Das Münchener Abkommen von 1938 in europäischer Perspektive: Eine Gemeinschaftspublikation des Instituts für Zeitgeschichte München-Berlin und des Collegium Carolinum 9783486719291, 9783486704174

The Munich Agreement was the prelude to the destruction and occupation of Czechoslovakia. It fueled existing German dema

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Das Münchener Abkommen von 1938 in europäischer Perspektive: Eine Gemeinschaftspublikation des Instituts für Zeitgeschichte München-Berlin und des Collegium Carolinum
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Das Münchener Abkommen von 1938 in europäischer ­Perspektive

Eine Gemeinschaftspublikation des Instituts für Zeitgeschichte München – Berlin und des Collegium Carolinum

Oldenbourg Verlag München 2013

Das Münchener Abkommen von 1938 in europäischer Perspektive Herausgegeben von Jürgen Zarusky und Martin Zückert

Oldenbourg Verlag München 2013

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 Oldenbourg Wissenschaftsverlag GmbH Rosenheimer Straße 143, D-81671 München Tel: 089 / 45051-0 www.oldenbourg-verlag.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ­außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Ein­speicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Konzept und Herstellung: Karl Dommer Einbandgestaltung: hauser lacour Satz: Satz: Typodata GmbH, Pfaffenhofen a.d. Ilm Druck und Bindung: Memminger MedienCentrum, Memmingen Dieses Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706 ISBN 978-3-486-70417-4 eISBN 978-3-486-71929-1

Inhalt Jürgen Zarusky/Martin Zückert Das Münchener Abkommen von 1938 in europäischer Perspektive . . . . . . .

1

Außenpolitische Rahmenbedingungen Christoph Studt Nationalsozialistische Außenpolitik bis zum Sommer 1938 . . . . . . . . . . . . . .

17

Peter Krüger Ostmitteleuropäische Bündnissysteme und Konfliktfelder . . . . . . . . . . . . . . .

31

Peter Neville Hitler und die Appeaser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

45

Patrizia Dogliani Das faschistische Italien und das Münchener Abkommen . . . . . . . . . . . . . . .

53

Christoph Boyer Deutsche Wirtschaftsbeziehungen mit Ostmitteleuropa ­zwischen Kooperation und Beherrschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

69

Die Septemberkrise a) Die Entwicklung in der Tschechoslowakei Detlef Brandes Die Kommunalwahlen vom Mai/Juni 1938 und ihre Folgen . . . . . . . . . . . . .

89

Vít Smetana Die Tschechoslowakei und ihre Verbündeten in der Krise des September 1938. Wie man sich gegenseitig sah und missverstand . . . . . . . .

97

Zdenko Maršálek Aus dem Blickwinkel einer Schießscharte oder aus der Perspektive der „großen“ Strategie betrachtet? Ein polemischer Blick auf die Problematik der militärischen Verteidigung der Tschechoslowakei im September 1938 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 b) Die europäischen Akteure Angela Hermann Verhandlungen und Aktivitäten des NS-Regimes im Vorfeld von „München“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Georges-Henri Soutou Die Westmächte und die Septemberkrise unter besonderer Berücksichtigung Frankreichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159

VI   Inhalt Sergej Slutsch Die Sowjetunion und die Sudetenkrise. Aspekte einer AppeasementPolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 Hans Woller Vom Mythos der Moderation. Mussolini und die Münchener Konferenz 1938 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 c) Opposition und Widerstand Jürgen Zarusky Der deutsche Widerstand gegen den Nationalsozialismus und das Münchener Abkommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Thomas Oellermann Die sudetendeutschen Gegner des Nationalsozialismus vom März 1938 bis zum März 1939 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 Die Folgen in den besetzten Grenzregionen Volker Zimmermann Die „neue Welt“ nach „München“. Erste Erfahrungen der Sudetendeutschen mit der „NS-Volksgemeinschaft“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 Jörg Osterloh Die nationalsozialistische Politik gegen Juden und Tschechen im Sudetenland 1938–1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 Jaromír Balcar Besetzte Wirtschaft: Die ökonomische Durchdringung der Tschechoslowakei und ihre mittel- und langfristigen Auswirkungen . . . . . . 307 Martin Zückert Das Münchener Abkommen und die Kirchen. Deutungen und Folgen . . . . 325 Konsequenzen in Ostmitteleuropa Ignác Romsics Ungarn und der erste Wiener Schiedsspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 Stanisław Żerko Polen, die Sudetenkrise und die Folgen des Münchener Abkommens . . . . . 349 Valerián Bystrický/Michal Schvarc „München“ und die Entstehung des Slowakischen Staates . . . . . . . . . . . . . . 383 Emil Voráček Die Tschecho-Slowakische Republik nach dem Münchener ­Abkommen 1938. Neue Fragestellungen und Forschungsmöglichkeiten zur Entwicklung im tschechischen Landesteil. Thesen und erste Ergebnisse . . . . 411

Inhalt  

VII

Joachim Tauber Deutschland, Litauen und das Memelgebiet 1938/39 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 429 „München“ aus historiographischer Perspektive Josef Becker Der „Fall Celovsky“ in der Bundesrepublik 1958/59 Zeitgeschichte im Spannungsfeld von Politik und Wissenschaft . . . . . . . . . . 441 Verzeichnis der Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 463 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 467 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 473

Jürgen Zarusky/Martin Zückert

Das Münchener Abkommen von 1938 in ­europäischer Perspektive Im Jahr 1958, zwanzig Jahre nach dem Münchener Abkommen schrieb der damalige Generalsekretär des Instituts für Zeitgeschichte, Paul Kluke, im Vorwort zur Studie von Boris Celovsky über die Genese von „München“: „Es ist seit langem eine Binsenweisheit, daß die diplomatische Krise des Sommers 1938 nicht lediglich der deutschen und tschechischen Geschichte angehört, sondern ihre historische Relevanz durch die aus ihr hervorgehende neue Machtverteilung auf dem Kontinent, durch den Zusammenbruch der alten europäischen Staatenordnung erhalten hat.“1 Schon die Titel weiterer wichtiger einschlägiger Publikationen wie „München 1938. Das Ende des alten Europa“2 oder „The Munich Crisis, 1938. Prelude to World War II“3 sind als Bestätigung dieser Sichtweise zu lesen. Obwohl „München“ unbestrittenermaßen für die deutsch-tschechischen Beziehungen von besonderer Virulenz ist, steht diese Chiffre zugleich für ein Ereignis von gesamteuropäischer Bedeutung. „Als Resultat von München wurde der entscheidende Schlag gegen das Versailler System geführt, welches, ungeachtet seiner Mängel, die ­Situation in Europa geordnet hatte; der Prozess seiner Destabilisierung überschritt die kritische Marke“, stellen die russische Historikerin Natal’ja Lebedeva und ihr polnischer Kollege Mariusz Wołos im Vorwort des von ihnen gemeinsam herausgegebenen Sammelbandes über das Münchener Abkommen zutreffend fest.4 Die Geschehnisse, die zur Konferenz in München führten, die dort getroffenen Entscheidungen und deren Folgen bilden einen Komplex, der weit mehr umfasst als die erzwungene Abtretung der mehrheitlich deutsch besiedelten Randgebiete der Tschechoslowakei an das Deutsche Reich. Dass es um erheblich mehr ging, ist schon dem Text des Abkommens zu entnehmen, das nicht nur deshalb ein außerordentlich eigentümliches diplomatisches Dokument ist, weil darin über das Territorium eines an den Verhandlungen gar nicht beteiligten Staates verfügt wird, sondern auch weil der Text zum Großteil im Duktus eines Räumungsbefehls gehalten ist, was letztlich auch seine Substanz ausmacht. In einem Zusatz zu dem Abkommen erklärten Groß­britannien und Frankreich, dass sie zu dem Angebot 1

Kluke, Paul: Geleitwort in: Celovsky, Boris: Das Münchner Abkommen 1938. München 1958, S. 1 f., hier: S. 1. 2 Glotz, Peter/Pollok, Karl-Heinz/Schwarzenberg, Karl/Nees Ziegler, John van (Hg.): München 1938. Das Ende des alten Europa. Essen 1990. 3 Lukes, Igor/ Goldstein, Erik (Hg.): The Munich Crisis, 1938. Prelude to World War II. London 1999. 4 Lebedeva, Natal’ja S./Wołos, Mariusz/Koršunov, Jurij (Hg.): Mjunchenskoe soglašenie 1938 goda: Istorija i sovremennost’. Materialy meždunarodnoj konferencii Moskva, 15–16 oktjabrja 2008 g. [Das Münchener Abkommen von 1938: Geschichte und Gegenwart. Materialien der internationalen Konferenz in Moskau, 15./16. Oktober 2008]. Moskau 2009, S. 11–14, hier S. 12.

2   Jürgen Zarusky/Martin Zückert einer gemeinsamen Garantie der neuen tschechoslowakischen Grenzen stünden; Deutschland und Italien würden ihrerseits der Tschechoslowakei eine Garantie geben, sobald die Frage der polnischen und der ungarischen Minderheiten in der Tschechoslowakei geregelt sei. Insbesondere Hitler trat hier also als der Sprecher auf, der die expansionistischen Tendenzen des Reiches mit revisionistischen Interessen anderer Staaten verband. Ermutigt vom deutschen Diktator forderte Polen am 30. September 1938 von der ČSR ultimativ die umgehende Abtretung des auch als Olsagebiet bezeichneten Teschener Ländchens. Am 2. November 1938 erhielt Ungarn durch den von Joachim von Ribbentrop und Galeazzo Ciano gefällten Wiener Schiedsspruch erhebliche Teile der Südslowakei und der Karpato-­ Ukraine zugesprochen. Doch nicht allein die direkte oder indirekte, aktive oder passive unmittelbare Beteiligung von sieben Staaten – Deutschlands, Italiens, Frankreichs, Großbritanniens, der Tschechoslowakei, Polens und Ungarns – macht die europäische Dimension des Münchener Abkommens aus. Noch bedeutsamer war, dass es das endgültige Scheitern einer Politik der kollektiven Sicherheit markierte. Frankreich sah sich, konfrontiert mit der entschieden kriegerischen Haltung Hitlers, nicht in der Lage, seinen Bündnisverpflichtungen gegenüber der Tschechoslowakei nachzukommen, Großbritannien wollte ebenfalls keinen Konflikt riskieren, und die Sowjetunion, die Prag nur im Falle einer Beteiligung seines französischen Bündnispartners Beistand zugesichert hatte, wurde erst gar nicht auf den Prüfstand gestellt. Indes bedeutete „München“ für Moskau den Höhepunkt der Isolation in der internationalen Arena; zugleich gab das Scheitern der Schaffung von Strukturen kollektiver Sicherheit in Europa der sowjetischen Politik einen kräftigen Impuls zu neuerlichen Anstrengungen, mit NS-Deutschland eine gemeinsame Sprache zu finden. Die Appeasement-Politik verkannte die Absichten Hitlers, der die Öffentlichkeit mit seinen Aussagen über seine angeblich letzte territoriale Forderung täuschte, jedoch den Spitzen der Wehrmacht und Außenminister Neurath schon am 5. November 1937 seine Absicht kundgetan hatte, in absehbarer Zeit „die deutsche Raumfrage“ zu lösen und dabei als ersten Schritt die Tschechoslowakei und gleichzeitig Österreich militärisch zu zerschlagen. Dabei betonte er, dass mit einem Eingreifen Frankreichs und Englands nicht zu rechnen sei.5 Der Ablauf gestaltete sich etwas anders, und für alle die glauben wollten, in München sei der Frieden gerettet worden, wurden die kriegerischen Expansionsabsichten erst im März 1939 deutlich, als deutsche Truppen in Prag einmarschierten. Im Herbst 1938 war Europa am Rand eines großen Kriegs gestanden. Bei den Zeitgenossen überwog das Gefühl der Erleichterung darüber, dass es scheinbar gelungen war, von diesem tiefen Abgrund zurückzutreten. Das galt nicht nur für erhebliche Teile der Bevölkerung in Großbritannien, Frankreich und Deutschland, sondern auch für Teile der Führungselite des Reichs in Wehrmacht und Auswärtigem Amt. Während die deutsche Bevölkerungsmehrheit in den zwangsweise abgetretenen 5

Akten zur deutschen auswärtigen Politik 1918–1945, Serie D (1937–1945), Bd. 1: Von Neurath zu Ribbentrop (September 1937–September 1938), Göttingen 1950, S. 25–32.

Das Münchener Abkommen von 1938 in europäischer Perspektive   3

Gebieten geradezu euphorisch reagierte, wurden die Hitler-Gegner und die Juden indes in eine verzweifelte und die dort ansässigen Tschechen in eine zumindest äußerst schwierige Lage versetzt. So bedeutete für rund 2700 deutsche Gegner des Nationalsozialismus die Verwirklichung der Parole „Heim ins Reich“ den Abtransport ins KZ Dachau, weitere Tausende flüchteten.6 Die jüdische Bevölkerung war von einem Tag auf den anderen denselben diskriminierenden Bedingungen unterworfen wie im Reich und ebenso wie diese von der Brutalität des Novemberpogroms betroffen.7 Vor allem Juden und Nazigegner zahlten den Preis der Appeasement-Politik. Die Klarsichtigen, die keinen Zweifel daran hatten, dass Hitler Europa weiter auf den Krieg zutreiben würde, und die sich unter britischen Konservativen ebenso fanden wie im linken Untergrund in NS-Deutschland, bildeten eine manchmal geradezu verzweifelte Minderheit. Ob sich aus ihren realistischen Einschätzungen der nicht zu zügelnden kriegerischen Aggressivität HitlerDeutschlands in der historischen Situation des Jahres 1938 eine konsistente Alternative zum Appeasement und zu „München“ hätte bilden können, ist indes eine Frage, auf die es wegen ihrer Kontrafaktizität keine gesicherte wissenschaftliche Antwort geben kann. Ob man „München“ als nachvollziehbaren und vielleicht unumgänglichen letzten Versuch bewertet, den Krieg mit Deutschland zu vermeiden oder als ein aussichtsloses und folgenschweres Manöver, auf das man es gar nicht hätte ankommen lassen dürfen, bleibt nach wie vor umstritten, und auch der vorliegende Band kann hierzu weder eine endgültige Antwort noch eine einheitliche Sichtweise bieten. Dies ist auch nicht beabsichtigt: sein Ziel ist vielmehr die Erweiterung der Perspektiven auf das Geschehen. Die Traumata des Krieges und vor allem die Teilung des europäischen Kontinents nach dem Zweiten Weltkrieg haben die Herausarbeitung eines umfassenden europäischen Verständnisses des historischen Sachverhalts erheblich erschwert. Zwar ist „München“ schon frühzeitig Gegenstand der internationalen Forschung gewesen, doch unterlag diese einschränkenden Rahmenbedingungen und stieß an Grenzen, die teils äußerlicher, teils wissenschaftsimmanenter Natur waren. Der wichtigste Faktor dabei war die fehlende Wissenschaftsfreiheit in den Ländern des Warschauer Pakts, die die Forschung über Jahrzehnte hinweg massiv beeinträchtigte. Ein Blick auf die wichtigsten Sammelwerke verdeutlicht dies: Der von Peter Glotz, Karl Schwarzenberg (heute ein führender Politiker der Tschechischen Republik) und anderen 1990 herausgegebene Band „München 1938. Das Ende des alten Europa“,8 der eine vom 26. September bis 1. Oktober 1988 in Bremen durchgeführte Tagung dokumentiert, trägt einen Klappentext, in dem noch von „Wissenschaftlern aus Ost und West“ die Rede ist, während es in der redaktionellen Anmerkung heißt: „Philologische Streitigkeiten mit unüberhörbaren politischideologischen Unterstellungen gehörten zum Alltag der nunmehr im Zeichen

6

Vgl. den Beitrag von Thomas Oellermann in diesem Band. Vgl. den Beitrag von Jörg Osterloh in diesem Band. 8 Wie Fußnote 2. 7

4   Jürgen Zarusky/Martin Zückert e­ ines gemeinsamen europäischen Hauses überwundenen Nachkriegszeit.“9 Dass die Folgen der Ost-West-Spaltung im wissenschaftlichen Diskurs nicht sofort mit dieser selbst verschwanden, zeigten weitere Versuche, die Problematik von „München“ international zu erschließen. An dem von Igor Lukes und Erik Goldstein herausgegebenen Sammelband „The Munich Crisis, 1938. Prelude to World War II“ wirkte aus Osteuropa nur die Ungarin Magda Ádám mit, wenn man von der polnischen Auslandshistorikerin Anna Cienciala absieht, deren wissenschaftliche Heimat die Universität von Kansas ist.10 Und Fritz Taubert, der Initiator eines in Zusammenarbeit mit dem Collegium Carolinum durchgeführten Symposiums, das sich zum 60. Jahrestag im September 1998 in Paris mit dem „Mythos München“ auseinandersetzte, zog im Vorwort zu dem gleichnamigen Sammelband Bilanz über die unterschiedlichen Ausgangslagen und Hoffnungen, die sein Vorgänger René Girault 197811 und er 1998 hatten, eine etwas ernüchterte Bilanz: „Zwanzig Jahre später war die internationale Lage eine ganz andere: Der ‚Eiserne Vorhang‘ existierte nicht mehr, Wissenschaftler aus dem ehemaligen ‚Ostblock‘ konnten ohne Probleme eingeladen werden […], und dies ohne jeden politischen Vorbehalt. Man war dementsprechend nicht mehr auf Exilwissenschaftler angewiesen, die Archive vor Ort waren seit mehr als einem halben Jahrzehnt fast unbeschränkt zugänglich. Es mußte allerdings hinzugefügt werden, daß die Forschung über die sogenannte Zwischenkriegszeit in den betreffenden Ländern nicht in dem von der westlichen Historikerzunft angenommenen Maß von den neuen Möglichkeiten Gebrauch machte: In Ostmitteleuropa beschäftigt man sich heute mehr mit der Aufarbeitung der unmittelbaren Vergangenheit als mit internationalen Problemen der dreißiger Jahre. […] Dementsprechend schwierig war es – paradoxerweise – Wissenschaftler aus den 1938 von ‚München‘ betroffenen Ländern Osteuropas als Teilnehmer am Kolloquium zu gewinnen.“12 Die von Fritz Taubert geschilderte Ausgangslage hat sich mittlerweile stark verändert. In den letzten Jahren ist in verschiedenen Ländern Ostmittel- und Ost­ europas eine Reihe von Publikationen erschienen, die basierend auf neueren ­Forschungsergebnissen darauf zielt, die diplomatischen und politischen Zusammenhänge und Hintergründe des Abkommens von München zu rekonstruieren. Parallel dazu ist international ein gestiegenes Interesse an Minderheitenfragen zu konstatieren, was sich wiederum in Publikationen zur historischen Konstellation der Minderheitenproblematik im Vorfeld des Zweiten Weltkrieges widerspiegelt.13   9 Ebenda,

S. XI f. Munich Crisis, 1938. Prelude to World War II. 11 Die Beiträge zu dem Kolloquium von 1978 sind veröffentlicht in: Munich 1938. Mythes et Réalités. Paris 1979 (Revue des Études Slaves 52 (1979), S. 1–255.). 12 Taubert, Fritz: Vorwort, in: Ders. (Hg.): Mythos München – Le Mythe de Munich – The Myth of Munich. München 2002, S. IX f. 13 Vgl. u. a. die Untersuchungen von Minderheitenkonstellationen in der Zwischenkriegszeit anhand des Loyalitätsbegriffs: Haslinger, Peter/Puttkamer, Joachim von (Hg.): Staat, Loyalität und Minderheiten in Ostmittel- und Südosteuropa 1918–1941. München 2007. Schulze Wessel, Martin (Hg.): Loyalitäten in der Tschechoslowakischen Republik 1918–1938. Politische, nationale und kulturelle Zugehörigkeiten. München 2004. Die Wirkungen ideologischer 10 The

Das Münchener Abkommen von 1938 in europäischer Perspektive   5

Und schließlich entstanden vor allem zur Geschichte der Tschechoslowakei bzw. Tschechiens mehrere Studien, die nicht mehr nur nach rechtlichen, militärischen und politischen Konsequenzen von „München“ fragen, sondern auch die gesellschaftlichen und kulturellen Folgen analysieren und das Geschehen in internationale Kontexte einordnen.14 Diese und andere Forschungen tragen zu einer vollständigeren Sicht auf die Bedeutung des Münchener Abkommens bei, denn die lange Zeit stark vorherrschende Konzentration auf das diplomatische Drama von München hat oft allzu sehr in den Hintergrund rücken lassen, welche unmittel­baren, zum Teil katastrophalen Folgen diese für viele Menschen in Mitteleuropa hatte. Unter den offenkundig regelmäßig im Umfeld von Jahrestagen stattfindenden Bemühungen um eine wissenschaftliche Verständigung über „München“ ist der vorliegende Band, der die Ergebnisse einer vom Institut für Zeitgeschichte und dem Collegium Carolinum gemeinsam vom 17. bis 19. September 2008 in München veranstalteten Konferenz – ergänzt um einige Beiträge – dokumentiert, daher in mehrfacher Hinsicht durch den Versuch einer erweiterten Perspektive gekennzeichnet: Er vereint Beiträge zur internationalen Politik und Diplomatie mit solchen zu den politischen und gesellschaftlichen Folgewirkungen für die Tschechoslowakei bzw. die deutsch-tschechischen Beziehungen und berücksichtigt darüber hinaus die Konsequenzen, die das Abkommen für die Staaten und Gesellschaften Ostmitteleuropas hatte. Bewusst wird das Ereignis „München“ in seinen Rahmenbedingungen, Hintergründen und Folgen über den unmittelbaren deutsch-tschechischen bzw. tschechoslowakischen Kontext hinaus aus einer europäischen Perspektive heraus betrachtet und eingeordnet. Dabei wird nicht nur deutlich, auf welche Weise es zum endgültigen Ende der bereits mehrfach im Laufe der dreißiger Jahre relativierten „Versailler Friedensordnung“ kam, sondern auch, wie rasch infolge der in München vollzogenen „Lösung“ des „Sudetenproblems“ eine Reihe von weiteren Grenz- und Minderheitenkonflikten ausbrachen, die durch den im Herbst 1938 weiter gestiegenen Einfluss des Deutschen Reiches und offen ausgespielte nationalsozialistische Aggressionsabsichten zusätzlich an Dynamik gewannen. Dem skizzierten Ansatz der Tagung entsprechend gliedert sich der vorliegende Konferenzband. Zunächst analysieren mehrere Beiträge die außenpolitischen Rahmenbedingungen und Ereignisse. Christoph Studt betrachtet die Zielsetzungen nationalsozialistischer Außenpolitik bis zur „Sudetenkrise“, während im Beitrag von Peter Krüger die Bündnissysteme im Ostmitteleuropa der ZwischenEinflüsse bei Minderheiten in den 1930er Jahren analysiert der folgende Band: Hausleitner, Mariana/Roth, Harald (Hg.): Der Einfluss von Faschismus und Nationalsozialismus auf Minderheiten in Ostmittel- und Südosteuropa. München 2006. 14 Vgl. zum Beispiel: Němeček, Jan (Hg.): Mnichovská dohoda. Cesta k destrukci demokracie v Evropě – Munich agreement. The way to destruction of democracy in Europe. Praha 2004. – Hazdra, Zdeněk/Vlček, Lukáš (Hg.): Mnichov 1938 a česká společnost. Sborník z mezinárodního sympozia k 70. Výročí mnichovské dohody [München 1938 und die tschechische Gesellschaft. Sammelband des internationalen Symposiums zum 70. Jahrestag des Münchener Abkommens]. Praha 2008.

6   Jürgen Zarusky/Martin Zückert kriegszeit sowie ihre Wechselwirkungen und Anfälligkeiten dargestellt werden. Peter Neville betont, dass Hitler in München keineswegs, wie ein geläufiges Klischee es darstellt, „schwache und ungeschickte Demokraten übertölpelte“. Vielmehr stehe Chamberlains Politik in einer längeren britischen Tradition und sei von einem Sinn für Fairness getragen gewesen, der bei Hitler keinerlei Widerhall fand. Zugleich habe schon die Regierung Chamberlain die britische Luftwaffe aufgerüstet. Der Beitrag von Patrizia Dogliani zur Haltung des faschistischen Italiens macht wiederum deutlich, wie sehr Mussolinis Verhalten durch eigene außenpolitische Aggressionsabsichten und Minderheitenprobleme im eigenen Land geprägt war. Jegliche Resonanz der „Heim ins Reich“-Bewegung bei den Südtirolern galt es zu vermeiden. Christoph Boyer verdeutlicht schließlich, wie wichtig bei der Einordnung von „München“ längerfristig ablaufende wirtschaftspolitische Aktivitäten sind. Er verweist dabei insbesondere auf den Kontrast zwischen dem Ausbau eines nationalsozialistischen informal empire in Südosteuropa schon in den ersten Jahren der Hitlerdiktatur und die fehlende Komplementarität zwischen der industriell entwickelten Wirtschaft der ČSR und der ebenso strukturierten des Reiches. Neben die politischen traten die wirtschaftspolitischen Gegensätze: Die tschechoslowakische Orientierung auf Industrieexporte ins Reich vertrug sich schlecht mit dessen Autarkiepolitik. Der daran anschließende Themenbereich ist den Hintergründen und Abläufen der „Sudetenkrise“ gewidmet. Zunächst analysiert Detlef Brandes die in den tschechoslowakischen Grenzgebieten im Mai und Juni 1938 abgehaltenen Kommunalwahlen und deren Folgen. Deutlich wird hierbei, in welchem Maße es bereits zu einer „Selbstgleichschaltung“ innerhalb der deutschen Bevölkerungsgruppe gekommen war. Neben Begeisterung für die Perspektive einer „Heimkehr“ ins nationalsozialistische Deutsche Reich, spielten dabei auch Einschüchterungsmaßnahmen bis hin zu offenem Terror durch die Sudetendeutsche Partei eine nicht zu vernachlässigende Rolle. Vít Smetana behandelt in seinem Beitrag die Beziehungen zwischen der Tschechoslowakei und ihren Verbündeten. Da von Frankreich vor allem Signale der Schwäche ausgegangen seien, sei die Position von ­dessen Partner Großbritannien von zentraler Bedeutung gewesen. Die britischen Diplomaten in Prag und die Empfänger ihrer Berichte in London hätten viel Verständnis für den Kampf der deutschen Minderheit um „Selbstbestimmung“ aufgebracht, den tatsächlichen Kern der Politik Henleins und Hitlers aber nicht verstanden. Zugleich sei die Kommunikation zwischen Prag und den Westmächten durch zahlreiche Missverständnisse geprägt gewesen, während die Rolle der UdSSR nach wie vor Rätsel aufgebe. Zdenko Maršálek behandelt die Entwicklung der tschechoslowakischen Armee im Vorfeld von „München“ und erörtert darauf basierend die seit 1938 in regelmäßigen Abständen diskutierte Frage, ob die Tschechoslowakei im Herbst 1938 den Versuch hätte unternehmen sollen, sich militärisch zu verteidigen. Mit Blick auf die längerfristige Entwicklung der tschechoslowakischen Streitkräfte und ­ihrer strategischen Möglichkeiten bestätigt er frühere Deutungen, wonach die Tschechoslowakei nur in einem gemeinsam mit Verbündeten geführten Verteidi-

Das Münchener Abkommen von 1938 in europäischer Perspektive   7

gungskrieg in der Lage gewesen wäre, sich erfolgsversprechend militärisch gegen eine deutsche Aggression zu wehren. Mit dem Agieren der europäischen Akteure im Vorfeld des Münchener Abkommens beschäftigen sich die Beiträge von Angela Hermann, Hans Woller, Georges-Henri Soutou und Sergej Slutsch. Angela Hermann arbeitet die längerfristige Strategie Hitlers gegenüber der Tschechoslowakei heraus und betont dabei, dass die aggressiven Pläne schon vor der Wochenendkrise des Mai 1938 konkrete Formen angenommen hatten, und zeigt im Weiteren den Weg zu der aufgezwungenen, aber günstigen „Etappenlösung“ von München auf. Hans Woller zeigt in seinem Beitrag, wie unzutreffend Mussolinis Selbstinszenierung als Moderator der Krise von 1938 war, der letztlich nur eine ihm von Berlin zugewiesene Rolle gespielt habe. Georges-Henri Soutou gibt einen tiefen und differenzierenden Einblick in die Positionen, die führende Vertreter der Regierung in Paris angesichts der „Gretchenfrage: Krieg für die Tschechoslowakei oder nicht?“ einnahmen. Sergej Slutsch beschreibt die Haltung der UdSSR in der Sudetenkrise, deren Beistandsvertrag mit der Tschechoslowakei militärische Unterstützung an Hilfeleistungen des Bündnispartners Frankreich koppelte. Slutsch analysiert den Kurs der Sowjetunion, die offiziell stets Bündnistreue proklamierte, ohne vor allem wegen der Haltung Frankreichs je auch nur in die Nähe des Ernstfalls zu geraten, als eine spezifische Form der Appeasement-Politik. Er tritt damit vor allem, aber nicht nur in der sowjetischen und russischen Historiografie verbreiteten Deutungen entgegen. Kein anderes Ereignis der internationalen Politik vor Kriegsbeginn hat so tiefgreifende Einflüsse auf die deutschen Gegner der NS-Diktatur wie das Münchener Abkommen. Jürgen Zarusky untersucht, wie reichsdeutsche Angehörige des Widerstands von der Sudetenkrise betroffen waren und auf sie reagierten. Der „Widerstand von außen“, das politische Exil, verlor infolge deutschen Drucks schon frühzeitig den Rückzugsraum Tschechoslowakei. Die Appeasement-Politik wurde von Sozialdemokraten, Kommunisten, aber auch parteiungebundenen Intellektuellen wie den Brüdern Heinrich und Thomas Mann als zwecklose Konzession an den kriegslüsternen Hitler kritisiert. Innerhalb des Machtapparats des nationalsozialistischen Deutschland brachte dieser Kurs 1938 eine heterogene und alles andere als geschlossene Oppositionsbewegung hervor, während sich der Handwerker Georg Elser infolge der Kriegsgefahr während der Sudetenkrise entschloss, ein Attentat auf Hitler und weitere Angehörige der NS-Führung zu verüben. Die sudetendeutschen Hitlergegner befanden sich 1938, wie Thomas Oellermann erläutert, gegenüber der Sudetendeutschen Partei, die alle gesellschaft­ lichen Sphären immer stärker ihrem Gleichschaltungsdruck unterwarf, auf verlorenem Posten. Die sektiererisch moskautreue Politik der KPČ – die deutschen Kommunisten in der Tschechoslowakei unterhielten keine eigene Partei – behinderte fast bis zuletzt einen gemeinsamen Kampf gegen den Vormarsch des Rechtsextremismus. Die Christsozialen und der Bund der Landwirte unterlagen

8   Jürgen Zarusky/Martin Zückert einer starken Sogwirkung der Sudetendeutschen Partei, während die Liberalen von der Deutschen Freiheitspartei schon 1937 weitgehend in Bedeutungslosigkeit versunken war. Hitlergegner aller Richtungen teilten nach dem Einmarsch der deutschen Truppen Anfang Oktober 1938 das Schicksal von Verfolgung, Flucht und Emigration. Die beiden folgenden Blöcke sind den Folgen von „München“ für die infolge des Abkommens von Deutschland besetzten böhmisch-mährischen Grenzregionen sowie Ostmitteleuropa gewidmet. Volker Zimmermann schildert die Folgen der Eingliederung für die Sudetendeutschen und vergleicht diese mit dem Fall des Saarlandes im Jahr 1935. Hier wie dort gelang es einer im Kern nationalsozialistischen, aber als Sammelbewegung der nationalen Minderheit agierenden politischen Formation mit Unterstützung reichsdeutscher Instanzen, vor allem aber infolge der Durchschlagskraft nationalistischer Haltungen, die auf den Anschluss an das Deutsche Reich setzten, politische Hegemonie zu erringen. Die vielfach bejubelte „Befreiung“ von der „Tschechenherrschaft“ durch Angliederung an das Deutschland der NS-Diktatur mündete allerdings vielfach bald in Ernüchterung. Auch im Saarland war eine ähnliche Stimmungsentwicklung zu verzeichnen, die indes die Loyalität zur Herrschaft Hitlers keineswegs grundsätzlich in Frage stellte. Die unmittelbar nach der Besetzung der Region einsetzenden nationalsozialistischen Ausgrenzungs- und Verfolgungsmaßnahmen gegen die jüdische und tschechische Bevölkerung werden im Beitrag von Jörg Osterloh eingehend behandelt. Jaromír Balcar wiederum macht in seinem Aufsatz deutlich, wie stark die Wirtschaft der Tschechoslowakei in die ökonomischen Vorhaben des Deutschen Reiches integriert wurde und welche Folgen dies langfristig für die Wirtschaftsstruktur hatte. Die industriell hoch entwickelte Ökonomie Böhmens und Mährens fügte sich dabei nicht in das Modell ökonomischer Vorherrschaft wie es im Hinblick auf Südosteuropa auf der Basis agrarisch-industriellen Austausches entwickelt wurde. Martin Zückert erörtert schließlich die Folgen für das kirchliche Leben in den böhmischen Ländern. Neben einer Analyse der kirchlichen Bewertungen der staatlich-politischen Veränderungen zeigt er in seinem Beitrag auf, wie sich religiöses Leben und konfessionelle Abgrenzungen unter den Bedingungen nationalsozialistischer Herrschaft zu ändern begannen. Gegenüber der katholischen Kirche konnte das Regime in den annektierten Gebieten weitreichende Maßnahmen durchsetzen, da weder das „Reichskonkordat“ noch der zwischen dem Heiligen Stuhl und der Tschechoslowakei abgeschlossene „Modus Vivendi“ als gültig an­ erkannt wurde. Zugleich formierten sich alle Konfessionen unter dem Druck der staatlichen Veränderung und der nationalsozialistischen Kirchenpolitik, die zunächst vor allem nationalitätenpolitische Ziele verfolgte, neu. Die Entscheidung von München zerstörte nicht nur die Integrität der Ersten Tschechoslowakischen Republik, sondern wirkte sich bedingt durch die Neubewertung von Minderheitenkonstellationen und den Einflussgewinn des nationalsozialistischen Deutschland auf potentielle Konfliktregionen in Ostmitteleuropa aus. Ignác Romcics schildert die politischen Verhältnisse Ungarns in den 1930er

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Jahren und erörtert, wie Ungarn durch den Wiener Schiedsspruch versuchte, seine Revisionsbestrebungen durchzusetzen. Valerián Bystrický und Michal Schvarc wiederum analysieren die Entstehungsbedingungen des slowakischen Staates als ein Resultat der Zerstörung der tschechoslowakischen Staatskonzeption. Mit einer mittels der Auswertung von Polizeiberichten durchgeführten Sondierung untersucht Emil Voráček, wie sich die tschechische Gesellschaft nach dem Münchener Abkommen innerhalb kurzer Zeit wandelte und autoritäres und nationalistisches Gedankengut die Oberhand gewann. Diese Entwicklung fand innerhalb eines Staates statt, der durch die politischen, ökonomischen und sozialen Folgen der in München beschlossenen territorialen Veränderungen in eine tiefe Krise geraten war. Die Dynamik der von Bystrický, Schvarc und Voráček geschilderten Entwicklung verdeutlicht das krisenhafte Scheitern der tschechoslowakischen Staatsidee, das zwar durch strukturelle Probleme des Staates befördert, aber erst durch die Krise von „München“ ursächlich ausgelöst wurde. Stanisław Żerko behandelt in seinem Beitrag die Rolle Polens. Ausgehend von einer diplomatiegeschichtlichen Untersuchung zeigt er, wie der polnische Staat zwar infolge des Münchener Abkommens eigene territoriale Ansprüche gegenüber der Tschechoslowakei durchsetzen konnte, dies aber längerfristig zu einer Schwächung der polnischen Position führte. Für das Memelgebiet zeigt Joachim Tauber, wie eine andere durch die nationalsozialistische Politik aufgebrachte territoriale Frage, befördert durch die Ergebnisse der Münchener Konferenz, innerhalb kurzer Zeit zu Gunsten des Deutschen Reiches entschieden wurde und dadurch das politische Gefüge der Region entscheidend verändert wurde. In der Historiographie des Münchener Abkommens, die eine lange Tradition aufweist, kommt dem grundlegenden Werk von Boris Celovsky „Das Münchener Abkommen von 1938“ aus dem Jahre 1958 nach wie vor große Bedeutung zu. Das auf einer außerordentlich breiten Quellenbasis erarbeitete diplomatiegeschichtliche Buch des staatenlosen tschechischen Emigranten Celovsky (1923– 2008) basiert auf seiner Heidelberger Dissertation von 1954. Die Publikation durch das Institut für Zeitgeschichte hatte massive Angriffe vor allem seitens sudetendeutscher Verbandsvertreter zur Folge. Josef Becker, ein Studienkollege des Verfassers, hat für die Analyse des „Falls Celovsky“ unter anderem intensiv mit Quellen aus der Überlieferung der an der vorliegenden Publikation beteiligten Institutionen, dem Institut für Zeitgeschichte und dem Collegium Carolinum, gearbeitet. Sein Beitrag rundet den Band ab. Die Beschäftigung mit dem Münchener Abkommen verweist immer wieder auch zurück auf die politischen Neuordnungsversuche nach 1918 und die Entwicklung in Europa zwischen den beiden Weltkriegen. Scheiterte durch „München 1938“ eine europäische Nachkriegsordnung aufgrund nach 1918 nicht richtig getroffener politischer Entscheidungen? Befürworter einer solchen Interpretation, die den Fokus auf die 1919 und 1920 geschlossenen Friedensverträge legt, begründen dies in der Regel mit dem Verweis auf ungerechte nationalitätenpolitische Entscheidungen und mit dem nicht wirkungsmächtigen System kollektiver Sicherheit, das bereits durch die Absenz der Vereinigten Staaten zu Beginn seiner

10   Jürgen Zarusky/Martin Zückert Formierung und dann durch die politische Entwicklung seit der ersten Hälfte der 1930er Jahre geschwächt war. Sie verweisen aber vor allem auf die in den Pariser Vorortverträgen festgelegten konfliktträchtigen Grenzziehungen. Letztere waren aus einer Mischung aus Gebietsforderungen der Siegermächte, den Folgen des Untergangs multiethnischer Imperien wie der Habsburgermonarchie, dem Russischen Reich und dem Osmanischen Reich während und infolge des Ersten Weltkrieges sowie dem vom amerikanischen Präsidenten Wilson formulierten Ideal des „Selbstbestimmungsrechtes der Völker“ entstanden. Das letztlich in Reaktion auf die Nationalitätenagenda der Bolschewiki im revolutionären Russland von Wilson in sein 14-Punkte-Programm für die Nachkriegszeit aufgenommene Konzept erwies sich als ein nicht einlösbares Versprechen, das jedoch in zahlreichen Nationalitäten- und Grenzkonflikten der Zwischenkriegszeit eine Eigendynamik entwickelte. Wilsons Programm wurde immer wieder als Argument herangezogen. Es hielt die Illusion einer idealen Konfliktlösung aufrecht, in dem es bei den Verlierern des Krieges unrealistische Erwartungen beförderte. Den Siegermächten ermöglichte es dagegen, ihre Ansprüche entsprechend zu deklarieren.15 Oder war das Scheitern der europäischen Nachkriegsordnung nicht vielmehr die Folge eines politischen Versagens, auf gesellschaftliche und wirtschaftliche Probleme dynamischer, durch den Ersten Weltkrieg aber auch durch die Folgen der Hochmoderne zerrütteter Gesellschaften zu reagieren? In diese Richtung argumentiert unter anderem der 2010 verstorbene britische Historiker Tony Judt, der auf die „Desaster der Zwischenkriegszeit“, auf die Weltwirtschaftskrise, „die Arbeitslosigkeit, die Ungleichheiten, die Ungerechtigkeiten und Ineffizienzen des Laissez-faire-Kapitalismus, die so viele Menschen empfänglich gemacht hatten für die Verheißungen autoritärer Regimes“, sowie das Versagen von Eliten und politischer Klasse hingewiesen hat.16 Beide idealtypisch gegenübergestellte Deutungen stehen für eine große Bandbreite an Interpretationen einer Zeit, die in ihrem historiographischen Zugriff als „Zwischenkriegszeit“ bereits als konflikthaft bzw. als Epoche eines gescheiterten Neuordnungsversuches nach dem Ersten Weltkrieg verstanden wird. Mit „München“ kam diese Zeit an ihr Ende. Das Abkommen von München bedeutete zunächst eine Abkehr von dem nach 1918 entwickelten Minderheitensystem. Wie der 2009 verstorbene Osteuropahistoriker Hans Lemberg ausgeführt hat, schien für nicht wenige Zeitgenossen mit dem Abkommen eine „neue Epoche der Verwirklichung des Nationalitätenrechts“ zu beginnen. Bekanntlich verfolgte die nationalsozialistische Hegemonial- und Unterdrückungspolitik andere Ziele. Entsprechend 15 Vgl.

hierzu Raphael, Lutz: Imperiale Gewalt und mobilisierte Nation. Europa 1914–1945. München 2011, S. 68 f. 16 Judt, Tony: Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart. München-Wien 2006, S. 87 f. Nach Judt zogen Politiker nach dem Zweiten Weltkrieg aus diesen Erfahrungen die Konsequenz, dass Gesellschaft organisiert und geplant werden müsse. Diese Erkenntnis führte nach 1945 nicht nur zum am sowjetischen Vorbild orientierten planungsorientierten Staatssozialismus der ostmitteleuropäischen Diktaturen, sondern beförderte auch das Entstehen des Sozialstaates westeuropäischer Prägung.

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kommt Lemberg zu dem Schluss: „Dass in den folgenden Monaten und Jahren in lawinenartiger Geschwindigkeit für die Minderheiten nicht nur jeder Schutz, sondern auch ihre schiere Existenz in Gefahr geriet und zusammenbrach, dass ferner überall, auch in der Anti-Hitler-Koalition, die weitere Existenz der Minderheiten radikal in Frage gestellt, ja für die Zukunft nach dem Krieg ausgeschlossen wurde und die Minderheiten weitgehend in Umsiedlung, Flucht, Vertreibung und Aussiedlung beseitigt wurden, war nicht eine Konsequenz der Schwächen des Pariser Systems, sondern vielmehr auch eine Folge von dessen Ablehnung nicht zuletzt durch wachsende Teile der Minderheitenbevölkerungen und ihrer verblendeten Orientierung auf die angebliche ‚Neuordnung Europas‘ durch Adolf Hitler.“17 Faktisch hatte das Münchener Abkommen nur weniger als ein halbes Jahr Bestand, denn mit dem Einmarsch deutscher Truppen in Prag und der Annexion Böhmens und Mährens als „Reichsprotektorat“ im März 1939 war es ebenso obsolet wie Hitlers vollmundige Erklärung aus seiner Sportpalastrede vom 26. September 1938, die Abtretung der Sudetengebiete sei „die letzte territoriale Forderung“, die er in Europa zu stellen habe und dass er darüber hinaus am tschechischen Staat nicht interessiert sei, was diesem nach Lösung der Minderheitenfragen auch garantiert werden würde.18 Die deutsche Regierung machte indes zu keinem Zeitpunkt Anstalten, die in München eingegangene Garantieverpflichtung umzusetzen. Als der französische Botschafter Coulondre im Dezember 1938 gegenüber Staatssekretär von Weizsäcker darauf gedrängt hatte, reagierte dieser mit der Frage, ob man das denn nicht einfach vergessen könne.19 Die französische Regierung tat das nicht, sondern erklärte nach der Besetzung und Annexion Böhmens und Mährens, dass dieser Akt gegen Geist und Buchstaben der in München getroffenen Vereinbarungen verstoße. Damit begann die lange Geschichte des Abschieds vom Münchener Abkommen. Ohne das Abkommen offiziell für ungültig zu erklären, behandelten die britische und französische Regierung nunmehr Personen, die am 30. September 1938 tschechoslowakische Staatsbürger gewesen waren, weiterhin als ­solche, verhielten sich also, als ob das Abkommen nicht existierte.20 In einer Rundfunkansprache an das  tschechoslowakische Volk zum zweiten Jahrestag seines Abschlusses erklärte ­Churchill das Münchener Abkommen für tot; die deutsche Regierung selbst habe es nach nur sechs Monaten vernichtet und bewiesen, wie vertrauensunwürdig sie sei.21 17 Lemberg,

Hans: Die Frage der Stellung der Minderheiten in Mitteleuropa in der Zeit um das Münchner Abkommen. In: Němeček (Hg.): Mnichovská dohoda. Cesta k destrukci demokracie v Evropě, S. 56–76, hier S. 67. 18 Domarus, Max: Hitler. Reden und Proklamationen 1932–1945. Kommentiert von einem deutschen Zeitgenossen. Band 1: Triumph. Würzburg 1962, S. 927. 19 Brügel, Johann Wolfgang: Münchner Abkommen und Völkerrecht. In: Außenpolitik. Zeitschrift für internationale Fragen 16 (1965), Heft 11, S. 764–770, hier S. 764. 20 Ebenda, S. 766. 21 Gekürzter Text der Ansprache in: Dokumente zur Deutschlandpolitik, I. Reihe: Vom 3. September 1939 bis 8. Mai 1945, Band 1: 3. September 1939 bis 31. Dezember 1941. Britische Deutschlandpolitik. Bearbeitet von Rainer A. Blasius. Herausgegeben vom Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen. Frankfurt a. M. 1984, S. 215 f.

12   Jürgen Zarusky/Martin Zückert Er gab damit eine Sprachregelung vor, an die sich die britische Regierung auch im Weiteren halten sollte. Die tschechoslowakische Exilregierung bemühte sich indes 1942 um eine vollständige Ungültigkeitserklärung des Münchener Abkommens, mit dem Ziel, völkerrechtlich gesicherte Grundlagen für die Widerherstellung des territorialen status quo ante der Tschechoslowakei zu erreichen.22 Während der ­britische Außenminister Eden – auch er seinerzeit ein Gegner von Chamberlains Appeasement-Politik – am 5. August 1942 gegenüber dem Außenminister der Exilregierung, Jan Masaryk, Churchills Formel wiederholte,23 zeigte sich General de Gaulle als Vorsitzender des Comité national français am 29. September 1942, dem vierten Jahrestag von „München“, entgegenkommender und gab in einem Schreiben an den Ministerpräsidenten der tschechoslowakischen Exilregierung, Jan Šrámek, die Erklärung ab, dass das „Freie Frankreich“ die Münchener Vereinbarungen verwerfe und sie als „null und nichtig erachte“ („nuls et non avenus“).24 Nach dem Sturz Mussolinis und der Befreiung Roms durch die Alliierten distanzierte sich mit Italien unter Marschall Badoglio der dritte seinerzeitige Unterzeichnerstaat vom Münchener Abkommen. Am 26. September 1944 erklärte Außenminister Sforza dieses sowie den ersten Wiener Schiedsspruch gegenüber dem tschechoslowakischen Vertreter als von Anfang an ungültig.25 Mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der Vertreibung der Deutschen aus der Tschechoslowakei trat die Diskussion um das Münchener Abkommen in ein neues Stadium ein. Die Debatte wurde nun häufig explizit oder implizit nach den Regeln eines Nullsummenspiels geführt, bei dem die Frage der Legitimität von „München“ und die der Legitimität der Vertreibung in unmittelbarer Abhängigkeit voneinander gesehen wurden. Vertreter der sudetendeutschen Landsmannschaft beharrten in zahllosen öffentlichen Erklärungen und vielen völkerrechtlichen Ausarbeitungen auf der Gültigkeit von „München“. Zeitweilig führte dies sogar zu erheblichen Differenzen innerhalb der Bundesregierung: Beim Pfingsttreffen der Sudetendeutschen 1964 in Nürnberg hatte Hans-Christoph Seebohm, Bundesverkehrsminister 22 Brandes,

Detlef: Der Weg zur Vertreibung. Pläne und Entscheidungen zum „Transfer“ der Deutschen aus der Tschechoslowakei und Polen. München 22005, S. 150–171. Nemeček, Jan: Otkaz ot priznanija Mjunchenskogo soglašenija v gody Vtoroj mirovoj vojny [Die Verweigerung der Anerkennung des Münchener Abkommens in den Jahren des Zweiten Weltkriegs]. In Lebedeva u. a. (Hg.), Mjunchenskoe soglašenie, S. 296–313, hier S. 299. 23 Brügel, Münchner Abkommen, S. 767 f. 24 Gaulle, Charles de: Mémoires de guerre. L’Unite 1942–1944. Paris 1956, S. 371 f. 25 Nemeček, Otkaz, S. 310. Die Behauptung von Hermann Raschhofer, die italienische Regierung habe das Abkommen nicht ex tunc für ungültig erklärt, entspricht nicht den Tatsachen. Vgl. Raschhofer, Hermann: Völkerbund und Münchener Abkommen. Die Staatengesellschaften von 1938. München 1976, S. 193. Raschhofers Versuche, die Legitimität des Münchener Abkommens zu verteidigen, reichen zurück bis in die Zeit des Zweiten Weltkriegs, als der engagierte nationalsozialistische Völkerrechter eng mit Karl Hermann Frank zusammenarbeitete; sie wurden unter anderen Bedingungen in der Nachkriegszeit fortgesetzt. Vgl. Salzborn, ­Samuel: Zwischen Volksgruppentheorie, Völkerrechtslehre und Volkstumskampf. Hermann Raschhofer als Vordenker eines völkischen Minderheitenrechts. In: Sozial. Geschichte 21 (2006), S. 29–52, hier S. 45 und S. 49.

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und Sprecher der Landsmannschaft, den Anspruch auf die Rückgabe der angeblich „gestohlenen“ Gebiete der Sudetendeutschen erhoben. Dieser beruhe rechtmäßig auf dem Münchener Abkommen. Die Erklärung rief erhebliche internationale Aufregung hervor und widersprach diametral der an die Bundesregierung gerichteten Forderung der UdSSR und der ČSSR, „München“ ex tunc, also von Anfang an für ungültig zu erklären. Bundeskanzler Ehrhard hingegen erklärte im Dezember 1964 vor der UNO in Anlehnung an die Churchill-Formel, Hitler habe das Münchener Abkommen zerrissen, die Bundesregierung habe keinerlei territoriale Forderungen zu erheben und distanziere sich ausdrücklich von Erklärungen, die zu einer anderen Deutung geführt hätten. Seebohm beharrte nichtsdestoweniger auf seiner Position.26 Vor allem im Zusammenhang mit der Neuen Ostpolitik entspann sich um die Gültigkeitsfrage eine ausgedehnte politisch-völkerrechtliche Diskussion, in der drei Grundpositionen auszumachen sind, nämlich erstens rechtsgültiges Zustandekommen und Fortgeltung, zweitens rechtsgültiges Zustandekommen und Ungültigkeit infolge von Hitlers Politik, die rechtlich im Nach­hinein (ex nunc) von den verschiedenen Parteien zu verschiedenen Zeitpunkten festgestellt wird, drittens Ungültigkeit von Anfang an (ex tunc), weil das Abkommen die Folge einer Erpressung war.27 Letztere Position findet sich im „Vertrag über Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitigen Beistand zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik“ vom 15. März 1967, in dessen Artikel 7 die vertragsschließenden Parteien feststellten, „dass das Münchener Abkommen vom 29. September 1938 unter Androhung eines Aggres­ sionskrieges sowie der Anwendung von Gewalt gegenüber der Tschechoslowakei zustande gekommen ist, dass es Bestandteil der verbrecherischen Verschwörung des nazistischen Deutschlands gegen den Frieden und eine grobe Verletzung der bereits damals geltenden elementaren Regeln des Völkerrechts darstellte und dass deshalb dieses Abkommen von Anfang an ungültig war, mit allen sich daraus ergebenden Folgen“.28 Von Befürwortern der Rechtsgültigkeit wurde dagegen vor allem angeführt, dass unzählige Rechtsakte von Staatsbürgerschaftsfragen über Eheschließungen bis hin zu eigentumsrechtlichen Entscheidungen aus der Zeit zwischen 1938 bis 1945 so mit einem Schlag aufgehoben würden, was eine massive Rechtsunsicherheit nach sich ziehen müsse. Hinsichtlich der Kriegsdrohung, die seinerzeit schon durch den Kellog-Briand-Pakt von 1928 geächtet war, zu dessen Erstunterzeichnern das Deutsche Reich gehörte, stößt man unter anderem auf das Argument, die nullifizierende Wirkung von Zwang auf völkerrechtliche Entscheidungen sei 1938 noch nicht so eindeutig akzeptiert ge-

26 „Seebohms

Komma“. In: DIE ZEIT Nr. 42 vom 16. Oktober 1964, S. 8. einen Überblick über die Diskussion siehe Schmid, Karin: Das Münchner Abkommen. Thesen, Argumente, rechtliche Konsequenzen. Düsseldorf 1973. 28 Gesetzblatt der Deutschen Demokratischen Republik 1967. Teil I. S. 53 (online-Reproduktion: http://www.verfassungen.de/de/ddr/beistandsvertragcssr67.htm, weitere Online-Quelle: http://www.forost.ungarisches-institut.de/pdf/19670317-1.pdf [28. 10. 2012]). 27 Für

14   Jürgen Zarusky/Martin Zückert wesen wie heute29 – eine Denkfigur, die sich allerdings in gefährlicher Nähe zu zeitgenössischen rechtsnihilistischen Positionen bewegt. Der Prager Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik vom 11. Dezember 1973 beruht hinsicht­ lich der Nichtigkeit auf einem Kompromiss, der Raum für beide Verständnisse der Nichtgültigkeit lässt. Seine Präambel enthält die ausdrückliche Anerkennung „dass das Münchener Abkommen vom 29. September 1938 der Tschechoslowakischen Republik durch das nationalsozialistische Regime unter Androhung von Gewalt aufgezwungen wurde“, ohne dass hieraus allerdings explizit der Schluss einer Ungültigkeit ex tunc gezogen würde. Sein erster Artikel lautet: „Die Bundesrepublik Deutschland und die Tschechoslowakische Sozialistische Republik betrachten das Münchener Abkommen vom 29. September 1938 im Hinblick auf ihre gegenseitigen Beziehungen nach Maßgabe dieses Vertrages als nichtig.“ 30 Der nach der deutschen Vereinigung geschlossene „Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Tschechischen und Slowakischen Förderativen ­Republik über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit“ vom 27. Februar 199231 beschränkt sich auf die Bekräftigung der Formeln von 1973. Die „deutsch-tschechische Erklärung über die gegenseitigen Beziehungen und deren künftige Entwicklung“ vom 21. Januar 1997, in der sowohl nationalsozialistische Gewaltpolitik als auch Vertreibungsunrecht angesprochen werden, führt diese Linie fort, was der erklärten politischen Absicht entspricht, dass beide Seiten „ihre Beziehungen nicht mit aus der Vergangenheit herrührenden politischen und rechtlichen Fragen belasten werden“.32 Zugleich wurden mit der Zwangsarbeiterentschädigung, humanitärer Hilfe für NS-Opfer und weiterer Projekte im ­Rahmen des auf Basis der Erklärung gegründeten Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds sowie der Erklärung, die Erforschung der Beziehungsgeschichte insbesondere im Rahmen der Deutsch-Tschechischen und Deutsch-Slowakischen Historikerkommission zu unterstützen, durchaus wichtige Impulse für die Aufarbeitung der Lasten der Geschichte gegeben. Vieles von seiner langjährigen politischen Brisanz hat das Münchener Abkommen inzwischen verloren – auch wenn es nicht selten als politische Metapher in politischen Konflikten zwischen „Bellizisten“ und echten oder vermeintlichen „Appeasern“ bemüht wird. Doch bleibt weiterhin auch das historische Ereignis von München 1938 ein europäischer Bezugspunkt mit identitätspolitischer Bedeutung, der nach wie vor verschiedene, zum Teil auch konträre Einschätzungen und Haltungen hervorruft. Es kann daher und aufgrund der eingangs geschilder29 Kimminich,

Otto: Das Münchner Abkommen 1938 und 50 Jahre danach. In: Deutsche Ostkunde 34 (1988), S. 115–128, hier S. 127. Kimminich schreibt diese Meinung „zahlreiche[n] Völkerrechtlern“ zu. 30 Bundesgesetzblatt 1974 II, S. 990. 31 Bundesgesetzblatt 1992 II, S. 463 (online http://beck-online.beck.de/default.aspx?bcid= Y-100-G-DCsZusNachbV [28. 10. 2012]) 32 Abrufbar auf der Seite des Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds http://www. fondbudoucnosti.cz/de/uber-uns/uber-uns/ [28. 10. 2012].

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ten Ausgangsbedingungen nicht wundernehmen, dass auch die geschichtswissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesem Knotenpunkt einer unheilvollen Geschichte noch keineswegs abgeschlossen ist, gewiss auch nicht mit dem vorliegenden Band. Die Herausgeber hoffen aber, dass er zu einer Erweiterung der Perspektiven und zu einer Vertiefung der Diskussion um „München 1938“ beiträgt. *** Möglich wurde der europäische Dialog über das Münchener Abkommen nach 70 Jahren am Ort des Geschehens durch die großzügige Förderung seitens der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius. Letztere hat auch die umfangreichen Übersetzungsarbeiten gefördert. Ihnen gebührt ebenso unser Dank wie den internationalen Partnern und Ratgebern bei der Vorbereitung der Konferenz, vor allem Dr. Sergej Slutsch (Russische Akademie der Wissenschaften Moskau), Prof. Dr. Georges-Henri Soutou (Universität Paris IV – Sorbonne) und Prof. Dr. Gustavo Corni (Universität Trento). In der Vorbereitungsgruppe der Konferenz haben sich neben den Herausgebern vor allem die Mitarbeiter des Instituts für Zeitgeschichte, PD Dr. Thomas Schlemmer und Dr. Angela Hermann (jetzt NS-Dokumentationszentrum München) engagiert. Wertvolle Unterstützung bei der Vorbereitung des Tagungsbandes leisteten im Collegium Carolinum Bianca Hoenig und Susanne Volk. Den Genannten sowie allen Kolleginnen und Kollegen in beiden Instituten, die durch Rat und Tat bei der Vorbereitung der Konferenz und der Publikation mitgeholfen haben, gilt unser kollegialer Dank.

Christoph Studt

Nationalsozialistische Außenpolitik bis zum Sommer 1938 Einen Überblick über die nationalsozialistische Außenpolitik auf wenigen Seiten vorzulegen, birgt stets die Gefahr, in der Oberflächlichkeit verharren zu müssen. Denn der Versuch, die „zwei Seiten einer Medaille“ zu präsentieren, nämlich die Planung und Handlung auf der einen und die zeitgenössische Wahrnehmung und allgemeine Atmosphäre auf der anderen Seite (die manchen politischen Schritt möglich machten und manche Unterlassung zu erklären vermögen) einfangen zu wollen, ist gleichsam von vornherein zum Scheitern verurteilt. Hinzu kommt die oft übersehene Tatsache, dass wir heute über das Außergewöhnliche des „Dritten Reiches“ besser informiert sind als über das Normale, das Alltägliche. Dies gilt auch für die Außenpolitik: denn wie in vielen anderen Bereichen des staatlichen und öffentlichen Lebens schien nach der „Machtergreifung“ auch hier zunächst alles beim Alten zu bleiben. Staatssekretär von Bülow beruhigte bei­ spielsweise einen besorgt anfragenden Botschafter mit den Worten: „Ich glaube, man überschätzt dort die außenpolitische Tragweite des Regierungswechsels. Die Nationalsozialisten in der Verantwortung sind natürlich andere Menschen und machen eine andere Politik als sie vorher angekündigt haben. Das ist immer so gewesen und bei allen Parteien dasselbe. Die Person von Neurath und auch von Blomberg garantieren das Fortbestehen der bisherigen politischen Beziehun­ gen.“ 1 Dass gewissermaßen geerbte Revisionsforderungen der Weimarer Zeit weiter­ verfolgt wurden, tat ein Übriges und stellte keine besondere Herausforderung für das Auswärtige Amt und die anderen traditionellen Eliten dar. Und doch machte sich rasch ein Wandel sowohl in der Zielsetzung als auch in den Methoden der deutschen Außenpolitik bemerkbar. Bereits in seiner An­ sprache vor den Spitzen der Reichswehr gab Hitler am 3. Februar 1933 nämlich die Devise aus, die Eroberung „neuen Lebensraums im Osten“ und dessen „rücksichtslose Germanisierung“ sei die zukünftige Aufgabe deutscher Außen­ politik.2

1

Der Staatssekretär des Auswärtigen Amts von Bülow an den Botschafter in Moskau von Dirk­ sen, Berlin 6. 2. 1933. Zit. nach: Akten zur deutschen auswärtigen Politik (ADAP). Serie C, Band I/1, S. 20 f. 2 Ausführungen Hitlers am 3. 2. 1933 nach den Aufzeichnungen von General Curt Liebmann, zit. nach: Vogelsang, Thilo: Neue Dokumente zur Geschichte der Reichswehr 1930–1933. In: VfZ 2 (1954), S. 397–436, hier S. 435. Vgl. auch Wirsching, Andreas: „Man kann nur Boden germanisieren.“ Eine neue Quelle zu Hitlers Rede vor den Spitzen der Reichswehr am 3. Feb­ ruar 1933. In: VfZ 49 (2001), S. 517–550.

18   Christoph Studt

Hitlers „Programm“ Schon in den zwanziger Jahren hatte Hitler ein konsequentes, substantiell alle ­revisionistischen Bemühungen der Weimarer Republik weit hinter sich lassendes „Programm“ entwickelt. In dieses waren die Forderungen des „klassischen Revisi­ onismus“, die auf die Wiedererlangung des Status einer mitteleuropäischen Füh­ rungsmacht hinausliefen, zwar eingebaut, aber sie stellten bei weitem nicht sein Endziel dar. Denn sein in „Mein Kampf“ und im sogenannten „Zweiten Buch“ aufgestelltes außen- und rassenpolitisches „Programm“ zielte in universaler Per­ spektive letztlich darauf ab, eine globale „Pax Germanica“ zu errichten. Sein mit radikalem Antisemitismus und Antibolschewismus aufs engste verknüpfter „Stufenplan“,3 mit dem er das Deutsche Reich zunächst zur Herrschaft über ganz Kontinentaleuropa und später zu einer maritimen und kolonialen Weltmachtstel­ lung führen wollte, sollte Deutschland schließlich in einem der nachfolgenden Generation zu überlassenden Kampf gegen die USA zur strategisch unangreif­ baren und souveränen Weltvormacht aufsteigen lassen. Für seine Lebenszeit sah Hitler erst einmal die Sowjetunion als den entscheidenden Gegner, als das Haupt­ ziel an. Gleich drei wesentliche Etappen seines „Programms“ ließen sich damit meistern: Die Vernichtung des Bolschewismus, damit einhergehend die soge­ nannte „Lösung der Judenfrage“ und nicht zuletzt die Gewinnung von „Lebens­ raum“ für das deutsche Volk. Nun darf man dieses „Programm“ natürlich nicht als den systematischen „Fahrplan eines Welteroberers“ einschätzen, wohl aber als die große Leitlinie seiner Gesamtpolitik, die ganz pragmatische taktische Varia­ tionen und situationsbedingte Umwege selbstverständlich nicht ausschloss und insgesamt von hoher Flexibilität war. Denn mochte Hitler im alltäglichen politi­ schen Geschäft auch oftmals zögerlich agieren, wenn es um Richtungsentschei­ dungen grundsätzlicher Art ging, die mit seinen außen- und rassenpolitischen Endzielen, seiner Vision zu tun hatte, war er unbeirrbar! „Keine einzige große Entscheidung in der Außenpolitik“ zwischen 1933 und 1945 ist „als Kompromiß rivalisierender Kräfte, als Zugeständnis an eine Oppositionsgruppe oder gar ge­ gen den Willen Hitlers gefällt“4 worden! Ja, er koalierte auf Zeit sogar mit den­ jenigen, die er an sich auf immer zu vernichten trachtete. Wenn Hitler in seiner bereits erwähnten Rede vom 3. Februar 1933 als schein­ bar gleichberechtigte Alternative zur kriegerischen Eroberung die „Erkämpfung neuer Exportmöglichkeiten“ anführte, so war dies nichts anderes als taktische Rücksichtnahme auf entsprechende Bemühungen des Reichsbankpräsidenten und späteren Reichswirtschaftsministers Hjalmar Schacht, durch eine außenwirt­ schaftspolitische Offensive innen- und außenpolitische, soziale und nationale Probleme des Deutschen Reiches zu lösen. Hitler ließ Schacht so lange gewähren, wie dessen Aktivitäten die gefährliche Phase der in Schwung kommenden Aufrüs­ 3

Hillgruber, Andreas: Hitlers Strategie. Politik und Kriegführung 1940–1941. 2. Auflage Mün­ chen 1982, S. 717 f. 4 Schmidt, Rainer F.: Die Außenpolitik des Dritten Reiches 1933–1939. Stuttgart 2002, S. 44.

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tung und der dafür nötigen Devisenbeschaffung unterstützten. Nicht zuletzt konnte er mit einer derartigen Politik seine eigentlichen Absichten vernebeln und in einer „Strategie grandioser Selbstverharmlosung“5 immer aufs Neue seine an­ gebliche große Friedensliebe betonen. Um die Position der Partei im Staat weiter zu festigen, die Koalitionspartner nicht zu beunruhigen, aber auch, um die euro­ päischen Nachbarn nicht zu irritieren, war Hitler bemüht, seine außenpolitischen Ziele zunächst nicht allzu offenkundig werden zu lassen. Fatalerweise waren seine außenpolitischen Ziele in kurzfristiger Perspektive nahezu identisch mit denen seiner ihn „zähmen“ und „einrahmen“ wollenden Koalitionspartner. Während letztere glaubten, den „Führer“ der nationalsozialistischen Bewegung auf ihre Li­ nie gebracht zu haben, waren die tatsächlich vorhandenen Unterschiede für die Öffentlichkeit im In- und Ausland kaum wahrzunehmen, weil allen das angebo­ ten wurde, was sie jeweils suchten bzw. finden wollten.

Im Windschatten der Weltpolitik In der Anfangsphase der nationalsozialistischen Außenpolitik musste es Hitler darauf ankommen, im Zusammenwirken mit den konservativ-reaktionären An­ gehörigen seiner Regierung der „nationalen Konzentration“ und gleichsam im Windschatten der das Staatensystem erschütternden und einen Gutteil der Auf­ merksamkeit der europäischen Mächte absorbierenden kriegerischen Aktivitäten der Japaner auf dem chinesischen Festland, nicht nur einer Isolierung des „Drit­ ten Reiches“ entgegenzuwirken, sondern darüber hinaus für die künftige Politik die passenden Bündnispartner zu finden. Wie er es in „Mein Kampf“ beschrieben hatte, versuchte Hitler deshalb eine Annäherung an Italien, doch Mussolini zeigte ihm zunächst einmal die kalte Schulter. Im Übrigen war ohnehin England sein Wunschpartner. Seine eigene Position völlig über- und diejenige Englands fehl­ einschätzend, war Hitler fest davon überzeugt, dass das wirtschaftlich, militärpo­ litisch und ideologisch von den Flügelmächten des Weltstaatensystems, den USA und der UdSSR herausgeforderte England sich auf eine von ihm vorgeschlagene Teilung gegenseitiger Einflusssphären einlassen und ein Bündnis mit dem natio­ nalsozialistischen Deutschland eingehen werde. Während für das Deutsche Reich die „freie Hand“ im Osten vorgesehen war, sollte England sich seinem Weltreich zuwenden können, ohne von Deutschland mit Flotten- und Kolonialproblemen belästigt zu werden. Dass die Briten weit davon entfernt waren, ihre traditionelle Gleichgewichtspolitik ohne allzu feste Bündnisse aufzugeben, sondern vielmehr versuchten, das Deutsche Reich durch verständnisvolle und entgegenkommende Behandlung in multilaterale völkerrechtliche Abmachungen einzubinden, die ­Europa und der Welt den Frieden bewahren sollten, wollte Hitler nicht erkennen, weil es ihm unvernünftig erschien. 5

Jacobsen, Hans-Adolf: Nationalsozialistische Außenpolitik 1933–1938. Frankfurt a. M. 1968, S. 328.

20   Christoph Studt Das von innenpolitischen Krisen geschüttelte Frankreich, dessen ­Niederwerfung Hitler ursprünglich als Voraussetzung und Rückendeckung für die Eroberung von „Lebensraum“ im Osten angesehen hatte, wurde ebenfalls umworben. Doch mittlerweile schätzte Hitler Frankreich nicht mehr als so stark ein, wollte aber gleichwohl vermeiden, dass es in der „Risikozone“ der deutschen Aufrüstung mit seinen ostmitteleuropäischen „Trabanten“ über das Deutsche Reich herfiele.

Wege aus der Isolation Vier spektakuläre Aktionen markierten noch im Lauf des ersten Regierungsjahres das explosive Gemisch traditioneller und nationalsozialistischer Machtpolitik. Am 5. Mai 1933 wurde die noch von der Regierung Brüning 1931 beschlossene Verlängerung des „Berliner Vertrags“ mit der Sowjetunion ratifiziert, am 20. Juli das Konkordat mit dem Vatikan abgeschlossen. Mochte der Vertrag mit der Sowjetunion auch nicht mehr die gleiche Bedeutung haben wie zuvor, mochte das Konkordat eher innenpolitische Wirkung entfalten, eines war unübersehbar: Wenn weltanschaulich so entgegengesetzte und sich gegenseitig sowie prinzipiell auch dem Nationalsozialismus ablehnend gegenüberstehende Vertragspartner wie die Sowjetunion und der Vatikan mit dem „Dritten Reich“ zusammenarbeiteten, wer mochte da abseits stehen? Mit der Verlängerung des „Berliner Vertrages“ hat­ te der noch um die innere Macht ringende, bislang als „Bolschewistenfresser“ auf­ tretende Hitler maßgebliche konservative Kreise an sich zu binden gewusst, deren Einstellung traditionell anti-polnisch und pro-russisch war. Umso sensationeller wirkte daher der am 26. Januar 1934 mit Polen abge­ schlossene Nichtangriffspakt, der die Stoßrichtung des Auswärtigen Amtes und aller Weimarer Kabinette umzukehren schien. Dieser Pakt lüftete ein wenig den Vorhang vor Hitlers zukünftiger Politik. Mit Polen glaubte Hitler – zumindest zeitweise – einen Partner im bevorstehenden Kampf gegen die Sowjetunion ge­ funden, und gleichzeitig einen Eckstein aus Frankreichs Sicherheitsarchitektur gebrochen zu haben, wurden doch koordinierte Übergriffe Frankreichs ohne ­seinen zentralen ostmitteleuropäischen Ententepartner Polen dadurch nahezu unmöglich gemacht. Trotz dieser Entwicklung war es nicht ohne Risiko gewesen, am 14. Oktober 1933 die Genfer Abrüstungskonferenz zu verlassen und gleichzeitig aus dem Völ­ kerbund auszutreten. Zwar akklamierten die Deutschen ihrem „Führer“ bei der folgenden Abstimmung mit über 90 Prozent der abgegebenen Stimmen, doch das Deutsche Reich stand in diesem Moment außenpolitisch noch gefährlich isoliert da. Erst der erfolgreiche Abschluss der genannten Übereinkunft mit Polen war dazu geeignet, diese bedenkliche Situation zu überwinden. Dass Hitler ausgerech­ net mit Polen einen Gewaltverzicht vereinbarte und für die natürlich weiterhin existierenden Revisionsziele auf den Einsatz kriegerischer Mittel zu verzichten sich verpflichtete, verblüffte die Welt und war ein weiteres Mal geeignet, seine angebliche Friedensliebe zu demonstrieren. Und nebenbei: Wenn die Beilegung

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alter eingefressener Konflikte durch zweiseitige Gespräche in kurzer Zeit möglich war, dann schien das für Hitlers bilaterales Verfahren, ja für seine Verständigungs­ politik überhaupt zu sprechen. Nur ein Jahr nach der „Machtergreifung“ be­ stimmte er über die deutsche Außenpolitik, hatte er ihren Kurs grundlegend ver­ ändert. Dass „Deutsch-Österreich zum großen deutschen Mutterlande“ zähle, mithin „gleiches Blut in ein gemeinsames Reich“ gehöre, hatte Hitler schon auf der ers­ ten Seite von „Mein Kampf“ verkündet. Er hatte die nationalsozialistischen Kräfte in der Alpenrepublik stets gefördert: Im Sommer 1934 putschten die österreichi­ schen Nationalsozialisten gegen die Wiener Regierung. Umgehend nahm Musso­ lini seine Protektorenrolle wahr und ließ Truppen am Brenner aufmarschieren. Schon lange hatte der „Duce“ die nach Süden und Südosten zielenden Ambitio­ nen des Deutschen Reiches mit wachsendem Misstrauen beobachtet. Seinen erst kurz zuvor wieder erhobenen Führungsanspruch in der Donauregion wollte er sich nicht entwinden lassen. Hitler blieb nichts als ein rascher Rückzug. Dass es gerade das faschistische Italien war, welches ihm in den Arm fiel, muss Hitler be­ sonders enttäuscht haben.6

Wachsames Europa? Europa stand – rückblickend betrachtet, aber eben nur rückblickend – im Früh­ jahr 1935 an einer Schicksalsschwelle. Würden die Mächte die relative Isolierung des Reiches nutzen und die Zumutungen des Diktators kompromisslos beantwor­ ten, so konnte diese Haltung zum innenpolitischen Zusammenbruch des Regimes führen. Seinen österreichischen Misserfolg einigermaßen glimpflich zu überstehen, half Hitler allerdings einer jener Zufälle, die ihn mit ebenso merkwürdiger wie er­ schreckender Regelmäßigkeit begünstigten. Im Artikel 49 des Versailler Friedens­ vertrages war festgeschrieben worden, dass die Saarländer 15 Jahre nach Inkraft­ treten dieser Regelung darüber abstimmen sollten, ob das Saarland zum Deut­ schen Reich zurückkehren, unter der Treuhandregierung des Völkerbundes bleiben oder sich Frankreich anschließen wolle. Das Ergebnis dieser Wahl vom Januar 1935 war eindeutig: 91 Prozent der abstimmenden Saarländer entschieden sich für die Rückkehr ihrer Heimat ins Reich. Hitler nutzte diesen Erfolg umge­ hend, um eine Reihe für den Fortgang der Aufrüstung unverzichtbarer Entschei­ dungen zu treffen. Er „enttarnte“ am 9. März die deutsche Luftrüstung, hob am 16. März einseitig die militärischen Bestimmungen des Versailler Vertrags auf und 6

Vgl. zu diesen Zusammenhängen: Hildebrand, Klaus: Deutsche Außenpolitik 1933–1945. Kal­ kül oder Dogma? 5. Auflage Stuttgart 1990. Recker, Marie-Luise: Die Außenpolitik des Dritten Reiches. München 2. Auflage 2010. Funke, Manfred (Hg.): Hitler, Deutschland und die Mäch­ te. Mate­rialien zur Außenpolitik des Dritten Reiches. Duchges. u. erweit. Neudruck Kronberg i. Ts. 1978. Hillgruber, Andreas: Hitlers Strategie. Politik und Kriegführung 1940–1941. 3. Auf­ lage Bonn 1993.

22   Christoph Studt führte die allgemeine Wehrpflicht wieder ein. Die Friedenspräsenzstärke der nun­ mehr in „Wehrmacht“ umgetauften Reichswehr lag bei 550 000 Mann. Die Reaktion der europäischen Mächte war die Bildung der sogenannten „Stresafront“ im April 1935. Die Regierungschefs von Großbritannien, Frankreich und Italien verurteilten das deutsche Vorgehen und wandten sich gegen jede ein­ seitige Aufkündigung von Verträgen, der sie sich in Zukunft „mit allen geeigneten Mitteln“ widersetzen wollten. Doch ließen sich die Beteiligten immer wieder durch Friedensbeteuerungen des deutschen Diktators einlullen und handelten nicht, weil die von Deutschland ausgehende Gefahr noch immer nicht groß ge­ nug erschien. Bedeutsam in diesem Zusammenhang waren das deutsch-britische Flottenabkommen sowie Mussolinis abessinisches Abenteuer. Die britische Regierung hatte sich nämlich lange vor Hitlers einseitigen Aktio­ nen mit der ihr unvermeidlich erscheinenden Aufrüstung des Deutschen Reiches abgefunden. Als Hitler – schon im November 1934 – dem britischen Botschafter gegenüber erklärt hatte, das Deutsche Reich sei bereit, England im Hinblick auf eine Beschränkung seiner Flottenrüstung entgegenzukommen, griffen die Eng­ länder dieses Angebot sogleich auf. In derselben Note, mit der sie gegen die ein­ seitige Kündigung des Versailler Vertrags protestierten, fragten sie in Berlin an, ob denn der schon zuvor verabredete Deutschlandbesuch des britischen Außenmi­ nisters noch erwünscht sei! Dem offenen Vertragsbruch folgten also keine Sank­ tionen, sondern Gespräche über die gemeinsame Zukunft. In der Tat eine „sensa­ tionelle Wendung von der Verurteilung zu Verhandlungen mit dem frisch Ver­ urteilten“, erinnerte sich später der Chefdolmetscher des Auswärtigen Amts, Paul Schmidt.7 Zwar konnten die Briten Hitler nicht zur Rückkehr in den Völkerbund bewegen. Vielmehr gelang es dem Diktator, Großbritannien von dem Prinzip multilateraler Vereinbarungen abzubringen und ein bilaterales Abkommen über die Flottenstärken abzuschließen. Die am 18. Juni unterzeichnete Vereinbarung sollte in seiner Perspektive bald in jenen großen Interessenausgleich münden, der Hitler seit langem vorschwebte. In diesem Sinne bezeichnete der Diktator den 18. Juni 1935 als den „glücklichsten [Tag] seines Lebens“.8 Was er nicht sehen konnte, weil er es nicht sehen wollte, war die schlichte Tatsache, dass die Intentio­ nen beider Seiten unvereinbar blieben: „Der eine zielte durch Allianzbildung auf die Revolutionierung des Existierenden; die anderen gedachten, das Bestehende durch vernünftigen Wandel zu erhalten. Letztlich wollte der eine Krieg führen, während die anderen den Frieden zu sichern bestrebt waren.“9 Noch ehe das deutsch-englische Flottenabkommen ausgehandelt war, versuch­ te Frankreich verzweifelt, sein Sicherheitssystem zu stärken. Am 5. Mai 1935 schlossen Paris und Moskau eine Allianz, die das Reich in die Zange nehmen 7

Schmidt, Paul: Statist auf diplomatischer Bühne 1923–1945. Erlebnisse des Chefdolmetschers im Auswärtigen Amt mit den Staatsmännern Europas. Bonn 1949, S. 325. 8 Ribbentrop, Joachim von: Zwischen London und Moskau. Erinnerungen und letzte Aufzeich­ nungen. Leoni 1963, S. 64. 9 Hildebrand, Klaus: Das vergangene Reich. Deutsche Außenpolitik von Bismarck bis Hitler. Stuttgart 1995, S. 601.

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sollte. Die Heranziehung Italiens an einen französisch patronisierten Balkanpakt jedoch misslang, weil Rom dort eigene Ambitionen hegte. Die Versailler Ordnung, sofern sie überhaupt noch Bestand hatte, zerbröckelte zusehends, die „Stresafront“ hatte ihren Sinn schon nach acht Wochen einge­ büßt.

Abessinien und der Tod der „Stresafront“ In der weiteren Entwicklung waren es vor allem der Abessinien-Krieg und der Spanische Bürgerkrieg, die eine geschlossene Aktionsfront der Stresapartner ver­ hinderten. Die unklare und unentschlossene Reaktion Englands und Frankreichs auf Mussolinis imperiales Ausgreifen nach Afrika – Abessinien war immerhin Völkerbundmitglied – führte lediglich zu einer halbherzigen Sanktionspolitik ge­ gen Italien, die den „Duce“ zwar verärgerte, die ihn jedoch nicht behindern konn­ te. Hitler nutzte diese Situation weidlich aus. Er schloss aus der „schlappen“ Hal­ tung Frankreichs und Englands, dass auch er in Zukunft kaum mit einer geschlos­ senen Front würde rechnen müssen. Und indem sich der „Führer“ auf die Seite des „Duce“ schlug, den er mit Kriegsmaterial versorgte, trennte er den Italiener von seinen Stresapartnern und machte ihn eigenen Zielen gewogen. „Nur ordent­ lich streiten“, notierte Goebbels am 6. September 1935 in sein Tagebuch: „Unter­ deß streifen wir die Ketten ab.“10 Dass diese Rechnung aufging, machte sich schon bald bemerkbar: Im Januar 1936 ließ Mussolini verlauten, die „Stresafront“ sei „ein für allemal tot“ und Ita­ lien habe nichts dagegen einzuwenden, wenn Österreich ein „Satellit“ des Deut­ schen Reiches werde. Diese Äußerung machte den Weg frei für das deutsch-öster­ reichische Juliabkommen von 1936. Das von Italien allein gelassene Österreich hatte sich als „deutscher Staat“ zu bekennen, welcher seine Außenpolitik stets „unter Bedachtnahme auf die friedlichen Bestrebungen der Außenpolitik der deutschen Reichsregierung zu führen“ habe. Immerhin blieb die staatliche Exis­ tenz der Alpenrepublik noch gewahrt. Als der „Duce“, auf dem afrikanischen Kriegsschauplatz in heikler Lage, darü­ ber hinaus anklingen ließ, dass Italien als Garantiemacht der Locarno-Verträge sich einem deutschen Einmarsch ins entmilitarisierte Rheinland nicht widerset­ zen würde, reagierte Hitler umgehend und ließ am 7. März 1936 in einer Überra­ schungsaktion das Rheinland von deutschen Truppenteilen besetzen. Die vorge­ schobene Begründung dieses Coups lieferte jener nach über zwei Wochen hitziger Debatte im französischen Parlament endlich ratifizierte Beistandspakt Frank­ reichs mit der Sowjetunion. Eine weitere „Fessel“ des Versailler Vertrags war abge­ streift, Hitlers Popularität in der deutschen Bevölkerung erneut gestiegen. Frank­ 10 Die

Tagebücher von Joseph Goebbels. Sämtliche Fragmente Teil I: Aufzeichnungen 1924– 1941. Im Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte und in Verbindung mit dem Bundesarchiv hrsg. von Elke Fröhlich. Band 2, München 1987, S. 510.

