Auch die Bondage-Workshopleiterin Fairydance bemängelt in ihrem Onlinekurs „Doing Complex Con sent“ , dass Konsensprinzipien zu oft als simple „one-size-fits-all“ -Modelle behandelt werden. Je nach Intention der Veranstalter*innen, Ästhetik des Events, Hintergrund, Charakter und Risikobereitschaft der Teilnehmenden machen die Methoden mal mehr und mal weniger Sinn. Workshops müssen in einer möglichst kurzen Zeit in kondensierter, effizienter Form Vertrauen herstellen. Deswegen schlussfolgern auch Workshopleiter*innen wie Koljonen, dass in Kontexten „with extensive negotiation and players continuously stepping out of character to talk about their feelings [...] [i]n a very collaborative play culture with a player base comfortable with reading nuanced, high-definition interactions“, Vorgaben wie das simplifizierte Bedankenmüssen wiederum „unnecessa rily clunky“ sein können. Letztlich lässt sich das Spiel mit Rollen und fiktiven Welten im LARP, BDSM oder in der Kunst auch auf deren Didaktiken anwenden: Die Übung des Bedankens zielt damit weniger auf die Etablierung eines neuen, besseren, allgemeingültigen Dogmas, als auf ein versuchsweises, verspieltes Ausprobieren alternativer Realitäten, in denen sich Körbe in Geschenke verwandeln können.
Gronau: üben. Koljonen: Larp Safety Design Fundamentals, S. 9e. Online-Workshopbeschreibung zu „Doing Complex Consent“ vom 15. Januar .2021, https:/ /www.tickettailor.com/events/symbiosis/471703 (letzter Zugriff: 15. Oktober 2022). Ebd. Koljonen: Larp Safety Design Fundamentals, S. 11e.
Robert Stock37
Ungewollte Hilfe, oder: Sind medizinische Hilfsmittel politisch? 1 Rollstuhl: Eine stachelige Angelegenheit Im Oktober 2019 sorgte Brownwyn Berg aus British Columbia für Schlagzeilen. Der kanadische Radiosender CBC berichtete über die engagierte Aktivistin und den Twitter-Hashtag #JustAskDontGrab. Anlass für Bergs Social Media Intervention war der Umstand, dass sie in ihrem Alltag oft ungewolltem Anfassen ausgesetzt war. Sie schildert gegenüber dem Sender, dass Passant:innen häufig und ohne zu fragen ihren Rollstuhl anfassen und sie in eine bestimmte Richtung schieben würden. Berg empfindet einen solchen Akt der Gabe, hier eine ungewollte Hilfeleistung und Berührung ohne Einwilligung, als paternalistisch und übergriffig. In einer Situation wurde ihr durch eine unbekannte Person sogar die Kontrolle über ihr Fortkommen auf bedrohliche Art entzogen. Ständig sei sie in der Sorge, dass jemand hinter ihr stehe und sie ungefragt herumschiebe. Sie beschreibt diese Vulnerabilität mit Verweis auf das „intimate entangle ment“ von Hilfsmittel und Körper: „My wheelchair is an extension of my body […], it’s a very vulnerable position to be in.“ Vor dem Hintergrund von Bergs „lived experience“ und dem damit verknüpften situierten und praktischen Alltagswissen hatte ihr Partner eine Idee. Es ging ihm darum, ein Accessoire für den Aktivrollstuhl zu entwerfen. Dieses Objekt sollte Passant:innen dazu motivieren, zu überlegen, ob sie den Rollstuhl tatsächlich anfassen möchten. Denn dessen Griffe laden aufgrund ihrer Beschaffenheit zum Zugreifen ein, sie bieten im Sinne Arseli Dokumacis (2020) eine materiale Affordanz, sodass Hand und Griff scheinbar zusammenpassen und
Siehe Rachel Levy-McLaughlin und John McGill: Disability advocate says #JustAskDontGrab highlights how often strangers ‚help‘ without consent. CBC Radio. 25. Oktober 2019. https:/ /www.cbc.ca/radio/asithappens/as-it-happens-friday-edition-1.5333703/disability-advocate-saysjustaskdontgrab-highlights-how-often-strangers-help-without-consent-1.5324427 (letzter Zugriff: 16. September 2022). Myriam Winance: ‚Don’t touch/push me!‘ From disruption to intimacy in relations with one’s wheelchair: An analysis of relational modalities between persons and objects. In: The Sociological Review 67.2 (2019), S. 428–443. Levy-McLaughlin und McGill: Disability Advocate, 2019. S. Kay Toombs: The lived experience of disability. In: Human Studies 18.1 (1995), S. 9–23. https://doi.org/10.1515/9783111233796-037
224 Robert Stock das Überbringen von Unterstützung in Form des Anschiebens in Aussicht gestellt wird. Die passgenaue Zusammengehörigkeit von helfender Hand und Rollstuhlgriff wird jedoch durch das Accessoire durchbrochen: Es handelt sich um einen Überzug aus rosa Kunstleder, der mit Spikes versehen ist – gewisserma ßen ein Gegenstück zum Schonbezug und Objekt eines kritischen Designs. Die Spikes würden keine Verletzungen hervorrufen, erwecken aber einen wenig komfortablen Eindruck und beabsichtigen so, den Empfang ungewollter Hilfe zu verhindern. Insofern ändern die Spike-Accessoires die Affordanzstruktur des Hilfsmittels und widersprechen einer „ideology of ability“ . Personen, die einen Drang zum Helfen verspürten, würden aufgrund des selbst gestalteten Objekts eventuell genauer überlegen, ob sie ihrem Wunsch wirklich nachgeben. Der Aktivrollstuhl wird re-konfiguriert, sodass er nur von der in ihm sitzenden Person fortbewegt werden kann: „I definitely know that I’m independent when I go out with these [spikes] […]. I feel so much safer in the world. I’m not constantly loo king behind me and worrying about it [d.h. unwanted touching].“
2 Auf Augenhöhe mit einer Blinden Brownwyn Berg hatte sich vor dem Hintergrund ihrer Situation auf Twitter geäußert und ihre Erfahrungen unter dem Hashtag #JustAskDontGrab geteilt. Letzte rer wurde von Amy Kavanagh ins Leben gerufen, die mit einer Sehbehinderung im Vereinigten Königreich lebt. Seit einigen Jahren nutzt sie einen Blindenlangstock, den sie in Bezug auf dessen ermöglichende Dimension beschreibt. Durch diesen Begleiter erhalte sie Mobilität und Eigenständigkeit: „I had this magical new thing which gave me my independence“. Zugleich schränke sie das Hilfsmittel ein. Vor allem in der Hinsicht, als mit dem Langstock seitens der sehenden Mehrheitsgesellschaft problematische Auffassungen bezüglich körperlicher
Siehe Mara Mills: Technology. In: Rachel Adams, Benjamin Reiss und David Serlin (Hg.): Keywords for Disability Studies. New York 2015, S. 179. Tobin Siebers: Disability theory. Ann Arbor 2008, S. 8. Levy-McLaughlin und McGill: Disability Advocate, 2019. Siehe Harry Low: Spikes – and other ways disabled people combat unwanted touching. BBC Ouch. 15. Oktober 2019. https://www.bbc.com/news/disability-49584591 (letzter Zugriff: 16. September 2022). Vgl. Natalie Geese: Mobilitätsassistenzen für blinde Menschen. In: Alexa Karina Klettner und Gabriele Lingelbach (Hg.): Blindheit in der Gesellschaft. Historischer Wandel und interdisziplinäre Zugänge. Frankfurt a. M. 2018. Zitiert nach Low: Spikes, 2019.