24   Christoph Studt reich, dessen Reaktionsvermögen aus innen- und militärpolitischen Gründen ge­ lähmt war, hatte durch diese Maßnahme seine letzte noch verbliebene materielle Sicherheitsgarantie aus dem Versailler Vertrag eingebüßt, sein ostmitteleuropäi­ sches Bündnissystem hatte durch diesen Verlust deutlich an Wert verloren. Eng­ land hingegen fühlte seine Interessen kaum berührt, missbilligte zwar die gewalt­ same Methode, sah aber das deutsche Interesse im Grunde als berechtigt an. Der europäische Frieden war Premierminister Baldwin „fast jedes Risiko wert“:11 Die­ se Reaktion ließ Hitler allerdings in dem Irrtum verharren, weiterhin auf ein eng­ lisches Bündnis mit der Gewährung einer „freien Hand im Osten“ rechnen zu können. Insgesamt durfte Hitler zufrieden sein: Mit der Rheinlandbesetzung war das Einfallstor im Westen geschlossen, das Ruhrgebiet geschützt, Italien war sichtbar an die Seite Deutschlands getreten. Wie gehabt erklangen begleitend zu allen Re­ aktionsüberlegungen der Westmächte die deutschen Friedensschalmeien, ja Hitler bot „großzügigerweise“ sogar eine Neuregelung der soeben von ihm zerstörten Verhältnisse in Westeuropa an. Er schreckte nicht einmal davor zurück, die Rück­ kehr Deutschlands in den Völkerbund in Aussicht zu stellen. Sollte man also we­ gen eines ohnehin zu Deutschland gehörenden Landstreifens einen möglicher­ weise alles verschlingenden Krieg riskieren, wenn Hitler um Frieden warb?

„ . . . in 4 Jahren kriegsfähig . . . “ Dass Hitler nicht wirklich an Frieden dachte, belegen gerade für diese Phase seine Anweisungen in der Denkschrift zum Vierjahresplan von Ende August 1936. Da­ nach sollte „die deutsche Armee in 4 Jahren einsatzfähig“, „die deutsche Wirt­ schaft in 4 Jahren kriegsfähig sein“.12 Der ohnehin erweiterte Handlungsspielraum ließ sich mit Hilfe einer neuen europäischen Konfliktzone noch vergrößern: Der Spanische Bürgerkrieg bot Hit­ ler die Möglichkeit, die Aufmerksamkeit der Westmächte an die Peripherie des Kontinents abzulenken, deren Handlungswillen wie -fähigkeit zu testen, Ausei­n­ andersetzungen zwischen ihnen zu schüren und nicht zuletzt das sich ebenfalls engagierende, aber wehrwirtschaftlich übernehmende Italien noch stärker an das Deutsche Reich zu binden. Hitlers Entschluss, an Francos Seite in die „spanische Arena“13 zu steigen, war wesentlich politisch motiviert. Maßgeblich war dabei sein Bemühen, angesichts der seit Juni 1936 in Frankreich amtierenden Volks­ frontregierung einen entsprechenden innenpolitischen Weg für Spanien mit allen 11 Zit.

nach: Manchester, William: Winston Churchill. Band 2: Allein gegen Hitler 1932–1940. München 1990, S. 252. 12 Zit. nach: Treue, Wilhelm: Hitlers Denkschrift zum Vierjahresplan 1936. In: VfZ 3 (1955), S. 184–210, hier S. 210. 13 Abendroth, Hans-Henning: Hitler in der spanischen Arena. Die deutsch-spanischen Bezie­ hungen im Spannungsfeld der europäischen Interessenpolitik vom Ausbruch des Bürgerkrie­ ges bis zum Ausbruch des Weltkrieges (1936–1939). Paderborn 1973.

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Mitteln zu verhindern. Sollte es stattdessen aber gelingen, Franco zum Sieg zu verhelfen und dadurch dem Deutschen Reich zu verpflichten, geriete Frankreich in eine ausgesprochen prekäre Lage. Insofern war Hitlers Hilfe für Franco im Kern nur eine Funktion seiner gegen die Sowjetunion gerichteten Expansions­ politik. Mit einer „ruckartig“ verschärften antisowjetischen Propaganda wandte sich Hitler nun wieder seinem Hauptgegner zu. Ihr Zweck war die Schaffung eines hasserfüllten Feindbildes in der deutschen Öffentlichkeit als wichtige psychologi­ sche Voraussetzung für die Verwirklichung seiner radikalen rassenideologischen Ziele im Osten. Es war ein nicht unerwünschter Nebeneffekt dieser Politik, sich als einziger ernstzunehmender Bündnispartner besonders Großbritannien, er­ satzweise auch Japan und Italien bei der Bekämpfung des „Weltkommunismus“ anzubieten. Doch die Briten waren nach wie vor wenig erpicht auf eine Verbin­ dung mit dem deutschen Diktator. Und auch dieser überdachte seine bislang so wenig erfolgreiche Englandpolitik. Hatte er angesichts des in seinen Augen schwa­ chen Bildes, das die Engländer im Abessinienkonflikt und im spanischen Bürger­ krieg geboten hatten, ein britisches Bündnis für seinen Marsch nach Osten über­ haupt noch nötig? Oder musste man die Briten zur Not zum Jagen tragen, d. h. durch äußeren Druck in ein Bündnis pressen? Ja, er rückte langsam von seinem bisher erträumten Konzept des „mit England“ ab und bewegte sich auf einem Kurs des „ohne England“ zu. Bei diesen Überlegungen war sogar eine gleichsam passive Gegnerschaft Londons einkalkuliert, ohne dass dies bereits in eine Hal­ tung des „gegen England“ umgeschlagen wäre.

Die „Achse Berlin-Rom“ In diesem Sinne wählte Hitler als Aushilfslösung die sogenannte „Achse BerlinRom“ (25. Oktober 1936) und den am 25. November des gleichen Jahres mit Ja­ pan abgeschlossenen „Antikominternpakt“, dem sich Italien ein Jahr später eben­ falls anschließen sollte. Damit wurde die Zusammenarbeit der drei internationa­ len Störenfriede besiegelt. Neben der offiziellen Stoßrichtung gegen die UdSSR musste sich nun auch das britische Empire möglicherweise nicht allein auf dem europäischen Kontinent, sondern auch im Mittelmeerraum und im Fernen Osten örtlich und zeitlich koordinierten Konflikten stellen. Dementsprechend notierte der italienische Außenminister Ciano in sein Tagebuch: „sozusagen antikommu­ nistisch, in Wirklichkeit aber antibritisch“.14 Dass diese Gefahr durchaus real war, zeigte der Zwischenfall an der Pekinger Marco-Polo-Brücke (7. Juli 1937), der mit dem japanisch-chinesischen Krieg den ostasiatischen Schauplatz wieder stärker ins europäische Bewusstsein hob. Seit ihrer Invasion in die Mandschurei 1931 versuchten die Japaner, den ostasiatischen Status quo zu ihren Gunsten zu verän­ dern, was von den Briten mit großer Sorge beobachtet, von den Amerikanern 14 Ciano,

Galeazzo Graf. Tagebücher 1937/38. Hamburg 1949, S. 37.

26   Christoph Studt vorerst nur mit der von Präsident Roosevelt in seiner „Quarantäne-Rede“ (5. Ok­ tober 1937) ausgegebenen Warnung an die totalitären und autoritären Regime der Welt beantwortet wurde. Immerhin, der bislang im Isolationismus schlum­ mernde amerikanische Riese trat jetzt auf den Plan und war ein Faktor, den es zu beachten galt. Die Neuakzentuierung der Hitlerschen Englandpolitik kam in aller ­Deutlichkeit in seiner geheimen Ansprache vor Reichsaußenminister von Neurath, Reichskriegs­ minister von Blomberg sowie den Oberbefehlshabern der drei Wehrmachtteile am 5. November 1937 zum Ausdruck, in der er seine „grundlegenden Gedanken über die Entwicklungsmöglichkeiten und -notwendigkeiten unserer außenpoliti­ schen Lage“ darlegte. Im Zentrum stand sein „unabänderlicher Entschluß, spätes­ tens 1943/45 die deutsche Raumfrage zu lösen“. Dieses Ziel könne „nur durch Brechen von Widerstand und unter Risiko vor sich gehen“, ja zur „Lösung der deutschen Frage könne es nur den Weg der Gewalt geben“. Als nächste Schritte auf dem Weg zu dieser Lösung nannte er den „Anschluss“ Österreichs und die Niederwerfung der Tschechoslowakei, wobei allerdings – wie er seinen Zuhörern versicherte – mit einem Eingreifen der Westmächte nicht gerechnet werden ­müsse, weil er davon überzeugt sei, dass England und Frankreich „die Tschechei bereits im stillen abgeschrieben“ hätten. Danach sei die außenpolitische Lage des Reiches so günstig, dass Polen kaum mehr wagen würde, Front gegen Deutschland zu ­machen, während die Sowjetunion im Fernen Osten durch Japan gebunden sei. Die strategische Voraussetzung für den „Lebensraum“-Krieg im Osten wäre da­ mit geschaffen. Aufkommende Bedenken der militärischen Fachleute schob Hitler kurzerhand beiseite.15 Europa den Frieden zu erhalten, das hatte sich die im Mai 1937 neu ins Amt gekommene englische Regierung unter dem „bis zur Blindheit für das Tatsäch­ liche vernünftigen“16 Premierminister Chamberlain auf die Fahne geschrieben. Am 19. November 1937 erschien daher Lord Halifax auf Hitlers Berghof, um die­ sem die jetzt zum Konzept erhobene britische Appeasementpolitik vorzutragen. Territoriale Veränderungsmöglichkeiten – es war unter anderem von der Rege­ lung der österreichischen, der tschechoslowakischen und der Danziger Frage in deutschem Sinne die Rede – , die er Hitler als verhandelbare Konzessionen Lon­ dons für eine Rückkehr des Deutschen Reiches in eine dauerhafte europäische Friedensordnung anbot, waren für den Diktator kaum noch interessant, da dieser Ostmitteleuropa ohnehin schon als Einfluss- und Hegemonialbereich Deutsch­ lands betrachtete. Revision und „general settlement“ waren nie Kategorien gewe­ sen, in denen sich Hitlers Außenpolitik bewegte. Dass vieles von dem, was er an­ strebte, bei einiger Geduld auch mit friedlichen Mitteln erreicht werden konnte, entsprach ebenfalls nicht seiner Denkungsart. Halifax’ Einlassungen bestärkten Hitler vielmehr in seiner Vermutung, dass Großbritannien sich für die in seinem Visier befindlichen Länder nicht in einen Konflikt würde ziehen lassen. 15 Zit.

nach der sogenannten Hoßbach-Niederschrift: ADAP. Serie D, Band 1, S. 25–30. Das vergangene Reich (wie Anm. 8), S. 657.

16 Hildebrand,

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Die Zeit des Handelns war gekommen, zumal sich Hitler unter Zeitdruck glaubte. Dies hatte persönliche Gründe, lag aber auch an der gegenwärtig noch günstigen politischen Gesamtkonstellation, die sich zum Teil rasch, zum Teil mit­ telfristig gegen ihn wenden konnte: noch drohten die USA nur aus der Ferne, noch konnte die UdSSR wegen der blutigen „Säuberungen“ Stalins in der Armee in ihrer militärischen Kraft geringgeschätzt werden, noch war England – zumin­ dest für die nächstliegenden Hitlerschen Ziele – offensichtlich nicht kampfwillig, und Frankreich dümpelte ohnehin im Fahrwasser der Briten. Aber dieses „strate­ gische Fenster“17 begann sich langsam zu schließen. Die Kritik an seinen Ausführungen am 5. November bewog Hitler jedenfalls, sich jetzt einer zuverlässigen und ihm blind ergebenen Führungsmannschaft zu versichern. Die „Blomberg-Fritsch-Krise“ bot die günstige Gelegenheit zu einem großen Revirement. Nachdem Hitler seinen Wirtschaftsminister Schacht schon Ende November 1937 durch seinen Kriegskurs zum Rücktritt veranlasst hatte, entledigte er sich am 4. Februar auch seines Außenministers von Neurath, dessen Posten er Joachim von Ribbentrop übertrug. Der Stuhl des Reichskriegsministers von Blomberg blieb leer, den Oberbefehl über die Wehrmacht behielt sich der Diktator selbst vor; führende Positionen in der Generalität besetzte er mit Män­ nern seines Vertrauens: 15 Generäle wurden pensioniert, 24 weitere auf bedeu­ tungslose Posten abgeschoben: Die Autorität des „Führers“ war gleichsam unan­ tastbar geworden, was auch der Umstand demonstrieren mag, dass an diesem 4. Februar die letzte Kabinettssitzung der Reichsregierung Hitler stattfand.18 Es war nicht mehr nötig, auf irgendjemanden Rücksicht zu nehmen.

Der „Anschluss“ Österreichs War Hitler noch Ende 1937 davon ausgegangen, dass sich ein „Anschluss“ Öster­ reichs auf der Grundlage des Juli-Abkommens von 1936 mittels einer Art Selbst­ gleichschaltung von selbst erledigen würde, entschloss er sich im Januar 1938 dazu, diese „schon längst fällige Selbstverständlichkeit“ zu forcieren. Treibende Kraft dieser Politik wurde Hermann Göring. Die alten großdeutschen Motive ver­ banden sich bei ihm, dem „General­bevollmächtigten für den Vierjahresplan“, mit der Sorge über die schlechte deutsche Rohstoff- und Devisenlage. Die Alpenrepu­ blik war geeignet, in dieser Hinsicht eine Lücke zu füllen und überdies den Weg deutscher Expansion nach Südosteuropa zu öffnen. Nach wie vor hatte es der österreichische Bundeskanzler von Schuschnigg zu vermeiden gewusst, Mitglieder der sogenannten „nationalen Opposition“ an sei­ ner Regierung zu beteiligen, was ihm nun den Hals brechen sollte, denn das Ver­ hältnis beider Staaten war denkbar gespannt. Am 12. Februar 1938 empfing der 17 Wendt,

Bernd-Jürgen: Großdeutschland. Außenpolitik und Kriegsvorbereitung des HitlerRegimes. München 1987. S. 161. 18 Vgl. Schmidt, Außenpolitik (wie Anm. 4), S. 228–232.

28   Christoph Studt „Führer“ Schuschnigg zu einer Unterredung auf dem Berghof am Obersalzberg, um ihm ein Ultimatum zu stellen: Unter anderem sollte die Außenpolitik der ­beiden Länder „koordiniert“, dem Nationalsozialisten Seyß-Inquart das „Ministe­ rium für innere Verwaltung und Sicherheit“ und damit die Polizeigewalt übertra­ gen, die nationalsozialistische Partei endlich wieder zugelassen und nicht zuletzt der deutsch-österreichische Wirtschaftsverkehr intensiviert werden. Die rüde vor­ getragenen „Wünsche“ wurden unterstrichen durch die Anwesenheit zahlreicher Generäle, die als martialische Drohkulisse zu dienen hatten. Schuschnigg sah zwar keinen anderen Weg, als diese ultimative Verpflichtung zu einer inneren „Gleichschaltung“ der Alpenrepublik zu unterschreiben, doch geschlagen gab er sich noch nicht. Vielmehr setzte er für den 13. März 1938 eine Volksabstimmung „für ein freies und deutsches, unabhängiges und soziales, für ein christliches und einiges Österreich“ an. Der überstürzte Charakter des Selbst­ rettungsversuchs sowie einige Unkorrektheiten bei der Wahlvorbereitung lieferten Hitler den Vorwand, Schuschnigg zum Verzicht auf die Volksabstimmung zu zwingen. Unter deutschem Druck trat er am 11. März zurück und übergab sein Amt an Seyß-Inquart. Doch nun weigerte sich der österreichische Bundespräsi­ dent Miklas, den Nationalsozialisten zum Bundeskanzler zu ernennen, woraufhin Hitler an eben diesem 11. März den Befehl zum Einmarsch gab. In den frühen Morgenstunden des 12. März 1938 marschierten deutsche Wehrmachtverbände nach Österreich ein und wurden auf ihrem „Blumenfeldzug“ jubelnd begrüßt. Die Begeisterung der Bevölkerung veranlasste Hitler spontan, entgegen seiner ursprüng­lichen Absicht, Österreich durch einen völligen „Anschluss“ mit dem Deutschen Reich zu vereinigen. Unübersehbar dominierte das Deutsche Reich, jetzt „Großdeutsches Reich“ ge­ nannt, den alten Kontinent und schien gemeinsam mit Italien und Japan die Ge­ schicke der Welt lenken zu können. Denn die Westmächte, jene Garanten der al­ ten, nun endgültig aus den Angeln gehobenen Ordnung, reagierten auf diesen neuerlichen Testfall tatsächlich mit nichts weiter als „entrüsteter Nachgiebigkeit“, wie es der italienische Außenminister Ciano schon zuvor vermutet hatte.19 Frankreich ließ sich durch einige die Tschechoslowakei betreffende beruhigen­ de deutsche Versicherungen kalmieren, Großbritannien anerkannte nach pflicht­ gemäßer Verurteilung des gewaltsamen Vorgehens nicht nur die neue Situation Österreichs, sondern auch das italienische „Impero“, d. h. das Schicksal Abessini­ ens. So einfach konnten inzwischen Mitglieder des Völkerbundes von der Land­ karte radiert werden, ohne dass die Staatenwelt ernsthaft opponiert hätte. Diese laue Reaktion bestärkte Hitler, sein weiteres Vorgehen nicht länger, wie er es noch am 5. November 1937 für ein Vorgehen gegen Österreich und die Tschechoslowa­ kei ausdrücklich zur Voraussetzung gemacht hatte, von der krisenhaften Entwick­ lung an anderen internationalen Brennpunkten abhängig zu machen. Vielmehr hastete er auf das nächste Objekt seiner Begierde zu. Am 21. April 1938 gab Hitler die Aktualisierung der Aufmarschplanung gegen die Tschechoslowakei in Auftrag: 19 Ciano,

Tagebücher (wie Anm. 13), S. 124.

Nationalsozialistische Außenpolitik bis zum Sommer 1938   29

„Es ist mein unabänderlicher Entschluß, die Tschechoslowakei in absehbarer Zeit durch eine militärische Aktion zu zerschlagen.“ Eine Beseitigung dieses Eckpfeilers sah er als Voraussetzung für das „Antreten gegen den Westen“, dessen Ausschaltung in seiner pervertierten Logik wiederum die Voraussetzung für den „eigentlichen“, den „Lebensraum“-Krieg im Osten war. Schon „in den ersten 2–3 Tagen“ sollte die Wehrmacht eine ­Situation schaffen, die Paris und London „die Aussichtslosigkeit der tschechischen Lage vor Augen“ ­führe.20

20 „Aufzeichnung

des Majors i. G. Schmundt“ sowie „Weisung für Plan ‚Grün‘“, Zit. nach: ADAP. Serie D, Band 2, S. 190 und S. 282.

Peter Krüger (1935–2011)

Ostmitteleuropäische Bündnissysteme und Konfliktfelder Vor allem von Konfliktfeldern, aber auch von Bündnissen wird sehr viel die Rede sein. Beides liegt nicht selten nah beieinander. Um Bündnisse geht es mir jedoch eigentlich weniger. Bündnisse erwiesen sich in jener kritischen Phase zwischen der Pariser Friedenskonferenz von 1919/20 und dem Münchner Abkommen von 1938 für Ostmitteleuropa1 als wenig hilfreich und konnten selbst zu Konflikt­feldern werden. Deswegen geht es mir im Grunde viel mehr um diejenigen ­Vereinbarungen internationaler Politik, die für eine stabilisierende, gedeihliche ­Entwicklung dieser Region sorgten und in den 1930er Jahren nach dem Scheitern des hoffnungsvollen Anlaufs der Locarno-Politik fehlten. Sie fehlten – und zwar im doppelten Sinne des Wortes: Sie waren kaum mehr vorhanden, aber in den zwei Jahrzehnten seit der Entstehung neuer Nationalstaaten in Ostmitteleuropa, hier vor allem der Tschechoslowakei, bedurfte man ihrer dringend, ja existentiell. Denn was am Ende fehlte und zur Existenzsicherung unentbehrlich war, das waren umfassende und dauerhafte europäische Vereinbarungen und Verpflichtungen für diese Region, die insbesondere die Großmächte einschließlich des besiegten und gegen sein Schicksal aufbegehrenden Deutschen Reiches einbanden. Deswegen ist die maßgebende Frage, warum solche wirkungsvollen Vereinbarungen fehlten. In der gebotenen Kürze beschränken sich die folgenden Überlegungen erstens auf einige generelle Konsequenzen der Friedensregelungen, zweitens die Konfliktfelder, drittens die einschlägigen Bündnisse, viertens die Locarno-Politik, ihr Ende und die Zerrüttung des europäischen Staatensystems in den 1930er Jahren.

Konsequenzen der Friedensregelungen Zunächst also zu Konsequenzen der Friedensregelungen2: Waren die Konfliktfelder nach dem Ersten Weltkrieg zu gravierend und zahlreich und die Anstrengun1

Lemberg, Hans (Hg.): Ostmitteleuropa zwischen den beiden Weltkriegen (1918–1939). Stärke und Schwäche der neuen Staaten, nationale Minderheiten. Marburg 1997. Ders. (Hg.): Grenzen in Ostmitteleuropa im 19. und 20. Jahrhundert. Aktuelle Forschungsprobleme. Marburg 2000. Mühle, Eduard (Hg.): Mentalitäten – Nationen – Spannungsfelder. Studien zu Mittelund Osteuropa im 19. und 20. Jahrhundert. Beiträge eines Kolloquiums zum 65. Geburtstag von Hans Lemberg. Marburg 2001. Zur Wirtschaftspolitik: Krüger, Peter: Zu Hitlers „nationalsozialistischen Wirtschaftserkenntnissen“. In: Geschichte und Gesellschaft 6/2 (1980), S. 263–282. Plaschka,Richard G./Haselsteiner,Horst/Suppan, Arnold/Drabek, Anna M./Zaar, Brigitta (Hg.): Mitteleuropa-Konzeptionen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Wien 1995, S. 227–304. Zum Münchener Abkommen allgemein, einschließlich der Historiographie: Taubert, Fritz (Hg.): Mythos München. München 2002. 2 Bosl, Karl (Hg.):Versailles – St. Germain – Trianon. Umbruch in Europa vor fünfzig Jahren. München, Wien 1971. Lemberg, Hans/Heumos, Peter (Hg.): Das Jahr 1919 in der Tschechoslo-

32   Peter Krüger gen der Pariser Friedenskonferenz, eine neue internationale Ordnung mit dem Völkerbund3 als erster globaler Friedens-, Sicherheits- und Kooperationsordnung zu verankern, ein zu ehrgeiziges Unterfangen? Es scheint so, gerade auch in Anbetracht der vollmundigen Verheißungen und auf die öffentliche Meinung zielenden Verkündungen der Siegermächte. Jedoch, sie hatten einen über vier Jahre dauernden Weltkrieg mit totalem Charakter und schrecklichen Verlusten und Einbußen hinter sich und hofften selber, davon erlöst zu werden. Sie waren allerdings ganz unterschiedlich vom Krieg und seinen Folgen betroffen, hatten daher auch stark divergierende Interessen – je nach allgemeinem Zustand, geographischer und strategischer Lage, in politischer, wirtschaftlicher oder militärischer Hinsicht, sowie gemessen an konkreten Verlusten und an der Beeinträchtigung oder dem Versiegen von Ressourcen und internationalen Versorgungsverbindungen. Die tiefgreifenden inneren und äußeren Veränderungen, die der Krieg bewirkte, waren kaum zu begreifen, geschweige denn in der kurzen Frist einer Friedenskonferenz angemessen zu behandeln. Die Schwierigkeiten, Problem- und Konfliktfelder stellten schon je für sich genommen Belastungen unbekannten Ausmaßes dar, waren zudem aber noch miteinander verknüpft und hingen auch in den Lösungsmöglichkeiten voneinander ab. Lösungen aber mussten auf der Konferenz in kurzer Zeit gefunden werden, und warfen schon in der Erörterung oft neue Probleme auf, ob es sich nun um Grenzziehungen, Reparationen, wirtschaftliche Maßnahmen oder Sicherheitsfragen handelte. Es blieb auch, darüber waren sich die Beteiligten im Klaren, in der Nachkriegszeit noch viel zu regeln und dafür ein geregeltes Verfahren und eine günstige Ausgangsposition zu finden. Zu diesem Zweck konnten sich flexible, auslegungsfähige Formulierungen der Friedensverträge in der einen oder anderen Richtung als hilfreich erweisen. Weil das Deutsche Reich im Zentrum der Pariser Friedenskonferenz stand, ­seine weitere Entwicklung und künftige internationale Stellung für die Zukunft Europas ausschlaggebend war, war der Versailler Vertrag der erste und wichtigste der Friedensverträge. Er wirkte deshalb nachhaltig ein auf die Friedensverträge und Startpositionen der ehemaligen deutschen Verbündeten und vor allem der neuen Staaten im östlichen Mitteleuropa vom Baltikum bis zur Donau sowie auf Ost­europa generell. Entscheidend war, dass trotz aller Beschneidungen und vorübergehenden Schwächen die deutsche Großmachtstellung vom Potential und der geostrategischen Lage her erhalten blieb. Das Interesse daran, wie weit man gehen sollte mit der Schwächung des Reiches, war selbstverständlich stark und kontrovers. Die durchgreifendste und klarste Lösung, die Aufteilung, gerade auch zugunsten der Sicherheit und ungestörten Entwicklung der östlichen Nachbarn wakei und in Ostmitteleuropa. München 1993. Kolb, Eberhard: Der Frieden von Versailles. München 2005. 3 Steiger, Heinhard: Die Nachkriegsordnung des Völkerbundes – Potential und Grenzen. In: Breuer, Marten/Weiß, Norman (Hg.): Das Vertragswerk von Locarno und seine Bedeutung für die internationale Gemeinschaft nach 80 Jahren. Frankfurt am Main u. a. 2007, S. 9–37. Schöbener, Burkhard: Die Nachkriegsordnung des Völkerbundes – Potential und Grenzen. In: Ebenda, S. 39–75.

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Deutschlands, stieß nicht nur auf den entschiedenen Widerspruch der Briten und Amerikaner – selbst in Frankreich war man keineswegs einhellig dafür –, sondern hätte eine Reihe neuer schwieriger Fragen aufgeworfen, angefangen mit der völligen Diskreditierung der neuen Friedensprinzipien, allen voran des Selbstbestimmungsrechts, bis hin zu neuen nationalen Einigungsbestrebungen unkalkulierbaren Ausmaßes, Grenzkonflikten, Sicherheitsrisiken und Wirtschaftsproblemen. Die tiefgreifenden innerstaatlichen und innergesellschaftlichen sowie internationalen Veränderungen, die der Krieg bewirkte, waren im Übrigen noch kaum präzise genug zu erfassen.

Konfliktfelder Nun zu den Konfliktfeldern: Ihre Behandlung veränderte sich, doch ihr Einfluss wuchs im Laufe der zwei Jahrzehnte. Es begann mit dem Streben nach möglichst umfassender Absicherung der Friedensbedingungen, auch durch Gewaltmaßnahmen. Dann suchte man seit 1924 nach europäischen, von allen Großmächten akzeptierten und getragenen Regelungen gemeinsam mit Deutschland. Schließlich ab etwa 1930, und nicht nur angesichts deutscher Machtsteigerung und rigoroser Revisionsforderungen, die immer weniger Rücksicht auf internationale Abstimmung, Kooperation und Kompromissfähigkeit nahmen, setzte ein schrittweiser Rückzug aus internationaler Verantwortung ein, auf das immer nachdrücklichere Verfechten nationaler Handlungsfreiheit wegen der immer unkalkulierbarer werdenden Entwicklung in Europa und auf die Möglichkeit, auf jede Situation flexibel im Sinne der eigenen Interessen reagieren zu können. Daraus wurde die Agonie des europäischen Staatensystems, das im Münchener Abkommen endete. Zu den strukturellen, konfliktträchtigen Belastungen und Mängeln der internationalen Entwicklung in Europa, die teilweise weit zurückreichende Ur­sachen hatten und keineswegs alle auf die Pariser Friedenskonferenz zurückzuführen sind, zählten vor allem: − Die Tatsache, dass es sich infolge der grundstürzenden Auswirkungen des Krieges als unmöglich erwies, schon auf der Friedenskonferenz ein erneuertes europäisches Staatensystem einzurichten – ganz abgesehen davon, dass nach solch einem Weltkrieg unter dem Einfluss des Präsidenten der USA, Wilson4, zum ersten Mal eine globale internationale Ordnung aufgebaut und im Völkerbund organisiert wurde, die zunächst eine übermächtige Konkurrenz sozusagen höheren Ranges darstellte. Vor allem gab es noch keinen gemeinsamen Nenner zwischen Siegern und Besiegten, also auch noch keine allgemein akzeptierte Neuordnung. Denn Friedensbedingungen, die den Forderungen und Bedürfnissen beider Seiten einigermaßen gerecht wurden, blieben unerreichbar. Die

4

Schwabe, Klaus: Weltmacht und Weltordnung. Amerikanische Außenpolitik von 1898 bis zur Gegenwart. Eine Jahrhundertgeschichte. Paderborn u. a. 2006, S. 43–77.

34   Peter Krüger Kluft wurde noch betont, weil die Besiegten auf Jahre hinaus im Status minderen Rechts gehalten und nicht in den Völkerbund aufgenommen wurden. − Das Verhältnis zu Sowjetrussland, das in Paris nicht geregelt wurde. Von anderen daraus entstehenden Problemen ganz abgesehen, führte dies umgehend zu einem Grenzkrieg zwischen Polen und Russland mit der Gefahr der Ausweitung, der bei der sowjetischen Führung den Willen, die großen territorialen Verluste aus dem Krieg vom Baltikum über Polen bis nach Bessarabien rückgängig zu machen, beträchtlich steigerte, und damit auch den Druck auf Ostmitteleuropa. Eine sozusagen strukturelle Konsequenz von überragender Bedeutung aber bestand in der Möglichkeit des naheliegenden Zusammengehens der beiden geschwächten Großmächte Sowjetrussland und Deutschland, nicht nur im gemeinsamen revisionistischen Interesse, sondern auch in entwicklungspolitischer und wirtschaftlicher Hinsicht. Die Pläne unter britischer ­Ägide für eine Heranziehung und wirtschaftliche Verflechtung Russlands mit dem übrigen Europa 1921/22 zeigten die eine Richtung an, der nur bilaterale Vertrag von Rapallo die andere, und er wirkte als Alarmzeichen.5 − Ganz allgemein die Entstehung von Zonen unterschiedlicher Stabilität und Sicherheit in Europa. Sie entwickelten sich sowohl infolge langfristiger Machtverschiebungen, Entwicklungsdifferenzen auf allen Gebieten sowie Gunst und Ungunst der geographischen Lage als auch durch die Entscheidungen von 1919/20: West- und Nordeuropa von Frankreich bis Finnland, die Schweiz eingeschlossen, bildeten eine hochentwickelte Zone der Stabilität mit deutlich reduzierter oder kontrollierter Konfliktgefahr. Die grob gesagt nordöstlich benachbarte Zone war hingegen gekennzeichnet von erheblicher Ungleichmäßigkeit der Entwicklung, der Stabilität der inneren wie der äußeren Verhältnisse, des Konfliktverhaltens und des Willens zur Machtsteigerung. Das war der Raum von Sowjetrussland im Norden über Deutschland und Österreich in Mitteleuropa bis nach Italien und der iberischen Halbinsel im Süden. Auf diesem Bogen lagen die drei stärksten der mit den Ergebnissen des Krieges unzufriedenen, daher revisionistischen Staaten – Russland, Deutschland und Italien. Österreich bildete dabei eine Gefahr als Objekt. Die Konsequenzen seines ­Anschlusses an Deutschland und der Umklammerung der Tschechoslowakei lassen diese geostrategische Nahtstelle für deutsches Expansionsstreben klar zu Tage treten.6 Denn innerhalb dieses Bogens potentiell oder aktuell revisionis­ tischer Mächte lag die dritte Zone, und zwar mittlerer und kleiner Staaten, die, gemessen am Stand ihrer Modernisierung sowie inneren und ­äußeren Konsolidierung – abgesehen von der Tschechoslowakei – mehr oder weniger große 5

Fink; Carole: The Genoa Conference. European diplomacy, 1921–1922. Chapel Hill/London 1984. Fink, Carole/Frohn, Axel/Heideking, Jürgen (Hg.): Genoa, Rapallo, and European reconstruction in 1922. Washington, D.C./Cambridge 1991. 6 Krüger, Peter: Locarno und die Frage eines europäischen Sicherheitssystems unter besonderer Berücksichtigung Ostmitteleuropas. In: Schattkowsky, Ralph (Hg.): Locarno und Osteuropa. Fragen eines europäischen Sicherheitssystems in den 20er Jahren. Marburg 1994, S. 9–27, hier S. 14–17.

Ostmitteleuropäische Bündnissysteme und Konfliktfelder   35

Rückstände aufwiesen und auch mit ihren wirtschaftlichen Problemen erheblich zur Labilität des ganzen Bereichs von den baltischen Staaten bis Griechenland beitrugen. Die Heterogenität ihrer Ausgangslage und Bedrohungen und infolgedessen ihre Interessenzersplitterung ließen eine großräumige Zusammenarbeit als ziemlich aussichtslos erscheinen oder sie musste sich auf kleinere Gruppierungen mit begrenzter Zielsetzung beschränken. − Nationalismus und Abschottung als Methode der Stabilisierung und Selbstbehauptung werden unter diesen Voraussetzungen verständlicher. Auch auf den Entwurf einer modern konzipierten Völkergemeinschaft als Stabilisierungsund Entwicklungsgemeinschaft in der Nachfolge des Habsburger Reiches wurden deshalb keine Anstrengungen verschwendet. Erforderlich wären allerdings in jedem Fall als Konfliktreduzierung, Notversorgung und Aufbauhilfe und darüber hinaus als Initialzündung für Einflussnahme, umfassendere multilaterale Verhandlungen und wechselseitige Verflechtungen und ein internationales wirtschaftliches Hilfsprogramm der Siegermächte unter Rückgriff auf den Aufgaben suchenden neuen Völkerbund gewesen. Dafür fehlten allerdings wichtige Voraussetzungen, nicht zuletzt, nachdem sich die USA als führende Weltund Wirtschaftsmacht von der Einschaltung in die konkreten europäischen Schwierigkeiten distanziert und im März 1920 auch den Beitritt zu Völkerbund und Friedensverträgen abgelehnt hatten.7 − Die Zerschlagung einer Großmacht, der Habsburger Monarchie8, in diesem Raum. Sie führte zur Schaffung neuer Staaten und vieler neuer Grenzen in ­Europa samt ihren politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und ethnographischen Konsequenzen. Das Problem nationaler Minderheiten stellte sich in ­neuer Schärfe durch ihr Anwachsen in kleinteiligeren Räumen und durch neue und öffentlichkeitswirksame Prinzipien und Schlagworte, die sich als dehnbar, breit auslegungsfähig und politisch umstritten erwiesen, wie etwa das Selbst­ bestimmungsrecht. − Schließlich wäre im Rahmen der strukturell bedingten Konfliktfelder noch die rasch zunehmende Bedeutung der Öffentlichkeit und der Interdependenz von Innen- und Außenpolitik hervorzuheben. Von besonderem Interesse für die internationale Politik und Zusammenarbeit ist dabei die immer wichtiger werdende Voraussetzung gemeinsamer Rechts- und Verfassungsprinzipien – ungeachtet unterschiedlicher Tradition und Ausgestaltung in den einzelnen Staaten. Das lag vor allem Wilson am Herzen und war auch den übrigen Friedensunterhändlern bewusst. Es hätte also ein verheißungsvoller Start in die Nachkriegszeit sein können, dass sich nach 1918 in Europa mehr oder weniger der natio7

Schwabe (wie Anm. 4): Weltmacht, S. 72–77. Cohrs, Patrick. O.: The unfinished peace after World War I. America, Britain and the stabilisation of Europe 1919–1932. Cambridge 2006, S. 20–67. 8 Siehe die Aktenedition, mit guten Einführungen: Außenpolitische Dokumente der Republik Österreich 1918–1938 (ADÖ). Bd. 1: Selbstbestimmung der Republik. Wien/München 1993, Bd. 2: Im Schatten von Saint-Germain. Wien/München 1994, Bd. 3: Österreich im System der Nachfolgestaaten. Wien/München 1996.

36   Peter Krüger nale Verfassungsstaat durchgesetzt und damit eine gute Basis für ­kooperative, auf friedlichen Interessenausgleich bedachte Politik in Europa gelegt zu haben schien. Doch vielfach erwiesen sich nicht nur unter den neu gegründeten oder umgeformten Staaten Mittel- und Osteuropas – wieder mit Ausnahme der Tschechoslowakei – die Grundlagen des parlamentarisch-demokratischen Rechtsstaates als brüchig. Dementsprechend hatte sich zur Zeit des Münchener Abkommens das Bild gründlich verändert. Stark nationalistisch und expansiv ausgerichtete Diktaturen waren auf dem Vormarsch, die in der Regel publikumswirksam den Vorrang nationaler Handlungsfreiheit in Zielen und Methoden ihrer Außenpolitik verfochten. Konfliktfelder etwas anderer Art waren es, die sich innerhalb dieses Rahmens struktureller Vorgaben entfalteten, aber auf akuten Entscheidungen, Auseinandersetzungen und Streitfällen und der Durchsetzung von Interessen der Sieger beruhten, etwa bei der Unterstützung ihrer Klientelstaaten. Solche Konfliktfelder gehörten also zur Art des Umgangs mit konfliktträchtigen Strukturen, der ja durchaus verschieden ausfallen konnte. Grenzstreitigkeiten und Minderheitenprobleme spielten unter ihnen eine prominente Rolle, vornehmlich dann, wenn sie mit nationalem Prestige aufgeladen wurden und durch wirtschaftliche oder strategische Bedeutung der umstrittenen Gebiete besondere Schärfe annahmen, wie etwa im deutsch-polnischen Konflikt um Oberschlesien. Aber auch ohne derartige Höhepunkte saß die Spannung zwischen einzelnen Staaten wie Deutschland und Polen besonders tief und blieb latent spürbar auch ohne offenen Ausbruch wie zeitweise in Wirtschaftsfragen, der Liquidation deutschen Eigentums oder auch in der Völkerbundspolitik beider Regierungen. All diese Zuspitzungen gab es im deutsch-tschechoslowakischen Verhältnis9 bis in die 1930er Jahre kaum. Das änderte sich erst unter Hitler, und er konnte dann, wenn er es darauf anlegte, eben doch auf latente, gegebenenfalls aufzustachelnde und zu instrumentalisierende völkisch-nationale Stimmungen rechnen. Grenzkonflikte u. ä. gab es im Übrigen auch unter den Gewinnern, in Ostmitteleuropa namentlich zwischen Polen und der Tschechoslowakei.10 Man sah diese Konfliktlagen und Gefahren von Anfang an. Aber die Gegen­ mittel waren in den frühen 1920er Jahren nicht unproblematisch. Frankreich vor ­allem versuchte im Rahmen dessen, was die Verträge hergaben – und manchmal auch darüber hinaus – Deutschland zu schwächen, in einer Position des zu kont  9 Lemberg,

Hans: Tschechen, Slowaken und Deutsche in der Tschechoslowakischen Republik 1918–1938. In: Tschechen, Slowaken und Deutsche. Nachbarn in Europa. Hannover 1995. ­Herausgegeben von der Niedersächsischen Landeszentrale für politische Bildung, S. 30–49. Boyer, Christoph: Deutsch-tschechoslowakische Wirtschaftsbeziehungen seit 1918. Alte Verbindungen – neue Ängste. In: Ebenda, S. 154–167. Konfliktgemeinschaft, Katastrophe, Entspannung. Skizze einer Darstellung der deutsch-tschechischen Geschichte seit dem 19. Jahrhundert. Herausgegeben von der gemeinsamen deutsch-tschechischen ­Historikerkommission. München 1996. 10 Valenta, Jaroslav: Die Teschener Frage in der Zwischenkriegszeit 1918–1939. In: Heumos, Peter (Hg.): Polen und die böhmischen Länder. München 1997.

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rollierenden Besiegten zu halten und alle an und für sich sinnvollen Bemühungen um die Stärkung und Weiterentwicklung von Friedenswahrung, Garantien und internationale Stabilität, um kollektive Sicherheit und Kontrolle in seinem besonderen Interesse der Fesselung und Überwachung Deutschlands zu beeinflussen. Damit wurde manche an sich bedeutsame völkerrechtliche Weiterentwicklung gefährdet wie das Genfer Protokoll für die friedliche Regelung internationaler Konflikte vom 2. Oktober 1924, das nicht die erforderliche Zahl von Ratifizierungen erreichte, vor allem nicht die britische.11

Bündnisse Ein schon vom Ansatz her in diesen stark verflochtenen europäischen Verhältnissen fragwürdiges Instrument waren partielle Bündnisse, gerade auch die französischen Bündnisse mit ostmittel- und südosteuropäischen Staaten, sofern sie sich auf politisch-militärische wechselseitige Unterstützung konzentrierten statt auf Konsultation, wirtschaftliche Hilfeleistung und Zusammenarbeit. Auf einer ganz anderen Ebene und besser begründet waren die französischen Bemühungen um britische Garantien und enge Zusammenarbeit, weil hierbei unter dem Gewicht der britischen Politik eine ausgewogene, für Europa nützliche Entente der beiden führenden europäischen Großmächte das Resultat hätte sein können. Außerdem benötigte die französische Regierung dringend einen Ersatz für das folgenreiche Scheitern seiner am 28. Juni 1919 gleichzeitig mit dem Versailler Vertrag abgeschlossenen Garantie- und Sicherheitsverträge mit den USA und, davon abhängig, mit Großbritannien, als die Ratifizierung im amerikanischen Senat nach langen Debatten am 19. März 1920 nicht die erforderliche Mehrheit erhielt.12 Diese Verträge und damit die Einbeziehung der USA am wichtigsten Punkt in eine mögliche europäische Sicherheitsstruktur hätten der weiteren Entwicklung eine andere Richtung geben können. Weil die französische Regierung zugunsten dieser Verträge trotz schwerer interner Widerstände auf die Abtrennung der linksrheinischen Gebiet von Deutschland und die Besetzung der Rheinbrücken verzichtet hatte, war innen- und außenpolitisch für sie eine prekäre Situation eingetreten. Sie stand sicherheitspolitisch für den befürchteten Fall deutschen Wiedererstarkens und Expansionswillens mit ziemlich leeren Händen da. Denn die französische Kontrolle des Rheins und der linksrheinischen Gebiete oder als Mindestanforderung die auf Dauer kontrollierte Entmilitarisierung dort machte das Reich in hohem Maße verwundbar, und zwar nicht nur im Falle eines Konflikts mit Frankreich. Die Verfügung über das Rheinland war die unumgängliche Voraussetzung für jeden deutschen Angriff mit dem Ziel, die Ostgrenzen zu verändern oder überhaupt gegen Polen oder die Tschechoslowakei vorzugehen. Dass hier die Schlüsselposition lag, hatten die 11 Schöbener: Völkerbund 12 Cohrs:

(wie Anm. 3), S. 57–60. Unfinished peace (wie Anm. 7), S. 46–67.

38   Peter Krüger französischen Experten von vornherein so gesehen. Frankreichs Sicherheit sollte aber nicht nur durch anhaltende Bemühungen gestärkt werden, die britische ­Regierung davon zu überzeugen, dass ihre Verpflichtung fortbestehe, einen Garantie- und Verteidigungspakt mit Frankreich über die Festigung und Einhaltung der in Artikel 42–44 des Versailler Vertrags geregelten Entmilitarisierung am Rhein abzuschließen. Sondern auf jeden Fall sollte die Sicherheit Frankreichs und die Stabilisierung des friedensvertraglichen Status quo zusätzlich durch französische Einflussbereiche und Bündnisverträge in Ostmittel- und Südosteuropa nachhaltig gestärkt und kontrolliert werden. Die französischen Ziele dabei waren die Umklammerung Deutschlands, die Konsolidierung Osteuropas und die Eindämmung Sowjetrusslands. Die Texte der Bündnisverträge – im Kern Defensiv- und Freundschaftsverträge unter Hinweis auf den Rahmen des Völkerbunds – waren unterschiedlich und entstanden zu unterschiedlichen Zeitpunkten. Sie waren also nur bilateral und sehr verschieden im Kontext. Das belegen schon die Daten: Der Abschluss mit Polen am 19. Februar 1921 (er ging am weitesten, ergänzt durch eine Militärkonvention mit geheimen Abreden); mit der Tschechoslowakei erst am 25. Januar 1924 (auch unter dem Eindruck der Ruhrkrise recht vorsichtig abgefasst); mit Rumänien am 10. Juni 1926 und Jugoslawien am 11. November 1927. Die beiden letzten Verträge wurden in der Locarno-Ära geschlossen und waren ähnlich im Text. Man bezeichnete sie als Freundschaftsverträge mit wechselseitiger Unterstützung. Sie dienten der Stärkung der diplomatischen Position beider Länder. Hinzu trat mit französischer Nachhilfe die Kleine Entente13 zwischen der Tschechoslowakei, Jugoslawien und Rumänien, ebenfalls auf der Basis bilateraler Verträge von 1920/21 (Tschechoslowakei/Jugoslawien am 14. August 1920, Tschechoslowakei/Rumänien am 23. April 1921, Rumänien/Jugoslawien am 7. Juni 1921) zum Zweck der Sicherung der Friedensregelungen von Trianon (4. Juni 1920) vor allem gegenüber dem Revisionismus Ungarns, aber auch Bulgariens, ergänzt durch militärische Abmachungen, Konsultationen und bald auch regelmäßige Konferenzen – obligatorisch seit 27. Juni 1930 durch das so genannte Statut, ein Zusatzabkommen der Kleinen Entente – sowie einen dreiseitigen Schieds- und Vergleichsvertrag vom 21. Mai 1929, beides unter dem Eindruck des Locarno-Instrumentariums multilateraler wechselseitiger Verständigung. Im gleichfalls dreiseitigen Organisationspakt vom 16. Februar 1933 wurden die Vereinbarungen weiterentwickelt durch ständiges Sekretariat, Wirtschaftsrat und straffere Organisation, ein Nachklang noch der Anregungen in Briands Europaplan14, dem die 13 Ádám,

Magda: The Little Entente and Europe (1920–1929). Budapest 1993. Reichert, Günter: Das Scheitern der Kleinen Entente. München 1971. Außerdem jeweils mehrere Beiträge in Seibt, Ferdinand/Neumüller, Michael (Hg.): Frankreich und die böhmischen Länder. Beiträge zum französischen Einfluß in Ostmitteleuropa. Müchen 1990, und Schattkowsky: Locarno (wie Anm. 6). 14 Fleury, Antoine (Hg.): Le Plan Briand d’Union fédérale européenne. Perspectives nationales et transnationales, avec documents. Bern u. a. 1998. Bariéty, Jacques (Hg.): Aristide Briand, la Société des Nations et l’Europe 1919–1932. Straßburg 2007.

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drei Regierungen wegen des Einflusses Europas, also der europäischen Staaten in ihrer Gesamtheit, ausgesprochen skeptisch gegenüberstanden, von dessen Einrichtungen sie aber im eigenen kleinen Bereich sozusagen überschaubaren Gebrauch machen wollten in Zeiten wachsender revisionistischer Bedrohung nicht nur durch den Aufstieg Hitlers. Die Sowjetunion näherte sich zwar auch unter dem Einfluss dieser Entwicklung den übrigen europäischen Mächten an und trat am 27. Juni 1934 sogar dem Völkerbund bei, blieb aber für ihre westlichen Nachbarn eine schwere Bedrohung, nun sogar als mehr oder weniger anerkannte ­europäische Großmacht und mit einem Bündel von Verträgen gemäß dem des­ integrierenden und Einfluss steigernden Typus des Nichtangriffspaktes in der Hinterhand, die zwischen 1925 und 1933 mit seinen Nachbarn und zuletzt auch mit Frankreich und Italien abgeschlossen wurden.15 Immerhin hatte Außenminister Edvard Beneš schon seit Beginn der 1920er Jahre einen pragmatischen Ausgleich mit ihr gesucht und ihn zunächst im Handelsabkommen vom 5. Juni 1922 mit Neutralitätsklausel, auch unter dem Einfluss von Rapallo, gefunden. Näher lagen der Kleinen Entente der wachsende Druck des faschistischen Italien und seine Unterstützung des ungarischen Revisionismus. Die Kleine Entente störte Mussolinis Ambitionen auf dem Balkan, gab Jugoslawien einen gewissen Rückhalt gegen italienische Pressionen und begrüßte Gegenmaßnahmen der um Einfluss und Stabilität auf dem Balkan besorgten französischen Regierung, besonders in Form des französisch-jugoslawischen Freundschafts-, Vergleichs- und Schiedsvertrags vom 11. November 1927. Dieser Vertrag wurde übrigens – Ergebnis der Locarno-Politik – vom deutschen Auswärtigen Amt als Gegengewicht zu Italien auf dem Balkan begrüßt.16 Eine solche Warnung war nötig geworden, weil die italienische Regierung seit Beginn der faschistischen Ära ihre Anstrengungen verschärft hatte, als Vormacht auf dem Balkan und an ihrer adriatischen Gegenküste Fuß zu fassen. Sie beeinträchtigte nicht nur die französische Stabilisierungsund Status-quo-Politik durch Verträge mit Rumänien, Ungarn, Bulgarien, Polen und Österreich, sondern löste von Korfu bis Albanien eine Krise nach der anderen aus. Sie blieb zwar dabei stets unterhalb einer harten Konfrontation mit Frankreich und Großbritannien, führte aber vor, in welcher Labilität Bündnissysteme gegeneinander enden konnten. Darin lag eine latente Gefahr, die in der deutschen Außenpolitik der Locarno-Ära genau erkannt wurde, ebenso wie die Tatsache, dass die bessere Lösung für Sicherheit, Stabilisierung und friedlichen Interessenausgleich angesichts der zunehmenden Verflechtung in Europa eine vertiefte Kooperation und der Wille zu einvernehmlichen Regelungen auf gemeinsamer europäischer Ebene war. Das wurde nicht einmal innerhalb des fran15 Ahmann,

Rolf: Nichtangriffspakte. Entstehung und operative Nutzung in Europa 1922–1939. Mit einem Ausblick auf die Renaissance des Nichtangriffsvertrages nach dem Zweiten Weltkrieg. Baden-Baden 1988. 16 Runderlass Schuberts vom 28. 11. 1927, Akten zur deutschen auswärtigen Politik 1918–1945 (ADAP), Serie B, Bd. VII, Dokument Nr. 152. Zur italienischen Politik auch Scarano, Federico: Mussolini e la Repubblica di Weimar. Le relazioni diplomatiche tra Italia e Germania dal 1927 al 1933. Neapel 1996.

40   Peter Krüger zösischen Bündnissystems erreicht, das eben daran krankte, dass es kein gemeinsam aktionsfähiges System war. Denn in ihm gab es keine multilaterale Kooperation – mit Ausnahme von Teilbereichen, in denen Frankreich nicht Mitglied war, vor allem der Kleinen Entente und indirekt des von Frankreich geförderten Balkanpaktes vom 9. Februar 1934, dem mit Jugoslawien und Rumänien zwei Mitglieder der Kleinen Entente angehörten und der von ihr auch am 2. November 1934 das Organisationsstatut übernahm und damit zu einem auch gegen die Sowjetunion Schutz suchenden Balkanbund mutierte. Es reichte ja nicht einmal zu einem wirklichen Interessenausgleich – gerade über Grenzfragen – und zur Kooperation zwischen den wichtigsten Verbündeten Frankreichs im Osten, der Tschechoslowakei und Polen. Außerdem hätten die Verbündeten zählbare Unterstützung und intensive Pflege benötigt. Das ganze System, Kleine Entente und Balkanbund eingeschlossen, vermochte nur nützlich und funktionstüchtig zu sein, solange auf der übergeordneten Ebene der europäischen Politik und des Völkerbunds vor allem unter den Großmächten der Wille zur Verständigung und zur Kooperation herrschte wie in der Locarno-Ära. Als diese Ära endete und ihr Vertragssystem, ein wirkliches System, schrittweise zerstört wurde, also im Ernstfall, erwiesen sich sämtliche Bündnisverträge mit kleineren Staaten als ziemlich nutzlos. Die französische Regierung hat sie schließlich nicht honoriert, solange sie allein dafür zuständig war. Die kleineren Staaten waren als potente Bündnispartner einer Großmacht überfordert, und Frankreich selbst war ebenso mit diesen Bündnissen überfordert und brachte es nicht fertig oder weigerte sich, den kleineren Partnern von den Nachkriegsjahren an fortlaufend Aufbau- und Strukturhilfe zu leisten und auch die französische Strategie und Militärdoktrin dem möglichen Bündnisfall entsprechend eingriffsfähig zu gestalten, statt sich auf die Maginot-Linie zurückzuziehen.17 Bündnisse und Gegenbündnisse gefährdeten bloß die Ansätze zur Stabilisierung der Staatenordnung, vermittelten vorübergehend einen täuschenden Eindruck von Sicherheit, förderten das steigende Bedürfnis nach immer mehr Garantien und Verträgen, lenkten, teilweise auch aus innenpolitischen Rücksichten, ab von einer präzisen Analyse des Gegebenen und Erforderlichen und arteten in den 1930er Jahren aus zu hilflosen Bemühungen um noch mehr Verträge, neue Partner wie die Sowjetunion und andere ähnliche Sicherheitsbestrebungen gegen den Aufstieg und die beängstigende Machtsteigerung des Reiches unter Hitler, aber auch des faschistischen Italien. Das ist der Übergang zum letzten Teil, zur Locarno-Ära, zu ihrem Ende und zur Zerrüttung des europäischen Staatensystems.

17 Alexander,

Martin S.: In defence of the Maginot line. In: Boyce, Robert (Hg.): French foreign and defence policy, 1918–1940. The decline and fall of a great power. London/New York 1998, S 164–194. Young, Robert J.: An uncertain idea of France. Essays and reminiscence on the Third Republic. New York u. a. 2005, Teil 1 und 2.

Ostmitteleuropäische Bündnissysteme und Konfliktfelder   41

Letzter Aufschwung und Agonie des europäischen Staatensystems Trotz einiger gravierender Fehler und Versäumnisse der Pariser Friedensordnung – für unser Thema etwa die unzulängliche Sicherung, Konsolidierung und Einfügung der neuen oder nachhaltig umgeformten Staaten in eine europäische Ordnung – waren ihre Ergebnisse zum Teil beeindruckend und keineswegs durchweg zweifelhaft oder gar verhängnisvoll. Nach den turbulenten, in einigen Fällen einem Desaster gleichkommenden Ereignissen der Nachkriegsjahre, deren gewaltsame Auseinandersetzungen, vor allem der Ruhrkampf, für viele Beteiligte wie ein Blick in den Abgrund wirkte, setzte sich die Auffassung durch, dass allgemein, auch zwischen Siegern und Besiegten, eine sachbezogene und gemeinsame Erörterung der angestauten Probleme mit dem Willen zur Verständigung unentbehrlich sei. Die Folgezeit – im Grunde bis heute – bewies, dass dies der geeignetere Weg war, mit der rasch zunehmenden und zunehmend komplexen modernen Verflechtung auch der Staaten und Regionen auf allen Gebieten einigermaßen angemessen umzugehen. In Paris wurde nicht zuletzt eine neue, dauerhafte Struktur der europäischen Staatenwelt – nicht des Staatensystems – und ihrer innerund zwischenstaatlichen Verfasstheit geschaffen, auch wenn sie erst seit 1989 in ihrer vollen Substanz gleichberechtigter, demokratischer, kooperativer Länder, also in einer europäischen Gemeinschaft verwirklicht wurde. Herausragend waren trotz vieler Einschränkungen die Fortschritte des Völkerrechts, der Völkerbund und der Beginn der Kriegsächtung.18 Der Zusammenhang zwischen Recht, Verfassung, sowie internationaler Politik und Ordnung wird in der historischen Forschung immer noch unterschätzt. Die Pariser Friedensverträge waren außerdem teilweise so vage oder flexibel, dass nach der ersten Phase der alles gefährdenden Konfrontationen und – das ist beachtlich – schon fünf Jahre nach dem verheerenden Ersten Weltkrieg und seinen kaum zu bewältigenden Konsequenzen die Chance gegeben war, mit einer gemeinschaftlichen Neuordnung in Europa ohne grundlegende Veränderungen des Versailler Vertrags zu beginnen, und zwar durch den Dawesplan sowohl über die Reparationen, den Kern oder das Instrument der meisten schweren Konflikte zwischen Deutschland und den Siegern, als auch über die Voraussetzungen einer wirtschaftlichen Gesundung in Europa – und dann durch Locarno. Beides, Dawesplan und Locarno, gehört zusammen; das war den Beteiligten völlig klar. Von Beginn an war das eine nicht ohne das andere zu haben. Es ging dabei auch um eine neue gemeinsame Ebene der Interessenwahrnehmung und des Gewaltverzichts der europäischen Staaten, um eine Chance für den angemessenen Umgang der internationalen Politik mit modernen Verhältnissen und Verflechtungen, nicht mehr um mächtige Bündnisgruppierungen. Ein erster Versuch war das, nicht mehr und nicht weniger, aber mit klaren Vorstellungen über Ver18 Siehe

Anm. 3.

42   Peter Krüger halten und Vorgehen. Europa, seine Gestaltung und seine Sicherung vor einem weiteren großen Krieg bildete dahinter schon das eigentliche Thema und die große außenpolitische Herausforderung. Die Konferenz von Locarno und die dort nach fast neun Monaten der Vorbereitung auf der Basis der deutschen Sicherheitsinitiative fertiggestellten Verträge vom 16. Oktober 192519 brachten mit Ausnahme der Sowjetunion die wichtigsten Mächte Europas zusammen: Frankreich, Großbritannien, Deutschland, dazu Italien und Belgien für den Kern des Vertragssystems, den Rheinpakt, und für die mit ihm zusammenhängenden Schiedsabkommen Frankreichs und Belgiens mit Deutschland; außerdem Polen und die Tschechoslowakei für die gesonderten, aber weithin gleichlautenden Schiedsverträge Deutschlands mit beiden Ländern. Nicht dazu gehörten die daraufhin von Frankreich abgeschlossenen und im Schlussprotokoll von Locarno zur Kenntnis gebrachten Verträge mit der Tschechoslowakei und Polen über die wechselseitige Garantie, für die Einhaltung der von Deutschland übernommenen Verpflichtungen zu sorgen.20 Der Rheinpakt bot Frankreich – und Belgien – die erstrebte Sicherheit gegenüber Deutschland: durch die Bekräftigung und präzisere Fassung der Entmilitarisierung der Rheinlande und ihre Gewährleistung; durch den umfassenden, deutlich weitergehenden Kriegs- und Gewaltverzicht als im Völkerbund; durch die Verpflichtung zur Aufrechterhaltung des territorialen Status quo gemäß Versailler Vertrag und die Unverletzlichkeit der Grenzen zwischen ihnen; durch die Bedingung des deutschen Beitritts zum Völkerbund; sowie in erster Linie aber durch die Garantie der fünf Vertragspartner, also vor allem auch Großbritanniens, außerdem Italiens, für die territorialen, Grenz- und Rheinlandbestimmungen sowie für das festgelegte Verfahren im Konfliktfall. Die Locarno-Verträge boten darüber hinaus allgemein eine neue Basis für gemeinsame europäische Politik in bewußter Anknüpfung an das Europäische Konzert von 1815. Sie verbanden Großmachtsystem und Völkerbund – ein Modell bis heute; sie wendeten sich gegen niemand, auch die Sowjetunion sollte herangezogen werden; sie brachten Sieger und Besiegte wieder gleichberechtigt zusammen, wurden von vielen als eigentlicher Friedensvertrag angesehen und gaben neue, gemeinschaftliche Impulse für Europa von der Wirtschaft bis zur Kultur. Trotzdem erfolgt stets prompt der Einwand, es sei ein gravierender Mangel gewesen, dass man nicht auch die deutschen Ostgrenzen garantiert habe. Sie seien damit zu Grenzen zweiter Klasse geworden, und die Sicherheit Polens und der Tschechoslowakei ebenfalls. Doch beide waren zwischen 1918 und 1938 nie sicherer als während der Locarno-Ära. Die entscheidende Region für die Unter­bindung deutscher Expansionsversuche nach Osten waren die entmilitarisierten Rhein­

19 Krüger,

Peter: Locarno – Vorgeschichte und Ergebnis. In: Breuer/Weiß (Hg.): Locarno (wie Anm. 3), S. 77–110. Dazu auch Napolitano, Matteo Luigi: Mussolini e la Conferenza di Locarno (1925). Il problema della sicurezza nella politica estera italiana. Urbino 1996. 20 Martens, G. Fr. von/Triepel, Heinrich (Hg.): Nouveau recueil de traités et autres actes relatifs aux rapports de droit international. 3. Serie, Bd. XVII, S. 655, 656.

Ostmitteleuropäische Bündnissysteme und Konfliktfelder   43

lande. Das war damals schon seit längerem bekannt. Eine direkte Garantie der Ostgrenzen war in Deutschland nicht durchzusetzen, doch der Umweg war erfolgversprechend, wie die Erfolge der Locarno-Politik gerade im Krisenmanagement in Ostmittel- und Südosteuropa mit beachtlicher deutscher Beteiligung zeigten. Und zu einem Modus Vivendi sogar mit Polen hat es bis 1929/30 auch noch gereicht. Die Gründe für die Zerstörung der Locarno-Politik lagen tiefer: Das Ende der Republik von Weimar und der schrittweise Übergang in die Diktatur mit aggressiven Revisions- und Expansionsvorstellungen statt Verständigungspolitik war ein wesentlicher Faktor und löste unter dem Einfluss der Weltwirtschaftskrise und der schwindenden Bereitschaft, Vertragsverpflichtungen auch in schweren Zeiten zu erfüllen, eine zunehmend krisenhafte Lage der Vereinzelung, der Abschottung und Entsolidarisierung der Staaten aus, die nur die Großmächte durchzustehen vermochten. Es war eine tiefreichende internationale Krise, der auch mit weiteren Bündnisverträgen oder Garantien im bis dahin üblichen Stil nicht mehr zu begegnen war. Schon der – gescheiterte – Vier-Mächte-Pakt zwischen Frankreich, Großbritannien, Italien und Deutschland vom 7. Juni 1933 gab eine Vorahnung vom möglichen Zusammenspiel zwischen dem faschistischen Italien und dem nationalsozialistischen Reich. Bald darauf war durch den Austritt Deutschlands aus dem Völkerbund im Oktober 1933 bereits der Bruch des Kerns der Locarno-Verträge, des Rheinpakts, offensichtlich, der gerade auf der substantiellen Verknüpfung mit dem Völkerbund beruhte und den deutschen Beitritt zum Völkerbund zur Bedingung des Inkrafttretens der Locarno-Verträge gemacht hatte. Sie ließ sich auch nicht eindämmen mit dem Konzept des französischen Außenministers Barthou von 1934, einen regionalen Sicherheits- und Garantiepakt im Sinne des Völkerbunds aufzubauen, den Ostpakt. Er war zu heterogen, und Hitler hatte ja schon im Januar 1934 eine Nichtangriffsvereinbarung mit Polen geschlossen. Auch die Verträge Frankreichs und der Tschechoslowakei mit der Sowjetunion vom Mai 1935 etwa beruhten auf viel zu wenig gemeinsamer Substanz und Leistungsbereitschaft.21 Und man verkannte Hitler, dessen Lebensraumvorstellungen keine ideologische Verpackung, sondern blutiger Ernst waren: politisch und wirtschaftlich nach der Gewalt des Stärkeren ausgerichtete Gegenkonzeption von Europa. Entgegenkommen wie die Hinnahme der Wehrpflicht und das Flottenabkommen mit England im Frühjahr 1935 brachte ihn dabei nur voran, befriedigte ihn aber nicht. Der am besten garantierte Teil der Locarno-Verträge, die Entmilitarisierung der Rheinlande, fiel am 7. März 1936 zuerst. Ihre Einhaltung, wenn sie nur noch militärisch zu gewährleisten war, wurde nicht mehr erzwungen. Aber ohne das ging es nicht. Es reichte also nicht, fast reihenweise Verträge oder aufwendige Vertragssysteme abzuschließen oder aber internationale Ordnungselemente erfolgreich zu etablieren und dann die Dinge ihren Gang gehen zu lassen, statt fortlaufend für 21 Generell

2002.

dazu Schmidt, Rainer F.: Die Außenpolitik des Dritten Reiches 1933–1939. Stuttgart

44   Peter Krüger deren Bestand und Anpassung an neue Gegebenheiten zu sorgen. Das hatten in Distanz zur Mitverantwortung für die laufenden europäischen Angelegenheiten, wenn auch in ganz unterschiedlicher Lage und Form, die USA und Großbritan­ nien versäumt. So nahm die Zerfaserung und Agonie des europäischen Staatensystems ihren Lauf, und das Münchener Abkommen wurde sein Zerrbild und Ende – gleichgültig, ob man nun noch weitere Möglichkeiten erwog, es sogar mit Hitler neu zu organisieren oder doch energischen Widerstand leistete und auch dem dann absehbaren europäischen Krieg nicht auswich.

Peter Neville

Hitler und die Appeaser Das Verhältnis zwischen Adolf Hitler und den britischen Verfechtern der Appeasement-Politik gründete auf einer oft getrübten Wahrnehmung und auf irreführenden Informationen. Schon wenige Jahre nach dem 30. Januar 1933 begann Hitler Großbritannien als eine kraftlos gewordene und von einer nur noch Moorhühner jagenden Oberschicht geführte Demokratie zu sehen, die sich auf dem absteigenden Ast befand. In dieser Vorstellung bestärkten ihn Ereignisse wie der deutsch-englische Flottenvertrag vom 18. Juni 1935, mit dem die britische Regierung Deutschland das Recht zugestand, eine größere Kriegsflotte zu bauen, und wie die Remilitarisierung des Rheinlands im März 1936, die von der Londoner „Times“ – die außerhalb Englands als Sprachrohr der Regierung galt – als „Chance zum Neuaufbau“ kommentiert wurde.1 Leider – vom deutschen Standpunkt aus gesehen – war das NS-Regime mit dem arg beschränkten Joachim v. Ribbentrop schlecht bedient, dessen Amtszeit als Botschafter in London eine Katastrophe war und der seit Anfang 1938 als Reichsaußenminister dem „Führer“ ein­ zureden versuchte, dass die Briten niemals für die Bewahrung der europäischen Sicherheit kämpfen würden. Auf britischer Seite wiederum schien Wunschdenken häufig über rationales Urteil zu triumphieren. Es gab die Hoffnung, dass Hitler, mit den Realitäten der Macht konfrontiert, zur Ruhe kommen und die nationalistischen Exzesse, die ­seinen Weg zur Macht charakterisiert hatten, ablegen werde. Selbst Robert ­Vansittart, der Ständige Staatssekretär im Foreign Office, lange als der große AntiAppeaser gepriesen, glaubte 1933, dass das Reich „vollkommen im Recht“2 sei, wenn es das Taschenschlachtschiff „Deutschland“ baue, obwohl in dessen Kons­ truktion eine technische Verletzung des Vertrags von Versailles steckte. Eine ­Tendenz, mit deutschen gravamina zu sympathisieren, bestand in unbehaglicher Koexistenz mit der Erkenntnis einer potentiellen Bedrohung durch Deutschland. Ebenfalls 1933 platzierte ja das neugeschaffene „Defence Requirements Committee“ Deutschland noch vor Japan als die erstrangige Gefahr für Großbritannien und sein Empire. Die Briten verfügten auch über eine exzellente Einschätzung der wahren Natur des NS-Regimes, und zwar lieferte sie Sir Horace Rumbold, bis Juni 1933 britischer Botschafter in Berlin. Rumbold nannte Hitler „einen ungewöhnlich gerissenen und verwegenen Demagogen“ und Goebbels „vulgär, skrupellos und verantwortungslos“. Zusammen seien Hitler, Göring und Goebbels notorisch „pathologische Fälle“ und „nicht normal“.3 Aber solche Mitteilungen waren den Appeasern 1

„The Times“, 9. 3. 1936. National Archives. Kew, The United Kingdom and Europe, 1/1/1932 CP4 (32) 24/227. 3 Rumbold an Simon, in: Documents on British Foreign Policy (im Folgenden: DBFP). Second Series, No. 229. 2

46   Peter Neville Baldwin, Chamberlain und Lord Halifax nicht willkommen, da sie eine Verständigung mit Deutschland erreichen wollten. Für Baldwin blieben Hitler und sein Regime ein Rätsel. Noch 1935 sagte er, niemand wisse, „was das neue Deutschland bedeutet – ob es Frieden will oder Krieg“.4 Die Verwirrung der britischen Appeaser hatte schon der langjährige ­Sekretär des Kabinetts, Sir Maurice Hankey, treffend zum Ausdruck gebracht, als er 1933 fragte: „Haben wir es mit dem Autor von ‚Mein Kampf‘ zu tun, der seine Gegner mit gleisnerischen Worten einlullt… Oder ist das ein neuer Hitler, der die Bürde des verantwortungsvollen Amtes entdeckt hat und sich nun, wie so viele frühere Tyrannen, aus den Fesseln seiner verantwortungsfreien Tage herauszuwinden sucht?“5 Die Frage war im Jahre 1938, zur Zeit der Sudetenkrise, als Hitler seine Ansprüche auf die überwiegend deutsch besiedelten böhmischen Gebiete erhob, noch nicht zufriedenstellend beantwortet. Am 6. September 1938, Wochen vor der Konferenz von München, schrieb Lord Halifax, der erst im Februar Anthony Eden als Außenminister abgelöst hatte, voll Verzweiflung an Sir Nevile Henderson, den britischen Botschafter in Berlin: „Ich tappe die ganze Zeit wie ein ­Blinder herum, der den Weg über einen Sumpf zu finden versucht, während mir jedermann von den Dämmen ganz unterschiedliche Hinweise zuruft, wo die nächste Schlammpfütze ist.“6 Henderson hatte über den Hitler der Sudetenkrise seine eigene Theorie. Hitler befinde sich, so glaubte er, in einem Zustand „extremer nervöser Spannung“. Er sah den „Führer“ am 12. September 1938 auf dem Nürnberger Parteitag und „seine Abnormalität“, so sagte er, „schien mir größer denn je“.7 War es aber weise, ­einen Verrückten zu provozieren? Henderson, Halifax und schließlich Neville Chamberlain verneinten die Frage. Chamberlains Absicht, auf dem Parteitag zu erscheinen, wurde aufgegeben, und Henderson überredete das Foreign Office, Hitler keine Warnung zukommen zu lassen, damit er nicht womöglich provoziert werde. Stattdessen sollte Gipfeldiplomatie versucht werden. Chamberlains Hitlerbild, wie es 1938 beschaffen war, hat ihm viel Kritik eingetragen. Einige seiner Äußerungen scheinen naiv zu sein und den Kommentar Lloyd Georges zu rechtfertigen, er sei halt doch nur ein beschränkter Ex-Bürgermeister von Birmingham. Da ist vor allem Chamberlains Urteil nach seinem zweiten Treffen mit Hitler, das vom 22. bis 24. September in Bad Godesberg stattfand: Der „Führer“ werde nicht „bewusst einen Mann täuschen, den er respektiert 4

Jones, Thomas: Diary with Letters, 18. 9. 1935. Oxford 1954. Notiz von M. Hankey, 24. 10. 1933, zit. bei Bell, Peter: Chamberlain, Germany and Japan 1933–4. Basingstoke 1996, S. 31. 6 Halifax an Henderson, 6. 9. 1938, National Archives, FO 800/314. 7 Henderson an Halifax, 4. 9. 1938, DBFP, Third Series, Vol. II, No. 722; Henderson an Halifax, DBFP, a. a. O., No. 839. Eine Analyse der Rolle, die Henderson in Berlin gespielt hat, bei Neville, Peter: Appeasing Hitler. The Diplomacy of Sir Nevile Henderson 1937/9. London 2000, und Strauch, Rudi: Sir Nevile Henderson, britischer Botschafter in Berlin von 1937 bis 1939. Ein Beitrag zur diplomatischen Vorgeschichte des Zweiten Weltkrieges. Bonn 1959. 5

Hitler und die Appeaser   47

und mit dem er verhandelt hat“, und er sei sicher, „Hitler bringe ihm nun Respekt entgegen“.8 Aber Chamberlains Kritiker neigten stets dazu, die Vorbehalte zu ­ignorieren, die der Premier machte, wenn er von Hitler sprach. Auch die zitierte Bemerkung, die er am 25. September gegenüber seinen Kabinettskollegen machte, enthielt eine solche Mahnung zur Vorsicht. Hitler sei, meinte Chamberlain, „ein enger Geist und in bestimmten Fragen höchst voreingenommen“.9 Trotzdem sei es seine, Chamberlains, Aufgabe, den europäischen Frieden zu erhalten, „Friedensbringer Chamberlain“ zu sein, wie ihn die deutsche Bevölkerung nannte. In Wahrheit ist es Hitler gewesen, der hinsichtlich der Außenwelt beschränkt war. Er verstand sehr wohl den Wunsch nach Frieden, der in den westlichen Demokratien vorherrschte, doch empfand er eine gefährliche Verachtung für deren politische und diplomatische Entscheidungsprozesse. Für ihn und Ribbentrop war Henderson „der Mann mit der Nelke“, ein beispielhafter Vertreter der kraftlos gewordenen britischen Oberschicht (Henderson erwiderte Ribbentrops Abneigung von Herzen).10 Hitler nahm die törichten Flirts mit dem Nationalsozialismus, in denen sich der Herzog von Windsor 1937 gefiel, ernst, wie immer völlig falsch informiert durch Ribbentrop. Noch 1940 hat er es bedauert, den Herzog nicht „angeheuert“ zu haben, als dieser noch Eduard VIII. war.11 Er verriet damit seine Unfähigkeit, die Komplexitäten der britischen Verfassung zu verstehen. Ebenso wenig hat Hitler je begriffen, dass die britische Regierung nicht imstande war, den englischen Zeitungen einen Maulkorb zu verpassen, auch wenn die Presse­leute in Downing Street sich redlich mühten, die Blätter für die Unterstützung des Appeasement-Kurses zu gewinnen.12 Seine Annahme, die britischen Rückschläge in der Sudeten- und in der Polenkrise würden die Regierung Chamberlains trotz ihrer enormen Majorität im Unterhaus irgendwie zu Fall bringen, war natürlich ebenfalls unbegründet. Doch die Appeaser, jene „kleinen Würmer“, die er auf der Konferenz von München kennenlernte, konnten Hitler auch irritieren. Tatsächlich gibt es ­Belege dafür, dass er München nicht als Triumph empfand, sondern als das unbefriedigende Ergebnis britischer Einmischung in seine Pläne. Daher sein nachträglicher Kommentar, er werde jedes „Schwein“, das ihm nochmal in die Quere komme, die Treppe hinunterwerfen.13 Doch gibt es auf der anderen Seite überzeugendere Beweise dafür, dass er 1938 nicht nach einem Krieg gegen die Tschechen dürstete. Als ihn der frühere Außenminister Konstantin Freiherr von Neurath fragte, „wollen Sie tatsächlich unter allen Umständen Krieg führen“, antwortete er: „Wie 8

National Archives, CAB 23/95, Folies 195–233. Ebenda. 10 Weitere Kommentare zu der belasteten Beziehung Henderson – Ribbentrop bei Neville: Appeasing Hitler, S. 60. 11 Kershaw, Ian: Hitler. Nemesis 1936–1945. Harmondsworth 2000, S. 302. 12 Dieser Prozeß ist behandelt bei Cockett, Richard: The Twilight of Truth. Chamberlain, Appeasement and the Manipulation of the Press. London 1989. 13 Proceedings of the International Military Tribunal, Nuremberg. Testimony of Dr. Schacht, part 13, p. 5, HMSO. London 1946. 9

48   Peter Neville ­ einen Sie? Unter allen Umständen? Offensichtlich nicht!“14 Als Chamberlain m und Halifax im September 1938 glaubten, Hitler könne die Grenze zum Wahnsinn überschritten haben, ignorierten sie die Unentschlossenheit und die Nervosität, die Hitler sowohl während der Rheinland-Krise wie im Frühjahr 1938 zeitweilig an den Tag gelegt hatte. Halifax hat gegen den von Chamberlain nach Godesberg verfolgten Kurs vorübergehend rebelliert, doch die Appeasement-Politik erwies sich als korrekt, wenn auch aus dem falschen Grund. Hitler konnte beschwichtigt werden, nicht weil er sonst in Wahnwitz verfallen wäre, sondern weil er – wie im März 1936 und dann wieder im März 1938, als während des Anschlusses Österreichs Göring die entscheidende Rolle spielte – die Nerven verlor. Diese Nervenkrise verschaffte den britischen Appeasern die Möglichkeit, den Weg zur Münchner Konferenz zu öffnen. Wenn Hendersons Untergebener Ivone Kirkpatrick schrieb, Hitler habe es „danach gelüstet, Prag zu bombardieren“, so war das mithin nur eine Halbwahrheit.15 Mit der Aussicht auf Krieg konfrontiert, sollte er die Tschechen angreifen, wich Hitler zurück. Er hat in der Tat die Warnungen ernstgenommen, die Sir Henry Wilson – von Chamberlain geschickt – und daneben Sir Nevile Henderson vorbrachten. Was 1939 geschah, zeigt also, dass beide Seiten ihre Lehre aus dem September 1938 gezogen hatten. Chamberlain war – zögernd – zu dem Schluss gekommen, dass man Hitler nicht vertrauen könne; sogar ein Bündnis mit der UdSSR zog er nun in Betracht. Hitler wiederum konnte die Deutschen nicht ein zweites Mal auf einen Krieg vorbereiten und dann doch zurückzuschrecken. Er glaubte, dass er im Vorjahr seiner Intuition hätte folgen und Krieg führen sollen; am 1. September 1939 sagte er zu Ribbentrop, diesmal werde „ich meinem eigenen Urteil folgen, das mich in all diesen Krisen [seit 1936] besser beraten hat als die zuständigen Experten“.16 Mit solchen Worten suchte Hitler zu kaschieren, dass er es war, der die Nerven verloren hatte, und die Schuld für das Geschehene anderen zuzuschieben. Dem entspricht, dass auch die Angehörigen der militärischen Widerstandsgruppen andere verantwortlich machten, in diesem Falle die Engländer und Franzosen, die 1938 die Nerven verloren und es nicht gewagt hätten, Hitler und seinem Regime entgegenzutreten. Hitler musste im September 1939 kämpfen oder aber seine Glaubwürdigkeit verlieren, und seine Generäle, die ein Jahr zuvor nicht gehandelt hatten, folgten ihm nun nach Polen. Dies scheint eine befriedigendere Erklärung des Hitlerschen Verhaltens im Jahr 1939 zu sein als die traditionelle Version, nach der er nicht an den Kriegseintritt Englands und Frankreichs geglaubt habe. Hitler wäre natürlich höchst erfreut gewesen, hätte sich Großbritannien für die Neutralität entschieden; offensichtlich

14 Michaelis,

Herbert/Schraepler, Ernst (Hg.): Ursachen und Folgen. Vom deutschen Zusammenbruch 1918 und 1945 bis zur staatlichen Neuordnung in der Gegenwart. Berlin 1958 ff., Bd. 12, S. 438 ff., Dok 2722: Fritz Wiedemann über seine Eindrücke am 28. September 1938. 15 Kirkpatrik, Ivone: The Inner Circle. London 1959, S. 195. 16 Overy, Richard: Germany and the Munich Crisis. In: Lukes, Igor/Goldstein, Erik (eds.): The Munich Crisis 1938. Prelude to World War Two. London 1999, S. 191–215, hier S. 210.

Hitler und die Appeaser   49

hat ihn der leichtherzige Optimismus Ribbentrops geärgert. Doch war er insofern vorbereitet, als er eine Woche zuvor die Sowjetunion neutralisiert hatte.17 Chamberlain hingegen musste kämpfen, weil er sechs Monate vor dem September Polen garantiert hatte, jedoch auch deshalb, weil ihm bei schwankender Haltung eine Revolte im Unterhaus gedroht hätte. Er blieb bis zuletzt bei seinem Kurs, da er die Aussicht auf einen Weltkrieg vernünftigerweise erschreckend fand, aber am Ende, in seiner Rundfunkrede vom 3. September, hat er anerkannt, dass mit dem NS-Regime Verhandlungen über Frieden unmöglich seien. Auch wusste er, dass Frankreich, aufgerüttelt von Daladier, kämpferischer gestimmt war als 1938.18 Die Auseinandersetzung zwischen Hitler auf der einen und Chamberlain wie den übrigen Appeasern auf der anderen Seite darf natürlich nicht allzu sehr personalisiert werden. Die deutsche Politik war 1938/39 nicht bloß eine Folge der antislawischen Vorurteile Hitlers, und die britische Politik wurde nicht in erster Linie von Chamberlains Abneigung gegen den Krieg bestimmt. Die anti-tschechoslowakische Politik im Frühjahr und Sommer 1938 hatte viel mit den bis 1919 zurückgehenden allgemeinen Tendenzen deutscher Außenpolitik zu tun. Der tschechoslowakische Staat war die einzige verbliebene Demokratie unter den nach dem Ersten Weltkrieg geschaffenen Nachfolgestaaten der Habsburgermonarchie, nachdem in den zwanziger Jahren die Demokratie sowohl in Polen wie in Jugoslawien und Rumänien gescheitert war. Er fungierte außerdem als wichtigstes Glied im französischen Bündnissystem und hatte eine separate Allianz mit der UdSSR. In der Tat ist die ČSR mit Recht als „der zuverlässigste – ja der einzig zuverlässige – Teil des von Frankreich aufgebauten Sicherheits- und Allianzsystems“ eingeschätzt worden.19 Der als gemäßigt geltende Staatssekretär im Auswärtigen Amt, Ernst von Weizsäcker, sagte im Dezember 1938 zum französischen Botschafter, das Schicksal der Tschechoslowakei „liegt in der Hand Deutschlands“.20 Mitterechts orientierte Deutsche waren der Meinung, dieses „Schicksal“ sollte die Zerstörung des tschechoslowakischen Staates sein. Sie teilten allerdings nicht in jedem Falle das rassistische Motiv Hitlers, der sich bis zum Juli 1939 eingeredet hatte, der Konflikt mit Großbritannien müsse „ausgefochten“ werden, „weil jetzt die Juden dort so viel Macht haben“.21 Einen Monat später gab Wilhelm Keitel, als Chef des Oberkommandos der Wehrmacht Hitlers gefügiger militärischen „Be­ rater“, die Meinung des „Führers“ wieder: Großbritannien sei zu dekadent, um Polen „wirklich Hilfe“ leisten zu können.22 Die Wortwahl ist interessant: Er ­erwartete also offenbar nicht, dass Großbritannien die Polen gegebene Garantie 17 Toland,

John: Adolf Hitler. London 1976, S. 571. dazu bei May, Ernest: Strange Defeat. Hitler’s Conquest of France. New York

18 Einzelheiten

2001.

19 Leitz, Christian:

Nazi Foreign Policy, 1933–1941. The Road to Global War. London 2004, S. 56. on German Foreign Policy, Series D, Vol. 4, 21. 12. 1938, No. 373, S. 266. 21 Zit. bei Parker, Robert Alexander Clarke: Chamberlain and Appeasement. British policy and the coming of the Second World War. London 1993, S. 266. 22 Overy, Richard: The Road to War. London 1989, S. 55. 20 Documents

50   Peter Neville nicht einlösen werde, vielmehr glaubte er, die britische Hilfe werde ohne Bedeutung sein. Letztlich konnte eine Appeasement-Politik gegenüber dem NS-Regime nicht erfolgreich sein, weil Hitler entschlossen war, seinen Krieg zu bekommen, wie ­immer das anglo-französische Verhalten auch sein mochte. In der Tat lässt sich argumentieren, dass Hitler Krieg brauchte, sowohl aus ideologischen wie aus wirtschaftlichen Gründen. Doch ist es leicht, Baldwin, Chamberlain und ihre Kollegen wegen Pflichtverletzung zu brandmarken, während doch die Zeitumstände „keine gute Politik …, sondern nur eine Wahl zwischen Übeln und Gefahren“ zuließen.23 In der angelsächsischen Welt ist es schwierig gewesen, die Vorstellung zu verändern, beim Appeasement habe es sich um etwas Memmenhaftes und Defätistisches gehandelt. Oft wurde vergessen, dass Appeasement jahrhundertelang eine Konstante britischer Außenpolitik gewesen ist; man braucht nur daran zu denken, wie Gladstone im Falle der konföderierten Kaperschiffe, die in Großbritannien gebaut worden waren, einen Krieg mit den Vereinigten Staaten vermieden hat, indem er Washington Kompensationen zahlte. Hitler war freilich ein ungewöhnlich schwieriger und dreister Gegenspieler für die britische Regierung und das Foreign Office, in der Tat noch schwieriger auf Grund des Zögerns, das er in der Rheinland- und der Österreichkrise gezeigt hatte und das die Hoffnung weckte, er sei zu saturieren. Am Ende wurden die Appeaser Opfer ihres Glaubens, Hitlers in der auf „München“ folgenden deutsch-britischen Erklärung niedergelegtes Versprechen, er werde „zur Sicherung des Friedens in Europa beitragen“, sei ernst gemeint, wogegen Hitlers Ambitionen, wie sich sechs Monate später zeigen sollte, keineswegs darauf beschränkt waren, alle Deutschen in einem Reich zu vereinen24. Indes sind in der europäischen Historiographie zur Appeasement-Politik ermutigende Entwicklungen zu verzeichnen (in den Vereinigten Staaten ist die Situation problematischer). In der Tschechischen Republik zum Beispiel, wo Animosität gegen Appeasement nicht verwundern kann, kam 2005, vierzig Jahre nach Erscheinen der englischen Erstauflage, A.J.P. Taylors Buch „The Origins of the Second World War“ heraus. Und 2008 konnte der junge tschechische Historiker Vít Smetana schreiben: „Wieder Krieg! Nur zwanzig Jahre nach den Schrecken des Weltkriegs, in dem mehr als 900 000 britische Soldaten gefallen waren und eine Generation der britischen Oberschicht nahezu vollständig ausgerottet worden war!“25 Hitler hat natürlich mit solchen Gefühlen mit einem grausamen und rücksichtslosen Opportunismus gespielt. Dass er dies tat, bedeutet nicht, dass Ap23 Schroeder, Paul

W.: Munich and the British Tradition. In: Historical Journal 19 (1976), S. 222– 243. 24 Zit. bei Parker: Chamberlain and Appeasement, S. 324. Siehe auch die Englisch-Deutsche Erklärung vom 30. 9. 1938, Imperial War Museum. London. 25 Smetana, Vit: In the Shadow of Munich. British Policy Towards Czechoslovakia from the Endorsement to the Renunciation of the Munich Agreement (1938–1942). Prague 2008, S. 56. Smetana übt aber auch durchaus plausible Kritik an der britischen Politik.

Hitler und die Appeaser   51

peasement an sich eine Narretei war – angesichts der erschreckenden Probleme, denen sich die britische Regierung in den späteren dreißiger Jahren gegenüber sah. Chamberlain war, alles in allem, ein Mann von Ehre, ebenso Kollegen wie Lord Halifax und Samuel Hoare. Die britische Auffassung von Fair Play, wie sie in München wirksam war, mag Kritikern als lachhaft erscheinen, doch hat sie den Premierminister auf jener durch Flickschusterei und übergroße Hast charakte­ risierten Konferenz tatsächlich geleitet. Chamberlain bestand mit Recht darauf, dass dem Münchener Abkommen eine ergänzende Deklaration angeschlossen wurde, die Vermögens-, Währungs- und Kreditfragen betraf und alle derartigen Probleme an die internationale Kommission überwies, die zur Durchführung des Abkommens ins Leben gerufen wurde. Hitler reagierte mit der verdrießlichen Klage, Chamberlain sei „wie ein feilschender Krämer, der um jedes Dorf und ­kleine Details streitet; er ist schlimmer als die Tschechen selber. Was hat er in Böhmen verloren? Gar nichts!“26 Chamberlain feilschte um kleine Details im Interesse von Fairness. Hitler tat das nicht. Der Irrtum des Premiers bestand darin, dass er annahm, Fairness spiele in den Kalkulationen des „Führers“ eine Rolle, gleichwohl waren er und seine Kollegen keine Gimpel. Wie schon angedeutet, hatten die britischen Regierungen schon seit 1933, als das Defence of the Realm Committee (D.R.C.) geschaffen wurde, die deutsche Bedrohung erkannt und ­Pläne ausgearbeitet, ihr zu begegnen. Die Stereotype von Hitler und den Appeasern, symbolisiert vor allem in der Person Neville Chamberlains, legen die Vorstellung nahe, dass ein berechnender und rücksichtsloser Diktator schwache und ungeschickte Demokraten übertölpelte, die ihr Land angesichts eines effizienten totalitären Staates wehrlos gelassen hatten. Das war beileibe nicht der Fall.27 Es war das britische Luftfahrtministe­ rium, das 1936 die Konstruktion jener schweren Bomber in Auftrag gab, die seit 1942 die deutschen Städte in Schutt und Asche legten. Hingegen beschlossen die Deutschen 1937, keine viermotorigen Bomber zu bauen, da die militärische Führung die Aufgabe der Luftwaffe vor allem in der Unterstützung der Landstreitkräfte sah. Die jüngste Forschung zeigt, dass die Deutschen sowohl im Frieden wie im Krieg zu viele Modelle, ob Panzer, ob Flugzeuge, produzierten.28 Im Gegensatz dazu entschied sich Chamberlain für die Stärkung der Jagdwaffe, und dies führte zum Bau der technisch überlegenen Hurricanes und Spitfires. Das brachte in der so wichtigen Schlacht um England die Entscheidung, das heißt die Niederlage Hitlers. Chamberlains Minister für die Koordination der Verteidigung, der von Churchill viel geschmähte Sir Thomas Inskip, brachte in einer Kabinettsvorlage vom

26 Zit.

bei Lamb, Richard: The Ghosts of Peace. Salisbury 1987, S. 259. vor allem bei Cato (das sind die Journalisten Michael Foot, Frank Owen und Peter Howard): Guilty Men. London 1940. Das Buch fand weite Verbreitung. 28 Hierzu Overy, Richard: German Air Strength 1933 to 1939: A Note. In: Historical Journal 28 (1984), S. 465–471. 27 Dieses Argument

52   Peter Neville Dezember 1937 die Prioritäten der Appeaser in eine logische Abfolge. An erster Stelle stand der Schutz des Vereinigten Königreichs gegen Luftangriffe; zweitens ging es um die Sicherheit der Handelswege, dann kam die Verteidigung des Empire und schließlich viertens die Kooperation mit etwaigen Verbündeten in einem Krieg.29 Inskip sah die Realität. Hitlers Ziele bleiben, zumindest partiell, Gegenstand der Debatte. Aber einige Historiker wie Gerhard L. Weinberg sind nach wie vor überzeugt von Hitlers Streben nach globaler Expansion, „die einen Konflikt mit den Vereinigten Staaten hätte bedeuten können; Krieg war nicht die Ultima Ratio der Politik Hitlers, sondern die prima ratio“.30 Wenn wir diese These akzeptieren, mit all ihren Elementen von Fantasie und Megalomanie, dann ist es nicht verwunderlich, dass die Appeaser zu kämpfen hatten, Hitlers Absichten genau zu erfassen. Am Ende machten sie das Beste aus einem bösen Fehler. Auf jeden Fall war Hitler mindestens bereit, sich auf das beispiellose Abenteuer eines rassistischen Imperialismus in Osteuropa einzulassen. Dies ist unumstritten und machte allein schon die Hoffnungen der Appeaser auf friedliche Beziehungen zwischen Großbritannien und Deutschland zunichte. Aus dem Englischen von Hermann Graml

29 Zit.

bei Peden, George Cameron: British Rearmament and the Treasury. Edinburgh 1979, S. 134 f. 30 Weinberg, Gerhard L.: Hitlers Entschluß zum Krieg. In: Hildebrand, Klaus/Schmädeke, Jürgen/ Zernack, Klaus (Hg.): An der Schwelle zum Weltkrieg. Die Entfesselung des Zweiten Weltkriegs und das internationale System. Berlin-New York 1990, S. 33.

Patrizia Dogliani

Das faschistische Italien und das Münchener Abkommen Einleitung Das Münchner Abkommen hat für die italienische Historiographie seit jeher kaum eine Rolle ge­­spielt. Selbst die neuere Faschismusforschung, die in den letzten Jahren mit innovativen Stu­­dien zur Kultur- und Sozialgeschichte der italienischen Gesellschaft unter der Herrschaft Mus­­solinis hervorgetreten ist, hat die Außenpolitik des Regimes in den 1920er und 1930er Jahren eben­so vernachlässigt wie die Geschichte der internationalen Beziehungen, obwohl beide The­men lange Zeit nicht wenig Beachtung gefunden hatten.1 Als sich die Ereignisse im Herbst 2008 zum 70. Male jährten, kümmerte sich fast nur die Presse um die berühmtbe­rüch­tig­­te Konferenz in der bayerischen Hauptstadt. Dies war auf die Eröffnung der Olympischen Spie­le in Peking im August 2008 ebenso zurückzuführen wie auf den Beginn der Aus­ein­an­der­setzungen zwischen Russland und Georgien über Süd-Ossetien. Dieser Konflikt war es, der in ganz Europa die Erinnerung an die Sudetenkrise und die Furcht vor einem neu­en „Mün­chen“ wach rief. Man fürchtete um die Stabilität in Europa. In Italien dagegen be­nut­zte die politische Rechte das Münchner Abkommen wieder einmal dazu, das fa­schis­tische Re­gi­me zu entlasten. Die Kräfte, die sich auf den Faschismus berufen und den Antifaschismus ab­leh­nen, erblicken im Münchner Abkommen, ja im Jahr 1938 insgesamt, eine entscheidende Wen­de. Der „gute“ italienische Faschismus sei in die Fänge des „bösen“ Nationalsozialismus ge­raten. Damit wurde einmal mehr die alte These wiederholt, vom Herbst des Jahres 1938 an sei­en die innen- und außenpolitischen Entscheidungen des faschistischen Italien in hohem Ma­ße vom Bündnis mit Hitler-Deutschland beeinflusst worden. Noch heute ist die Mei­nung weit ver­breitet, das faschistische Regime sei gezwungen gewesen, dieses Bündnis zu schlie­ßen, um der internationalen Isolation zu entrinnen, in die Italien 1935 geraten war. Aus die­ser Per­spektive habe sich der Faschismus ab Herbst 1938 im Innern dem Na­tio­nal­so­zia­lis­mus ange­passt – beispielsweise mit den Rassengesetzen vom November dieses Jahres – und ei­ne ­Au­ßen­politik verfolgt, die auf längere Sicht nur die expansio­nis­tischen Ziele des Dritten Reichs begünstigt, zugleich aber den eigenen Ruin und Zusammenbruch im Sommer 1943 ver­ursacht habe. 1

Ausnahmen bestätigen freilich auch hier die Regel: Vgl. Collotti, Enzo (in Zusammenarbeit mit Nicola Labanca und Teodoro Sala): Fascismo e politica di potenza. Politica estera 1922– 1939. Milano 2000. Rodogno, Davide: Il nuovo ordine mediterraneo. Politiche d’occupazione dell’Italia fascista in Europa 1940–43. Torino 2003. Fioravanzo, Monica: Mussolini e Hitler. La Repubblica sociale sotto il Terzo Reich. Roma 2009.

54   Patrizia Dogliani Wenn man sich ernsthaft mit dem Münchner Abkommen beschäftigt – wie kam es dazu, wel­che Rolle spielte Italien dabei und welchen Nutzen zog es da­ raus? –, wird rasch klar, dass die Sachlage komplexer ist und die Radikalisierung des Faschismus nicht nur auf die Allianz zwi­schen dem Großdeutschen Reich und dem Königreich Italien zurückgeführt werden kann. Drei Fragen sind es vor allem, die beantwortet werden müssen. Die erste bezieht sich auf die Ent­stehung und Festigung der „Achse“ Rom – Berlin, die bis zum Frühjahr 1938 noch ver­ gleichs­weise labil blieb, sich nach der Münchner Konferenz aber konsolidierte und ei­ne ideologische Stoßrichtung bekam. Die zweite Frage zielt auf die Grundtendenz der ita­lieni­schen Außenpolitik, die sich 1938 völlig unabhängig von den Entscheidungen in Ber­lin än­derte und sich nach einer fünfjährigen Pause wieder auf Europa und den Balkan kon­zen­trier­te. Im Spätsommer 1938 war hier ein Kurswechsel zu bemerken, vor allem aber ein grö­ße­rer Gleichklang zwischen der Außenpolitik und der Propaganda im eigenen Land. Die­se Ent­wicklung förderte Gewaltbereitschaft, Imperialismus und Rassismus, der sich be­reits mit der Eroberung Abessiniens in der italienischen Gesellschaft auszubreiten begon­nen hatte. Ita­lien kümmerte sich nun erneut um seine östlichen Grenzen, um die im Ersten Weltkrieg er­worbe­nen und dann mit Gewalt „italianisierten“ Gebiete wie Süd­ tirol, Friaul, Julisch-Vene­tien und Istrien, nachdem sich das faschistische Regime zuvor primär auf den Erwerb eines Kolonial­reichs und auf den Ausbau seiner Positionen im Mittelmeerraum konzentriert hatte. Die Sudetenfrage und ihre Lösung mussten Italien schon deshalb interessieren und mit Sorge er­füllen, weil sich dem Dritten Reich jenseits des Brenners mit der deutschen Minderheit in Süd­tirol eine ähnliche Konstellation bot wie in der Tschechoslowakei. Es galt also – zumal nach dem „Anschluss“ Österreichs im Frühjahr 1938 – zu verhindern, dass Hitler seine Hand auch nach Süden ausstreckte. Hinzu kamen innere Probleme anderer Art: In der faschistischen Par­tei, vor allem bei den extremen Kräften und hier namentlich bei den antisemitischen und anti­slawischen Elementen in Triest, begann das Beispiel des Nationalsozialismus Schule zu machen. Des­sen ideologische, wirtschaftliche und militärische ­Dynamik wirkte ansteckend und konnte nur mit Mühe eingedämmt werden. Eine gewisse Rolle spielte schließlich auch, dass die Un­ter­neh­merschaft an den östlichen Grenzen unter der Wirtschaftskrise der 1930er Jahre litt und sich deshalb nicht nur wehmütig an die positiven Seiten und die Privilegien der Habsburger Mon­archie erinnerte, sondern ihre Hoffnungen in nostalgischer Geschichtsverwir­ rung auf das Drit­te Reich richtete, wo es neue Märkte und Technologien und vor allem Roh­stoffe wie Koh­le zu geben schien. Die dritte Frage hatte mit dem persönlichen Erfolg des „Duce“ in München zu tun, der seine Füh­­rungsposition in der Partei stärkte, seinem Charisma neue Nahrung gab, den Kult um sei­ne Person befeuerte und damit unverzichtbare Ingredienzien lieferte, um den Konsens in Ita­lien aufrechtzuerhalten. Das Münchner Abkommen war nach der Eroberung Abessiniens einer der letzten Erfolge des Regimes, für das Innen- und Außenpolitik untrennbar zu­sam­men­ge­hör­­ten – und es zog weitere Aktionen nach sich, wobei vor allem die Invasion in Albanien und

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dessen Annexion im April 1939 zu nennen wären. Dieser Handstreich, der auch als Ant­wort auf die Zerstückelung der Tschechoslowakei zu verstehen ist, war in der Geschichte des Faschismus das letzte Beispiel dafür, dass sich die interne Zustimmung zum Regime durch au­ßen­po­litische Manöver heben ließ. Ab Sommer 1939 konnte davon keine Rede mehr sein.

Die Außenpolitik des Faschismus Die steilste These unter den vielen, mit denen man versucht hat, die verhängnisvolle Verant­wor­tung des Faschismus für Krieg und Unterdrückung zu minimieren oder – schlimmer noch – ganz zu unterschlagen, lautet folgendermaßen: Der einzige Fehler Mussolinis sei die Allianz mit dem NS-Regime und der daraus ­resultierende Kriegseintritt Italiens an der Seite des Deut­schen Reichs gewesen. Ohne diesen Fehler hätte der Faschismus als autoritäres Regime mit Rück­halt in der Bevölkerung überleben, die Früchte seiner Wirtschafts- und Sozialpolitik ern­ ten und eine dauerhafte Bastion gegen den expandierenden Kommunismus in Europa werden kön­nen – er hätte sich, mit anderen Worten, zu einem Faktor der Stabilität in Europa und im Mit­telmeerraum entwickeln können. Die Realität sah freilich anders aus: Die Kriegserklärung vom 10. Juni 1940 an Frankreich und Großbritannien war weder eine Überraschung noch eine notwendige Konsequenz aus dem deutsch-italienischen Bündnis. Sie war lange vorbereitet und ergab sich aus der Au­ßenpo­­litik, die das faschistische Regime bis ­dahin verfolgt hatte. Nach der Welt­wirt­schafts­krise, vor allem aber in den 1930er Jahren, wurde die Außenpolitik zunehmend mehr von der In­nen-, Wirtschaftsund Sozialpolitik bestimmt und an Zielen ausgerichtet, die sich von der Pro­­pa­ ganda zur Konsensstiftung nutzen ließen. Der Faschismus wollte durch eine Ex­ pan­sions- und Kriegspolitik die sich verschärfende innere Krise lösen, die sich im Land anbahnte – auf dem Arbeitsmarkt ebenso wie bei der Energie- und Rohstoffversorgung – und die auch mit der in­ternationalen Großwetterlage und dem Verfall des Völkerbunds zu tun hatte. Wenn man die Leitlinien der faschistischen Außenpolitik von 1922 bis 1943 in den Blick nimmt, lässt sich – anders als früher angenommen – kein Unterschied und schon gar kein Bruch zwischen dem ersten und dem zweiten Jahrzehnt der Regierung Mussolinis feststellen. Sie steht vielmehr im Zeichen der Kontinuität eines expansionistischen Projekts, das der fa­schis­tische Staat von der nationalistischen Bewegung gleichsam erbte, die 1923 im Fa­schis­mus aufging. Mit dieser Erbschaft verbanden sich viele Wesensmerkmale des Faschismus: die Ag­gressivität, der Primat der Politik, der Ideologie und der Rasse, die Stilisierung des Krieges zum Mittel der Erziehung und der Massenmobilisierung, die Bevölkerungspolitik, die den tra­di­tionell durch Auswanderung abgeleiteten Überschuss an Menschen als Voraussetzung für eine ambitionierte Expansionspolitik zu nutzen gedachte, und schließlich der Gedanke, ein Im­perium zu gründen. Das faschistische Italien zählte sich zur Riege der jungen, vitalen und be­völkerungsreichen Natio-

56   Patrizia Dogliani nen und war beseelt von dem Wunsch, neue Territorien zu erobern und alte Mächte herauszufordern, die mit Bevölkerungsschwund, Defiziten des politischen Systems und einer Sklerose der Sozialstruktur zu kämpfen hatten. Mus­solini und seine Gesinnungsgenossen gleichen Alters hatten die Weisheiten des Na­tio­na­lis­­mus und die verächtliche Haltung des Sozialismus gegenüber bürgerlichen und ko­lo­ni­sier­ten Nationen aufgesogen, und sie hatten Sorel, Corradini und Oriani gelesen, deren Lehren sie als Anweisungen zu permanenter Mobilisierung und permanentem Anspruchsdenken ver­stan­den. Ideologie und Propaganda mussten jedoch dem Stand der internationalen Beziehungen und den Kräfteverhältnissen in Italien selbst an­gepasst werden – also den Gruppen und Insti­tu­­ tionen, die den Faschismus trugen. Bis 1926 kon­zentrierte sich die Regierung vor allem darauf, ihre Macht im Innern zu konsolidieren, während sie die Außenpolitik den gemäßigten Di­­plomaten alter Schule überließ. Der Übergang zu einer neuen Außenpolitik, die stärker auf die ideologischen Ambitionen des Faschismus zu­geschnitten war und mehr im Zeichen von Macht­demonstrationen und brüsken Positions­wech­seln stand, erfolgte in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre, nachdem die Traditionalisten im Außenministerium teilweise beiseite ge­scho­ben und durch Faschisten ersetzt worden wa­ren. Die italienische Außenpolitik zielte dabei von Beginn an vor allem auf eine Revision der Frie­dens­verträge von 1919, wobei namentlich Großbritannien und Frankreich ins Fadenkreuz der Kri­tik rückten. Die Garantiemächte von Versailles wurden von Rom bezichtigt, die außen­po­li­tischen Ambitionen des Königreichs hintertrieben zu haben; mehr geschah aber zunächst nicht. Wirklichem Druck sahen sich dagegen die kleineren Nachbarn ausgesetzt, die deutlich zu spüren bekamen, dass Italiens Großmachtgelüste unbefriedigt geblieben waren und dass das Land deshalb nach territorialen Zugewinnen trachtete. Indiz dafür war die aggressive Au­­ßenpolitik im Jahr 1923/24. Während der Ruhrbesetzung, die Frankreich mit aus­ge­blie­be­nen deutschen Reparationsleistungen begründete, entriss Italien die freie Stadt Fiume (Rijeka) endgültig der jugoslawischen Einflusssphäre. Zugleich versuchte das Königreich, die Insel Korfu zu an­nektieren, wobei die Tötung von vier italienischen Beobachtern auf griechischem Boden als Vor­wand für diesen Gewaltakt diente. Nach Protesten Griechenlands beim Völkerbund und ener­gischen Warnungen Großbritanniens, das mit einer Intervention seiner Flotte drohte, zog Ita­lien seine Truppen rasch wieder von der Insel zurück, die damit weiterhin Teil des grie­chi­schen Staatsgebiets blieb. Der erfolglose Schlag gegen Korfu blieb ein Einzelfall, hatte aber weitreichende Kon­se­quen­zen: Er verschärfte das italienische Unbehagen gegenüber den Briten, die das Mittelmeer kon­trol­­lierten, und er machte endgültig klar, dass Italien seinen Einfluss auf dem Balkan aus­deh­nen und damit den Frieden von Versailles in Frage stellen wollte. Angestachelt von den füh­ren­­den Militärs, wurden die britischen Basen im Mittelmeerraum zu einer wahren Obsession für die faschistische Regierung. Sie fühlte sich eingeengt und eingesperrt inmitten eines Mee­res, dessen Ein- und Ausgänge von Großbritannien beherrscht wurden: Gibraltar im Westen und Suez im Osten, dazu kamen Malta und Zypern als drohende Wach-

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türme. Nicht anders ver­hielt es sich mit den französischen Vorposten Korsika und Tunesien. Die Schaffung eines Mare nostrum erschien in dieser Perspektive von vitalem strategischem Interesse für Italien, das wirtschaftlich vor allem vom Seehandel abhängig war und hier insbesondere von Weizen- und Rohstoffimporten, die zum Teil aus Übersee kamen. Jugoslawien störte nicht weniger. Salvatore Contarini, der Generalsekretär des Außen­mi­nis­te­riums, hatte im Januar 1924 einen Freundschaftsvertrag mit dem 1918 gegründeten König­reich der Serben, Kroaten und Slowenen unterzeichnet, um Fiume für Italien zu gewinnen. Die­ser Vertrag kollidierte jedoch mit den Plänen Mussolinis, Jugoslawien in einen italieni­schen Satellitenstaat zu verwandeln und sich – angefangen mit Dalmatien – Teile seines Staats­­ge­biets einzuverleiben. Mussolini leitete seit Oktober 1922 auch das Außenministerium, zu­nächst nur vorübergehend, dann seit Juni 1924 auch offiziell, bevor im September 1929 sein Staatssekretär Dino Grandi zum Minister aufrückte. Seit 1926 schlug der „Duce“ immer ag­gressivere Töne an und verfolgte dabei eine zweigleisige Außenpolitik: Er nutzte die of­fi­ziel­len bilateralen Beziehungen und die Drähte zum Völkerbund, bediente sich aber zugleich ei­ner Art „paralleler Diplomatie“, wobei er sich auf vertrauenswürdige Gewährsleute stützte und darauf zielte, die Friedensordnung von Versailles wo immer möglich zu unterminieren. Das erste Ziel Mussolinis war dabei Jugoslawien, er scheiterte aber immer wieder an Frank­reich, der zweitstärksten Macht Europas, das zwischen 1924 und 1927 eine Reihe von Ver­trä­gen mit Ländern wie der Tschechoslowakei, Rumänien oder Jugoslawien geschlossen hatte, die seit 1921 in der „Kleinen Entente“ verbunden waren. Dank dieser Verträge avancierte Frank­reich (anstelle des besiegten Deutschland) zur Vormacht in dieser Region, die sich dem Re­visionsdruck der Staaten ausgesetzt sah, die – wie vor allem Ungarn – in Versailles bit­te­re Ge­bietsverluste hatten hinnehmen müssen. Dessen ungeachtet unterzeichnete Italien im Oktober 1925 den Vertrag von ­Locarno, der die Ent­scheidungen von Versailles bekräftigte und es dem Deutschen Reich ermöglichte, dem Völ­kerbund beizutreten. Schon zwei Jahre später entwarf man in Rom aber einen Plan zur Ein­kreisung Jugoslawiens, und zwar in der ­Absicht, Frankreich als Hegemonialmacht auf dem Balkan zu ersetzen. Seit April 1927 unterstützte die faschistische Regierung die ungarischen Ge­biets­an­sprüche gegenüber Jugoslawien, zugleich griff sie der kroatischen Unab­hän­gig­keits­be­we­ gung mit Waffenlieferungen unter die Arme. In den Folgejahren schreckte Mus­ so­li­ni auch nicht vor expliziten Drohungen zurück, Jugoslawien, Tunesien und Korsika an­zu­grei­fen. Gewiss, diese offenen Drohungen wurden von führenden Militärs und insbesondere von Dino Grandi konterkariert, der es für besser hielt, sich in den Bahnen traditioneller Außenpolitik zu be­wegen. Die Spannungen nahmen dennoch zu und erreichten ihren Höhepunkt 1932/33 mit einer fehlgeschlagenen Revolte in Kroatien und heftigen diplomatischen Zusammenstößen zwi­schen Frankreich und Italien. In diesem aufgeheizten Klima schickte Mussolini im Som­mer 1932 Grandi als Botschafter nach London und übernahm die Führung des Au­ßen­mi­

58   Patrizia Dogliani nis­te­ri­ums wie­der selbst. Der „Duce“ sollte – unterstützt von Fulvio Suvich, einem Irredentisten und Na­tio­nalisten aus Trient – vier Jahre lang auch Außenminister bleiben, ehe er mit seinem Schwie­­gersohn Galeazzo Ciano im Juni 1936 einen Mann seines Vertrauens an die Spitze die­ses wichtigsten Ressorts berief. Grandi hatte es verstanden, gute Beziehungen zum Völ­ker­bund zu pflegen. Seine einer Amtsenthebung gleichkommende Versetzung nach Lon­don war der Beginn einer schleichenden, aber unumkehrbaren Entfremdung zwischen Italien und dem Völ­kerbund sowie der Auftakt eines gründlichen Revirements im diplomatischen Dienst auf Kosten der ge­­mäßigten Kräfte. Die „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten im Januar 1933 und der klerikal-faschistische Putsch in Österreich im Febru­ar 1934 änderten die Lage ebenso wie das von einem ma­ke­do­ni­schen Extremisten im Auftrag der kroatischen Ustascha verübte Attentat in Marseille im Ok­tober 1934, dem der französische Außenminister Louis Barthou – ein Protagonist der „Kleinen En­tente“ – und der jugoslawische König Alexander I. zum Opfer fielen. Die französische Re­gie­rung, die von Pierre Laval geführt wurde, einem Konservativen und ehemaligen Sozialisten, der später mit den Na­tio­nal­sozialisten kollaborieren sollte, gab ihre bisherige Jugoslawien­politik vorübergehend auf und näherte sich Rom, um das Deutsche Reich im Zaum halten zu können. Die italienische Re­gierung, die sich bereits zuvor mit Jugoslawien arrangiert hatte, griff die französischen Avan­cen gerne auf, hoffte sie doch, die Brennergrenze sichern und die Regierung in Wien vor deut­ schen Übergriffen bewahren zu können. Dies erschien umso dringender, als am 25. Juli 1934 der philofaschistische Bundeskanzler Engelbert Dollfuß von österreichischen Natio­nal­so­zialisten ermordet worden war. Hinzu kam, dass Italien durch diesen Schachzug freie Hand für die seit langem geplante Expansion in Ostafrika erhalten wollte – und von Frankreich auch er­hielt. Vor diesem Hintergrund wurden am 7. Februar 1935 ein französisch-italienischer Ver­trag – der Laval-Mussolini-Pakt – und im April 1935 ein gegen das Deutsche Reich ge­rich­te­tes Bündnis geschlossen, das als „Front von Stresa“ in die Geschichte eingegangen ist. Ju­gos­la­wien geriet darüber nicht in Vergessenheit, die Eroberung des Nachbarstaats wurde nur ver­tagt. Stattdessen konzentrierte sich die faschistische Regierung nun auf Afrika, das bis dahin auf der Prioritätenskala hinter Mitteleuropa und dem Balkan nur an dritter Stelle rangiert hatte. Zwei Gründe waren es vor allem, die für eine Expansion in Afrika sprachen: das in­ter­na­tio­na­le Ansehen, das man sich in Rom von einem großen Kolonialreich erwartete, und vor allem ein beträchtlicher Prestigegewinn im eigenen Land, das noch immer unter den Folgen der Weltwirtschaftskrise litt. Neue Kolonien eröffneten neue Märkte und neue Chancen für Sied­ler; sie waren – mit einem Wort – eine Quelle der Hoffnung für das Regime. Die alte Angst, im Mittelmeerraum eingeschnürt zu bleiben, war ja mitnichten verflogen. Die Eroberung Abessiniens konnte den Auftakt für einen Vorstoß durch den Sudan und Ägypten und von dort zu den alten Besitzungen in Libyen bilden. Italien hätte damit über ein riesiges af­ri­ka­ni­sches Reich verfügt und den Engländern die Kontrolle des Suez-Kanals entrissen. Ähnlich güns­tige Perspektiven ergaben sich

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aus dem Spanischen Bürgerkrieg, nachdem die Pläne zur Er­oberung Korsikas vorüber­gehend ad acta gelegt worden waren. Das italienische En­ga­ge­ment auf der iberischen Halbinsel nährte die Hoffnung, die balearischen Inseln besetzen und da­­mit Brückenköpfe von strategischer Bedeutung im westlichen Mittelmeer bilden zu können. Von dort aus würde man die Briten auf Gibraltar heraus­for­dern können.

Das faschistische Italien und das nationalsozialistische Deutschland Die Beziehungen zwischen Faschismus und Nationalsozialismus entwickelten sich mitnichten li­near. Schon vor 1933 war ein reger Reiseverkehr zwischen den beiden Parteien in Gang ge­kom­men; zahlreiche führende Nationalsozialisten begaben sich insbesondere 1931/32 nach Rom, um an den Feierlichkeiten aus Anlass des zehnten Jahrestags der „faschistischen Re­vo­lu­tion“ teilzunehmen und sich im Glanz eines Regimes zu sonnen, das der politischen Rech­ten in Deutschland als Erfolgsmodell galt. Dessen ungeachtet blieben Probleme und Meinungsverschiedenheiten bestehen, nach Hitlers Ernennung zum Reichskanzler wurden sie so­gar immer drängender: die forcierte Italianisierungspolitik in Südtirol, die Österreichfrage und nicht zuletzt die „neuheidnische“ Politik des NS-Regimes, die in Italien um so weniger geteilt wur­de, als sich die faschistische Regierung im Feb­ ruar 1929 mit dem Vatikan arrangiert und da­mit in der katholischen Kirche einen wichtigen Faktor zur Stärkung des internen Konsenses ge­funden hatte. In der NSDAP blickten freilich nicht alle mit Sympathie auf den Faschismus. Die Na­tio­na­lis­ten hatten den „Verrat“ Italiens von 1915 ebenso wenig vergessen wie die feindliche Haltung Roms bei den Friedensverhandlungen von Versailles. Selbst Hitler, der schon frühzeitig auf ein Bündnis mit dem faschistischen Italien setzte, sah sich heftiger Kritik ausgesetzt; na­ment­lich der revolutionäre Flügel seiner Partei fügte sich nur schwer. Hinzu kam, dass sich Italien im April 1935 mit Großbritannien und Frankreich zur „Stresa-Front“ zusammengeschlossen hat­te, die der deutschen Wiederaufrüstung und deutschen Eroberungsgelüsten Schranken set­zen sollte und auf eine Bestätigung des Status quo hinauslief, wie er zehn Jahre zuvor in Lo­car­no festgeschrieben worden war. Erste Versuche zur Wiederannäherung gingen von Italien aus, das nach dem Angriff auf Abes­­sinien in Genf am Pranger stand, Sanktionen des Völkerbunds hinnehmen musste und deut­­sche Hilfe in Anspruch nahm. Die beiden Staaten standen damit auf derselben Seite und wit­­terten eine Chance, gemeinsam gegen die „Tyrannei“ des Völkerbunds vorzugehen. Der Wahl­sieg der Volksfront in ­Spanien und Frankreich im Frühjahr 1936 tat ein Übriges, um Berlin und Rom einander näher zu bringen. Nach dem Triumph der politischen Linken in den Nach­bar­ländern schien ein großes Bündnis gegen rechts zu drohen, wie es von der Kom­mu­nis­ti­schen Internationalen auf ihrem 7. Kongress von 1935 gefordert worden war.

60   Patrizia Dogliani Die weitere Entwicklung ist bekannt: Im Herbst 1936 unterzeichneten die beiden Staaten eine Rei­he von Verträgen, und Mussolini proklamierte die „Achse“ Rom – Berlin. Die neuen Bünd­nispartner verpflichteten sich, künftig eng zusammenzuarbeiten, sich namentlich in au­ßen­politischer Hinsicht abzustimmen und zu unterstützen und insbesondere eine anti­bol­sche­wis­tische Allianz ins Leben zu rufen, deren erste praktische Konsequenz die Unterstützung der spanischen Nationalisten unter General Franco war. Am 25. November 1936 unter­zeich­ne­ten das Deutsche Reich und Japan den Anti-Komintern-Pakt, der gegen die Führungsmacht der Kommunistischen Internationale, die Sowjetunion, gerichtet war. Ita­ lien schloss sich die­sem Bündnis am 6. November 1937 an. Dieser Beschluss hatte für Italien weitreichende Folgen: Das Königreich gehörte nun zu einer hoch­­­komplexen ideologischen und militärischen Allianz, die Ziele in Osteuropa und Asien ver­­­folgte, die mit den strategischen Interessen Italiens als mittlere Großmacht unvereinbar, aber voller Risiken für die Zukunft waren und nicht zuletzt die guten wirtschaftlichen und di­plo­­­matischen Beziehungen zur Sowjetunion und zu China gefährdeten. Scheinbar gestärkt, war Italien in Wirklichkeit international weitgehend isoliert, was sich Ende 1937 auch im Aus­­tritt des Königreichs aus dem Völkerbund äußerte. Italien setzte nun ganz auf bilaterale Be­­ziehungen und einigte sich im April 1938 auf ein Gentlemen’s Agreement mit Groß­bri­tan­nien, das die bestehenden Probleme bereinigen sollte, letztlich aber ­totes Papier blieb. Die Konsequenz dieser Entwicklung war der „Stahlpakt“, den die beiden Außenminister der Ach­­senmächte, Galeazzo Ciano und Joachim von Ribbentrop, am 22. Mai 1939 in Berlin un­ter­­zeichneten. Beim „Stahlpakt“ handelte es sich nicht um einen einfachen Vertrag, der die Un­terstützung von subversiven rechten Bewegungen in Europa und die Stärkung einer fa­schis­tischen Internationale als Gegenstück zu den sozialistischen und kommunistischen Kom­man­­do­zentralen des Weltumsturzes regelte. Der „Stahlpakt“ war eine ideologisch grundierte Kriegs­allianz, die auf Expansion und die Eroberung von „Lebensraum“ zielte: Tunesien und Kor­sika, eventuell auch Malta sollten für Italien abfallen, größere Teile Osteuropas für das Deutsche Reich. Dabei waren eine rassistische Weltanschauung und die Vorstellung einer Hier­ar­chie der Völker kursbestimmend, die die Unterwerfung angeblich minderwertiger Na­tionen le­gitimierte. Das NS-Regime bereitete sich seit 1933 auf den Krieg vor und mobilisierte dafür das gesamte Ar­beitskräftepotential, so dass bald Vollbeschäftigung herrschte und die Einschätzung un­ab­weis­bar schien, Krieg sei auch deshalb notwendig, um weitere Rohstoffe zu erhalten. Das fa­schis­tische Regime hingegen schmeichelte nur der Eitelkeit der Generäle und beließ es bei der permanenten Aufstachelung der Massen. Nach dem Feldzug gegen Abessinien kam es zwar zu einem Revirement in den Führungsetagen des Militärs. Die alten, noch ganz vom Stel­lungskrieg zwischen 1914 und 1918 geprägten Generäle wurden durch jüngere Offiziere er­setzt, die in Kategorien eines modernen Bewegungskriegs dachten. Dieses Konzept war aber alles andere als mit den Möglichkeiten der italienischen Streitkräfte kompa­ tibel, die nach den überstürzten Reformen zwischen 1938 und 1940 nicht größer

Das faschistische Italien und das Münchener Abkommen   61

wurden. Außerdem stürzte die Militärallianz mit dem Deutschen Reich die Marine in eine Orientierungskrise, die sich bis da­hin als komplementäres Element zur britischen Flotte im Mittelmeer, aber nie als deren di­rek­ter Gegner verstanden hatte. Die immer engere Bindung an das Deutsche Reich zwischen Herbst 1936 und Frühjahr 1939 machte Italien noch vor Kriegsbeginn zu dessen Trabanten. Das Königreich war abhängig von deutscher Technologie und vor allem von deutscher Kohle, die Italien im Tausch gegen Arbeitskräfte vom Deutschen Reich erhielt. Diese stetig zu­neh­men­de Abhängigkeit basierte anfangs auf Handelsverträgen, die 1934 zwischen der Reichs­bank und dem italienischen Institut für Außenhandel geschlossen worden waren und ein Zah­lungs­verfahren etabliert hatten, für das keine Devisen nötig waren. Später wurden diese Ver­trä­ge durch weitere Protokolle ergänzt, die von hochrangigen Vertretern der beiden Außen­mi­nis­terien wie Amedeo Giannini und Otto Sarnow unterzeichnet wurden und die gleichsam die wirt­ schaftliche Seite der „Achse“ bildeten. Zwischen Januar 1938 und Frühjahr 1943 wurde min­destens eine halbe Million Italiener als Saisonarbeiter nach Deutschland geschickt, die dort vor allem in der Landwirtschaft und auf dem Bau tätig waren. 1940 verteilte sich das ita­lie­nische Kontingent von nahezu 100 000 Arbeitskräften fast gleichmäßig auf Land­wirt­schaft und Industrie, während ein Jahr später mehr als zwei Drittel der italienischen Saison­ar­beiter der Industrie zugeteilt waren, die hängeringend nach Arbeitskräften suchte. Das anfangs impro­visierte Austauschgeschäft erlangte nach der Unterzeichnung eines entsprechenden deutsch-italienischen Abkommens im Dezember 1937 beträchtliche Ausmaße und lief vor al­lem darauf hinaus, die italienische Handelsbilanz zu entlasten. ­Italien sollte die vom Deut­schen Reich gelieferten Maschinen und die lebenswichtige Kohle mit dem bezahlen, was das Land seit jeher im Überfluss hatte: mit Arbeits­kräften. 1939 stellten die Italiener fast ein Drittel aller im Dritten Reich beschäftigten ausländischen Arbeits­kräfte; sie rangierten damit auf dem zweiten Platz hinter den Polen. Nachdem sich in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre die italienische Wirtschaft nur schwer von der großen Depression erholte, platzte auch die im Ersten Weltkrieg entstandene Illusion, Ita­lien könne zur Großmacht aufsteigen. Die Position des Königreichs auf den Märkten der Welt war schwach, die von Großbritannien und Frankreich, zunehmend aber auch von den Ver­einigten Staaten dominiert wurden. Italien schraubte deshalb seine imperialistischen Am­bi­tionen langsam zurück. Nach 1938 gab Rom seine Bemühungen auf, die Briten im Mit­tel­meer­ raum durch die Unterstützung des Zionismus in Palästina und der arabischen Un­ab­hän­gig­keitsbewegung im Mittleren Osten herauszufordern, und begnügte sich mit kleineren Ak­tio­nen im östlichen Mittelmeer. Außerdem ließ sich das ­faschistische Regime auf ein äußerst wi­dersprüchliches Abenteuer ein, nachdem es vor den deutschen Ansprüchen auf Österreich ka­pituliert und im März 1938 den „Anschluss“ akzeptiert hatte: auf eine enge Allianz mit dem Drit­ten Reich. Dabei hegten Mussolini und seine Gefolgsleute die Illusion, die Außenpolitik der „Achse“ kontrollieren und zugleich im Windschatten des mächtigen Ver­bündeten inter­na­tio­nales Prestige und territoriale Zugewinne jenseits der deutschen Ein­ flussgebiete erringen zu kön­nen.

62   Patrizia Dogliani Das erste Ziel war Albanien, das sich Italien nicht zuletzt als Antwort auf die Politik der NS-Füh­rung unter den Nagel riss. Zuvor hatte Hitler nämlich – gestärkt durch den günstigen Kom­promiss der vier Mächte in München – die „Resttschechei“ besetzt und das Protektorat Böhmen und Mähren geschaffen, während die Slowakei ein Satellit des Deut­schen Reichs wurde. Italienische Truppen landeten am 7. April 1939 im Hafen von Durazzo (Durrës), nachdem die faschistische Führung lange auf den günstigsten Zeitpunkt zur vollstän­digen Unterwerfung ­Albaniens gewartet hatte. Ihre Aktion, so behaupteten sie, er­fol­ge auf Bitte des albanischen Volkes, das sich der Diktatur von König Zog I. entledigen woll­te. Die Wochenschauen des Istituto Luce zeigten deshalb jubelnde Einheimische, wie sie die italieni­schen Truppen empfingen, während sie die geringe Gegenwehr auf das Konto der we­nigen Anhänger Zogs und gewöhnlicher Krimineller verbuchten, die aus den Gefängnissen ent­las­sen worden waren. Es war übrigens nicht das erste Mal, dass die deutsche und die italie­ni­sche Propaganda Bilder manipulierte und Eroberungen als Akte der Befreiung präsentierte: So war es in Wien und Prag gewesen, und so sollte es sich im ersten Kriegsjahr wiederholen. Über­flüssig zu ­sagen, dass die Faschisierung Albaniens rasch begann und als Werk der „so­zi­a­len Gerechtigkeit, des Friedens und der Toleranz“ dargestellt wurde. Die Militäraktionen in Abessinien, Spanien und Albanien waren auch als Mittel zur Be­kämp­fung der Arbeitslosigkeit gedacht. Angesichts unerfüllter Versprechen und erwiesener Un­fä­hig­­keit, das Modell des „neuen Italieners“, eines Siedlers in der Heimat, zu verwirklichen, blieb der vom Staat geförderte Export überzähliger Arbeitskräfte nach Afrika und Europa der letz­­te Ausweg – sei es nun in Zivil oder in Uniform. Deutsche und italienische Historiker neh­men sich dieses Themas gerade an. Sie vergleichen dabei den italienischen Fall mit den deut­schen Plänen für eine Kolonisierung Osteuropas, was gute Chancen eröffnet, die ideologische und kulturelle Annäherung von Faschismus und Nationalsozialismus en détail nachvollziehen zu können.2 Für Italien gilt schon jetzt: Die kriegerischen Raubzüge hatten viel mit konkreten wirt­schaftlichen Zwängen zu tun und resultierten auch aus der Notwendigkeit, den Konsens zwi­schen Regime und Gesellschaft zu erneuern, indem die faschistische Führung die innere Span­nung ständig stimulierte und die Erwartungen im Hinblick auf politische und militärische Er­ folge schürte. Dieses Projekt wurde mit immer größeren Anstrengungen bis zum Kriegs­ein­tritt an der Seite des Deutschen Reiches am 10. Juni 1940 vorangetrieben. Das Münchner Ab­kom­men ist Teil dieser Geschichte. Mussolini, Ciano, das diplomatische Korps und die Spitze der fa­schistischen Partei unterstützten das Deutsche Reich, folgten dabei aber einer eigenen Stra­te­gie, die auf leichte Siege, Prestigegewinn auf in­ter­na­tio­na­lem Parkett, Eroberung von Land und Ressourcen sowie auf Festigung der inneren Front zielte.

2

Vgl. die Tagung „Der ‚Neue Mensch‘ im italienischen Faschismus. Planung und Umsetzung eines totalitären Ge­sellschaftskonzepts 1922–1943“ am 14./15. 4. 2010 im Deutschen Historisches Institut in Rom.

Das faschistische Italien und das Münchener Abkommen   63

Mussolini im September 1938 Die Rekonstruktion der Art und Weise, wie Mussolini die Tage und Stunden der Sudetenkrise er­lebte, gibt Aufschluss darüber, wie der Faschismus insgesamt darauf re­agier­te. Nicht weniger nützlich ist es, die öffentlichen Auftritte des „Duce“ in den Tagen vor Mün­chen im Licht der privaten Aufzeichnungen zu betrachten, die Ciano in seinem Tagebuch bie­tet. Einen ähnlichen Zugriff hat Renzo De Felice in seiner Mussolini-Biographie gewählt, die der Außenpolitik des „Duce“ vor dem Kriegseintritt Italiens große Aufmerksamkeit wid­met. Im Gegensatz zu anderen Faschismusforschern hatte De Felice uneingeschränkten Zu­gang zu den diplomatischen Quellen. Dennoch bezog er sich bei der Beschreibung der fraglichen Tage nur auf öffentliche Reden, Zeitungen und Ta­ge­bü­cher; auf diese Quellengattungen stützt sich auch der vorliegende Beitrag. Die Ergebnisse, zu denen er dabei gelangte, sind im Lichte neuerer Forschungen noch im­mer gültig. „Während der gesamten Krise, selbst in den dramatischsten Augenblicken, blieb Rom diplomatisch fast ganz untätig, so als wollte man jede Festlegung vermeiden.“3 De Felice bekräftigte damit das Urteil Cianos, man hätte es den Italienern nie und nimmer er­klä­ren kön­nen, dass ein bewaffneter Zusammenstoß in Europa wegen der Su­ detenkrise un­aus­weich­­lich sei.4 Hinzu kam, dass das faschistische Regime bis zum 10./11. September andere Sorgen hatte. In der Außenpolitik galt das namentlich für Spanien, wo für Franco die Lage nach der Schlacht am Ebro nicht besonders günstig war. Am 31. August vermerkte Ciano in seinem Tagebuch: „Es würde nicht überraschen, wenn sich in den nächsten Tagen die Dinge für Franco zum Schlech­ten wenden würden. […] Auch die Italiener sind müde.“5 In der Innenpolitik ging es Mussolini vor allem darum, die Rassenpolitik zu intensivieren und die antisemitischen Gesetze auf den Weg zu bringen: Am 14. Juli wurde das Manifesto sulla razza veröffentlicht, am 22. August zähl­te und registrierte man alle italienischen Juden, und zwischen dem 1. und 3. September er­ließ der Ministerrat ein erstes Paket antisemitischer Maßnahmen, die sich gegen aus­län­di­sche Juden richteten und die seit November 1938 in verschärfter Form auch für die ita­lie­ni­schen Juden galten.6 Parallel dazu beobachtete die italienische Diplomatie die Situation in der Tsche­ chos­lo­wa­­kei. Der italienische Botschafter in Berlin, Bernardo Attolico, sprach mit Ribbentrop und be­­rich­tete, dass die Deutschen anscheinend noch nichts ent­ schieden hätten. „Wir sind der Auf­­fas­sung, dass wir keine weitere Aufklärung ver­ langen sollten“, schrieb Ciano am 3. September in sein Tagebuch. „Es ist klar, dass 3

Vgl. De Felice, Renzo: Mussolini il duce. Lo stato totalitario 1936–1940. Torino 1981, S. 507– 536. Das Zitat findet sich auf S. 509. 4 Vgl. ebenda, S. 510. 5 Ciano, Galeazzo: Diario 1937–1943. Milano 1990, S. 170 f. Das folgende Zitat findet sich ebenda, S. 173. 6 Vgl. Schlemmer, Thomas/Woller, Hans: Der italienische Faschismus und die Juden 1922–1945. In: VfZ 53 (2005), S. 164–201. Sarfatti, Michele: The Jews in Mussolini’s Italy. From equality to persecution. Madison 2006.

64   Patrizia Dogliani die Deutschen uns aus dem Spiel halten wollen. Das lässt uns in jeder Hinsicht volle Handlungsfreiheit.“ Mussolini weilte in diesen Tagen in der hei­matlichen Romagna und machte Urlaub. Den 12. September verbrachte er auf seinem Land­ ­sitz Rocca delle Caminate, während Hitler den Parteitag der NSDAP in Nürnberg für be­­endet erklärte und die Tschechoslowakei aufforderte, die Sudetenfrage zu lösen. Aus den Ciano-Tagebüchern sowie aus seinen eigenen Reden und Schriften ergibt sich, dass Mus­solini der britischen Reaktion mit Sorge entgegensah und dass er namentlich die Mission von Lord Walter Runciman in Prag genau verfolgte. Dieser war von Neville Chamberlain aus­ge­sandt wor­den, um die gespannte Lage auf diplomatischen Weg zu entschärfen. Runciman setz­te anfangs auf eine Autonomielösung für die Sudetendeutschen im Rahmen der tsche­cho­slowakischen Republik. Eine solche Lösung schien auch den Italienern zu gefallen; noch in einer Rede in Triest am 18. September 1938 befürwortete Mussolini Plebiszite für alle na­tio­nalen Minderheiten, die danach verlangten. Die Sache hatte aber einen Haken: Eine Volks­ab­stimmung und die darauf folgende Angliederung der Sudetengebiete an das Deut­sche Reich, hätte als gefährlicher Präzedenzfall für Südtirol dienen können. Die italienische Di­plomatie prüfte die Möglichkeit eines Referendums in den Sudetengebieten nach dem Vor­bild der Saar-Abstimmung am 13. Januar 1935. Damals hatte Italien zusammen mit Groß­bri­tannien eine wichtige Rolle als militärischer Beobachter und Garant der Abstimmung ge­spielt, bei der 90  Prozent der Stimmen für einen Anschluss an das Deutsche Reich entfallen ­wa­ren. Außer­dem hatten deutsche und französische Vertreter in Neapel getagt, um die Einzelheiten der Rückkehr des Saarlands in den deutschen Staatsverband zu regeln. Die internationale Lage hatte sich seitdem aber grundlegend verändert. Italien hatte den Völ­ker­bund verlassen und handelte nun allein im bilateralen Verkehr mit anderen Nationen. Bei der Saarabstimmung hatte sich Italien noch auf ein internationales Mandat des Völkerbunds stüt­zen und gemeinsam mit Diplomaten und Soldaten anderer Nationen agieren können, ganz ab­gesehen davon, dass das Deutsche Reich nach dem „Anschluss“ Österreichs nun bis zum Bren­ner reichte und damit vor den Toren Italiens stand.7 Italien hatte im vergangenen Jahrzehnt nichts unversucht gelassen, um Südtirol zu italiani­sie­ren. Für die Sudetengebiete auf das Instrument des Referendums zu setzen, konnte demnach un­absehbare Weiterungen haben, wenn die deutsche Regierung ein ähnliches Verfahren für Südtirol verlangte. In Bozen und Umgebung hatte sich die demographische Lage durch die ge­­zielte Ansiedlung von Arbeitern, Beamten und Bauern aus anderen Regionen des Kö­nig­reichs zwar geändert – hier bildeten die Italiener 1938 die Mehrheit. Anders sahen die Dinge aber auf dem Land aus, wo die Dominanz der deutschsprachigen Südtiroler ungebrochen war. 7

Zur Frage der Volksabstimmungen vgl. Fimiani, Enzo (Hg.): Vox Populi? Pratiche plebiscitarie in Francia Italia Germania (secoli XVIII–XX). Bologna 2010. Vgl. insbesondere Corni, Gustavo: Il nazionalsocialismo: una „ dittatura ple­bis­citaria“? In: Ebenda, S. 179–202.

Das faschistische Italien und das Münchener Abkommen   65

Im April 1938 hatte sich an der Südtirol-Frage sogar eine deutsch-italienische Krise entzün­det. „Ich habe dem Duce geraten, darüber mit dem Führer zu sprechen. Die anti-deutschen Kräfte in Italien werden von den Katholiken, den Freimaurern und den Juden angestachelt, sie sind stark und werden immer stärker. Wenn die Deutschen in Südtirol nicht vorsichtig sind, kann die ‚Achse‘ von einem Moment auf den anderen brechen“, notierte Ciano am 3. April.8 Und am 17. April vertraute er seinem Tagebuch an: „Aber ausgerechnet mit den Deutschen laufen die Dinge in Südtirol nicht gut. […] Es reicht nicht, wenn die deut­sche Regierung diese Frage übergeht und wiederholt, dass die gemeinsamen Grenzen un­an­tast­­bar sind: Man muss etwas tun.“ Mit dem Wort „ausgerechnet“ wollte Ciano andeuten, dass sich nach der Unter­zeichnung des Gentlemen’s Agreement am 16. April die Beziehungen zu Großbritannien ent­spannt hatten. Doch um die Deutschen nicht zu irritieren, platzierte Ciano ei­nen Artikel im „Giornale d’Italia“, dem zu entnehmen war, dass die Verhandlungen mit Lon­don schon vor dem „Anschluss“ begonnen hatten. In der Zwischenzeit ging Mussolini sehr behutsam mit der Sudetenfrage um. Man könnte auch sagen, er beschränkte sich dabei auf das bereits etwas angestaubte Ziel der Revision der Frie­­densordnung von Versailles. Dafür griff er den tschechoslowakischen Staatspräsidenten Edvard Beneš vehement an. In einem ­offenen Brief an Runciman, den der „Popolo d’Italia“ am 15. September 1938 veröffentlichte, nannte er Beneš einen „alten Parlamentarier“, der „die Orientierung verloren“ habe. Nicht sehr viel anders verhielt er sich gegenüber der Tsche­cho­ slowakei als Staat: „Während es für Italien praktisch unmöglich ist, mit der Tsche­ chos­lo­wa­­kei freundschaftliche Beziehungen zu pflegen, wäre das mit einem zukünftigen Böhmen durch­­aus möglich.“9 Mussolini wünschte also eine politisch-territoriale Neuordnung oder, anders formuliert, eine De­stabilisierung in Europa, die ihm Gelegenheit gegeben hätte, die in Versailles gezogenen Gren­zen zu revidieren. Mit Blick auf die Tschechoslowakei beharrte Mussolini darauf – wie Ciano am 22. September seinem Tagebuch anvertraute – „auch eine Lösung der un­ga­ri­schen und polnischen Probleme“ zu finden, die aus der Präsenz starker Minderheiten re­sul­tier­ten.10 Mussolini stand dabei klar vor Augen, das die Beseitigung des Status quo in Mit­tel­eu­ropa und auf dem Balkan auch den italienischen Interessen förderlich war, hätte sich damit doch die Möglichkeit eröffnet, den Einfluss Roms in den Regionen zu verstärken, in denen ita­lienische Minderheiten lebten: in Dalmatien, an der Côte d’Azur, auf Korsika und Malta und in Tune­sien. Aufs Ganze gesehen war Mussolini im Frühherbst 1938 doch stärker mit der Wende in der Ras­senpolitik beschäftigt, während er sich in außenpolitischen Fra  8 Ciano:

Diario, S. 120. Das folgende Zitat findet sich ebenda, S. 126 f. Diplomatischen Informationen Nr. 19/498 und Nr. 20/499 sowie der offene Brief an Runciman finden sich in: Susmel, Edoardo und Duilio (Hg.): Opera Omnia di Benito Mussolini, Bd. XXIX: Dal viaggio in Germania all’intervento dell’Italia nella Seconda guerra mondiale (1° ottobre 1937-10 giugno 1940). 1959, S. 141–144. 10 Ciano: Diario, S. 181. Das folgende Zitat findet sich ebenda, S. 177.   9 Die

66   Patrizia Dogliani gen auf sein Geschick als Mo­derator und Improvisator verließ. Ciano zeichnete Mussolini in seinem Tagebuch als einen Po­litiker, der vor allem auf Zeit spielte: Am 12. September stimmte er dem Plan zu, per­sön­lich mit Hitler über die Sudetenfrage zu sprechen; den genaueren Termin ließ er aber offen. Nach der aggressiven Rede Hitlers auf dem Nürnberger Reichsparteitag telefonierte der „Du­ce“ am 13. September mit Ciano, wobei er jetzt die Idee eines raschen Treffens mit Hitler ab­lehn­te; er „bat darum, es auf Anfang Oktober zu verschieben, weil er gegenwärtig zu sehr mit Reisen in die Provinz beschäftigt“ sei. Am 14./15. September nahm er sich des Themas erneut und wieder sehr vorsichtig an, als er ei­­niges zu Papier brachte, ohne die Schriftstücke aber zu zeichnen: einen Artikel für den „Po­po­­lo d’Italia“ sowie die Nummern 19 und 20 der „Informazione diplomatica“, in denen er auf das Selbstbestimmungsrecht der Sudeten­ deutschen pochte und die Möglichkeit eines Krie­ges als Provokation der Bolschewisten abtat. Erst als zehn Tage später das Ultimatum Hit­lers an die Regierung in Prag bekannt wurde, schien sich Mussolini näher mit dem Thema zu befas­sen. Für die Zwischenzeit ist noch immer das Urteil von Renzo De Fe­lice gültig: „In diesen beiden Wochen blieb der Palazzo Chigi fast inaktiv. Man hat fast den Ein­­druck, dass die größte Sorge darin bestand, die Kontakte zu den Polen und vor allem zu den Ungarn aufrecht zu erhalten […] und dafür zu sorgen, dass nicht die Deutschen allein Vor­tei­­le aus der Krise zogen.“11 Am 25. September 1938 machte Mussolini in einem privaten Ge­spräch in dem Städtchen Schio ­Galeazzo Ciano und dem Prinzen von Hessen, einem Emis­sär Hit­lers, seinen Standpunkt klar: „Frankreich wird nicht marschieren, weil sich Groß­britannien nicht auf seine Seite stellt. Sollte sich der Konflikt dennoch ausweiten, wer­den wir den Schul­ter­­schluss mit Deutschland vollziehen, und zwar sofort nach dem Kriegs­eintritt Groß­bri­tan­ni­ens. Nicht früher, um nicht den [britischen] Krieg zu recht­fertigen.“12 Als Hitler die Frist für das Ultimatum, das ursprünglich am 1. Oktober ablaufen sollte, auf den 28. September ver­kürzt hatte, schrieb Ciano am 26. September in sein Tagebuch: „Das ist der Krieg. Gott schüt­ze Italien und den Duce.“ Am 27. September erklärte Italien die „bewaffnete Neutralität“, und am Nachmittag des fol­genden Tages stieg Mussolini in Rom in den Zug nach Rosenheim, wo er am Vormittag des 29. September Hitler traf und mit ihm nach München zur Konferenz der „Gro­ßen Vier“ fuhr. Cianos Zusammenfassung dieses schicksalhaften Zusammentreffens ist zu entnehmen, dass der persönliche Beitrag Mussolinis wichtig, aber nicht ausschlaggebend gewesen ist. Alles war be­reits vor ­Beginn der Konferenz entschieden: Man hatte beschlossen, die Tschechoslo­wakei zu opfern und keine weiteren Probleme zu berühren, die Europa zusätzlich destabilisie­ren konn­ten – weder das Schicksal anderer ethnischer Minderheiten noch die spanische Frage. Cia­no zeigte sich dabei voll Bewunderung für die politischen Fähigkeiten seines Schwie­ger­va­ters; diese Bewunderung verflüchtigte sich allerdings während des Krieges fast ganz, so dass Ciano am 24./25. Juli 1943 im 11 De

Felice: Mussolini il duce, S. 514. Diario, S. 183. Die folgenden Zitate finden sich ebenda, S. 184 und S. 188.

12 Ciano:

Das faschistische Italien und das Münchener Abkommen   67

Faschistischen Großrat gegen Mussolini stimmte – und damit sein eigenes Todesurteil besiegelte. Am 30. September 1938, am Ende der Münchner Kon­fe­renz, schrieb der Außenminister indes über Mussolini: „In seinem großen Geist, der den Ereignissen und Menschen immer voraus ist, ist die Übereinkunft bereits perfekt. Während sich die an­de­ren mit mehr oder weniger formalen Problemen abmühen, ist er daran fast nicht mehr in­ter­es­siert. Er ist schon weiter und bedenkt andere Dinge.“ Mussolini, so scheint es, sah in der Su­detenfrage stets ein ausschließlich deutsches Problem und nie eine Frage mit weiter reich­en­den internationalen Konsequenzen. Wegen seines eige­nen Ansehens und des Ansehens des fa­schistischen Regimes musste er sich als entschei­dungsmächtiger Moderator inszenieren. Er durf­te die Deutschen nicht enttäuschen, aber zugleich die außenpolitischen Interessen der Bri­ten nicht aus den Augen verlieren. Allerdings vermochte er aus der Münchner Konferenz kei­ne dauerhaften Vorteile zu ziehen, im Gegen­teil: Sein Gewicht auf der internationalen Bühne schwand. Dies lag nicht zuletzt daran, dass die Reichsregierung aus der Sudetenkrise den Schluss zog, sie müsse auf den italienischen Bündnispartner keine größeren Rücksichten neh­men und könne in außenpolitischen Fragen handeln, ohne Rom über die eigenen Absichten zu in­formieren. Zugleich litten die Beziehun­gen zu Großbritannien. Die Ambivalenz, mit der Mus­ solini vor und in München auftrat, lie­ßen vor allem Chamberlain am „Duce“ und an der Va­lidität der britisch-italienischen Über­einkunft vom April 1938 zweifeln. De Felice hat in diesem Zusammenhang davor gewarnt, den Faktor Ideologie als ent­schei­den­des Motiv für das Verhalten Mussolinis in München zu unterschätzen. Der „Duce“ und sein Re­gime zogen großen, wenn auch nur kurzfristigen Nutzen aus der zum persönlichen Erfolg Mus­solinis stilisierten Konferenz. Sie sahen über die internationale Schwächung des fa­schis­ti­schen Italien hinweg, weil sie nur an den internen Konsens dachten, der durch München ge­stärkt wurde. Mussolini war an einer solchen „Frischzellenkur“ durchaus gelegen: Der Krieg in Spanien stockte, die Kolonisierung der abessinischen Eroberungen stieß auf Hindernisse, und auch die Erschließung des italienischen Mutterlands hatte nicht den gewünschten Erfolg. Das Regime hatte auf diese Probleme zwischen 1935 und 1938 mit zahlreichen Initiativen ge­ant­wortet, um Nationalismus und Patriotismus anzustacheln, die Zustimmung der Be­völ­ke­rung zu gewinnen und Begeisterung für die Sache des Faschismus zu wecken. München spiel­te dabei eine entscheidende Rolle: Die Rede, die Mussolini nach seiner Rückkehr am Nach­mit­tag des 30. August 1938 auf dem Balkon des Palazzo Venezia hielt, war – wie eine ge­ naue­re Analyse aller dort gehaltenen Reden zeigt – wahrscheinlich die wichtigste, die Klimax al­ler seiner Reden und die letzte, die nicht Reserven und Zweifel weckte. Musso­lini brachte ja auch Frieden und nicht Krieg – wie dann am 10. Juni 1940, als er an gleicher Stelle den Kriegs­ein­tritt Italiens verkündete.13 13 Vgl.

Dogliani, Patrizia: Piazza Venezia. In: Isnenghi, Mario/Albanese, Giulia (Hg.): Gli Italiani in guerra. Bd. IV/1: Il Ventennio fascista. Dall’impresa di Fiume alla Seconda guerra mondiale (1919–1940). Torino 2008, S. 599–606.

68   Patrizia Dogliani Neuere Forschungen bestätigen De Felices These, dass Mussolinis Haltung in München vor al­lem ideologisch begründet gewesen sei. Mehr als bei anderen Gelegenheiten stellte der „Du­ce“ die Außenpolitik in den Dienst der Innenpolitik, die damals vor einer entscheidenden ideo­logischen Wende stand: der Wende zur Rassenpolitik.14 Die Tage der Sudetenkrise wa­ren für Mussolini besonders hektisch – und nur scheinbar von der Krise kaum berührt. Am 16. September verließ der „Duce“ Rocca delle Caminate, vom 17. bis zum 26. September un­ter­nahm er – nur kurz durch einen Zwischenstop in Rom am 22./23. September unterbrochen – ei­ne Reise an die Ostgrenze Italiens, wobei er die größeren Städte und die Schlachtfelder des Ers­­ten Weltkriegs besuchte und am 19. September sogar jugo­ slawischen Boden betrat. Um die­­se, seit längerem vorbereitete Reise antreten zu können, hatte Mussolini sogar von einem so­­fortigen Treffen mit Hitler Abstand genommen. Die Sudetenkrise tauchte in seinen Reden zwar auf, aber sie wurde sehr allgemein und mit Bezug auf ein neues Europa behandelt, das im Werden war. Am 26. September erklärte Mussolini in Verona: „In dieser Woche kann das neue Europa entstehen.“15 In den Reden, die er in diesen Tagen hielt, vor allem nach der An­spra­che in Triest am 18. September, bereitete Mussolini die Italiener auf eine antisemitische Wen­de vor, die seine bereits seit 1935 verfolgte Rassen­ politik vervollständigte. Damit näherte er sich ideologisch dem Dritten Reich an. Zugleich warnte er die NS-Regierung aber – ohne es explizit zu sagen –, dass die im Ersten Weltkrieg gezogenen Grenzen unverletzlich seien. Der „Duce“ und sein Regime gingen auf Distanz zum Großdeutschen Reich; sie bedeuteten Hit­ler, dass sie einen eigenen Kurs verfolgten – einen italienischen Kurs, der aber zu dem des NS-Staates nicht divergent, son­dern parallel verlief. Nach der Münchener Kon­ ferenz, auf der Italien eher passiv geblieben war, wurden jedoch entscheidende außenpolitische Fehler begangen, die das Regime lange vor seiner militärischen Niederlage im Zweiten Weltkrieg in eine tiefe Kri­se stürzten. Aus dem Italienischen von Thomas Schlemmer und Hans Woller

14 Vgl.

hierzu und zu ähnlichen Themen Dogliani, Patrizia: Il fascismo degli italiani. Una storia sociale. Torino 2008. 15 Susmel, Edoardo und Duilio (Hg.): Opera Omnia di Benito Mussolini, Bd. XXIX: Dal viaggio in Germania all’intervento dell’Italia nella Seconda guerra mondiale (1° ottobre 1937-10 ­giugno 1940). 1959, S. 164.

Christoph Boyer

Deutsche Wirtschaftsbeziehungen mit ­Ostmitteleuropa zwischen Kooperation und Beherrschung Einleitung Die folgende Studie fußt auf drei Eingrenzungen bzw. begrifflichen Präzisierungen: Es kommen, erstens, neben den ostmitteleuropäischen, die südosteuropäischen Länder in den Blick: der – im Weiteren als „die Region“ apostrophierte – Gürtel vom Baltikum über Polen, die Tschechoslowakei und Ungarn bis ­Rumänien, Bulgarien und Jugoslawien. Die Zuordnung der ČSR zu dieser Ländergruppe hat zunächst geographische Gründe, der Sache nach stellt die Tschechoslowakei, wie näher auszuführen sein wird, in vergleichender Sicht einen Ausnahme- bzw. ­einen instruktiven Kontrastfall dar. Mit „Wirtschaftsbeziehungen“ sind, zweitens, hier die Handelsbeziehungen gemeint. Spielen sich diese auch in erster Linie zwischen Unternehmen ab, so steht doch auch das umfassendere Handlungsfeld, also die Ökonomien der Nationalstaaten, im Fokus der Aufmerksamkeit. Wo Wirtschaft und Wirtschaftsmacht thematisiert werden, geraten schließlich auch Politik und politische Macht in den Blick. Untersuchungszeitraum ist, drittens, im weiteren Sinn die Zeit zwischen dem späten 19. Jahrhundert und 1938, im engeren Sinn die Zwischenkriegszeit, in der Ostmitteleuropa nicht mehr imperial, sondern nationalstaatlich und national-ökonomisch verfasst war. Weltwirtschaftskrise und NS-Machtergreifung markieren Einschnitte etwa in der Mitte dieser Zeitspanne; im Blick auf das Thema können sie in einen Knoten zusammengezogen werden. Kernzone der folgenden Ausführungen sind die auf diese Zäsur folgenden dreißiger Jahre: die Zeit des Nationalsozialismus. Zwei Thesen lassen sich auf dieser Grundlage formulieren. Erstens: Die Bestrebungen der deutschen Außenhandelspolitik in den zwanziger und vor allem den dreißiger Jahren, die Außenwirtschaft der Länder in der Region auf das Deutsche Reich auszurichten, waren offensichtlich erfolgreich. Wirtschaftliche und, in der Folge, politische Abhängigkeiten konnten installiert werden, weil die Handelsströme, überhaupt die ökonomischen Interessen beider Seiten in wesentlichen Hinsichten komplementär waren. Die Einrichtung eines nationalsozialistischen informal empire machte so bis 1938/39 erhebliche Fortschritte. Zweitens: Die Tschechoslowakei war vor dieser Folie ein Spezial- und Kontrastfall. Es gab, in anderen Worten, keine analoge Komplementarität tschechoslowakischer und deutscher Wirtschaftsinteressen, keine vergleichbare Verzahnung des Handels. Die Ursachen für diese Unterschiede sind, in einem Vergleich der beiden Szenarien, aus den je unterschiedlichen Bedingungskonstellationen abzuleiten. Abschließend

70   Christoph Boyer ist nach dem Stellenwert dieses Befundes für „München“ und die folgende Unterjochung der ČSR durch das nationalsozialistische Regime zu fragen. Wenn diese in den dreißiger Jahren nicht, wie sonst in der Region, auf dem Terrain der Handelsbeziehungen, vorbereitet und in die Wege geleitet wurde – war „München“ dann ein politisch-militärischer Hand- und Gewaltstreich aus heiterem Himmel? Oder aber spielte die Art und Weise, wie die Tschechoslowakei sich der außenhandelspolitischen Umarmung durch Deutschland entzog bzw. wie sie dieser ­entging, womöglich doch eine – vielleicht anderweitig desaströse – Rolle in der Vorgeschichte von „München“?

Die ostmitteleuropäisch/südosteuropäisch-deutschen Handelsbeziehungen Zunächst stellt sich die Frage nach den politisch-ökonomischen Impulsen auf deutscher Seite.1 Ausgangspunkt sind die nationalsozialistischen Ostmittel- und Südosteuropapläne; auf die älteren Traditionen und Kontinuitäten bis 1933 kann lediglich en passant verwiesen werden. Die neueste Forschung hat diese Planungen in eine globalgeschichtliche Perspektive gerückt: sie versteht den nationalsozia­ listischen Kontinentalimperialismus aus der Frontstellung gegen die USA als den Konkurrenten um die Weltherrschaft. Das Deutsche Reich, keineswegs eine „wirtschaftliche Supermacht in Wartestellung“, sah sich mit dem raschen Aufstieg der USA konfrontiert; der Zeitkorridor, in dem der angelsächsischen Dominanz Paroli geboten werden konnte, erschien schmal. Wollte das nationalsozialistische Deutschland nicht, wie die Weimarer Republik, ein leidlich wohlhabender, von amerika­ nischen Krediten penetrierter Satellitenstaat der USA sein, so musste – aus der Zielperspektive der NS-Führung – im Osten Europas das imperiale Hinterland abgesteckt werden. Die exorbitant aggressive Dynamik des Nationalso­zialismus wurzelte also nicht lediglich in konventioneller Großmachtrivalität; vielmehr resultierte sie – und damit auch Hitlers Vabanquespiel – aus der Wahnvorstellung einer existentiellen Bedrohung der „germanischen Rasse“ durch das „Weltjudentum“, das sich im globalen angelsächsischen Kapitalismus camoufliere. Die nationalsozialistischen Großraum-Visionen reichten weit über frühere, mildere Varianten wie die Stresemann-Konzeption eines Marktes für Deutschland im europäischen Osten hinaus. Ziel war die räuberische Aneignung von Lebensraum in einer Folge von Stufen, beginnend mit dem Durchmarsch durch die Nachfolgestaaten, insbesondere Österreich und die Tschechoslowakei, bis in den ferneren Osten. In längerfristiger Perspektive strebte – um Adam Tooze’s einprägsame Formel2 zu zitieren – Hitler nach der Herrschaft über das Land, nicht über 1

Vgl. zum folgenden in strenger Auswahl: Tooze, Adam: Ökonomie der Zerstörung. Die Geschichte der Wirtschaft im Nationalsozialismus. München 2007, S. 19–126. Elvert, Jürgen: Mitteleuropa! Deutsche Pläne zur europäischen Neuordnung (1918–1945). Stuttgart 1999. 2 Tooze: Ökonomie der Zerstörung, S. 28.

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dessen Bewohner: Eroberung und Entvölkerung und Neubesiedlung war also die Devise. Die ersten und nächsten Ziele aber waren wirtschaftliche Penetration und Schaffung von Abhängigkeiten im östlichen Glacis. Das Fernziel eines aus dem globalen Kapitalismus ausgekoppelten Kontinentalimperiums hatte – auch hierauf kann nur en passant verwiesen werden – in globaler Perspektive eine frappierende Parallele im Konzept der japanisch dominierten „Groß-Ostasiatischen Wohlstandszone“: Die politische Rechte Japans strebte im Verein mit militärischen und agrarisch-konservativen Interessengruppen in den dreißiger Jahren, im Kontext der Weltwirtschaftskrise und nach dem Zusammenbruch des japanischen Exports, nach der Ausschaltung liberaler bzw. freihändlerischer Interessen und in Frontstellung gegen die liberalkapitalistischen Westmächte, ein formal empire und eine auf das Zentrum Japan hingeordnete Großraumwirtschaft im „Hinterhof“ des chinesischen Festlands an. Zum kürzerfristigen Anlass für die Umsetzung der nationalsozialistischen OstPläne wurde die Handelsbilanz- und Devisenkrise der Jahre 1933/34. Hjalmar Schacht „löste“ diese bekanntlich, mit Hitlers Rückendeckung, durch den Gewaltstreich eines Schuldenmoratoriums. Die Aussetzung der Zahlungen an die angelsächsischen Devisengläubiger anstelle der Bearbeitung der Krise durch einen Mix aus Währungsabwertung und politischer Annäherung an die Westmächte war die erste manifest aggressive Maßnahme des NS-Regimes nach außen. Sie koinzidierte nicht zufällig mit den ersten Aufrüstungsschritten des Regimes. Ab der Zahlungsbilanzkrise von 1934 gilt die deutsche Handelspolitik gemeinhin als autarkistisch. Faktisch war sie dies allerdings nur partiell, d. h. im Blick auf die Vereinigten Staaten und das britische Empire, teilweise auch gegenüber Frankreich. Der deutsche USA-Handel schrumpfte denn auch bis 1936 auf unbedeutende Reste. Weil die deutsche Wirtschaft ohne Importe von Nahrungs- und Futtermitteln, von Energie und Roh­stoffen jedoch nicht überleben konnte und das NS-Regime ohne diese nicht aufzurüsten imstande war, setzte das Regime nun, im Rahmen des Vierjahrplans, auf die Substituierung der bisherigen Importbeziehungen. In diesem Kontext ist die Suche der deutschen Handelspolitik nach Ersatz in Lateinamerika, aber auch die Forcierung des Handels mit den Agrar- und Rohstoffstaaten in Ostmittel- und Südosteuropa, die bereit waren zur Umstellung ihres Außenhandels auf Clearing, zu verorten. Bis zum Ende der dreißiger Jahre fand somit eine beträchtliche Verschiebung der deutschen Außenwirtschaftsbeziehungen statt; die Grenzen des Umbaus lagen im Wesentlichen in der begrenzten Kaufkraft der Handelspartner. Der „Anschluss“ Österreichs erwies sich in diesem Kontext als nützlich, denn die „Aneignung“ der Österreichisch-Alpinen Montangesellschaft durch die Reichswerke Hermann Göring hatte beträchtlichen Einflussgewinn in diesem Raum zur Folge. Wichtig war nicht zuletzt, dass Deutschland nun mit Wien die Drehscheibe im Südost-Handel beherrschte. Durch den „Anschluss“ stieg etwa die ungarische Importabhängigkeit vom Reich noch einmal signifikant an, auch der deutsche Anteil an den jugoslawischen Importen erhöhte sich deutlich – eine machtpolitisch überaus günstige Situation, die in den folgenden Monaten für neue Handelsverträge nicht nur mit Ungarn genutzt wurde.

72   Christoph Boyer Warum, so ist nun aus ostmittel- bzw. südosteuropäischer Blickrichtung zu f­ ragen, waren die Außenwirtschaftsbeziehungen der Region vergleichsweise unproble­matisch mit denen des Deutschen Reichs zu verzahnen?3 Bedingung der Möglichkeit dieser asymmetrischen Beziehung war der säkulare Modernisierungsrückstand Ostmittel- und Südosteuropas im gesamteuropäischen Kontext. Die Lücke hatte sich seit der industriell-demokratische Doppelrevolution im Westen eher vertieft. Noch um die Wende zum 20. Jahrhundert waren, wie der Blick auf die langfristigen Pfadabhängigkeiten erweist, ungeachtet erster, insulärer Industrialisierungsanstrengungen und einer Intensivierung der Weltmarktinte­ gration durch den Agrarhandel, die Gesellschaften der Region agrarisch. Sie waren geprägt durch eine Kombination von Latifundismus und Minifundismus, d. h. ein hohes Maß an sozialer Ungleichheit; Bürgertum und industrielle Arbeiterschaft waren zahlenmäßig schwach und politisch-sozial-ökonomisch wenig bedeutend. Der Osten Europas stand noch vor dem demographischen Übergang; er trug, wenn auch in unterschiedlich gravierenden Ausprägungen, die Bürde der agrarischen Überbevölkerung. Folgen des demographischen Drucks waren hohe Arbeitslosigkeit und Massenarmut. Die Binnenmärkte waren unterentwickelt, die Volkswirtschaften der Region waren von westlichen Kapitalimporten abhängig. Der Osten lieferte – in dieser Formel ließen sich die Abhängigkeitsbeziehungen kondensieren – in den industrialisierten Westen des Kontinents Agrargüter; er bezog von dort Industrieprodukte und Kapital. Einzig in Deutsch-Österreich und in den böhmischen Ländern gelang der industrielle Durchbruch; in Böhmen existierte bekanntlich seit dem 19. Jahrhundert eine hochentwickelte bürgerliche Gesellschaft in zwei nationalen Komponenten. An diesen Strukturen änderte sich während der gesamten Zwischenkriegszeit nichts Erhebliches. Ein Erbübel war in der Region nach 1918 bekanntlich die Aufsplitterung der Habsburgermonarchie; die Kleinräumigkeit der neuen Staatenwelt hatte in den nach 1918 entstandenen Volkswirtschaften, wo in den zwanziger Jah3

Vgl. zum folgenden in strikter Auswahl: Jančík, Drahomír: Německo a Malá Dohoda [Deutschland und die Kleine Entente]. Prag 1990. Ders.: Třetí říše a rozklad malé dohody. Hospodářství a diplomacie v Podunají v letech 1936–1939 [Das Dritte Reich und der Zerfall der Kleinen Entente. Wirtschaft und Diplomatie im Donauraum in den Jahren 1936–1939]. Praha 1999. Ders.: Zwischen der nationalbedingten Autarkie und der internationalen Zusammenarbeit. Tschechische Wirtschaftspolitik in der neugeborenen tschechoslowakischen Republik. In: Kubů, Eduard/Schultz, Helga (Hg.): Wirtschaftsnationalismus als Entwicklungsstrategie ostmitteleuropäischer Eliten. Die böhmischen Länder und die Tschechoslowakei in vergleichender Perspektive. Praha/Berlin 2004, S. 251–264. Tooze: Ökonomie der Zerstörung, S. 113–124. Elvert: Mitteleuropa, v. a. S. 167–307. Bérend, Ivan T.: An Economic History of Twentieth Century Europe. Economic Regimes from Laissez-faire to Globalization. Cambridge/New York 2006, S. 92–132. Ders.: Decades of Crisis. Central and Eastern Europe before World War II. Berkeley/Los Angeles/London 1998. Bernecker, Walther: Europa zwischen den Weltkriegen 1914–1945. Stuttgart 2002, S. 231–265, S. 469–474. Stegmann, Dirk: „Mitteleuropa“ 1925–1934. Zum Problem der Kontinuität deutscher Außenhandelspolitik von Stresemann bis Hitler. In: Ders./Wendt, Bernd-Jürgen/Witt, Peter-Christian (Hg.): Industrielle Gesellschaft und politisches System. Beiträge zur politischen Sozialgeschichte. Festschrift für Fritz Fischer zum 70. Geburtstag, S. 203–221. Teichert, Eckart: Autarkie und Großraumwirtschaft in Deutschland, 1930–1939. München 1984.