Ungewollte Hilfe, oder: Sind medizinische Hilfsmittel politisch? 225
Differenz verbunden sind. Viele nicht-behinderte Personen reagierten, so ein BBC-Bericht, mit Panik und Hilflosigkeit auf Menschen mit Behinderungen. Es gehe dabei auch um Mitleid, Schuld und Angst oder die Sorge um die eigene Unversehrtheit, die unterschwellig zum Ausdruck kommt. Ein problematisches Element dieser Reaktion sei der Impuls, Hilfe zu leisten – jedoch zumeist ohne die:den Hilfeempfänger:in vorher zu fragen. Aber: Personen im Rollstuhl, mit Langstock, Führhund oder anderen assistiven Technologien werde mit ungefragten Hilfeleistungen die Handlungsfähigkeit abgesprochen. Solche Erfahrungen beschreiben behinderte Aktivist:innen als „dehumanisierend“. Viele weibliche Nutzer:innen beklagen zudem, dass ungewolltes Anfassen den persönlichen Nahraum verletze und sie sich angesichts täglicher, teils sexuell konnotierter Annäherungen stärker verletzbar fühlen. Der Hashtag #JustAskDontGrab fordert entsprechend, dass Passant:innen die Personen mit Hilfsmitteln zuerst ansprechen, bevor sie diese ohne ein Wort der Erklärung anfassen. Kommunikation mag helfen, eine Situation und Vorbehalte zu klären – sodass die Eigenständigkeit behinderter Verkehrsteilnehmer:innen anerkannt wird. Das bedeutet allerdings nicht, dass keine Hilfeleistungen mehr notwendig sein werden. Aber sie würden gezielter einsetzbar, wodurch ebenso ein besseres Auskommen im gemeinsamen Raum der Stadt möglich scheint. In diese Richtungen zielen eine Reihe von Ratgebern, die von Interessenverbänden herausgegeben oder über Social Media-Aktivitäten publiziert werden. Die Bloggerin Lydia Zoubek (lydiaswelt) meint etwa: „Wollen Sie einem blinden Menschen auf Augenhöhe begegnen, dann streichen Sie am besten Sätze wie ‚Ich mach das mal schnell‘ aus Ihrem Sprachgebrauch. Denn das ist eher verletzend als förderlich für eine gemeinsame Ebene der Zusammenarbeit.“ Leitfäden und Social Media-Engagement stellen folglich ein vielfältiges Wissen über den Umgang mit blinden Personen, Menschen im Rollstuhl oder auf dem autistischen Spektrum u.a. bereit und plädieren auf diesem Wege für ein inklusives Miteinander.
Siehe Low: Spikes, 2019. lydiaswelt: Tips im Umgang mit blinden Menschen. 16. Februar 2018. https://lydiaswelt.com/2018/02/16/umgang-mit-blinden-menschen/ (letzter Zugriff: 16. September 22). Siehe Anne Haage: Soziale Medien und Netzwerke. In: Susanne Hartwig (Hg.): Behinderung. Kulturwissenschaftliches Handbuch. Stuttgart 2020.
226 Robert Stock
3 Politik der Hilfsmittel
Unter dem Stichwort Politik der Artefakte wird seit Langdon Winner und Bruno Latour die Frage verhandelt, in welcher Weise Architekturen, Infrastrukturen und Dinge oder avancierte Medizintechnologien spezifische politische Perspektiven inkorporieren. Maschinen, technische Objekte und Infrastrukturen sind nicht nur hinsichtlich ihrer Effizienz, materiellen Beschaffenheit und Umweltbilanz einzuordnen, sondern auch bezüglich „the ways in which they can embody specific forms of power and authority“ . Die Frage des Politischen betrifft gleichermaßen assistive Technologien, wie medizinische Hilfsmittel zur Kompensation oder Wiederherstellung bestimmter körperlicher oder sensorischer Funktio nen im anglophonen Raum bezeichnet werden. Als standardisierte technische Objekte materialisieren Rollstühle, Prothesen, Hörgeräte oder Blindenlangstock zum einen das medizinische Modell von Behinderung, das Beeinträchtigungen individualisiert und dem Rehabilitationsparadigma entsprechend be handeln und zu einer Heilung verhelfen möchte. Zum anderen werden die genannten medizinischen Hilfsmittel in ein enges Verhältnis mit ihren Nutzer:innen gebracht, was auf einer Mikro-Ebene wechselseitige körperlich-technologische Anpassungsprozesse und eine kontinuierliche Sorge-Arbeit notwen dig macht. Diese praktische Dimension von Wissen über Hilfsmittel ist drittens (und dies ist hier als heuristische Skizze gemeint) in Semantiken eingebettet, die sozial aktualisiert und hergestellt werden. Bedeutungen von Hilfsmitteln werden durch Praktiken und Routinen situiert und produziert. Die oben erwähnten Beispiele deuten darauf hin, dass die verschiedenen Dimensionen eng verschlungen sind und ein widersprüchliches Spektrum bilden – entgegen ihrer wörtlichen Bedeutung, die vor allem abzielt auf „a technological fix that is unconcerned with education, community support, or social change“ : Hilfsmit-
Langdon Winner: Do Artifacts Have Politics? In: Daedalus 109.1 (1980), S. 121–136. Bruno Latour: Das Parlament der Dinge. Für eine politische Ökologie. Frankfurt a. M. 2001. Winner: Artifacts, 1980, S. 122. Mills: Technology, 2015, S. 178; Mara Mills: Do Signals Have Politics? Inscribing Abilities in Cochlear Implants. In: Trevor Pinch und Karin Bijsterveld (Hg.): The Oxford Handbook of Sound Studies. Oxford 2012. Siehe Madeleine Akrich: The de-scription of technical objects. In: Wiebe E. Bijker und John Law (Hg.): Shaping technology/Building society: Studies in sociotechnical change. Cambridge, Mass. 1992. Anne Waldschmidt: Disability Studies zur Einführung. Hamburg 2020, S. 72–74. Vgl. u.a. Winance: Don’t Touch, 2019. Mills: Technology, 2015, S. 178.
Ungewollte Hilfe, oder: Sind medizinische Hilfsmittel politisch? 227
tel tragen zur eigenständigen Lebensführung behinderter Menschen bei und inkludieren sie damit potenziell in einen Kontext gegenwärtiger – neoliberaler – Lebensmodelle. Dies wird auf unterschiedliche Weise von Rollstuhl- und Langstocknutzer:innen realisiert, worauf eine Vielzahl autobiografischer Beschreibungen hinweist. Dabei kommt es allerdings zu Konfrontationen: Während beispielsweise Langstock und Rollstuhl von blinden und mobilitätseingeschränkten Menschen oft als Symbol der Selbständigkeit – mitunter auch als (ambivalente) Gabe einer modernen Medizin und regulierten Hilfsmittelökonomie – wahrgenommen werden, können diese Objekte als Mediatoren im Latourschen Sinne auch paternalistische Reaktionen aus der Mehrheitsgesellschaft generieren – etwa dann, wenn sie als Stigma-Symbole gelten und mit ihnen Hilflosigkeit assoziiert wird. Daraus resultierende gesellschaftliche Diskussionen, wider ständige DIY-Interventionen, Kritik an Ableismus und Online-Aktivismus können Aufschluss über die heterogenen Deutungsweisen sozio-technischer Kultu ren des Wissens geben. Als Grenzobjekte mit politischem Gehalt erweisen sich medizinische Hilfsmittel – entgegen einer engen gesundheitsökonomischen Definition – als facettenreich, historisch veränderbar und stellen somit eine Herausforderung für eine historisch informierte Kulturwissenschaft an der Schnitt stelle zur kritischen Disability-Forschung dar.
Vgl. zur Corona-Pandemie u.a. Heidi Lourens: The politics of touch-based help for visually impaired persons during the COVID-19 pandemic. An autoethnographic account. In: Deborah Lupton und Karen Willis (Hg.): The COVID-19 Crisis. Social Perspectives. New York, NY 2021. Siehe Haage: Soziale Medien, 2020. Siehe Susan Leigh Star und James R. Griesemer: Institutional Ecology, ‚Translations‘ and Boundary Objects: Amateurs and Professionals in Berkeley’s Museum of Vertebrate Zoology, 1907–39. In: Social Studies of Science 19.3 (1989). Vgl. Jaipreet Virdi: Hearing happiness. Deafness cures in history. Chicago 2020.