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ren ohnehin Marktwirtschaft, Goldstandard und Freihandel schwer erschüttert waren, eine permanente Absatzkrise zur Folge. Zum Teil war dies wohl, aus Gründen der großen Politik, unausweichlich; partiell war jedoch auch der Wirtschaftsnationalismus der neuen Nationen für die Entwicklung verantwortlich: Die politische Selbständigkeit sollte durch die wirtschaftliche Emanzipation flankiert und komplettiert werden. Dem Wirtschaftsnationalismus leisteten die Großmächte Vorschub: Sie gewährten den politischen Träumen der kleinen Nationen in Gestalt der verspäteten nationalen Revolutionen freie Bahn, denn die nationale Revolution war allemal der sozialen vorzuziehen. Der Wirtschaftsnationalismus beinhaltete aber auch eine Entwicklungsstrategie. Nationaler Protektionismus war das Universalheilmittel, das den Status der Region in der internationalen Arbeitsteilung aufwerten und sie, durch importsubstituierende Industrialisierung, aus der Rolle des bloßen Agrargüter- und Rohmaterialexporteurs bzw. des Importeurs von Fertigwaren aus dem Westen befreien sollte. Die Umstellung von Exportorientierung auf Selbstversorgung begegnet nach 1918 in der Region ziemlich uniform. Allerdings: Waren die Wachstumsraten der neuen Leichtindustrien – Textil und Kleidung, Leder, Papier, Glas und anderer – auch nicht unbeträchtlich, so änderte der auf den ersten Blick imponierende Erfolg der Strategie der Importsubstituierung doch im Grundsatz nichts am binneneuropäischen West-Ost-Entwicklungsgefälle. Die Agrarwirtschaft blieb der wichtigste Wirtschaftssektor. Während der Osten nun die zweite industrielle Revolution nachvollzog, forcierte der Westen bereits neue Leitsektoren und Branchen. Auch der Strom der Auslandsanleihen, der sich, ab 1922, nach der Währungsstabilisierung, in die Region ergoss, bewirkte keinen Wandel. Er erhöhte drastisch die Auslandsverschuldung der Volkswirtschaften, nicht jedoch die Produktivität und die internationale Konkurrenzfähigkeit der mit diesen Krediten aufgestellten Exportindustrien, die die Rückzahlung hätten gewährleisten können. Die Weltwirtschaftskrise wirkte sich für die vorwiegend agrarischen Volkswirtschaften der Region besonders verheerend aus: Das Bestreben, den Verfall der Agrar­preise durch Ausweitung der Produktion aufzufangen, führte in eine Abwärtsspirale der Einkünfte, welche die Handels- und Zahlungsbilanzen schwer in Mitleidenschaft zog. Während im Westen Europas die Krise zum Anlass für Strukturbereinigung und technologischem Wandel wurde, verhinderte in der Region der Kapitalmangel – die westlichen Auslandskredite wurden zu Beginn der Krise abgezogen – die weitere Modernisierung von Produktionswirtschaft und Infrastruktur. Die Verschlechterung der Terms of Trade und die zunehmende Verteuerung der aus dem Westen importierten Industriegüter führten Osteuropa auf den Pfad des gesteigerten Protektionismus in Gestalt von Devisen- und Außenhandelsrestriktionen. In der ersten Hälfte der dreißiger Jahre suchte die Region also das Heil in einer Revitalisierung der in der ersten Nachkriegskrise erprobten protektionistischen Notmaßnahmen: Moratorien, Devisenkontrollen, Importzölle auf und Quotierung bzw. Einfuhrverbote für industrielle Konsumgüter sowie ­variable Devisenkurse. Im Interesse des Überlebens wurde Ostmitteleuropa nun zunehmend von der Außenwelt isoliert – Impulsgeber war der energisch inter-

74   Christoph Boyer ventionistische Staat. Dieser subventionierte auch die Landwirtschaft. Den verbleibenden Außenhandel stellten die Länder der Region auf Clearing, d. h. auf das Prinzip Naturaltausch um; dies wiederum setzte verstärkte staatliche Kontrollen des Außenhandels voraus. Die Demokratie war, aus einer Mehrzahl von Gründen, in der Region bereits in den zwanziger Jahren schwach. Die Entwicklung verlief, wesentlich unter dem Einfluss der Krise, vom nationaldemokratischen Aufbruch der Nachkriegsjahre zum nationalistischen, auch wirtschaftsnationalistischen und stark staatsinterventionistischen Autoritarismus. Die mangelnden gesellschaftlichen und kulturellen Voraussetzungen für eine Demokratie nach dem Muster von Westminster leisteten dem Vorschub. Die ostmittel- und südosteuropäischen Regime wiesen ein breites Spektrum von Formen und Varianten auf, alle aber waren sie antiliberal, antiparlamentarisch und antikommunistisch – kurz: in der Wolle gewirkt „rechts“. Sie basierten, ungeachtet mannigfacher rhetorischer Anleihen beim Faschismus, nicht auf der genuin faschistischen Mobilisierung der Massen; vielmehr stützten sie sich auf traditionale Eliteformationen in Armee und Bürokratie und tendierten zur Exklusion ethnisch-nationaler Minderheiten. Handelspolitische Autarkie und Abschließung vor Weltmarktkonkurrenz allein waren als Sanierungsstrategien jedoch nicht hinreichend. Die Abschottung gegen den Weltmarkt war keine vollständige, weil importsubstituierende Industrialisierung die Selbstversorgung nicht umfassend gewährleisten konnte – durchschlagende Erfolge des Entwicklungs- und Modernisierungsprogramms wurden vom Kapitalmangel und von der maroden Infrastruktur, von Defiziten im Bildungs­ wesen und durch den Mangel unternehmerischer Kompetenzen verhindert. Weil also ökonomische Selbstgenügsamkeit nirgendwo in der Region erreicht wurde und die Länder der Region Importe weiterhin benötigten, waren in Gegenrichtung, auch weiterhin Exporte erforderlich – nun allerdings nicht mehr im Kontext des Welthandels, sondern in einem von diesem abgeschotteten Wirtschaftsraum. Eine solche regionale ökonomische Einheit wurde zwischen 1934 und 1938 durch das nationalsozialistische Deutschland eingerichtet und mit der deutschen Großraumwirtschaft verzahnt: ein paralleler und nach seinen eigenen Regeln, auf der Basis des Clearing funktionierender Markt. Südosteuropa exportierte, auf blockadesicheren Überlandstraßen, Agrarprodukte und kriegswichtige Rohstoffe ins Deutsche Reich. Die Güterströme zwischen diesem und den Ländern der Region waren komplementär; ebendies galt für die ökonomischen Interessen der Beteiligten, die auch jenseits von Wirtschaft und Wirtschaftspolitik, im Bereich der Politik Geistesverwandte waren. Die Einspeisung von Agrargütern und kriegswichtigen Rohstoffen in die NSRüstungswirtschaft, von der die Staaten der Region sich die Behebung der Agrarkrise erwarteten, wurde Deutschlands Handelspartnern zu außerordentlich vorteilhaften Bedingungen offeriert – weit günstigeren als denen des Weltmarkts. Das deutsch-ungarische Handelsabkommen vom 21. Februar 1934 war Vorbild für die Verträge Deutschlands mit Jugoslawien, Bulgarien und Rumänien. Deutschland nahm auf dieser Grundlage umfangreiche Lieferungen an Getreide und Vieh entgegen. Das Reich reservierte Importquoten für diese Lieferungen bzw. garantierte

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es die Teilerstattung hoher Zölle. Der ungarische Staat zahlte seinen Exporteuren Subventionen; diese Zahlungen wurden wiederum von Deutschland vergütet, unter Verrechnung der in Ungarn, in Folge der Devisenregulierung, eingefrorenen deutschen Guthaben. Die von Deutschland bewilligten Preise für ungarische Exportgüter lagen, wie erwähnt, über den Weltmarktpreisen. Ungarn garantierte Exportquoten für die in Gegenrichtung gelieferten deutschen Industriegüter; diese waren nicht in Devisen zu bezahlen, sondern konnten per Clearing verrechnet werden. Die ungarischen Agrarlieferungen wurden allerdings nur zu 90  Prozent gegen deutsche Industrielieferungen kompensiert; die restlichen zehn Prozent konnte Ungarn für den Einkauf von Rohmaterial oder anderer strategischer Güter, inklusive solcher aus Hartwährungsländern, nutzen. Auf dieser vertraglichen Grundlage stieg das Volumen des deutsch-ungarischen Handels binnen kurzem deutlich. Die ungarischen Agrarexporte ins Reich wuchsen binnen eines Jahres auf mehr als das Doppelte, der deutsche Anteil am ungarischen Export erhöhte sich von 11 Prozent (1933) auf 22 Prozent (1934). In den Jahren 1934 und 1935 folgten ähnliche Verträge Deutschlands mit Jugosla­wien, Bulgarien und Rumänien, die Lieferungen stiegen auch hier signifikant an; sie ersetzten das zwischen 1929 und 1937 ebenso signifikant abnehmende Volumen des deutschen Handels mit Österreich und der Tschechoslowakei. Allerdings: Was hier auf den ersten Blick den Anschein generöser und uneigennütziger Hilfe erweckte und den Handelspartnern des Deutschen Reichs Erlöse über Weltmarktniveau und zwar nicht nationale, aber doch regionale Autarkie ermöglichte, band und schuf Abhängigkeiten; mit der Annahme der Lockvogel-Bedingungen wurde Südosteuropa zum informal empire des Deutschen Reichs. Die Einpassung der Region in Hitlers Kriegsvorbereitungen konservierte nicht zuletzt auch obsolete Agrarstrukturen. Zudem: Bereits 1935–1936, als im Zeichen des Vierjahrplans in Deutschland „Kanonen statt Butter“ angesagt waren und schlechte Ernten den deutschen Bedarf an Agrarimporten weiter erhöhten, wurde die Hilfe zur Zwangsjacke. Sie diente nun zur Erpressung der Länder, deutsche Bedürfnisse zu erfüllen. Als bis 1937 die Weltmarktpreise für Weizen, Roggen und Fleisch wieder deutlich anstiegen und der Weltmarkt eigentlich bessere Möglichkeiten eröffnete, versuchten Ungarn, Polen und Jugoslawien, den Handel mit Deutschland wieder zu ­begrenzen. Die Konflikte wie auch die einzelnen Schritte der Handelsdiplomatie sind hier nicht von Belang. Von Bedeutung hingegen ist, dass die Exporte aus der Region nach Deutschland immer weniger mit industriellen Lieferungen beantwortet wurden. Bis Ende 1936 häuften sich etwa 500 Millionen RM Clearingschulden Deutschlands bei den Südosteuropäern an; mit der Erfüllung seiner Verpflichtungen in Rohmateriallieferungen war das Reich im Rückstand.

Die tschechoslowakisch-deutschen Handelsbeziehungen Die Erste Tschechoslowakische Republik wurde bis bzw. bis kurz vor „München“ nicht durch den skizzierten Mechanismus in Abhängigkeit vom nationalsozialisti-

76   Christoph Boyer schen Deutschland gebracht. Wirtschaft und Politik der Tschechoslowakei waren anders strukturiert; sie folgten anderen Gesetzmäßigkeiten. Die involvierten Interessenlagen und die Bedürfnisse unterschieden sich von den sonst in der Region vorherrschenden – ein Umstand, der offensichtlich die sonst in der Region maßgebliche „Komplementarität“ verhinderte. Was bedeutet dies im Einzelnen? Die Frage, ob und wie die Tschechoslowakei sich in das ostmittel- und südosteuropäische Muster der Krisenreaktion einordnen lässt, ist mit Blick auf die „politökonomische Konfiguration“ der Ersten Tschechoslowakischen Republik zu beantworten; zunächst sind also die bekannten, aber in diesem Zusammenhang bedeutsamen Fakten und Faktoren noch einmal aufzurufen: Zwar war, zumindest im böhmisch-mährischen Westteil des Landes, der Agrarsektor – noch – von vergleichsweise großem ökonomischem und politischem Gewicht. Ungeachtet dessen war die ČSR im Wesentlichen ein Industrieland; hinsichtlich ihrer industrielltechnischen Modernität nahm sie im gesamteuropäischen Maßstab immerhin eine mittlere Position ein.4 Die Tschechoslowakei verfügte über eine Marktwirtschaft, und ein parlamentarisches System eigentümlichen Zuschnitts, auf der Grundlage der prononcierten Versäulung einer differenzierten pluralistischen Gesellschaft und einer komplexen Organisation der sozialökonomischen Interessen.5 Das Industrieland Tschechoslowakei war in außerordentlich hohem Maß abhängig vom industriellen Export.6 Dieser war sozusagen das „Damoklesschwert“ der Ersten Republik: Die ČSR hatte ein Viertel der Bevölkerung der Donaumonarchie, jedoch an die 80 Prozent, in einigen Branchen sogar bis zu 90 Prozent ihres – auf das Gesamtabsatzgebiet der Monarchie abgestimmten – Industriepotentials geerbt.7 Folge der beschränkten Aufnahmefähigkeit des Binnenmarkts war, Vgl. Kubů, Eduard/Pátek, Jaroslav (Hg.): Mýtus a realita hospodářské vyspělosti Československa mezi světovými válkami [Mythos und Realität der wirtschaftlichen Reife der Tschechoslowakei in der Zwischenkriegszeit]. Praha 2000. 5 Vgl. hierzu etwa Heumos, Peter: Die große Camouflage? Überlegungen zu Interpretationsmustern der kommunistischen Machtübernahme in der Tschechoslowakei im Februar 1948. In: Schmidt-Hartmann, Eva (Hg.): Kommunismus und Osteuropa. Konzepte, Perspektiven und Interpretationen im Wandel. München 1994, S. 221–241. 6 Vgl. zum folgenden allgemein: Kosta, Jiři: Die sozialökonomische Entwicklung der ČSR. In: Bosl, Karl (Hg.): Die demokratisch‑parlamentarische Struktur der Ersten Republik. München/ Wien 1975, S. 7–33. Pryor, Frederic L./Pryor, Zora P.: Foreign Trade and Interwar Czecho­ slovak Economic Development, 1918–1938. In: VSWG 62 (1975), S. 500–533. Pryor, Zora P.: Außenhandel und Außenhandelspolitik. In: Mamatey, Victor S./Luža, Radomir (Hg.): Geschichte der Tschechoslowakischen Republik, 1918–1948. Wien 1980, S. 211–216. Sláma, Jiří: Die Außenhandelsbeziehungen der ČSR mit Deutschland. In: Bosl, Karl (Hg.): Gleichgewicht ‑ Revision‑ Restauration. München, Wien 1976, S. 217–233. Teichova, Alice: An Economic Background to Munich. Cambridge 1974. Dies.: Wirtschaftsgeschichte der Tschechoslowakei 1918–1980. Wien-Köln-Graz 1988. Witt, Kurt: Wirtschaftskräfte und Wirtschaftspolitik in der Tschechoslowakei. Leipzig 1938. 7 Olšovský, Rudolf: Světový obchod a Československo [Der Welthandel und die Tschechoslowakei], 1918–1938. Praha 1961, S. 127. – Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes (im Folgenden: PA AA AA). IIb, Wirtschaft 6, Tschechoslowakei, Band 1, Bericht der Gesandtschaft Prag vom 7. 1. 1927. 4

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dass im Durchschnitt aller Branchen 30 bis 40 Prozent der Industrieproduktion – in der Metallindustrie über 50, in der Textil- und der Glasindustrie deutlich über 70 Prozent – ausgeführt werden mussten.8 Dass die ČSR sich mit ihrer industriellen Produktion, die vor 1918 zu 60 Prozent innerhalb der Monarchie abgesetzt worden war, zum großen Teil auf den Export verwiesen sah, war Folge der Aufteilung des Habsburgerreichs nach politischen Gesichtspunkten und der hieraus resultierenden Disproportionen.9 Auch die Tschechoslowakei war Bestandteil der kleinräumigen nachhabsburgischen Staatenwelt, die nicht zuletzt aufgrund dieser Kleinräumigkeit in den zwanziger Jahren latent, in der Weltwirtschaftskrise manifest von einer hartnäckigen ökonomischen Strukturkrise heimgesucht wurde. Anders als in den anderen Ländern der Region war für die Tschechoslowakei allerdings nicht die Forcierung der agrarischen, sondern in erster Linie die der Industrieausfuhr eine (Über-)Lebensfrage. Dies war so aus dem Blickwinkel der im Deutschen Hauptverband der Industrie der Tschechoslowakei (DHI) zusammengeschlossenen, prononciert exportorientierten böhmisch-deutschen Leichtindustrie; aber auch im Zentralverband der tschechoslowakischen Industriellen, der Gesamtvertretung der Unternehmer der Republik, in der der nationaltschechischen Industrie zentrale Bedeutung zukam, war von Anbeginn das Bewusstsein lebendig, dass sich hier ein existentielles Problem stellte.10 Wie und in welchem Ausmaß gelang es den Industrie-Exportinteressen, sich im Kräftespiel der tschechoslowakischen Politik zur Geltung zu bringen?11 Die Staats­ politik war nicht ausschließlich, aber doch in einer maßgeblichen Strömung wirtschaftsnationalistisch; in dieser Hinsicht unterschied sich die Tschechoslowakei also nicht grundsätzlich von den anderen Ländern in der Region. Ziel des Wirt  8 Teichova:

Wirtschaftsgeschichte, S. 21. Olšovský: Světový obchod (wie Anmerkung 7), S. 119, 124 und 127.   9 PA AA, IIb, Wirtschaft 6, Tschechoslowakei, Band 1, Bericht der Gesandtschaft Prag vom 7. Januar 1927. Vgl. auch Boyer, Christoph: Das Deutsche Reich und die Tschechoslowakei im Zeichen der Weltwirtschaftskrise. In: VfZ 39 (1991), S. 551–587, insbesondere S. 554 ff. 10 So die Ausführungen auf der Vollversammlung des Zentralverbands am 9. Mai 1919: Vgl. den Bericht in der Tribuna vom 10. Mai 1919. 11 Vgl. zur tschechoslowakischen Wirtschaftspolitik der Zwischenkriegszeit allgemein in strenger Auswahl und über die in Anmerkung 6 hinaus angeführte Literatur: Kubů, Eduard: Vom Kommen und Gehen des ausländischen Kapitals in der Tschechoslowakei. In: Günther, Jutta/ Jajesniak-Quast, Dagmara (Hg.): Willkommene Investoren oder nationaler Ausverkauf? Ausländische Direktinvestitionen in Ostmitteleuropa im 20. Jahrhundert. Berlin 2006, S. 71–84. Jančík, Drahomir: Autarkie. In: Kubů/Schultz (Hg.): Wirtschaftsnationalismus (wie Anmerkung 3). Teichova, Alice: Kleinstaaten im Spannungsfeld der Großmächte. München 1988. Boyer, Christoph: Nationale Kontrahenten oder Partner? Studien zu den Beziehungen zwischen Tschechen und Deutschen in der Wirtschaft der ČSR (1918–1938). München 1999. Ders.: Nationality and competition: Czechs And Germans in the Economy of the First Czechoslovak Republic (1918–1938). In: Teichova, Alice (Hg.): Economic Change and the National Question in Twentieth Century Europe. Cambridge 2000, S. 262–276. – Ders.: Zwischen Ökonomie und Wirtschaftsnationalismus. Der Zentralverband der tschechoslowakischen Industriellen und der Deutsche Hauptverband der Industrie in der Ersten tschechoslowakischen Republik. In: Kubů, Eduard/Schultz, Helga (Hg.): Wirtschaftsnationalismus als Entwicklungsstrategie ostmitteleuropäischer Eliten. Die böhmischen Länder und die Tschechoslowakei in vergleichender Perspektive. Praha-Berlin 2004, S. 157–167.

78   Christoph Boyer schaftsnationalismus war auch hier die Ergänzung der 1918 errungenen Eigenstaatlichkeit durch die ökonomische Unabhängigkeit nach außen, gegen andere National-Ökonomien. Dies implizierte in erster Linie, unter der Devise „Los von Wien“, die Dissoziierung von der früheren Kapitale der Monarchie, die in der Habsburger Zeit auch Steuerungszentrale der böhmisch-mährischen Wirtschaft gewesen war. Ein hochrangiges Ziel war auch die Abkoppelung von Deutschland als dem traditionell wichtigsten Handelspartner des böhmisch-mährischen Raums und die Umorientierung der Handelsbeziehungen auf die Westmächte, im Sinn einer Gleichrichtung der politischen und der ökonomischen Loyalitäten im Rahmen von „Versailles“. In vielen Hinsichten blieben die Pläne und Konzepte einer Abschließung und Abkopplung des neuen Staates von „Wien“ und von Deutschland allerdings Stückwerk bzw. papierene Konstruktion.12 Zwar war die – politisch potente – Interessenvertretung der Agrarwirtschaft, ähnlich wie in den anderen Staaten der Region, antifreihändlerisch, ja umfassend protektionistisch gesinnt; es gelang ihr auch, Agrarzölle und andere agrarprotektionistische Maßnahmen durchzusetzen. Durchwegs allerdings stand der Agrarprotektionismus im Widerstreit mit den freihändlerisch orientierten industriellen Interessen. Im Einzelnen ist hier das von den komplexen und unübersichtlichen Konstellationen der Innenpolitik gesteuerte Schwanken zwischen den Konzeptionen nicht von Belang. Im Konflikt der agrarischen Schutz- und der industriellen Freihandelsinteressen war das Standing der Industrie letztlich doch recht solide: vor dem Hintergrund der ehernen Tat­ sache, dass dem gebieterischen Zwang zum Export schlechterdings nicht zu entkommen war, war dies kaum verwunderlich. Die Weltwirtschaftskrise änderte an dieser Konstellation im Grundsatz nichts; sie arbeitete lediglich die Konturen noch schärfer heraus. War die Krise im rudimentär industrialisierten Ostmittel- und Südosteuropa überwiegend Agrarkrise, brachte sie in der Region vorrangig einen jähen Abschwung im Agrarexport und in der ländlichen Beschäftigung mit sich, so war sie in der ČSR Agrar- wie Industriekrise gleichermaßen; sie manifestierte sich hier in erster Linie als tiefer Einbruch im industriellen Export und in der Industriebeschäftigung. Die tschechoslowakische Antwort auf die Herausforderung ähnelte, zumindest auf den ersten Blick und teilweise, den Maßnahmen der Nachbarn: Marktregelung, generell Hochregulierung im Innern sowie verstärkte Abschließung nach außen. Der Agrarhandel wurde kontrolliert, ebenso der Devisenverkehr; die Zollpolitik wurde protektionistischer. Dieser krisenbedingte Interventionsschub realisierte sich allerdings kaum jemals in wohlüberlegten, konsistenten und längerfristig angelegten Strategien – eher in „Dahinwursteln“. Die Industrie setzte zur Lösung ihrer Absatzprobleme auch nicht in erster Linie auf eine Stimulierung der Binnennachfrage seitens der öffentlichen Hand, sondern, wie aus einer Flut von Memoranden, öffentlichen Erklärungen etc. hervorgeht, in erster Linie auf die Wiederbele12 In

vielen, aber nicht in allen Hinsichten: Die Nostrifizierung etwa, d. h. die „Heimholung“ des Industrie- und Bankenkapitals aus Wien zeitigte durchaus Erfolge.

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bung des internationalen Handels im gemäßigt freihändlerischen Geist. Nicht Handelsprotektionismus bzw. Autarkiestreben konnte in dieser Perspektive den industriellen Export wiederankurbeln; angesagt war vielmehr die Bildung größerer Wirtschaftsgebiete, in deren Rahmen der Handel, womöglich auch die Produktion, aufeinander abgestimmt sein sollte.13 Da dies in erster Linie handelsund zollpolitische Übereinkünfte mit den anderen Nachfolgestaaten voraussetzte,14 begrüßte der Zentralverband der tschechoslowakischen Industriellen z. B. 1936 den Hodža-Plan einer Integration Mitteleuropas.15 Schon vorher war, auf den Fundamenten der Kleinen Entente, die Formierung eines regionalen Wirtschaftsblocks ventiliert worden, der mittels Zollvergünstigungen den Donauraum als wirtschaftliche Einheit erhalten bzw. wiederherstellen sollte. Erfolgreich waren diese Bestrebungen zur Wiederbelebung des „Habsburger Wirtschaftsraums“ nur in bescheidenem Maß. Die Belange und Interessen der involvierten Länder waren zu heterogen; maßgeblich war letztlich das Bedürfnis der Agrarstaaten der Re­ gion, ihre neuen – und fragilen – Industrien gegen tschechoslowakische Fertig­ warenimporte zu schützen. War die ostmittel- und südosteuropäische Handels­politik mit dem Kristallisationskern der Kleinen Entente erste Priorität, so wurde nun aber auch die – auch aus politischen Gründen wünschenswert erscheinende – Ausweitung des Handels mit „dem Westen“ vorangetrieben, des Weiteren die Erschließung der „großen, freien, entfernten Märkte“ in den Ländern außerhalb des Clearingbereichs, insbesondere in Übersee; angesagt waren der Ausbau des Handelsvertragssystems und die Einwerbung neuer Handelspartner.16 Ökonomische und wirtschaftsgeographische Umstände versagten allerdings auch dieser Weltmarktkonzeption größere Erfolge: Zur Schranke wurde, zum einen, die kurz- und mittelfristig kaum umzupolende räumliche Orientierung des Außenhandels auf Mitteleuropa. Eine Barriere war, zweitens, der in der Krise aufblühende Nationalegoismus und Protektionismus der prospektiven Handelspartner. Hinzu kam, drittens, das mangelnde Standing einer Industrie von mittlerem Entwicklungsniveau auf dem Weltmarkt. Die Qualität der tschechoslowakischen Exporte war medioker; dies galt ungeachtet des Umstands, dass die „altmodische“ von Leichtindustrieexporten dominierte tschechoslowakische Außenhandelsstruktur sich in den dreißiger Jahren moder13 Bericht

zur Sitzung des handelspolitischen Komitees des Zentralverbands am 17. 9. 1936. In: Observer 18 (1936), S. 259 f. Rede Karl Janovskys: Vollversammlung des Deutschen Hauptverbands der Industrie, Kreis Karlsbad, im Juni 1936 (ohne Tag, in: Zeit vom 11. 6. 1936). Archiv české národní banky (Archiv der tschechischen Nationalbank, im Folgenden: AČNB). ŽB, S VII/i-1-I, 576, Rede Mühligs auf dem Sprechtag des DHI in Troppau am 16. 11. 1937. 14 Rede Jaroslav Preiss’, Vollversammlung des Zentralverbands am 25. Juni 1935. In: Observer 17 (1935), S. 161 f., 164 ff. 15 Bericht zur Sitzung des handelspolitischen Komitees des Zentralverbands am 27. März 1936. In: Observer 18 (1936), S. 116 f. 16 Rede Mixas auf der Gesamtstaatlichen Wirtschaftskonferenz der volkswirtschaftlichen Gebietskörperschaften am 14. 4. 1935 in Prag. In: Observer 17 (1935), S. 99–101. Bericht zur ­Sitzung des handelspolitischen Komitees des Zentralverbands am 26. 10. 1936, in: Observer 18 (1936), S. 298 f.

80   Christoph Boyer nisierte, d. h. hin zu Investitions- und schwerindustriellen Gütern, zu Chemie, Maschinenbau etc. verschob. Für den „Habsburger Wirtschaftsraum“ hingegen war die tschechoslowakische Exportwirtschaft „zu gut“: für die jungen Industrien der Nachbarn in der Region stellten sie, wie bereits erwähnt, eine Bedrohung dar. Wo für diese Importe unabdingbar waren, wurden die Einkäufe eher bei deutschen Handelspartnern als bei tschechischen getätigt. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass beide Strategien der tschechoslowakischen Handelspolitik, die regionale wie die globale, wenig erfolgreich waren – allerdings wurden sie auch nicht sonderlich energisch verfolgt. Zentrale Ursache hierfür war die Grundkonstellation der tschechoslowakischen Innen- und Wirtschaftspolitik: Kern der Regierungsmacht war das Kartell der Agrarier und der parlamentarischen Vertretung der Arbeiterschaft; die tschechoslowakische Politik war in den dreißiger Jahre im wesentlichen ein trade-off zwischen den Belangen dieser beiden Gruppierungen. Weil nun die Industrie peripher zum Zentrum stand und von diesem die Berücksichtigung industrieller Belange nicht unbedingt erwarten durfte, erschienen den maßgeblichen industriellen Kreisen staatliche Eingriffe in die Wirtschaft eher „riskant“.17 Im Geist des „Reservatsdenkens“ forderten die Industrieverbände, auf den ersten Blick irritierend, auch und gerade auf dem Höhepunkt der Krise ausdrücklich, wiederholt und im Ganzen auch erfolgreich Anerkennung der Unternehmerfreiheit und Abstinenz des Staates zumindest von direkten Eingriffen in die Wirtschaft. Als vernünftig erschienen in dieser Perspektive, wie bereits angesprochen, die Schleifung der in der Krise aufgerichteten Handelshemmnisse und die Entbürokratisierung des Ausfuhrverfahrens; das Instrumentarium bürokratischer Wirtschaftsregulierung – Devisenbewilligung, Clearing, Kontingentierung und Kompensationen – hingegen galt als kontraproduktiv.18 Hinsichtlich der probaten Instrumente im einzelnen herrschte Dissens: So plädierte die Exportindustrie für eine Abwertung der Krone, als Vehikel zur Steigerung der Konkurrenzfähigkeit auf den Auslandsmärkten, während die Agrarwirtschaft und eine andere, um die Gewerbebank zentrierte Industrie17 Die

dringend erwünschte, auch durch eine Ausweitung des inneren Marktes nur unvollkommen zu kompensierende Belebung des Exports wurde durch die „industriefeindliche Einstellung maßgebender Faktoren in der Gesetzgebung und Verwaltung“ behindert; hier sah sich die Industrie in Opposition zu „einer geschlossenen, fast feindlichen Phalanx“ der Agrarier und der Linken. Vgl. die Rede von Jaroslav Preiss auf der Vollversammlung des Zentralverbands am 25. Juni 1935. In: Observer 17 (1935), S. 161 f., 164 ff.. Entschließung der Ortsgruppe Warnsdorf des Deutschen Hauptverbands der Industrie in der Tschechoslowakei auf ihrer Jahreshauptversammlung am 18. März 1935. In: Mitteilungen des Deutschen Hauptverbandes der Industrie 16 (1935), S. 116. 18 In diesem Sinn eine Vielzahl von Stellungnahmen, vgl. etwa: Rede Josef Max Mühligs auf der Vollversammlung des Zentralverbands der tschechoslowakischen Industriellen am 19. Mai 1932. In: Mitteilungen des Deutschen Hauptverbandes der Industrie 13 (1932), S. 259–262. – Bericht zur Sitzung des handelspolitischen Komitees des Zentralverbands am 17.September 1936. In: Observer 18 (1936), S. 259 f. Rede Karl Janovskys, Vollversammlung des Deutschen Hauptverbands der Industrie, Kreis Karlsbad, im Juni 1936 (ohne Tag, in: Zeit vom 11. Juni 1936). AČNB, ŽB, S VII/i-1-I, 576, Rede Mühligs auf dem Sprechtag des DHI in Troppau am 16. November 1937.

Deutsche Wirtschaftsbeziehungen mit Ostmitteleuropa   81

gruppe Währungsstabilität präferierten: der Außenkurs der Krone sollte im Interesse des politischen Prestiges also hochgehalten, der Export sollte durch staatliche Subventionen stimuliert werden. Jenseits der Details ist von Bedeutung, dass eine energische Antikrisenpolitik zwischen diesen Konfliktfronten zerrieben wurde; zwei späte und zaghafte Abwertungen verpufften weitgehend unwirksam. Festzuhalten bleibt, erstens, dass für die Tschechoslowakei der industrielle Export und dessen Förderung zentral, elementar und essentiell war: Dies war der erste markante Unterschied zur Region sonst. Festzuhalten ist des weiteren, dass die tschechoslowakische Industrie und in ihrem Gefolge die staatliche Wirtschaftspolitik das Ziel einer Stimulierung des Industrieexports mit gemäßigt freihändlerischen Mitteln verfolgte. Hierin lag der zweite Unterschied zur Region. Festzuhalten ist, drittens, dass die Exportoffensive unterschiedliche geographische Orientierungen durchspielte. Dass hier den Handelsbeziehungen zu Deutschland eine weniger wichtige Rolle zukam als in der Region sonst, markiert einen dritten ins Auge fallenden Unterschied. Wie fügten sich die deutsch-tschechoslowakischen Handelsbeziehungen in den skizzierten Rahmen? Dass die Handelsverflechtung der böhmischen Länder mit Deutschland traditionell überaus eng war, dementiert auf den ersten Blick den soeben vorgestellten Befund. Dieser gilt auch für die Jahre nach 1918. Bedeutsam ist, dass die Handelsbeziehungen zwischen Deutschland und der ČSR – im Gegensatz zu denen beider Staaten mit den Ländern des europäischen Ostens und Südostens – die für die ökonomische Verflechtung zwischen industriell entwickelten Ländern charakteristischen Züge aufwiesen: der Warenaustausch umfasste, vernachlässigt man die qualitativen Details der Zusammensetzung, in beiden Richtungen neben Rohstoffen auch Halbfertig‑ bzw. Fertigwaren. Die kardinale Bedeutung Deutschlands für die ČSR wird darin deutlich, dass zwischen 1919 und 1926, gemessen am Wert, der tschechoslowakische Import aus dem Reich im Schnitt 27,5 Prozent aller Einfuhren der ČSR betrug. Die Exporte nach Deutschland machten, ebenfalls gemessen am Wert, im gleichen Zeitraum im Durchschnitt 18,3  Prozent ihrer Ausfuhr aus.19 Trotz einer latent deutschfeind­lichen Stimmung stand das Reich dem Wert wie auch der Menge nach in den zwanziger Jahren in der Liste der Außenhandelspartner der Tschechoslowakei an der Spitze, aber auch umgekehrt war für die deutsche Wirtschaft der Export in die Tschechoslowakei, zumindest branchenweise, eine keineswegs zu vernachlässigende Größe. Hinzukam die wirtschafts- und verkehrsgeographische Abhängigkeit der Tschechoslowakei, deren Transithandel nach Übersee zum größten Teil über die Elbe und die deutschen Nordseehäfen Hamburg und Bremen geleitet werden musste. Hinsichtlich der qualitativen Zusammensetzung der tschechoslowakischen Exporte ins Nachbarland waren in den zwanziger Jahren insbesondere landwirtschaftliche Produkte bzw. solche der Agrar- und der Lebensmittelindustrie von 19 PA

AA, IIb, Wirtschaft 6, Tschechoslowakei, Band 1, Bericht der Deutschen Gesandtschaft Prag vom 7. Januar 1927.

82   Christoph Boyer Bedeutung; wichtige Posten waren auch Industrierohstoffe und Zwischenprodukte wie Holz, Kohle und Eisen, Mineralien, Steine und Erden. Der tschechoslowakische Fertigwarenexport ins Reich stieg aufgrund der Paralyse der deutschen Industrie während der Ruhrbesetzung kurzzeitig steil an. Nach der Restabilisierung der deutschen Wirtschaft machten aber bereits 1926 Fertigwaren nur mehr 20  Prozent der Gesamtausfuhr in Reich aus; das Schwergewicht lag nun wieder bei Agrarprodukten, Industrierohstoffen und bei einfachen Massen-Konsumgütern wie Textilien und Schuhen.20 Asymmetrische, das Modernitätsgefälle reflektierende Beziehungen prägten auch die Importseite. Hier war die ČSR deutlich stärker auf Deutschland angewiesen als umgekehrt. Als Land von mittlerem technologischem Entwicklungsniveau bezog sie fortgeschrittene und Spitzenprodukte etwa des Apparatebaus und der Elektrotechnik in der Regel aus dem Ausland, in erster Linie aus dem Reich. Von großer Bedeutung war der Export deutscher Spezialmaschinen aller Art in die Tschechoslowakei; wurden Maschinen zwar auch in umgekehrter Richtung exportiert, so war doch die Handelsbilanz der Tschechoslowakei hier deutlich passiv. Ähnlich stark war die Stellung der chemischen und der pharmazeutischen Industrie des Reichs, denn 75  Prozent aller Chemikalien, Farben und Arzneimittel wurden von dort eingeführt.21 Handelte es sich also, wie diese Skizze zeigt, auch um Handelsbeziehungen zwischen industriellen Ländern, so reflektierte die Güterstruktur des Handels doch unterschiedliche Grade industrieller Modernität. Wie auch immer: Die ČSR setzte, im Rahmen ihrer Möglichkeiten, auf Industrieexporte auch nach Deutschland.22 Gebieterische praktische Zwänge nämlich verwiesen die Tschechoslowakei auf die Zusammenarbeit mit dem Reich. Schon 1919 war, einem Bericht des Deutschen Konsulats in Prag zufolge, in den interessierten Kreisen deshalb die Einsicht Allgemeingut, es sei unzweckmäßig, den Handelsbeziehungen zu Deutschland Hindernisse in den Weg zu legen.23 Folgerichtig war das provisorische Handelsabkommen mit Deutschland vom 29. Juni 1920 das erste, das die junge Republik abschloß.24 Behielt die ČSR nach dem Abbau der kriegswirtschaftlichen Kontrollen Anfang der zwanziger Jahre ein Ein- und Ausfuhrkontrollsystem und, parallel dazu, die Kontingentierung für bestimmte Waren auch noch bei, so galt für das Reich doch prinzipiell die 1920 vereinbarte Meistbegünstigung.25 Nach der Wiedererlangung der außenhandelspolitischen Souveränität im 20 Ebenda. 21 PA

AA, IIb, Wirtschaft 1, Tschechoslowakei, Band 3, Bericht der Deutschen Gesandtschaft Prag vom 28. Februar 1927. Bundesarchiv Berlin (im Folgenden: BArch, Reichswirtschaftsministerium (RMWi), 2896, Gesandtschaft Prag an Auswärtiges Amt, 28. Februar 1929. 22 Vgl. zum folgenden auch: Boyer, Christoph: Das Deutsche Reich und die Tschechoslowakei im Zeichen der Weltwirtschaftskrise. In: VfZ 39 (1991), S. 551–587. 23 BArch, RMWi 2885, Bericht des Konsulats Prag vom 5. August 1919, und Bericht des Bevollmächtigten Vertreters des Deutschen Reiches, 18. September 1919. 24 PA AA, IIb, Wirtschaft 1, Tschechoslowakei, Bd. 3, Bericht der Gesandtschaft Prag vom 26. Februar 1927. 25 PA AA, IIb, Wirtschaft 6, Tschechoslowakei, Bd. 1, Bericht der Gesandtschaft Prag vom 7. Januar 1927.

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Jahr 1925 war das Pendant hierzu auf deutscher Seite das Streben nach einer möglichst freizügigen und elastischen Regelung der Handelsbeziehungen, wie sie der von der Notwendigkeit des Exports industrieller Güter dominierten deutschen Außenhandelsstruktur am ehesten entsprach. Nun waren die Handelsbeziehungen auch vor der Weltwirtschaftskrise keineswegs konfliktfrei, wie die zahlreichen Fälle demonstrieren, in denen beide Seiten den Kontrahenten durch die Aufrichtung von Einfuhrhindernissen unter Druck zu setzen und damit seinerseits zur Beseitigung solcher Barrieren zu bewegen suchten.26 Auch betrachtete der junge Nationalstaat Tschechoslowakei die enge Außenhandelsbindung an das Reich eigentlich als unvereinbar mit seiner „slawischen Identität“ und als potentielle Gefährdung seiner politischen Autonomie. Die in den zwanziger Jahren wellenweise sich belebenden, gegen den Einfluss der Deutschen in der tschechoslowakischen Wirtschaft zielenden Pressepolemiken27 und gewisse diskriminierende Praktiken, wie sie etwa 1928 die Vossische Zeitung zu einem harschen Kommentar gegen den „geistigen und moralischen Schutzzoll“ und gegen die Mobilisierung politischer Voreingenommenheit veranlassten,28 entfalteten, insgesamt gesehen, aber doch keine erhebliche Wirkung. Bereits im Vorfeld der Weltwirtschaftskrise begann dann allerdings der Agrarprotektionismus beider Seiten die Handelsbeziehungen stärker als bisher in Mitleidenschaft zu ziehen. Mit der Krise selbst trat eine unverkennbare Zerrüttung der Handelsbeziehungen ein. Während der Anteil der Importe der ČSR aus dem Reich an der tschechoslowakischen Gesamteinfuhr sich von 1928 bis 1930 noch auf ungefähr derselben Höhe hielt (1928: 25 Prozent, 1929: 25 Prozent, 1930: 23, 3 Prozent), sank im selben Zeitraum der Anteil der Exporte der ČSR nach Deutsch­ land an ihrer Gesamtausfuhr deutlich (1928: 22, 1929: 19,4, 1930: 15,4 Prozent). Dies fand seinen Ausdruck auch in den absoluten Größen: Das Passivum der tschechoslowakischen Handelsbilanz gegenüber dem Reich stieg von 74 Millionen (1928) auf 1030 (1929) bzw. 899 Millionen Kronen (1930). Mit Hinweis auf deutsche Zollerhöhungen und das wachsende Passivum erklärte die tschechoslowakische Regierung im September 1931, man habe, weil man eine gewaltsame Hemmung der Handelsbeziehungen mit dem Nachbarn an sich nicht wünsche, bisher auf Retorsionsmaßnahmen zwar verzichtet, könne und wolle dem Druck der einheimischen Wirtschaft nun jedoch nicht mehr widerstehen.

nahm – nur zum Beispiel – Deutschland 1922 ein Einfuhrverbot der ČSR für Druckfarben zum Anlass, seinerseits die tschechoslowakische Fensterglasproduktion vom deutschen Markt auszusperren. Vgl. Archiv ministerstva zahraničnich věcí (Archiv des Außenministeriums, im Folgenden: AMZV). Sekce [Abteilung] IV, kr. 549, Verbalnote des Auswärtigen Amtes vom 16. Februar 1922. 27 Vgl. etwa BArch, RMWi 2893. Bericht der Gesandtschaft Prag vom 10. Juni 1925. Eine Kampagne führten 1927 die Národni Listy (vom 16. September 1927), der Venkov (vom 2. August 1927) und das České Slovo (vom 6. und vom 29. August 1927). Zur Neuauflage 1928 vgl. PA AA, Gesandtschaft Prag AIII/8, Bd. 2, Berichte der Gesandtschaft Prag vom 26. Oktober 1928. BArch, RMWi 2896, Bericht der Gesandtschaft Prag vom 23. Oktober 1928. 28 Vossische Zeitung vom 28. Oktober 1928. 26 So

84   Christoph Boyer Boten in der Weimarer Zeit sowohl die Wirtschaft als auch die Politik durchaus Anlass für Konflikte zwischen den Nachbarn, so war, verglichen mit der Zeit nach 1933, das bilaterale Verhältnis trotz allem auf beiden Seiten immer noch durch vergleichsweise Mäßigung charakterisiert. Wenn die deutsche Wirtschaft auch Kapital aus der „asymmetrischen Verflechtung“ und den hieraus erwachsenden Druckmitteln zu schlagen suchte, so war sie doch nicht an einer Unterjochung des Nachbarn und einer Vernichtung seiner wirtschaftlichen Existenz interessiert, ebensowenig wie auf der politischen Ebene der „Volkstumskampf“ auf eine Destabilisierung der ČSR mittels der „fünften Kolonne“ der deutschen Minderheit abzielte. Erst mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten änderte sich dies: Sie hatte eine Woge chauvinistischer Hysterie zur Folge, die unter anderem auch zu einem Boykott ausländischer Waren führte. Zusätzlich war es nun aber auch die Einschüchterung durch das NS-Regime, der „Boykott von Staats wegen“, der deutsche Abnehmer vom Einkauf im Ausland Abstand nehmen ließ. Betroffen waren davon auch tschechoslowakische Produkte. Vor allem aber setzte die Außenwirtschaftspolitik des nationalsozialistischen Regimes die zunehmend autarkistische Linie der letzten Weimarer Jahre in ungeahnter Steigerung fort.29 Dass das nationalsozialistische Deutschland zu handelspolitischen Konzessionen weniger denn je bereit war, führte zu erheblichen Beeinträchtigungen des Handelsverkehrs durch Retorsionsmaßnahmen Zug um Zug.30 Die folgende Abdrosselung des Handels war nicht mehr nur eine krisenbedingte Defensivmaßnahme. Mit dem Klimasturz nach der Machtergreifung wurde das wachsende Gewicht genuin politischer Motive zum charakteristischen Einschlag der Wirtschaftsbeziehungen. Diese sollten, ähnlich wie die zu den anderen Ländern der Region, auf die Imperative der Aufrüstung ausgerichtet werden: Erwünscht war von Deutschland in erster Linie die Einfuhr von Lebensmitteln und Rohstoffen zu Niedrigpreisen. Der tschechoslowakische Fertigwarenexport ins Reich hingegen wurde durch die Kontingentierung behindert und sank in der Folge signifikant. In der ČSR war der Aufstieg des Nationalsozialismus mit aufmerksamen Augen verfolgt worden; er hatte in breiten Kreisen der Öffentlichkeit Unruhe ausgelöst. Ineins mit dem Bewusstsein der von außen drohenden Gefahr wuchs das Misstrauen gegen die deutsche Minderheit im eigenen Lande, die verdächtigt wurde, „fünfte Kolonne des Reiches“ zu sein. Im August 1933 konstatierte die Prager Gesandtschaft bei der Erteilung von Einfuhrerlaubnissen und der Zuteilung von Devisen politische „Voreingenommenheit“; seit der „nationalen Erhebung“ sei es „geradezu Ehrensache geworden, sich antideutsch zu betätigen“. In der „Brüskierung“ deutscher Handelsvertreter und dem rapiden Rückgang des Messebesuchs im Reich äußere sich eine Abkehr von deutschen Waren, die vom Gros der nationaltschechischen Parteien, durchaus aber auch von den deutschen Sozialdemokraten und den Christlich-Sozialen unterstützt werde.31 29 Doering,

Dörte: Deutsche Außenwirtschaftspolitik 1933–1935. Berlin 1969, S. 34 ff. in: AMZV, sekce IV, kr. 675, Memorandum des Außenministeriums Prag, ohne Verf., 31 PA AA, Gesandtschaft Prag I/4 a, Bd. 2, Bericht der Gesandtschaft Prag vom 25. August 1933. 30 Übersicht

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Der bilaterale Handel, der im Zeichen der Krise stark zurückgegangen war, nahm, nachdem 1933 der Tiefpunkt durchschritten worden war, in den dreißiger Jahren nur mühsam wieder zu; am Vorabend des Zweiten Weltkriegs bewegte er sich noch unterhalb des Niveaus zu Beginn der Krise Ende der zwanziger Jahre. Rangierte Deutschland im Im- wie im Export der ČSR auch nach wie vor an erster Stelle, so kamen 1937 nur mehr 15,5 Prozent der tschechoslowakischen Einfuhr aus dem Reich, gegenüber 25 Prozent im Jahr 1929; die Zahlen für die Ausfuhr der Tschechoslowakei nach Deutschland lauteten 19,4 und 13,7 Prozent respektive.32 Die politischen Reaktionen auf diese Entwicklung waren ambivalent: Die ČSR biete sich, dies war das Fazit des zitierten Gesandtschaftsberichts vom August 1933 gewesen, „wie schon seit Jahren auf politischem Gebiete, nunmehr auch wirtschaftlich als selten geschlossenes Widerstandszentrum gegen Deutschland dar“.33 Trotz aller politischen Irritationen hätte sich, ungeachtet der geschilderten Bestrebungen zur geographischen Neuorientierung der tschechoslowakischen Außenwirtschaft, eine „realistische“ Handelspolitik gegen gedeihliche Wirtschaftsbeziehungen zum Reich sicherlich nicht gesperrt. Eine solche, auf engere Anlehnung an Deutschland drängende Auffassung konnte sich allerdings im innenpolitischen Kräftespiel bis „München“ nicht durchsetzen – schon gar nicht dort, wo sie offensichtlich als Vehikel der „Fünften Kolonne“ auftrat. So war es in den späteren dreißiger Jahren vor allem die SdP, die jeglicher Westorientierung des tschechoslowakischen Exports eine unbedingte Absage erteilte und stattdessen nicht nur in der Politik, sondern auch in der Außenwirtschaft die Umorientierung auf Deutschland „mit ganzem Herzen“ forderte. In der Folge des „Tauschabkommens“ von 1934, von Karl Hermann Frank wohl kaum in Unkenntnis der Konnotationen als „Novembervertrag“ geschmäht, sei die Ausfuhr ins Reich um die Hälfte gesunken.34 Die Konjunktur politisch motivierter Europapläne ignoriere die „natürlichen Raumgesetze“, weil sie die Rechnung ohne Deutschland mache. Der „Wunderglaube“ sehe sich nach neuen Bundesgenossen von Österreich bis in den Balkan hinein um – wo die Volkswirtschaften in den letzten Jahren zunehmend ihre Wirtschaftsbeziehungen mit dem Reich intensiviert hätten.35 In ähn­ liche Richtung ging eine Reihe von der Parlamentsfraktion der SdP vorgelegter Konzepte,36 die eine Förderung des Exports unter der Zielperspektive einer Ein-

32 Bundesarchiv

Koblenz (im Folgenden: BArch Koblenz). R 13/I-614, Bericht der Reichs-Kredit-Gesellschaft (undat.) über die Wirtschaftslage der „Tschecho-Slowakei“ Mitte 1938. 33 PA AA, Gesandtschaft Prag I/4 a, Bd. 2, Bericht der Gesandtschaft Prag vom 25. August 1933. 34 Die Zeit, 8. November 1935; Rede K. H. Franks, Sitzung des Abgeordnetenhauses am 19. Juni 1935. In: Die SdP im Parlament. Ein Jahresbericht (1935/36), S. 155; Rede Wolfgang Richters, Sitzung des Abgeordnetenhauses am 11. Dezember 1935. In: Die SdP im Parlament. Ein Jahresbericht 1935/36, S. 157 f. 35 Janovsky, Karl: Donaupläne – augenblicklich sehr gefragt. In: Die Zeit, 10. Januar 1936. 36 Národní archiv (Nationalarchiv, im Folgenden: NA). SdP, Karton 38, 23 ZAA/1935-38/2, Memorandum der parlamentarischen Fraktion der SdP an den Sozialpolitischen Ausschuss des Abgeordnetenhauses. In: Sozial-Mitteilungen der SdP 1 (1935), Folge 1, 2 und 3.

86   Christoph Boyer gliederung der tschechoslowakischen Wirtschaft in den „großen mitteleuropäischen Wirtschaftsraum“ unter deutscher Hegemonie forderten.

Fazit und Ausblick Das in Ostmittel- und Südosteuropa allenthalben zu beobachtende Muster „Indus­ triegüter aus dem Reich, Agrarprodukte ins Reich“ war im tschechoslowakischen Fall nicht bzw. nur eingeschränkt praktikabel, weil das NS-Regime das elementare und absolut vorrangige Bedürfnis der Tschechoslowakei nach einer Stimulierung des industriellen Exports nicht anzuerkennen gewillt war. Im Kontrast zu anderen Ländern der Region mündete die Entwicklung hier in außenwirtschaftliche Dissoziation. Diese war mit beträchtlichen volkswirtschaftlichen Kosten verbunden: der Deutschlandhandel war ja nicht einfach – oder, besser: einfach nicht – zu ersetzen; die inhärenten Probleme der Alternativkonzepte wurden erwähnt. Schäden entstanden vermutlich auch auf der Importseite: Dass technologisch hochwertige Einfuhren aus dem Reich unterblieben, dürfte beträchtliche volkswirtschaftliche Verluste zur Folge gehabt haben; zu kalkulieren sind diese nicht. Ein zweiter nicht unwichtiger Kosten-Posten kann ebenso wenig präzise beziffert werden: die Exportinteressen der Industrie der ČSR waren beileibe nicht ausschließlich, aber doch zu einem guten Teil diejenigen der sudetendeutschen Leichtindustrien. Charakteristisch für die unduldsame Note der deutschen Politik war der Umstand, dass man nicht länger auf die handelspolitischen Belange der deutschen Volksgruppe in der ČSR Rücksicht zu nehmen gewillt war – obwohl dies eine massive Schädigung der stark exportorientierten sudetendeutschen Leichtindustrien bedeutete. Dass diese Politik in der deutschen Volksgruppe überproportional hohe Arbeitslosigkeit verursachte, war für das nationalsozialistische Regime ebenfalls ohne Belang. Mittelbar profitierte das Reich sogar von der Krise, die propagandistisch gegen die Prager Regierungen ausgemünzt werden konnte; der augenfällige Kontrast zwischen dem Elend des böhmischen „Industriefriedhofs“ und dem Aufschwung auf dem Arbeitsmarkt des benachbarten Deutschen Reich erhöhte bekanntlich in den Augen vieler Sudetendeutscher die Attraktivität des Nationalsozialismus. Offen bleiben muss, ob dies auf der deutschen Seite machiavellistisch vorab kalkuliert war oder ob hier der Kollateralnutzen billigend in Kauf genommen wurde. Bezeichnend für die Unduldsamkeit der deutschen Politik war etwa der Vorschlag der Abteilung Süd-Ost des Außenpolitischen Amtes der NSDAP vom 27. Oktober 1934, man solle „auf wirtschaftlichem Gebiete den Tschechen durchaus die kalte Schulter zeigen und alle Handelsvertragsverhandlungen dilatorisch behandeln, selbst dann, wenn es ohne eine vorübergehende Schädigung der sudetendeutschen Industrie nicht gehen kann“.37

37 Wiedergegeben

in Schumann, Wolfgang/Nestler, Ludwig (Hg.): Weltherrschaft im Visier. Berlin 1975, S. 234 ff., bes. S. 238.

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Das Fazit lautet: Dissoziierung zu hohen politischen und ökonomischen Kosten, jedoch keine Abhängigkeit nach dem in der Region sonst zu beobachtenden Muster. Die vergleichende Analyse der Pfadverläufe konstatiert also den je unterschiedlichen Stellenwert von Handel im Vorfeld politischer Unterwerfung. Es handelt sich hier um Variationen zu einem Thema. Sie könnten Bausteine eines umfassenderen Unternehmens sein, das „Szenarien imperial-imperialistischer Unterjochung“ vergleichend untersucht und so den manchmal allzu sehr auf „München“ verengten Tunnelblick weitet.

Detlef Brandes

Die Kommunalwahlen vom Mai/Juni 1938 und ihre Folgen In der Diskussion über die Rolle der deutschen Minderheit bei der Zerschlagung der Tschechoslowakei im Jahre 1938 spielt eine Frage bis zum heutigen Tag eine große Rolle: Warum stimmten bei den Kommunalwahlen von Mai und Juni 1938 über 85 Prozent der Deutschen der Tschechoslowakei für eine Partei, die sich im April zum Nationalsozialismus bekannt hatte? Dieser Frage soll im Folgenden in sieben Abschnitten nachgegangen werden.

Unzufriedenheit mit dem Status einer nationalen ­Minderheit Die Deutschen der Tschechoslowakei, die über 22 Prozent der Bevölkerung ausmachten, fühlten sich schon durch den Begriff nationale Minderheit diskriminiert und benachteiligt. Die Regierung und die tschechischen Parteien waren nämlich nicht bereit, von der Vorstellung eines „tschechoslowakischen Nationalstaats“ mit „nationalen Minderheiten“ abzugehen. Der Staat nahm Partei für die tschechischen Grenzler, also die Angehörigen der tschechischen Minderheit in den Grenzgebieten, indem er ihre Verbände subventionierte, überwiegend Tschechen bei der Eisenbahn, Post, Polizei und beim Zoll einstellte und deutsche Beamte und Angestellte nach nicht bestandenen strengen Prüfungen in der tschechischen Staatssprache entließ. Zudem sank die Zahl der deutschen Mittelschulen (Gymnasien) von 1918 bis 1935 um rund 30 Prozent, allerdings auch wegen des überproportionalen Geburtenrückgangs der Deutschen und der Abwanderung deutscher Schüler auf Gewerbeschulen. Zum Teil wurden neue tschechische Schulen in den Gebäuden zuvor deutscher Schulen untergebracht.1

Hohe Arbeitslosigkeit Die Arbeitslosigkeit erreichte in den deutschsprachigen Gebieten 1933 und 1934 extrem hohe Werte und hielt auch nach 1936 an, als sich die Wirtschaft im Deutschen Reich und im tschechischsprachigen Landesinneren schon erholt hatte. Dies lag an der Struktur der Industrie in den Grenzgebieten, aber auch am Zögern der Regierung, Sonderprogramme für die besonders betroffenen Regionen 1

Brandes, Detlef: Die Sudetendeutschen im Krisenjahr 1938. 2. Auflage München 2010, S. 7–17. Mein Beitrag beruht auf Studien, die ich in der zitierten Monographie zusammengefasst habe. Dort können auch die Einzelnachweise zu den archivalischen Quellen und zur Literatur nachgeschlagen werden.

90   Detlef Brandes aufzulegen. Schockierend wirkte auf die deutschen Arbeiter, dass zahlreiche Unter­nehmer ihre Maschinen verkauften und Fabrikhallen abrissen und dass die dominierende Textilindustrie im Gegensatz zum allgemeinen Aufwärtstrend Ende 1937/Anfang 1938 einen erneuten Einbruch erlebte.2 Noch bei den Parlamentswahlen von 1929 hatten die „Deutsche Sozialdemokratische Arbeiterpartei“, die „Deutsche Christlich-Soziale Volkspartei“ und der „Bund der Landwirte“ drei Viertel der deutschen Stimmen gewonnen. Im Mai 1935 votierten jedoch zwei Drittel der Deutschen für die „Sudetendeutsche Partei“ (SdP), die erst anderthalb Jahre zuvor als „Sudetendeutsche Heimatfront“ gegründet worden war. Vor den Wahlen hatte sich ihr Führer Konrad Henlein zur „christlichen Weltanschauung“ und zu den „demokratischen Grundforderungen“ bekannt und sich vom Nationalsozialismus und dem Verlangen nach einer Revision der Staatsgrenzen distanziert. Ihren überwältigenden Sieg verdankte die SdP vor allem der Unzufriedenheit der deutschen Wähler mit den bisherigen deutschen Regierungsparteien. Denn in der Zeit des sogenannten Aktivismus, d. h. während ihrer Beteiligung an den Prager Regierungen seit 1926, hatten diese der tschechoslowakischen Regierungsmehrheit weder Zugeständnisse in nationalen Fragen noch seit 1929 Sonderprogramme zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit in den Sudetengebieten abgerungen.3 Dies sind die traditionellen Erklärungen für den Sieg einer Sammlungsbewegung, die sich christlich und demokratisch gab. Für den noch größeren Wahlsieg bei den Kommunalwahlen 1938, als dieselbe Partei sich zum Nationalsozialismus bekannt hatte, reichen sie jedoch nicht aus.

Opportunismus und sozialer Druck Auf den Anschluss Österreichs im März 1938 reagierte die Mehrheit der Sudetendeutschen mit Begeisterung. Unter Anhängern der SdP verbreitete sich die Überzeugung, dass bald auch die Sudetengebiete an das Deutsche Reich fallen würden.4 Aus demselben Grund verließen zahlreiche jüdische und politische Flüchtlinge den schwankenden Boden der letzten Demokratie Mittel- und Osteuropas, unter ihnen auch die Exilführung der SPD.5 Seit dem Anschluss traten die SdPAnhänger gegenüber den Behörden selbstbewusst auf. Manche grüßten auch mit der gestreckten Rechten und „Heil-Hitler“. Aus Furcht vor den Folgen weiteren Widerstandes gegen die Gleichschaltung setzte in den deutschen bürgerlichen Parteien, also beim Bund der Landwirte und bei der Christlich-Sozialen Volkspartei ein Zerfallsprozess ein. Nach wenigen Tagen des Schwankens lösten deren Führungen ihre Parteien auf und schlossen sie der SdP an. Auch so gut wie alle deutschen Vereine gliederten sich den SdP-nahen 2

Ebenda, S. 18–23. Ebenda, S. 5 f. 4 Ebenda, S. 57–61. 5 Vgl. hierzu die Beiträge von Jürgen Zarusky und Jörg Osterloh in diesem Band. 3

Die Kommunalwahlen vom Mai/Juni 1938 und ihre Folgen   91

Verbänden an. Über all diese mitgliederstarken Verbände wurden immer mehr Deutsche in den Einflussbereich der SdP gezogen.6 Werber der SdP machten flächendeckende Hausbesuche, um möglichst viele Deutsche für den Beitritt zu ihrer Partei zu gewinnen. Sie führten Listen aller deutschen Einwohner und drohten mit negativen Konsequenzen für Gegner und auch für Nicht-Mitglieder in der Zukunft, wenn die Wehrmacht, wie zu erwarten sei, einmarschieren werde. Erfolg hatten sie nicht nur in bürgerlichen und bäuerlichen Kreisen, deren politische Vertretungen zur SdP übergelaufen waren, sondern auch unter einem Teil der Arbeiterschaft. Denn die deutschen Unternehmer und Manager arbeiteten eng mit der SdP zusammen und forderten von ihren Arbeitern und Angestellten sowohl den Austritt aus der sozialdemokratischen bzw. kommunistischen Partei und deren Gewerkschaften als auch den Eintritt in die SdP. In vielen Betrieben wurden nur noch SdP-Mitglieder eingestellt. Musste ein deutscher Betrieb Leute freisetzen, schonte er die SdP-Mitglieder. Auch die zahlreichen Sudetendeutschen, die in Deutschland arbeiteten, mussten den Mitgliedsausweis der SdP vorweisen. Tschechische, jüdische und demokratisch gesinnte deutsche Handwerker, Gastwirte und Geschäftsleute wurden boykottiert. Wer dennoch bei ihnen kaufte, wurde von Wachen der SdP registriert und oft auch fotografiert.7 Propaganda für den Nationalsozialismus machten auch Lehrer an den Schulen und Professoren an den deutschen Hochschulen. Demokratische Lehrer wurden unter Druck gesetzt, Kinder von Sozialdemokraten, Kommunisten und Juden in den Schulen isoliert und beschimpft.8

Nachgiebigkeit der Regierung Im November 1937 bot Henlein in einem geheimen Schreiben Hitler die SdP als Instrument zur Zerschlagung der Tschechoslowakei und zur Annexion nicht nur der Sudetengebiete, sondern der böhmischen Länder insgesamt an.9 Ende März 1938 erklärte Hitler Henlein, dass er „das tschechoslowakische Problem in nicht allzu langer Zeit lösen“ wolle. Die SdP solle deshalb stets Forderungen stellen, die für die tschechoslowakische Regierung unannehmbar seien.10 Henlein verlangte daraufhin Selbstverwaltung für jede einzelne Volksgruppe „im ihr gehörenden Siedlungsraum“ sowie nationale Kurien, also die Gliederung der gewählten Parlamentsabgeordneten nach Nationalität, mit je einem „Sprecher“ an der Spitze. Am 24. April 1938 hielt er die Zeit für gekommen, sich auch offen zum Nationalsozialismus als „deutscher Weltanschauung“ zu bekennen.

  6 Brandes:

Die Sudetendeutschen, S. 61–70. S. 70–81.   8 Ebenda, S. 83–85.   9 Akten zur Deutschen Auswärtigen Politik (ADAP), D 2: 1937–1941. Deutschland und die Tschechoslowakei. Göttingen 1950, Dok. 23, S. 40–51. 10 Ebenda, Dok. 107.   7 Ebenda,

92   Detlef Brandes Auf tschechischer Seite ergriff Präsident Edvard Beneš die Initiative und schlug weitgehende Zugeständnisse auf allen möglichen Gebieten vor. Unter dem Druck Großbritanniens und in seinem Schlepptau Frankreichs verbesserte die Regierung schrittweise ihr Angebot an die SdP. Sie bot sogar eine Amnestie für politische Verbrechen und Kommunalwahlen im Mai und Juni 1938 an und arbeitete an einem neuen Nationalitätenstatut, das zahlreiche Zugeständnisse, allerdings nicht die verlangte territoriale Autonomie vorsah. Die folgenden Verhandlungen konnten jedoch zu keinem Ergebnis führen, da sich Henlein gegenüber Hitler ja verpflichtet hatte, sich auf keinen Fall mit der Regierung zu einigen.11 Mit Benešs Zustimmung drängte Ministerpräsident Milan Hodža den letzten deutschen Aktivisten, den sozialdemokratischen Parteivorsitzenden Ludwig Czech, aus der Regierung. Sie verzichtete mit Rücksicht auf die SdP auf die Ernennung von dessen Nachfolger Wenzel Jaksch zum Minister. In Nationalismus konnten die deutschen Sozialdemokraten und Kommunisten nicht mit der SdP wetteifern. Eine Territorialautonomie hätte sie sogar völlig der Übermacht der SdP ausgeliefert. Vielmehr forderten sie weiter umfangreiche Konjunkturprogramme, um mit der Arbeitslosigkeit eine der Hauptursachen für die Unzufriedenheit zu beseitigen.12 Angesichts des wirtschaftlichen Drucks und der Drohungen der SdP gelang es den deutschen Sozialdemokraten und Kommunisten nur in etwa der Hälfte aller Gemeinden, überhaupt Kandidaten und Unterschriften für ihre Wahllisten zu gewinnen.13

Propaganda und Terror Ihr Mobilisierungspotential bewies die SdP am 1. Mai. Sie hatte ein System von „Nachbarschaften“ über „Kameradschaften“ bis hin zu „Sprengeln“ bzw. Ortsgruppen aufgebaut, die dafür sorgten, dass sich kaum jemand ihren Aufmärschen und Kundgebungen unbemerkt entziehen konnte. Die Beteiligung der Massen an den Mai-Feiern der SdP, die Fackel-Züge am Vorabend, die Vierer- oder Sechserreihen, in denen die Teilnehmer zu den Kundgebungen marschierten, die Formationen der uniformierten „Ordner“, das Meer der Fahnen und der Girlanden an den Häusern und die Marschmusik machten den Anhängern der SdP Mut. Sie schüchterten die Schwankenden ein und weckten bei den Gegnern und potentiellen Opfern schlimme Befürchtungen.14 Drohungen wie jene, dass „nationale Verräter“ bestraft und Tschechen aus dem Grenzgebiet vertrieben würden, begleiteten den Kommunalwahlkampf der SdP. Als besonders aggressiv zeigten sich die jugendlichen Anhänger der Partei, die deutsche Antifaschisten und Tschechen am Arbeitsplatz, auf der Straße, vor ihren 11 Brandes:

Die Sudetendeutschen, S. 99–118. S. 119–131. 13 Ebenda, S. 162–182. 14 Ebenda, S. 131–142. 12 Ebenda,

Die Kommunalwahlen vom Mai/Juni 1938 und ihre Folgen   93

Parteigebäuden bzw. Schulen terrorisierten und sie sogar bis nach Hause verfolgten. In ihren Reden bekannten sich die Funktionäre der Partei zum Nationalsozialismus, und zwar auch ehemalige Mitglieder des Bundes der Landwirte und der Christlich-Sozialen wie Gustav Hacker und Hans Schütz. Anderthalb Tage vor dem ersten der drei Wahltermine mobilisierte die Tschechoslowakei aufgrund – allerdings falscher – Nachrichten über deutsche Truppenbewegungen einen Teil ihrer Armee. Die Einheiten besetzten die Grenzbefestigungen, errichteten Barrikaden und unterminierten Brücken, Maßnahmen, die die SdP und ihre Anhänger – allerdings nur für kurze Zeit – zur Vorsicht bewogen und die deutschen Sozialdemokraten und Tschechen ermutigten.15

Die Wahlen Im Vorfeld der Gemeindewahlen verschärfte die SdP den Ton. Der Wahlkampf sei auf folgender Linie zu führen: „Hier deutsch – dort nichtdeutsch! Hier Einheit – dort Separatismus!“ Für die Organisation des Wahlkampfes griff die Partei wie bei den Maifeiern auf die sogenannten Nachbarschaften zurück, die die Beteiligung an der Wahl kontrollierten. Auf den Wahlplakaten waren entschlossen dreinblickende Männer zu sehen und Parolen zu lesen wie „Schützt die deutsche Heimat“ und „Schickt sie heim ins rote Paradies – in der sudetendeutschen Gemeinde haben rote Separatisten nichts zu suchen“.16 Den Wahlkampf der SdP unterstützte fast die gesamte sudetendeutsche Provinzpresse. Dabei drohte sie allen „nationalen Verrätern“ Vergeltung an. In dieselbe Richtung zielten die reichsdeutschen Rundfunksender. National am radikalsten sei die deutsche Jugend, besonders die akademische, eingestellt, meldete z. B. der Brünner Polizeipräsident.17 Zu dem gleichen Urteil kam ein tschechischer Beamter, der Mitte Mai durch die Sudetengebiete reiste: Die Jugend „befindet sich in einem vollständigen Rauschzustand“. Es werde von früh bis spät politisiert. Hauptthema sei „Wann kommt er?“. Alle möglichen ­Daten für „Hitlers Einmarsch“ würden genannt. „Das Vertrauen dazu, dass ‚der Adolf‘ kommen wird, dass es für ihn überhaupt keine Hindernisse gibt, ist grenzenlos und hat eine Art von religiös-chiliastischem Charakter.“18 In denjenigen Gemeinden, in denen abgestimmt wurde, erhielt die SdP im Durchschnitt 85  Prozent der Stimmen. Ihre Führung bezeichnete das Ergebnis der Gemeindewahlen als „glühendes Bekenntnis für Heimat und Scholle, zum

15 Ebenda,

S. 142–162. S. 143 f. 17 Ebenda, S. 145 f. 18 Archiv Ústavu Tomáše Garrigue Masaryka, Praha [Archiv des Instituts Tomáš Garrigue ­Masaryk Prag], Fond Edvard Beneš I R 133/6. Bericht Heimanns über seine Reise vom 16.– 20. 5. 1938. 16 Ebenda,

94   Detlef Brandes Einheitsgedanken und für Konrad Henlein“ und als „Bekenntnis zum National­ sozialismus“.19 Ein wichtiges Element für den Wahlerfolg dürfte auch die Tatsache gewesen sein, dass bei den Wählern der Eindruck geweckt worden war, dass sie tatsächlich für eine nationale Einheitsfront stimmten. Die SdP hatte nämlich zahlreiche Repräsentanten der im März 1938 zu ihr übergetretenen Parteien auf die Kandidatenlisten gesetzt. Anzunehmen ist, dass selbst demokratisch gesinnte Anhänger dieser Parteien für die SdP gestimmt haben, weil ihnen als Alternative nur die offiziell immer noch marxistischen Sozialdemokraten oder gar Kommunisten ­sowie die meist zu einer Einheitsfront zusammengeschlossenen tschechischen Parteien zur Verfügung standen.20 Im Ausmaß unterscheidet sich der Erfolg der Sudetendeutschen Partei bei den Gemeindewahlen von 1938 allerdings kaum vom Erfolg des Referendums über die Zukunft des Saargebiets im Januar 1935.21 Beide Bewegungen, die Deutsche Front im Saarland ebenso wie die SdP, setzten die gleichen Mittel ein: die Gleichschaltung der bürgerlichen, national-konservativen Presse, die übermächtige Propaganda des reichsdeutschen Rundfunks, die politische Kontrolle jedes Einzelnen durch Blockwarte bzw. Nachbarschaftsleiter sowie das aggressive Vorgehen ihres Ordnungsdienstes bzw. des Freiwilligen Schutzdienstes gegen alle Status-quo-­ Befürworter. Sie mussten Spießruten laufen durch Spaliere von Männern der SA bzw. des Freiwilligen Schutzdienstes, wollten sie an Versammlungen ihrer Parteien teilnehmen, denen Volksverrat vorgeworfen und eine harte Abrechnung nach dem Anschluss angedroht wurde. Mittel der Propaganda waren sorgfältig inszenierte Massenveranstaltungen mit Fahnen und Fackeln, Sprechchören und na­ tionalen Liedern, die zu sogenannten Gemeinschaftserlebnissen führten. Dazu kamen das gemeinsame Hören von Hitler-Reden ebenso wie Bildplakate, die ­nationale Emotionen wecken sollten. Wer sich diesem Druck entzog, seine Wohnung oder seinen Laden nicht nach den Anweisungen der Deutschen Front im Saarland bzw. der SdP in der Tschechoslowakei schmückte oder den Hitler-Gruß verweigerte, wurde an der Saar ebenso wie in den Sudetengebieten in Schwarze Listen eingetragen.22 Parallelen sind auch bei der Reaktion der Bevölkerung auf die NS-Propaganda festzustellen: Der bürgerliche Teil der Gesellschaft versuchte, sich durch den Beitritt zur Deutschen Front bzw. SdP für die Zeit nach dem Anschluss abzusichern. Aber auch ein Teil der Arbeiterschaft lief zu beiden Bewegungen über. Ein hoher Prozentsatz der Arbeiter war nämlich als „Arbeiterbauern“ durch landwirtschaftlichen Nebenerwerb und die große Zahl aller möglichen Vereine in der Welt des Industriedorfs und der Kleinstadt verankert und nur oberflächlich in die marxis-

19 Národní

archiv [Nationalarchiv]. SdP, K. 5 bzw. SdP II, K. 35. SdP/Amt für politische Propaganda: „Politischer Lagebericht August 1938“ [v. 2. 8. 1938]. 20 Brandes: Die Sudetendeutschen, S. 189–191. 21 Vgl. hierzu auch den Beitrag von Volker Zimmermann im vorliegenden Band. 22 Brandes: Die Sudetendeutschen, S. 191–193.

Die Kommunalwahlen vom Mai/Juni 1938 und ihre Folgen   95

tischen Parteien und ihre Gewerkschaften eingebunden. Die zentrale Erfahrung der Arbeiter in den Jahren vor dem Referendum bzw. den Wahlen war das Massenelend der Arbeitslosigkeit, für das die Propaganda den nationalen Gegner verantwortlich machte. Von der Vereinigung mit den Deutschen des Reiches erwarteten die deutschen Wähler hier wie dort eine Verbesserung ihrer wirtschaftlichen Situation, besonders aber ein Ende der Arbeitslosigkeit.23 Das Bekenntnis von bekannten Führern des Zentrums im Saargebiet zum Anschluss, von entsprechenden Repräsentanten der Christlich-Sozialen und des Bundes der Landwirte zur SdP erleichterte christlichen und bäuerlichen Wählern, für die Deutsche Front bzw. SdP zu stimmen. Wie die Deutsche Front an der Saar erklärte auch die SdP in den böhmischen Ländern den Wahlerfolg zum „Sieg des Einheitsgedankens“. Der Parteien- und Klassenkampf sei überwunden und die „Volksgemeinschaft“ hergestellt. In einem Klima der nationalen Euphorie, aber auch der Gewalt und Angst stürzte sich die überwältigende Mehrheit der Saarländer und Sudetendeutschen in die Arme des nationalsozialistischen Deutschland. Doch es gab auch Unterschiede: Nur in der Tschechoslowakei hatte es den Versuch gegeben, durch eine „aktive“ Beteiligung an der Staatspolitik einen nationalen Ausgleich zu finden. Die Deutsche Front an der Saar sollte als überparteiliche Organisation erscheinen, wurde aber von Anfang an von Nationalsozialisten gesteuert, während sich die Sudetendeutsche Partei erst schrittweise dem reichsdeutschen Vorbild anglich und sich der Führung des Deutschen Reiches erst im November 1937 direkt als Fünfte Kolonne andiente. Unterschiede gab es auch auf der Seite der Gegner des NS-Regimes. Den sudetendeutschen Sozialdemokraten fehlte im Gegensatz zur Saar-SPD nicht „ein breiter, politisch geschulter Funktionärskörper“. Anders als im Saargebiet hatten die Kommunisten unter den Sudetendeutschen wesentlich weniger Mitglieder und Wähler als die Sozialdemokraten. Zu einer einheitlichen Abwehrfront fanden aber beide Parteien nur im Saargebiet zusammen.24

„Heim ins Reich“ Regierung und SdP verhandelten seit Anfang Juni über das erwähnte „Nationalitätenstatut“ und über eine sogenannte „Skizze“ der Vorstellungen der SdP. In diesen Gesprächen wurde klar, dass durchaus Spielraum und auf tschechischer Seite Bereitschaft zu weitgehenden Zugeständnissen an die Minderheiten bestand, doch zeigten die Gespräche mit der Regierung, aber auch innerhalb der SdP, dass diese Partei nicht bereit war, auch nur von einer ihrer Maximalvorstellungen abzurücken – waren diese doch nur ein Instrument der mit Berlin vereinbarten Hinhaltetaktik bis zu einem Eingreifen Deutschlands oder der Großmächte,25 das in den folgenden Beiträgen behandelt wird. 23 Ebenda. 24 Ebenda. 25 Ebenda,

S. 193–215.

Vít Smetana

Die Tschechoslowakei und ihre Verbündeten in der Krise des September 1938 Wie man sich gegenseitig sah und missverstand

Die westliche Dimension Die Zügel der tschechoslowakischen Außenpolitik lagen während der Sudeten­ krise mehr oder weniger fest in den Händen von Edvard Beneš, so wie in den Jahren zuvor. Daher sollten alle wechselseitigen Perzeptionen und Missverständ­ nisse, die 1938 den Gang der Dinge beeinflussten, mit der Frage beginnen, was er denn von den anderen für ein Verhalten erwartete. Auf der einen Seite war sich Beneš während des ganzen Jahres 1938 durchaus bewusst, dass die westliche Unter­stützung der Tschechoslowakei im Schwinden war, und nachdem Frank­ reich und England ihren Plan vom 19. September vorgelegt hatten, erkannte er, dass den beiden Westmächten wohl kein Preis zu hoch sein dürfte, eine Kompro­ misslösung zu finden, und dass selbst im Falle eines unprovozierten deutschen Angriffs ihr militärisches Eingreifen zugunsten der Tschechoslowakei ungewiss geworden war. Auf der anderen Seite baute er jedoch darauf, dass sich die west­ liche Haltung radikal ändern könne, falls es in Paris und London zu Regierungs­ wechseln käme.1 Es ist deshalb danach zu fragen, warum er sich in dieser Weise täuschte. Der Optimismus, den Beneš hinsichtlich eines solchermaßen bewirkten Kurs­ wechsels der westlichen demokratischen Mächte hegte, speiste sich vor allem aus den Informationen, die ihm seine Diplomaten übermittelten. Das gilt allerdings nicht für den tschechoslowakischen Vertreter in Paris, Štefan Osuský, dessen Be­ richte professionell waren und die Situation auf der französischen politischen Bühne mehr oder weniger korrekt wiedergaben. Jaromír Nečas hingegen, der Sondergesandte, den Beneš am 15. September nach Paris zu Léon Blum schickte, und zwar mit einem geheimen Vorschlag, der vorsah, an Deutschland ein Territo­ rium von 6700 bis zu 10 000 Quadratkilometern mit 1,5 bis 2 Millionen Sudeten­ deutschen abzutreten (der sogenannte Fünfte oder Nečas-Plan), brachte nach Prag die Kunde mit, das Kabinett Daladier befinde sich vor dem Sturz und werde vermutlich von einer Regierung abgelöst, an deren Spitze Edouard Herriot stehen werde, der Präsident der Abgeordnetenkammer. Beneš nahm an, der neue Minis­

1

Lvová, Míla: Mnichov a Edvard Beneš [München und Edvard Beneš]. Praha 1968, S. 210 und an anderer Stelle.