Nina Franz38
Kritik annehmen Vom Lösen des Double Bind Das Formulieren von Kritik hat in den europäischen Geisteswissenschaften, und besonders im Selbstverständnis der Kulturwissenschaft, einen hohen Stellenwert. Wie Michel Foucault in Was ist Kritik? feststellt, ist eine „Haltung der Kritik“ – verstanden als Gegenstück zur Kunst des Regierens – „für die moderne Zi vilisation typisch“. Außerhalb akademischer und philosophischer Diskurse, in den sogenannten sozialen Medien, ist eine wie auch immer verstandene „kritische Haltung“ essentieller Bestandteil der kollektiven Selbstvergewisserung. Nicht zuletzt war mit den technischen Möglichkeiten des Internets bis vor Kurzem noch das Versprechen verbunden, Kritik zu verallgemeinern und zu demokratisieren, jedem und jeder Nutzer*in eine Stimme zur Äußerung des eigenen kritischen Standpunkts zu verleihen, die in einer technologisch abgesteckten Form der Öffentlichkeit Gehör finden würde. Das kritische Potential solcher Mediennutzung lag dabei sowohl in der Schärfung der kritischen Kapazitäten durch den scheinbar unbegrenzten Zugang zum Wissen, als auch in der großen Reichweite außerhalb traditioneller Hierarchien. Umso enttäuschender mag es scheinen, dass die Ausdifferenzierung und Multiplikation der Kritik und der Kritiker*innen innerhalb und außerhalb akademischer Diskurse nur selten zur gewünschten Veränderung gesellschaftlicher Zustände führt. Kritische Geisteswissenschaften werden in Nischen verdrängt und kämpfen, besonders im englischsprachigen Raum, gegen massive Kürzungen. Und in den verschiedenen Regionen des Internets kommt es häufig zur grotesken Verzerrung dessen, was ein kritischer Diskurs leisten könnte. In TwitterBlasen und Shitstorms, aber auch in den in „klassischen“ Medien ausgetragenen Debatten zeigt sich eine Tendenz zur Bildung von Echokammern, die Oppositionen verstärken und einzelne kritische Haltungen verhärten und radikalisieren, ohne jemals ihre Adressaten zu erreichen. Woran liegt es, dass Kritik selten ihre transformative Kraft entfalten kann? Dass scheinbar Jahrhunderte, die mit der Schärfung analytischer Kapazitäten zugebracht wurden, mit den Bestimmungen der Sprecherposition und Kritik an Autorschaft, sowie an hegemonia-
Michel Foucault: Was ist Kritik? Aus dem Französischen übersetzt von Walter Seitter. Berlin, 1992, S. 11. Im Original: Qu’est-ce que la critique? (Critique et Aufklärung). Séance du 27 mai 1978. Bulletin de la Société française de Philosophie, Nr. 1990 84 2, Paris 1990, S. 8 und 12. https://doi.org/10.1515/9783111233796-038
230 Nina Franz len Strukturen (auf der einen Seite) und die Entwicklung höchst ausdifferenzierter technischer Werkzeuge für die massenhafte Beteiligung an Formen der öffentlichen Äußerung und des Gehörtwerdens (auf der anderen) nicht auszureichen scheinen, um eine Kultur der Kritik-Fähigkeit wirksam zu etablieren? Das Thema dieses Bandes legt nahe, einmal versuchsweise darüber nachzudenken, was es bedeuten könnte, den Fokus von der Ausbildung von Fähigkeiten des Kritisierens, auf solche des Empfangens von Kritik zu verschieben. Was würde geschehen, wenn dem Annehmen von Kritik ähnlich viel Aufmerksamkeit geschenkt würde, wie der Artikulation und Adressierung von Kritik? Wenn es eine Kunst des Kritik-Erfahrens gäbe, die, analog zur Kunst der Kritik, ausgebildet und habitualisiert werden könnte? Auf der Suche nach solchen Figuren des Kritisiert-Werdens bin ich auf einen bisher wenig rezipierten Aspekt in Gregory Batesons Theorie des ‚Double Bind‘ gestoßen. Die von ihm skizzierte Figur der „Doppelbindung“ gilt heute als Blaupause für viele Situationen (scheinbar) unauflöslicher Verstrickung in ein asymmetrisches Machtverhältnis. Von Bateson gemeinsam mit den Anthropologen Don D. Jackson, Jay Haley und John W. Weakland als Thesen zu den Ursachen der Schizophrenie formuliert, bezieht sich das Szenario des Double Bind ursprünglich auf die starke, wenn nicht absolute, Abhängigkeitsbeziehung zwischen Mutter und Kind. Innerhalb konservativer Modelle der Kleinfamilie, die zur Zeit der Veröffentlichung des Texts in den 1950er Jahren die Norm darstellten, verfügt die Mutter, mangels alternativer Bezugspersonen, über schier uneingeschränkte Macht über ihr Kind. Der Double Bind beschreibt eine Situation innerhalb dieses Szenarios, in der die Mutter dem Kind ständig widersprüchliche Signale gibt, die für das Kind nicht sinnvoll zu verarbeiten sind. Das Kind empfängt so etwa Signale der Liebe und Ablehnung innerhalb ein und desselben Kommunikationsakts. „Das Kind wird […] bestraft, wenn es genau unterscheidet, was sie ausdrückt, und es wird bestraft, wenn es das nicht tut – es ist gefangen in einem double bind, in einer ‚Beziehungsfalle‘.“ Diese gewaltförmige Vermittlung eines Widerspruchs, dem es hoffnungslos ausgeliefert ist, er-
Siehe etwa: Gayatri Chakravorty Spivak: „The Double Bind Starts to Kick In“, in: dies: An Aesthetic Education in the Era of Globalization. Harvard, 2013; Nikita Dhawan: Die affirmative Sabotage der Aufklärung: Die postkoloniale Zwickmühle. Aus dem Englischen übersetzt von Anna Millan. In: ZfP 66.2 (2019). Gregory Bateson, Don D. Jackson, Jay Haley und John H. Weakland: Auf dem Wege zu einer Schizophrenie-Theorie. Aus dem Englischen übersetzt von Hans-Werner Saß. In: Gregory Bateson u. a.: Schizophrenie und Familie. Herausgegeben von Jürgen Habermas, Dieter Henrich, Jacob Taubes. Frankfurt a. M. 1969, S. 11–43, hier S. 27.
Kritik annehmen 231
zeugt im Kind eine gestörte Realitätswahrnehmung, die sich, den Autoren zufolge, später in einer schizophrenen Pathologie äußern kann. Doch gibt es, wie Bateson u. a. schildern, einen Ausweg aus dem Double Bind: „Die einzige Weise, auf die das Kind wirklich der Situation entrinnen kann, ist, daß es die widersprüchliche Lage kritisiert, in die es von der Mutter gebracht worden ist“. Kritik bedeutet hier die Einführung einer „metakommunikativen Ebene“, mit dem Ziel, die „Wahrnehmung des kommunikativen Verhaltens zu korrigieren“. Doch genügt es nicht, dass das Kind den Mut aufbringt, den von der übermächtigen Instanz der Mutter präsentierten Widerspruch zu erkennen und zu artikulieren. Auf die Kritik des Kindes, „würde die Mutter […] reagieren, indem sie das Kind sowohl bestraft als auch darauf besteht, daß seine Wahrnehmung der Situation verzerrt“ sei. „Indem sie das Kind davon abhält, über die Situation zu reden, verbietet sie ihm, die metakommunikative Ebene zu benutzen – jene Ebene, die wir benutzen, um unsere Wahrnehmung des kommunikativen Ver haltens zu korrigieren“. Für die Lösung des Double Bind wäre es vielmehr notwendig, dass die Kritik des Kindes von der Mutter angenommen würde und damit in eine Reflexion des eigenen Kommunikationsverhaltens – und das heißt, der eigenen Position der Macht – überführt würde. Erst dann wäre es dem Kind auch möglich, in den Worten Foucaults, „nicht dermaßen regiert zu werden“. In der von Bateson u. a. geschilderten gestörten Beziehung wertet die Mutter die Kritik dagegen als „Vorwurf“, reagiert mit „Strafe“ statt mit Verständnis und verschlimmert damit nur die missliche Lage des ausgelieferten Kindes. Dieses verbleibt in einem Zustand der Verwirrung und wächst auf, „ohne die Fähigkeit zu entwickeln, über Kommunikation zu kommunizieren, und hat folglich keine Übung darin, das, was andere wirklich meinen, zu bestimmen, und das, was es selbst wirklich meint, auszudrücken, was wesentlich ist für normale Be ziehungen“. Das Annehmen von Kritik im ständigen Austausch metakommunikativer Botschaften ist für Bateson u. a. eine zentrale Voraussetzung für „geglückten sozialen Verkehr“. Therapeutische Ansätze bieten einen Rahmen, in dem eine solche kritische Metakommunikation nachgeholt werden kann, aller dings immer nur nachträglich und virtuell. Jenseits der klinischen Verfahren steckt in der Theorie des Double Bind hingegen auch ein Ansatz zu einer Pädagogik gesunder sozialer Beziehungen, die darauf beruhen, dass eine „Fähigkeit, über Kommunikation zu kommunizieren“ entwickelt und eingeübt wird, und
Bateson u. a.: Schizophrenie und Familie, S. 27–28. Bateson u. a.: Schizophrenie und Familie, S. 28. Foucault: Was ist Kritik?, S. 12. Bateson u. a.: Schizophrenie und Familie, S. 28.