98   Vít Smetana terpräsident werde die französischen Verpflichtungen gegenüber der Tschechoslo­ wakei ernster nehmen2. Jan Masaryk wiederum teilte wiederholt aus London mit, Neville Chamber­ lains Kabinett werde nicht mehr lange überleben, die Stellung des Premierminis­ ters werde schwächer. Schon am 29. August übermittelte er in einem seiner spora­ dischen Berichte eine solch unbegründete Einschätzung der Lage nach Prag: „Es ist klar, dass mit Ausnahme Chamberlains, der noch immer eine Verständigung mit Deutschland und Italien sucht, das Kabinett von allen derartigen Illusionen geheilt ist.“ Mit unglaublicher Nonchalance, die nur seine Unfähigkeit zeigt, Ver­ bindung mit wirklich wichtigen Leuten zu halten, fügte er hinzu: „Doch habe ich Chamberlain noch nicht erreicht. Es ist interessant, dass Chamberlain, der die Außenpolitik leitet, offiziell noch kein einziges Wort mit mir gesprochen hat. Dann und wann sehen wir uns bei offiziellen Anlässen.“3 Und am 25. September, gleich nach der Übergabe der Ablehnung von Hitlers Godesberger Ultimatum (mit den berühmten Worten, die Nation „des Heiligen Wenzel, Johannes Hus’ und Thomas Masaryks wird keine Nation von Sklaven sein“), wunderte er sich darüber, wie schlecht Chamberlain über die Situation informiert sei, und nährte abermals die Hoffnung auf einen Regierungswechsel in London: „Es ist ein Un­ heil, dass dieser stupide und uninformierte kleine Mann englischer Premiermi­ nister ist, und ich bin überzeugt davon, dass er es nicht mehr lange sein wird.“4 Diese Hoffnungen sind, wie wir wissen, nicht erfüllt worden. Die Stellung Chamberlains blieb zumindest für etliche Monate völlig unerschüttert, auch wenn er vorübergehend die Verhandlungen mit den Diktatoren unterbrechen musste, da er sonst weitere Rücktritte von Ministern zu befürchten hatte – nach Duff Cooper, dem Ersten Lord der Admiralität.5 Zugleich haben Masaryks Gespräche mit Churchill über ein mögliches Ende der Regierung Chamberlain naturgemäß die Irritation des Premiers durch die tschechoslowakische Frage nur noch ver­ stärkt. Am 1. Oktober beschwor Churchill die tschechoslowakische Regierung, zu­ mindest für die nächsten 48 Stunden keine der wichtigsten Befestigungen auszu­ 2

Vgl. Lukes, Igor: Czechoslovakia between Stalin and Hitler. The Diplomacy of Edvard Beneš in the 1930s. New York 1996, S. 221 f. u. 230. 3 Dejmek, Jindřich u. a. (Hrsg.): Dokumenty československé zahraniční politiky. Československá zahraniční politika v roce 1938, Svazek II (1. červenec–5. řijen 1938) [Dokumente zur tsche­ choslowakischen Außenpolitik. Die tschechoslowakische Außenpolitik im Jahr 1938, Band II (1. Juli–5. Oktober 1938)]. Praha 2002 (künftig: DČSZP, 1938, II), No. 515, S. 201 f., Masaryks Bericht an das Außenministerium über die britische Politik gegenüber der Tschechoslowakei, 29. 8. 1938. 4 Ebenda, No. 712. S. 390–392, Masaryks Bericht einschließlich des englischsprachigen Textes einer Chamberlain überreichten Note vom 25. September 1938, in der die Bedingungen Hit­ lers abgelehnt werden. No. 715, S. 394, Masaryks Bericht an das Außenministerium über sein Gespräch mit Chamberlain und Lord Halifax, 26. 9. 1938. 5 Birmingham University Library, Chamberlain Papers, NC 18/1/1071, Neville Chamberlains Brief an seine Schwester Ida, 9. 10. 1938. – Zu weiteren Details der inneren politischen Situa­ tion Großbritanniens unmittelbar nach München siehe: Smetana, Vít: In the Shadow of ­Munich. British Policy towards Czechoslovakia from the Endorsement to the Renunciation of the Munich Agreement (1938–1942). Praha 2008, S. 60 ff.

Tschechoslowakei und ihre Verbündeten in der Krise des September 1938   99

liefern. Nach Masaryks Bericht war er überzeugt davon, dass in Großbritannien „eine große Reaktion gegen den an uns begangenen Verrat“ einsetze und zuneh­ me.6 Masaryk hat Churchills Versicherung offensichtlich etwas abgeschwächt; doch Chamberlain beklagte sich sofort über eine Verschwörung Churchill – Ma­ saryk: „Ich bin ständig über ihr Tun und Reden informiert, die zum xten Male zeigen, wie vollständig sich Winston selber täuschen kann, wenn er will, und wie über alle Maßen gutgläubig ein Ausländer sein kann, wenn er das gesagt be­ kommt, was er hören will. In diesem Falle hieß es, ‚Chamberlains Sturz steht unmittel­bar bevor‘!“7 Offenbar konnte sich Churchill nicht vorstellen, dass seine Telefongespräche abgehört wurden; als sich Masaryk im Mai 1939 – in einem der Telegramme, die er aus den Vereinigten Staaten sandte – Sorgen machte, der In­ halt falle vielleicht „einigen Münchnern“ in die Hände, beruhigte ihn Churchill: „Fürchten Sie nicht, unsere Telegramme könnten von der Regierung überwacht werden. Soweit sind wir hier noch nicht.“8 Auch das gehörte zu den Fällen, wo sich Churchill selber täuschte. Frankreich, wichtigster Verbündeter der Tschechoslowakei in der Zwischen­ kriegsperiode, sandte während des ganzen Jahres 1938, was seine wahren Absich­ ten anging, widersprüchliche Signale aus. Doch der französische Außenminister, Georges Bonnet, war durchaus konsequent: er wollte Frankreich nicht ohne Großbritannien binden. In den anglo-französischen Gesprächen, die Ende April in London stattfanden, wies er auf die französische Allianz mit der Tschechoslo­ wakei hin,9 nachdem er aber zur Kenntnis genommen hatte, dass Großbritannien sich nicht gebunden fühlte, arbeitete er – in den Worten Jean-Baptiste Duroselles – „mit allen Fasern seiner Energie, hinter dem Schleier einer ostentativen Flexibi­ lität, daran, Frankreich aus seiner Verpflichtung herauszuziehen“.10 Schon am 10. Juli 1938 berichtete Osuský, Bonnet habe in einer Unterhaltung klar zu verste­ hen gegeben, dass Frankreich wegen der Sudetenfrage nicht Krieg führen werde, auch wenn die Pariser Regierung öffentlich immer wieder ihre Solidarität mit der Tschechoslowakei bekunden werde.11 Jedoch hat Ministerpräsident Edouard Da­ ladier selber diese „französische Position“ in einem handschriftlichen Kommentar auf Bonnets Note in Frage gestellt: Erstens müsse eine solche Politik vom Minis­ terrat gebilligt werden, und wie sähe zweitens, so fragte er, die französische ­Haltung im Falle einer deutschen Aggression gegen die Tschechoslowakei aus?12   6 DČSZP,

1938, II, No. 788, S. 471, Masaryk an Außenministerium, 1. 10. 1938. University Library, Chamberlain Papers, NC 18/1/1071, Chamberlains Brief an seine Schwester Ida, 9. 10. 1938.   8 Gilbert, Martin (Hg.): Winston Churchill. Companion Vol. V, The Coming of War, 1936–1939. London 1975, S. 1503 f.   9 Documents on British Foreign Policy (künftig: DBFP), Third Series, 1938–1939, London 1949–57, Vol. I, No. 164, S. 198–234. Record of Anglo-French Conversations held at 10 Down­ ing Street, 28–29 April 1938. 10 Duroselle, Jean-Baptiste: France and the Nazi Threat. The Collapse of French Diplomacy 1932–1939. New York 2004 (erste französische Ausgabe 1985), S. 272. 11 DČSZP, 1938, II, No. 413, Anm. 1, S. 50. 12 Duroselle: France and the Nazi Threat, S. 273.   7 Birmingham

100   Vít Smetana Während er aber in der Öffentlichkeit Frankreichs Bindung an seinen Bundesge­ nossen in Mitteleuropa stets betonte und er dem britischen Botschafter in Paris, Sir Eric Phipps, am 8. September sagte, wenn Deutschland die Tschechoslowakei angreife, werde Frankreich marschieren „wie ein Mann“13, ging die politische In­ itiative allmählich in britische Hände über; die Runciman-Mission bewies das deutlich genug. Die Initiative sollte auch nicht mehr an Frankreich zurückgehen: Am 13. September versuchte Daladier, sie zurückzugewinnen, indem er Cham­ berlain den Vorschlag eines gemeinsamen Treffens mit Hitler machte, doch der Premierminister wollte unabhängig von Frankreich vorgehen und gab eine „di­ rekte Aktion gegenüber Berlin“ bekannt – den Flug zu Hitlers Berghof bei Berch­ tesgaden.14 Frankreich sollte nur noch eine kleinere Rolle spielen. Bonnet hatte starken Rückhalt im französischen Ministerrat. Als dort die Mei­ nungsverschiedenheiten ihren Höhepunkt erreichten, am 13. September wegen der Mobilmachung, fand Bonnets negative Haltung die Unterstützung von sieben Ministern. Der Außenminister drohte mit Rücktritt, sollte die Mobilmachung be­ schlossen werden, aber dann wurden er und Regierungschef Daladier zu Staats­ präsident Lebrun bestellt, der sie drängte, zusammenzustehen. Lebrun hatte Er­ folg.15 Neun Tage später sprachen die „Kriegerischen“ im Kabinett von Rücktritt, Kolonialminister Georges Mandel, Justizminister Paul Reynaud und Versorgungs­ minister Champetier de Ribes, doch wurde ihnen das von Herriot und Winston Churchill ausgeredet, der sich gerade in Paris aufhielt. Im Gegenzug drohten Ana­ tole de Monzie, Minister für öffentliche Arbeiten, und Charles Pomaret, der Ar­ beitsminister, ihre Ämter zur Verfügung zu stellen, falls der Ministerpräsident Reynaud nachgab.16 Bonnet selbst beschwor Daladier, weiterhin für den Frieden zu kämpfen. Es heißt, in seinem Brief vom 24. September habe er seiner Bitte mit einer abermaligen Rücktrittsdrohung Nachdruck verliehen.17 Aber mit der zu­ nehmenden Spannung, die dem Scheitern des zweiten Treffens Hitler – Chamber­ lain in Godesberg folgte, entglitten die Dinge Bonnets Händen: Daladier berief sein Kabinett ein, wobei er den Außenminister ostentativ nicht einlud, und erhielt eine überwältigende Zustimmung für die Erklärung, Hitlers Godesberger Forde­ rungen seien unannehmbar.18 Bonnet konnte nicht verhindern, dass Frankreich am 24. September „einige Klassen von Reservisten“ mobilisierte, und er war of­ fensichtlich schockiert durch die – von England empfohlene – allgemeine Mobil­ machung der Tschechoslowakei, die von der Prager Regierung am Abend zuvor angeordnet worden war. Denn er „glaubte, dies könne sehr ernste Folgen haben

13 Adamthwaite,

Anthony: France and the Coming of the Second World War, 1936–1939. Lon­ don 1977, S. 206. 14 Duroselle: France and the Nazi Threat, S. 282. 15 Adamthwaite: France and the Coming of the Second World War, S. 210. 16 Ebenda, S. 220. Duroselle. France and the Nazi Threat, S. 288. 17 Die Quelle ist General Maurice Gamelin. Siehe Adamthwaite: France and the Coming of the Second World War, S. 221. 18 May, Ernest R.: Strange Victory. Hitler’s Conquest of France. New York 2000, S. 166.

Tschechoslowakei und ihre Verbündeten in der Krise des September 1938   101

und Hitler zum Angriff veranlassen“19. Überdies schien es, als verliere Bonnet sogar seine anfänglichen Bundesgenossen bei der Verständigungspolitik, die Bri­ ten. So sah er sich plötzlich zu dem Versuch genötigt, das Kommuniqué des For­ eign Office vom 26. September zu unterdrücken, in dem es, ohne dass er vorher konsultiert worden wäre, hieß, im Falle eines deutschen Angriffs werde die Tsche­ choslowakei französische Hilfe erhalten, und Großbritannien wie Russland wür­ den sicherlich an Frankreichs Seite stehen.20 Die Protokolle der anglo-französischen Gespräche zeigen klar, dass die fran­ zösischen Politiker sich während des ganzen Jahres 1938 wiederholt den „ver­ mittelnden“ Positionen der Briten fügten – wenn auch gewöhnlich nach eini­ gem Zögern und nach der Betonung der Notwendigkeit, zu Frankreichs Ver­ pflichtungen zu stehen.21 Auf dem Gipfeltreffen, das am 25./26. September in der Downing Street 10 stattfand, erklärte Daladier, Frankreich werde keine Konzessionen akzeptieren, die die Zerstörung der Tschechoslowakei bedeuten würden, „jene, die das ebenfalls wollen, können uns folgen“. Die führenden ­britischen Politiker stellten dann ein regelrechtes Verhör an, namentlich der Schatzkanzler und hervorragende Jurist Sir John Simon, wobei sie auf Frank­ reichs militärische Schwäche hinwiesen.22 David Faber hat jüngst geschrieben, das offizielle britische Protokoll gebe „einen hinlänglichen Geschmack von der gönnerhaften und bevormundenden Haltung der britischen Delegation“23. Zwar führte das Treffen nur zu einem toten Punkt, doch stimmten die franzö­ sischen Vertreter weiteren britischen Bemühungen zu, den Krieg zu vermeiden (Sir Horace Wilsons Berliner Mission).24 Und Bonnet, obschon er sich wach­ sender Opposition der meisten seiner Kollegen im Ministerrat gegenübersah und wiederum an Rücktritt dachte, fuhr fort in seinem Kampf für eine fried­ liche Lösung um praktisch jeden Preis. Anthony Adamthwaite stellte dazu fest: „Frankreichs Bereitschaft, bis zur äußersten Grenze der Konzessionen zu gehen,

19 DBFP,

Third Series, Vol. II, No. 1064, S. 493. Phipps zu Godesberg und Foreign Office, 23. 9.  1938. 20 Adamthwaite: France and the Coming of the Second World War, S. 205. Chamberlain war auch verärgert, weil Halifax vor der Veröffentlichung des Kommuniqués keine Zustimmung eingeholt hatte. Vgl. Hughes, Michael: British Foreign Secretaries in an Uncertain World, 1919–1939. New York 2006, S. 181. Der Text des Kommuniqués in DBFP, Third Series, Vol. II, Anm. 1 bis 1111, S. 550. 21 DBFP, Third Series, Vol. I, No. 164, S. 198–234, Record of Anglo-French Conversations held at 10 Downing Street, 28–29 April 1938. Ebenda, Vol. II, No. 928, S. 373–400, Record of AngloFrench Conversations held at 10 Downing Street on September 18. Abermals wurde diese französische Folgsamkeit während der Diskussionen über eine Garantie der verstümmelten Tschechoslowakei sichtbar; DBFP, Third Series, Vol. III, No. 325, S. 300–306, Record of AngloFrench Conversations held at the Quai d’Orsay on 24 November 1938. 22 DBFP, Third Series, Vol. II, No. 1093, 1096, S. 520–535, 536–541, Record of Anglo-French Con­ versations held at 10 Downing treet, 25–26 September 1938. 23 Faber, David: Munich. The 1938 Appeasement Crisis. London 2008, S. 354. 24 May: Strange Victory, S. 166. – Neville, Peter: Hitler and Appeasement. The British Attempt to Prevent the Second World War. London 2006, S. 105.

102   Vít Smetana muss Hitlers Entschluss, zu einer Konferenz in München einzuladen, erheblich beeinflusst haben.“25 Das deutlichste Signal, das Frankreich im Laufe des Jahres 1938 aussandte, zeigte also Schwäche und Unentschlossenheit an. Umso größere Bedeutung kam daher der Politik Großbritanniens zu. Die britische Perzeption der „tschechoslo­ wakischen Frage“ war jedoch in mehrerer Hinsicht arg verzerrt.

1. Verfälschtes Bild vom inneren System der ­Tschechoslowakei Man kann die Ansicht vertreten, für die meisten britischen Politiker und Diplo­ maten sei es ohne sonderliche Bedeutung gewesen, dass es sich bei der Tschecho­ slowakei um ein demokratisches Land handelte. Einige Kabinettsminister hielten die Republik für „ein modernes und höchst künstliches Geschöpf, ohne echte Wurzeln in der Vergangenheit“ (Sir John Simon)26, oder für „eine labile Größe in Mitteleuropa“ und sahen keinen Grund, etwas „zur Erhaltung einer solchen ­Größe“ zu tun (Sir Thomas Inskip)27. Darin spiegelte sich nur die ständige Fehl­ information, die in den vorhergegangenen Monaten und Jahren von etlichen Missionschefs gekommen war. Unter ihnen spielte Joseph Addison eine gewichti­ ge Rolle, der von 1930 bis 1936 als britischer Gesandter in der Tschechoslowakei fungiert hatte. Seine Telegramme und Berichte aus dem Palais Thun in Prag wa­ ren voll von Vorurteilen gegen die Tschechen, die er als „minderwertige Slawen“ ansah, und gegen die tschechoslowakische Republik, die er für einen nicht lebens­ fähigen „künstlichen Staat“ hielt. Wie so viele britische Politiker und Diplomaten sehnte er sich nach der Wiederherstellung der europäischen Grenzen von 1914.28 Auch Robert Hadow, Addisons getreuer Stellvertreter, gab wiederholt ein ver­ fälschtes Bild von der Minderheitenfrage in der Tschechoslowakei; er verließ sich dabei vornehmlich auf Informationen, die ihm sudetendeutsche Führer lieferten. So sagte er häufig, die Tschechoslowakei habe aufgehört, ein demokratisches Land zu sein.29 Ferner vertrat er die Meinung, dass „Österreich und die Tschechoslowa­ kei kein Recht auf eine eigene Existenz“ hätten und dass die deutsche Hegemonie 25 Adamthwaite:

France and the Coming of the Second World War, 1936–1939, S. 223. Der Autor schildert die verschiedenen französischen Versuche in Rom und Berlin, noch in elfter Stunde zu einer Verständigung mit Hitler zu kommen. 26 Zitiert nach Gilbert (Hrsg.): Winston Churchill. Companion Vol. V, S. 948 f. Diese Meinung stand im britischen Kabinett nicht alleine da. Vgl. Goldstein, Erich: Neville Chamberlain, the British Official Mind and the Munich Crisis. In: Diplomacy and Statecraft, Vol. 10, 1999, No. 2 u. 3 – Special Issue on The Munich Crisis, 1938. Prelude to World War II, S. 276–292, hier S. 282. 27 Zitiiert nach Gilbert (Hrsg.): Winston Churchill. Companion Vol. V, S. 948 f. 28 Cornwall, Mark: The Rise and Fall of a „Special Relationship“? Britain and Czechoslovakia, 1930–1948. In: Brivati, Brian/Jones, Harriet (Hg.), What Difference Did the War Make? Leices­ ter 1993, S. 133 f. 29 Michie, Lindsay W.: Portrait of an Appeaser. Robert Hadow, First Secretary in the British For­ eign Office, 1931–1939. London 1996, S. 29–37.

Tschechoslowakei und ihre Verbündeten in der Krise des September 1938   103

in Südosteuropa nicht nur unvermeidlich, sondern wünschenswert sei.30 Sir Ne­ vile Henderson, der britische Botschafter in Berlin, der nach dem Krieg viel Kritik in der Geschichtsschreibung erfuhr,31 hob in seinen Berichten über die Sudeten­ frage oft „das höchste moralische Prinzip“ hervor, die Selbstbestimmung.32 Vor­ eingenommen betrachtete er die Tschechen als eine „dickköpfige Rasse33 und die Tschechoslowakei – in D. C. Watts Worten – „als eine künstliche Schöpfung, be­ herrscht von Leuten, die das kollektiv nicht verdienten und eine übertriebene Vorstellung von ihrem internationalen Status hätten“34. Chamberlains Behandlung der Krise von 1938 war also zum Teil davon be­ stimmt, dass Diplomaten in Schlüsselpositionen und viele andere einflussreiche Persönlichkeiten die deutsche Minderheit in der Tschechoslowakei bei ihrem Kampf um „Selbstbestimmung“ im Recht und die Prager Regierung im Unrecht sahen. Britische Politiker verkannten – fast ohne Ausnahme – den wahren Kern der Sudetenfrage wie der Position Konrad Henleins und seiner Anhänger. Hen­ lein, der Turnlehrer, brachte es fertig, sogar die Londoner Diplomaten und Politi­ ker mit dem weitesten Blick zu beeindrucken. Vansittart stand mit ihm auf „sehr freundschaftlichem Fuße“ und empfing ihn bei allen seinen drei Londoner Besu­ chen.35 In seinen Reden im Royal Institute of International Affairs betonte Hen­ lein, dass der sowjetisch-tschechoslowakische Vertrag von 1935 die Tschechoslo­ wakei in Russlands Flugzeugträger verwandelt habe und dass die Tschechen vom Bazillus des Kommunismus infiziert seien.36 Mitte Mai 1938 kam Henlein aber­ mals nach Großbritannien, und Lord Halifax informierte anschließend das Ka­ binett: „Sir Robert Vansittart hat aus seinem Gespräch zwei Schlüsse gezogen, ­erstens dass Dr. Henlein keine Weisungen aus Berlin habe, zweitens dass Dr. Beneš ein Abkommen nützlicher Art bekommen könne, wenn er nur rasch handeln würde.“37 Während seiner Unterhaltungen mit vielen Leuten von Bedeutung er­ weckte Henlein den Eindruck, dass er lediglich um lokale Autonomie für die Su­ 30 Diese

Worte wurden wiederholt in einem Telegramm, das George S. Messersmith von der amerikanischen Gesandtschaft in Wien am 4. Juni 1936 an den Außenminister in Washington sandte. Zitiert nach Lukes: Czechoslovakia between Stalin and Hitler, S. 56. 31 Vgl. die Kritik bei Gilbert, Felix: Two British Ambassadors: Perth and Henderson. In: Craig, Gordon A. /Gilbert, Felix (Hg.): The Diplomats 1919–1939. Princeton 1994 (Erstveröffentli­ chung 1953), S. 537–554. 32 Cornwall: The Rise and Fall of a Special Relationship?, S. 132. 33 DBFP, Third Series, Vol. II, No. 551, S. 11, Sir Nevile Henderson an Viscount Halifax, 26. 7.  1938. 34 Watt, Donald Cameron: Chamberlain’s Ambassadors. In: Dockrill, Michael/McKercher, Brian (Hg.): Diplomacy and World Power. Studies in British Foreign Policy 1880–1950. Cambridge 1996, S. 136–170, hier S. 151. 35 Churchill College Archive, Cambridge, Vansittart Papers, VNST II/17. Vansittarts Memoran­ dum vom 16. 5. 1938 über seinen Lunch mit Konrad Henlein. Das Memorandum ist abge­ druckt als Anhang in DBFP, Third Series, Vol. I, S. 630–633. Es ist interessant, dass der erste Satz des Original-Memorandums weggelassen wurde, nämlich: „Ich habe mit Herrn Henlein schon in früheren Jahren auf freundschaftlichem Fuß gestanden und ihn während seiner Be­ suche in London häufig gesehen.“ 36 Vgl. Roberts, Andrew: The Holy Fox’, a Biography of Lord Halifax. London 1991, S. 104 f. 37 Zitiert nach Parker, Robert A. C.: Chamberlain and Appeasement. London 1993, S. 147.

104   Vít Smetana detendeutschen kämpfe und nicht deren Anschluss an Deutschland wolle.38 Selbst Churchill, der Henlein zusammen mit Archibald Sinclair traf, dem Führer der Liberalen, „war mit dem Ergebnis des Gesprächs sehr zufrieden“39. Sowohl Cham­ berlain wie Lord Halifax brachten ihre Dankbarkeit für seine Anstrengungen zum Ausdruck. Basil Newton, der britische Gesandte in Prag, wurde dann von Halifax über Henleins „derzeitige Neigung“ unterrichtet, „von der Vansittart beeindruckt worden“ sei, und er erhielt die Anweisung, die tschechoslowakische Regierung zu drängen, „zum frühestmöglichen Zeitpunkt ein aufrichtiges und umfassendes Angebot zu machen, denn wenn die derzeitige Gelegenheit ergriffen wird, kann ein großzügiges Angebot auf der Basis von rasch geführten Verhandlungen die Grundlage eines Abkommens legen“40. Dies alles war natürlich vergeblich, da Henlein kein Interesse an einem Modus Vivendi mit der Prager Regierung hatte. In London spielte er dagegen die Rolle des gemäßigten Politikers mit Erfolg. Wie Vansittarts Biograph Norman Rose sagt: „Trotz all der Informationsquellen, über die er verfügte, oder vielleicht weil sie ihm zu Gebote standen, ist es Van[sittart] nicht gelungen, Henleins Maskerade zu durchschauen.“41

2. Falsche Interpretationen der tschechoslowakischen ­Außenpolitik Fehlerhafte Urteile verursachten insbesondere die tschechoslowakisch-sowjeti­ schen Beziehungen, und dies ging Hand in Hand mit dem tief sitzenden Abscheu, den die politischen Eliten Großbritanniens der Sowjetunion entgegenbrachten.42 Hierzu ein illustratives Detail: Sir John Simon, damals Außenminister und zur Zeit von München Schatzkanzler, hörte im April 1935 von Hermann Göring, zwi­ schen der Tschechoslowakei und der Sowjetunion gebe es eine Vereinbarung, die es sowjetischen Flugzeugen erlaube, bei einem Angriff auf Deutschland tschecho­ slowakische Flugplätze zu benützen. Diese „Enthüllung“ machte auf den Außen­ minister einen solchen Eindruck, dass er viereinhalb Jahre später, bereits nach Kriegsbeginn, die Frage an Beneš, den nun exilierten Ex-Präsidenten der Tsche­ choslowakei, nicht zu unterdrücken vermochte, ob denn Görings Behauptung der Wahrheit entsprochen habe. Beneš hat die Frage natürlich verneint.43 Allerdings muss erwähnt werden, dass Beneš – noch als tschechoslowakischer Außenminis­ ter – selbst zu dem Vorwurf beitrug, die Tschechoslowakei sei ein Agentennest Stalins und eine Bastion der Kommunistischen Internationale. Im Gegensatz zu Pierre Laval, dem französischen Außenminister und Unterzeichner des Abkom­ 38 Siehe

Nicolson, Nigel (Hg.): Harold Nicolson. Diaries and Letters, 1930–1939. London 1966, S. 340 f. 39 Gilbert (Hg.): Winston Churchill, S. 1024 f. 40 Ebenda. 41 Rose, Norman: Vansittart, Study of a Diplomat. London 1978, S. 224. 42 Siehe Shaw, Louise Grace: The British Political Elite and the Soviet Union 1937–1939. London 2003. 43 Bodleian Library, Oxford, Simon Papers, No. 11, Tagebucheintrag vom 29. 9. 1939.

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mens zwischen Frankreich und der UdSSR, zeigte sich Beneš recht redselig: Nach­ dem er im Juni 1935 von seinem Besuch in der Sowjetunion zurückgekehrt war, äußerte er sich ganz ohne Not zu westlichen Diplomaten, darunter der britische Gesandte Sir Joseph Addison, über die Situation in der UdSSR derart enthusias­ tisch, dass er alsbald in den Ruf der Naivität und der Empfänglichkeit für Stalins Werben geriet.44

3. Irreführende militärische Urteile Am 21. März 1938 kamen die britischen Stabschefs zu dem Schluss, dass kein Druck, den Großbritannien und seine potentiellen Bundesgenossen auszuüben in der Lage seien, „Deutschland daran hindern könne, in Böhmen einzufallen, es zu überrennen und der tschechoslowakischen Armee eine entscheidende Niederlage zuzufügen“. Großbritannien werde sich also einem langen Kampf mit Deutsch­ land gegenübersehen, um die verlorene Integrität der Tschechoslowakei wieder­ herzustellen. In einem solchen Falle würden wahrscheinlich sowohl Japan wie Italien zu profitieren suchen, und Großbritannien sähe sich nicht nur einem be­ grenzten europäischen, sondern einem Weltkrieg konfrontiert, den zu gewinnen Großbritannien nicht die erforderlichen Ressourcen habe. Aber die Stabschefs operierten mit sehr dubiosen Zahlen. So unterschätzten sie die Stärke der tsche­ choslowakischen Armee (auf der Grundlage der Zahlen von 1935) und deren Kampfkraft (vor allem die gut ausgebauten Grenzbefestigungen) ganz erheblich; dazu kamen zweifelhafte außenpolitische Überlegungen, so die Zurechnung Russ­ lands zu den Staaten, die bei einem europäischen Konflikt in der tschechoslowa­ kischen Frage neutral bleiben würden.45 Mitten in der Krise, am 14. September 1938, wiederholten die Stabschefs ihre Lagebeurteilung. Auch wenn sie jetzt die Zahlen für die tschechoslowakische Ar­ mee nach oben korrigierten, warnten sie doch abermals vor einem Krieg gegen sowohl Deutschland wie Japan und Italien, denen „weder die derzeitige noch die projektierte Stärke unserer Verteidigungskräfte zu begegnen geeignet ist, selbst wenn wir mit Frankreich und Russland verbündet sein sollten“46. Solche Folge­ rungen waren sicherlich höchst fragwürdig.

4. Verwirrung durch widersprüchliche Signale aus der ­Tschechoslowakei In London war nicht klar, ob die Tschechoslowakei tatsächlich entschlossen war, für ihre Unabhängigkeit und territoriale Integrität zu kämpfen, und die Zweifel gingen zumindest zum Teil auf die Tschechoslowaken selbst zurück. In den Augen 44 Siehe

Lukes: Czechoslovakia between Stalin and Hitler, S. 52–58. Czechoslovakia as a Military Factor in British Considerations of 1938. In: The Journal of Strategic Studies, Vol. I, 1978, No. 2, S. 196–198. 46 Ebenda, S. 198. 45 Hauner, Milan:

106   Vít Smetana einiger Diplomaten – so Sir Nevile Hendersons und seines Militärattachés Mason Mac-Farlane – und etlicher Politiker hatte zwar eine tschechische Überreaktion, das heißt die Mobilmachung, die Krise im Mai verursacht, doch schien einige Monate später, angesichts einer realen Bedrohung, jene Entschlossenheit zu schwinden und Kompromissbereitschaft aufzukommen. Als Nečas Beneš’ Fünften Plan Blum übermittelte, erhielten die Briten dank einer Indiskretion Daladiers noch vor dem französisch-britischen Treffen vom 18. September Kenntnis davon. Zur gleichen Zeit sagte Ministerpräsident Milan Hodža zu Basil Newton, die Tschechoslowakei könne ein Territorium mit bis zu einer Million Bewohnern ver­ lieren.47 Solche Berichte dienten als Beweis, dass Prag bereit sei, die Gebiete mit einer deutschen Mehrheit abzutreten – und zwar unmittelbar bevor der anglofranzösische Plan mit ähnlichen Bedingungen entworfen und der tschechoslowa­ kischen Regierung überreicht wurde. Bald nach der offiziellen tschechoslowaki­ schen Ablehnung des Plans kamen aber mindestens zwei Signale, die abermals die Bereitschaft Prags bestätigten, auf die Grenzgebiete zu verzichten – sollte eine derartige Lösung in Form eines Ultimatums präsentiert werden. Newton hörte das von „jemandem“ aus dem tschechoslowakischen Außenministerium, 48 und sein französischer Kollege De Lacroix berichtete, er habe diese so überaus wich­ tige Mitteilung von Ministerpräsident Hodža erhalten.49 Danach, in den frühen Stunden des 21. September, haben der britische und der französische Missions­ chef Präsident Beneš das Ultimatum überreicht,50 De Lacroix tränenüberströmt, Newton mit niedergeschlagenen Augen.51 Selbst noch nach dem Regierungswechsel in Prag, zu dem es am 22. September kam, und nach der allgemeinen Mobilmachung, die am folgenden Tag angeord­ 47 DBFP,

Third Series, Vol. II, No. 902, Newton an Foreign Office, 16. 9. 1938. In einem Tele­ gramm aus Paris, abgesandt am 19. 9. 1938, machte Štefan Osuský Präsident Beneš Vorwürfe, weil er zu De Lacroix gesagt hatte, die Tschechoslowakei könne Grenzbezirke verlieren, in denen rund 900 000 Deutsche wohnten. Hauner, Milan (Hg.): Edvard Beneš. Pamĕti III. Do­ kumenty. Praha 2007, No. 55, S. 194 f., Osuský nach Prag, 19. 9. 1938. 48 DBFP, Third Series, Vol. II, No. 979, Newton an Foreign Office, 20. 9. 1938. 49 Documents Diplomatiques Français 1932–19939, 2e Serie (1936–1939), Paris 1977–1982, Tome XI, No. 232, De Lacroix nach Paris, 20. 9. 1938. Jindřich Dejmeks Behauptung, Hodžas persönliche Rolle beim Vorbringen des Ultimatums habe nur auf Bonnets späterer Erklärung beruht, ist fraglos unhaltbar. Jean-Baptiste Duroselle (France and the Nazi Threat, S. 469, footnote 128) hebt die eindeutige Authentizität der Botschaft von De Lacroix hervor, die nicht allein im Nachlass Bonnets deponiert ist, sondern auch in dem von Eduard Daladier. Dejmek, Jindřich: Edvard Beneš. Politická biografie českého demokrata, II: Prezident republi­ ky a vůdce národního odboje (1935–1948) [Edvard Beneš, Politische Biografie eines tschechi­ schen Demokraten, II: Präsident der Republik und Führer des nationalen Widerstands]. Praha 2008, S. 155, 163. In der Tat kann nicht ausgeschlossen warden, dass Bonnet telefonisch be­ stimmte Instruktionen an De Lacroix gab. Vgl. Kuklík, Jan/Němeček, Jan: Proti Benešovi! ­Česká a slovenská protibenešovská opozice v Londýně 1939–1945 [Against Beneš! The Czech and Slovak anti-Beneš opposition in London 1939–1945]. Praha 2004, S. 155 f. 50 DBFP, Third Series, Vol. II, No. 991, S. 437 f., Halifax an Newton, 21. 9. 1938, Newton an Hali­ fax, 21. 9. 1938. 51 Seeley G. Mudd Manuscript Library, Princeton, Hamilton Fish Armstrong Papers, box 101, Memorandum über Armstrongs Gespräch mit Dr. Edvard Beneš, Hotel Playa, New York City, 10. 2. 1939.

Tschechoslowakei und ihre Verbündeten in der Krise des September 1938   107

net wurde, hat die tschechoslowakische Regierung in mehreren Mitteilungen nach London und Paris bestätigt, dass sie bereit sei, die von Deutschen bewohnten Grenzgebiete abzutreten.52 So meldeten sich Männer bei ihren Truppenteilen, die ihre Republik mit Enthusiasmus in den bestehenden Grenzen zu verteidigen ge­ willt waren, während die neue Regierung, geführt von Jan Syrový, einem Helden der 1917/18 an der russischen Front kämpfenden Tschechoslowakischen Legion, der mit einer schwarzen Klappe auf einem Auge so sehr an Jan Žižka erinnerte, bereits darüber diskutierte, was die 50%-Schwelle tatsächlich bedeutete und wel­ che umstrittenen Territorien gerettet werden könnten.53 München, eine Woche danach, stellte für die tschechoslowakische Regierung einen Schock dar, weil die Minister in Prag überhaupt nicht konsultiert worden waren und gar nichts zu retten vermochten. Am 25. September legte Masaryk sein dramatisch formuliertes Memorandum über die „Nation von Sklaven“ (siehe oben) vor, aber später am Abend erreichte das Foreign Office eine andere Botschaft aus Prag, die besagte, dass lediglich eine Note der tschechoslowakischen Regierung kommen werde. Daraufhin rief Masa­ ryk in Prag an und bat flehentlich darum, dass sein Memorandum als Standpunkt der Regierung gebilligt und dass nichts gesagt oder verkündet werde, was die feste Haltung der tschechoslowakischen Nation als zweifelhaft erscheinen lasse.54 Diese vieldeutigen Signale stellten gewiss auch noch die Reste tschechoslowakischer Entschlossenheit in Frage – und zwar gerade zu der Zeit, da der Kurs der beiden Westmächte härter zu werden schien. In Chamberlains Augen war die in Prag anscheinend herrschende Konfusion ein zusätzliches Argument für die Suche nach einer „Kompromiss“-Lösung der Krise. Warum sollte gekämpft werden, wenn die Suche im Prinzip entschieden war und es nur mehr um die Modalitäten ging? Das größte wechselseitige Missverständnis betraf jedoch das Münchener Ab­ kommen selbst. Während viele britische Politiker und Diplomaten in den folgen­ den fünf Monaten glaubten, mit britischer Hilfe – und dank ihrer – sei die Tsche­ choslowakei vor sonst sicherer Zerstörung bewahrt und als unabhängiger Staat erhalten worden, sahen Prager Politiker München als einen Akt des Verrats, vor allem seitens der Franzosen, doch auch seitens der Briten. Dass beide willens wa­ ren, sich an einer internationalen Garantie der neuen Grenzen zu beteiligen, war kaum geeignet, die Prager Sicht zu ändern, wenngleich der „innere Führungs­ kreis“ in London diese neue Verpflichtung Großbritanniens im Herzen des euro­ päischen Kontinents als „eine sehr ernste Sache“ ansah.55 Die tschechoslowaki­ sche Meinung verfestigte sich vielmehr noch, da die internationale Garantie der Jindřich: Nenaplněné naděje. Politické a diplomatické vztahy Československa a Velké Británie (1918–1938) [Unerfüllte Hoffnungen der politischen und diplomatischen Beziehun­ gen der Tschechoslowakei und Großbritanniens (1918–1938)]. Praha 2003, S. 330–333. 53 Vgl. Tesař, Jan: Mnichovský complex [Der Münchener Komplex]. Praha 2000, S. 18–23. 54 DČSZP, 1938, II, No. 715, S. 394 f., Prokop Drtinas Aufzeichnung seiner telefonischen Unter­ haltung mit Jan Masaryk, 26. 9. 1938. 55 Bodleian Library, Oxford, Simon Papers, No. 10, Tagebucheintrag vom 29. 9. 1938. 52 Dejmek,

108   Vít Smetana sogenannten Rest-Tschechoslowakei nie Wirklichkeit wurde.56 So lagen die Wur­ zeln vieler Missverständnisse und Enttäuschungen, wie sie die künftigen anglotschechoslowakischen Beziehungen charakterisieren sollten, in den letzten zehn Septembertagen des Jahres 1938.

Die östliche Dimension Die sowjetischen Intentionen im Spätsommer und Frühherbst 1938 erscheinen bis zum heutigen Tage als „ein Rätsel, das in ein Mysterium gewickelt ist und in einem Geheimnis steckt“ –, um Churchills Formulierung von 1939 zu gebrau­ chen.57 Darin ist wahrscheinlich der Grund dafür zu sehen, dass sie so viele wi­ dersprüchliche Deutungen gefunden haben – manchmal bei ein und demselben Autor. Zum Beispiel hat Ivan Pfaff als erster ein Buch über den vorgeblichen sow­ jetischen Verrat geschrieben,58 aber ein paar Jahre später einen Aufsatz folgen las­ sen, in dem er Moskau unterstellte, 1938 Pläne zur Sowjetisierung der Tschecho­ slowakei geschmiedet zu haben.59 Pfaff berief sich auf Weisungen, nach denen die Krise, die der Ausbruch eines Krieges verursachen werde, zur Beseitigung des ­kapitalistischen Systems in der Tschechoslowakei ausgenutzt werden müsse. Diese Direktionen sind angeblich von Andrej Ždanov auf einer ZK-Sitzung der Tsche­ choslowakischen KP am 20./21. August 1938 präsentiert worden. Gewiss, Pfaffs Texte sind nicht immer ganz zuverlässig: in diesem Falle ließ er im gleichen Sinne auch Georgi Dimitroff in Prag agitieren, der jedoch, wie sein Tagebuch und ande­ re Dokumente belegen, damals in Kislovodsk im Nordkaukasus Urlaub machte. Viel ernster ist freilich, dass die These von der Prager Agitation Ždanovs von Igor Lukeš übernommen wurde. Eines von den sieben Kapiteln seines Buches „Czecho­ slovakia between Stalin and Hitler“ trägt den Titel „Lord Runciman and Comrade Zhdanow“; etwa vier Seiten des Kapitels beruhen auf dem fragwürdigen ŽdanovDokument, und Lukeš argumentiert, Ždanov habe eine Instruktion Stalins über­ mittelt, der zufolge die tschechoslowakischen Kommunisten, mit Unterstützung der Roten Armee, Hitlers Angriff nutzen sollten, um in der Tschechoslowakei die 56 Zur

Frage der nicht gegebenen Garantie für die sog. Rest-Tschechoslowakei siehe Smetana: In the Shadow of Munich, S. 64–83. Vgl. auch ders.. Zatracené závazky. Britové, Francouzi a pro­ blém garance pomnichovského Československa [Verdammte Verpflichtungen. Briten, Franzo­ sen and das Problem der Garantie der Tschechoslowakei nach München]. In: Soudobé dějiny, Vol. XI, 2004, No. 1–2, S. 88–109. 57 Rhodes, James Robert (Hrsg.): Churchill Speaks 1897–1963. Winston S. Churchill in Peace and War. Collected Speeches, 1897–1963. Leicester 1961, The First Month of War, 1 October 1939, S. 694–697, hier S. 694. Zur Haltung der Sowjetunion in der tschechoslowakischen Krise 1938 siehe auch den Beitrag von Sergej Slutsch in diesem Band. 58 Pfaff, Ivan: Sovětská zrada 1938 [Der sowjetische Verrat]. Praha 1993. Ders.: Die Sowjetunion und die Verteidigung der Tschechoslowakei 1934–1938. Versuch der Revision einer Legende, Köln 1996. 59 Ders.: Dny, které otřásly republikou [Tage, die die Republik erschütterten]. In: Dějiny a současnost, Vol. 20, 1998, No. 5, S. 34–37.

Tschechoslowakei und ihre Verbündeten in der Krise des September 1938   109

proletarische Revolution zum Siege zu führen.60 Immer wieder bezieht er sich auf die angebliche Rede Ždanovs, und solche Bezüge werden mit Hinweisen auf die hohe Zahl von Ausländern verbunden, die in Prag am späten Abend des 21. Sep­ tember bei einer Demonstration gegen die Annahme des anglo-französischen Plans verhaftet worden seien.61 Da Igor Lukeš fraglos zu den einflussreichsten Au­ toren zählt, die in englischer Sprache über die neueste tschechoslowakische Ge­ schichte schreiben, ist es nicht verwunderlich, dass die Ždanov-Story Eingang in die Historiographie zur tschechoslowakischen Entwicklung gefunden hat.62 An­ fang 1999 machte Milan Hauner darauf aufmerksam, dass Ždanov am 21. August 1938 in Wahrheit an einer Politbüro-Sitzung in Moskau teilgenommen habe.63 Als Lukeš konterte, ein anderer Ždanov (oder „ein Ždanov“) könne in Prag ge­ wesen sein,64 hat Ivan Šťovíček die Ždanov-Legende überhaupt bestritten: nach einer gründlichen Prüfung des entscheidenden Dokuments, das ohne Jahresanga­ be ist und in den fünfziger und sechziger Jahren etliche kommunistische Archive durchlaufen hat, kam er zu dem Schluss, dass es möglicherweise authentisch sei, aber wahrscheinlich eine Sitzung wiedergebe, die nicht in Prag, sondern in Mos­ kau stattgefunden habe, und zwar nach dem Komintern-Kongress vom August 1935.65 Stalin war 1938 offenbar über die Absichten der anderen politischen Führer besser unterrichtet als sonst jemand. Auf Grund der ausgezeichneten Arbeit sei­ ner Nachrichtendienste konnte er regelmäßig die diversen diplomatischen Korre­ spondenzen lesen.66 Die besten und umfassendsten Informationen kamen aus London, da der sowjetische Geheimdienst dort eines seiner „Asse“, Francis (John) Herbert King, sogar im Zentrum der britischen Diplomatie hatte, in der Kommu­ 60 Lukes:

Czechoslovakia between Stalin and Hitler, S. 198–201. S. 231. 62 Siehe z. B. Cienciala, Anna M.: The Munich Crisis of 1938. Plans and Strategy in Warsaw in the Context of the Western Appeasement of Germany. In: Diplomacy and Statecraft, Vol. 10, 1999, No. 2–3, S. 48–81. 63 Hauner, Milan: Dokumenty, které otřásají pověstí republiky [Dokumente, die die Legende der Republik erschüttern]. In: Dějiny a současnost, Vol. 21, 1999, No. 1, S. 48–51; vgl. auch die er­ weiterte Fassung: Ders.: Zrada, sovětizace, nebo historický lapsus? Ke kritice dvou dokumentů k československo-sovětským vztahům z roku 1938 [Verrat, Sowjetisierung oder historischer Lapsus? Zur Kritik zweier Dokumente zu den tschechoslowakisch-sowjetischen Beziehungen aus dem Jahr 1938]. In: Soudobé dějiny, Vol. VI, 1999, No. 4, S. 545–571. 64 Lukeš, Igor: Ještě jednou o Ždanovovi v Praze [Noch einmal über Ždanov in Prag], In: Dějiny a současnost, Vol. 21, 1999, No. 4, S. 51 f. 65 Šťovíček, Ivan: Ždanov v Praze aneb jak vznikaji legendy. Ke kritice dokumenta, který se stal základem novodobé legendy [Ždanov in Prag oder wie Legenden entstehen. Zur Kritik eines Dokuments, das zur Grundlage einer neuzeitlichen Legende wurde]. In: Dejiny a současnost, Vol. 21, 1999, No. 1. S. 48–51. Es ist bemerkenswert, dass Igor Lukeš den Aufsatz von Šťovíček überhaupt nicht berücksichtigt hat, als er auf Hauners Kritik antwortete. Lukeš, Igor: Dva dokumenty na věčné téma [Zwei Dokumente zu einem ewigen Thema]. In: Soudobé dějiny, Vol. VII, 2000, No. 3, S. 362–366. 66 Siehe Christoforov, V. S.: Mjunchenskoe soglašenie – prolog vtoroj mirovoj voiny (po archi­ vnym materialam FSB Rossii). [Das Münchener Abkommen – Proleg des Zweiten Weltkriegs (auf der Basis von Archivmaterialen des FSB Russlands)] In: Novaja i novejšaja istorija, 2009, No. 1, S. 21–47. 61 Ebenda,

110   Vít Smetana nikationsabteilung des Foreign Office; er wurde nicht vor dem September 1939 enttarnt.67 Indes haben selbst die Arbeiten jener russischen Historiker, denen der Zugang zum Präsidenten-Archiv oder zum Zentralarchiv des Bundessicherheits­ dienstes gestattet wurde, unsere Kenntnis der sowjetischen Absichten in den Mo­ naten und Wochen vor dem Münchener Abkommen nicht sehr erweitert.68 Den­ noch sind einige Überlegungen sicherlich möglich. In der jüngsten Studie zur sowjetischen Außenpolitik vor dem Beginn des Zweiten Weltkriegs hat Hugh Ragsdale Belege dafür vorgelegt, dass Maxim M. Litvinov, der sowjetische Kom­ missar für Auswärtige Angelegenheit, in privaten Unterhaltungen stets versicher­ te, sowjetisches Hauptziel sei die Bewahrung des Friedens. In seinen Weisungen an Sergej Aleksandrovskij, den sowjetischen Gesandten in Prag, kam Moskaus Be­ reitschaft zum Ausdruck, „vernünftige Kompromissmaßnahmen im Sudetenkon­ flikt“ zu akzeptieren, „die den Frieden retten und die Tschechoslowakei frei und unabhängig lassen“.69 Zwar ist es unmöglich, das Schlüsselgespräch wirklich zu rekonstruieren, das am 11. September zwischen Bonnet und Litvinov in Genf stattfand, da die beiden Protokolle nicht übereinstimmen, doch ist ganz klar, dass sich Litvinov immerhin so ausweichend verhielt, dass Bonnet die Unterhaltung für seine eigenen Zwecke nutzen konnte. Der sowjetische Außenkommissar be­ tonte wahrscheinlich, dass die sowjetischen Verpflichtungen gegenüber der Tsche­ choslowakei von den französischen abhingen. Auch lehnte er es ab, die Frage nach dem sowjetischen Verhalten im Kriegsfalle zu beantworten; er verlangte allerdings Stabsgespräche mit den Westmächten und wies auf das Zögern Warschaus und Bukarests hin, der Roten Armee den Durchmarsch durch polnisches und rumä­ nisches Territorium zu erlauben.70 Es stimmt, dass in den westlichen Militär­ bezirken der Sowjetunion zwischen dem 21. und dem 23. September eine Teil­ mobilmachung angeordnet wurde,71 doch so verfuhr auch Frankreich, und Großbritannien mobilisierte wenigstens seine Flotte. Hugh Ragsdale konstatiert auch, dass Litvinov am 23. September im Völkerbund keinen Gebrauch von der Prager Annahme der anglo-französischen Bedingungen machte, etwa um zu er­ klären, dass die Sowjetunion sich nun jeglicher Verpflichtungen ledig fühle. Ganz im Gegenteil wiederholte der sowjetische Kommissar, Moskau suche nicht nach solchen Vorwänden und betrachte seine vertraglichen Bindungen nach wie vor als ­gültig.72 Jedoch war das überflüssig: Wenn die Sowjetunion nur an einem eu­ ropäischen Krieg teilnehmen wollte – zusammen mit Frankreich und möglicher­ 67 Watt,

Donald Cameron: Francis Herbert King. A Soviet Source in the Foreign Office. In: In­ telligence and National Security, 1988, No. 3–4, S. 62–82. Gemäß anderer Quellen lautete der Vorname des Agenten John. Vgl. Andrew, Christopher: The Defence of the Realm. The Autho­ rized History of MI5. London 2009, S. 263–266. 68 Siehe Christoforov: Mjunchenskoe soglašenie. 69 Ragsdale, Hugh: The Soviets, the Munich Crisis, and the Coming of World War II. Cambridge 2004, S. 182. 70 Christoforov: Mjunchenskoe soglašenie, S. 38. Adamthwaite: France and the Coming of the Second World War, 1936–1939, S. 204. 71 Ragsdale: The Soviets, the Munich Crisis, and the Coming of World War II, S. 111–126. 72 Ebenda, S. 111 f.

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weise Großbritannien –, gab es eigentlich keinen Grund, ihre Verpflichtungen herunterzuspielen, da deren Aktivierung ja bequemerweise von den vor allem in Paris fallenden Entscheidungen abhing. Doch war es gewiss taktisch günstiger, die Rolle eines zuverlässigen Bündnispartners bis zum Ende zu spielen. Wie sahen die Politiker in Prag die sowjetischen Absichten? Edvard Beneš hat die angebliche Bereitschaft der Sowjetunion, der Tschechoslowakei im September 1938 bedingungslos zu Hilfe zu kommen, in seinen letzten zehn Lebensjahren immer wieder bezweifelt. In einem wichtigen Brief, den er im November 1938 aus London an Ladislav Rašín schrieb, sagte er: „Im Falle Russlands war es in den kritischen Tagen klar, dass es seine Pflicht tun würde, aber nur dann, wenn Frank­ reich dies ebenfalls tat.“ Zugleich fürchtete er aber, dass „Russland nur Luftunter­ stützung leisten und ansonsten abwarten würde, genauso wie der Westen.73 Nach dem Zeugnis von Ivan Herben hat Beneš am 22. August 1945 in einer persön­ lichen Unterhaltung leidenschaftlich (mit beiden Fäusten über seinem Kopf) er­ klärt, er besitze diplomatische Dokumente, die bestätigten, dass die Sowjets zur Zeit von München die Tschechoslowakei ebenso verraten hätten wie Daladier und Chamberlain, dass sie nicht die Absicht hatten zu helfen und dass „ihre Hilfsbe­ reitschaft nur Schauspielerei war, nichts als ein typisch kommunistischer Trick“.74 Seine engsten Mitarbeiter, Eduard Táborský und Jaromír Smutný, gewannen während des Krieges ebenfalls den Eindruck, dass Beneš nicht glaubte, die UdSSR würde auch nach Frankreichs Verrat an der Seite der Tschechoslowakei kämp­ fen.75 Zwar hat Beneš auch Aussagen gemacht, die anders lauten – nämlich dass er im September 1938 an die bedingungslose militärische Hilfe der Sowjetunion ge­ glaubt habe –, doch müssen diese mit Vorsicht aufgenommen werden: sowohl die von 1942 in einer Unterhaltung mit Ladislav Karel Feierabend, in der tschecho­ slowakischen Exilregierung Finanzminister, wie die vom Januar 1944 in einem Gespräch mit Winston Churchill. Beneš bemühte sich damals, Zweifel an der Richtigkeit seiner Politik enger Freundschaft mit Moskau zu zerstreuen76. Die klarste und detaillierteste – in vieler Hinsicht auch überraschende – Ein­ schätzung der sowjetischen Absichten, wie sie von der Prager Burg aus gesehen wurden, gab Beneš in einer Unterhaltung mit Hamilton Fish Armstrong, dem Chefredakteur von „Foreign Affairs“ und Gründer des Council on Foreign Rela­ tions. Das Dokument ist umso wertvoller, als Beneš mit seinem wichtigsten Bun­ Milan (Hg.): Formování československého zahraničního odboje v letech 1938–1939 ve světle svědectví Jana Opočenského [Die Formierung des tschechoslowakischen Auslands­ widerstands in den Jahren 1938–1938 im Lichte des Zeugnisses von Jan Opočenský]. Praha 2000, No. 11, S. 149 f., Beneš an Rašin, 24. 11. 1938. 74 Feierabend, Ladislav Karel: Politické vzpomínky [Politische Erinnerungen], Vol. III, Brno 1996, Ergänzung 3/I, S. 417–419, Herben an Feierabend. 25. 9. 1965. 75 Táborský, Eduard: Prezident Beneš mezi Západem a Východem [Präsident Beneš zwischen West und Ost]. Praha 1993, S. 87 f. Otáhalová, Libuše/Červinková, Milada (Hg.): Dokumenty z historie československé politiky 1939–1943 [Dokumente aus der Historie der tschechoslowa­ kischen Politik 1939–1943]. Praha 1966, No. 325, S. 397–401. 76 Feierabend: Politické vzpomínky, Vol. II, S. 96. Colville, John: The Fringes of Power. Downing Street Diaries 1939–1955, Vol. II. London 1986, S. 80, 4. 1. 1944. 73 Hauner,

112   Vít Smetana desgenossen und Helfer in den Vereinigten Staaten sprach, wo er nicht nur Zu­ flucht, sondern auch eine freundliche Atmosphäre fand – nach den Enttäuschun­ gen des vorangegangenen Herbstes; das Gespräch fand am 10. Februar 1939, vier Monate nach München, im New Yorker Hotel Plaza statt. Beneš unterschied in der Politik der Sowjetunion – wie dann auch in der Rumäniens und sogar der Polens – zwei Phasen: vor der anglo-französischen Demarche vom 21. September und danach. „Die Zusicherungen, die mir der russische Gesandte in Prag gab, waren kategorisch und fanden ihre Bekräftigung in allem, was ich selber über die Absichten und die Position der sowjetischen Regierung wusste, und zwar sowohl von unserem Gesandten in Moskau wie von dem tschechischen Vertreter in Genf, der in enger Verbindung zu Litvinov stand.“ Gestützt auf direkte Informationen aus Bukarest, hatte Beneš auch keinen Zweifel an der rumänischen Haltung im Falle eines allgemeinen Krieges: „Jeder Krieg, an dem Großbritannien und Frank­ reich teilnahmen, hätte gesehen, dass [Rumänien] loyal seine Verpflichtungen entsprechend der Völkerbundssatzung erfüllt und den Durchmarsch sowjetischer Truppen gestattet hätte. Ich sage das ohne Vorbehalt.“ Sogar Polen „wäre fast vom ersten Augenblick an auf der Seite der Alliierten gegen Deutschland gewesen“ – nach der Forderung an Prag, die Teschen-Frage zu lösen, was Beneš im Rahmen einer allgemeinen Regelung zu erfüllen bereit gewesen wäre. All das habe sich nach der anglo-französischen Demarche vom 21. September dramatisch geändert: „Die sowjetische Regierung versicherte mir, durch ihren Gesandten in Prag und durch Litvinov in Genf, dass sie uns unterstützen werde, falls wir allein Wider­ stand leisten würden, dass sie aber Schwierigkeiten haben werde, Hilfe zu schi­ cken, ausgenommen starke Luftstreitkräfte und Personal, das per Flugzeug trans­ portiert werden könne. Rumänien würde jetzt den Durchmarsch russischer Trup­ pen nicht mehr gestattet haben, Polen fast sicher nicht.“ Beneš fürchtete zudem, dass der natürliche Wunsch des französischen und des britischen Volkes, einen Konflikt zu vermeiden, nun „die Männer wie Chamberlain, Simon, Hoare und Bonnet und Flandin“ stärken werde, „die den Krieg nur als einen Kampf zwi­ schen Faschismus und Kommunismus interpretieren würden, in dem die Demo­ kratien neutral bleiben sollten“, während Polen Deutschland unterstützen würde – um nicht nur tschechoslowakisches, sondern auch sowjetisches Gebiet zu an­ nektieren.77 Wenn Beneš in den letzten Tagen des September 1938 tatsächlich optimistisch geblieben ist und geglaubt hat, dass am Ende Krieg ausbrechen und die Sowjet­ union sich den Weg durch Rumänien und Polen erzwingen werde, wie das Igor Lukeš annimmt,78 dann war München in der Tat ein schmerzhaftes Erwachen. Es ist oft gesagt worden, der sowjetische Gesandte in der Tschechoslowakei, Sergej Aleksandrovskij, habe in der Septemberkrise ein eigenes Spiel gespielt – daher die 77 Seeley

G. Mudd Manuscript Library, Princeton, Hamilton Fish Armstrong Collection, box 101, Memorandum eines Gesprächs zwischen H. F. A. und Dr. Eduard Beneš, Hotel Plaza, New York, 10. 2. 1939. 78 Lukes: Czechoslovakia between Stalin und Hitler, S. 230.

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Verfälschung der Fragen, die Beneš zur Haltung der Sowjetunion am 19. Septem­ ber stellte,79 und der verzögerte Bericht über Beneš’ Frage zur sowjetischen ­Haltung am Morgen des 30. September. Stalin hat später Aleksandrovskij wegen dessen unzulänglicher Berichterstattung kritisiert und sie als einen der Faktoren dargestellt, die für den sowjetischen Entscheidungsprozess zur Zeit von München wesentlich gewesen seien. Das ist immer als eine zweckbestimmte Kritik erschie­ nen, jedoch war Aleksandrovskijs Berichterstattung über die Vorgänge in der Tschechoslowakei offenbar tatsächlich fortwährend verfälschend und irreführend. Trotz der zahlreichen Schwierigkeiten, denen jeder Forscher begegnet, der in ­russischen Archiven arbeitet, kann das der Mühe wert sein. So hat Jan Němeček kürzlich im Krestinskij-Bestand des Außenpolitischen Archivs in Moskau einige höchst interessante Berichte Aleksandrovskijs gefunden. Sie zeigen, dass der ­sowjetische Gesandte seit dem Frühjahr 1936 wiederholt die Ansicht vertreten hat, dass die Tschechoslowakei eher dem deutschen Druck nachgeben als für ihre Unabhängigkeit kämpfen werde. Das Außenkommissariat antwortete, dass es die Besorgnisse des Gesandten hinsichtlich der tschechoslowakisch-deutschen Be­ ziehungen teile.80 Das sind gewiss nur einzelne Mosaiksteinchen, doch kann ­angesichts solcher Indizien nicht ausgeschlossen werden, dass Stalins Kritik an Aleksandrovskij eine gewisse Berechtigung hatte. Da überzeugende Dokumente nicht greifbar sind oder gar nicht existieren, können wir über die damaligen Absichten Stalins nur spekulieren. Immerhin hat einer seiner engsten Mitarbeiter, der Generalsekretär der Komintern Georgi ­Dimitroff, ein Tagebuch hinterlassen und eine Reihe von Telegrammen, die er ­damals aus seinem Urlaubsort Kislovodsk – den zu verlassen er ironischerweise während der Septemberkrise nicht für nötig hielt – nach Moskau sandte. Am 22. September 1938 schrieb er an Manuilskij, Moskvin und Kuusinen, dass die starke Bewegung, die in der tschechoslowakischen Bevölkerung gegen die mit dem anglo-französischen Plan verbundene Kapitulation entstanden sei, „eine enorme Wirkung auf Frankreich und England haben sollte“, und „der verräteri­ sche anglo-französische Plan unter ihrem Druck zusammenbrechen werde“. Zwei

79 Während

Beneš, nach seinem eigenen Bekunden, auch die Frage stellte, was die Sowjetunion tun werde, falls Frankreich nicht zu seinen Verpflichtungen stehe, bezog Aleksandrovskij diese Frage auf die Verpflichtungen, die sich für die Sowjetunion aus ihrer Mitgliedschaft im Völ­ kerbund ergaben. Siehe Lukes: Czechoslovakia between Stalin and Hitler, S. 223. DČSZP, 1938, II, No. 649, Anmerkung 1. Beneš, Edvard: Mnichovské dny. Paměti [Münchener Tage. Erin­ nerungen]. Praha 1968, S. 316–317. Zara Steiner wiederum nimmt an, dass es sich bei demje­ nigen, der den Wortlaut des Telegramms „entweder zeitnah oder später geändert haben könn­ te, so dass es zur sowjetischen Antwort passte“, eher um Litvinovs Stellvertreter Vladimir ­Potemkin handelt. Steiner, Zara: The Soviet Commissariat of Foreign Affairs and the Czecho­ slovakian Crisis in 1938: New Material from the Soviet Archives. In: The Historical Journal, 1999, No. 3, S. 751–779 (767). 80 Němeček, Jan: Československo-sovětské vztahy na sklonku 2. světové války [Die tschecho­ slowakisch-sowjetischen Beziehungen am Ende des Zweiten Weltkriegs]. In: Němeček, Jan/ Voráček, Emil (Hg.): Česko-ruské vztahy v 19. a 20. Století [Die Tschechisch-Russischen Be­ ziehungen im 19. und 20. Jahrhundert]. Praha 2011, S. 23–48.

114   Vít Smetana Tage später begrüßte er es, dass sich die öffentliche Meinung zunehmend gegen Chamberlain kehre, und er sprach sich dafür aus, „alle Mittel [zu nutzen], um in England und Frankreich günstige Regierungswechsel herbeizuführen“, ferner für „die Mobilisierung der Massen gegen die faschistischen Kriegstreiber und ihre Helfershelfer wie gegen alle und jeden Kapitulationisten“81. Dimitroffs Hoffnung glich also der von Beneš; auch er baute vor allem auf Regierungswechsel in Paris und London. Zdeněk Fierlinger, der tschechoslowakische Gesandte, äußerte sich aus Moskau zur sowjetischen „Unterstützung“, doch hatte er nichts Substantielles zu bieten; die erste Versicherung, dass die Sowjetunion zu bedingungsloser Hilfe bereit sei, hörte er von Vladimir Potemkin, dem stellvertretenden sowjetischen Außenkommissar, zwei Tage nach der Annahme des Münchner Abkommens durch die Prager Regierung.82 Dessen ungeachtet übertrieb Fierlinger in seinen Berichten an Prag den ganzen September 1938 hindurch die sowjetische Hilfsbe­ reitschaft, und sowohl Litivinov als auch Potemkin war dies bewusst.83 Im Febru­ ar 1939 räumte Fierlinger in Moskau Aleksandrovskij gegenüber ein, er habe “be­ trächtlich übertrieben, was ihm Potemkin gesagt hatte, wollte er doch das Gift des Zweifels in Bezug auf die sowjetische Hilfsbereitschaft neutralisieren.“ 84 Die Quellen, die wir haben, scheinen also darauf hinzudeuten, dass Stalin selber sich nur an einem europäischen Krieg beteiligen wollte, jedoch nicht an einen isolier­ ten Krieg an der Seite der Tschechoslowakei dachte – mit einem Europa, das in seinen Sympathien zwischen dem nationalsozialistischen Deutschland und der kommunistischen Sowjetunion geteilt war.85 Wir haben gesehen, dass in der Septemberkrise des Jahres 1938 die Spieler der Hauptrollen, wenn sie sich ein Bild von den Absichten und Plänen ihrer jeweili­ gen Gegner und potentiellen Partner zu machen suchten, fortwährend von fal­ schen Informationen, Missverständnissen und wechselseitigem Misstrauen beein­ flusst waren – ob Diplomaten und Militärexperten oder in Schlüsselstellungen agierende Politiker. Vermutlich ist das in jeder internationalen Krise der Fall. Die 81 Banac,

Ivo (Hg.): The Diary of Georgi Dimitrov 1933–1949. New Haven, London 2003, Ein­ trag 22. und 24. 9. 1938, S. 76 f. 82 Siehe Dejmek: Edvard Beneš, II, S. 177. 83 Siehe Steiner: The Soviet Commissariat, S. 751 u. 768. 84 Archiv vnešnej politiki Rossijskoj Federacii [Archiv der Außenpolitik der Russischen Födera­ tion], Moskau, fond Sekretariat Molotova [Bestand Sekretariat Molotov], opis 1, papka 19, delo 215, list 36–38, Aleksandrovskijs Aufzeichnung seines Gesprächs mit Fierlinger vom 17. Februar 1939, 21. 2. 1939. Zu Fierlingers Desinformation siehe insbesondere DČSZP, 1938, II, Nr. 596, 674, S. 282, 365, Fierlingers Telegramme an Prag, 15. 9. und 22. 9. 1939. 85 Siehe Steiner: The Soviet Commissariat. Michael Jabara Carley, der normalerweise viel Ver­ ständnis für die sowjetischen Absichten auf der internationalen Bühne der späten 1930er Jah­ re zeigt (vgl. z. B. Carley, Michael Jabara: 1939. The Alliance that Never Was and the Coming of World War II , Chicago 1999), ist unlängst zu dem Schluss gekommen: „The Soviet Union would not act unilaterally, but what it actually did do was intended to defend Czechoslovak security within the constraints of Anglo-French abandonment in which Beneš himself was complicit.“ Carley, Michael Jabara: „Only the USSR Has … Clean Hands“: The Soviet Per­ spective on the Failure of Collective Security and the Collapse of Czechoslovakia, 1934–1938. In: Diplomacy and Statecraft, 2010, Nr. 2 S. 202–225 (202) bzw. Nr. 3 S. 368–396.

Tschechoslowakei und ihre Verbündeten in der Krise des September 1938   115

abschließende Frage lautet natürlich, ob die wichtigen Entscheidungen der Füh­ rer aller beteiligten Staaten anders ausgefallen wären, hätte jeder über die absolut richtigen Informationen verfügt. Und hätte eine feste Haltung des Westens wie Klarheit über die Politik des Ostens Hitler stoppen können? Es ist wohl deutlich genug, dass selbst ein nüchterner, vorsichtiger und notwendigerweise noch ge­ handicapter Versuch, auf diese Fragen Antworten zu finden, über den Rahmen und die bescheidene Ambition des hier vorgelegten Aufsatzes weit hinausgehen würde. Aus dem Englischen von Hermann Graml

Zdenko Maršálek

Aus dem Blickwinkel einer Schießscharte oder aus der Perspektive der „großen“ ­Strategie betrachtet? Ein polemischer Blick auf die Problematik der ­militärischen Verteidigung der Tschechoslowakei im September 1938 Generals have often been reproached with preparing for the last war instead of the next – an easy gibe when their fellow-countrymen and their political leaders, too frequently, have prepared for no war at all. (Feldmarschall Sir William Slim: Defeat into Victory. London 1956.)

Die durch die nationalsozialistischen Expansionsbestrebungen ausgelöste Septemberkrise evozierte in der Tschechoslowakei neben grundsätzlichen innen- und außenpolitischen Überlegungen die konkrete Frage nach der Verteidigungsbereitschaft und -fähigkeit des Landes. Beginnend mit zeitgenössischen Debatten in­ folge der tschechoslowakischen Mobilmachung Ende September 1938 wird bis in die Gegenwart hinein über Möglichkeiten und Grenzen eines Verteidigungskriegs diskutiert. Im vorliegenden Artikel wird es darum gehen, über die Geschehnisse im Herbst 1938 hinaus einige grundsätzliche Erwägungen zu Bedingungen und Möglichkeiten der militärischen Verteidigung in der Tschechoslowakei der dreißiger Jahre vorzunehmen. In der Tschechischen Republik betrachtet man die tschechoslowakische Armee der Zwischenkriegszeit meist als hochmodernes, gut ausgerüstetes Heer. Hoch angesehen sind auch die Verdienste und fachlichen Fähigkeiten des Befehlskorps. Betrachten wir jedoch, welche Beachtung diese Armee weltweit erfahren hat, so finden wir nur Verweise auf konkrete Waffentypen. Das sind Belege für die technische Güte der Waffenfabriken, nicht aber über die Armee als solche. Der einzige Moment, in dem tschechoslowakische Einheiten die „große“ Geschichte der Weltkriege betraten, blieb ihr Engagement bei der sibirischen Magistrale, die vor allem 1918 strategische Bedeutung hatte.1 Es geht beileibe nicht um die Tatsache, dass die tschechoslowakische Armee klein war und sich nicht mit den Armeen und strategischen Konzeptionen der Weltmächte messen konnte. Große Anerkennung für seine militärischen Aktionen erhielt doch der nördliche Nachbar Polen, ein ökonomisch wesentlich schwächeres Land. Bis heute wird an die Bedeutung des Sieges bei Warschau 1920, das

1

Pichlík, Karel/Klípa, Bohumír/Zabloudilová, Jitka: Českoslovenští legionáří (1914–1920) [Die tschechoslowakischen Legionäre (1914–1920)]. Praha 1996, S. 237–252.

118   Zdenko Maršálek „Wunder an der Weichsel“ erinnert, und auch im Zweiten Weltkrieg gelang es den Polen, sich zumindest anfangs militärisch zu behaupten.2 Neben unmittelbaren Kampfhandlungen konnten kleine Staaten auch bei der militärischen Theorie hervortreten. Die erwähnte Schlacht um Warschau ist auch als theoretisches Vorbild anerkannt. Auf diesem Gebiet betätigte sich aber auch Österreich – die Arbeit von General Ludwig von Eimannsberger3 war zum Beispiel in den 1930er und 1940er Jahren als eine wesentliche Grundlage der „Blitzkriegtheorie“ anerkannt.4 Es stellt sich die Frage, ob die tschechoslowakische Armee ähnliches theoretisches Potential hatte oder ob es in ihren Reihen Persönlichkeiten von ähnlichem Format gab. Beim Studium von Archivdokumenten und Artikeln der zeitgenössischen Militärpublizistik stoßen wir auf keine entsprechend bedeutenden Theorien. Die tschechoslowakischen Militärspezialisten schrieben und urteilten eher konservativ, weshalb ihre Arbeiten keine internationale Beachtung erfuhren. Sie verfolgten die Entwicklung im Ausland aufmerksam, innovative und revolutionäre Theorien nahmen sie allerdings mit verhaltener Skepsis auf. Die Mehrheit der obersten Offiziere gehörte in die Kategorie arbeitsamer und gewissenhafter Kriegshandwerker, und gerade diese Eigenschaften wurden in der Armee bevorzugt, während nichttraditionelle Haltungen reserviert aufgenommen wurden.5 Bei der Beurteilung der theoretischen Arbeit bleibt nur festzustellen, dass die besten Generäle, die in der Zwischenkriegszeit für die tschechoslowakische Armee tätig waren, wahrscheinlich die Franzosen Maurice Pellé und Eugène Mittelhauser waren.6 Das bedeutet nicht, dass die tschechoslowaki2

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Zu den Schritten, die Polen noch vor dem Kriegsbeginn im September 1939 unternahm, gehörte die Entscheidung über die Entsendung der wertvollsten Kriegsschiffe nach Großbritannien und über die Aufstellung von Infanteriedivisionen in Frankreich. Zur Strategie kleiner Länder gehört zwingend auch eine Medialisierung; zu den unbestrittenen Erfolgen auf diesem Gebiet kann man die Entscheidung zum Einsatz polnischer Einheiten in Tobruk und bei Monte Cassino zählen. Außer durch die Beteiligung von Piloten im Kampf um England gelang es den tschechoslowakischen Einheiten nicht, sich einer anderen als der tschechischen und slowakischen Öffentlichkeit ins Bewusstsein zu bringen, wenn es um die Beteiligung im Frankreichfeldzug, die Gefechte um Tobruk, die Belagerung von Dünkirchen oder die blutigen Kämpfe am Duklapass ging. Eimannsberger, Ludwig von: Der Kampfwagenkrieg. München 1934. Eimannsberger war bis zu seiner Pensionierung Generalinspekteur des Bundesheers, seine Konzeption diente als Grundlage beim Aufbau der österreichischen schnellen Division. Ihre Realisierung verhinderten nur finanzielle und technische Gründe, nicht jedoch das Miss­ trauen in einen unmäßigen Futurismus des Urhebers, wie es z. B. in Frankreich im Falle der Arbeit Charles de Gaulles war. Dies galt insbesondere für diejenigen Militärs, die ihre Ansichten publizistisch erörterten. Ihre Gedanken wurden größtenteils als populärwissenschaftlich verstanden. Zu den bedeutendsten gehörte Emanuel Moravec. Zur Person von General Pellé bes. Břach, Radko: Generál Maurice Pellé. První náčelník Hlavního štábu čs. branné moci [General Maurice Pellé. Der erste Hauptmann des Generalstabs der tschechoslowakischen Streitkräfte]. Praha 2007. Zur Aufgabe der französischen Militärmission und Pellés Rolle beim Aufbau der tschechoslowakischen Armee: Ders.: Úvahy představitelů francouzské vojenské mise z let 1919–1925 o úloze Československa v různých variantách konfliktu [Überlegungen der Vertreter der französischen Mission der Jahre 1919–1935 über die Rolle der Tschechoslowakei in verschiedenen Konfliktvarianten]. In: Historie a vojenství 52/2 (2003), S. 284–312.

Aus dem Blickwinkel einer Schießscharte   119

sche Armee im September 1938 keine fähigen Soldaten hatte, deren Arbeit, so wichtig sie für den Staat und sein Heer war, jedoch keinen ausgeprägten Widerhall in der Geschichte der militärischen Theorien fand. Dies lässt sich auf mehrere Faktoren zurückführen, vor allem jedoch darauf, dass die Armee nicht kämpfte und die Generäle somit nicht die Möglichkeit hatten, ihre Fähigkeiten direkt auf dem Kriegsschauplatz zu beweisen. Dank langjähriger Forschung verfügen wir über eine Reihe detaillierter Angaben und Studien zur Armee der Ersten Tschechoslowakischen Republik. Es handelt sich aber bis auf wenige Ausnahmen um Betrachtungen „von innen“, wobei der Blickwinkel auf das Gebiet der Republik beschränkt bleibt. Die Armee und folglich die Verteidigungsfähigkeit des Landes wird auf der Grundlage von Zahl und Qualität der einzelnen Waffengattungen, der aufgestellten Divisionen und dem Zustand von Verteidigungslinien sowie der Durchlässigkeit oder Undurchlässigkeit der Feuerfächer der Schießscharten der leichten Bunker bewertet. Es gibt jedoch kaum Arbeiten, die die Armee aus einer breiteren Perspektive betrachten, sei es durch einen Vergleich mit der Situation im Ausland7 oder durch die Einordnung in das europäische Militärwesen.8 Dieser verkürzte Blick auf die militärischen Persönlichkeiten und die militärische Theorie spiegelt insgesamt den Zustand der tschechoslowakischen Armee in den 30er Jahren wider. Aus der Perspektive der kleinen und mittleren Länder Europas gehörte sie zu den besten, die gleich hinter den Armeen der Mächte und Großmächte kam. Gegenüber diesen blieb die Tschechoslowakei allerdings in mehrerer Hinsicht zurück: Weder die Armee noch der Gesamtstaat konnten sich mit den großen Mächten messen und blieb im menschlichen, territorialen, industriellen, wissenschaftlichen, insgesamt ökonomischen – und auch intellektuellen Potential hinter ihnen zurück. Die meisten dieser Aspekte gehörten zu den unveränderlichen Gegebenheiten, einige ließen sich zwar zumindest abschwächen, andere Gebiete wurden hingegen völlig vernachlässigt. 7

Die Mehrheit der vergleichenden Arbeiten bietet nur punktuelle Erkenntnisse bei der Darstellung des Zustands einzelner Armeen. Vgl. Fidler, Jiří/Stehlík, Eduard: Francouzské pozemní vojsko v období sudetské krize [Die französischen Bodenstreitkräfte und die sudetendeutsche Krise]. In: Historie a vojenství 49/3 (2000), S. 581–616. – Dies.: Polská armáda v září 1938 [Das polnische Heer im September 1938]. In: Historie a vojenství 48/2 (1999), S. 357–379. Einen Vergleich im Rahmen der engeren Problematik leistet die Studie Maršálek, Zdenko: Rychlé svazky na závěrečném cvičení čs. armády v  roce 1937 [Schnelle Verbände beim Abschlussmanöver der tschechoslowakischen Armee 1937]. In: Historie a vojenství 51/2 (2002), S. 303–336. Unergiebig ist die Arbeit John, Miroslav: Září 1938. Role a postoje spojenců ČSR [September 1938. Rolle und Haltungen der Verbündeten der ČSR]. Olomouc 1999. Ein Vergleich der tschechoslowakischen und polnischen Armeen erschien 2004: Majewski, Piotr M.: Nierozegrana kampania. Możliwości obronne Czechosłowacji jesienią 1938 roku [Eine unentschiedene Kampagne. Die Möglichkeiten der Verteidigung der Tschechoslowakei im Herbst 1938]. Warszawa 2004. Wegen der gewählten Methodik und faktografischer Fehler überzeugt diese Arbeit jedoch nur bedingt. 8 Einen Schwerpunkt auf den französischen Standpunkt bzgl. der Verteidigung der Tschechoslowakei legt Straka, Karel: Československá armáda, pilíř obrany státu z  let 1932–1939 [Die tschechoslowakische Armee, Pfeiler der Verteidigung des Staates 1932–1939]. Praha 2007.

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Armee und Gesellschaft Nach der Gründung der Tschechoslowakei herrschte in der tschechischen Öffentlichkeit und bei den Politikern die Vorstellung, dass der gerade zu Ende gegangene Krieg der letzte Krieg gewesen und die Existenz einer Armee sinnlos sei. Neben der unmittelbaren Kriegserfahrung beeinflusste aber auch die Entwicklung bis 1914 solche Haltungen:9 So galt die Armee in der Habsburgermonarchie als wichtiger Machtfaktor und als Symbol des herrschenden Systems und der nationalen Unterdrückung. Es verwundert deshalb nicht, dass 1918 pazifistische Tendenzen überwogen. Die demokratischen Ideale, die auch von Präsident Tomáš G. Masaryk verkündet wurden, bevorzugten eindeutig eine bewaffnete Macht in Gestalt einer gesamtstaatlichen Bürgermiliz. Die Phase der Ernüchterung, der mit dem Aufbau eines stehenden Heeres seit 1920 endete, dauerte relativ lange. Die Neugründung der Armee wurde in den 1920er Jahren in der Gesellschaft eher reserviert aufgenommen. Sie stellte ihre Notwendigkeit, wenn auch recht unrühmlich, in den Kämpfen in der Slowakei 1919 unter Beweis und wurde daraufhin als eines der selbstverständlichen Attribute der Eigenstaatlichkeit betrachtet. In der staatlichen Propaganda wie auch der gesellschaftlichen Wahrnehmung erfreuten sich das Vermächtnis des Freiheitskampfes der Legionäre während des Ersten Weltkriegs und die davon abgeleitete böhmische militärische Tradition großer Aufmerksamkeit. In den „guten Zeiten“ der 1920er Jahre bildeten jedoch die Fragen von Armee und Wehrhaftigkeit keinen Bestandteil des täglichen Lebens der Bürger. Die Tendenzen, die im September 1938 in der Identifikation großer Teile der Gesellschaft mit der Armee gipfelten, wuchsen allmählich mit dem Grad der Bedrohung, wie sie die Gesellschaft innerhalb der politischen Führung wie in der Bevölkerung empfand. Der Militäretat blieb in etwa auf gleicher Höhe, in der Wirtschaftskrise ging er jedoch deutlich zurück.10 Noch 1932, zu einer Zeit, als sich die Militärs und ein Teil der Politiker bereits der möglichen Bedrohungen bewusst waren und die Arbeit an Plänen zur Verbesserung der Verteidigungs­ fähigkeit der Republik forciert wurde, kam es zu einer deutlichen Kürzung der Militär­ausgaben und einer vorübergehenden Kürzung des Wehrdienstes. Ein „gesamtstaatlicher Vertrag“, also die allgemeine Bereitschaft, an der Landesverteidigung mitzuwirken, kam erst später zustande. Das Verhältnis zur Wehrhaftigkeit war in einzelnen gesellschaftlichen Gruppen sehr unterschiedlich, wobei als Beispiel das skeptische Verhältnis der kommunistischen Partei zur Armee anzufüh  9 Eine

Reihe inspirierender Aufsätze enthält folgender Sammelband: Rak, Jiří/Veselý, Martin (Hg.): Armáda a společnost v českých zemích v 19. a první polovině 20. století. Sborník příspěvků z  konference konané ve dnech 29.–31. května 2003 v  Ústí nad Labem [Armee und Gesellschaft in den böhmischen Ländern im 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Sammelband mit Beiträgen der Konferenz vom 29.–31. Mai 2003 in Aussig an der Elbe]. Ústí nad Labem 2004. 10 Zur Finanzierung der Armee in diesem Zeitraum bes. Pavel, Jan/Srb, Miroslav: Financování československé armády v letech 1918–1933 [Die Finanzierung der tschechoslowakischen Armee in den Jahren 1918–1933]. In: Historie a vojenství 53/3 (2004), S. 4–22.