232 Nina Franz die beinhaltet, dass Kritik nicht nur adressiert wird, sondern in eine Selbstreflexion übergehen kann. Wie die postkoloniale Theoretikerin Nikita Dhawan beschreibt, ähnelt die Aktivität des Kritisierens in der westeuropäischen Denktradition selbst einer Double Bind Situation: Das Erbe der Aufklärung wird als „Gabe“ wahrgenommen, die nicht abgelehnt werden kann. Als Denkerin, die gegenüber dem westlich-europäischen Projekt der Aufklärung eine Haltung der Kritik einnimmt, sieht sich Dhawan gefangen in einer „Zwickmühle“, insofern als „unser Kritikmodus genau wie unsere Konstitution als kritische Subjekte ein Erbe der Aufklä rung“ darstellen. Der dekolonialen Kritik an der Aufklärung blieben damit Widersprüche inhärent, die Dhawan zufolge gerade nicht aufgelöst, sondern in einer „produktiven Spannung“ gehalten werden sollten. Gerade in dieser Haltung kritischer Spannung, die nicht über die problematischen Widersprüche hinwegsieht und sie aufzulösen sucht, sondern vielmehr das Annehmen der Kritik zur Grundlage einer neuen Form des Sprechens macht, besteht aber ein Beitrag, der über das Erbe der europäischen Aufklärung hinausgeht. So verstanden, ist auch für die Destabilisierung eines Machtgefälles nicht die Herstellung eines Einvernehmens entscheidend, sondern dass die im kritisierten Standpunkt enthaltenen Widersprüche sichtbar werden können. Um in Batesons Bild des Mutter-Kind-Verhältnisses zu bleiben, bedeutete das also nicht, dass die durch das Kind kritisierte Mutter sich festlegte, ob sie aus-
In eine solche Richtung zielen auch die von Alice Miller in den späten 1970er Jahren formulierten Thesen, die das Kind in den Mittelpunkt stellen und eine Anklage gegen die absolute Autorität der Eltern erhebt. Die narzistische Störungen haben Miller zufolge ihren Ursprung in einem Gefühl des Verlassenseins im kleinen Kind, das darin besteht, dass verbale oder präverbale Mitteilungen „die Mutter nicht erreichten. Nicht, weil es eine böse Mutter hatte, sondern weil die Mutter selber narzißtisch bedürftig war, auf ein bestimmtes, für sie notwendiges Echo des Kindes angewiesen, selbst im Grunde ein Kind auf der Suche nach einem verfügbaren Objekt.“ Siehe: Alice Miller: Das Drama des begabten Kindes und die Suche nach dem wahren Selbst. Frankfurt a. M. 1979, S. 27. Bateson u. a..: Schizophrenie und Familie, S. 28. Siehe: Nikita Dhawan: Die affirmative Sabotage der Aufklärung: Die postkoloniale Zwickmühle. Aus dem Englischen übersetzt von Anna Millan. In: ZfP 66.2 (2019), S. 194. Zur Aufklärung als Geschenk, das nicht abgelehnt werden kann auch: Siehe ebd., sowie David Scott: Conscripts of Modernity: The Tragedy of Colonial Enlightenment. Durham 2004, S. 171, sowie Dipesh Chakrabarty und Amitav Ghosh: A Correspondence on Provincializing Europe. In: Radical History Review 82 (2002), S. 146–172, hier S. 164. Siehe: Dhawan: Die postkoloniale Zwickmühle, S. 195. Hierzu: Jacques Rancière: Das Unvernehmen. Politik und Philosophie. Aus dem Französischen übersetzt von Richard Steurer. Frankfurt a. M. 2002.
Kritik annehmen 233
schließlich Liebe oder Ablehnung für ihr Kind empfinde, es also über das Bestehen dieses Widerspruchs weiterhin hinwegtäuscht – was für ein Kind, das sich der Liebe seiner Mutter vergewissern möchte, zunächst wünschenswert sein könnte. Vielmehr würde eine „gelungene Metakommunikation“ bewirken, dass die Mutter die Benennung des Widerspruchs zuließe und damit erst eine für das Kind plausible Realität möglich machte. Der bestehende Widerspruch (der mütterlichen Gefühle) würde nicht aufgelöst, aber die Macht des Double Bind, die sich auf das Kind als emotionale Gewalt auswirkt, wäre gebrochen. Längst nicht alle Situationen, in denen Kritik angesagt scheint, präsentieren sich als absolute Machtgefälle, und die wenigsten führen zu schizophrenen Pathologien. Aber das Schema des Double Bind führt vor Augen, wie eine „Kunst des Kritisiertwerdens“ aussehen könnte. Sie hätte eventuell mehr gemein mit einer neuen Form der Pädagogik und der Ausbildung neuer familialer und nicht-familialer Bindungen außerhalb der Elternschaft, als mit einem neuen philosophischen Projekt.
Philipp Gries39
Klein, undiszipliniert, unbelehrbar Vom Widerstand und von der Kritik
1 Widerständige Subjekte
„Wenn du träumst, träumst du dich als widerständiges Subjekt?“ singt die Singer- und Songwriterin Gustav. Problemlos lässt sich diese Frage auch an weite Teile des westlichen Denkens richten. Denn insbesondere in jenen theoretischen Perspektiven, die in einer aufklärerisch-kritischen Tradition stehen und in denen die Frage des Widerstands im Sinne einer Poetik, Haltung oder Aktion behandelt werden, spielt das Konzept einer widerständigen Subjektivität eine tragende Rolle. Wie im Traum ist das Subjekt dabei Epizentrum und Ausgang der Aktion, des Handelns, des Widerstands. Gewappnet für Begegnungen. Nicht nur bereit, in Konflikte (mit Anderen und Anderem) einzutreten und sich darin zu behaupten, sondern auch, sich selbst in Frage zu stellen, mit sich selbst zu kämpfen. Immer entlang der (scheinbar) entscheidenden Frage „zwischen angepasstem und aussätzigen Leben“, zwischen der Annahme des Gegebenen und seiner Verweigerung: „Klagst du oder greifst du an?“ Wie entsteht Widerstand? Und, wie wird ein Subjekt widerständig? Auch diese Frage wird in Gustavs Song gestellt: „Dient dir der Dampf als Antriebskraft (…)?“ Dass und wie Ereignisse des „Widerstehens und Sich-Entziehens“ in Situationen extremer Gewalt überhaupt hervortreten können, sei, so Iris Därmann, „das wohl Unerklärlichste“ . Das „Unerklärlichste“ ist das Schlüsselwort, durch welches sich Därmann von gängigen Widerstandskonzeptionen absetzt. Denn diese sind in der Regel als Poetiken des Widerstands angelegt und bemühen sich dementsprechend um eine Erklärung des Dass und des Wie widerständiger Akte und Gesten. Sie suchen nach der Funktionsweise des Widerstands und finden diese allzu oft in der Instanz des (individuellen oder kollektiven) Subjekts – eines Subjekts, das bereits vor dem Eintreten der Gewalt (gegen welche es aufbegehrt) eine Widerstandsfähigkeit gebildet hat. Folglich ist das Aufbegehren Aus-
Gustav: Soldat_in oder Veteran. In: dies.: Verlass die Stadt. Text und Musik: Eva Jantschitsch. München 2008. Gustav: Soldat_in oder Veteran. Gustav: Soldat_in oder Veteran. Iris Därmann: Widerstände. Gewaltenteilung in statu nascendi. Berlin 2021, S. 52. https://doi.org/10.1515/9783111233796-039
236 Philipp Gries druck einer bestehenden Fähigkeit, während es in Därmanns Perspektive aus einer Gewaltsituation heraus resultiert und – in statu nascendi – verstanden wird. Zu widerstehen heißt entsprechend: sich dem Zugriff anderer zu entziehen – den Körper unverfügbar zu machen, die Arbeitskraft zu verweigern, unempfänglich für Aufträge und Befehle zu werden – es geht darum, sich „radikal undienlich zu machen und undienlich zu werden“ . Die Figur der Undienlichkeit erscheint kaum kompatibel mit den aktionsorientierten Widerstandsgesten, mit denen das westliche politische Denken auf Gewalt zu antworten versucht. Der von Gustav besungene Traum von einer widerständigen Subjektivität, in welchen die kritische Philosophie einfällt, beruht jedoch – wie Därmann zeigt – auf der Idee, dass sich Widerstand und Gewalt voneinander trennen lassen (oder dass das kritische Subjekt sich im Moment der Gewalt von dieser abzuheben vermag). Die Problematik dieser Trennung offenbart insbesondere Därmanns Auseinandersetzung mit Hannah Arendt. Für Arendt (die in gewisser Hinsicht exemplarisch für eine ganze Traditionslinie der Widerstandsphilosophien steht) scheint Widerstand nur dann von Bedeutung zu sein, wenn er sich innerhalb der „Legitimationsformate des ‚Widerstandsrechts‘ und des ‚zivilen Ungehorsams‘“ artikuliert. Buchstäblich subkulturelle „Widerstandsaktivitäten und passivierungen“ , also formatlose Widerstandsweisen, die „unzivil“, unkultiviert und unkultivierbar sind, und die dazu auffordern, das Politische stets aufs Neue zu denken, spielen in „hoch voraussetzungsreich[en]“ Widerstandskonzepten wie demjenigen Arendts keine Rolle. Därmanns Überlegungen zum Widerstand hingegen setzen an einem völlig anderen Ort ein: dort, wo er „beinahe unmöglich“ erscheint – in Situationen extremer Gewalt . Es ist nicht allein ihr radikal anderer Einsatzpunkt, der diese Perspektive von Poetiken des Widerstands – d.h. von disziplinierten und disziplinierbaren Widerstandsformen – unterscheidet, es ist insbesondere deren Ausrichtung, die „nicht am Erfolg, sondern am Unmöglichen orientiert ist“ . Es gibt kein Rezept für ein Mittel (des Widerstands), das es zugleich ermöglichte, auf eine Situation extremer Gewalt zu antworten und „das Unmögliche [zu] erf[i]nden“ . Folglich
Iris Därmann: Undienlichkeit. Gewaltgeschichte und politische Philosophie. Berlin 2020, S. 16. Därmann: Widerstände, S. 22. Därmann: Widerstände, S. 22. Därmann: Widerstände, S. 22. Därmann: Widerstände, S. 22. Vgl. Därmann: Widerstände, S. 52. Därmann: Widerstände, S. 113. Därmann: Widerstände, S. 113.
Klein, undiszipliniert, unbelehrbar 237
muss ein am Unmöglichen ausgerichteter Widerstand „undiszipliniert“ sein: nicht lehrbar und unbelehrbar. Er greift nicht in eine bestehende Zeit ein, sondern er bringt gewissermaßen eine Zeit hervor. Widerstand entsteht aus einer räumlichen wie zeitlichen Enge. Die Enge oder der enge Raum kann mit Gilles Deleuze und Felix Guattari — neben dem für Därmann wichtigen Begriff der „Fluchtlinie“ — als ein wesentliches Element des Politischen gelten, wie es die Autoren im Rückgriff auf Franz Kafkas kleine Literatur konzipieren. Denn der enge Raum „bewirkt, daß sich jede individuelle An gelegenheit unmittelbar mit der Politik verknüpft“. Därmann zeigt, dass recht- und eigentumslose Menschen in von menschlicher Gewalt hervorgebrachten Extremsituationen in vielfältigen Arten und Weisen widerstehen, die sich mit dem Begriff einer Widerstandsfähigkeit kaum beschreiben lassen. Diese Widerstände artikulieren sich nicht in Akten der Konfrontation, sondern geradezu im Gegenteil „durch buchstäbliche body politics der Selbstschwächung und Selbstverletzung, durch Gesten des Sich-Entzie hens, des Fliehens und Verschwindens“ . Von einer widerständigen Subjektivität zu träumen, heißt dagegen, von sich selbst in der Form einer definierten Einheit zu denken – oder, kürzer, von sich selbst als Form. Die bestimmte Form des widerständigen Subjekts ermöglicht es, sich von der Gewalt zu lösen bzw. die Gewalt als mögliches Gegenüber zu betrachten. Das definierte widerständige Subjekt kann sich bereits vor dem Hinter-
Därmann greift hier auf einen von Andreas Gehrlach geprägten Begriff zurück. (Vgl. Därmann: Widerstände, S. 10). „Es gibt keine Schule des organisierten Widerstands, in der Widerstandsproben abgegeben und Widerstandskünste eingeübt würden“ (Därmann: Widerstände, S. 15). Die existentielle Enge ist buchstäblich, wie Därmanns Blick auf den „Macht- und Gewaltraum“ der englischen Sklavenschiffe, die über die Middle Passage im 18. Jahrhundert Menschen deportierten, betont. Die Gefangen waren auf den Schiffen so nah beieinander, dass jeglicher Zwischenraum – und damit eine „proxemische Freiheitsdimension“ (Därmann: Undienlichkeit, S. 136) – zu schwinden drohte. Gilles Deleuze und Félix Guattari: Kafka. Für eine kleine Literatur. Übers. von Burkhardt Kroeber, Frankfurt a. M. 1976, S. 25. In großen Literaturen hingegen zeichnet sich diese Verknüpfung mit dem Politischen nicht durch eine solche Notwendigkeit aus. Stattdessen verknüpft sich darin „die einzelne Angelegenheit (das individuelle Geschehen in Familie, Ehe, usw.) tendenziell mit anderen, ebenso einzelnen Angelegenheiten, während das gesellschaftliche Milieu bloß als Umrahmung oder Hintergrund dient“ (Deleuze und Guattari: Kafka, S. 25, Hervh. im Orig.]). Damit sei keine der individuellen Angelegenheiten „absolut notwendig“, so dass sich eine Ordnung ergibt, in der alle (individuellen) Angelegenheiten „in einem weiten Raum ‚irgendwie zusammenhängen‘“ (Deleuze und Guattari: Kafka, S. 25). Därmann: Widerstände, S. 113.
238 Philipp Gries grund potentieller Gewalt formieren. Därmanns Widerstände ereignen sich hingegen gerade dort, wo nicht der offene Raum der Vorsorge, sondern die Gewalt der Enge menschliche Erfindungen hervorruft. Dort, wo die (Widerstands-)Fähigkeiten neutralisiert werden – und wo gerade durch diese Neutralisierung oder Loslösung Widerstand hervorgebracht wird.
2 Formierende Enge: Widerstand und Kritik Därmanns Konzeption solcher formierender, durch (extreme) Gewalt hervorgebrachter Widerstände weist dabei eine frappierende Ähnlichkeit zu jenem Bild der Kritik auf, das Friedrich Nietzsche in der Fröhlichen Wissenschaft zeichnet. Denn im Unterschied zu gängigen (philosophischen) Theorien der Kritik, in welchen diese als widerständiger Akt oder Handlung begriffen wird, betrachtet Nietzsche die (menschliche) Aktion gleichermaßen nicht als deren Ausgangspunkt. Der Name der Kritik steht bei Nietzsche stattdessen für ein gleichzeitig passivierendes und formierendes Wirken „lebendige[r] treibende[r] Kräfte“ . Es ist dieses Wirken, welches ich in meiner gegenwärtigen Forschung zu beschreiben und in einer Theorie der Kritik zu entfalten versuche. Wie im Fall der kleinen Widerstände, die Därmanns Gewalt- und Widerstandsforschung prägen, ist Nietzsches Kritik weder als ein erlern- und disziplinierbares Handeln noch als eine Methode zu betrachten, sondern als eine Eröffnung oder als ein Über gang . Möglicherweise auch als ein Moment einer Flucht, deren Weg und Ziel unbestimmt sind. Fliehen stellt Herrschaftstinstanzen — wie Institutionen der Sklaverei — im Vollzug in Frage. Niemand flieht einfach, weil sie oder er es kann. Sich auf die Flucht zu begeben, heißt daher eher: nicht (anders) zu können. Die Flucht steht allen offen. Nicht im Sinne einer Wahlmöglichkeit, sondern im Sinne eines Unmöglichen, das Menschen erfinden können. Kritik (nach Nietzsche) ist – im Gegensatz zur breiten (philosophischen) Tradition der Kritik – ein Angriff auf die „eigene Identität“, auf uns Kritiker*innen als Vermögende, Künstler*innen, Lehrende, Lernende. Sie bricht die von Theorien der Kritik angenommene Unterscheidbarkeit zwischen Herrschaft und
Friedrich Nietzsche: Die Fröhliche Wissenschaft („la gaya scienza“). In: Kritische Studienausgabe, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Bd. 3, München 1988, S. 545. In Bezug auf die radikale Widerstandsform des Sich-Undienlich-Machens schreibt Därmann: „Der Übergang zwischen der Aktivität des sich Undienlich-Machens und der Passivität des Undienlich-Werdens kann sich auf kein Können, keine Übung, keine Gewissheit und kein Vermögen stützen und erweist doch seine größte Fähigkeit gerade darin, auf all seine Fähigkeiten zu verzichten.“ (Därmann: Undienlichkeit, S. 155).