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ren ist, das ihr ablehnendes Verhältnis zum Staat einschließlich seiner zeitbedingten Veränderungen widerspiegelte.11 Das Geschilderte gilt allerdings vornehmlich für die tschechische Gesellschaft. Die 1918 entstandene Republik war jedoch ein ausdrücklich multinationaler Staat,12 sämtliche Probleme, die ihr in die Wiege gelegt wurden, blieben deshalb bis zu ihrem Ende bestehen. Die Frage der Staatsstruktur wird bis heute diskutiert, es bleibt jedoch die Tatsache, dass die Republik in dieser Hinsicht eigentlich der Gestalt ihres kritisierten Vorgängers entsprach, aus dessen Ruinen sie entstanden war – Österreich-Ungarns. Es verwundert deshalb nicht, dass die Probleme, mit denen die österreichisch-ungarische Armee kämpfte, auch das tschechoslowakische Heer betrafen. Offizielle Deklarationen betonten zwar dessen demokratisches Wesen und die grundlegende Verschiedenheit von der österreichischen Armee, bei der Beurteilung der Nationalitäten- und insbesondere der Kaderpolitik des Heeres müssen wir jedoch feststellen, dass bei gleichem Zugang für alle Bürger die neue Republik hinter der alten Monarchie zurückblieb.13 Ebenso wie die Tschechen auf der politischen Ebene eindeutig die „staatsbildende“ Nationalität waren, wurden sie – und blieben es bis September 1938 (und in der letzten Konsequenz auch bis März 1939) – im Heer die „armeebildende“ Nationalität. Die Republikgründung war in den Augen vieler das Ergebnis des tschechischen Kampfes gegen das Deutschtum (und gegen den magyarischen Druck auf die Slowakei). Das zeigte sich natürlich auch in der Armee. Bereits in ihren Anfängen stellte sich die Frage, ob die tschechoslowakischen Deutschen überhaupt, beziehungsweise in welcher Form in der Armee dienen sollten.14 Ein großes Problem stellte auch die Frage der Übernahme und des weiteren Dienstes der Berufsoffiziere in ihren Reihen dar.15 Während die undemokratischen Traditionen der „al11 Eine

interessante Betrachtung, besonders angesichts ihrer zeitgenössischen Bedingtheit, geben bis heute die entsprechenden Kapitel folgender Darstellung: Kolektiv: Vojenské dějiny Československa. III. díl (1918–1939) [Militärgeschichte der Tschechoslowakei]. III. Teil (1918–1939). Praha 1987. 12 Von 15 Millionen Einwohnern waren mehr als 3 Millionen Deutsche, 761 000 Ungarn und 447 000 Ruthenen und 110 000 Polen. 190 000 Bürger bekannten sich zur jüdischen Nationalität. Nach: Statistický lexikon obcí v Republice československé [Statistisches Lexikon der Gemeinden in der Tschechoslowakischen Republik]. I. Země česká [Böhmen]. Praha 1934; II: Země moravskoslezská [Mähren-Schlesien]. Praha 1935. 13 Maršálek, Zdenko: Armáda v roce jedna – nový duch versus kontinuita [Die Armee im Jahr eins – neuer Geist versus Kontinuität]. In: Hájek, Jan u. a.: Moc, vliv a autorita v procesu vzniku a utváření meziválečné ČSR (1918–1921) [Macht, Einfluss und Autorität im Prozess der Entstehung und Gestaltung der ČSR (1918–1921)]. Praha 2008, S. 43. Zur Nationalitätenproblematik in der Armee mit Betonung auf der deutschen Frage vgl. Zückert, Martin: Zwischen Nationsidee und staatlicher Realität. Die tschechoslowakische Armee und ihre Nationalitätenpolitik 1918–1938. München 2006. 14 Dieses Problem zeigte sich schon früh nach Gründung der Republik und wurde definitiv erst mit der Billigung des Waffengesetzes 1920 gelöst. 15 Nach 1918 wurde schließlich eine relativ große Zahl von Offizieren mit deutscher Muttersprache aufgenommen. Ihre Zahl sank allerdings im Laufe der Jahre aufgrund fehlenden Nachwuchses – unter dem Offiziersnachwuchs waren in den zwanzig Jahren des Bestehens der Republik Deutsche eine absolute Ausnahme. Angehörigen der nichtslawischen Minder-

122   Zdenko Maršálek ten Armee“ ostentativ geächtet wurden, wurden so eigens Einheiten gegründet, in denen sich die tschechoslowakischen Deutschen wie Soldaten zweiter Klasse vorkommen mussten, wie die Frage, für welches ideelle Ziel sie eigentlich im Kriegsfall ihr Leben lassen sollten, ungelöst blieb. Nicht zuletzt deswegen gelang es weder Armee noch Staat in den dreißiger Jahren, das Potenzial der Idee eines gemeinsamen Kampfes gegen den Nationalsozialismus auszuschöpfen. Und so konnte die Republik den Minderheiten eigentlich nur dieselbe Idee wie das „alte Österreich“ anbieten – eine abstrakte Loyalität und Gehorsam gegenüber dem Staat, der „Obrigkeit“. Als einer der Hauptgründe für die geringe Schlagkraft der österreichisch-ungarischen Armee im Ersten Weltkrieg wird aber gerade die nationale Zersplitterung und die Unfähigkeit angeführt, den Minderheiten ein „höheres Ziel“ zu bieten, für das sie ihr Leben lassen sollten. Eine greifbare Folge dieses Scheiterns war ein hoher Prozentsatz Kriegsgefangener an den Gesamtverlusten, häufige Desertionen und sogar Meuterei. Es ist insofern folgerichtig, für den Fall der tschechoslowakischen Armee ein ähnliches Szenario anzunehmen. Die zunehmenden Konflikte zwischen den nationalen Gruppen seit Mitte der dreißiger Jahre spiegelten sich in der Armee wider, die darauf mit einer ganzen Reihe entsprechender Verordnungen reagierte. So wie die deutsche Minderheit allmählich de facto insgesamt als „feindlich“ angesehen wurde, kam es in der Armee zu einer weiteren Vertiefung des bereits stark ausgeprägten Charakters eines „tschechischen Heeres“, und zwar ungeachtet einiger zaghafter Versuche, den Minderheiten entgegenzukommen. Deutsche Firmen wurden von Armeeaufträgen ausgeschlossen, Soldaten nichtslawischer Nationalität blieb der Zugang zu Eliteeinheiten (Panzer-, Flieger-, Fernmeldetruppe, Festungsbesatzung) praktisch verwehrt. 1937 kam es zu einer Festsetzung des prozentualen Anteils nichtslawischer Minderheiten bei den einzelnen Waffengattungen. Aufgrund der aggressiven deutschen Forderungen erging am 16. September 1938 eine Verordnung, nach der die einrückenden deutschen Reservisten in maximalem Umfang ­dienstunfähig erklärt bzw. ins Hinterland geschickt werden sollten, um aus ihnen unbewaffnete Arbeitseinheiten zu formieren.16 Von dieser Maßnahme sollten nur Angehörige der kommunistischen oder sozialdemokratischen Partei nach Vorlage einer Legitimation ausgenommen werden. Die Gründe waren in der damaligen Situation evident, trotzdem hatte sich der Konflikt auch optisch in diesem Moment definitiv in einen Kampf Nation gegen Nation verwandelt.

heiten war der Zugang zur Offizierslaufbahn stark erschwert, bemerkenswert und ganz charakteristisch ist jedoch, dass sie sich auch nicht zu diesem Dienst meldeten! Vgl. Zückert: Zwischen Nationsidee und staatlicher Realität, S. 113–121. 16 Vojenský ústřední archiv – Vojenský historický archiv Praha (im Folgenden: VÚA-VHA Praha). Bestand: Ministerstvo národní obrany – Hlavní štáb (im Folgenden: MNO-HŠ). 1. Abt., 1938. Sign.: 4350 Taj. Minařík, Pavel/Šrámek, Pavel (Hg.): Dokumenty československé armády z  podzimu 1938. Anketa „Armáda v  roce 1938“ [Dokumente der tschechoslowakischen Armee vom Herbst 1938. Umfrage „Armee im Jahr 1938“]. In: Historie a vojenství 46/6 (1997), S. 87–133, hier S. 97.

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Die zeitgenössischen Meldungen über den Verlauf der Mobilisierung im September 193817 zeigen auf der einen Seite übereinstimmend, dass eine große Zahl von Reservisten deutscher Nationalität den Dienst nicht antrat, auf der anderen Seite bestätigen sie eindeutig, dass die Deutschen und Ungarn, die einrückten, die Befehle gehorsam und ohne Auflehnung erfüllten. Allerdings besteht kein Zweifel daran, dass diese reine „Befehlserfüllung“ angesichts eines viel stärkeren Gegners, dem Kampf auf Leben und Tod, sehr wenig ist. Zu berücksichtigen ist jedoch, dass es hier noch um das Verhalten in Friedenszeiten ging. Ein Vergleich mit der Situation in der Habsburgermonarchie 1914 genügt: Während der Mobilisierung rückten diese später so unzuverlässigen Minderheiten bis auf absolute Ausnahmen geordnet ein.18 Es wurden zwar einige Unwillensäußerungen laut, es kam aber nicht zu Vorgängen, die man als gruppenweise oder gar massenhafte Desertion bezeichnen könnte. Dagegen blieb im September 1938 etwa ein Drittel der Angehörigen der deutschen Minderheit der Mobilisierung fern,19 wobei viele von ihnen mit der Waffe in der Hand in den Reihen des Sudetendeutschen Freikorps direkt gegen die staatlichen Organe kämpften. Wie es also mit Moral und Gehorsam der eingezogenen Deutschen nach Ausbruch des Krieges ausgesehen hätte, insbesondere in der Situation eines geplanten Massenrückzugs, der gewiss ein ­hohes Maß an Desorganisation mit sich gebracht hätte, liegt auf der Hand. Hier muss man allerdings auch an eine andere Tatsache erinnern: Einen nicht zu vernachlässigenden Teil der „tschechoslowakischen Deutschen“ bildeten Juden deutscher Muttersprache. Obwohl viele von ihnen die Republik nicht als „ihren Staat“ ansahen, charakterisierte die Mehrheit dieser Gruppe Loyalität bis hin zu echter Entschlossenheit zum Kampf.20 Dasselbe wie für die Deutschen galt, wenn auch in geringerem Umfang, für die magyarische Minderheit, wobei hier Bürger jüdischer Herkunft ebenfalls einen gewissen Prozentsatz darstellten. Entschlossenheit und Moral der Soldaten slowa-

17 Zeitgenössische

Einschätzungen finden sich insbesondere in der Umfrage „Armee im Jahr 1938“, erschienen zum Jahreswechsel 1938/1939. VÚA-VHA Praha. Bestand: MNO-HŠ/3. Abt., 1938. Karton 293 A–F. 18 Siehe beispielsweise Galandauer, Jan: Wacht am Rhein a Kde domov můj. Válečné nadšení v  Čechách v  létě 1914 [Wacht am Rhein und Wo ist meine Heimat. Kriegsbegeisterung in Böhmen im Jahre 1914]. In: Historie a vojenství 45/5 (1996), S. 22–43. Pazdera, David: Mobilizace v roce 1914 jako první krok na cestě ke zformování vojáka Velké války. Pokus o vymezení válečného prožitku českých příslušníků rakousko-uherské armády [Die Mobilisierung 1914 als erster Schritt hin zur Formierung des Soldaten des Ersten Weltkriegs. Versuch einer Eingrenzung der Kriegserlebnisse der böhmischen Angehörigen der österreichisch-ungarischen Armee]. In: Historie a vojenství 47/3 (1998), S. 38–63. Allgemeiner zur Problematik bes. Šedivý, Ivan: Češi, české země a Velká válka 1914–1918 [Die Tschechen, die böhmischen Länder und der Erste Weltkrieg 1914–1918]. Praha 2001. 19 Von angenommenen ca. 315 000 Soldaten deutscher Muttersprache entzogen sich etwa 100 000 Männer dem Wehrdienst. Šrámek, Pavel: Československá armáda v  roce 1938 [Die tschechoslowakische Armee im Jahr 1938]. Brno 1996, S. 66. 20 Ein gutes Beispiel für die Haltung der tschechoslowakischen Juden bieten die Memoiren von Fritz Beer: Beer, Fritz: Hast du auf Deutsche geschossen, Grandpa? Fragmente einer Lebensgeschichte. Berlin 1992. Tschechische Ausgabe Praha 2010.

124   Zdenko Maršálek kischer und ruthenischer Nationalität waren nach zeitgenössischen Meldungen im September 1938 hoch, allerdings bleiben angesichts der rasanten Entwicklung infolge des „Münchener Abkommens“ viele Ungewissheiten. Und so lässt sich berechtigterweise sagen, dass im gleichen Maß, wie sich in den zwanzig Jahren zuvor nur das tschechische Volk in großer Mehrheit mit dem Staat identifizieren konnte, betreffend der Kampfmoral auch nur die Mehrzahl der tschechischen Soldaten im September 1938 als erstklassig angesehen werden konnte. Eine zuverlässigere (zumindest nichtslawische) Minderheit blieben nur die Juden aller „Natio­nalitäten“.21 Aber auch nicht alle Tschechen rückten freudig ein. Es ist nicht beabsichtigt, die Mobilisierung als Moment gesamtstaatlichen Aufbäumens herabzusetzen, trotzdem ist es nötig, auch einschränkende Momente zu berücksichtigen. In ­vielen heutigen Einschätzungen haben sich die zeitgenössische Darstellung und daran anschließende Deutungen verewigt. Obwohl die Angaben über die massenhafte Meldung von Reservisten bereits in den ersten Stunden nach der Verkündung der Mobilmachung durchaus nicht anzuzweifeln sind, sind die Meldungen über die Bereitstellung von Material bereits weniger eindeutig und schränken die Vorstellung einer umfassenden nationalen Verteidigungsbereitschaft ein. Auch in mehrheitlich tschechischen Gebieten war es eine geläufige Erscheinung, dass motorisierte Fahrzeuge und Pferdefuhrwerke oft in erschreckendem Zustand in die Sammelstellen gebracht wurden und die Eigentümer der Armee nur das allerschlechteste abgaben.22 Die Frage nach der Kampfmoral und Zuverlässigkeit einer mobilisierten Armee kann meist nur mit Spekulationen und kaum mit qualifizierten Einschätzungen beantwortet werden. Die tschechoslowakische Gesellschaft hat nie als Ganzes ­gekämpft. Eine Identifikation mit den Interessen des Staates können wir nur bei den Tschechen und im September 1938 wohl noch der Mehrheit der Slowaken voraussetzen. Oft werden Varianten des Ausspruchs von General Karel Klapálek zitiert, dass „der tschechoslowakische Soldat gut kämpft, er muss aber wissen, wofür und warum er kämpft“. Ins allgemeine Bewusstsein eingegangen, handelt es sich jedoch eher um ein Klischee.23 Die tschechischen, slowakischen und ruthenischen Soldaten hätten womöglich ihre Pflicht erfüllt, wir wissen jedoch nicht, wie sich der Kriegsverlauf ausgewirkt hätte und die Soldaten den geplanten umfas21 Dies

traf insbesondere für die westliche Landeshälfte zu. Für die Osthälfte des Staates sind zum Teil alte Bindungen „ungarischer“ und „deutscher“ Juden an das ehemalige Königreich Ungarn zu berücksichtigen. 22 Minařík/Šrámek (Hg.): Dokumenty československé armády z podzimu 1938, S. 108–109. 23 Karel Klapálek (1893–1984) war Angehöriger der tschechoslowakischen Legionen in Russland in den Jahren 1917–1920, im Zweiten Weltkrieg befehligte er die tschechoslowakische Einheit im Nahen Osten und später eine tschechoslowakische Brigade und ein Armeekorps an der Ostfront. Sowohl bei den Legionen als auch im Nahen Osten handelte es sich um ein Freiwilligenheer, geführt aus überwiegend patriotischen Motiven, nicht jedoch um einen Querschnitt der mobilisierten Bevölkerung. Im Übrigen klingen seine Erfahrungen und besonders seine Qualifizierung an der Ostfront, wo mobilisierte Soldaten einen Großteil des Heers bildeten, nicht so hervorragend. Siehe Klapálek, Karel. Ozvěny bojů [Echos der Kämpfe]. Praha 1966.

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senden Rückzug aus den böhmischen Ländern wahrgenommen hätten. Die Verteidigung vor Ort, dazu in der Deckung von Betonbunkern, gibt Soldaten die ­Illusion von Stärke. Das Ausmaß von Unsicherheit und Angst in einer Zeit, in der sich die Angehörigen zerschlagener Einheiten, schweren Luftangriffen und schnellen Schlägen mechanisierter Kräfte ausgesetzt, nach nur wenigen Tagen in den Osten zurückzogen, hätte beträchtliche Dimensionen annehmen können. Die Beispiele der polnischen, französischen, jugoslawischen und russischen Kriegsschauplätze sprechen eine deutliche Sprache. Auch die Verbände der polnischen Armee, die sich im September 1939 in den Verteidigungsstellungen hielten, erlitten während des Rückzugs gewaltige Verluste außerhalb des Kampfes und verzeichneten einen rapiden Verfall der Moral. Der tschechoslowakische Soldat hätte darüber hinaus vor noch größeren Schwierigkeiten gestanden, denn die geografischen Verhältnisse in Böhmen und Mähren hätten nach einem Rückzug keinen vorübergehenden Schutz vor feindlichen Einheiten geboten.24

Organisation Im März 1920 erhielt die tschechoslowakische Armee nach relativ kurzer Aufbauphase ihre endgültige gesetzliche Form.25 Nach der „Unifikation“26 wurden die Friedensstärke und die Organisationsstruktur festgelegt. Es ist bemerkenswert, dass der Aufbau der Armee, ihre strategische Konzeption und besonders die Ausbildung und Übung vor allem auf der Grundlage französischer Erfahrungen entwickelt wurden, während die gewählte Organisationsstruktur des Heeres offensichtlich auf den Schemata der österreichisch-ungarischen Armee aufbaute.27 Die wesentlichen Organisationsebenen waren die Einheiten Bataillon, Regiment, Brigade, Division. Vier militärische Landeskommandos28 verfügten über eine unter24 Siehe

die Rezension des Autors zum Buch Tesař, Jan: Mnichovský komplex [Der Komplex von München]. In: Český časopis historický 100/4 (2002), S. 929. 25 Sbírka zákonů a nařízení státu československého [Sammlung von Gesetzen und Verordnungen des tschechoslowakischen Staates]. Praha 1920, Gesetz Nr. 193. 26 Trotz einiger Bedenken kam es zur Vereinigung der bisherigen Gruppen, also insbesondere der italienischen, französischen und russischen Legionen, der italienischen sog. Landwehr und dem „Heimat“-Heer, in einer Armee. Zu diesem Thema siehe Kolektiv: Vojenské dějiny Československa. III. díl [Militärgeschichte der Tschechoslowakei. Dritter Teil]. Praha 1987, S. 101–114. 27 Das ist nicht erstaunlich, da den unmittelbaren Aufbau Offiziere leiteten, die aus der österreichischen Armee übernommen worden waren. Dagegen erarbeiteten französische Offiziere insbesondere die operativen und Ausbildungsangelegenheiten. Vgl. z. B. die personelle Zusammensetzung des Generalstabs der bewaffneten Truppen und ihren Wandel: Fidler, Jiří: Na čele armády. Náčelníci Hlavního štábu branné moci 1919–1939 [An der Spitze der Armee. Chefs des Generalstabs der Bewaffneten Macht 1919–1939]. Praha 2005. 28 Die militärischen Landeskommandos existierten in Böhmen, Mähren, der Slowakei und in der Karpato-Ukraine. Die Tätigkeit des letztgenannten Kommandos wurde bald auch auf die Ostslowakei ausgeweitet. Zur territorialen Zuständigkeit, Organisation und Kommandostruktur siehe Fidler, Jiří/Sluka, Václav: Encyklopedie branné moci Republiky československé 1920–1938 [Enzyklopädie der Bewaffneten Macht der tschechoslowakischen Republik 1920– 1938]. Praha 2006.

126   Zdenko Maršálek schiedliche Anzahl von zusammen zwölf Divisionen. Die Division war ein starker Verband, dessen Basis zwei Infanterie- und eine Artilleriebrigade bildeten. Insgesamt zählte sie 12 Infanteriebataillone, 12 leichte und 6 schwere Batterien. Entsprechend der konkreten Umstände konnten den Divisionen auch ein bis drei ­eigenständige Grenzbataillone unterstehen. Außerhalb der Divisionen wirkten zudem zwei Gebirgs- und drei Kavalleriebrigaden sowie eigenständige Regimenter der Hilfswaffengattungen und Dienste. Es handelte sich um eine traditionelle und auch in den Zwanzigerjahren schon ausgesprochen konservative Struktur. Ihre Schöpfer gingen von einem Modell aus, das die österreichisch-ungarische Armee zu Kriegsende ausgearbeitet hatte. Neue Elemente, basierend auf den Erfahrungen des Weltkriegs, wurden in der Tschechoslowakei nicht übernommen. Obwohl einige Vorschläge in diesem Sinne geäußert wurden, gab es keine konkreten Ansätze, in die einmal gewählte und gesetzlich kodifizierte Struktur einzugreifen.29 Die Struktur blieb bis zu Beginn der Dreißigerjahre erhalten. Abhängig von den vorhandenen Rüstungsreserven stieg allmählich auch die Zahl der in Erwägung gezogenen Mobilisierungseinheiten, insbesondere von Reservebrigaden. Zu einem Wandel kam es nach dem Jahr 1932, weil es nötig wurde, für einige grundlegende Probleme neue Lösungen zu finden.30 In Kriegsplänen wurde vorwiegend mit strategischen Überführungen in Ost-West-Richtung und umgekehrt gerechnet. Befürchtet wurde in dieser Zeit, dass die politische Warnung vor einem Konflikt nicht rechtzeitig erfolgen würde, um die allgemeine Mobilisierung in Ruhe durchführen zu können. Deshalb erfolgten die Stärkung der so genannten Grenzsicherung sowie die Umgestaltung von Transportplanungen.31 Der Hauptgrund für Änderungen war aber vor allem die Tatsache, dass die bisherigen Divisionen mit ihrer Ausstattung die Verteidigung breiter Zonen nicht mehr gewährleisten konnten. Zwischen den Divisionen und der Armee sollte eine weitere Or29 Einen

interessanten Vorschlag zur Reorganisation der Divisionen (drei statt vier Regimenter pro Division sowie die Einführung von Grenzschutzbrigaden) unternahm General Vojtěch Vladimír Klecanda. Vgl. Hofman, Petr (Hg.): Deník Vojtěcha Borise Luži [Das Tagebuch von Vojtěch Boris Luža]. In: Historie a vojenství 45/5 (1996), S. 132–133. 30 Der erste Plan zur Reorganisation von 1932 ging jedoch noch von der Brigadenstruktur der Divisionen aus. VÚA-VHA Praha. Bestand: MNO-HŠ/1. Abt., 1932. Sign.: 32–22/17 (Plán ­válečné organisace armády [Plan zur Kriegsorganisation der Armee], čj. 740 Mob. HŠ/1. odd. 1932). — Neue Ideen, die im Weiteren genannt wurden, wurden zum grundlegenden Motto des neuen Entwurfs vom 9. Mai 1933. VÚA-VHA Praha. Bestand: MNO-HŠ/1. odd., 1933. Sign.: 38–1/6–3 (Armáda v  poli – návrh [Die Armee im Feld – Entwurf], čj. 429 Taj. HŠ/3. odd. 1933). 31 Eine Reihe wesentlicher Beschlüsse in diese Richtung fiel bei der 3. Sitzung der Beratenden Heeresversammlung am 20. November 1933. VÚA-VHA Praha. Bestand: MNO-HŠ/1. odd., 1933. Sign.: 38–1/6–2 (Armádní poradní sbor, 3. zasedání [Beratende Heeresversammlung, 3. Sitzung], čj. 764 Taj HŠ/1. odd. 1933). „Tarnelemente“ wurden in den Grenzzonen (im Rang eines Korps) und dem Grenzgebiet (im Rang einer Division) organisiert. Im Grunde funktionierte das System so, dass die Einheiten der Friedensarmee dazu bestimmt waren, die Grenzen zu schützen, während an ihren Garnisonsorten durch Mobilisierung „Zwillinge“ gebildet wurden, die als Verbände „B“ bezeichnet wurden. Sie sollten die „Manöverelemente“ bilden. Das Schema wich allerdings in einer Reihe von Punkten davon ab.

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ganisationsstufe, das Armeekorps, eingefügt werden, die über eigene technische Einheiten verfügen und vor allem Manöver der Artillerie ermöglichen sollte. Hinzu kam die steigende Zahl von Reserveverbänden, die in die Streitkräfte integriert werden mussten. Die Reorganisation verbesserte die taktische Beherrschbarkeit der Verbände deutlich, es gelang jedoch nicht, die neuen Strukturen bis September 1938 mit dem vorgesehenen Material zu versorgen. Die Proportion der Artilleriegeschütze gegenüber der Infanterie erhöhte sich nach der Reorganisation nicht, es war eher eine leichte Abnahme zu verzeichnen.32 Mit Blick auf die Entwicklung der Waffentechnik kam es zu weiteren Änderungen: Bis zum September 1938 gelang es, drei motorisierte Sperr-Pionierbataillone aufzustellen.33 Beschleunigt wurden Einheiten von Kampffliegern ausgebildet und trainiert, zusammengesetzt aus modernen leichten Bombern und vorwiegend Jagdgeschwadern, bestimmt für Angriffe auf motorisierte Verbände.34 Es kam auch zum Aufbau so genannter schneller Divisionen.35 Die unternommenen Schritte blieben jedoch weit hinter den Möglichkeiten zurück, die die entwickelte Waffenindustrie bot. Die schnellen Divisionen entstanden zum Beispiel erst schrittweise aus den ursprünglichen Kavallerie­brigaden.36 Langfristig wurde auch der direkte Einsatz französischer 32 Die

ursprünglich aus vier Regimentern bestehende Division sollte 12 Infanteriebataillone, 48 leichte und 24 schwere Geschütze haben, also 4 leichte und 2 schwere pro Bataillon. Die neuen Divisionen dagegen hatten auf neun Bataillone 30 leichte und keine schweren Geschütze, ein Armeekorps mit zwei Divisionen 60 leichte und 48 schwere Geschütze, also 3,3 leichte und 2,6 schwere Geschütze pro Bataillon, die Grenzzone nur 27 schwere Geschütze, also im Grunde sogar eine geringere Zahl an Geschützen pro Bataillon als vorher. 33 Es handelte sich um die Pionierbataillone 21, 22 und 23. Sie bestanden aus zwei Pionierkompanien und einer Kompanie mit Panzerabwehrkanonen. Alle waren in Böhmen eingesetzt. 34 Es wurden zwei Fliegergruppen gebildet, die der 1. und 4. Armee unterstellt waren. Jede hatte bis zu sechs (!) Staffeln mit Doppeldecker-Jagdflugzeugen B-534 und zwei bis drei Staffeln der Leichtbomber (moderne B-71 bei der 1. Armee, veraltete Ab-101 bei der 4. Armee). Es gab 72 bzw. 66 Jagd- und 22 bzw. 34 Bombermaschinen. Diese Maßnahme, die auch im internationalen Vergleich außerordentlich war, „verfehlte“ jedoch gewissermaßen ihr Ziel. Die stärkste Gruppe war für die Richtung bestimmt, die im Plan „Grün“ untergeordnet war, und eine eventuelle „Umorientierung“ hätte sicher Zeitverlust und das Fehlen ausgearbeiteter Pläne bedeutet. Zu Aufbau und Aufgaben der Gruppe siehe Minařík, Pavel/Šrámek, Pavel: Československé vojenské letectvo v době vyvrcholení mnichovské krize [Die tschechoslowakische Luftwaffe am Höhepunkt der Münchener Krise]. In: Historie a vojenství 57/2 (2008), S. 43–52. 35 Die Kavalleriebrigaden wurde allmählich durch Einheiten mit gepanzerten Kampfwagen, motorisierter Infanterie und Artillerie verstärkt. Bis 1938 gelang es jedoch nicht mehr, ein Gesamtkonzept zu etablieren. 36 In der Konzeption und dem Aufbau schneller Divisionen werden die materiellen, personellen, konzeptionellen und intellektuellen Probleme der Modernisierung der gesamten tschechoslowakischen Armee deutlich. Außer Erwähnungen in einigen Werken eher populären Charakters existieren Arbeiten zu diesem Thema jedoch nur in unpublizierter Form: Pech, Pavel: Výstavba, organizace a předpokládané použití rychlých divizí čs. předmnichovské armády [Aufbau, Organisation und angestrebte Verwendung der schnellen Divisionen der tschechoslowakischen Armee vor dem Münchener Abkommen]. Diplomarbeit. Bratislava 1972. Maršálek, Zdenko: Vznik, vývoj a srovnání koncepcí rychlých svazků v armádách meziválečného Polska a Československa [Entstehung, Entwicklung und Vergleich der Konzeptionen der schnellen Verbände in den Armeen Polens und der Tschechoslowakei der Zwischenkriegszeit]. Diplomarbeit. Praha 2000.

128   Zdenko Maršálek Bomber von tschechoslowakischen Flughäfen aus vorbereitet,37 was vor allem von französischer Seite initiiert worden war. Es handelte sich nicht um direkte Hilfe für die Tschechoslowakei durch die Luftwaffe, sondern um eine für damalige Maßstäbe ausgesprochen moderne Konzeption von Pendelluftangriffen auf Ziele im Inneren Deutschlands. Die Unterbringung der Fliegerbasen in der Tschechoslowakei war also in erster Linie der strategischen Konzeption des Koalitionskriegs geschuldet. Gerade dieser „Trumpf“ in einem Krieg gegen Deutschland war ein zusätzliches Argument, die böhmischen Länder im Konfliktfall zu halten. Das Projekt mit strategischer Reichweite wurde nach dem „Münchener Abkommen“ nach Polen „verschoben“, wo es jedoch ebenfalls nicht realisiert werden konnte. Das Konzept der Pendelluftangriffe von den alliierten Basen wurde dann erst 1944 von der amerikanischen Luftwaffe unter Verwendung von Stützpunkten in der bereits befreiten Ukraine verwirklicht. Der Wandel der Organisationsstruktur brachte viele Vorteile, zerstörte aber gleichzeitig die bewährten Organisationsschemata. Innerhalb weniger Jahre mussten sich die Kommandanten auf ein völlig neues System einstellen. Trotz der konsequenten Einübung der neuen Organisationsstruktur trugen die andauernden organisatorischen Änderungen letztlich nicht zum Zusammenhalt der Truppe bei.38 Die geschilderte ungünstige Situation verschärfte sich während der Mobilisierung weiter. Es kam zu einer organisatorischen Zersplitterung, die Verbände tauschten untereinander Regimenter aus, eine Reihe von Formationen wurde mit anderen verschmolzen.39 Schließlich wurde auch die Unterordnung innerhalb einzelner Verbände beibehalten. Ihre Kommandanten befehligten so Divisionen, die sie gar nicht kannten; ihre Zusammensetzung, an die sie noch nicht gewöhnt waren, änderte sich weiterhin ohne langfristige Zielsetzung. Für diese kurzfristigen Änderungen gab es mehrere Gründe: Zunächst handelte es sich um den Versuch, möglichst schnell bedrohte Abschnitte noch vor dem Abschluss der Mobilisierung zu verstärken. Später wurde auf Meldungen der tschechoslowakischen Abwehr über aktuelle Veränderungen des feindlichen Vorrückens reagiert. Ein Problem stellte zugleich der Widerspruch zwischen den Verteidigungs­ konzepten und der zu erwartenden Entwicklung dar. Deutlich wird dies an der 37 Zur

direkten Zusammenarbeit der Luftwaffen von französischer Seite siehe Service historique de l’Armée de Terre (SHAT). Sign.: 7 N 3447, Dossier 1. Zur französischen Luftwaffenstrategie siehe: Young, Robert J.: The Strategic Dream. French Air Doctrine in the Inter-War Period, 1919–1939. In: Journal of Contemporary History 9/4 (1974), S. 57–76. 38 Die Reorganisation der Divisionen vom Brigaden- zum Regimentssystem lief bis zum 1. Januar 1938, als nach einer vierjährigen Vorbereitungszeit auch die schnellen Divisionen geschaffen wurden. 39 Um die Bereitschaft schneller zu erreichen, tauschten z. B. die 6. und 19. Division zwei ihrer drei Regimenter. Anstelle der 16. Division, die an der polnisch-slowakischen Grenze belassen worden war, wurden in deren ursprünglichem Abschnitt das 7. und 57. Regiment der 10. Division und Grenzzone Nr. 40 eingesetzt. Nach Westböhmen wurden Artillerieregimenter aus der Slowakei befohlen, die später in ihren Mutterverbänden durch die zugeordneten Korps schwerer Artillerie ersetzt werden mussten. Völlig geändert wurde die Zusammensetzung der ursprünglichen Reservekorps. Zu ähnlichen Verschiebungen kam es in allen Armeen und beinahe allen Korps.

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Tatsache, dass der Verteidigungsabschnitt einer Division theoretisch 10 Kilometer umfassen sollte, in der Umsetzung jedoch eine wesentlich größere Länge zu be­ setzen war.

Ausrüstung Der Ausrüstungsstand der tschechoslowakischen Armee wird bis heute als qualitativ hochstehend und modern bezeichnet. Die grundlegenden Waffentypen der Artillerie, an denen in der Folge nur in begrenztem Maße Innovationen durchgeführt wurden, basierten auf Modellen des Ersten Weltkrieges. Im Unter­ schied zu anderen Armeen der Region kamen die tschechoslowakischen ­Geschütze bis auf Ausnahmen aus qualitativ hochwertiger Friedensproduktion. Bereits zu Beginn der Zwanzigerjahre waren bemerkenswert hohe Zahlen groß­ kalibriger Geschütze bestellt worden, für die sich später jedoch angesichts ihrer Schwerfälligkeit nur schwer Verwendung fand. Unbestritten verfügten sie über eine hohe Feuerkraft. Oft wird betont, dass in Europa nur Frankreich und Italien sowie die UdSSR über eine größere Zahl schwerer Geschütze verfügten.40 Der Vergleich ist jedoch irreführend und auch die tatsächliche Situation bestätigt wiederum die spezifische Stellung der tschechoslowakischen Armee im internationalen Vergleich – in Europa stand sie hinsichtlich schwerer Geschütze tatsächlich an vierter Stelle, hinter den ersten drei Staaten lag sie aber um Längen zurück.41 Trotz bestimmter Verbesserungen waren die Geschütze inzwischen veraltet, sodass Ersatz gefunden werden musste. Aber auch das „neue“ Material, das in der ersten Hälfte der 1930er Jahre eingeführt worden war, beruhte auf früheren Modellen der Škoda-Werke. Mit dem Bau von Geschützen auf dem zeitgenössischen Stand der Technik wurde erst in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre begonnen, weswegen sie im Jahr 1938 noch nicht zur Verfügung standen. Den Konstrukteuren der Škoda-Werke gelang es allerdings, moderne Minenwerfer und Panzerabwehrkanonen zu entwickeln und in Serie zu produzieren. Mit einem Misserfolg endete dagegen die Entwicklung von Panzerabwehrwaffen und Großkaliber-Maschinengewehren. Ein eigenes Kapitel waren die Festungswaffen, die in ihrem Bereich Weltspitze waren.

40 Bereits

seit den 1960er Jahren wiederholte Václav Karlický diesen Ausspruch. Vgl. Šáda, Miroslav u. Kol.: Umlčené zbraně. Československá zbrojní výroba 1918–1939 [Zum Schweigen gebrachte Waffen. Die tschechoslowakische Waffenproduktion 1918–1939]. Praha 1966, S. 68. Zur tschechoslowakischen Artillerie vorwiegend unter Konstruktionsgesichtspunkten Karlický, Václav: Československé dělostřelecké zbraně [Tschechoslowakische Artilleriewaffen]. Praha 1975. 41 Die tschechoslowakische Armee hatte insgesamt 51 schwere Geschütze, zu denen noch weitere 42 15cm-Haubitzen gezählt wurden. Die italienische Artillerie etwa verfügte über annähernd zehnmal so viele Waffen.

130   Zdenko Maršálek Zu den ausgesprochenen Erfolgen der tschechoslowakischen Industrie gehörte die Konstruktion und Produktion gepanzerter Fahrzeuge, insbesondere von Panzern. Die Tschechoslowakei gehörte zu den wenigen Staaten in der Welt, die überhaupt Panzer produzierten.42 In die Produktion gelangte eine bedeutende Zahl leichter Panzer, die auch einen erfolgreichen Exportartikel darstellten.43 In der zweiten Hälfte der 1930er Jahre blieb die Tschechoslowakei in der Luftwaffe technologisch immer weiter zurück. Im Jahr 1938 hatten zwar die eingeführten Typen immer noch hohen Kampfwert, trotzdem konnte die Luftwaffe als Ganzes nicht an ihren Widersacher heranreichen, besonders was die Schnelligkeit der eingeführten neuen Technologien betraf. Ein moderner Ganzmetallbomber musste in der Sowjetunion gekauft werden.44 Ein bedeutender Faktor der Verteidigung war die Frage des Verkehrs, also ­neben der Eisenbahn vor allem die Motorisierung. Auch auf diesem Gebiet nahm die Tschechoslowakei eine besondere Stellung ein: 1924 gehörte sie zu den neun Staaten der Erde, in denen Automobile produziert wurden,45 andere Staaten ­hatten aber eine bis zu zehnfach höhere Motorisierung, das Verhältnis verbesserte sich jedoch stetig, wenn auch sehr langsam. Allerdings erreichte das Niveau der böhmischen Länder gegenüber dem staatlichen Durchschnitt ein Vielfaches und näherte sich dem Durchschnitt Westeuropas an. Die Produktionskapazitäten ermöglichten einen steilen Anstieg der Motorisierung.46 Die Hälfte aller Fahrzeuge waren freilich Personenfahrzeuge, während die von der Armee vor allem be­ nötigten Lastkraftfahrzeuge nur etwa ein Fünftel darstellten. Die Armee musste somit eine große Zahl gewöhnlicher Lastkraftfahrzeuge kaufen, die sie sonst aus dem zivilen Sektor hätte mobilisieren können.47 Die Motorisierung der Armee entsprach letztlich dem Gesamtniveau der Motorisierung des Staates. Allerdings existierte im September 1938 in der Armee kein einziger voll motorisierter

42 In

großen Stückzahlen wurden Panzer nur in der UdSSR, Großbritannien, Frankreich, USA, Italien und Polen, teilweise auch in Schweden produziert. Nur die sechs ersten Länder hatten 1938 mehr Panzerfahrzeuge als die Tschechoslowakei, allerdings in schlechterer Qualität. 43 Die tschechoslowakische Armee hatte etwa 350 qualitative hochwertige leichte Panzer, weitere 250 Stück gingen in den Export. Der Export einer Serie von 126 R-2 (Lt-35) Panzern stellte in der Zwischenkriegszeit sogar das größte Panzergeschäft weltweit dar. In großer Zahl wurden auch gepanzerte Fahrzeuge leichten Typs exportiert, sog. Tančíky [Kleinkampfwagen]. Zum Wandel der Technik bes. Francev, Vladimír/Kliment, Charles: Československá obrněná vozidla 1918–1948 [Tschechoslowakische Panzerfahrzeuge 1918–1948]. Praha 1999. 44 Vgl. zuletzt: Minařík/Šrámek: Československé vojenské letectvo v době vyvrcholení mnichovské krize, S. 43–52. 45 Kolektiv: Studie o technice v  českých zemích. V: 1918–1945 (1. část) [Studie zur Technik in den böhmischen Ländern. V: 1918–1945 (1. Teil)]. Praha 1995, S. 445. 46 1922 waren auf dem Gebiet der ČSR knapp 10 000 motorisierte Fahrzeuge registriert, 1930 bereits mehr als zehnmal soviel. Im Sommer 1938 umfasste der Fuhrpark etwa 200 000 Fahrzeuge aller Art. Ebenda, S. 446 f. 47 In den Jahren 1936–1937 wurden nur 2400 Lastkraftfahrzeuge verkauft, während die Armee in derselben Zeit 3800 Lastkraftfahrzeuge kaufte. Die Armeefahrzeuge mussten beinahe die Hälfte des Kriegsbedarfs von 35 600 motorisierten Fahrzeugen decken. Kolektiv: Vojenské dějiny Československa. III. díl, S. 417.

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­ erband, was die Möglichkeit schneller Manöver der Reserve deutlich einV schränkte.48 Dank der entwickelten Wirtschaft konnte es sich die Tschechoslowakei im September 1938 erlauben, die Armee in weit reichendem Maße zu mobilisieren, schaffte es aber wegen des finanziellen Aufwands nicht, die Aufrüstungsprogramme in vollem Maße durchzuführen. Unzureichend war auch die Zahl von Fliegerabwehrwaffen, von Panzerabwehrgeschützen und Kraftfahrzeugen. Angesichts der Produktionskapazitäten der Škoda-Werke ist es vielleicht überraschend, dass es auch in der Ausrüstung der Artillerie bedeutende Lücken gab, und zwar nicht nur die Modernität des Materials betreffend, sondern auch hinsichtlich der Quantität.49 Bei der Analyse der Ausrüstungsprogramme ist dessen ungeachtet zu betonen, dass die Prioritätensetzung hinsichtlich bestimmter Waffen richtig war. In einigen Fällen kam es aufgrund ungelöster Konstruktionsprobleme zu Verspätungen, manchmal handelte es sich um Folgen übertriebener Forderungen der Armee, als man auf „Besseres“ wartend nicht „Gutes“ kaufen wollte.50 Die Tschechoslowakei war durch den Entwicklungsstand der Maschinenindustrie zumindest theoretisch in der Lage, ihre Armee im Kriegsfall aus eigenen Quellen zu versorgen. Der größte Teil der Industriekapazitäten befand sich in den böhmischen Ländern.51 Solange der angenommene Hauptfeind Ungarn war, war die geografische Struktur äußerst günstig. Ein Problem waren lediglich die un­ genügenden Kommunikationsverbindungen zur östlichen Landeshälfte. In den Dreißigerjahren wurde dieser geografische Vorteil jedoch zum strukturellen Nachteil. Nach einem Rückzug in die Slowakei hätte die Armee ihre Produktionsgrundlage verloren und wäre völlig auf Importe aus dem Ausland angewiesen gewesen. Die Regierung versuchte, die ungünstige Lage der Waffenindustrie durch die Verlagerung einer Reihe von Fabriken in die Osthälfte des Staates zu verbessern, wobei es aber insbesondere wegen des Widerstands einzelner Produzenten bis September 1938 bis auf Ausnahmen nicht gelang, diesen Plan zu realisieren. Allerdings hätte auch eine derartige Verlagerung der Industrie das Problem nicht gelöst. Die Tschechoslowakei verfügte nicht über ein weites Hinterland, das als

48 Zum

1. Oktober 1938 sollte die 14. Division motorisiert sein, ihre Mobilisierungsbereitschaft war jedoch erst für den 15. Februar 1939 geplant, sodass die Division in der Septembermobilisierung als klassische Infanterie antrat. 49 Die Divisionen hatten größtenteils nur 30 Feldgeschütze, leichte Haubitzenbatterien verfügten aus Materialmangel nur über drei statt der üblichen vier Geschütze. 50 Dieses wörtliche Zitat (im Original „lepsze“ jest często wrogiem „dobrego“ [Das „Bessere“ ist oft der Feind des „Guten“]) verwendete bei der Bewertung der technischen Anforderungen an die Waffentechnik in Polen Szubański, Rajmund: Polska broń pancerna w 1939 roku [Die polnische Panzerwaffe im Jahr 1939]. Warszawa 1982, S. 43. 51 Die berühmteste mitteleuropäische Waffenschmiede, Škoda, hatte ihren Sitz im westböhmischen Pilsen (Plzeň), die Česká zbrojovka [Böhmische Waffenfabrik] nahe an der deutschen Grenze in Strakonitz (Strakonice), die Panzerwerke ČKD waren in Schlan (Slaný) und PragLibeň, die Sprengstoffproduktion war in Zinolten (Senotín) ansässig. Von den bedeutendsten Unternehmen lag nur die Zbrojovka Brno [Waffenfabrik Brünn] etwas östlicher, aber auch in Reichweite des Feindes.

132   Zdenko Maršálek industrielle, administrative, organisatorische und landwirtschaftliche Grundlage die unabdingbare Voraussetzung für das Führen eines längeren Krieges gewesen wäre. Die einzige strategische Lösung wäre gewesen, die Produktion im Rahmen einer Koalition noch weiter nach Osten zu verlagern – nach Rumänien oder in die Sowjetunion. Auch bei der Bewaffnung bestätigte sich nämlich, dass die einzige reelle Chance, die Republik zu verteidigen, in einer funktionierenden Koalition bestanden hätte – ein erfolgreicher Krieg um die Tschechoslowakei hätte ein europäischer Krieg sein müssen. Neben den Produktionskapazitäten und Konstruktionsfertigkeiten waren vor allem die Finanzen eine wichtige Komponente bei der Organisation der Landesverteidigung. Die Tschechoslowakei ging in dieser Richtung bis an die Grenzen ihrer Möglichkeiten; im September 1938 stand sie am Rande der Kriegswirtschaft.52

Das Befestigungssystem Die meisten Mythen zur Verteidigungsfähigkeit der tschechoslowakischen Armee im Jahr 1938 beziehen sich auf die Befestigungsanlagen in den Grenzregionen und ihren Wert für die militärische Verteidigung. Die Vorstellungen von diesem Befestigungssystem schwanken von einer „unüberwindlichen Mauer“ bis zur Kritik an sinnlos investierten Mitteln, die anstelle der „Betonierung der Grenze“ für die Modernisierung der Armee hätten verwendet werden können. An dieser Stelle kann es nicht darum gehen, solche Überlegungen zu diskutieren.53 Vielmehr sollen die konkreten Planungen in ihrem historischen Zusammenhang betrachtet werden. Zuerst ist es nötig, die weit verbreitete Meinung zu widerlegen, dass in der Tschechoslowakei ein grundlegender Konflikt zwischen den Befürwortern einer beweglicheren Kriegsführung und den Anhängern einer defensiven Strategie existiert habe, dass es also zu einem Streit „Panzer versus Befestigung“54 gekommen sei. Ein wichtiger Aspekt bei der Planung der Landesverteidigung war die geografische Struktur des Landes, die bei Rückzugsplanungen und den WestOst-Kommunikationsverbindungen zu berücksichtigen war. Der Ausbau dauerhafter Befestigungen zum Schutz der wichtigen Eisenbahnlinie Prag–Pardubitz– 52 Eine

Serie herausragender Beiträge zu diesem Thema veröffentlichte Jan Pavel in der Zeitschrift „Historie a vojenství“, grundsätzliche Bedeutung hatte bereits der erste: Pavel, Jan: Financování československé armády v letech 1924 až 1939 [Die Finanzierung der tschechoslowakischen Armee in den Jahren 1924 bis 1939]. In: Historie a vojenství 53/1 (2004), S. 4–22. 53 Eine Vielzahl strittiger Meinungen nicht nur zur Befestigung äußerte z. B. Tesař, Jan: Mnichovský komplex. Jeho příčiny a důsledky [Der Komplex von München. Seine Ursachen und Folgen]. Praha 2000. 54 Die These findet sich in der Literatur der Sechzigerjahre. In zugänglichster Form widerlegte sie Šrámek Pavel: Tanky versus opevnění aneb jak to vlastně bylo [Panzer versus Befestigung oder wie es eigentlich gewesen ist]. In: Novodobé fortifikace 8 (2001), S. 52–54.

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Böhmisch-Trübau–Olmütz wurde bereits im Plan N vom Jahreswechsel 1920/21 empfohlen.55 In den 1920er Jahren diskutiert,56 handelte es sich keineswegs um eine neue Idee, als Anfang der 1930er Jahre die Entscheidung zum Bau der Befestigungslinien fiel.57 Die Befestigung sollte also vor allem die notwendige Aufgabe erfüllen, die Nordgrenze zu halten. In der Verteidigungsplanung der „nördlichen Front“ spielte dafür auch die Truppenstärke eine herausragende Rolle. Gemäß der militärischen Theorie waren für den Erhalt des entscheidenden Elbe-Oder-Raums über eine Länge von ca. 400 Kilometern mindestens 30 Divisionen notwendig. Neben der Zeit für ihre Mobilisierung wäre für die Sicherung des genannten Abschnitts der Einsatz der Mehrheit der tschechoslowakischen Armee nötig gewesen. Anstelle der benötigten 600 000 Soldaten wären nach dem Ausbau der Befestigung im genannten Gebiet 165 000 Soldaten ausreichend gewesen. Die Befestigung ­bedeutete also auch einen notwendigen Ersatz für die fehlenden Truppenver­ bände.58 Hinzu kam der Faktor Zeit. Befürchtet wurde ein rascher deutscher Einmarsch, der die Mobilisierung der eigenen Truppen erschwert oder ihr sogar zuvorgekommen wäre. Bis die Armee die Mobilisierung durchgeführt hätte, sollten ausgewählte Einheiten die Grenzbefestigungen halten. Bei der Länge der bedrohten Grenze bildete diese Deckung allerdings nur einen sehr begrenzten Schutz. Die gegebene Aufgabe konnte deshalb eine Kette dauerhafter leichter Bunker besser erfüllen, in denen auch schwache Kräfte den Feind für eine gewisse, wenn auch begrenzte Zeit zurückhalten konnten. Leichte Befestigungen hatten aber auch ­einen wichtigen Platz in den späteren Phasen des voraussichtlichen Konflikts. Einige Glieder der leichten Befestigung im Binnenland sollten geschwächten Verbänden, die sich schrittweise nach Osten zurückziehen sollten, die nötige Unter55 Plan

N siehe VÚA-VHA Praha. Bestand: MNO-HŠ/3. odd., 1924. Sign. 37–2/3–6, 7, 9. Diskussion über die Befestigung im Generalstab belegt bereits 1924 auch das Tagebuch des späteren Generals Vojtěch Luža. Hofman, Petr (Hg.): Deník Vojtěcha Borise Luži [Das Tagebuch des Vojtěch Boris Luža]. In: Historie a vojenství 45/5 (1996), S. 131–153, hier S. 137. Von den tschechischen militärischen Publizisten äußerte sich zu diesem Thema bereits zu Beginn der Zwanzigerjahre General Rudolf Hanák, siehe Hanák, Rudolf: O významu stálého opevnění pro náš stát. 1.–3. část [Über die Bedeutung einer dauerhaften Befestigung für unseren Staat. 1.–3. Teil]. In: Důstojnické listy 49 (1923), S. 1–3, 51 (1923) S. 1–3, und 52 (1923), S. 1 f. Zehn Jahre später: Ders.: O významu stálého opevnění pro obranu státu. [Über die Bedeutung einer dauerhaften Befestigung für die Verteidigung des Staates]. In: Vojenské rozhledy – Rozhledy technických zbraní 4 (1933), S. 1241–1258. 57 Im Juli 1934 wurde die Idee, eine dauerhafte Befestigung zu errichten, vom Obersten Rat zur Verteidigung des Staates gebilligt, im März 1935 entstand die Direktion für Befestigungsarbeiten, die Arbeiten im Gelände begannen im Oktober 1935. Die Gesamtkosten zur Befestigung sollten 10 Milliarden Kronen übersteigen, bis September 1938 war etwa ein Drittel davon verbaut worden. Zur Problematik des Ausbaus der Befestigung existiert umfangreiche Literatur, die hier auch in fundamentalster Aufzählung nicht zitiert werden kann. 58 Bericht des Chefs des Generalstabs zum Programm des Ausbaus einer dauerhaften Befestigung vom 12. Oktober 1934. VÚA-VHA Praha. Bestand: ŘOP. Der Bericht verwies auch auf den finanziellen Aspekt – die Befestigung sollten 4,5 Milliarden Kronen kosten, denselben Betrag, die eine Aufstellung der genannten 30 Divisionen gekostet hätte. 56 Eine

134   Zdenko Maršálek stützung gewähren.59 Jede Befestigungslinie konnte theoretisch den vordringenden Feind kurzzeitig zurückhalten. Gleichzeitig konnte so Zeit gewonnen werden, um die eigenen Kräfte zu sammeln und teilweise zu reorganisieren. Jede gewonnene Stunde erleichterte nicht nur den Rückzug der eigenen Armee, sondern erhöhte auch den zeitlichen Spielraum für das erhoffte Eingreifen der Verbündeten. Die Befestigungslinie im Norden war für eine dauerhaftere Verteidigung bestimmt; wie bereits gesagt deckte sie zum einen die Kommunikationshauptschlagader, zum anderen sicherte sie gefährdete Einmarschrouten. Deshalb wurde hier ein im Unterhalt teures System errichtet. Gegen Ungarn sollte auch im Hinblick auf die längerfristige Verteidigung eine überwiegend leichte Befestigung genügen, diejenige der südlichen Grenze gegen Österreich sollte zuerst nur die Konzentration und Entwicklung eigener Interventionskräfte sichern. Erst der Anschluss Öster­reichs brachte einen beschleunigten Ausbau der leichten und schweren Befestigung im Süden Mährens und verwandelte die Grenzregion in die viel diskutierte „Tschechische chinesische Mauer“. Die erwähnten Maßnahmen waren kein Selbstzweck; ihre endgültige Gestalt war nur Ausdruck der verzweifelten ­Situation, in der der Staat sich befand.60 Oft wird die Frage diskutiert, ob und wie lange die Befestigungsanlagen den Feind hätten zurück- oder aufhalten können. Was die Linie der leichten Grenzbefestigungen betrifft, muss man sich der grundlegenden Tatsache bewusst sein, dass ihre Hauptaufgabe im September 1938 auch ohne Kampf restlos erfüllt war: die allgemeine Mobilisierung verlief erfolgreich, am Tag der Münchener Konferenz wurden nur noch wenige Tage bis zur allgemeinen Kriegsbereitschaft benötigt. Jede weitere Stunde, die die leichten Befestigungen den Feind zurückzuhalten vermochten, wäre bereits „über dem Plan“ gewesen. Man darf jedoch diese Zeit keineswegs überbewerten, was auch für die Rückzugsposten im Binnenland galt. Neben einer Reihe von Lücken in den unvollendeten Linien war die Zahl der zur Verfügung stehenden Verbände insgesamt zu niedrig. Die vorhandenen Einheiten sollten Abschnitte von mehreren Dutzend Kilometer sichern, also etwa fünf- bis zehnmal so lange Abschnitte, wie es die Kampfvorschriften forderten. Begrenzt waren auch die Möglichkeiten der Linien der schweren Befestigung, die zur dauerhaften Verteidigung bestimmt waren. Die so genannte nordöstliche Front der Maginot-Linie, die die deutsch-französische Grenze sicherte, maß nur 59 Das

erste Glied verlief von der südlichen Grenze entlang der Moldau, umkreiste Prag und ging weiter über Melnik (Mělník), Liboch (Liběchov) und Niemes (Mimoň) nach Norden. Diese Linie konnte beinahe vollendet werden, wohingegen die beiden übrigen, auf dem böhmischmährischen Hochland und im Vorland der mährisch-slowakischen Grenze, nur in Gestalt ­grober Pläne existierten. Im September 1938 musste dann improvisiert befestigt werden. 60 Bereits 1923 antwortete der Chef der französischen Militärmission und gleichzeitige Chef des Generalstabs General Eugène Mittelhausser auf den Vorwurf von General Radola Gajda, dass die französischen Offiziere die tschechoslowakische Armee nur zur statischen Verteidigung vorbereiteten, folgendermaßen: „General Gajda hält es für unmöglich, dass wir entlang der gesamten Grenze eine Kette kleiner Festungen errichten. Das ist absolut klar. Und niemandem im Generalstab wäre ein so absurder Gedanke gekommen.“ Zitiert nach Břach: Úvahy představitelů francouzské vojenské mise, S. 296.

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etwa 350 Kilometer. In ihrer kompletten Länge war sie viel stärker als die tschechoslowakische Befestigung, mit einer viel höheren Konzentration von schweren Objekten und vor allem von Festungsartillerie.61 Die französische 2. Heeresgruppe, die von September 1939 bis Juni 1940 den größten Teil dieser Grenze verteidigte, zählte dessen ungeachtet mehr als 35 Divisionen mit massivem Befestigungsmaterial. Die französische Armee erreichte also an der Grenze zu Deutschland die theoretisch vorgeschriebene Heeresdichte (ca. eine Division auf zehn Kilometer), und die Befestigung stellte noch eine zusätzliche Verstärkung dar. So wurde eine ausreichende Widerstandskraft gesichert und die Grenze in ihrer ­ganzen Länge faktisch vollständig gesichert. Die tschechoslowakische schwere Befestigung dagegen kompensierte den Mangel an Truppen. Darüber hinaus war sie dünner als die französische und hinsichtlich der zur Verfügung stehenden Artillerie nicht zu vergleichen.62 Die schweren Befestigungsanlagen hätten wohl innerhalb einer unerlässlich notwendigen Zeit verhindern können, dass die feindliche Armee dem aus der westlichen Landeshälfte abziehenden Heer in den Rücken fallen würde, eine Garantie für die weitere Verteidigung konnte sie aber nicht geben.

Kriegsplanung Als Österreich Anfang 1938 versuchte, seine Selbstständigkeit unter anderem durch weit reichende Zugeständnisse an das nationalsozialistische Deutschland zu bewahren, wurden auch Überlegungen über eine direkte militärische Zusammenarbeit beider Länder angestellt. Eines der letzten Dokumente, das vom Chef des Generalstabs Alfred Jansa vor seinem erzwungenen Rücktritt unter­ zeichnet wurde, war eine Studie über die Möglichkeiten eines gemeinsamen ­österreichisch-deutschen Überfalls auf die Tschechoslowakei.63 In den Rahmen 61 An

der sog. nordöstlichen Front errichteten die Franzosen 58 Artillerie-Werkgruppen und 403 eigenständige Werke (Infanteriekasematten, Deckungen, Beobachtungsposten). Stehlík, Eduard: Francie a opevňování Československa ve třicátých letech [Frankreich und die Befestigung der Tschechoslowakei in den Dreißigerjahren]. In: Historie a vojenství 48/4 (1999), S. 815. Auf einem ähnlich langen entscheidenden Abschnitt der tschechoslowakischen Befestigung (Oder – Elbe, bzw. Oder – Riesengebirge) sollten nur 15 Artillerie-Werkgruppen stehen, von denen im September 1938 erst acht im Bau waren. Fertiggestellt wurde keines. Insgesamt wurden 227 Infanteriekasematten und 38 Werke in Rahmen der Artillerie-Werkgruppen gebaut, die meisten von ihnen im genannten Abschnitt. 62 Man rechnete mit der Einführung von 10cm-Haubitzen und Granatwerfern, und zwar auch in schwenkbaren Türmen. Die Pläne rechneten jedoch vor allem aus finanziellen Gründen nur mit der Erfüllung der grundlegendsten Aufgaben, sodass die Zahl der Geschütze gegenüber dem eigentlichen Bedarf und der idealen Artillerie-Dichte an der Maginot-Linie deutlich unterdimensioniert war. Bis September 1938 kam ohnehin keine dieser Waffen in die Befestigungsobjekte. 63 Lerider, Helge: Die operativen Maßnahmen gegen die Nachfolgestaaten der Monarchie von 1918 bis 1938 unter besonderer Berücksichtigung der Ära Jansa. Diplomarbeit an der Landesverteidigungsakademie. Wien 1975, S. 109–113.

136   Zdenko Maršálek solcher Überlegungen gehört auch eine Analyse der tschechoslowakischen Armee und ihrer wahrscheinlichen Aktivitäten, ausgearbeitet Anton Longin, österreichischer Militärattaché in Prag, in den ersten Märztagen 1938.64 Dieses Dokument bietet einen Einblick, wie die österreichische Armee die Tschechoslowakei und ihr mögliches Agieren im Konfliktfall beurteilte. Auf der Grundlage der damaligen Kenntnisse bewertete der österreichische Attaché die Grundzüge des Kriegsplans der tschechoslowakischen Armee folgendermaßen: „[…] Operative Absichten 1) Auf die Grenzbefestigungen gestützt, Verteidigung Böhmens durch die 1. Armeegruppe; 2) Mit 2. Armeegruppe Angriff gegen Ungarn (auch russische Forderung um die Bahnverbindung in sicher Hand zu behalten); 3) Reserve Armee: a) Besetzung der Böhm-mähr. Höhenzuges bei Niederlage in Böhmen; Aufnahmestellung in Raume Oderberg – Troppau um Einfall gegen Flanke unmöglich zu machen; b) Wenn gegen Ungarn Erfolge, diese auszuweiten, Schwerpunkt des rechten Flügels gegen Budapest (Tschechische Seite rechnet man mit 12 gegenüberstehenden ung. Div.).“

Longin legte zudem die von ihm vermutete Kriegsgliederung der tschechoslowakischen Armee vor: „(…) Armeeoberkommando 2 Armeegruppen 4 Armeen Mobilisierte Operative Einheiten: 38 Inf.- und Gebgs.-Div., 4 Schn[elle]Div., 2 selbst. Kav. brig. 3 Aktive Armeen: 1. Prag – gegen Deutschland – 14 Divn 2. Neutra – gegen Ungarn und auch gegen Österreich 3. Kaschau – gegen Ungarn in Zusammenwirken mit rum. Armee (2. und 3. Armeen zusammen – 12 Inf. Divn und 2 Gebg Divn) Grosse Reserve Armee: in Raume Brünn – 10 Divn (darunter 4 Divn dritter Linie)“

Auf den ersten Blick scheint das vorliegende Dokument ein Beweis für eine völlig falsche Bewertung der Struktur der tschechoslowakischen Armee und ihrer operativen Ausrichtung zu sein. Der tatsächliche Plan und die Aufgaben der einzelnen Armeen während der Mobilisierung sind heute hinreichend bekannt. Im September 1938 war die tschechoslowakische Armee darauf vorbereitet, einen ­explizit defensiven Konflikt auszutragen. Der strategische Plan sah vor, die Armee schrittweise in West-Ost-Richtung abzuziehen und sie unter Verwendung einiger provisorischer Verteidigungslinien im schlimmsten Fall bis an die mährisch-slowakische Grenze zurückzuverlegen, wo der Gegner, aufgrund des bergigen Geländes und der relativen Kürze der Verteidigungslinie endgültig zum Stehen gebracht werden sollte. Rein technisch betrachtet hatte dieser Plan jedoch eine ganze Reihe 64 Kriegsarchiv

Wien. Bestand: BMfLV, sekt. III. Sign.: kart. 5632: Studie über die Möglichkeiten eines Angriffs gegen die Tschechoslowakei. Von dem Militärattaché in Prag. Militärattaché in Prag war der Oberst des Generalstabs Anton Longin, dessen Bruder in der Tschechoslowakei in Wenkerschlag bei Neuhaus (Dolní Radouň) lebte.

Aus dem Blickwinkel einer Schießscharte   137

problematischer Aspekte: Die Tschechoslowakei hätte im Konflikt mit Deutschland nicht die geringste Chance gehabt, solange sie auf sich allein gestellt gewesen wäre. Die gesamte Kriegsplanung musste also höheren Gesichtspunkten und den Anforderungen eines Koalitionskriegs untergeordnet werden. Bereits kurz nach der Kapitulation Deutschlands im November 1918 waren französische Militärs davon ausgegangen, dass sie die Befriedung Deutschlands nicht aus eigener Kraft erreichen könnten. Zum Kanon der französischen Militärpolitik wurde deswegen die Suche nach einem Ersatz für den früheren „östlichen Verbündeten“, das zarische Russland. Seit dem revolutionären Moment der Unterzeichnung des französisch-russischen Vertrags von 1894 hatte das Konzept des „östlichen Verbündeten“ einen effektiven Faktor des deutsch-französischen Kräftemessens dargestellt.65 Neben den direkten militärischen Beschränkungen für die deutsche Heeresstärke und der Eliminierung Österreich-Ungarns war die Verschiebung der Grenzen der wahrscheinlichen französischen Verbündeten nach Westen mit gleichzeitiger Verschiebung des von der französischen Armee beherrschten Grenzraums nach Osten (die Angliederung von Elsass und Lohringen und die Entmilitarisierung des Rheinlands) aus militärischer Sicht ein wesent­ licher Faktor. Ein gemeinsames Agieren von Frankreich im Westen sowie Polen oder der Tschechoslowakei im Osten gegen Deutschland war somit grundsätzlich möglich, sowie die direkte Verbindung der französischen Einheiten mit der Armee des östlichen Verbündeten. Das genannte Konzept hatte für die Tschechoslowakei bereits unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg konkrete Auswirkungen gehabt. Führende Politiker in Prag stellten vor der Ankunft der französischen Militärmission Anfang 1919 überrascht fest, dass die erste Aufgabe des designierten Generalstabschefs General Maurice Pellé darin bestand, in möglichst kurzer Zeit eine maximale Zahl von Divisionen aufzustellen, nicht zum Einsatz gegen die Ungarn in der Slowakei, sondern zu einem eventuellen Eingreifen gegen Deutschland, falls es sich den Vorschriften der Friedensverträge widersetzen sollte.66 Dieser Absicht entsprachen auch die Pläne, die zu Beginn der Zwanzigerjahre entstanden. Es erstaunt nicht, dass deren Urheber Angehörige der französischen Militärmission in der Tschechoslowakei waren. Die tschechoslowakische Armee sollte demnach flexibel, schnell und vor allem

65 Hier

ist es aus Platzgründen leider nicht möglich, sich der weiteren Entwicklung der französischen strategischen Planungen zu widmen. Interessante Betrachtungen zu den militärischen Kontakten mit der Sowjetunion bietet die Arbeit Dullin, Sabine: Des hommes d’influences. Paris 2001, die auch in tschechischer Übersetzung erschienen ist (Stalinovi diplomaté v Evropě 1930–1939 [Stalins Diplomaten in Europa 1930–1939]. Praha 2004). 66 Zur Genese des Problems siehe insbesondere Břach, Radko: První kroky francouzské vojenské mise v Československu (únor – květen 1919) [Erste Schritte der französischen Militärmission in der Tschechoslowakei (Februar–Mai 1919)]. In: Historie a vojenství 46/4 (1997), S. 3–32. Ders.: Generál Maurice Pellé. První náčelník Hlavního štábu čs. branné moci [General Maurice Pellé. Der erste Chef des Generalstabs der tschechoslowakischen Streitkräfte]. Praha 2007.

138   Zdenko Maršálek offensiv operieren.67 Die Beurteilungen, die bei der Ausarbeitung der genannten Pläne entstanden, dienten als Grundlage der weiteren Planungen bis zum September 1938 – wesentliche Probleme der Verteidigung der Tschechoslowakei ­waren somit bereits in der ersten Hälfte der 1920er Jahre von französischen Offizieren prägnant formuliert worden.68 Die tschechoslowakische Regierung sah die größte Bedrohung in den 1920er Jahren jedoch vor allem im ungarischen Revisionismus. Nach der Verabschiedung von General Pellé versuchte auch sein Nachfolger als Leiter der französischen Militär­mission, General Eugène Mittelhausser, den damaligen Außenminister ­Edvard Beneš davon zu überzeugen, dass der Hauptfeind der Tschechoslowakei Deutschland sei.69 Eine gewisse Reserviertheit der Tschechoslowakei und Unwillen, offen als militärischer Gegner Deutschlands aufzutreten, zeigte sich auch im Verlauf des deutsch-französischen Reparationsstreits, der Anfang 1923 zu einer zeitweiligen Besetzung des Ruhrgebiets führte. Frankreich versuchte, aus Angst vor einem Erstarken Deutschlands, die militärische Zusammenarbeit mit den Verbündeten vertraglich zu verankern. Doch selbst ein Besuch von Marschall Ferdinand Foch selbst konnte die tschechoslowakische Seite nicht zur Unterzeichnung verbindlicher Verträge bewegen. Die internationale Situation veränderte sich jedoch schnell, sodass noch im Verlauf der Konferenz von Locarno eine operative Richtlinie entstand, die später als so genannter Plan II übernommen wurde.70 Der Plan kodifizierte einen grundlegenden Strategiewechsel, denn in ihm wurde bereits Deutschland als Hauptgegner bezeichnet.71 Truppenschwerpunkt blieb Böhmen, vorwiegend angesichts der Notwendigkeit, die bedeutendsten Industrieregionen zu schützen.72 Das Erstarken Deutschlands bedeutete jedoch gleichzeitig das Scheitern möglicher Offensivplanungen aus Böhmen in Richtung (Nord-)Westen. Der Plan wurde in den folgenden Jahren präzisiert und der aktuellen Situation angepasst. Weiterhin wurde mit einem bewaffneten Einsatz Frankreichs gerechnet, zugleich wurden Varianten der Zusammenarbeit mit der polnischen Armee für den Fall eines Angriffs auf Oberschlesien studiert.

67 Bereits

im Mai 1919 entstand die Studie eines Angriffs auf Bayreuth, zum Jahreswechsel 1920/21 dann die Pläne N 1 und N 2, die auch Überlegungen zu einem Vormarsch nach Nordwesten, entlang der Elbe, enthalten. 68 Ich verweise hier auf die grundlegende Studie Břach: Úvahy představitelů francouzské vojenské mise, S. 284–312. 69 Ebenda, S. 300–303. 70 VÚA-VHA Praha. Bestand: MNO-HŠ/3. oddělení, 1925. Sign.: 37–2/14–2. Die Ausarbeitung der Richtlinie leitete der damalige Vorsitzende der operativen Abteilung des Generalstabs, Oberst des Generalstabs Luža, der spätere Landesheeresführer in Mähren, im Herbst 1938 Kommandeur der 2. Armee in Nordmähren. 71 Der Plan sah auch eine Variante des Konflikts nur gegen Ungarn vor, ausgedrückt im Angriffsplan II-A. VÚA-VHA Praha. Bestand: MNO-HŠ/3. odd.. Sign.: 37–2/4. 72 Genauer zum Plan II siehe Pech, Pavel/Anger, Jan: Plány použití buržoazní čs. armády v letech 1918–1938 (I.) [Pläne zur Verwendung der bourgeoisen tschechoslowakischen Armee in den Jahren 1918–1938 (I.)]. In: Historie a vojenství 34/4 (1985), S. 46–53.

Aus dem Blickwinkel einer Schießscharte   139

Je mehr Deutschlands militärische Stärke wuchs, umso deutlicher wurde, dass die französischen Verbündeten in Mitteleuropa unter den neuen Voraussetzungen nicht mehr in der Lage sein würden, ihre Aufgaben ohne fremde Hilfe zu erfüllen. Die französischen Strategen glaubten nicht, dass ein eventueller Koali­tionskrieg bald vorüber sein würde, sondern bereiteten sich auf einen mehrjäh­rigen erschöpfenden Konflikt vor.73 Neben Versuchen der Annäherung an die Sowjet­ union suchten sie deshalb nach Wegen, direkt an die „Ostfront“ vorzudringen und vor allem logistische Unterstützung zu leisten. Sie versuchten, Italien ­gegen Deutschland zu verpflichten, hatten aber mit dem Konzept der „südlichen Strategie“ keinen Erfolg. Bald zeigte sich, dass keine andere Möglichkeit blieb, als sich wieder Russland zuzuwenden. Im Laufe der 1930er Jahre wurde der wachsende Widerspruch zwischen rein militärischen und politischen Verteidigungserfordernissen zum Problem für die tschechoslowakischen Planungen. In Hinblick auf einen möglichen Koalitionskrieg war die Tschechoslowakei für ihre Verbündeten vor allem durch ihre geografische Lage Wert bedeutsam. Kurz gesagt stellte die tschechoslowakische Armee für Deutschland nur eine Bedrohung dar, solange sie sich in Böhmen hielt. An der mährisch-slowakischen Grenze hätte sie jedoch nur einen zweitrangigen Gegner dargestellt. Als die Entschlossenheit Frankreichs, die Versailler Nachkriegsordnung zu erhalten, allmählich nachließ, geriet die Tschechoslowakei Schritt für Schritt in die Isolation. Mit der wachsenden Bedrohung Böhmens sank das offensive Potential. Zugleich wuchs die Gefahr für diejenigen Truppen, die für die Westgrenze vorgesehen waren. Der Schwerpunkt der denkbaren Aktionen verschob sich daraufhin Richtung Osten. Zuerst bedeutete das den Verzicht auf jegliche Offensive Richtung Westen, später auch den Verzicht auf den Erhalt Böhmens. Jeder Schritt in Richtung der östlichen Landeshälfte senkte jedoch gleichzeitig die „Attraktivität“ der Tschechoslowakei für Frankreich, und damit war Frankreich immer weniger bereit, Risiken für die Tschechoslowakei einzugehen.74 Hinzu kam ein weiterer politischer Aspekt. Deutschland verschärfte den Druck auf die Tschechoslowakei immer mehr „medial“, indem das Schicksal der deutschen Minderheit in grellen Farben dargestellt und der Fokus somit vorwiegend auf die Grenzgebiete der böhmischen Länder gelenkt wurde. Solange unklar war, ob Deutschland nicht versuchen würde, nur das tschechoslowakische Grenzgebiet zu annektieren und die internationale Öffentlichkeit vor vollendete Tatsachen zu stellen, war es für die Tschechoslowakei außenpolitisch wie auch innenpolitisch 73 Ob

ihnen der weitere Verlauf des Zweiten Weltkriegs Recht gab oder nicht, ist vor allem in Hinsicht auf die Bedingungen des Jahres 1938 fraglich. Siehe Young, Robert J.: La Guerre de Longue Durée. Some Reflections on French Strategy and Diplomacy in the 1930’s. In: Preston, Adrian (ed.): General Staffs and Diplomacy before the Second World War. London 1978, S. 41–64. 74 Zu denken ist an die Verhandlungen in Locarno, das Scheitern der Genfer Abrüstungsverhandlungen, die Einführung der Wehrpflicht in Deutschland, die Wiederbewaffnung des Rheinlands, das definitive Scheitern des französischen „Werbens“ um Italien und schließlich der Anschluss Österreichs. Jeder dieser politischen Schritte hatte auch auf militärischem Gebiet direkte Auswirkungen.

140   Zdenko Maršálek erforderlich, klar zu zeigen, dass der Staat die Grenzgebiete nicht aufgebe und bereit sei, sich zu verteidigen. Durch diese Umstände wuchs der Druck auf die Prager Regierung, das Grenzland konsequent zu verteidigen, was auch den Ausbau der Befestigungen in Westböhmen, für das ursprünglich eine rasche Räumung vorgesehen gewesen war, einschloss.75 Politische Gründe begannen also in erheblichem Maße die Strategie der Armee zu bestimmen. Politisch war es notwendig, möglichst viele Kräfte im Westen zu halten, damit es nicht zu einem fait accompli durch die Abtrennung des Grenzlandes käme und so optisch der militärische Wert der Tschechoslowakei für Frankreich erhalten bliebe. Die Konzentration in Böhmen war günstig für die Eindämmung des Konflikts im Grenzland, für den Kriegsfall war diese Konstellation mehr als problematisch. Ein wesentlicher Faktor des Verteidigungsplans war die Zeit. Buchstäblich mit jedem Kilometer, den sich die tschechoslowakische Armee nach Osten zurückzog, verringerte sich ihre „Attraktivität“ für den Verbündeten. Deshalb lag es in ihrem Interesse, so weit wie möglich im Westen zu bleiben, solange es nicht zu einer französischen Offensive käme. Allerdings konnte im Gegenteil nur ein möglichst schneller Rückzug einem gefährlichen Schlag in den Rücken der Gruppierungen in Böhmen zeitlich zuvorkommen. Ein notwendiger Anspruch war also, in Nordund Südmähren Stand zu halten und kein Auseinanderreißen der Kräfte zuzulassen. Deshalb gab es Überlegungen zur Erweiterung des Raums in Mähren, zuerst durch einen Angriff auf Schlesien (in Zusammenarbeit mit der polnischen Armee), später auf Österreich.76 Die tschechoslowakische Führung ging von der Annahme aus, dass der deutsche Versuch, Österreichs an das Reich „anzuschließen“, für Frankreich den casus belli bedeuten würde,77 und es so augenblicklich möglich würde, darauf zu reagieren. Nach Abschluss des deutsch-polnischen Nichtangriffspakts wurden eventuelle Angriffe auf Schlesien gegenstandslos. Für den gesamten Verteidigungsplan fiel deshalb eine grundsätzliche Entscheidung – die Nordgrenze des künftigen „Rückzugskorridors“ zu befestigen und unter dauernder Verteidigung zu halten, an der Südgrenze dagegen die günstige politische und 75 Den Ausbau

der Befestigung in Westböhmen aus politischen Gründen forderten die anwesenden Vertreter der Regierungskoalition bei den Verhandlungen des Obersten Rates zur Staatsverteidigung am 27. April 1936. Siehe Šrámek, Pavel: Ve stínu Mnichova. Z historie československé armády 1932–1939 [Im Schatten von München. Aus der Geschichte der tschechoslowakischen Armee 1932–1939]. Praha 2008, S. 54. 76 Siehe Anger, Jan/Pech, Pavel: Plány použití buržoazní čs. armády v  letech 1918–1938 (III.) [Pläne zur Verwendung der bourgeoisen tschechoslowakischen Armee in den Jahren 1918– 1938 (III)]. In: Historie a vojenství 34/6 (1985), S. 64 und 74. 77 Die politischen Kreise der westlichen Großmächte tendierten allmählich immer mehr zum Appeasement, die Militärs, besonders die französischen, verstanden allerdings den Wert eines „östlichen Verbündeten“ und die Bedeutung der einzelnen Gebiete für ein effektives Halten der „Ostfront“. Auf die Frage von Oberst Justus Jahn, dem österreichischen Militärattaché in Paris, welche Haltung Frankreich im Falle der Verletzung der österreichischen Unabhängigkeit durch Deutschland einnehmen würde, antwortete General Gamelin klar: „C’est la guerre!“ Jansa, Alfred: Aus meinem Leben. Kapitel X. Chef des Generalstabes für die bewaffnete Macht. 1. 6. 1935 bis 16. 2. 1938, S. 76. Maschinenschrift niedergelegt im Kriegsarchiv Wien. Sign.: 8/655, Nr. 4, Kart. 879.

Aus dem Blickwinkel einer Schießscharte   141

militärische Situation zu nutzen und im Bedarfsfall möglichst schnell das Gebiet nördlich der Donau zu besetzen. Dieses ließ sich in west-östlicher Richtung re­ lativ gut verteidigen, dazu an einer relativ kurzen Front, denn der mächtige Donau­strom sollte dem südlichen Flügel zuverlässigen Schutz bieten.78 In dieser Überlegung liegt auch der Schlüssel zur Entscheidung, die Befestigung der tschechoslowakischen Grenze abzustufen, da die schwächere Befestigung an der österreichischen Grenze nur die Konzentration der eigenen Kräfte vor dem geplanten Angriff auf den Süden verdecken sollte.79 Als die Unabhängigkeit Österreichs weder Frankreich noch Italien einen Krieg wert war, war auch die Tschechoslowakei bereits militärisch verloren. Alle weiteren Verteidigungsvorkehrungen konnten nur noch als verzweifelte Schritte erscheinen. Die Armeeführung versuchte trotzdem das Unmögliche und arbeitete einen „Plan VII“ aus,80 der nur noch von einer statischen Verteidigung des südmährischen Grenzgebiets ausging. Vom tragischen Ausmaß der neuen Bedrohung zeugt nicht nur ein einfacher Blick auf die Landkarte, sondern auch die Tatsache, dass die 4. Armee, die diesen Abschnitt verteidigte, zum stärksten Verband der tschechoslowakischen Streitkräfte wurde, wenn auch die in ihrem Abschnitt geplanten Reserven des Hauptkommandos eingerechnet werden. Auch die weiteren Planungen wurden durch politische Faktoren beeinflusst. Im Verlauf des Septembers 1938 wurde es immer wahrscheinlicher, dass sich ein Konflikt, ob diplomatisch oder militärisch, auf das Grenzgebiet konzentrieren würde. Eine neue „Variante XIII“ und weitere Korrektive81 verlagerten immer mehr tschechoslowakische Armeeverbände in die westlichen Landesteile und von den „Manöverabteilungen“ zu den Verteidigungsstellungen an der Grenze. Die Kommandanten versuchten, die Dichte der Verteidigungslinie zu erhöhen, was jedoch nicht ausreichend gelang und auf Kosten der ohnehin schwachen Reserven ging. Die Vorbereitung von rückwärtigen Auffangposten und -verbindungen sowie ihre, wenn auch schwache Besatzung mit Reserveformationen erscheint aus

78 Der

geplante Vorstoß zur Donau ist in Archivdokumenten operativen Charakters nicht direkt belegt, denn die entsprechenden Quellen wurden wahrscheinlich nach der Besetzung der böhmischen Länder durch Deutschland vernichtet. Von der Existenz solcher Pläne sprechen Zeitzeugen und Historiker. Ein interessanter indirekter Beweis ist unter anderem die Tatsache, dass die tschechoslowakische Armee ausgiebig die Überquerung eines großen Wasserlaufs übte. Welchen Fluss konnten die Stabsoffiziere wohl im Sinn haben? 79 Zur Befestigung der südmährischen Grenze siehe Kolektiv: Utajené pevnosti. Československé opevnění z let 1936–1938 na jižní Moravě [Verborgene Festungen. Die tschechoslowakischen Befestigungen der Jahre 1936–1938 in Südmähren]. Brno 2003. Die Publikation bietet eine detaillierte Beschreibung der geplanten und realisierten Befestigungen des genannten Abschnitts, beschäftigt sich allerdings nicht mit Fragen der Verteidigung Südmährens. 80 Bis zu seiner Fertigstellung galt eine improvisierte Überarbeitung des vorhergehenden Plans unter der Bezeichnung Plan VIa. 81 Eine Illustrierung der Veränderungen in der so schon zu weit nach Westen vorgeschobenen Aufstellung gemäß Plan XIII bietet die Karte in: Šrámek, Pavel: Když zemřít, tak čestně. Československá armáda v září 1938 [Wenn schon sterben, dann ehrenvoll. Die tschechoslowakische Armee im September 1938]. Brno 1998, S. 115.