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Freiheit auf und dies nicht durch ein bestimmtes Handeln (in welchem ein Subjekt mehr „zu sich selbst“ wird), sondern durch das formierende Wirken „treibender Kräfte“. In Gewaltherrschaften wie der Sklaverei und vielen Theorien der Kritik ist das Konzept der Transformation zentral. Für die Ökonomie der Sklaverei ist eine nahtlose, also möglichst übergangs- und geräuschlose Transformation der Arbeitskraft in Arbeit von besonderer Bedeutung. Zwischen dem Empfang eines Befehls und dessen Ausführung darf sich möglichst keine – etwa durch widerständige Körper hervorgerufene – Latenz einnisten. Im Widerstand (nach Därmann) wie in der Kritik (nach Nietzsche) hingegen wird etwas Neues erfunden, das mehr als eine Unterbrechung eines bestehenden Prozesses bedeutet: ein Ausgang dort, wo sich zuvor kein Ausgang abzeichnete.
Vgl. Christoph Menke: Theorie der Befreiung. Berlin 2022, S. 17.
Autor:innen Biographien (alphabetisch) Beate Absalon studierte Kulturwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin und Contemporary Art Theory an der Goldsmiths University in London. Sie war Junior Fellow am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften in Wien und promoviert derzeit am Graduate Center for the Study of Culture in Gießen über die Vermittlung von Einvernehmlichkeitspraktiken anhand queer-feministischer Workshopformate von LARP bis BDSM. Friedrich Balke ist ein deutscher Philosoph, Kultur- und Medienwissenschaftler. Er ist Inhaber des Lehrstuhls für Medienwissenschaft unter besonderer Berücksichtigung der Theorie, Geschichte und Ästhetik bilddokumentarischer Formen an der Ruhr-Universität Bochum und Sprecher des DFG-Graduiertenkollegs „Das Dokumentarische. Exzess und Entzug“. Holger Brohm ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kulturwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin. Nach einer mehrjährigen Tätigkeit im Aufbau-Verlag Berlin und Weimar studierte er Kulturwissenschaft und Neuere deutsche Literatur und wurde 1999 mit einer Arbeit zur Literaturzensur in der DDR promoviert. Er forscht seit längerem zur Kultur- und Wissensgeschichte des Schlafes und bereitet derzeit eine Publikation vor, in der die aktuellen biopolitischen Auseinandersetzungen um die Ressource Schlaf kritisch beleuchtet werden. Claudia Bruns ist Professorin für „Historische Anthropologie und Geschlechterforschung“ am Institut für Kulturwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin. Sie war Sprecherin des DFGGraduiertenkollegs „Geschlecht als Wissenskategorie“, des „Zentrums für Transdisziplinäre Geschlechterstudien“ und ist derzeit Direktoriumsmitglied des „Selma Stern Zentrums für Jüdische Studien Berlin Brandenburg“. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen die Europäische Kulturgeschichte des Politischen, Sexualitäts-, Körper- und Männlichkeitsgeschichte, die Geschichte von Antisemitismus und Rassismus, der Jugendbewegung, Grenz- und Raumfigurationen, filmischer Erinnerung an den Holocaust, Transfer-, Intersektionalitätsforschung und Postkoloniale Theorie. Kathrin Busch ist Philosophin und lehrt als Professorin an der Universität der Künste. Als Gründungspräsidentin der Gesellschaft für künstlerische Forschung (gkfd.org) hat sie das Berliner Programm für künstlerische Forschung auf den Weg gebracht. Zu ihren Arbeitsschwerpunkten gehören neben Fragen des ästhetischen Denkens und der Kunst auch Theorien der Passivität und Fleischlichkeit. Ausgewählte Veröffentlichungen: (Hg. mit Barbara Gronau und Kathrin Peters): An den Rändern des Wissens. Epistemologien der Künste, Bielefeld 2023; (Hg. mit Christoph Brunner und Knut Ebeling): Permeationen – Durchdringungen von künstlerischer Forschung und ästhetischer Theorie, Leipzig 2023; (Hg.): Radikale Passivität: Politiken des Fleisches, Ausst.-Kat., nGbK, Berlin 2020; P – Passivität, Hamburg 2012. Sofie Fingado hat Kulturwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin und deren Partneruniversitäten in Tel Aviv und Kopenhagen studiert und ist Doktorandin am Graduiertenkolleg „minor cosmopolitanisms“ an den Universitäten Potsdam und Melbourne. Sie beschäftigt sich mit Gewaltfigurationen der Singularisierung und Isolation sowie mit Praktiken des kollektiven Überlebens, der Sorge und der Assoziation in ihrer abolitionistischen Potentialität. In ihrem
242 Autor:innen Biographien (alphabetisch) Dissertationsprojekt arbeitet sie zu widerständigen Verwandtschaftspraktiken im US-amerikanischen Gefängnis- und Gefangenschaftskomplex. Nina Franz ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Medienwissenschaft der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig, wo sie zu „Techniktheorie und -geschichte” lehrt. In ihrer Dissertation im Fach Kulturwissenschaft beschäftigte sie sich mit der Geschichte militärischer Bildtechniken und der Produktion von Gehorsam. Sie war als Kuratorin für zeitgenössische Kunst im Auftrag des Goethe-Instituts in China und Südkorea tätig und arbeitete von 2012 bis 2015 am Lehr- und Forschungsbereich für kulturwissenschaftliche Ästhetik am Institut für Kulturwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin. In ihrem Postdoc-Projekt geht es um die Selbstzerstörung des Menschen als Figur der Technikkritik im Zeichen der Klimakatastrophe. Andreas Gehrlach erhielt im Jahr 2010 ein Promotionsstipendium an der Friedrich Schlegel Graduiertenschule für Literaturwissenschaftliche Studien der Freien Universität Berlin. Die Promotion wurde unter dem Titel „Diebe. Die heimliche Aneignung als Ursprungserzählung in Literatur, Philosophie und Mythos” veröffentlicht. Seit 2016 ist Andreas Gehrlach als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kulturwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin und bereitet dort seine Habilitation über die „Kultur- und Körpergeschichte des Kniefalls” vor. Sophia Gräfe ist Doktorandin am Institut für Kulturwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin. In ihrem Dissertationsprojekt beschäftigt sie sich mit einer Medien- und Wissensgeschichte des Verhaltens. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören die Kulturwissenschaftliche Wissenschaftsforschung, die Geschichte des Gebrauchsfilms, naturkundliche Bildarchive, die Überwachungsfilme des Ministeriums für Staatssicherheit (Stasi) sowie Film & Animal Studies. Philipp Gries arbeitet momentan an einem Promotionsprojekt, welches Friedrich Nietzsches Idee eines kritischen Einschnitts mit Roland Barthes’ Figur des Neutrums verschränkt. Zuvor: Studium der Philosophie, Kulturwissenschaften und Soziologie sowie Stipendiat am Graduiertenkolleg KOMA der Bauhaus-Universität Weimar. Er betreibt das Musiklabel Corinne de Berne. Waldemar Isak studierte Kulturwissenschaft und Medienwissenschaft an der University of Edinburgh und an der Humboldt-Universität zu Berlin. Dort ist er derzeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kulturwissenschaft tätig. Zu seinen Forschungsinteressen gehören u.a. die Affekt- und Bildkulturen des Schlafs und der Schlaflosigkeit, queere Ästhetiken und aisthetische Epistemologien. Christian Kassung ist seit 2006 Professor für „Kulturtechniken und Wissensgeschichte“ an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er ist Mitglied des „Hermann von Helmholtz-Zentrums für Kulturtechnik” und Principal Investigator am Exzellenzcluster „Matters of Activity“. Von 2018 bis 2023 leitete er die Kultur-, Sozial- und Bildungswissenschaftliche Fakultät als Dekan. Im Sommersemester 2023 ist er Senior Fellow in der DFG-Kolleg-Forschungsgruppe „Imaginarien der Kraft“ an der Universität Hamburg. Charlotte Klonk ist Professorin für Kunst und Neue Medien an der Humboldt-Universität zu Berlin und Mitglied der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina. Sie war Fellow am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, am Wissenschaftskolleg in Berlin und am
Autor:innen Biographien (alphabetisch) 243 Clark Art Institute in Williamstown. Zu ihren Publikationen in jüngerer Zeit zählen Revolution im Rückwärtsgang. Der 6. Januar 2021 und die Bedeutung der Bilder (2022), Terror. Wenn Bilder zu Waffen werden (2017) und zusammen mit Jens Eder (Hg.), Image Operations (2016). Sebastian Köthe hat den Diplomstudiengang Drehbuch an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin absolviert sowie ein Studium der Kulturwissenschaft und Philosophie an der HU Berlin. Im Anschluss war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Graduiertenkolleg „Das Wissen der Künste“ an der Universität der Künste Berlin, wo er seine Dissertation „Guantánamo bezeugen“ abschloss. Heute ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Forschungsschwerpunkt Ästhetik der Zürcher Hochschule der Künste. Paul Krell studierte Rechtswissenschaften in Osnabrück und Konstanz. Er war Rechtsreferendar in Heidelberg und anschließend wissenschaftlicher Mitarbeiter zunächst bei Björn Burkhardt und dann bei Jens Bülte an der Universität Mannheim. 2015-2021 war er Juniorprofessor an der Bucerius Law School in Hamburg, wo er seit 2021 Inhaber des Lehrstuhls für Strafrecht in der globalisierten und digitalisierten Risikogesellschaft ist. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Wirtschafts- und Umweltstrafrecht sowie bei den verfassungsrechtlichen Bezügen des Strafrechts. Lena Kugler ist Autorin, Kultur- und Literaturwissenschaftlerin und hat momentan eine Gastprofessur am Institut für Kulturwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin inne. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören die Cultural and Literary Animal Studies, Konzepte und Narrative der Inselkulturbiogeographie und die Geschichte/n der jüdischen Diaspora und ihrer Ökologien. Brigitta Kuster ist Juniorprofessorin für kulturwissenschaftliche Filmforschung mit Schwerpunkt Gender an der Humboldt-Universität zu Berlin. Ihre aktuelle Forschung beschäftigt sich mit der Digitalisierung und Biometrisierung der EU-Außengrenze sowie mit dekolonialen Perspektiven auf das audiovisuelle Bewegtbild im Sinne von Überlegungen, Praktiken und Anliegen, die das Dritte und Vierte Kinos sowie das „cinéma militant“ fortführen. Jüngste Buchveröffentlichungen: Grenze filmen. Eine kulturwissenschaftliche Analyse audiovisueller Produktionen an den Grenzen Europas, Bielefeld (transcript) 2018, und Choix d’un passé - transnationale Vergegenwärtigungen kolonialer Hinterlassenschaften, Wien (transversal texts) 2016. Britta Lange ist Kunst- und Kulturwissenschaftlerin. Mit dem Forschungsprojekt „Gefangene Stimmen“, das sie am Institut für Sozialanthropologie an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien und am Institut für Kulturwissenschaft an der Humboldt-Universität Berlin durchführte, habilitierte sie sich im Jahr 2011. Seit 2014 ist sie Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kulturwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin, von 2016 bis 2018 war sie Co-Sammlungsleiterin des Lautarchivs der Universität. In ihrer Forschung befasst sie sich mit der Kulturgeschichte des 19. bis 21. Jahrhunderts, der Geschichte und Theorie des frühen Films und früher Tondokumente, Konzepten des Sammelns und Ausstellens, Kulturtechniken sowie mit kolonialen und postkolonialen Konstellationen. Verena Olejniczak Lobsien ist Professorin für Neuere Englische Literatur (i.R.) an der HumboldtUniversität zu Berlin. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Literatur und Kultur der Renaissance und der Frühen Neuzeit, Antiketransformation, Geschichte der Sympathie, Environmental Humanities. Sie ist u.a. Autorin von Subjektivität als Dialog. Philosophische Dimensionen der Fik-
244 Autor:innen Biographien (alphabetisch) tion (1994), Skeptische Phantasie (1999), Transparency and Dissimulation: Configurations of Neoplatonism in Early Modern English Literature (2010), Jenseitsästhetik (2012), Shakespeares Exzess (2015) und, mit Eckhard Lobsien, Die unsichtbare Imagination (2003). 2022 erschien ihr Buch Die vergessene Sympathie: Zu Geschichte und Gegenwart literarischer Wirkung. Sophia Lohmann promoviert über Essayismus als kulturelle Praxis mit einem Fokus auf Ästhetiken und Ethiken der Fremdbetrachtung im Werk amerikanischer Autor:nnen nach 1945. Ihre Forschung wird am Institut für Kulturwissenschaft der HU Berlin und an der Graduate School of North American Studies der FU Berlin (JFKI) im Bereich Literatur betreut und gefördert. An der UC Berkeley verbrachte sie ein Forschungssemester, zuvor Studium der Kulturwissenschaft, Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft und Politikwissenschaft in Berlin und Edinburgh. Daneben Tätigkeiten als Projektassistenz am Haus der Kulturen der Welt, Berlin (Anthropozäncurriculum), im freien Journalismus und als Redaktionsleitung der Print-Zeitschrift ROM – Gesellschaftsmagazin. Antonio Lucci ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie und Erziehungswissenschaft der Universität Turin. In den letzten Jahren hat er die Professuren für „Kulturtheorie und kulturwissenschaftliche Ästhetik“, „Wissens- und Kulturgeschichte“ (Humboldt-Universität zu Berlin) und „Religionswissenschaft“ (Freie Universität Berlin) vertreten sowie internationale Fellowships und Gastprofessuren (u.a. IFK Wien; FIPH Hannover; IISF Neapel; Universität „Gabriele D’Annunzio“ Chieti und Universität Turin) innegehabt. Davor war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kulturwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin und Post-Doc am Exzellenzcluster TOPOI. Zu seinen Veröffentlichungen zählen u.a.: Askese als Beruf. Die sonderbare Kulturgeschichte der Schmuckeremiten (Wien 2019); (Hg. mit J. Knobloch) Gegen das Leben, gegen die Welt, gegen mich selbst. Figuren der Negativität (Heidelberg 2021); (Hg. mit J. Söffner u. E. Schomacher) Italian Theory (Leipzig 2020) und zuletzt True Detective. Eine Philosophie des Negativen (Wien 2021). Thomas Macho war von 1993 bis 2016 Professor für Kulturgeschichte am Institut für Kulturwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin. Seit 2016 ist er Direktor des IFK - Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften der Kunstuniversität Linz in Wien. 2019 wurde er mit dem Sigmund Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung ausgezeichnet, 2020 mit dem Österreichischen Staatspreis für Kulturpublizistik. Zuletzt erschienen sind: Das Leben nehmen. Suizid in der Moderne, Berlin: Suhrkamp 2017; Warum wir Tiere essen, Wien: Molden 2022; Sehen ohne Augen, Ottensheim: Edition Thanhäuser 2022. Silvia Mazzini ist wissenschaftliche Mitarbeiterin für Philosophie und Kunsttheorie am Institute for Doctoral Studies in the Visual Arts in Portland, Maine. Nachdem sie als Visiting Fellow am ICI Berlin geforscht hat, war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kulturwissenschaft der HU Berlin 2015–2017 (wo sie 2009 promoviert hatte) und 2017–2018 an der Universität der Künste Berlin. 2019-2021 unterrichtete sie Geschichte der spätmodernen kontinentalen Philosophie an der Universität Groningen (Niederlande). Sie hat über Kunst und Politik bei Pasolini, Bloch und Vattimo, über tragisches und komisches Denken und Gemeinschaftstheater veröffentlicht; derzeit schreibt sie über die Philosophie der Armut.