142   Zdenko Maršálek dieser Perspektive als wichtiger Schritt.82 Die Situation der sich zurückziehenden Verbände hätte sich durch die organisatorische Zersplitterung weiter verschlechtert. Mit einem Durchbrechen der Verteidigungslinie drohte der Augenblick der Katastrophe gekommen zu sein, der danach unumkehrbar sein würde. Nach dem „Anschluss“ Österreichs blieb unter operativen Gesichtspunkten nur noch der Versuch übrig, die Truppen aus Böhmen und danach auch aus Mähren hinter die statische Verteidigung in Nord- und Südmähren abzuziehen. Ein gelungener Rückzug an die mährisch-slowakische Grenze wäre ein operatives Meisterstück gewesen, wobei die tschechoslowakische Armee 1938 aber kaum über entsprechende Strategen verfügte. Allerdings verfügten die Legionäre aus den Wirren der Russischen Revolution über eine strategische Erfahrung, die genau zur strategischen Situation im September 1938 passte: nämlich der Rückzug mit der ganzen Armee entlang einer Eisenbahnlinie über mehrere hundert Kilometer nach Osten.83 Im Lichte der dargestellten Realitäten erscheint die erwähnte falsche Annahme des österreichischen Attaché ganz anders. Seine Hypothese von einer anfänglichen Ausrichtung der tschechoslowakischen Armee ging nämlich von der Überlegung aus, was die Armee zu tun hätte, also von einem Konzept eines großen gesamteuropäischen Koalitionskrieges als strategisches sine qua non der Verteidigung der Tschechoslowakei. Im September 1938 lag die Initiative aber vollständig beim potentiellen Gegner der tschechoslowakischen Armee. Die mehrfache Anpassung des Verteidigungsplans brachte die Streitkräfte bereits vor dem drohenden Ausbruch einer bewaffneten Auseinandersetzung in eine so ungünstige Position, dass ihr eigentlich kein Spielraum mehr blieb. Die tschechoslowakischen Verteidigungspläne wurden oftmals kritisiert, weil sie keine Option für eine Auseinandersetzung ohne Verbündete beinhalteten.84 Das ist eine unprofessionelle Kritik, denn gerade das aktive Eingreifen Frankreichs galt als conditio sine qua non für jeglichen Kampf mit Deutschland. Gerade deshalb richtete sich der Verteidigungsplan vor allem nach politischen Aspekten, denn von den politischen Entwicklungen hing es ab, ob Frankreich zur Unterstützung der Tschechoslowakei bereit sein würde oder nicht. Für den Verteidigungsfall ohne Verbündete exis82 Auf

der ersten Rückzugsstufe, nämlich der „Libocher Stufe“, der Linie der äußeren Verteidigung Prags und der „Moldau-Linie“, standen acht Regimenter zur Sicherung der Befestigungen in Bereitschaft, im nördlichen Teil dann direkt Feldregimenter der Divisionen des II. Korps. Besonders entlang der Moldau im Süden von Prag (im Raum des Hauptansturms der Deutschen gemäß dem Plan „Grün“) war die erreichte Heeresdichte viel zu gering, obwohl es sich um einen eindeutig vorrangigen Punkt des Verteidigungsplans handelte. Im polnischen Vergleichsfall wurde das Fehlen jeglicher im Voraus eingerichteter Auffanglinien an den Flüssen Weichsel und San im September 1939 im Nachhinein von polnischen Historikern kritisiert, z. B. Porwit, Marian: Komentarze do polskich działań obronnych w 1939 roku. Díly 1–3 [Kommentare zu den polnischen bewaffneten Aktivitäten 1939. Teile 1–3]. Warszawa 1983. 83 Pichlík/Klípa/Zabloudilová: Českoslovenští legionáří, S. 237–252. 84 Zur Diskussion um eine Unterstützung durch die Sowjetunion vgl.: Pfaff, Ivan: Die Sowjetunion und die Verteidigung der Tschechoslowakei 1934–1938. Versuch der Revision einer Legende. Köln 1996.

Aus dem Blickwinkel einer Schießscharte   143

tierten aus einfachen Gründen keine Pläne – ein solcher Konflikt hatte nicht die geringste Perspektive und wurde deshalb von keiner Seite in Betracht gezogen. Die Frage, ob im Jahre 1938 um die Tschechoslowakei gekämpft werden würde, wurde auf politisch-diplomatischer Ebene entschieden. Der deutsche Sieg war ­jedoch gleichzeitig eine totale Niederlage der tschechoslowakischen Diplomatie und Politik. Es ist selbstverständlich, dass die wesentlichen Gründe für diese Niederlage außerhalb des Einflusses der tschechoslowakischen Vertreter lagen. Es ist allerdings wahr, dass die tschechoslowakische Politik zu der Situation, in die die Tschechoslowakei im September 1938 geraten war, nämlich der absoluten Isola­ tion und völligen Umzingelung durch feindliche Staaten, nicht wenig beigetragen hatte. Die Tschechoslowakei hatte in „guten Zeiten“ gezögert, mit den potentiellen Verbündeten ihre Interessen und vor allem die damit verbundenen Risiken zu teilen, die sie selbst nicht unmittelbar betrafen. Angesichts ihrer Größe gebot die klare Logik der Sache, um jeden Preis einen Verbündeten in der unmittelbaren Nähe zu suchen, mit dem eine gemeinsame Grenze bestand. An erster Stelle bot sich Polen an, ebenso als „Kind des Versailler Vertrags“ entstanden, dessen Existenz ebenso mit dem festhalten an den Weltkriegsergebnissen zusammenhing wie im Fall der Tschechoslowakei. Als Hindernisse für die Annäherung bestanden jedoch auf beiden Seiten hauptsächlich unbedeutende oder auch selbstsüchtige Motive, wie die Folgen der Grenzkonflikte der Nachkriegszeit zeigen, aus militärischer Sicht wollte sich die Tschechoslowakei insbesondere nicht gegen die Sowjetunion engagieren. Westeuropa hatte die Auseinandersetzung mit dem „Dritten Reich“ nicht erst in München verloren, dies war schon mit der Besetzung des entmilitarisierten Rheinlands geschehen. Über die tschechoslowakischen Geschicke wurde auf dem Schachbrett der „großen“ Politik entschieden, trotzdem war es möglich und nötig alles zu tun, was in den eigenen Kräften stand. Eine Gefahr, wie sie die Tschechoslowakei in der Zwischenkriegszeit bedrohte, schien berechtigterweise groß. Die Vorsicht, mit der die Tschechoslowakei zögerte, für eine Hilfszusage weitere Verpflichtungen einzugehen, die nicht zu ihren lebensnotwendigen Interessen gehörten, ist deshalb insgesamt verständlich. Wenn sie aber zögerte, sich an anderen fremden Risiken zu beteiligen, war es nicht verwunderlich, dass schließlich niemand blieb, der bereit gewesen wäre, ihr Risiko zu teilen.

Fazit Die Verteidigungsfähigkeit der Tschechoslowakei im September 1938 ist auch heute noch ein häufig diskutiertes Thema. Es kam nicht zum Krieg, und so bleibt sein wahrscheinlicher Verlauf eine große Unbekannte. Historiografisch betrachtet rückt das Jahr 1938, obgleich immer noch in den Grenzen der Zeitgeschichte, allmählich an die Grenze, hinter der es unwiederbringlich in die allgemeine Geschichte übergeht. Die Anschauungen über die tschechoslowakische Armee des Jahres 1938 werden im Lauf der Zeit verfeinert und befreien sich von ideologi-

144   Zdenko Maršálek schem und politischem Druck, traditionellen Deutungen und Klischees. Zugleich lässt das historische Gedächtnis in Gestalt des persönlichen Erlebens und der ­kollektiven Erinnerung nach. Es gelingt, neue Materialien zu erschließen, die die Sicht auf größere Zusammenhänge, besonders unter internationalen Gesichtspunkten, die wesentlichste ist. Die tschechoslowakische Armee, lange nur „von innen“ wahrgenommen, kann inzwischen besser mit allgemeinen Trends des internationalen Militärwesens verglichen werden. Bereits beim Blick auf die Landkarte wird klar, dass die Verteidigung der Tschechoslowakei gegen Deutschland nur in Form eines Koalitionskriegs möglich gewesen wäre. Aus militärischer Perspektive war die Tschechoslowakei in einer paradoxen Situation: Das Staatsgebiet allein gewährte keinen ausreichend großen Raum, um Kampfoperationen auf den drei oder vier bedrohten Seiten zu führen, die angenommene Front überstieg mit ihrer Länge die Möglichkeiten der Armee zugleich um ein Vielfaches. Dazu gesellten sich Probleme, da kein ausreichend großes Hinterland vorhanden war, und die Frage der Kommunikation im weitesten Sinne. Der einzige Ausweg bestand in einer wesentlichen Erweiterung des eigenen Raumes, dem direkten Einsatz von Truppen der lokalen Verbündeten und dem Transit massiver Lieferungen aus dem weiter entfernten Ausland. Die Generalität wie die Staatsführung der Tschechoslowakei waren sich dieser Tatsachen bewusst und versuchten, den Konflikt mit Deutschland gerade in diese Richtung zu lenken. Als das nicht eintraf, bedeutete es die Niederlage bereits vor dem Beginn des Kampfes. Weiter blieben nur noch zwei schlechte Alternativen: ein von vornherein verlorener Kampf um die Ehre oder die Kapitulation. Aus dem Tschechischen von Martin Wegele-Dippold

Angela Hermann

Verhandlungen und Aktivitäten des ­nationalsozialistischen Regimes im Vorfeld von „München“ „Sie werden verstehen, meine Parteigenossen, daß eine Großmacht ein zweites Mal einen solchen niederträchtigen Übergriff nicht hinnehmen kann. Ich habe deshalb vorsorglich daraus die notwendigen Konsequenzen gezogen“, erklärte Adolf Hitler auf dem NSDAP-Parteitag am 12. September 1938 in Bezug auf die tschechoslowakische Teilmobilisierung und Propaganda im Mai desselben Jahres.1 Diese Ursache-Folge-Darstellung, die Hitler in mehreren Reden und Ge­ sprächen wiederholte,2 hielt sich sehr lange als Kausalnexus in der Forschung. Tatsächlich traf Hitler die definitive Entscheidung zur Zerschlagung der Tschechoslowakei bei nächster Gelegenheit nur eine Woche nach dem überraschend unkomplizierten „Anschluss“ Österreichs im März 1938, nachdem schon einige Monate zuvor versucht worden war, die Tschechoslowakei außenpolitisch zu isolieren und die revisionistischen Bewegungen in deren Nachbarstaaten anzustacheln. Unmissverständlich hielt Joseph Goebbels in seinem Tagebuch am 20. März 1938 nach einem Gespräch mit Hitler dessen Intentionen fest: „Dann Studium der Landkarte: zuerst kommt nun Tschechei dran. Das teilen wir mit den Polen und Ungarn. Und zwar rigoros bei nächster Gelegenheit.“3 Vier Tage später ­notierte Goebbels: „Armes Prag! Davon wird nicht viel übrig bleiben.“4 Auch Konrad Henlein erfuhr Ende März 1938 von Hitler von dessen Absicht, „das 1

Rede Hitlers, 12. 9. 1938. In: Dokumente der Deutschen Politik (im Folgenden: DDP). Hrsg. von Paul Meier-Benneckenstein. Bd. 6: Großdeutschland. Teil 1. Berlin 1939, S. 299. 2 Das Deutsche Reich „dachte überhaupt nicht daran, dieses Problem militärisch zu lösen“, erklärte Hitler am 26. 9. 1938 im Berliner Sportpalast in Bezug auf die Wochenendkrise. Ebenda, S. 342. Am 10. 11. 1938 sagte Hitler vor ca. 400 deutschen Pressevertretern: „Nach dem 21. Mai war es ganz klar, daß dieses Problem gelöst werden mußte, so oder so!“ Treue, Wilhelm: Rede Hitlers vor der deutschen Presse (10. November 1938). In: VfZ 6 (1958), S. 175–191, hier S. 183. Noch deutlicher wurde Hitler in der Reichstagsrede am 30. 1. 1939: „Ich habe mich daher auf Grund dieser unerträglichen Provokation […] entschlossen, die sudetendeutsche Frage nunmehr endgültig und radikal zu lösen. Ich gab am 28. Mai 1. den Befehl zur Vorbereitung des militärischen Einschreitens gegen diesen Staat mit dem Termin des 2. Oktober, 2. ich befahl den gewaltigen und beschleunigten Ausbau unserer Verteidigungsfront im Westen.“ Six, Franz Alfred (Hg.): DDP. Bd. 7: Das Werden des Reiches, 1939. Teil 2. Berlin 1940, S. 453. Vgl. auch Unterredung Hitlers mit Hácha, 15. 3. 1939. In: Akten zur Deutschen Auswärtigen Politik (im Folgenden: ADAP) 1918–1945. Aus dem Archiv des Deutschen Auswärtigen Amtes. Serie D, 1937–1941. Baden-Baden, Göttingen 1950–1970. Bd. D 4. Dok. 228, S. 231. 3 Die Tagebücher von Joseph Goebbels. Hrsg. von Elke Fröhlich im Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte und mit Unterstützung des Staatlichen Archivdienstes Rußlands. Teil  I: Aufzeichnungen 1923–1941, 14 Bde. (9 Bde. in 14 Teilbänden), Teil II: Diktate 1941–1945, 15 Bde., Teil III: Register 1923–1945, 3 Bde., München 1993–2008. Teil I: Bd. 5. München 2000, Eintrag vom 20. 3. 1938, S. 222. 4 Ebenda, Eintrag vom 24. 3. 1938, S. 227.

146   Angela Hermann tschechoslowakische Problem in nicht allzu langer Zeit zu lösen“.5 Der Führer der Sudetendeutschen Partei erhielt einstweilen die Anweisung, den Konflikt zwischen seiner Bewegung und der Prager Regierung durch unannehmbare Forderungen am Laufen zu halten. Eine Reihe weiterer Quellen bestätigt die noch vor der Wochenendkrise am 20./22. Mai 1938 entwickelte Absicht Hitlers zum baldigen Militärschlag gegen Prag. So vermerkte der Staatssekretär im Auswärtigen Amt, Ernst von Weizsäcker, noch vor der Maikrise in seinem Tagebuch, dass Hitler die „Lösung der tschechoslowakischen Frage noch in diesem Jahr“ erzwingen wollte.6 Schon Anfang Mai 1938 holte Hitler während des Italien-Besuchs die Zustimmung Benito Mussolinis zum gewaltsamen Vorgehen gegen Prag ein: „In der tschechischen Frage gibt Mussolini uns absolut freie Hand“, resümierte Goebbels über den Staatsbesuch.7 Ganz ähnlich beurteilte Weizsäcker die Lage.8 In der Folgezeit ließ das faschistische Italien dem nationalsozialistischen Regime massive propagandistische Schützenhilfe zuteil werden. Kurz nach der tschechoslowakischen Teilmobilisierung, die also nicht der Auslöser für Hitlers Annexionsabsichten war, sondern sie lediglich noch forcierte, gab Hitler die Weisung für den Fall „Grün“, in der als spätester Termin für einen Angriff auf die Tschechoslowakei der 1. Oktober 1938 genannt war. In der Zwischenzeit sollten die Aufrüstung und insbesondere der Ausbau der Befestigungsanlagen vorangetrieben und durch die politische Führung ein ge­ eigneter Anlass zur militärischen Intervention gefunden oder herbeigeführt ­werden.9 Die Schaffung eines geeigneten Klimas in der internationalen Politik bildete neben militärischen Vorbereitungen den Handlungsschwerpunkt des NS-Regimes im August und September, dessen Haupthandlungsstränge zunächst skizziert werden sollen. Anschließend folgt eine Übersicht über die Aktivitäten des NSRegimes in der Tschechoslowakei, bevor im dritten Abschnitt die Septemberkrise – insbesondere die bi- und multilateralen Verhandlungen –, analysiert werden soll, die mit dem Zwischenfall in Mährisch-Ostrau (Ostrava) und Hitlers Ab-

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Dies berichtete Henlein Vertretern des Auswärtigen Amtes am 28. 3. 1938. In: ADAP. Bd. D 2, Dok. 107, S. 158. Hill, Leonidas E. (Hg.): Die Weizsäcker-Papiere 1933–1950. Frankfurt a. M., Berlin, Wien 1974, S. 128. Nach dem „Anschluss“ Österreichs ließ Hitler die Vorbereitungen für den „Fall Grün“, den Angriff auf die Tschechoslowakei, „energisch“ weitertreiben und „der veränderten strategischen Lage durch Eingliederung Österreichs“ anpassen: Undatierter Diensttagebucheintrag Alfred Jodls. In: Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg (im Folgenden: IMG), 14. November 1945–1. Oktober 1946. Hg.  v. Internationalen Militärgerichtshof Nürnberg. 42  Bde. Nürnberg 1947–1949. Bd. 28, Dok. 1780-PS, S. 372. Vgl. auch Besprechung Hitler/Keitel am 21. 4. 1938 über Angriff auf die Tschechoslowakei. In: IMG. Bd. 25, Dok. 388-PS, S. 415 f., sowie Entwurf für die neue Weisung „Grün“ vom 20. 5. 1938, ebenda, S. 422–427. Tagebücher Goebbels. Teil I: Bd. 5, Eintrag vom 7. 5. 1938, S. 292. Aufzeichnung Weizsäckers, 12. 5. 1938. In: ADAP. Bd. D 1, Dok. 762, S. 900. Schreiben des Obersten Befehlshabers der Wehrmacht mit Anlage, 30. 5. 1938. In: IMG. Bd. 25, Dok. 388-PS, S. 433–439.

Verhandlungen und Aktivitäten des NS-Regimes im Vorfeld von „München“   147

schlussrede am 12. September auf dem Reichsparteitag der NSDAP in Nürnberg begann.

Das NS-Regime und die internationale Politik im ­Sommer 1938 Hitler verfolgte von Anfang an das Ziel, die revisionistischen Bestrebungen in Warschau und Budapest gegen Prag zu instrumentalisieren und die Tschechoslowakei nach einem gemeinsamen Feldzug zwischen den drei Staaten aufzuteilen. Wie der eingangs zitierte Tagebucheintrag von Goebbels ausweist, war der Propagandaminister spätestens seit März 1938 darüber informiert. Die Sondierungs­ gespräche mit den beiden Revisionsmächten führten Generalfeldmarschall Hermann Göring und Hitler selbst, nicht Goebbels als Propagandaminister oder Außen­minister Joachim von Ribbentrop. Am 10. und 24. August 1938 besprach Göring mit dem polnischen Botschafter in Berlin, Józef Lipski, diese Frage, doch folgten noch keine direkten Verhandlungen mit der polnischen Regierung.10 Die ungarische Staatsführung beriet die mögliche Mitwirkung an einer militärischen Aktion gegen die Tschechoslowakei mit der NS-Spitze anlässlich ihres lange ­geplanten Staatsbesuchs vom 21.–27. August im Deutschen Reich. Trotz größter außen­politischer und militärischer Bedenken erklärte Ungarn, vor allem Reichsverweser Miklós Horthy, die Bereitschaft, sich an einem Gewaltakt gegen die Tschechoslowakei zu beteiligen. Obgleich in diplomatischen Akten sowie den Tagebüchern von Alfred Jodl, Helmuth Groscurth und Joseph Goebbels eindeutige Quellenbelege vorliegen,11 war die von Horthy bekundete Mitwirkung zum Militärschlag lange Zeit zumeist verkannt worden, da die wesentlichen ungarischen Quellen fehlen12 und in aller Regel anders lautenden Nachkriegsaussagen der 10 Bericht

Lipskis an Außenminister Beck, 11. 8. 1938. In: Dokumente und Materialien aus der Vorgeschichte des Zweiten Weltkrieges (im Folgenden: DM). Aus dem Archiv des Deutschen Auswärtigen Amtes. Hrsg. vom Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der UdSSR. Moskau 1948/49. Bd. 1, Dok. 15, S. 154–165, hier S. 158. Aufzeichnung Lipskis, 24. 8. 1938. In: Jędrzejewicz, Wacław (Hg.): Józef Lipski. Diplomat in Berlin 1933–1939. Papers and Memoirs of Józef Lipski, Ambassador of Poland. New York, London 1968, Doc. 91, S. 382–387. 11 Aufzeichnung Weizsäckers über ein Gespräch Ribbentrops mit Kánya, 25. 8. 1938. In: ADAP. Bd. D 2, Dok. 390, S. 497. Aufzeichnung Weizsäckers, 26. 8. 1938. In: Ebenda, Dok. 392, S. 499. Schreiben Erdmannsdorffs an Weizsäcker, 29. 8. 1938. In: Ebenda, Dok. 402. Diensttagebuch Jodls, Dok. 1780-PS. In: IMG 28, 374 f. Krausnick, Helmut/Deutsch, Harold C. (Hg.): Helmuth Groscurth. Tagebücher eines Abwehroffiziers 1938–1940. Mit weiteren Dokumenten zur Militäropposition gegen Hitler. Unter Mitarbeit von Hildegard von Kotze. Stuttgart 1970, S. 108, Eintrag vom 2. 9. 1938. 12 In den ungarischen Quelleneditionen und einschlägigen Archiven finden sich keine Berichte über den Staatsbesuch vom August 1938. Das von Thomas L. Sakmyster 1969 publizierte Protokoll einer Unterredung des ungarischen Verteidigungsministers Jenö von Rácz mit Hitler am 26. 8. 1938, das sich in den National Archives, Washington, befindet, ist ebenfalls als Zeugnis der prinzipiellen ungarischen Bereitwilligkeit zum Feldzug aufzufassen. Obwohl Rácz größere Bedenken als Horthy hatte, da er um die mangelnde Einsatzbereitschaft seiner Truppen wusste, versprach er Hitler, dass die deutsche Luftwaffe in jedem Falle Landeplätze und Luft-

148   Angela Hermann ­ eteiligten ungarischen Politiker13 zu viel Glauben geschenkt wurde.14 Allerdings b machte Budapest sein Eingreifen von der zu erwartenden und durch Berlin herbeizuführenden Neutralität Jugoslawiens abhängig und wollte erst mit einigen Stunden Verzögerung losschlagen. Die Einschätzung Boris Celovskys, Hitler habe in den Ungarn und Polen Verbündete „für seine Angriffsabsichten“ gefunden, trifft also vollauf zu.15 Dies erklärt auch, weshalb Hitler Botschafter Lipski und die ungarischen Minister Béla von Imrédy und Kálmán von Kánya am 20. September 1938 auf den Berghof einbestellte und über die seiner Ansicht zu passive Haltung der Ungarn „besonders wütend“ war, wie Goebbels überliefert.16 Mit dem Versuch, deren nördlichen und südlichen Nachbarn für die Desinte­ gration der Tschechoslowakei zu gewinnen, ging eine auf die Westmächte gemünzte Beruhigungskampagne einher. Ausschließlich zur Beschwichtigung hatte Hitler im Juli 1938 seinen persönlichen Adjutanten Fritz Wiedemann nach London entsandt,17 um den Briten in seinem Auftrag mitzuteilen, dass die Reichs­regierung „bis März 1939 noch ruhig zuschauen“ würde,18 also militärisch nicht aktiv werde – eine Botschaft, die der britische Außenminister Edward Halifax sehr erleichtert zur Kenntnis nahm.19 Zur Beschwichtigung der Weltöffentlichkeit betonte Hitler auch stets vor Publikum, wie in seiner Rede auf dem NSDAP-Reichsparteitag 1938, seine angeblich auf Frieden abzielende Politik, den Verzicht auf revisionistische Forderungen gegenüber Frankreich und die vermeintliche Aussöhnung mit Po-

überwachungsstationen auf ungarischem Territorium nutzen bzw. errichten könne, selbst wenn Ungarn letztlich doch nicht am verabredeten gemeinsamen Feldzug teilnehmen sollte: „We can guarantee that even in the event we do not move together in the Czech settling of accounts.“ Sakmyster, Thomas L.: The Hungarian State Visit to Germany of August, 1938: Some new evidence on Hungary in Hitler’s pre-Munich policy. In: Canadian Slavic Studies 3/4 (1969), S. 677–691, hier S. 688 u. 685–691. 13 Insbesondere den Horthy-Memoiren: Horthy, Nikolaus von: Ein Leben für Ungarn. Bonn 1953, S. 199–206. 14 Vgl. Celovsky, Boris: Das Münchener Abkommen 1938. Stuttgart 1958, S. 242 f. Rönnefarth, Helmuth K. G.: Die Sudetenkrise in der internationalen Politik. Entstehung. Verlauf. Auswirkung. 2  Teile, Wiesbaden 1961, Teil  1, S. 406 u. S. 458–460. Macartney, Carlile Aylmer: A History of Hungary, 1929–1945. Part I and II. New York, Edinburgh 1956 f. Part I, S. 238–248. Sakmyster: Hungarian State Visit, S. 677–685. Horthy: Ein Leben, S. 215 f. Hoensch, Jörg K.: Der ungarische Revisionismus und die Zerschlagung der Tschechoslowakei. Tübingen 1967, S. 78–80. 15 Celovsky: Das Münchener Abkommen, S. 393. 16 Tagebücher Goebbels. Teil I: Bd. 6, Eintrag vom 20. 9. 1938, S. 101. Vgl. die Aufzeichnung Erich Kordts, 21. 9. 1938. In: ADAP. D  2, Dok. 554, S. 689 f. Vgl. auch den Bericht Lipskis an Beck, 20. 9. 1938. In: Jędrzejewicz: Lipski, Doc. 99, S. 408–412. 17 Hitler habe „keine besonderen Absichten damit verfolgt als nur England zu beruhigen“, überliefert Goebbels. Tagebücher Goebbels, Eintrag vom 17. 8. 1938. Teil I: Bd. 6, S. 46. 18 Wiedemann, Fritz: Der Mann, der Feldherr werden wollte. Erlebnisse und Erfahrungen des Vorgesetzten Hitlers im 1. Weltkrieg und seines späteren Persönlichen Adjutanten. Velbert, Kettwig 1964, S. 160. 19 Aufzeichnung Halifax’. In: Documents on British Foreign Policy (im Folgenden: DBFP), 1919–1939. Hg. von Ernest L. Woodward, Rohan Butler u. a. 3rd Series. Vol I. London 1949. Doc. 510, S. 584–589, hier S. 586. Vgl. auch ebenda, Doc. 535. Vgl. auch Telegramm Dirksens, London, an das A.A., 22. 7. 1938. In: ADAP. Bd. D 2, Dok. 309, hier S. 405.

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len.20 Parallel zu diesen Friedensbeteuerungen wurde in der deutschen Presse und im Rundfunk eine beispiellose antitschechische Kampagne inszeniert, die der deutschen Bevölkerung und dem Ausland suggerieren sollte, die Tschechoslowakei ­stehe kurz vor der Bolschewisierung und die dortige deutsche Minderheit vor der wirtschaftlichen, kulturellen und letztlich auch physischen Vernichtung.21 Geleitet wurde dieser Pressekrieg von Goebbels’ Mitarbeiter Alfred-Ingemar Berndt, aber immer wieder griff Hitler persönlich ein und ordnete eine Verschärfung an. Als Folge der zahlreichen inszenierten Gräuelmeldungen aus den tschechoslowakischen Grenzgebieten und der Proteste der Sudetendeutschen Partei (SdP) entsandte die britische Regierung im August 1938 Lord Walter Runciman als Beobachter und Vermittler nach Prag, der mit einer im Grunde unlösbaren Aufgabe konfrontiert war und eine ziemlich unglückliche Figur abgab.22

Die Aktivitäten des NS-Regimes in der Tschechoslowakei Direkte Verhandlungen zwischen dem NS-Regime und der tschechoslowakischen Regierung fanden im August und September nicht statt. Stattdessen führten Vertreter der Sudetendeutschen Partei den Weisungen aus Berlin entsprechend Scheinverhandlungen über eine möglichst weitgehende Autonomie der deutschen Minderheit, die jedoch nur dem Zeitgewinn dienen und die angeblich mangelnde Konzessionsbereitschaft Prags verdeutlichen sollten. Dies und die Marionettenfunktion Konrad Henleins überliefert Goebbels deutlich in seinem Tagebuch, indem er die Anweisungen festhielt, die Hitler dem Führer der SdP immer wieder vorgab. Beispielsweise verlangte Hitler von Henlein anlässlich dessen Besuchs auf dem Obersalzberg am 1./2. September die Ablehnung des so genannten Dritten Plans der tschechoslowakischen Regierung (er beinhaltete eine Selbstverwaltung in drei zu bildenden deutschsprachigen Bezirken), was Henlein wenig später gegenüber Frank Ashton-Gwatkin, einem Mitarbeiter Runcimans, leugnete.23 Auch in Bezug auf andere Details überführen die Quellen Henlein der Falschaussage: So teilte Henlein den Briten mit, „daß der Führer keinen Krieg wolle“,24 um ein Zurückweichen der Tschechoslowaken zu verhindern, obgleich Henlein sogar den 20 Rede Hitlers, 12. 9. 1938. In: Meier-Benneckenstein (Hg.): DDP. Bd. 6. Teil 1, S. 293–302 (gekürzt). 21 Siehe hierzu Schwarzenbeck, Engelbert: Nationalsozialistische Pressepolitik und die Sudeten-

krise 1938. München 1979. Runciman Mission to Czechoslovakia 1938. Prelude to Munich. Houndsmills, Basingstoke, Hampshire 2003. 23 Tagebücher Goebbels. Teil I: Bd. 6, Eintrag vom 3. 9. 1938, S. 70. Konrad Henlein hatte behauptet, „von dem Führer keine bestimmten Richtlinien oder Instruktionen erhalten“ zu haben. In: ADAP. Bd. D 2, Dok. 435, S. 560. Vgl. auch DBFP. 3rd Series. Vol. II. London 1949, Doc. 765. 24 Tagebücher Goebbels. Teil  I: Bd. 6, Eintrag vom 9. 9. 1938, S. 79. Ashton-Gwatkin berichtete über sein Gespräch mit Henlein am 4. 9. 1938 an Halifax: „Herr Henlein said first of all that he wanted no war. Herr Hitler said ‚I do not want war‘. Herr Henlein said that there were two policies for him: (a) autonomy within Czechoslovakia State to be attained. Secondly (b) plebiscite which means solidification with the Reich. In either case he wished to obtain his results in a peaceable way and to this Herr Hitler fully assented“. In: DBFP. 3rd Series. Vol. II, Doc. 765. 22 Vgl. Vyšný, Paul: The

150   Angela Hermann anvisierten Zeitpunkt zum Angriff kannte. Es ist nicht nachzuvollziehen, weshalb noch immer die Legende kolportiert wird, Henlein sei ein Mann, der „nicht lügen“ konnte.25 Die Ablehnung des Dritten Plans fiel dem NS-Regime umso leichter als der britische Vermittler Runciman Hitler einen eigenen Vorschlag in Aussicht gestellt hatte, sollte es bis zum 15. September nicht zu einer Einigung kommen,26 was Celovsky zu Recht als den „vielleicht […] größten Fehler seiner Mission“ bezeichnet hatte.27 So hatte Runciman eine Einigung ungewollt selbst hintertrieben. Auch der Vierte Plan Prags vom 6. September, der den acht Karlsbader Forderungen der SdP weit entgegenkam, wurde also zurückgewiesen, die Verhandlungen wegen des Zwischenfalls von Mährisch-Ostrau28 am 7. September, von denen im Folgenden noch die Rede sein wird, abgebrochen und nicht wieder aufgenommen. Neben der Instrumentalisierung der SdP in den Verhandlungen mit Prag und London griff das NS-Regime in der zweiten Septemberhälfte auch direkt ein, um den Konflikt in den westlichen Grenzregionen der Tschechoslowakei zur Eskala­ tion zu bringen. Mit dem Sudetendeutschen Freikorps wurde ein auf Hitler vereidigtes Diversionsinstrument geschaffen, das gewaltsame Zwischenfälle hervorrufen sollte, für die anschließend die tschechoslowakische Regierung verantwortlich gemacht wurde.29 Aber auch die Sudetendeutsche Partei erteilte auf Hitlers Weisung den Befehl, Zusammenstöße zu provozieren.30 Nicht nur in der deutschen Presse, sondern auch auf diplomatischem Wege wurde anschließend gegen die angeblichen tschechischen Gewaltakte protestiert. Hitler selbst hatte die Aufgaben des Freikorps mit SdP-Funktionär Karl Hermann Frank und mit dem für die ­Organisation der Freikorps verantwortlichen Oberstleutnant Friedrich Köchling besprochen und den von Henlein verfassten Aufruf zur Gründung des Freikorps überarbeitet.31 Die Führungsspitze des Freikorps wurde aus reichsdeutschen SA25 Gebel,

Ralf: „Heim ins Reich!“. Konrad Henlein und der Reichsgau Sudetenland (1938–1945). 2. Aufl. München, Wien 1999, S. 44. 26 DBFP. 3rd Series. Vol. II, Doc. 732. 27 Celovsky: Münchener Abkommen, S. 291. Ähnlich kritisch äußert sich Paul Vyšný: Runciman Mission, S. 214–238. 28 Siehe hierzu: Berichte Andor Henckes vom 10. 9. 1938 an das A.A. mit Anlagen: Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes, Berlin (PA AA). Bestand: Altes Amt, Polit. Abteilung II. Politische Angelegenheiten der Tschechoslowakei. Sign.: R 101.356, Bl. 489546–47 und ebenda, ohne Pag. – DBFP. 3rd Series. Vol. II, Doc. 801 und Anm. 1. Celovsky: Münchener Abkommen, S. 296. Rönne­farth: Sudetenkrise. Teil I, S. 485 f. Laffan, Robert George Dalrymple u. a.: Survey of International Affairs 1938. Vol. II: The Crisis over Czechoslovakia. January to September 1938. London, New York, Toronto 1951, S. 252–255. Krausnick/Deutsch: Tagebücher Groscurth, S. 115. 29 Broszat, Martin: Das sudetendeutsche Freikorps. In: VfZ 9/1 (1961), S. 30–49. Röhr, Werner: Das sudetendeutsche Freikorps – Diversionsinstrument der Hitler-Regierung bei der Zerschlagung der Tschechoslowakei. In: Militärgeschichtliche Mitteilungen 52 (1993), S. 35–66. 30 PA AA. Sign.: R 101.356, Bl. 387069 sowie PA AA, R 29767, Bl. 125916: Aufzeichnung aus dem Auswärtigen Amt über eine telefonische Mitteilung des Reichsinnenministeriums, 10. 9. 1938. Krausnick/Deutsch: Tagebücher Groscurth, S. 111. 31 Telegramm Henckes an das A.A., 17. 9. 1938. ADAP. Bd. D  2, Dok. 520. Fernschreiben Schmundts. In: IMG 25, S. 475. Abschlußbericht Köchlings. In: IMG 36, Dok. 366-EC, S. 356– 364. Tagebücher Goebbels. Teil I: Bd. 6, Eintrag vom 19. 9. 1938, S. 100.

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Führern rekrutiert, das Mannschaftspersonal setzte sich überwiegend aus geflohenen wehrpflichtigen Sudetendeutschen zusammen.32 Unzweideutig hielt Goebbels hierüber in seinem Tagebuch fest: „Unsere Leute haben nun an der Grenze die notwendigen Zwischenfälle geschaffen.33 Die Presse greift sie groß auf.34 Wir sind um ihre Vertiefung bemüht. Die Sudetendeutschen Führer machen garnichts [sic!]. Sie sind faul und haben Angst vor der eigenen Courage.“35 Erst Proteste der Wehrmacht, die den Aufmarsch durch die Terrorakte der Freischärler gefährdet sah, führten zu einer von Hitler angeordneten Verringerung der Freikorps-Aktivitäten.36

Die Verhandlungsaktivitäten des NS-Regimes in der Septemberkrise Die Septemberkrise setzte mit Hitlers aggressiver Parteitagsrede am 12. September und darauf folgenden, von SdP-Aktivisten ausgelösten Unruhen in den tschechoslowakischen Grenzregionen ein. Bewusst hatte Hitler in Nürnberg konkrete Forderungen vermieden, um das Entgegenkommen der tschechoslowakischen Regierung und der Westmächte in jedem Fall als ungenügend ablehnen zu können. Dennoch waren seine Drohungen unüberhörbar und die von Karl Hermann Frank verbreiteten Zahlen über sudetendeutsche Todesopfer übertrieben und dramatisch. Zahlreiche Sudetendeutsche flohen ins Reichsgebiet, die tschechoslowakische Regierung reagierte mit der Verhängung des Ausnahmezustands, Hen-

32 Fernschreiben

Schmundts. In: IMG  25, S. 475. Abschlußbericht Köchlings. In: IMG  36, Dok. 366-EC, S. 356–364. Tagebuch Jodls. In: IMG 28, Dok. 1780-PS, S. 381–386. PA AA. Sign.: R  29768, Bl. 126262: Anonyme Aufzeichnung aus dem A.A., 23. 9. 1938. Krausnick/Deutsch: Tagebücher Groscurth, S. 118–127. Broszat: Das sudetendeutsche Freikorps, S. 30–49, v. a. S. 37–41. Rönnefarth: Sudetenkrise. Teil  1, S. 531. Celovsky: Münchener Abkommen, S. 339. Röhr: Freikorps, S. 50. 33 Das Freikorps habe in der Nacht vom 18. auf den 19. September die „Finanzwache Asch“ angegriffen und zwei Gebäude in Brand gesteckt. Bericht Henckes aus Prag an das A.A., 19. 9.  1938. ADAP. Bd. D  2, Dok. 528, S. 667 f. Zahlreiche weitere Aktivitäten des Freikorps an den ersten Tagen werden erwähnt bei Röhr: Freikorps, S. 53 f. 34 Vgl. Bohrmann, Hans/Toepser-Ziegert, Gabriele (Hg.): NS-Presseanweisungen der Vorkriegszeit. Edition und Dokumentation, 1933–1939, 7 Bde. in 19 Teilbänden, München u. a. 1984– 2001, hier Bd. 6. 35 Tagebücher Goebbels. Teil I: Bd. 6, Eintrag vom 21. 9. 1938, S. 102. Ähnlich, wenn auch in gemäßigterer Wortwahl, schätzte Oberstleutnant Köchling im Rückblick die Handlungsfähigkeit des Freikorps ein: „Der Aufbau der Gruppen und Stäbe in der befohlenen Art war nur durch die tatkräftige Unterstützung der jeder Gruppe vom O.K.H. gestellten Verbindungsoffiziere möglich […]. Hierbei sind die Verbindungsoffiziere besonders gut unterstützt worden durch die von der SA. in die Freikorpsbataillone eingereihten reichsdeutschen SA.-Führer, ohne ­deren kameradschaftliche und einsatzbereite Art das Freikorps seine Aufgabe nicht hätte durchführen können.“ Abschlußbericht Köchlings vom 11. 10. 1938. In: IMG 36, Dok. 366EC, S. 358 f. 36 Tagebuch Jodls, 20./21. 9. 1938. In: IMG  28, Dok. 1780-PS, S. 382. Broszat: Freikorps, S. 42 f. Röhr: Freikorps, S. 55.

152   Angela Hermann lein forderte den Anschluss an das Reich.37 In dieser Situation entschloss sich der britische Premier Neville Chamberlain am 13. September aus Furcht, es könne andernfalls „zu spät“ sein, zu einer persönlichen Aussprache mit Hitler.38 Die Begegnung von Hitler und Chamberlain am 15. September auf dem Obersalzberg ist bekannt: Chamberlain erklärte das britische Desinteresse an der Sudetenfrage, seinen Wunsch, einen Weltkrieg ihretwegen zu verhindern, und seine persönliche Bereitschaft zur Abtretung der sudetendeutschen Gebiete an das Reich. Die drohende Gefahr einer Zerschlagung des tschechoslowakischen Staates durch das NS-Regime sprach der Premier zweimal an, sie war ihm also durchaus bewusst. Über das Gespräch wurde ein amtliches Protokoll geführt, das Hitler nur widerwillig nach mehrmaligen britischen Nachfragen und auch nur in abgeschwächter Form zur Verfügung stellte. Gerhard L. Weinberg hat als erster die These vertreten, dass die Verweigerung des Protokolls auf Hitler persönlich zurückging. Seine Annahme wird durch die Quellen vollauf bestätigt: Der „Führer will es nicht herausrücken“, hielt Goebbels im Tagebuch fest, und benannte den Bearbeiter der abgeschwächten und gekürzten Version: „Der Führer arbeitet die Niederschrift nochmal um“.39 In der für London bestimmten Fassung tilgte, wie ein Vergleich beider Texte zeigt, Hitler persönlich seine Bereitschaft zum Weltkrieg wegen der Sudetenfrage, die völlig übertriebene Darstellung des sudetendeutschen Leids, das deutsche Interesse am Memelland und den Rassismus als Antrieb seiner Politik. Ganz offensichtlich lag diesen Modifikationen das Motiv zugrunde, weniger aggressiv und kompromisslos zu wirken, um das erhoffte Einlenken der Briten nicht zu gefährden. Zudem sollten eindeutige Falschdarstellungen wie die Behauptung von „300 Todesopfer[n] bei den Sudetendeutschen“ oder wie diejenige, dass mehrere Ortschaften „mit Gas angegriffen worden“ seien, ausgespart werden, die Hitler der Unwahrheit überführt hätten. Erkennbar ist auch Hitlers Bemühen, seine Forderungen und scheinbaren Kompromissangebote nicht allzu konkret zu fixieren, was eine spätere Ausdehnung der Forderungen erschwert hätte. Daher entfernte er im Text für die britische Regierung seine Bereitschaft zur Umsiedlung der in der Tschechoslowakei verbleibenden deutschen Minderheit in den Sprachinseln wie Brünn (Brno) und Iglau (Jihlava).40 Ein Bevölkerungsaustausch lag keineswegs im Interesse des NS-Regimes, schließlich war der ganze böhmisch-

37 „Wir

wollen heim ins Reich!“, verkündete Henlein in der Proklamation vom 15. 9. 1938. ADAP. Bd. D 2, Dok. 490. 38 Brief Chamberlains an seine Schwester Ida, 19. 9. 1938. In: Self, Robert (Hg.): The Neville Chamberlain Diary Letters. Vol. IV: The Downing Street Years, 1934–1940. Aldershot 2005, S. 346. Siehe auch: DBFP. 3rd Series. Vol. II, Doc. 862 und ADAP. Bd. D 2, Dok. 469. Chamberlain, Neville: The struggle for peace. London 1939, S. 264 f. 39 Tagebücher Goebbels. Teil I: Bd. 6, Eintrag vom 19. 9. 1938, S. 99 f. Weinberg, Gerhard L.: The foreign policy of Hitler’s Germany. Starting World War II, 1937–1939. Chicago, London 1980, S. 433 und ebenda, Anm. 235. 40 Die Originalversion des von Schmidt angefertigten Protokolls ist abgedruckt in: ADAP. Bd. D  2, Dok. 487, S. 627–636. Die geänderte Fassung für London findet sich in: DBFP. 3rd Series. Vol. II, Doc. 896, S. 342–351.

Verhandlungen und Aktivitäten des NS-Regimes im Vorfeld von „München“   153

mährische Raum als Expansionsziel anvisiert, und die deutsche Minderheit in den Sprachinseln sollte künftig hierfür instrumentalisiert werden. Wie in Berchtesgaden mit Hitler verabredet, besprach sich Chamberlain in London mit seinem Kabinett, außerdem mit dem französischen Regierungschef Édouard Daladier und dem französischen Außenminister Georges Bonnet, ehe er in Bad Godesberg ein zweites Mal mit dem deutschen Diktator zusammentraf. Die französische und die britische Regierung forderten nach gemeinsamer Beratung die tschechoslowakische Regierung zur Abtretung der Grenzgebiete ohne Plebiszit auf, welches auch die anderen Minderheiten auf den Plan gerufen hätte.41 Unter erneutem und verstärktem Druck gab Prag nach, da die Westmächte deutlich gemacht hatten, der tschechoslowakischen Republik bei einer Weigerung keine Hilfe zuteil werden zu lassen. Ebenso illusorisch war für die Regierung in Prag die Hoffnung auf sowjetische Unterstützung, nicht zuletzt aufgrund der mangelnden Bereitschaft der Anrainerstaaten, Polen und Rumänien, ihr Territo­ rium (bzw. ihren Luftraum) der sowjetischen Armee als Aufmarschgebiet zur Verfügung zu stellen. Obgleich die Abtretung der Grenzregionen im Prinzip zugestanden worden war, bemühte sich das NS-Regime in der zweiten Septemberhälfte erneut intensiv um die Mitwirkung Ungarns und Polens bei einem Angriff auf die Tschechoslowakei, was wiederum beweist, dass Hitler eine militärische Lösung und die sofortige Zerschlagung der gesamten Tschechoslowakei eindeutig favorisierte. Im Auftrag Hitlers forderte Göring am 16. September den polnischen Botschafter Józef Lipski und den ungarischen Gesandten Döme Sztójay zu verstärkter Aktivität und zur Provokation von blutigen Zwischenfällen auf.42 Zwei Tage später beredete Göring mit Horthy anlässlich einer Elchjagd im ostpreußischen Rominten die tschechoslowakische Frage.43 Am 20. September sicherte der ungarische Ministerpräsident Béla Imrédy Hitler auf dem Obersalzberg zu, „sofort militärische Vorbereitungen“ zu treffen und innere Unruhen in der Slowakei zu initiieren.44 ­Wenige Stunden später erklärte auch Lipski auf dem Berghof, dass in der Frage des Teschener Gebiets (Český Těšín, Czeski Cieszyn) die Polen „nicht vor Gewaltanwendung zurückschrecken würden“, sollten ihre Interessen keine Berücksichtigung finden.45 Hitler gab Lipski zu verstehen, dass die Polen „über die Linie der 41 Protokoll

der britisch-französischen Beratungen in: DBFP. 3rd Series. Vol. II, Doc. 928; Wortlaut der beiden gleichlautenden Noten an Prag: DBFP. 3rd Series. Vol. II, Doc. 937. Documents Diplomatiques Français (im Folgenden: DDF), 1932–1939. Ministère des Affaires Étrangères. Commission de publication des documents relatifs aux origines de la guerre 1939–1945. 2e Série (1936–1939). Tome 11. Paris 1977, Doc. 213. 42 Bericht Sztójays an Kánya vom 17. 9. 1938. In: Ádám/Juhász/Kerekes: Allianz Hitler – Horthy – Mussolini, Dok. 34. Aufzeichnung Ernst Woermanns über Gespräch mit dem ungarischen Gesandten über dessen Unterredung mit Göring, 16. 9. 1938. In: ADAP. Bd. D 2, Dok. 506. Bericht Lipskis an Außenminister Beck, 16. 9. 1938. In: Jędrzejewicz: Lipski, Doc. 96, S. 402–405. 43 Tagebücher Goebbels. Teil I: Bd. 6, Eintrag vom 27. 9. 1938, S. 115. 44 Aufzeichnung Kordts über Gespräch Hitlers mit Imredy und Kanya am 20. 9. 1938. ADAP. Bd. D 2, Dok. 554. Vgl. auch ebenda, Dok. 555. 45 Bericht Lipskis an Außenminister Beck, 20. 9. 1938. In: DM. Bd. 1, Nr. 23, S. 186–197.

154   Angela Hermann bekannten deutschen Interessen hinaus völlig freie Hand“ hätten, also auch die Slowakei und die Karpato-Ukraine annektieren könnten, würden sie Ungarn zuvorkommen.46 Der Versuch, die polnischen und ungarischen Interessen gegeneinander auszuspielen, bestimmte immer wieder die Politik des NS-Regimes, auch im Frühjahr 1939. Als Folge der Gespräche in Berchtesgaden erhoben Budapest und Warschau ihre territorialen Forderungen immer drängender und provozierten ebenfalls durch Freikorps Zusammenstöße im Grenzgebiet.47 Beim zweiten Zusammentreffen von Chamberlain und Hitler in Bad Godesberg am 22. September konfrontierte Hitler den britischen Premier mit deutlich erhöhten Forderungen, einer Karte mit dem abzutretenden Gebiet und der Bedingung der sofortigen Entfernung tschechoslowakischer Truppen und der raschen Besetzung durch deutsches Militär. Chamberlain sah darin eine unnötige Machtdemonstration, die Prag nicht akzeptieren könne. Hitler versuchte jedoch, seinen Forderungen am nächsten Tag in einem Brief an Chamberlain Nachdruck zu verleihen: „Deutschland ist jedenfalls, wenn es – wie es jetzt den Anschein hat – für seine unterdrückten Volksgenossen in der Tschechoslowakei auf dem Verhandlungswege dem klaren Rechte nicht zum Durchbruch verhelfen kann, entschlossen, die dann allein übrig bleibenden Möglichkeiten auszuschöpfen.“48 Nach dieser offenen Drohung Hitlers, zu militärischen Mitteln zu greifen, wollte Chamberlain abreisen, doch den Diplomaten auf beiden Seiten gelang es, ein weiteres Gespräch für den späten Abend des 23. September zu arrangieren. In der Zwischenzeit sollte das NS-Regime seine Forderungen in einem Memorandum schriftlich fixieren. Bei der Übergabe dieser Denkschrift durch Hitler am Abend des 23. September empörte sich Chamberlain über den kompromisslosen Charakter und die zu kurzen Fristen, die eine friedliche Lösung unmöglich machten.49 In diesem Augenblick ließ sich Hitler die Nachricht von der tschechoslo­ wakischen Mobilisierung überbringen, um seine Verhandlungsposition zu ver­ bessern. Tatsächlich war die Mobilmachung ihm aber bereits vor Beginn der Unterredung bekannt gewesen, wie Goebbels in seinem Tagebuch vermerkte und auch andere Indizien belegen.50 Auch hier liegt ein bislang unbemerkter Fall von theatralischer Inszenierung Hitlers vor, wie wir sie beispielsweise von der Reichspogromnacht 1938 kennen, als sich Hitler in München den Tod des Diplomaten Ernst von Rath melden ließ, um die spontane Empörung der Anwesenden für 46 Ebenda. 47 Vgl.

DBFP. 3rd Series. Vol. III. London 1950, Doc. 20, 29, 32, 39. Hitlers an Chamberlain, 23. 9. 1938. In: ADAP. Bd. D 2, Dok. 573, S. 711. DBFP. 3rd Series. Vol. II, Doc. 1053, S. 487. Chamberlain: Struggle, S. 268–271. 49 Deutsches Protokoll, angefertigt von Paul Otto Schmidt. In: ADAP. Bd. D 2, Dok. 583. Britisches Protokoll von Ivone Kirkpatrick. In: DBFP. 3rd Series. Vol. II, Doc. 1073. 50 Tagebücher Goebbels. Teil I: Bd. 6, Eintrag vom 24. 9. 1938, S. 109. Der deutsche Geschäftsträger Andor Hencke und der britische Gesandte Basil Newton wurden gegen 20.30  Uhr über die tschechoslowakische Mobilmachung informiert, die abendliche Unterredung zwischen Hitler und Chamberlain begann gegen 22.00 Uhr: Telegramm Henckes an das A.A., 24. 9. 1938. In: ADAP. Bd. D 2, Dok. 592. Ripka, Hubert: Munich. Before and After. London 1939 (Neudruck New York 1969), S. 130–132. 48 Brief

Verhandlungen und Aktivitäten des NS-Regimes im Vorfeld von „München“   155

e­ inen Gewaltakt instrumentalisieren zu können, obgleich er schon einige Zeit ­zuvor davon erfahren hatte.51 In Anbetracht der neuen Ereignisse erklärte Hitler, nun seinerseits zu militärischen Maßnahmen greifen zu müssen – obgleich die deutsche Mobilmachung längst angelaufen war, was er jedoch leugnete. Hierauf schien Chamberlain die Unterredung beenden zu wollen. Erst aufgrund Hitlers Zusicherung, nicht sofort in die Tschechoslowakei einzumarschieren, wurde das Gespräch fortgesetzt, und der Premier erklärte sich bereit, das Memorandum des NS-Regimes der tschechoslowakischen Regierung zu übermitteln. Mit der Ablehnung der Denkschrift durch den tschechoslowakischen Gesandten in London, Jan Masaryk, zwei Tage später, war die Sudetenkrise auf ihrem Höhepunkt angelangt und eine Kriegspanik in ganz Europa ausgebrochen.52 Mussolini ergriff demonstrativ Partei für das NS-Regime und beteuerte in mehreren Reden die Kriegsbereitschaft seines Landes.53 Hitler stellte den tschechoslowakischen Staatspräsidenten Edvard Beneš in seiner Rede im Berliner Sportpalast am 26. September vor die Alternative von „Krieg oder Frieden“,54 selbstverständlich in jedem Fall zu nationalsozialistischen Bedingungen. Er erwähnte auch das deutsch-polnische Nichtangriffsabkommen von 1934, seine oft bekundete Bereitschaft zur allgemeinen Rüstungsbeschränkung, seinen Verzicht auf Elsass-Lothringen und Südtirol, das deutsch-britische Flottenabkommen von 1935 und seine Bemühungen um ein friedliches Verhältnis zu Frankreich und Großbritannien. Die nationalsozialistische Regierung, so suggerierte er, sei im Grunde völlig friedliebend, und die böhmisch-mährischen Grenzgebiete seien seine „letzte territoriale Forderung […] in Europa“.55 Chamberlain unternahm mit der Entsendung Horace Wilsons nach Berlin noch einmal einen Vermittlungsversuch, doch Hitler verlangte kompromisslos die Akzeptanz seines Memorandums durch Prag bis zum 28. September, 14.00 Uhr, andernfalls würden die Waffen sprechen.56 Bis zu diesem Zeitpunkt hatten die Westmächte intensiv versucht, den Krieg zu verhindern und ihren Druck auf Prag erhöht, das Memorandum des NS-Regimes zu akzeptieren. Briten und Franzosen unterbreiteten neue Vorschläge, aber erst die mit Hitler abgestimmte Initiative Mussolinis ermöglichte dem deutschen Diktator, ohne Gesichtsverlust die Mobilmachung zu verschieben und die Münchener Konferenz einzuberufen. Und auch 51 Siehe

hierzu: Hermann, Angela: Hitler und sein Stoßtrupp in der „Reichskristallnacht“. In: VfZ 56 (2008) H. 4, S. 603–619. 52 Der Brief der tschechoslowakischen Regierung an Chamberlain vom 25. 9. 1938, unterzeichnet vom Gesandten Jan Masaryk, ist publiziert in: DBFP. 3rd Series. Vol. II, Doc. 1092. 53 Vgl. Conci, Franco (Hg.): Es spricht der Duce. Le relazioni italo-germaniche nei discorsi e scritti di Mussolini, tradotti in tedesco e commentati dal C. F. Brescia 1940. 54 Hitler sagte: „Ich habe Herrn Benesch ein Angebot gemacht; es ist nichts anderes als die Realisierung dessen, was er selbst schon zugesichert hat. Er hat es jetzt in seiner Hand: Frieden oder Krieg!“ Deutsches Rundfunkarchiv (im Folgenden: DRA) Frankfurt/Main, Nr. 2743224. Vgl. auch Meier-Benneckenstein (Hg.): DDP. Bd. 6. Teil 1, S. 345; dort lautet der letzte Satz: „Er hat jetzt die Entscheidung in seiner Hand! Frieden oder Krieg!“ 55 DRA, Nr. 2743224. Vgl. auch Meier-Benneckenstein (Hg.): DDP. Bd. 6. Teil 1, S. 338. 56 Vgl. DBFP. 3rd Series. Vol. II, Doc. 1115, 1116, 1118. ADAP. Bd. D 2, Dok. 607, 634.

156   Angela Hermann innerhalb der NS-Führung gab es nun mit Göring, dem ehemaligen Außenminister Konstantin von Neurath und Goebbels Verfechter einer friedlichen Lösung, da Prag der Abtretung der Grenzgebiete bereits grundsätzlich zugestimmt hatte. Mit den Worten „Man kann nicht evtl. einen Weltkrieg um Modalitäten führen“, beschrieb Goebbels seine auch Hitler gegenüber geäußerte Haltung im Tagebuch.57 Göring, Neurath und Goebbels plädierten am Mittag des 28. September für diese Konferenz, die von verschiedenen Seiten angeregt worden war. Nach den Vorstellungen der Briten und Franzosen sollten allerdings auch tschechoslowakische Vertreter hinzugezogen werden. Hitler aber war zu einer solchen Konferenz nur unter der Voraussetzung bereit, dass kein Tschechoslowake am Verhandlungstisch sitzen würde; die Zusammensetzung der Teilnehmer – Chamberlain, Daladier, Hitler, Mussolini – ging also auf ihn zurück. Am Konferenztag, dem 29. September 1938, war Hitler Mussolini bis nach Kufstein entgegengefahren, aber nicht zur Vorberatung der Tagung, sondern zur Verabredung der vollständigen Liquidierung der Tschechoslowakei und weitergehender Kriegspläne.58 In München angekommen, stellte Mussolini ein Papier als Verhandlungsgrundlage vor, das ihm kurz zuvor aus Berlin über Botschafter Bernardo Attolico übermittelt worden war. Daladier und Chamberlain erklärten sich sofort bereit, die „italienischen“ Vorschläge als Gesprächsgrundlage zu akzeptieren. Keiner der Anwesenden bestand auf die Hinzuziehung tschechoslowakischer Vertreter. Hitler verwies wieder einmal auf das angeblich unerträgliche Leid der Sudetendeutschen und mahnte zur Eile, andernfalls würde eine militärische Lösung gefunden werden, die für die Tschechoslowakei noch weitaus ungünstiger wäre. Nach längeren Verhandlungen über Details, insbesondere über die Räumungs­ fristen und Grenzverläufe der abzutretenden Gebiete, unterzeichneten die Re­ gierungschefs der vier geladenen Mächte in der Nacht zum 30. September das Abkommen von München, das die deutsche Besetzung der Grenzregionen legi­ timierte und regelte. Die genaue Grenzziehung wurde dem so genannten Internationalen Ausschuss übertragen. Die Übermittlung des Vertragstextes an die draußen wartenden Vertreter der Tschechoslowakei wurden den Briten und Franzosen überlassen, die keinen Zweifel daran ließen, dass Prag einwilligen müsse.59

57 Tagebücher

Goebbels. Teil I: Bd. 6, Eintrag vom 29. 9. 1938, S. 119. Goebbels’ Ablehnung einer militärischen Lösung am 28. 9. 1938 in der Reichskanzlei bezeugt Ernst von Weizsäcker in seinem Tagebuch: Hill: Weizsäcker-Papiere, 1933–1950, Eintrag vom 9. 10. 1938, S. 145. S. a. Brief, ebenda, S. 144. Auch noch in seinen Memoiren: Weizsäcker, Ernst von: Erinnerungen. Hrsg. von Richard von Weizsäcker. München, Leipzig, Freiburg 1950, S. 188. Ebenso überliefert sie Wiedemann: Der Mann, S. 176, in seinen Erinnerungen. 58 Ciano, Galeazzo: Tagebücher 1937/38. Hamburg 1949, 29./30. 9. 1938, S. 204. Von den kriegerischen Ausführungen Hitlers berichtete auch Filippo Anfuso, der als Kabinettschef des italienischen Außenministeriums mitfuhr, in seinen Memoiren. Anfuso, Filippo: Rom – Berlin in diplomatischem Spiegel. Übersetzt von Egon Heymann. Essen, München, Hamburg 1951, S. 75–78. 59 Aufzeichnung Hubert Masaříks über den Aufenthalt der tschechoslowakischen Delegation in München. In: DM. Bd. 1, Nr. 37, S. 283–287.

Verhandlungen und Aktivitäten des NS-Regimes im Vorfeld von „München“   157

Noch ehe die Akzeptanz aus Prag bekannt war, hatte Chamberlain Hitler eine Freundschaftserklärung zur Unterzeichnung vorgelegt60 und Édouard Daladier mit Göring die Verbesserung der französisch-deutschen Beziehungen besprochen.61 Die Sudetenfrage war für London und Paris ad acta gelegt – auch in den Beratungen des Internationalen Ausschusses zur Festlegung des Grenzverlaufs unternahmen die Westmächte nach dem 30. September keinen ernsthaften Versuch, die Tschechoslowakei gegen die steigenden Gebietsansprüche des NS-Regimes zu unterstützen.62 Für Hitler jedoch blieb die tschechoslowakische Frage höchst aktuell, denn auch an den Tagen vor und nach der Münchener Konferenz sprach er immer wieder von der „großen Lösung“, die noch nicht realisiert sei.63 Nur zwei Tage nach München erblickte Hitler im polnisch-tschechoslowakischen Konflikt eine Möglichkeit, doch militärisch eingreifen zu können. Er ließ Polen und Ungarn ermutigen, ihre Revisionsforderungen sofort mit Waffengewalt umzusetzen. Am 3. Oktober, kurz nach Beilegung des Konfliktes um Teschen, schrieb Goebbels nach einem Gespräch mit dem „Führer“ ins Tagebuch: „Sein Entschluß, einmal die Tschechei zu vernichten, ist unerschütterlich. Und er wird ihn auch verwirklichen“.64 Das „Münchener Abkommen“, das in aller Welt als Friedenswerk gefeiert wurde, war für das NS-Regime also nichts weiter als eine aufgezwungene und günstige Etappenlösung. Keine sechs Monate später existierte die in der Zwischenzeit vollständig vom Deutschen Reich abhängige Tschecho-Slowakei nicht mehr. In der Nacht zum 15. März 1939 stellte Hitler den tschecho-slowakischen Staatspräsidenten Emil Hácha in Berlin vor die Alternative, dass sein Land von der Wehrmacht militärisch vernichtet und okkupiert werde oder sich ohne Blutvergießen „unter den Schutz des Deutschen Reiches“, d. h. unter nationalsozialistische Gewaltherrschaft begeben müsse.65

60 DBFP. 3rd

Series. Vol. II, Doc. 1228. ADAP. Bd. D 2, Dok. 676. 2e Série. Tome 11, Doc. 499. Die häufig geäußerte Behauptung, Daladier habe Deutschland sofort verlassen, trifft also nicht zu (z. B. Celovsky: Münchener Abkommen, S. 466). 62 Vgl. die Protokolle der Sitzungen des Internationalen Ausschusses in: ADAP. Bd. D 4. 63 Tagebücher Goebbels. Teil I: Bd. 6, Eintrag vom 29. 9. 1938, S. 120. 64 Ebenda, Eintrag vom 3. 10. 1938, S. 127. 65 Erklärung der Deutschen und der Tschechoslowakischen Regierung, 15. 3. 1939. ADAP. Bd. D 4, Dok. 229. Vgl auch ebenda, Dok. 228. 61 DDF.

Georges-Henri Soutou

Die Westmächte und die Septemberkrise ­unter besonderer Berücksichtigung Frankreichs Bei der Untersuchung der Rolle Frankreichs in der Septemberkrise 1938 werden meist weit verbreitete Erklärungsmuster herangezogen: Die französische Politik dieser Zeit sei durch den Streit zwischen den „Nachgiebigen“ und den „Hardlinern“, den „Munichois“ und „Anti-munichois“ geprägt gewesen, wobei der Verlauf der Ereignisse und der „Mythos München“ nicht dazu beigetragen haben, die Beweggründe beider Lager objektiv darzustellen. Weitere Bestandteile der landläufigen Interpretation sind der wachsende Pazifismus sowie das angebliche Misstrauen gegen die Sowjetunion und den Kommunismus in der französischen Regierung. Viele vertreten auch die These, dass Ministerpräsident Édouard Daladier von Außenminister Georges Bonnet verraten wurde. Die neue Historiographie beurteilt Daladiers Rolle in der Krise hingegen positiver,1 was vor allem mit der modischen Rehabilitierung der Dritten Republik unter Betonung des „französischen republikanischen Modells“ zusammenhängt. Schließlich werden das weitverbreite schlechte Gewissen aufgrund der Pariser Vorortverträge und die Tat­ sache, dass sich die französische Militärmacht (insbesondere die Luftwaffe) 1938 auf dem Tiefpunkt befunden habe, angeführt. In der gegenwärtigen Historiographie wird das Problem jedoch in einen anderen Kontext gestellt, indem die verschiedenen damaligen Auffassungen von einer europäischen Gesamtordnung hervorgehoben werden. Dieser Weg soll auch im vorliegenden Aufsatz beschritten werden. Zunächst ist allerdings ein Hinweis zur Quellenlage nötig: Am 14. Juni 1940 wurde das laufende Archiv des französischen Außenministeriums zerstört, das heißt, die fünf bis zehn letzten Jahre, die sich noch in den Abteilungen befanden. Nach dem Krieg konnte man den Austausch mit den Auslandsvertretungen weitgehend rekonstruieren, wofür besonders das Archiv der Botschaft in London nützlich war, das seit 1914 als eine Art zweites, sicher gelagertes Archiv des Quai d’Orsay fungiert hatte. Die internen Vorgänge in Paris, die Aufzeichnungen und Notizen innerhalb des Ministeriums, sind hingegen weitgehend verloren. Auch die Memoiren der Akteure bilden keinen vollwertigen Ersatz, weshalb sich bestimmte Vorgänge nie ganz rekonstruieren lassen werden. Aufgrund dessen ist das Militärarchiv in Vincennes zentral, weil damals militärische Fragen im Zentrum standen: War man bereit, Krieg zu führen, wie wurde zwischen einer Abschreckungs- und einer Handlungsstrategie abgewogen und wie gestaltete sich die ­Suche nach Verbündeten? Dabei besaß der Generalstab und vor allen Dingen sein 1

Du Réau, Elisabeth  : Edouard Daladier 1884–1970. Paris 1993. Siehe auch die Veröffentlichung eines einstigen Mitarbeiters Daladiers: Daridan, Jean: Le chemin de la défaite, 1936– 1940. Paris 1980.

160   Georges-Henri Soutou Chef, General Maurice Gamelin, eine Schlüsselstellung, auch weil er der Regierung die verschiedenen möglichen Strategien unter Abwägung der zur Verfügung stehenden Mittel zu unterbreiten hatte.2 Aus diesem Grund stellten die realen Machtstrukturen in Paris damals ein Problem dar: Nach der üblichen Version standen sich Daladier (als „Hardliner“ dargestellt) und Bonnet (der als „weich“ gilt) ursprünglich ebenbürtig gegenüber, letztlich konnte aber Bonnet seinen Standpunkt wegen Daladiers mangelnder Autorität durchsetzen. Ich möchte hingegen argumentieren, dass Daladier durchaus durchsetzungsfähig war und er sich aus freien Stücken dem anschloss, was im Allgemeinen als Bonnets Standpunkt gilt. Wenigstens 1938 verfolgten beide weitgehend die gleiche Politik, allerdings aus verschiedenen Gründen und mit verschiedenen Begründungen. Zudem verfügte Daladier als Ministerpräsident und Verteidigungsminister über sämtliche Machtmittel, die Geheimdienste eingeschlossen.3 Zwar war die Rolle des Ministerpräsidenten in der Dritten Republik (und daher des Ministerrats) in dieser Hinsicht gewiss begrenzt. Ein Erlass vom 7. September 1938 (mitten in der „Sudetenkrise“!) erweiterte aber die Befugnisse des Verteidigungsministers noch dahingehend, dass er letztlich die entscheidende Instanz für die nationale Verteidigung war.4

Die Haltung Frankreichs und Großbritanniens: ­Ähnlichkeiten und Unterschiede Gewiss haben Paris und London die Politik, die letztlich zum „Münchener Abkommen“ führte, gemeinsam getragen. Es gab jedoch auch Differenzen zwischen den beiden Partnern: Während London davon überzeugt war, dass der deutsche Revisionismus Grenzen besitze, verstanden die Franzosen besser, dass das nicht der Fall war, sondern Hitler ganz Mittel- und Osteuropa beherrschen wollte. Für die Septemberkrise war aber noch ein zweiter Unterschied sehr wichtig: Die britische Appeasementpolitik war sehr pragmatisch angelegt und geopolitisch zu verstehen; es ging um eine nüchterne Beurteilung der Balance in Europa. Dagegen zielte das französische Äquivalent darauf ab, durch Verhandlungen mit dem Reich nicht nur ein neues Gleichgewicht zu schaffen, sondern die „Kollektive Sicherheit“ im Sinne von Locarno soweit wie möglich wiederherzustellen, um Deutsch-

2

Zu Gamelin vgl. Le Goyet, Pierre: Le Mystère Gamelin. Paris 1975. Siehe auch Alexander, Martin: The Republic in Danger. General Maurice Gamelin and the Politics of French Defence, 1933–1940. Cambridge 1992. 3 Diese wurden während der Krise sehr gut informiert, wie die Berichte des Chefs des Deuxième Bureau, Oberst Maurice-Henri Gauché, an Gamelin beweisen. Vgl. Archives Nationales (im Folgenden: AN). Bestand: Nachlass Daladier. Sign.: 496 AP. Siehe die Memoiren von Gauché: Le Deuxième Bureau au travail (1935–1940). Paris 1953. Das wichtige Buch von Peter Jackson ist m. E. manchmal zu kritisch: Jackson: France and the Nazi Menace. Intelligence and Policy Making 1933–1939. Oxford 2000. 4 Baudouin, Paul: Neuf mois au gouvernement. Paris 1948, S. 29.

Die Westmächte und die Septemberkrise   161

land in einem internationalem Rahmen festzulegen und in das europäische Mächtesystem zurückzuführen. Appeasement war eher machtpolitisch, Appaisement eher politisch, diplomatisch, völkerrechtlich ausgerichtet.5 Für die Septemberkrise besonders bedeutsam war noch eine weitere konzeptionelle Differenz: Während die Briten mehr innerhalb des europäischen Gleichgewichts und des „Concert of Europe“, d. h. der Balance der Großmächte dachten, folgten die Franzosen eher dem Gedanken der „Kollektiven Sicherheit“. Dabei handelt es sich um zwei verschiedene Konzepte, denn das Concert stammte aus der Ordnung des ­alten Europa und war machtbezogen, die kollektive Sicherheit war das Erbe von 1919 und völkerrechtlich begründet. Aber in der Praxis hatte das eine das andere seit Locarno nicht ausgeschlossen und in Frankreich gab es auch Anhänger des Europäischen Konzerts, die sich nur rhetorisch zur kollektiven Sicherheit bekannten. Das war, wie gezeigt werden wird, bei Daladier der Fall. So konnten sich Paris und London letzten Endes doch auf eine gemeinsame Linie verständigen. Noch dazu hatte Frankreich schon seit dem „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich im Februar 1938, wenn nicht schon seit der Besetzung des Rheinlandes 1936 seine ganze mitteleuropäische Politik nach 1919 völlig anders ausgerichtet. Ein Runderlass des damaligen Außenministers Yvon Delbos aus der Zeit des „Anschlusses“ am 12. März 19386 wirft dennoch viele Fragen auf: – Anders als 1931 verwies Frankreich diesmal nicht auf die Verträge von Versailles und Saint-Germain von 1919, obwohl darin der „Anschluss“ grundsätzlich untersagt worden war. Offensichtlich wollte Paris dieses Argument diesmal nicht mehr verwenden, wobei jedoch der Grund für diese Zurückhaltung nicht klar ist: Weil es politisch nicht opportun erschien, etwa wegen Großbritannien und Italien? Oder wegen der fortschreitenden Delegitimierung der Friedens­ verträge durch revisionistische Strömungen, auch in Frankreich, seit Anfang der dreißiger Jahre? – Ein wichtiger Wendepunkt ist damals und bis heute kaum beachtet worden. Durch diesen ging Paris stillschweigend vom Prinzip des Selbstbestimmungsrechts der Völker zum völkischen Konzept, vom Begriff der bürgerlichen Nation zum Begriff der ethnischen Nation über. Für die meisten französischen Verantwortlichen waren die Österreicher eigentlich deutsch, im Zweifelsfall gehörten sie zum Reich. An sich ein großer Sieg für Hitler! – Diese begriffliche Verschiebung mag aus damaliger französischer Sicht den Unterschied zwischen dem Fall Österreich und dem Fall Tschechoslowakei erklären: Die Tschechen waren nicht „deutsch“ (wobei sich die Niederlage Frankreichs in der Sudetenfrage im Herbst 1938, im Rahmen dieser stillschweigenden Anerkennung der völkischen Nation, schon abzeichnete). Die Weichen für das Münchener Abkommen waren in der französischen Außenpolitik also bereits gestellt. 5

Soutou, Georges-Henri: Les Occidentaux et l’Allemagne durant l’entre-deux-guerres. In: ­Revue d’Allemagne et des Pays de langue allemande 38/2 (2006), S. 165–184. 6 Documents Diplomatiques Français, 2ème Série (1936–1939), Bd. VIII, Dk. N° 403.

162   Georges-Henri Soutou

Strategische Probleme Noch 1934 war der Generalstab sicher gewesen, dass die französische Armee im Ernstfall den Main entlang zur Tschechoslowakei vorstoßen und so den mitteleuropäischen Alliierten und der Kleinen Entente wirksam zu Hilfe kommen könnte. Voraussetzung dafür war die Besetzung der ganzen Rhein-Linie, was vor 1936 kein großes Problem dargestellt hätte.7 Trotz der Rheinlandbesetzung glaubte der Generalstab noch 1937, die Tschechoslowakei durch eine Offensive Richtung Donau wenigstens entlasten zu können, wenn zu diesem Zeitpunkt auch nicht mehr eindeutig behauptet wurde, man würde den Tschechen tatsächlich die Hand reichen. Trotzdem wurden für diesen Fall Pläne vorbereitet und Stabsübungen auf Armee- und Armeekorpsebene durchgeführt.8 Außer der Fähigkeit, den Rhein rasch zu überqueren, waren für dieses Vorgehen allerdings ebenfalls die Neutralität der Schweiz und Österreichs und in zweiter Linie auch ein Vorstoß der italienischen Armee in Süddeutschland Voraussetzungen.9 Nach dem „Anschluss“ 1938 und mit dem raschen Bau des Westwalls wurde der Generalstab in seinen Planungen viel vorsichtiger. Wenn am Anfang des Krieges überhaupt eine Offensive jenseits des Rheins unternommen werden würde, würde diese nur Mainz zum Ziel haben. Entweder wäre die Tschechoslowakei ­fähig, sich längere Zeit auf sich allein gestellt zu behaupten und damit deutsche Truppen zu binden, oder sie würde geschlagen – in diesem Fall wäre eine direkte französische Hilfe nicht mehr in Frage gekommen.10 Und auch eine sofortige Überraschungsoffensive gleich nach der Kriegserklärung mit den schon vor der Mobilmachung verfügbaren Truppenteilen der Bereitschaftdivisionen (das heißt vor allem ohne die schwere Artillerie), um das Saargebiet innerhalb von fünf Tagen als Pfand zu besetzen, was noch 1936 vorgesehen war, erschien wegen der Erstarkung der Wehrmacht nicht mehr möglich.11 Gleich nach dem „Anschluss“ Österreichs erläuterte General Gamelin deshalb Verteidigungsminister Daladier, dass die Tschechoslowakei nicht mehr zu retten sei.12 Daladier wiederum erklärte bei einer Sitzung des Comité permanent de la Défense nationale (CPDN) am 15. März 1938 unter Vorsitz des für einen Monat amtierenden Ministerpräsidenten Léon Blum unzweideutig, dass Prag nicht mehr direkt geholfen werden könne. Es könnten lediglich durch die französische Mobilmachung möglichst viele deutsche Truppen im Westen festgesetzt werden. Eine Offensive durch Belgien wäre zwar im Fall eines deutschen Angriffs gegen Prag völkerrechtlich gestattet gewesen, die französische Armee, die auch die Alpen und Nordafrika decken sollte, war jedoch zu einer solchen Offensive nicht fähig. Dem   7 Service

historique de la défense (im Folgenden: SHD). Signatur: 7 N 3450, Aufzeichnung 1934, ohne genaues Datum.   8 SHD. Bestand: Mappe Übung „R“, Juni 1937. Signatur: 7 N 3450.   9 SHD. Signatur: N 3450, Aufzeichnungen von 20. März und 14. April 1937. 10 SHD. Signatur: 7 N 3450, Aufzeichnung vom 9. Juni 1938. 11 SHD. Sign.: 7 N 3450, Aufzeichnung des Generalstabs vom 1. September 1938. 12 SHD. Sign.: 2 N 224, Aufzeichnung ohne Datum (aber gleich nach dem Anschluss).

Die Westmächte und die Septemberkrise   163

Chef der Luftwaffe, General Joseph Vuillemin, zufolge befand sich die französische Luftwaffe zudem an einem Tiefpunkt ihrer Entwicklung und würde innerhalb von 15 Tagen vernichtet werden. Das ganze CPDN schloss sich dieser Beurteilung der Lage an.13 Am nächsten Tag fasste Gamelin die Beschlüsse der Sitzung zusammen, um eine Antwort auf die Frage Londons, was Paris im Ernstfall zur Unterstützung Prags zu unternehmen beabsichtige, zu formulieren: Durch Mobilmachung werde Frankreich möglichst viele deutsche Truppen im Westen binden, während sich Polen und die Kleine Entente auf die Seite der Alliierten stellen müssten. „Auch wenn die Lage der Tschechoslowakei anfänglich schwierig wäre, würde sich doch beim Friedensschluss alles regeln lassen, wie im Falle Belgiens und Rumäniens“14 1919, beurteilte Gamelin die so entstehende Situation. Keine sehr viel versprechende Aussicht. Am 26. September tagte Gamelin dann mit seinen britischen Kollegen. Er argumentierte dabei sehr vorsichtig: Die Tschechoslowakei könnte sich wahrscheinlich durch einen Rückzug nach Mähren längere Zeit verteidigen, Frankreich aber würde nur eine rein defensive Strategie anwenden können. Frankreich und die Tschechoslowakei waren die einzigen Kriegsbereiten unter den „Demokratischen Mächten“, da die Tschechoslowakei am 24. September mobilgemacht, die Franzosen am selben Tag teilmobilgemacht hatten: Die Hauptsache sei also, durchzuhalten, bis Hilfe von außen kommen würde.15 Am gleichen Tag lieferte General Vuillemin eine sehr pessimistische Beurteilung der Lage, noch pessimistischer als die nicht sehr vielversprechende Einschätzung von Gamelin: Die französische Luftwaffe sei nicht in der Lage, im Ernstfall wirksam gegen die deutsche Luftwaffe zu kämpfen, die Landstreitkräfte zu unterstützen und den Luftraum über Frankreich zu schützen.16 Es kam hinzu, dass die Teilmobilmachung organisatorisch gesehen katastrophal verlaufen war und viele Mängel der französischen Streitkräfte offengelegt hatte.17 Wie weiter gezeigt werden wird, ist es möglich, aber nicht belegt, dass Gamelin einen Krieg zu diesem Zeitpunkt mit der Unterstützung der mobilisierten und gut ausgerüsteten tschechoslowakischen Armee einem späteren ohne diesen Beitrag doch vorgezogen hätte. Aber aus seiner Berichterstattung seit März und dem strategischen Zurückrudern des Generalstabs seit dem Vorjahr konnte die Regierung zu keinem anderen Schluss kommen als der Dringlichkeit einer Kompromisslösung.

13 SHD.

Sign.: 2 N 224, Protokoll vom 15. März und Aufzeichnung vom 16. März. Département de l‘Innovation Technologique et des Entrées par voie extraordinaire (im Folgenden DITEX). Sign.: 1K224/9, Vermerk Gamelins für Daladier am 16. März. 15 Documents diplomatiques français (im Folgenden: DDF), 2e série, Bd. XI, n. 376. 16 Ebenda, n° 377. 17 SHD. Sign.: 1 N 43, Aufzeichnung Gamelins am 30. September. 14 SHD. Bestand:

164   Georges-Henri Soutou

Die Gretchenfrage: Krieg für die Tschechoslowakei oder nicht? Die Befürworter eines Krieges, um die Bündnispflichten zu erfüllen und die Tschechoslowakei zu retten, anstatt Hitler Zugeständnisse zu machen, waren im politischen Leben Frankreichs in der Minderheit: Dazu gehörten die Kommunisten in öffentlichen Verlautbarungen (während nicht untersucht ist, was tatsächlich ihre Einstellung war), die winzigen christlich-demokratischen Kreise (wie die Zeitung „L’Aube“ und Georges Bidault) sowie einige Einzelgänger im rechten ­politischen Spektrum wie Georges Mandel, Henri de Kérillis oder Paul Reynaud. Auch in der Verwaltung gab es solche Stimmen: Der politische Ministerialdirigent des Quai d’Orsay und damit Nummer zwei in der Hierarchie, René Massigli, betonte wiederholt die schweren Folgen einer Preisgabe der Tschechoslowakei – „eine befreundete und gesunde Demokratie inmitten von mehr oder weniger totalitären Staaten“ – für Frankreich.18 Darüber hinaus vertraten manche Diplomaten (wie Botschafter Robert Coulondre und Minister Jean Payart in Moskau) die gleiche Linie. Der Generalstab, auch wenn er nicht für einen Krieg plädierte, war sich der strategischen und militärischen Bedeutung der Tschechoslowakei immerhin vollkommen bewusst. Die meisten Politiker waren aber entschlossen, Krieg zu vermeiden, entweder prinzipiell wie Außenminister Bonnet, oder soweit nur möglich wie Premier­ minister Daladier. Gleich nach der Mai-Krise äußerte sich Bonnet intern und in seinen Gesprächen mit den tschechoslowakischen Verantwortlichen unmissverständlich (auch wenn er öffentlich die Vertragstreue Frankreichs hervorhob, wie in seiner berühmten Rede in Bordeaux am 4. September): Nie würde Paris das Schwert für Prag ziehen. Die öffentliche Beteuerung der Allianz mit Prag sollte ihm zufolge der französischen Regierung eine Atempause verschaffen, um eine Kompromisslösung zwischen Prag und Berlin auszuhandeln. Bonnet war überzeugt, dass London nicht zu einem Krieg bereit war und ein solcher deshalb verloren gehen würde. Seine ganze unmissverständliche und zielstrebige Politik lief darauf hinaus, die tschechoslowakische Regierung von jeder unvorsichtigen Handlung abzuhalten und sie zu den nötigen Zugeständnissen zu bewegen. Die Diplomatie sollte unbedingt erreichen, dass Frankreich nicht vor den Kriegsfall gestellt werden würde.19 Da Bonnet sich jedoch im Rahmen der europäischen multilateralen Diplomatie seit Locarno bewegte, bezog er nicht nur Großbritannien, sondern auch Italien, Polen, Rumänien, Belgien, Ungarn und sogar die Sowjetunion in die Überlegungen ein. Bonnet hätte sehr gern eine große internationale Konferenz zur Regelung der verschiedenen Konflikte in Europa veranstal18 Z. B.

eine Aufzeichnung Massiglis am 19 September. In: DDF, 2e série, Bd. XI, n°223. zum Beispiel Bonnets Denkschriften an die tschechoslowakische Gesandschaft in Paris und die Protokolle seiner Gespräche mit Osuský, dem tschechischen Gesandten in Paris, am 9. Juni (Ebenda, Bd. IX, n°535), am 20. Juli (Ebenda, Bd. X, n°238), am 16. September (Ebenda, Bd. XI, n°177), am 19 September (Ebenda, n°222).