Autor:innen Biographien (alphabetisch) 245 Jasmin Mersmann ist Professorin für Kunstgeschichte an der Kunstuniversität Linz. Zuvor war sie Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kulturwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin, unterbrochen von Postdoc-Fellowships am IKKM Weimar und dem IFK Wien. Promotion über Beziehungen zwischen Künsten und Wissenschaften um 1600. Aktuell arbeitet sie an einem Buch zur Kulturgeschichte des Teufelspakts und einem Forschungsprojekt über Techniken zur Um/Gestaltung von Lebewesen von 1500 bis heute. Maud Meyzaud ist Privatdozentin an der Goethe-Universität Frankfurt und zurzeit Senior Fellow am Maria Sibylla Merian Centre Conviviality-Inequality in Latin America (Mecila), São Paulo, Brasilien. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören Literatur- und Kulturtheorie, politische Theorie (Poetologien der Revolution und des Volkes) und Literatur und Pauperismus. Sie arbeitet derzeit über transkulturelle Prozesse in der europäischen Literatur. Jan Mollenhauer ist im Wissenschaftsmanagement tätig. Er studierte Kulturwissenschaft und deutsche Literatur in Berlin und Los Angeles. Er war von 2016 bis 2019 wissenschaftlicher Mitarbeiter in Berlin und Frankfurt am Main. Derzeit beendet er seine Promotionsschrift mit dem Thema Spektrale Differenzen im Zwischenraum der Bilder. 8 Fotos und ihre multidirektionalen Bildergeschichten, in der es ihm um Verbindung zwischen afrodiasporischen Gewaltgeschichten einerseits und Holocausterinnerungen andererseits zu tun ist. Er publizierte außerdem u.a. zu Adorno in L.A., Frauen und Film bei Günter Peter Straschek, sowie Ethnographie und was sie sein könnte. Günther Ortmann, Organisationstheoretiker, bis 2022 Forschungsprofessor für Führung an der Universität Witten/Herdecke. Letzte Publikation: Gabe versus Tausch. Reziprozität in Organisationen (2023). Oliver Precht arbeitet als Philosoph und Literaturwissenschaftler am Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung, wo er ein Forschungsprojekt zum Thema »Marx in Frankreich: Die Selbstbestimmung der französischen Theorie (1945–95)« verfolgt. Er ist Mitherausgeber der Buchreihe Neue Subjektile im Verlag Turia + Kant und arbeitet gelegentlich als Übersetzer und Herausgeber philosophischer, literarischer und politischer Schriften. Seit 2022 leitet er ein internationales Forschungsprojekt (AvH-Institutspartnerschaft), das sich unter dem Titel »Paradoxes of Emancipation« mit den Herausforderungen einer »postfaktischen« Gegenwart für emanzipatorische Politik beschäftigt. Zu seinen Veröffentlichungen zählen Der rote Faden. Maurice Merleau-Ponty und die Politik der Wahrnehmung, Berlin: August 2023; Heidegger. Zur Selbst- und Fremdbestimmung seiner Philosophie, Hamburg: Meiner 2020; „Weltverlust und Selbstbehauptung. Politische Ökologie und politische Philosophie bei Bruno Latour”, in: Selbstverlust und Welterfahrung. Erkundungen einer pathischen Moderne, hg. v. Björn Bertrams u. Antonio Roselli, Wien / Berlin: Turia + Kant 2021. Ilka Quindeau, Prof. Dr., ist Psychoanalytikerin, Lehranalytikerin (DPV/IPA) und arbeitet seit 2020 als Fellow am Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin. Von 2018 bis 2020 war sie Präsidentin der International Psychoanalytic University in Berlin. Sie ist zudem Professorin für Klinische Psychologie und Psychoanalyse an der Frankfurt University of Applied Sciences. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den Feldern der individuellen und gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit Nationalsozialismus und Holocaust, sowie der Biographie-, Traumaund Geschlechterforschung.
246 Autor:innen Biographien (alphabetisch) Evke Rulffes ist Autorin und Kuratorin. Sie studierte Kulturwissenschaft, Kunstgeschichte und Niederländische Philologie in Berlin und Amsterdam. Ihre Promotion zu Haushaltsratgebern der Spätaufklärung, der Vermittlung von Alltagswissen und der Rolle der Frau veröffentlichte sie als historisches Sachbuch unter dem Titel Die Erfindung der Hausfrau. Geschichte einer Entwertung (2021). Gemeinsam mit Jasmin Mersmann kuratierte sie die Ausstellung unBinding Bodies. Lotosschuhe und Korsett am MARKK Hamburg und TAT Berlin (2022/23). Leander Scholz, geboren 1969, ist Philosoph und Schriftsteller. Er lebt in Berlin. Zuletzt erschienen von ihm Zusammenleben. Über Kinder und Politik (Hanser 2018), Die Menge der Menschen. Eine Figur der politischen Ökologie (Kadmos 2019) und Die Regierung der Natur. Ökologie und politische Ordnung (August 2022). Marianne Schuller ist emeritierte Professorin für Literaturwissenschaft der Universität Hamburg. Nach ihrer Arbeit als Dramaturgin am am Deutschen Schauspielhaus Hamburg, dem Bremer Theater am Goethe-Platz und der Volksbühne Berlin war sie Assistentin an der Ruhr-Universität Bochum, Professorin für Literaturwissenschaft in Marburg und in Hamburg, mit Gastprofessuren an der Indiana State University, Bloomington, der Vanderbilt University in Nashville, der University of Virginia, der HCU Hamburg und mehrere Jahre an der Leuphana Universität. Forschungsschwerpunkte: Literatur und Wissensgeschichte, Psychoanalyse, Geschlechterforschung, zuletzt erschienen: Kafka. Organisation, Recht und Schrift, zusammen mit Günther Ortmann, Velbrück 2019, und Fleck, Glanz, Finsternis: Zur Poetik der Oberfläche bei Adalbert Stifter, zusammen mit Thomas Gann, Fink 2017. Erhard Schüttpelz ist Professor für Medientheorie an der Universität Siegen und war Sprecher des Graduiertenkollegs „Locating Media“ und des Sonderforschungsbereichs „Medien der Kooperation“. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören Sprache und Sache, das Eigene und das Fremde sowie Geschichte und Struktur. Robert Stock ist Juniorprofessor für Kulturen des Wissens am Institut für Kulturwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin und Sprecher des DFG-Netzwerks „Dis-/Abilities – Nicht/Behinderung und Medien im Kontext der Digitalisierung“. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören Mobilitätswissen und Dis/Ability, kulturwissenschaftliche Tier-Studien sowie lusoafrikanische Dekolonisierungsprozesse und dokumentarische Filme. Samo Tomšič vertritt die Professur für Philosophie an der Hochschule für bildende Künste Hamburg und forscht im Rahmen des Exzellenzclusters Matters of Activity: Image, Space, Material an der Humboldt-Universität zu Berlin. Zu seinen Forschungsbereichen zählen u.a. politische Philosophie, kritische Theorie im erweiterten Sinne und theoretische Psychoanalyse. Ausgewählte Veröffentlichungen: The Capitalist Unconscious: Marx and Lacan (London 2015) und The Labour of Enjoyment. Toward a Critique of Libidinal Economy (Berlin 2019). Bernhard Waldenfels, Professor Emeritus für Philosophie an der Ruhr-Universität Bochum, Ehrendoktor der Universitäten Freiburg und Rostock, Gastprofessuren u. a. in Hongkong, New York, Paris, Prag, Rom, Wien. Mitbegründer der Deutschen Gesellschaft für Phänomenologie. Sigmund-Freud-Kulturpreis 2017, Leopold Lucas-Preis 2021. Zahlreiche Veröffentlichungen in den Bereichen Phänomenologie des Dialogs, des Fremden, des Leibes, der Sinne und Künste und der neueren französischen Philosophie.
Autor:innen Biographien (alphabetisch) 247 Michael Wildt, 2009 bis 2022 Professor für deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert mit Schwerpunkt im Nationalsozialismus an der Humboldt-Universität zu Berlin; zuvor wissenschaftlicher Mitarbeiter im Arbeitsbereich Theorie und Geschichte der Gewalt des Hamburger Instituts für Sozialforschung. Jüngste Veröffentlichungen: Zerborstene Zeit. Deutsche Geschichte 1918 bis 1945, München 2022; Ambivalenz des Volkes. Der Nationalsozialismus als Gesellschaftsgeschichte, Berlin 2019. Stefan Willer ist Professor für Neuere deutsche Literatur an der Humboldt-Universität zu Berlin. Forschungsschwerpunkte: Kulturgeschichte von Erbe und Generation; Zukunftswissen und Zukunftsliteratur; Figuren des Exemplarischen; Sprach- und Übersetzungstheorien; Beziehungen zwischen Literatur und Musik. Buchpublikationen (Auswahl): Poetik der Etymologie. Texturen sprachlichen Wissens in der Romantik (2003); Das Beispiel. Epistemologie des Exemplarischen (Mithg., 2007); Das Konzept der Generation. Eine Wissenschafts- und Kulturgeschichte (Mitverf., 2008); Erbfälle. Theorie und Praxis kultureller Übertragung in der Moderne (2014); Futurologien. Ordnungen des Zukunftswissens (Mithg., 2016); Selbstübersetzung als Wissenstransfer (Mithg., 2022). Stephan Zandt ist Post-Doc am Graduiertenkolleg „Medienanthropologie“ der Universität Weimar. Er war bis 2023 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kulturwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin sowie 2021 Research Fellow am IFK Wien. Seine Dissertation, die im Rahmen des SFB 644 „Transformationen der Antike“ entstand, beschäftigte sich unter dem Titel Die Kultivierung des Geschmacks mit der Transformationsgeschichte der kulinarischen Sinnlichkeit (2019). Gegenwärtig forscht er zu Beziehungen von Kindern und Tieren im Anthropozän und fragt nach der Bedeutung von tierlichen Übergangsobjekten als kolonialen Erinnerungsmedien.