19 Siehe

Die Westmächte und die Septemberkrise   165

tet, unternahm aber nie einen Alleingang nach Berlin, der vergleichbar mit dem Flug des britischen Premierministers Neville Chamberlain nach Berchtesgaden (ohne Abstimmung mit den Franzosen!) gewesen wäre. Stattdessen betrieb er immer noch eine Art Politik der kollektiven Sicherheit, oder was davon übriggeblieben war. Zum Beispiel verwendete er viel Zeit und Anstrengung darauf, Prag in der Teschenfrage zum Nachgeben zu bewegen, um Polen von Berlin zu trennen. Er wollte keinen Krieg und stimmte darin mit der britischen Regierung überein, war jedoch viel stärker als diese um die Erhaltung einer gewissen Balance in Mitteleuropa besorgt. Daladier schloss dagegen einen Krieg nie prinzipiell aus. Wenn Deutschland die Verhandlungen unterbrechen und losschlagen würde, würde Frankreich seinen Verpflichtungen nachkommen. Diesen Standpunkt äußerte er mehrfach, am deutlichsten bei einer Unterredung mit Chamberlain am 25. September.20 Auch schon bei diesem Treffen betonte er seine Verhandlungsbereitschaft, ging darin in München aber weiter, als er Chamberlain zugestanden hatte, indem er der Abtretung der drei Millionen Sudetendeutschen zustimmte. Unter keinen Umständen sollte jedoch die Lebensfähigkeit der Tschechoslowakei angetastet werden. Verhandeln wollte er über diese Fragen nur mit den Großmächten Deutschland und Großbritannien, schon mit Italien nur zögernd, da sein Weltbild mehr dem Konzert der Großmächte vor 1914 entsprach als dem zeitgenössischen multipolaren Europa. Das war gravierend, weil dadurch die ebenfalls miteinander in Konflikt stehenden mitteleuropäischen Staaten nicht berücksichtigt und somit die Probleme Prags mit Warschau und Budapest nicht geregelt wurden. Dieses Versäumnis lieferte Hitler einen guten Vorwand, um nach „München“ sein Versprechen einer internationalen Garantie an die Tschechoslowakei nicht einzulösen. Da war Bonnet zwar vorsichtiger, aber bekanntermaßen im Gegensatz zu den Außenministern Deutschlands und Italiens, Joachim von Ribbentrop und Gale­ azzo Ciano, bei der Münchener Konferenz am 29. September 1938 nicht anwesend. Das war seine eigene Wahl, deren Gründe bis heute nicht geklärt sind.21 Vielleicht war er mit dem Zustandekommen der Münchener Konferenz als ­Treffen der vier Großmächte ohne klare völkerrechtliche Begründung nicht einverstanden.22 Anstatt selbst auf der Viererkonferenz über die Sudetendeutschen anwesend zu sein, schickte er aber den Staatssekretär im Außenministerium, ­Alexis Léger, mit schriftlichen Anweisungen, um erstens eine lebensfähige Tschechoslowakei zu erhalten und zweitens eine allgemeine Konferenz mit den Ver­ einigten Staaten, der Sowjetunion, Polen und den Balkanländern einzuberufen, um sämtliche Probleme Europas zu regeln und einen dauerhaften Frieden zu ­verwirklichen.23 Seine Auffassung deckte sich darin offensichtlich nicht ganz mit

20 Ebenda,

Bd. XI, n°356. Georges: De Washington au Quai d’Orsay. Genève 1946, S. 287. 22 Rein formal gesehen entsprechen die Abkommen von München nicht den üblichen völkerrechtlichen Regeln und diplomatischen Sitten. 23 Bonnet: De Washington au Quai d’Orsay, S. 287–288. 21 Bonnet,

166   Georges-Henri Soutou der von Daladier, da er wahrscheinlich vielmehr vom Konzept der kollektiven Sicherheit als vom Mächtekonzert ausging. Selbstverständlich fanden diese Gegensätze innerhalb der Regierung ihren Widerhall in der politischen Welt und der öffentlichen Meinung. Eine gute zeitgenössische Darstellung vom rechten politischen Spektrum stammt von dem Journalisten Alfred Fabre-Luce, Histoire secrète de la conciliation de Munich, einem sehr klugen und wohlinformierten „Munichois“.24 Fabre-Luce erklärt die Hauptargumente der Befürworter einer Kompromisslösung in prägnanter Weise: – Die Schaffung der Tschechoslowakei 1919 mit drei Millionen Sudetendeutschen, die sich zu Deutschland bekannten, sei ein Fehler gewesen; (manche machten sich damals über die Beteuerung des tschechoslowakischen Präsidenten Edvard Beneš in einem Brief an den führenden französischen Diplomaten Philippe Berthelot am 20. Mai 1919 lustig, die Tschechoslowakei würde „der Schweiz weitgehend ähnlich sein“).25 – Seit dem Scheitern des Vertrags von Locarno und des Völkerbundes seien die vertraglichen Verpflichtungen Prag gegenüber nicht mehr zwingend (der Völkerrechtler Joseph Barthélemy hatte dieses Argument in einem berühmten Aufsatz in der „Illustration“ vorgebracht). – Seit der Wiederbesetzung des Rheinlandes und der Errichtung des Westwalls sei eine Offensive Frankreichs zugunsten der Tschechoslowakei aussichtslos. – Auch nach einem Sieg gegen das nationalsozialistische Deutschland würde niemand auf die Idee kommen, die Tschechoslowakei in den Grenzen von 1919 wieder zu errichten. Eben dieses etwas verblüffende Argument verwendete Daladier vor der Kammer am 4. Oktober!26 Und wie wir sehen werden, handelte es sich für ihn um keine bloße Floskel. Für Fabre-Luce, dessen Position stellvertretend für die zeitgenössischen Auffassungen in Frankreich stehen kann, waren sich die europäischen Staatsmänner darüber einig, dass es nötig sei, „den Geist des Völkerbundes [zu] retten, um außerhalb dieser Organisation zum ersten Mal in Europa eine friedliche Gebietsübertragung durchzuführen und am Rande des Abgrunds ein Konzert der Mächte wiederzuerrichten“.27 Damit sollte eine Wiederholung des tragischen Missverständnisses von 1914 vermieden werden. Diese Sichtweise ist meines Erachtens die eigentliche Erklärung für die französische Haltung 1938. Letzten Endes war der Unterschied zwischen Bonnet, der keinesfalls Krieg wollte, und Daladier, der beteuerte, Frankreich würde bei einem deutschen Angriff seine vertraglichen Verpflichtungen erfüllen, gleichzeitig aber zu allem bereit war, um ebendiese Situation zu vermeiden, aber nicht wesentlich. Deswegen konnten die zwei Staatsmänner trotz zeitweiliger Spannungen zusammenarbeiten – der Unterschied ihrer Politik lag lediglich in der Methode der Krisenüberwindung. 24 Fabre-Luce, Alfred:

Histoire secrète de la conciliation de Munich. Paris 1938. Bestand: Vermerk vom 17. September im Nachlass Daladier. Sign.: 496 AP 9. 26 Fabre-Luce: Histoire secrète de la conciliation de Munich, S. 13. 27 Ebenda, S. 31. 25 AN.

Die Westmächte und die Septemberkrise   167

Lieber keine ernsthaften Verbündeten! In Paris herrschte in Bezug auf den Verbündeten Tschechoslowakei in der Tat eine gewisse Heuchelei, wobei sich Daladier letztlich kaum von Bonnet unterschied. Wenn es schon nicht mehr möglich sei, Prag direkt zu unterstützen und der Tschechoslowakei Niederlage und Besetzung zu ersparen, könne man wenigstens versuchen, für den Fall eines deutschen Angriffs auf Prag ein wirksames Allianzsystem aufzubauen, um den Krieg zunächst einmal durch Abschreckung zu vermeiden oder gegebenenfalls erfolgreich führen zu können und die Tschechoslowakei nach dem Sieg, wie Belgien 1918, wiederherzustellen. Diese Idee stieß in Paris auf keine Gegenliebe und wurde auch für unwahrscheinlich gehalten. Die Aussichten für die Allianz waren sowieso nicht günstig. Auf der Sitzung des CPDN am 15. März wurde die Haltung Polens als sehr zweifelhaft bezeichnet. Ministerpräsident Blum fragte auch nach der Möglichkeit einer sowjetischen Unterstützung, worauf sich Daladier und Gamelin sehr skeptisch zeigten: Nicht nur ­leide die sowjetische Armee unter den Folgen der Stalinschen Säuberung, auch eine Transitgenehmigung seitens Polens oder Rumäniens sei kaum zu erwarten. Großbritannien wiederum war sehr zurückhaltend, wollte keine Verpflichtungen zugunsten der Tschechoslowakei eingehen und konnte dazu von Frankreich auch nicht gedrängt werden, weil damals bekanntermaßen keine englisch-französische Allianz bestand. Es sieht aber so aus, als ob Paris gar keine wirksame Allianz wünschte. Anfang Mai war zwischen Prag und Paris erwogen worden, bilaterale Gespräche zwischen den Generalstäben Frankreichs, der Tschechoslowakei und der Sowjetunion zu führen (wobei aber trilaterale Gespräche unbedingt vermieden werden sollten!). Die Krise am 21. Mai hatte dieses Vorhaben jedoch vertagt.28 Am 12. Juli informierte Beneš General Louis-Eugène Faucher, den Chef der Militärmission in Prag, darüber, dass er es für ratsam hielte, Gespräche zwischen den Generalstäben beider Länder zu veranstalten, um die Bedingungen einer militärischen Zusammenarbeit mit Moskau und einer sowjetischen Hilfe für Prag gemäß des Vertrags von 1935 zu erwägen und vorzubereiten. Am 18. Juli stimmte Gamelin Daladiers Vorschlag zu, es gab doch auch ein politisches Moment, und fragte nach Richtlinien. Die Frage wurde an den Quai d’Orsay weitergeleitet, der erst am 12. August sehr zurückhaltend und gewunden antwortete: Zunächst einmal sollten mit der Tschechoslowakei die Fragen diskutiert werden, die man eventuell den Sowjets stellen würde, also nach Umfang und Wegen ihrer Hilfe. Erst später sollte erwogen werden, sich an Bukarest, Warschau und Moskau zu wenden. Diese Antwort kam einem Begräbnis erster Klasse gleich. Darüber hinaus schrieb General Vuillemin am 1. September, dass eine Unterstützung seitens der sowjetischen Luftwaffe sowieso nur begrenzt sein könne. Inzwischen hatte Daladier Gamelin am 20. August im Sinne des Quai d’Orsay auf Zurückhaltung und Abwarten verpflichtet.29 28 SHD. 29 SHD.

Sign.: 2 N 235: Brief Bonnets an Daladier am 12. August. Sign.: 2 N 235: Zusammenfassung dieses Vorgangs am 22. September.

168   Georges-Henri Soutou Die französischen Diplomaten in Moskau, Botschafter Coulondre und Gesandter Payart, waren überzeugt davon, dass falls Paris seinen Verpflichtungen gegenüber Prag im Ernstfall nachkäme, Moskau seine Allianz mit Prag von 1935 in Kraft setzen und militärisch eingreifen würde.30 Die Historiker streiten heute darüber,31 aber was unser Problem betrifft, ist es ganz offensichtlich, dass Bonnet nicht an eine sowjetische Intervention glaubte. Im Gegenteil fürchtete er wie viele Zeitgenossen, dass Moskau Frankreich nach dem Ausbruch eines Krieges im Westen trotz vager Versprechungen letzten Endes im Stich lassen würde.32 Daladier seinerseits war davon überzeugt, dass auch wenn der sowjetische Außenminister Maksim Litvinov es mit den Allianzen ehrlich meinte, sich der sehr vorsichtige Stalin nicht überrumpeln lassen würde.33 Noch deutlicher: Als das Foreign Office am 13. September zum ersten Mal den Eindruck erweckte, Großbritannien sei doch bereit, einen Krieg für die Tschechoslowakei zu führen, was London bisher tunlichst vermieden hatte, reagierte ­Bonnet prompt und empört. Er teilte dem britischen Botschafter Sir Eric Phipps mit, dass diese Mitteilung sehr gefährlich sei. Es ist offensichtlich, dass Bonnet die ­Befestigung oder Beschwörung der Allianzen aus zwei Gründen nicht wünschte: Letzten Endes würde doch sehr wahrscheinlich Frankreich allein bleiben und die Alliierten würden einen Krieg ohnehin verlieren.34 In allen diesen Vorgängen blieb Daladier im Hintergrund und unternahm auch nichts, um Bonnets Position durch eine härtere Linie zu ersetzen.

Die heute historisch relevante Frage: Welche Lösung (oder Lösungen) strebte Paris an? Welcher Ausweg aus der Krise wurde angestrebt? Anhand neuer Forschungen zum Begriff der „europäischen Ordnung“ kann man das Münchener Abkommen französischerseits etwas anders deuten, als dies traditionell geschieht. Vor „München“ wurden in Paris mehrere Ordnungen erörtert. Zunächst einmal erwog der politische Direktor René Massigli (der als Hardliner galt) die Möglichkeit, im Falle eines deutschen Angriffs den Völkerbund anzurufen.35 Wegen der Wechselwirkung der verschiedenen Verträge seit 1919 und der 30 Payart

über ein Gespräch mit Litvinov am 5. September. In: DDF, 2e série, Bd. XI, n° 12. Coulondre am 6. September. In: Ebenda, n°29. Coulondre am 11. September. In: Ebenda, n°93. Siehe auch Coulondre, Robert: De Staline à Hitler. Souvenirs de deux ambassades, 1938–1939. Paris 1950. 31 Narinski, Mikhail/Du Réau, Elisabeth/Soutou, Georges-Henri/Tchoubarian, Alexandre (Hg.): La France et l’URSS dans l’Europe des années 30. Paris 2005. 32 Das geht aus seiner Darstellung eines Gesprächs mit Litvinov in Genf am 11. September ganz deutlich hervor: DDF, 2e série, Bd. XI, n°95. 33 Archives Nationales, Sign.: 496 AP 9, Vermerk Daladiers ohne Datum. 34 DDF, 2e série, Bd. XI, n°125. 35 Aufzeichnung Massiglis am 7. September. In: Ebenda, n°39. Aufzeichnung des Juristen des Quai d’Orsay, Basdevant, am 12. September. In: Ebenda, n°106.

Die Westmächte und die Septemberkrise   169

Zweideutigkeit der Locarno-Abkommen wie des Völkerbundespakts wäre dies allerdings in völkerrechtlicher Hinsicht sehr verwickelt und politisch wenig vielversprechend gewesen. Auch eine Neutralisierung der Tschechoslowakei nach dem schweizerischen, belgischen oder schwedischen Modell wurde zeitweilig erwogen. Daladier und Bonnet erwähnten diese Möglichkeit bei einem Treffen mit Chamberlain am 18. September.36 (Zwei Tage zuvor hatte der einflussreiche „Bonze“ oder „Cacique“ der Dritten Republik, Joseph Caillaux, in einer Rede in Le Mans von dieser Lösung gesprochen).37 Am 20. September verfasste der Völkerrechtberater des Quai d’Orsay, Jules Basdevant, ein Gutachten, in dem er dieser Lösung skeptisch gegenübertrat.38 Der tschechoslowakische Vorschlag an die Sudetendeutschen am 21. August stieß in Paris auf wesentlich mehr Aufmerksamkeit: Dabei handelte es sich um die Errichtung von drei autonomen Kantonen in einem Teil der Grenzregionen. Dies erschien durchaus gangbar, denn sowohl die sudetendeutschen Führer als auch die englische Regierung hatten diesen Plan im Prinzip akzeptiert.39 Dass dieser Plan in Paris ernsthaft erwogen wurde, beweist unter anderem eine Denkschrift des Generalstabs. Am 9. September unterzeichnete Gamelin ein Papier „über das Interesse Frankreichs aus militärischer Sicht, die Tschechoslowakei zu erhalten“. Beigefügt war eine Aufzeichnung vom vorigen Tag „über eine mög­ liche Neuordnung der tschechoslowakischen Verteidigung“ mit Karten, die die deutschsprachigen Gebiete, die Befestigungen usw. abbildeten. Dabei unterstrich Gamelin, dass die Tschechoslowakei eine nützliche Sperre gegen den deutschen Drang nach Osten bleiben könnte, auch wenn die Sudetengebiete autonom oder aber neutralisiert würden, wie es damals in Prag, London und Paris erwogen wurde. Würden die Tschechoslowaken ihre Hauptverteidigungslinie auf die March (Morava) verlagern, vorausgesetzt sie dürften die wichtigsten Befestigungen als Anker nördlich und südlich dieser Linie behalten, und ihr Heer weiter modernisieren, das vom sudetendeutschen Ballast befreit wäre, könnten sie sich noch effektiver zur Wehr setzen. Damit hätte sich Paris nicht nur aus Zweckoptimismus abfinden können: Die Enttäuschung Gamelins nach dem Münchener Abkommen ist sehr bezeichnend: „Wir haben die militärische Macht der Tschechoslowakei nicht gerettet“.40 Ganz offensichtlich war die Autonomielösung in Paris ernst genommen worden. Aber diese Option blieb ohnehin nur einige Tage auf dem Tisch. Am 8. September verbreitete die „Times“ die Idee eines Plebiszits und einer Abtrennung der „Sudetengebiete“. Es lässt sich mutmaßen, dass dies auf Veranlassung der britischen Regierung geschah, denn diese brachte das Plebiszit sofort in die Gespräche

36 Ebenda,

n°212. Bestand: Vermerk vom 17. September im Nachlass Daladier. Sign.: 496 AP 9. 38 DDF, 2e série, Bd. XI, n° 243. 39 Zusammenfassung von François-Poncet am 20. September. In: Ebenda, n°244. 40 SHD. Sign.: 2 N 224, Aufzeichnung vom 12. Oktober 1938. 37 AN.

170   Georges-Henri Soutou mit den Franzosen ein, die darauf allerdings höchst abwehrend reagierten.41 Die Frage wurde am 15. September mit dem Besuch Chamberlains bei Hitler in Berchtesgaden akut, weil der „Führer“ jetzt die Abtretung der Grenzgebiete an das Reich verlangte. Am gleichen Tag tat Bonnet anscheinend den ersten Schritt, um die frühere These der französischen Regierung (bei jeder Autonomielösung für das Sudetenland sollte der Bestand der Tschechoslowakei garantiert werden) aufzuweichen: Ein Plebiszit und die Trennung schienen ihm nicht mehr undenkbar.42 Allerdings schwenkte er gleich wieder auf die Regierungslinie zurück, sodass Tschechen und Franzosen kategorisch gegen ein Plebiszit eingestellt waren, denn auch die Polen und die Ungarn würden eine solche Lösung fordern und die Tschechoslowakei damit nicht überleben. Sie verstanden sehr wohl, dass Hitler genau dies anstrebte, das Ende der Tschechoslowakei überhaupt, nicht nur eine Lösung hinsichtlich des „Sudetenproblems“.43 Daladier selber war davon überzeugt und hob daher diese Frage bei seinem Treffen mit Chamberlain am 18. September in London hervor. Lieber eine direkte Gebietsabtretung an das Reich! Auch Beneš befürwortete diese Lösung schon am 17. September intern.44 Die alte Vorgehensweise des Europäischen Konzerts (Gebietsveränderungen durch Verhandlungen unter den Großmächten) schien viel weniger riskant als die Anwendung des Wilsonschen Prinzips der Selbstbestimmung.45 Entscheidend war das Treffen von Daladier und Bonnet mit der britischen Regierung am 18. September in London. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Engländer (rein technisch gesehen bei diesem Treffen viel besser als die Franzosen) die Idee eines Plebiszits nur verbreitet hatten, um die Franzosen dazu zu verleiten, Gebietsabtretungen und den Verzicht auf die Unverletzlichkeit als kleineres Übel hinzunehmen.46 Von diesem Zeitpunkt an war die französische Position sehr deutlich: Kein Plebiszit, da die strategische und wirtschaftliche Lebensfähigkeit der Tschechoslowakei durch eventuelle weitere Gebietsabtretungen bedroht sein könnte. Aus diesem Grund sollte die Tschechoslowakei in ihrem neuen Territorialbestand eine internationale Garantie bekommen. Diese sollte auch Großbritannien geben, was durch Chamberlain als großes Zugeständnis dargestellt wurde.47 Die Franzosen beharrten aber auch nach dem Treffen von Bad Godesberg und angesichts der immer lauter werdenden und weitergehenden Forderungen Hitlers darauf.48 Am 41 Gespräch

des französischen Botschafters in London, Corbin, mit Außenminister Halifax am 9. September. In: DDF, 2e série, Bd. XI, n°94. 42 Gespräch eines Mitglieds des Ministerbüros von Bonnet mit einem britischen Diplomat am 15. September. In: Ebenda, n°168. 43 Zum Beispiel der Bericht von François-Poncet am 20. September. In: Ebenda, n°244. 44 Ebenda, n°192. 45 Etliche Dokumente, s. zum Beispiel Lacroix am 16. September. In: Ebenda, n°175. 46 Ebenda, n°212. 47 Siehe die Ausführungen Daladiers in London am 18. September und eine Aufzeichnung ­Massiglis am 17. September. In: Ebenda, n°195 (mit dem bezeichnenden Titel „Remaniement de la frontière tchécoslovaque“, an sich sehr bescheiden!). 48 Bericht von Lacroix in Prag am 24. September. In: Ebenda, n°336.

Die Westmächte und die Septemberkrise   171

24. September beschloss Paris eine Teilmobilmachung. Bei seinem Treffen mit den Briten in London zwei Tage später, nach der Rückkehr Chamberlains aus Bad Godesberg, beharrte Daladier auf seinem Standpunkt.49 Am 27. September spitzte sich die Lage innerhalb des französischen Kabinetts zu, weil Bonnet eine letzte Anstrengung für den Frieden machen wollte, als viele seiner Kollegen dafür schon nicht mehr zu gewinnen waren.50 Letzten Endes stimmte Daladier ihm doch zu, woraufhin Bonnet einen Tag später in Berlin einen letzten Vorschlag unterbreitete: Die deutschen Truppen sollten schon am 1. Oktober einmarschieren dürfen und nicht erst nach der endgültigen Regelung des Streits, was der neuen Forderung Hitlers entsprach. Der Einmarsch würde lediglich drei nur von Sudetendeutschen besiedelten Zonen betreffen, während die tschechoslowakischen Befestigungen verschont blieben.51 Dieser Vorschlag bewegte sich immer noch im Rahmen der französischen Vorstellung einer lebens­ fähigen Tschechoslowakei. In München ging man am 29. September aber viel weiter, indem die Annexion weiterer Gebiete sowie Plebiszite und Gebietsabtretungen an Polen und Ungarn in Aussicht gestellt wurden: Auch wenn die Abkommen tatsächlich verwirklicht und nicht gleich Makulatur geworden wären (insbesondere was die internationale Garantie anbelangt), wäre die „Resttschechoslowakei“ nicht lebensfähig gewesen. Man verfügt französischerseits über kein Protokoll der Gespräche in München, überhaupt über keine interne Dokumentation, um zu verstehen, wie und warum Daladier viel weiter ging als vorgesehen. Die Memoiren des damals anwesenden französischen Botschafters in Berlin, André François-Poncet, stimmen zudem nicht mit Bonnets (der wahrscheinlich von Léger informiert worden war) Erinnerungen überein.52 Zwar verfasste Daladier 1963 für das Historische Amt des Heeres einen Bericht über die Münchener Konferenz. In diesem Dokument gab er an, er hätte den Standpunkt Gamelins vom 9. September (nur ein Abkommen mit eng begrenzten Gebietsabtretungen war anzustreben, um die Tschechoslowakei verteidigungsfähig zu erhalten) hartnäckig vertreten. Weiter führte er an, Alexis Léger hätte ihm während der Sitzungen keine nennenswerten Ratschläge gegeben und sich aus Unkenntnis des Sachverhalts passiv verhalten, was eher unglaubwürdig klingt. Und bei den anderen Berichterstattern scheint die zähe Verteidigung von Daladier keinen großen Eindruck gemacht zu haben.53 Im April 1948 schrieb Daladier jedoch einem Zeitungsdirektor, dass eine erste Sitzung am Vormittag des 29. September stattgefunden habe, in der sich Hitler 49 Ebenda,

n°356 und 375. n°400. Zu dieser sehr ernsthaften Krise innerhalb der Regierung vgl.: Daridan: Le chemin de la défaite, S. 80. Bonnet war bereit, im Falle einer Niederlage in der Auseinandersetzung zurückzutreten, ebenso wie seine Widersacher. 51 Telegramm Bonnets an François-Poncet. In: DDF, 2e série, Bd. XI, n°413. 52 François-Poncet, André: Souvenirs de mon ambassade à Berlin. Paris 1946, S. 314 ff. Bonnet, Georges: Fin d’une Europe. De Munich à la guerre. Genève 1948, S. 291. 53 Du Réau: Daladier, S. 275 ff. 50 Ebenda,

172   Georges-Henri Soutou überhaupt nicht kompromissbereit gezeigt habe. Dagegen sei nachmittags ernsthaft verhandelt worden (dieser Teil wurde in François-Poncets Memoiren geschildert, aber auch darüber existiert kein eigentliches Protokoll). In Daladiers Nachlass befindet sich eine einseitige Denkschrift der italienischen Delegation, in ­einem Kuvert des deutschen Auswärtigen Amtes, adressiert an Daladier im Hotel Vierjahreszeiten durch Sonderboten, das heißt während der Münchener Konferenz. Die Richtlinien dieser Denkschrift entsprechen im Grunde genommen den wesentlichen Bestimmungen des Abkommens, das um 2 Uhr morgens unterschrieben wurde. Die italienische Denkschrift diente offensichtlich als Vorlage (fast als Tischvorlage!) für die Sitzung am Nachmittag.54 Rein optisch waren die Bestimmungen des Münchener Abkommens vorteilhafter als Hitlers Bad Godesberger Memorandum vom 23.September. Eine Gegenüberstellung der zwei Texte wurde im Quai d’Orsay angefertigt und Daladier strapazierte diesen vermeintlichen Erfolg der französischen Diplomatie während der Debatte im Parlament am 4. Oktober aufs Äußerste.55 Die tieferen Gründe des französischen Umschwenkens lassen sich rekonstruieren: Frankreich stand allein (desto mehr, da man nicht alles unternommen hatte, um die Allianzen zu befestigen), die öffentliche Meinung war gegen einen Krieg und die militärische Lage war verzwickt. In Bezug auf die Verhandlungen lässt sich im Nachhinein annehmen, dass Chamberlains Manöver, die Franzosen und die Tschechoslowakei dazu zu verleiten, Plebisziten direkte Gebietsabtretungen vorzuziehen, der Hauptgrund für das Zurückrudern der französischen Regierung war. Man tröstete sich mit dem Erhalt des Friedens und mit der Tatsache, dass Hitler letzten Endes doch verhandelt hatte und von seinem eigentlichen Ziel, der Zerstörung der Tschechoslowakei, abgewichen war. Obwohl diese Argumentation aus heutiger Sicht kaum verständlich ist, war sie doch in einem Gesamtkonzept für Europa verankert, das damals von vielen in Frankreich geteilt wurde.

Die eigentliche politische Haltung der französischen ­Regierung im September 1938: der Versuch, den Frieden durch eine Neuordnung Europas langfristig zu sichern In seinen Memoiren schreibt Paul Reynaud, der damalige Finanzminister, dass Daladier ihm bei der Rückkehr aus München erklärt habe: „Das ist meine Politik. Das ist der Viererpakt“56 von 1933. In der Tat blieb Daladier bei seiner Einstellung aus der Zeit dieses Abkommens, als er auch Ministerpräsident gewesen war: Europa benötige eine Gesamtlösung, eine Flurbereinigung. Für ihn markierte das Münchener Abkommen nur den Anfang dieses Prozesses, weshalb er es, obwohl 54 AN.

Sign.: 496 AP 9. 496 AP 10. Siehe auch die Zusammenfassung von François-Poncet am 30. Oktober. In: DDF, 2e série, Bd. XI, n°485. 56 Reynaud, Paul: Au cœur de la mêlée. Paris 1951, S. 284. 55 AN. Sign.:

Die Westmächte und die Septemberkrise   173

er sich seiner Kosten bewusst war, insgesamt doch positiv beurteilen konnte. Dieser Zusammenhang ist bisher, obwohl offenkundig, kaum beachtet worden: Schon am 13. September hatte Daladier Chamberlain geschrieben, man solle Hitler ein Treffen der Regierungschefs Deutschlands, Frankreichs und Großbritanniens ­vorschlagen, um zunächst einmal die „Sudetenfrage“ zu lösen, danach aber um Verhandlungen „über alle Fragen, die die Organisation des Friedens tangieren“, zu führen.57 Dieser Vorschlag wurde jedoch durch die Reise Chamberlains nach Berchtesgaden hinfällig, der damit, ob unbeabsichtigt oder nicht, die Pläne Daladiers für ein Dreiertreffen durchkreuzte. Das letzte Wort über diese Geschichte ist vielleicht noch nicht gefallen. Aber Daladier blieb bei seiner Politik der Gesamtlösung: In seinem Nachlass kann man zeitgenössische Dokumente, Aufsätze und Aufrufe über einen solchen Plan für Europa finden Dazu wollte er eine Zusammenarbeit der Großmächte organisieren, um die Fragen der Minderheiten und Kolonien, der Problematik von Währung und Wirtschaft und der Abrüstung zu lösen.58 Vor der Chambre des députés beteuerte Daladier am 4. Oktober: „Wir werden den Frieden nur bewahren, wenn wir endlich die Grundlagen für eine Gesamt­ regelung schaffen.“59 In der Tat sah ein Anhang des Münchener Abkommens ein weiteres Treffen der vier Signatarmächte vor, wenn innerhalb von drei Monaten kein Abkommen zwischen der Tschecho-Slowakei, Polen und Ungarn bezüglich der umstrittenen Gebiete zustande käme. Zwar gewiss nicht für Hitler, so doch für seine Kollegen war „München“ keine Endstation, sondern ein Ausgangspunkt für ein neues europäisches Konzert.60 Eine etwas andere, aber letztlich ähnliche Richtung kann man bei Bonnet feststellen. In seinen Memoiren schrieb er, m. E. ganz zutreffend, dass England und Frankreich seit 1933 pausenlos versucht hätten, „Deutschland zur Annahme eines Systems der kollektiven Sicherheit zu bewegen und zu erreichen, dass das Reich aus seiner Isolation und Unberechenbarkeit heraustreten und am europäischen Konzert teilnehmen würde“.61 In seinem Fazit über die Münchener Konferenz am 30. September schrieb François-Poncet aus Berlin: „Die Konferenz gestattet (trotz des ideologischen Gegensatzes) die Annahme, dass es noch Raum für ein europäisches Konzert gibt, das fähig ist, den Frieden zu wünschen und zu erhalten.“62 Lässt sich ein Unterschied feststellen? Stand Daladier eher für das Konzert der Großmächte und Bonnet eher für die kollektive Sicherheit? War er nicht letzten Endes weniger zynisch als Daladier, dafür aber noch unrealistischer? 57 AN.

Sign.: 496 AP 9. vom 17. September, unbekannter Ursprung in einer Sonderausgabe der Zeitschrift Nouveaux Cahiers vom 15. September, mit einem Aufruf von bekannten links-pazifistischen Persönlichkeiten, wie Alain, Jean Giono, aber auch von Leuten, die später Münchengegner werden sollten (wie Jacques Maritain oder François Mauriac). Ebenda. 59 AN. Sign.: A96 AP 10. 60 Ebenda. 61 Bonnet: Fin d’une Europe, S. 44. Dieses Buch bietet die beste Erklärung dieser Politik. 62 DDF, 2e série, Bd. XI, n°485. 58 Denkschrift

174   Georges-Henri Soutou Sowieso wurden beide Konzepte, Konzert wie kollektive Sicherheit, jetzt ganz anders verstanden, als sie ursprünglich gedacht gewesen waren. Sicherlich spielte bei dieser Zuflucht in die kollektive Sicherheit eine Art Wegrationalisierung der französischen politischen und militärischen Schwäche eine Rolle. Aber seit ­Lo­carno war der Begriff der kollektiven Sicherheit in der französischen Innenund Außenpolitik doch deswegen maßgeblich geworden, weil im Nachhinein niemand mehr bereit war, die bilateralen Allianzen der Vorkriegszeit wieder zu errichten. Stattdessen waren die Zeitgenossen jetzt davon überzeugt, dass Frankreich 1914 mehr für die Interessen Russlands als für die eigenen Interessen in den Krieg gezogen sei.63 „München“ wurde als Höhepunkt dieser Entwicklung angesehen.

Der Wiener Schiedsspruch vom 3. November 1938 als Abkehr von der angeblichen Logik des Münchener ­Abkommens? Wie aufrichtig aber war in Paris diese Deutung des Münchener Abkommens als Umsetzung der kollektiven Sicherheit beziehungsweise des Konzerts der vier Großmächte? War sie nicht eher eine Wegrationalisierung, ein Feigenblatt für die Niederlage Frankreichs in Mitteleuropa? Anfänglich wurde das Münchener Abkommen in Paris sicherlich ernst genommen. Beim Treffen mit Chamberlain und Halifax am 24. November beharrten Daladier und Bonnet energisch auf dem (zutreffenden) Standpunkt, dass das Abkommen eine sofortige Garantie beider Länder und nach der Regelung der Grenzfragen mit Polen und Ungarn auch eine Garantie der zwei übrigen Münchener Kontrahenten (Deutschland und Italien) an die Tschechoslowakei beinhalte. Eine sofortige britische Garantie an Prag wies Chamberlain allerdings zunächst kategorisch zurück und zog höchstens eine allgemeine Garantie der vier Mächte in Erwägung unter der Bedingung, dass alles geregelt werden würde. Angesichts der entsetzten Reaktion der französischen Delegation erklärte sich Chamberlain aber dazu bereit, Prag sofort eine Garantie Frankreichs und Großbritanniens zu gewähren und stellte eine spätere gemeinsame Garantie in Aussicht. Unter dem deutschen Druck war Prag gezwungen, diese eingeschränkte Garantie anzunehmen. Für Daladier war das Verhalten der britischen Regierung eine tiefe Enttäuschung, er willigte aber schließlich ein.64 Daladier selbst hatte seine Deutung des Münchener Abkommens beim Parteitag der Radikalen in Marseilles am 27. Oktober 1938 als Schritt zur endgültigen Regelung der ausstehenden Probleme Mitteleuropas unter voller Mitwirkung Frankreichs

63 Soutou,

Georges-Henri: La France et la Problématique de la Sécurité Collective à partir de Locarno: Dialectique Juridique et Impasse Géostratégique. In: Clemens, Gabriele (Hg.): Nation und Europa. Studien zum internationalen Staatensystem im 19. und 20. Jahrhundert. Festschrift für Peter Krüger zum 65. Geburtstag. Stuttgart 2001, S. 133–152. 64 AN. Sign.: 496 AP 11.

Die Westmächte und die Septemberkrise   175

bezeichnet. Im gleichen Zusammenhang kündigte er plötzlich eine Politik des „Rückzugs im Kolonialreich“ an.65 Die Haltung Frankreichs beim ersten Wiener Schiedsspruch am 3. November 1938 zeigte hingegen kein großes Engagement in Mitteleuropa mehr. Eigentlich hätte die neue ungarisch-tschechoslowakische Grenze durch ein Abkommen unter den vier Signatarmächten neu bestimmt werden müssen, bekanntlich wurde sie jedoch durch einen Schiedsspruch der Achsenmächte festgelegt. Aber Frankreich schloss sich Großbritannien an und verzichtete auf einen Einspruch, was darauf hindeutete, dass Frankreich sich aus Mitteleuropa zurückzog. Die Lektüre der französischen Dokumente deutet darauf hin, dass Prag selbst Paris um Zurückhaltung bat, um zu verhindern, dass Berlin noch weitergehende Forderungen stellen könnte, wie Ungarn dies beabsichtigte.66 Die deutschen Akten legen hingegen den Schluss nahe, dass Paris vor allem die Verhandlungen eines bilateralen deutsch-französischen Abkommens nicht gefährden wollte.67 Der Wunsch, der gemeinsamen Erklärung von Chamberlain und Hitler in München nachzueifern, war offensichtlich. War man in Paris bereit, den Multilateralismus – sei es innerhalb der kollektiven Sicherheit, sei es im Konzert der Großmächte – aufzugeben?

Das Abkommen vom 6. Dezember 1938: der Höhepunkt der Illusionen? Ganz in Illusionen gefangen waren die französischen Staatsmänner jedoch auch nicht. Am 5. Dezember, einem Tag vor der Unterzeichnung der deutsch-französischen Erklärung, legte Daladier dem CPDN dar, er sei in München gezwungen worden, „ein Werk der Vernunft zu vollbringen“. Trotzdem seien große Probleme noch nicht ausgeräumt, womit er vor allem auf Italiens Forderungen gegenüber Frankreich abzielte. Frankreich solle weiter aufrüsten, gleichzeitig schloss er aber auch weitere diplomatische Verhandlungen nicht explizit aus, womit er sich immer noch in der Logik des Vierervertrags von 1933 bewegte.68 Die Bedeutung der deutsch-französischen Erklärung vom 6. Dezember 1938 ist schon damals heftig diskutiert worden, auch wegen Ribbentrops Besuchs in Paris nur einen Monat nach der „Reichspogromnacht“. Es ist oft behauptet worden, Bonnet hätte dem Reich in Mittel- und Osteuropa freie Hand gegeben, was Staatssekretär Alexis Léger, der an sämtlichen Gesprächen zwischen Bonnet und Ribbentrop teilnahm, nach dem Krieg allerdings entschieden verneint hat.69 In der Tat 65 Pertinax

[André Géraud]: Les Fossoyeurs. La bataille de France, l’armistice, la contre-révolution. New York 1943, S. 127. 66 DDF, 2e série, Bd. XII, n 229, 235, 261. 67 Akten zur deutschen auswärtigen Politik (im Folgenden: ADAP), Serie D, Bd. IV, Dok. 62, 91, 342. 68 SHD. Sign.: 2 N 224 Protokoll vom 5 Dezember 1938. 69 Duroselle, Jean-Baptiste: La Décadence, 1932–1939, Paris, 1979, S. 387–389. Siehe auch: AN. Bestand: Nachlass Daladier. Sign.: 496 AP 11, Briefwechsel zwischen Ribbentrop und Bonnet Juli 1939.

176   Georges-Henri Soutou erwähnt die Erklärung die Verpflichtungen beider Staaten gegenüber Drittländern, die nicht tangiert sind. Die Erklärung wurde in Paris, nach dem Modell der britisch-deutschen Erklärung vom 1. Oktober („Peace in our time“!), als unproblematisch angesehen, denn die nochmalige Versicherung der deutsch-französischen Grenze und das Konsultationsabkommen wurden als beruhigend wahrgenommen. Gravierender wäre ein Nichtangriffspakt gewesen, weil er die Verpflichtungen Frankreichs anderswo hätte durchkreuzen können. Darauf bestand Hitler bei seinem Gespräch mit François-Poncet am 19. Oktober jedoch gar nicht und verlangte auch nicht die Kündigung des französisch-sowjetischen Pakts von 1935.70 Während François-Poncet offensichtlich eher skeptisch war, ging Bonnet davon aus, dass die Erklärung den Startpunkt für eine Konsolidierung der politischen Verhältnisse in Europa bilden würde. Bezeichnenderweise informierte er nicht nur die Vertreter Großbritanniens, sondern auch Polens, der Sowjetunion und der USA, was zeigt, dass er immer noch im Rahmen einer erweiterten kollektiven Sicherheit agierte.71 Inhaltlich waren die Gespräche zwischen Bonnet und Ribbentrop, der seinem üblichen schroffen Ton und bornierten Argumentationsstil treu blieb, fast vollkommen nichtssagend, wobei Bonnet mit Légers Unterstützung die französischen Positionen bezüglich Spanien (Abzug der deutschen „Freiwilligen“) und Italien (keine Provokationen in Bezug auf Tunesien und Korsika mehr) sowie die Forderung einer internationalen Garantie für Prag, wie sie in München verabredet worden war, in aller Deutlichkeit wiederholte.72 Gewiss schrieb Bonnet der Unterzeichnung der Erklärung als Entspannungsgeste zu viel Bedeutung zu, was sich zwar durch seine Vision einer Wiederaufnahme des europäischen Konzerts in München erklärt,73 jedoch das katastrophale psychologische Moment dieser Erklärung im Ausland verkennt. Darüber hinaus wurde die Frage nach der künftigen Rolle Frankreichs in Osteuropa intern heftig diskutiert. Léon Noël, Botschafter in Warschau, forderte Paris dazu auf, die Allianz mit Polen grundsätzlich zu überdenken.74 Damit war die Zentrale in Paris aber nicht einverstanden, da sie dieses Bündnis als Aktivposten ansah und somit kein Interesse daran hatte, es preiszugeben.75 Die meisten internen Akten für den Zeitraum nach „München“ sind 1940 zerstört worden, aber es gibt zahlreiche Indizien über den weiteren Verlauf der Debatte.76 Diese Unsicher70 Aufzeichnung

Massiglis am 5. Oktober. Er hatte übrigens keine Einwände gegen ein Streichen des französisch-sowjetischen Paktes. In: DDF, 2e série, Bd. XII, n°29. Auch: Telegramm François-Poncets am 20 Oktober. In: Ebenda, n°197. 71 Telegramm Bonnets am 27. November. In: Ebenda, n°414. 72 Ebenda, Bd. XIII, n°58 und 122. 73 Siehe seine Ausführungen vor dem auswärtigen Ausschusses der Kammer am 14. Dezember 1938. In: Ebenda, n°126. 74 AN. Sign.: 496 AP 11, Bericht im November 1938. 75 Ebenda, Vermerk am 19 November. 76 Am 8. 11. schrieb Corbin aus London, dass sich die englische Regierung frage, ob Paris vorhabe, seine Osteuropapolitik zu ändern. Seinen Bericht könnte man als eine diskrete Warnung auffassen. Ebenda.

Die Westmächte und die Septemberkrise   177

heit ist eine mögliche Erklärung für die nicht sehr folgerichtige französische Politik in den Monaten nach „München“.

1939: Abschreckungsstrategie oder Vorbereitung des Krieges? Gamelin schätzte im Gegensatz zu den beiden anderen führenden Politikern die strategischen Folgen von „München“ sehr nüchtern ein. Mit dem „Anschluss“ und noch dazu dem Münchener Abkommen hatten sich die Lage in Mitteleuropa und die Stellung Frankreichs völlig verändert. An einen dauerhaften Frieden glaubte er nicht mehr, sondern ging davon aus, dass das Reich jetzt entweder die ehemaligen deutschen Kolonien zurückfordern würde, was eine Gefahr für das Bestehen des französischen Imperiums dargestellt hätte und deshalb unannehmbar war, oder weiter nach Osten vordringen würde. Auf Polen, die Sowjetunion oder Italien sei kein Verlass mehr. Die einzige mögliche Strategie bestehe darin, die eigene Aufrüstung zu forcieren, das Imperium zu festigen, das Verhältnis zu Großbritannien weiterzuentwickeln, das Mittelmeer (jetzt der einzige Weg, die Ostalliierten zu erreichen) zu kontrollieren und sich auf einen langen Krieg vorzubereiten, in dem die Überlegenheit über Deutschland durch Blockade und den künftigen Kriegseintritt der Vereinigten Staaten wiedergewonnen werden müsste.77 Am 3. Dezember schrieb Gamelin an Daladier, dass Deutschland schon im Frühling 1939 im Stande wäre, einen europäischen Krieg auszulösen. Zusätzlich zu den größten Anstrengungen seitens London und Paris sei deshalb eine Kehrtwende Polens, Rumäniens und Jugoslawiens dringend nötig, „wenn Frankreich weiterhin eine Großmacht bleiben will, wenn es sich um keinen Preis unter das Joch begeben will“.78 In Bezug auf einen Bündnispartner machte sich Gamelin nach dem 6. Dezember keinerlei Illusionen mehr. Am 19. Dezember schrieb er Daladier sowohl vom Militärattaché in Berlin wie von einer „wichtigen deutschen Militärpersönlichkeit“, dass eine neue „Kraftprobe“ gegen Polen bis zum Sommer 1939 bevorstünde. Mit einem einzigen Satz beschrieb er zutreffend die Hitlersche Strategie und politische Kriegführung (was die verbreitete These relativiert, Paris hätte diese Strategie kaum verstanden): „Heute führt man schon zu Friedenszeiten Krieg, durch eine Mischung von diplomatischen Aktionen, propagandageprägten Volksbewegungen und einschüchternden Militäreinsätzen“.79 Dann widerlegte Gamelin die Ende 1938 in Paris modische These des „Rückzugs in das Imperium“ beim gleichzeitigen Verzicht auf eine aktive Politik in ­Osteuropa. Diese These wurde unter anderen durch einen Aufsatz von Paul Bau77 SHD.

Sign.: 2 N 224, Aufzeichnung vom 12. Oktober 1938. Bestand: DITEX. Sign.: 1K224/9. 79 SHD. Bestand: DITEX. Sign.: 1K224/9. 78 SHD.

178   Georges-Henri Soutou douin, einflussreicher Bankier, künftiger Mitarbeiter Paul Reynauds und erster Außenminister in der Vichy-Regierung in der Zeitschrift „Revue de Paris“ propagiert, aber auch, wie gezeigt wurde, durch Daladier selbst beim Parteitag der Radikalen Ende Oktober des Jahres: „Die Kernfrage ist“, schrieb Gamelin, „ob Frankreich bereit ist, auf seine Stellung als europäische Großmacht zu verzichten und eine Hegemonialstellung Deutschlands nicht nur in Mitteleuropa, sondern auch in Osteuropa zu dulden. Darüber hinaus werden jedoch Frankreich und sein Imperium ins Visier geraten, und wenn es nur durch die Pläne Italiens wäre. Mit Frankreich steht die menschliche Zivilisation schlechthin, diejenige aller demokratischen Mächte, auf dem Spiel.“80 Ganz offensichtlich wollte Gamelin sowohl dem 6. Dezember wie auch dem Imperiumsmythos entgegenwirken. Schließlich ermahnte er Daladier, dass man einzig durch die diplomatische Übereinstimmung aller Mächte gegen das Reich und vor allem durch „eine intensive militärische Anstrengung auf allen Gebieten“ „den Krieg vermeiden, oder gegebenenfalls gewinnen“ könnte.81 Tatsächlich folgte Daladier dieser Richtung bis September 1939 auch im Großen und Ganzen und versuchte noch einmal, nämlich bei der Krise um Polen in August 1939, einen ausgehandelten Ausweg wie 1938 zu finden, während Bonnet mehr Wert auf den wiederholten Versuch legte, das Reich in die Diplomatie einzubeziehen. 1939 hatten sich die Positionen der beiden Staatsmänner noch weiter voneinander entfernt, als dies bereits 1938 der Fall gewesen war. Seine Rolle als Großmacht hatte Frankreich mit dem Münchener Abkommen ohnehin bereits preisgegeben.

80 Ebenda. 81 SHD.

Sign.: 2 N 224.

Sergej Slutsch

Die Sowjetunion und die Sudetenkrise Aspekte einer Appeasement-Politik Bekanntlich hat die Sowjetunion an der Münchener Konferenz nicht teilgenom­ men. Dennoch wäre es wohl kaum zutreffend, wollte man behaupten, sie habe mit ihr nichts zu tun gehabt. Die im Laufe des Jahres 1938 um die Tschecho­ slowakei herum entstandene Situation wurde zur ersten schwerwiegenden, von Hitlers Außenpolitik verursachten Krise von internationalem Ausmaß, in die die Sowjetunion involviert war. In Zusammenhang mit dieser offenkundigen ­Tatsache sollen im Weiteren zwei grundlegende Fragen untersucht werden: Wie groß war das Engagement Moskaus in der tschechoslowakische Krise und welche außen­ politischen Ziele verfolgte die sowjetische Führung im Verlauf ihrer Zuspitzung? Bedauerlicherweise sind der Forschung zahlreiche Dokumente, die Einschät­ zungen und Vorschläge des NKID (Volkskommissariat für Auswärtige Angelegen­ heiten, auch Narkomindel) sowie des Volkskommissariats für Verteidigung im Zeitraum von Frühjahr bis Herbst 1938 enthalten, nach wie vor nicht zugänglich, ganz zu schweigen von Unterlagen solcher Einrichtungen wie der Aufklärungs­ verwaltung der Roten Armee und der Auslandsabteilung des NKVD (Volkskom­ missariat für Innere Angelegenheiten). Dies gilt erst recht für die Reaktionen Sta­ lins, der den außenpolitischen Kurs des Landes faktisch im Alleingang bestimmte, auf diese Materialien. Zweifellos wird es dadurch schwieriger, den Mechanismus der Entscheidungsfindung zu untersuchen – man ist häufig gezwungen, sich in umgekehrter Richtung zu bewegen – von der Analyse des Ereignisses hin zur hy­ pothetischen Absicht Stalins und seiner entsprechenden Entscheidung. Der Ver­ mutungscharakter einiger Schlussfolgerungen ist daher unvermeidlich.

Innere Bedingungen der sowjetischen Außenpolitik Zunächst ein kurzer Blick auf die inneren Bestimmungsfaktoren der sowjetischen Außenpolitik im Jahr 1938: Das Land durchlebte eine politische Katastrophe bei­ spiellosen Ausmaßes, die häufig als „Großer Terror“ bezeichnet wird: Innerhalb zweier Jahre (1937–1938) wurden 1 575 259 Personen verhaftet, von denen 681 692 erschossen wurden.1 Von August 1936 bis März 1938 fanden drei öffentliche poli­ tische Prozesse statt, in denen Partei- und Staatsfunktionäre, die eine wichtige 1

Vert, N./Mironenko, S.V. (otv. red.)/Zjuzina, I.A. (otv. sost.): Istorija stalinskogo Gulaga. Konec 1920-ch – pervaja polovina 1950-ch godov: Sobranie dokumentov v 7-mi tomach [Geschich­ te des Stalin’schen GUlag. Ende der 1920er bis erste Hälfte der 1950er Jahre. Dokumenten­ sammlung in 7 Bänden]. Moskva 2004, t. 1: Massovye repressii v SSSR [Massenrepressionen in der UdSSR], Dok. 223, S. 609. Vert (i. e. Nicolas Werth) vermutet, dass die Zahl der in die­

180   Sergej Slutsch Rolle bei der Schaffung des Sowjetstaates gespielt und über viele Jahre hinweg Schlüsselpositionen in dessen Führung eingenommen hatten, der Spionage, Di­ version und des Mordes angeklagt und zum Tode verurteilt wurden. Das Anhei­ zen der „Spionomanie“ im Rahmen der von Stalin und seiner engsten Umgebung umfassend geplanten Kampagne zum Kampf gegen die „Volksfeinde“ führte zu einem gesellschaftlichen Klima, das von Misstrauen und Angst geprägt war. Es kam zu ernsthaften Personalproblemen in Unternehmen und öffentlichen Ein­ richtungen, einer drastischen Verminderung der Kampfkraft des Militärs und wachsenden Schwierigkeiten in Industrie, Verkehrswesen und Landwirtschaft. Die Situation in der Führung der Roten Armee im Frühjahr/Sommer 1938 ver­ deutlichen folgende wohlbekannte Daten: Inhaftiert waren sechs Stellvertretende Volkskommissare für Verteidigung (darunter drei Erste Stellvertreter), der Chef des Generalstabs sowie zwei seiner Stellvertreter, die Leiter der Verwaltungen des Generalstabs – einschließlich der Aufklärungsverwaltung –, die Oberbefehlshaber der See- und Luftstreitkräfte und deren Stellvertreter, die Flottenchefs, nahezu sämtliche Befehlshaber der Militärbezirke und deren Stabschefs sowie 90 Prozent der Mitglieder des Militärrats beim Volkskommissar für Verteidigung usw.2 Ihnen allen wurde Spionage für ausländische Staaten – zumeist Deutschland, Japan und Polen – zur Last gelegt. Insgesamt wurden in den Jahren 1937 und 1938 in der Roten Arbeiter- und Bauernarmee (RKKA) 6942 Kommandeure und Militärchefs aller Ebenen verhaftet, darunter 499 Angehörige des obersten Führungsperso­ nals.3 Es liegt auf der Hand, dass unter diesen Umständen die Kampfkraft des sowjetischen Militärs – des wichtigsten Instruments der Außenpolitik – ganz er­ heblich untergraben war. Diese inneren Bedingungsfaktoren der sowjetischen Au­ ßenpolitik lassen den Schluss zu, dass nicht nur die Bündnisfähigkeit der UdSSR im Jahr 1938 gegen Null tendierte,4 was ihre Möglichkeiten der Einflussnahme auf die internationale Lage bedeutend einschränkte, sondern dass darüber hinaus auch die Verfolgung einer aktiven Außenpolitik vor dem Hintergrund des zuneh­ mend aggressiven Vorgehens der Achsenmächte faktisch ausgeschlossen war. War Stalin die außenpolitische Handlungsunfähigkeit der Sowjetunion, die durch die wachsende Isolation der UdSSR in der internationalen Arena verstärkt wurde, bewusst? Inwieweit dies der Fall war, ist schwer zu sagen, aber allem An­ schein nach war er sich im Großen und Ganzen darüber im Klaren. Einen Beleg hierfür bildet unter anderem die Veröffentlichung der Antwort Stalins auf ein ­Schreiben I. F. Ivanovs, eines Komsomolzen und Propagandisten aus dem Gebiet sen Jahren Erschossenen aufgrund der genaueren Erfassung in der Lokalstatistik um 10–12% höher angesetzt werden muss. Ebenda, S. 71. 2 Siehe Pečenkin, A.A.: Voennaja ėlita SSSR v 1935–1939: repressii i obnovlenie [Die militäri­ sche Elite der UdSSR 1935–1939. Repressionen und Erneuerung]. Moskva 2003, S. 133. 3 Siehe Čerušev, N.S.: Udar po svoim. Krasnaja Armija: 1939–1941 [Eigenbeschuss. Die Rote Armee: 1939–1941]. Moskva 2003, S. 269–270. 4 Siehe Volkov, V.K.: Nekotorye aspekty predvoennogo političeskogo krizisa 1939 g. v Evrope [Einige Aspekte der politischen Vorkriegskrise in Europa]. In: Pop, I.I. (otv. red.): Političeskij krizis 1939 g. i strany Central’noj i Jugo-Vostočnoj Evropy [Die politische Krise von 1939 und die Länder Zentral- und Südosteuorpas]. Moskva 1989, S. 6.

Die Sowjetunion und die Sudetenkrise   181

Kursk, Mitte Februar 1938.5 Darin stellte der Generalsekretär Überlegungen über die äußeren Bedingungen des Aufbaus des Sozialismus in der UdSSR an und über­ ging dabei nicht nur die Anstrengungen der sowjetischen Diplomatie zur Schaf­ fung eines kollektiven Sicherheitssystems, sondern überhaupt die Rolle der Außen­ politik in diesem Prozess. Zu diesem Zeitpunkt hielt er es für zweckmäßig, zu be­ tonen, dass „das Problem der Bewahrung unseres Landes vor den Gefahren einer militärischen Intervention und Restauration […] allein durch die Vereinigung der ernsthaften Anstrengungen des internationalen Proletariats mit den noch ernst­ hafteren Anstrengungen unseres gesamten sowjetischen Volkes gelöst werden kann“. Indem er die Frage auf diese Weise thematisierte und gleichzeitig die Auf­ merksamkeit auf die beträchtliche Anzahl von Staaten lenkte, die der UdSSR an­ geblich feindlich gesonnen waren, gestand Stalin faktisch sowohl seinen Misserfolg ein, mittels Geheimdiplomatie ein Abkommen mit dem nationalsozialistischen Deutschland zu erzielen („Mission Kandelaki“) als auch, dass es unmöglich war, mit Hilfe der öffentlichen (Litvinovschen) Diplomatie Berlin nicht so sehr zur Ver­ folgung einer Friedenspolitik zu zwingen (was unrealistisch war), als vielmehr der westlichen Appeasement-Politik gegenüber Hitler entgegenzuwirken, die die po­ tenzielle Möglichkeit einer Übereinkunft mit diesem beinhaltete. Daher die, von den westlichen Diplomaten nicht unbemerkt gebliebene, vom Narkomindel jedoch hartnäckig in Abrede gestellte,6 unvermeidliche Korrektur des außenpolitischen Kurses in Richtung eines erzwungen bedingungsabhängigen Isolationismus.7 ­Diese Veränderungen, die vor allem die Beziehungen mit den zwei europäischen ­Staaten betrafen, nämlich mit Frankreich8 und der Tschechoslowakei, welche ­Beistandsverträge mit der Sowjetunion geschlossen hatten, wurden durch die offi­ zielle sowie die inoffizielle Position Moskaus in vollem Umfang bestätigt. Da Hitler einen Überfall auf die Tschechoslowakei bereits ins Auge gefasst hatte – wenngleich ohne konkrete Terminplanung – war die Haltung Moskaus hin­ sichtlich der Gefährdung eines für die UdSSR strategisch wichtigen zentraleuro­ 5 6

Pravda, 14. 02. 1938, S. 3 Bei einem Routinetreffen mit R. Coulondre, dem französischen Botschafter in Moskau, war der Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten, M.M. Litvinov, gezwungen, „Erläute­ rungen“ diesbezüglich abzugeben: „Gen. Stalin sagt nicht, dass wir die Zusammenarbeit mit anderen Ländern ablehnen, sondern dass diese Länder zunehmend einen feindseligen Kurs uns gegenüber einschlagen und die Zusammenarbeit verweigern.“ Siehe Aufzeichnung Litvi­ novs. Archiv vnešnej politiki Rossijskoj Federacii (Archiv für Außenpolitik der Russischen Föderation, im Folgenden: AVP RF), f. 05, op. 18, p. 138, d. 6, l. 24. Eintrag vom 11. 03. 1938. 7 Mit erzwungen bedingungsabhängigem Isolationismus ist die Außenpolitik eines Staates ge­ meint, der sich aufgrund verschiedener Umstände in der internationalen Arena isoliert findet, jedoch stets dazu bereit ist, unter bestimmten Bedingungen auf die Verfolgung des erzwunge­ nen und daher in beträchtlichem Maße konditionalen Isolationskurses zu verzichten. 8 Am Tag nach einer Besprechung bei Stalin (10. 01. 1938) schrieb der Stellvertretende Volks­ kommissar für Auswärtige Angelegenheiten, V.P. Potemkin, an den Bevollmächtigten Vertreter der UdSSR in Frankreich, Ja.Z. Suric: „Bei uns ist man äußerst unzufrieden mit der derzeitigen Linie der französischen Außenpolitik […]. Es wurde beschlossen, sich von den Franzosen fern­ zuhalten, sich auf keinerlei Vertraulichkeiten einzulassen und ihnen erst recht keine Avancen zu machen. […] Frankreich braucht die UdSSR, wir aber können gut ohne die Franzosen aus­ kommen.“ AVP RF, f. 011, op. 2, p. 17, d. 165, l. 9–8.

182   Sergej Slutsch päischen Staates9 auch für die deutsche Führung von besonderer Bedeutung, wie bei einer am 5. November 1937 abgehaltenen Besprechung10 mit den obersten militärischen Führern und dem deutschen Außenminister deutlich wurde. Ein Anhaltspunkt für das Verständnis der Rolle der UdSSR in der tschechoslo­ wakischen Krise ist zweifellos ihre offizielle Reaktion auf den Anschluss Öster­ reichs, die von Litvinov auf einer Pressekonferenz am 17. März 1938 verkündet wurde.11 Nachdem der Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten die Ge­ fahr unterstrichen hatte, die durch diesen aggressiven Akt in erster Linie für klei­ ne Länder, insbesondere für die Tschechoslowakei, entstanden sei, erklärte er im Namen der sowjetischen Regierung die Bereitschaft „sich an kollektiven Aktivitä­ ten zu beteiligen, die gemeinsam mit ihr beschlossen würden und zum Ziel hät­ ten, der weiteren Ausbreitung der Aggression Einhalt zu gebieten und die wach­ sende Gefahr eines erneuten weltweiten Gemetzels zu beseitigen“ sowie „umge­ hend mit den anderen Mächten im Völkerbund oder außerhalb desselben die Erörterung praktischer, von den Umständen diktierter Maßnahmen aufzuneh­ men“. Diese Erklärung Litvinovs wird in der russischen Historiografie immer noch als konstruktive Aktion zur Organisierung von kollektivem Widerstand gegen die Aggression interpretiert, als realer Schritt zum Schutz der Tschechoslowakei, der von den Westmächten nicht unterstützt worden sei.12 In einer an Stalin gerichte­ ten Notiz Litvinovs mit Vorschlägen zu Art und Inhalt der offiziellen Reaktion auf die Annexion Österreichs wird indes wohl keineswegs zufällig darauf hingewie­ sen, dass „diese Erklärung uns keinerlei neue Verpflichtungen auferlegt, nachdem sie ihr Ziel erreicht hat“. Dieses Ziel hatte mit den auf der Pressekonferenz ver­   9 Bereits

im März 1937 hatte die die sowjetische Führung Informationen über die Ausarbeitung von Angriffsplänen auf die Tschechoslowakei im deutschen Generalstab erhalten. Siehe Be­ richt des Chefs der Aufklärungsverwaltung der RKKA, Korpskomandeur S.P. Urickij, an den Volkskommissar für Verteidigung der UdSSR, Marschall K E. Vorošilov, 20. 03. 1937. RGASPI (Rossijskij gosudarstvennyj archiv social’no-političeckoj istorii, Russisches Staatsarchiv für Sozialpolitische Geschichte, im Folgenden: RGASPI), f. 71, op. 25, d. 3678, l. 1–2. 10 Niederschrift des Oberst d. G. Hoßbach über eine Besprechung in der Reichskanzlei am 5. November 1937 vom 10. 11. 1937. In: Akten zur deutschen auswärtigen Politik 1918–1945, im Folgenden: ADAP, Serie D: 1937–1941. Baden-Baden, Göttingen, 1950–1970, Bd. I, Dok. 19, S. 29–30. 11 Pravda, 17. 03. 1938, S. 1 12 Siehe z. B. Morozov, S.V.: Pol’sko-čechoslovackie otnošenija. 1933–1939. Čto skryvalos‘ za po­ litikoj „ravnoudalennosti“ ministra Ju. Beka [Die polnisch-tschechoslowakischen Beziehun­ gen. 1933–1939. Was sich hinter der Politik der „Äquidistanz“ des Ministers J. Beck verbarg]. Moskva 2004, S. 367; Naumov, A.O.: Diplomatičeskaja bor’ba v Evrope nakanune Vtoroj mi­ rovoj vojny: Istorija krizisa Versal’skoj sistemy [Der diplomatische Kampf in Europa am Vor­ abend des Zweiten Weltkriegs: Eine Geschichte des Krise des Versailler Systems]. Moskva 2007, S. 271; Narinskij, M.M.: Meždunarodno-političeskij krizis kanuna Vtoroj mirovoj vojny [Die internationale politische Krise des Vorabends des Zweiten Weltkriegs]. In: „Zavtra možet byt’ uže pozdno …“. Vestnik MGIMO-Universiteta. Special’nyj vypusk k 70-letiju načala Vto­ roj mirovoj vojny [„Morgen kann es schon zu spät sein …“. Mitteilungen des Staatlichen Moskauer Instituts für Internationale Beziehungen (MGIMO-Universität). Spezialausgabe zum 70. Jahrestag des Beginns des Zweiten Weltkriegs.] Moskva 2009. S. 24.

Die Sowjetunion und die Sudetenkrise   183

kündeten Absichten der sowjetischen Führung wenig gemeinsam und lief auf sechs Punkte hinaus, nämlich die pazifistische Opposition zu Aktionen gegen die Chamberlain-Regierung zu veranlassen, die neue Volksfront-Regierung in Frank­ reich zu unterstützen, der Tschechoslowakei und anderen kleinen Ländern „den Rücken zu stärken“, „England die Verantwortung für den weiteren Verlauf der Ereignisse aufzuerlegen“, „Insinuationen über eine Schwächung unseres Staates“ infolge des Kampfes mit den „Volksfeinden“ zu dementieren sowie die Aufmerk­ samkeit der Weltöffentlichkeit von dem „in der ausländischen Presse fortdauern­ den Wirbel um den soeben zu Ende gegangenen Prozess“ gegen den „antisowjeti­ schen rechtstrotzkistischen Block“ abzulenken.13 Es ist offensichtlich, dass die sowjetische Führung keineswegs vorhatte, irgendwelche realen Schritte zu unter­ nehmen, um der Aggression entgegenzuwirken – nicht nur, weil sie nicht mit ­einer positiven Reaktion seitens Englands und Frankreichs rechnete, sondern hauptsächlich deshalb, weil sie andere Ziele verfolgte. Nach der nächsten Besprechung bei Stalin (am 26. März)14 informierte Litvi­ nov den Bevollmächtigten Vertreter in Prag, Sergej Aleksandrovskij, eingehend über die Einschätzung der wahrscheinlichen Entwicklung der Ereignisse auf dem Kontinent sowie darüber, welche Haltung das Narkomindel – d. h. in erster Linie der Kreml – dazu einnahm. Nach Ansicht des Volkskommissars, habe „die Hitle­ risierung Österreichs das Schicksal der Tschechoslowakei vorherbestimmt“, deren Führung offensichtlich nicht geneigt sei, eine radikale Haltung einzunehmen und das Land zum Schutz seiner Souveränität und territorialen Integrität zu mobili­ sieren. „Ich baue keineswegs auf die Entschiedenheit Benešs und der anderen tschechoslowakischen Patrioten“, fuhr Litvinov fort. „Ähnlich wie Schuschnigg wird der große Opportunist Beneš den Weg schrittweiser Zugeständnisse ein­ schlagen, um dann in dasselbe Loch zu fallen wie Schuschnigg.“ Fazit: „Jedenfalls kann die Tschechoslowakei im derzeitigen Umfeld nicht lange existieren.“ Ange­ sichts solcher nicht eben rosigen Aussichten für einen Staat, der durch einen Bei­ standsvertrag mit der UdSSR verbunden war, drängt sich natürlich die Frage auf, was Moskau in dieser Situation zu tun bestrebt war. Litvinov gab darauf eine völ­ lig eindeutige Antwort: „Meine Erklärung [auf der Pressekonferenz vom 17. März, S. S.] ist wahrscheinlich der letzte Appell an Europa zur Zusammenarbeit, nach dem wir voraussichtlich eine an der weiteren Entwicklung der Dinge in Europa wenig interessierte Haltung einnehmen werden.“15 Letztere Behauptung war zweifellos eine Falschheit, denn die sowjetische Führung war keineswegs daran 13 Memorandum

Litvinovs für Stalin, 14. 03. 1938. AVP RF, f. 05, op. 18, p. 137, d. 1, l. 118–119. Am 16. März wurde Litvinov zu Stalin gerufen; siehe Černobaev, A.A. (nauč. red.): Na prieme u Stalina. Tetradi (žurnaly) zapisej lic, prinjatych I.V. Stalinym (1924–1953 gg.): Spravočnik [Audienz bei Stalin. Hefte (Journale) zur Erfassung der von I.V. Stalin empfangenen Personen (1924–1953). Handbuch]. Moskva 2008, S. 233. Allem Anschein nach wurde der Text der vom Volkskommissar abgegebenen Presserklärung im Kreml abgestimmt. 14 Ebenda, Aufzeichnung vom 26. 03. 1938. 15 Schreiben Litvinovs an Aleksandrovskij, 26. 03. 1938. AVP RF, f. 0138, op. 19, p. 128, d. 1, l. 19– 18.

184   Sergej Slutsch interessiert, dass die Tschechoslowakei – ähnlich wie Österreich – von der euro­ päischen Bühne verschwinden würde, da dies auf eine weitere Stärkung der geo­ politischen und militärstrategischen Position Deutschlands hinauslief.

Beistand unter Bedingungen Es gibt Gründe zu der Annahme, das Hauptziel des Kreml im Zuge der tschecho­ slowakischen Krise habe darin bestanden, sich aus dem Konflikt herauszuhalten und dabei das Gesicht zu wahren, d. h. den mit der Tschechoslowakei bestehen­ den Beistandsvertrag von 1935 formal nicht zu verletzen. Dessen wichtigste Be­ stimmung war Punkt II des Unterzeichnungsprotokolls, wo es hieß, „dass die Ver­ pflichtungen zu gegenseitiger Hilfeleistung nur insoweit zwischen ihnen gelten werden, als dem angegriffenen Teil unter den in diesem Vertrag vorgesehenen Be­ dingungen Hilfe durch Frankreich geleistet wird.“16 Dies war eine äußerst raffi­ nierte Formulierung, die erdacht wurde, noch bevor die westliche AppeasementPolitik zu einem wichtigen Faktor der internationalen Entwicklung geworden war. Vor dem Hintergrund der deutlich verschlechterten Lage der Tschechoslowa­ kei lenkte das NKID die besondere Aufmerksamkeit der sowjetischen Diplomaten auf die Notwendigkeit, sich strikt an sie zu halten, um auf keinen Fall den Ein­ druck zu erwecken, dass die UdSSR in ihren Handlungen über den in der Ver­ einbarung festgelegten Rahmen hinausgehen könnte.17 Somit bestand eine ganz ­bestimmte völkerrechtliche „Sicherheit“ der UdSSR vor der Notwendigkeit, der Tschechoslowakei im Falle eines deutschen Angriffs militärischen Beistand zu leisten, insbesondere in Anbetracht der Haltung Frankreichs,18 das im Fahrwasser der britischen Appeasement-Politik gegenüber den Staaten des faschistischen Blocks segelte. Auch in dieser Hinsicht gab es in Moskau keinerlei Illusionen. 16 Dokumenty

vnešnej politiki SSSR [Dokumente zur Außenpolitik der UdSSR, im Folgenden: DVP]. Moskva 1973, t. XVIII, Dok. 223, S. 336. Die von O.N. Ken vorgelegte profunde Unter­ suchung der Genesis dieses Punktes des Unterzeichnungsprotokolls zum Vertrag zwischen Moskau und Prag widerlegte faktisch die in der sowjetischen/russischen Historiografie tradi­ tionell vertretene Ansicht vom Urheberrecht E. Benešs für die endgültige Fassung dieser Pas­ sage. Siehe Ken, O.: Čechoslovakija v politike Moskvy (1932–1936 gg.). (K novoj postanovke problemy) [Die Tschechoslowakei in der Politik Moskaus (1932–1936). (Zur neuen Problem­ stellung)]. In: Rossija XXI. 1996. Nr. 11/12, S. 104–112. 17 So wurde z. B. der Presseattaché der Bevollmächtigten Vertretung der UdSSR in Deutschland auf die „nicht hinreichend genaue Antwort“, hingewiesen, die er im Laufe eines Gesprächs mit dem Korrespondenten der „Associated Press“ in Berlin, Louis P. Lochner, zum Thema „Hilfe der Sowjetunion für die Tschechoslowakei im Falle eines nicht provozierten deutschen Angriffs auf sie“ gegeben habe. Die Empfehlungen liefen auf die Notwendigkeit hinaus, fol­ genden Grundsatz strikt einzuhalten: Die Sowjetunion wird der Tschechoslowakei natürlich helfen, „wenn die Lage dem Vertrag der UdSSR mit der Tschechoslowakei ‚über gegenseitigen Beistand‘ entspricht“. Schreiben des persönlichen Referenten des Leiters der 2. Westabteilung des NKID, V.A. Michel’s, sowie des Abteilungsreferenten G.M. Puškin an A.A. Smirnov, 11. 03.  1938. AVP RF, f. 082, op. 21, p. 88, d. 3, l. 7-6. 18 Siehe Thomas, M.: France and the Czechoslovak Crisis. In: Lukes, I./Goldstein E. (Hg.): The Munich Crisis, 1938. Prelude to World War II. London/Portland (Or.) 1999, S. 122–159.

Die Sowjetunion und die Sudetenkrise   185

Nach Auffassung des Stellvertretenden Volkskommissars für Auswärtige Angele­ genheiten, Vladimir Potemkin, war „gar nicht daran zu denken, dass die französi­ sche Regierung ihrem Verbündeten zu Hilfe kommt. Selbst wenn die Tschecho­ slowakei einem offenen Angriff Hitlers ausgesetzt wäre, könnte sich der Beistand Frankreichs auf eine ‚symbolische‘ Mobilmachung der Armee an der Ostgrenze entlang der Linie Mülhausen-Straßburg-Metz beschränken.“ Dort hätten die Deutschen „die stärksten Verteidigungsanlagen. Sie stellen die Franzosen vor ein unüberwindliches Hindernis und verdammen sie im besten Fall zu einem Stel­ lungskrieg.“ Und „dieser ‚beste Fall‘“, so das Fazit Potemkins, „erscheint mir ­äußerst unwahrscheinlich“.19 Es existierten auch andere Faktoren, die die Gewährung sowjetischen Bei­ stands an die Tschechoslowakei faktisch ausschlossen oder äußerst erschwerten. Darunter nahm die Frage der Erlaubnis zum Durchmarsch für Einheiten der ­Roten Armee durch das Territorium der angrenzenden Staaten – Polen und Ru­ mänien – eine besondere Stellung ein. Und sie erwies sich als unlösbar, da weder Warschau noch Bukarest ihre Souveränität und territoriale Integrität riskieren wollten. Hinsichtlich Polens stellte sich die Frage im Grunde gar nicht, da die Haltung seiner Führung allen – Moskau bildete da keine Ausnahme – gut be­ kannt und von den polnischen Vertretern auf verschiedenster Ebene mehrfach bekräftigt worden war.20 Was Rumänien betrifft, so existieren in der Historiogra­ fie bezüglich seiner Haltung zum Problem der Durchmarschrechte für sowjeti­ sche Truppen bzw. der als Minimallösung diskutierten Durchquerung seines Luftraums durch sowjetische Flugzeuge unterschiedliche Auffassungen.21 Allem Anschein nach hängt dies damit zusammen, dass während der Amtszeit des ru­ mänischen Außenministers Nicolae Titulescu (September 1932 bis August 1936) intensive Verhandlungen mit der UdSSR über den Abschluss eines Beistandsver­ 19 Schreiben

des Stellvertretenden Volkskommissars für Auswärtige Angelegenheiten, V.P. Po­ temkin, an den Bevollmächtigten Vertreter in Frankreich, Ja.Z. Suric, 04. 04. 1938. AVP RF, f. 082, op. 21, p. 88, d. 1, l. 41. Der Brief wurde in verkürzter Form veröffentlicht. Siehe Doku­ menty po istorii mjunchenskogo sgovora. 1937–1939. [Dokumente zur Geschichte der Mün­ chener Abmachung. 1937–1939]. Moskva 1979, Dok. 41, S. 80–83. 20 Laut einer Mitteilung des französischen Premierministers É. Daladier an den Bevollmächtig­ ten Vertreter der UdSSR, Suric, vom 24. Mai 1938 habe er in einem Gespräch mit dem polni­ schen Botschafter J. Łukasiewicz „eine Reihe direkter Fragen“ gestellt: „Würden die Polen ­sowjetische Truppen durchlassen? Łukasiewicz habe mit Nein geantwortet. Er habe dann ­gefragt, ob sie sowjetische Flugzeuge durchlassen würden. Łukasiewicz habe gesagt, dass die Polen auf sie das Feuer eröffnen würden.“ Telegramm Surics an das NKID, 25. 05. 1938. In: DVP, t. XXI, Dok. 198, S. 287. 21 Prasolov, S.I.: Sovetskij Sojuz i Čechoslovakija v 1938 g. [Die Sowjetunion und die Tschecho­ slowakei 1938]. In: Volkov, V.K. (otv. red.). Mjunchen – preddverie vojny. (Istoričeskie očerki) [München – Vorstufe des Krieges. (Historische Essays)]. Moskva 1988, S. 71–84. Pfaff, I.: Die Sowjetunion und die Verteidigung der Tschechoslowakei 1934–1938. Versuch der Revision ei­ ner Legende. Köln etc. 1996, S. 387–405. Ragsdale H.: The Soviets, the Munich Crisis, and the coming of World War II. Cambridge etc. 2004, S. 76–92. Mel’tjuchov, M.: Osvoboditel’nyj pochod Stalina: Bessarabskij vopros v sovetsko-rumynskich otnošenijach (1917–1940) [Sta­ lins Befreiungsfeldzug. Die bessarabische Frage in den sowjetisch-rumänischen Beziehungen (1917–1940)]. Moskva 2006, S. 214–220.

186   Sergej Slutsch trags geführt wurden, in dessen Entwurf die Andeutung der hypothetischen Möglichkeit enthalten war, den sowjetischen Truppen den Durchmarsch durch rumänisches Gebiet zu gestatten, sollte diesem ein an die sowjetische Regierung gerichtetes offizielles Ersuchen Bukarests vorausgehen.22 Nach der Entlassung Titulescus wurde die Frage eines derartigen Abkommens nicht mehr aufgegrif­ fen. Von diesem Zeitpunkt an war die Außenpolitik Rumäniens immer stärker auf eine Annäherung mit Polen ausgerichtet. Allein dies nahm jeglichen vertrau­ lichen Vereinbarungen mit der UdSSR jede Perspektive, ganz zu schweigen da­ von, dass die harte Haltung der sowjetischen Führung in der Frage der Nichtan­ erkennung der Angliederung Bessarabiens an Rumänien,23 welche Befürchtun­ gen über fortbestehende Expansionspläne des Kreml nährte, Absprachen über den Durchlass sowjetischer Truppen grundsätzlich ausschloss. Die tschechoslo­ wakische Führung legte indes (zumindest auf verbaler Ebene) Wert auf die posi­ tive Entscheidung dieser Frage, und war der Ansicht, dass „Frankreich und sogar England entsprechend auf die rumänische Regierung einwirken sollten, um sie dazu zu bewegen, ihr Einverständnis zu einer eventuellen Öffnung ihrer Grenzen für die Rote Armee zu geben.“24 Soweit sich aus den zugänglichen Dokumenten schließen lässt, haben die sowjetischen Diplomaten dieses Thema bei ihren Un­ terredungen mit den Rumänen nicht angesprochen. Überhaupt entsteht der Ein­ druck, dass ein militärischer Beistand für die Tschechoslowakei, sollte diese von Deutschland angegriffen werden, weder seitens der Führung des Generalstabs der RKKA noch des NKID zum Gegenstand ernsthafter Aufmerksamkeit wurde. So antwortete zum Beispiel Litvinov auf die Frage eines amerikanischen Journa­ listen, wie die UdSSR der Tschechoslowakei beistehen könne, halb im Scherz: „Irgendein Korridor wird sich schon finden.“25 Im einzigen bisher bekannten zusammenfassenden Dokument des Generalstabs, das eine Einschätzung der Ak­ tivitäten der wahrscheinlichsten Gegner der UdSSR in Europa – Deutschlands und Polens – für Ende März 1938 enthält, wird ein Angriff dieser Länder auf die

22 K

proektu dogovora o vzaimopomošči meždu Rumyniej i SSSR, 21. 07. 1936. [Zum Entwurf eines Beistandsvertrags zwischen Rumänien und der UdSSR, 21. 07. 1936]. In: Sovetsko-ru­ mynskie otnošenija: Dokumenty i materialy: V 2 tomach. MID RF, MID Rumynii [Sowje­ tisch-rumänische Beziehungen. Dokumente und Materialien. In 2 Bänden. Außenministe­ rium der Russischen Föderation, Außenministerium Rumäniens. Moskva 2000, t. II, Dok. 34, S. 82. 23 Diese Frage erhob sich bei Gesprächen sowjetischer mit französischen Diplomanten, wovon folgende Äußerung Litvinovs zeugt: „Nur die Franzosen schlagen uns bereits zum wiederhol­ ten Male rüde und zynisch vor, für unsere Hilfe für die Tschechoslowakei und Frankreich mit dem Verzicht auf Bessarabien zu bezahlen.“ Schreiben Litvinovs an Suric, 03. 04. 1938. AVP RF, f. 05, op. 18, p. 148, d. 158, l. 21). 24 AVP RF, f. 082, op. 21, p. 88, d. 1, l. 42. 25 Telegramm des Gesandten der Tschechoslowakei in der UdSSR, Z. Fierlinger, an den Außen­ minister der ČSR, K. Krofta, 16. 03. 1938. In: Dokumenty i materialy po istorii sovetskočechoslovackich otnošenij [Dokumente und Materialien zur Geschichte der sowjetisch-tsche­ choslowakischen Beziehungen, im Folgenden: DMISČO]. Moskva 1978, t. 3, Dok. 253, S. 382.

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Tschechoslowakei quasi beiläufig erwähnt.26 Aus dem Dokument geht auch her­ vor, dass der Charakter der polnisch-deutschen Beziehungen im Generalstab falsch eingeschätzt wurde und man die Option von Aktionen der sowjetischen Streitkräfte im Zuge der eventuellen Entwicklung rund um die Tschechoslowakei nicht erörterte.27 Letzteres – wie auch die Einschätzung des Zustands der pol­ nisch-deutschen Beziehungen – spiegelten zweifellos die Meinung Stalins zu dem wider, was in den folgenden Monaten seine Bestätigung fand. Die Frage des Durchmarsches der Roten Armee durch das Territorium der angrenzenden Staa­ ten zählte im Generalstab offenkundig nicht zu den aktuellen operativen Proble­ men und war längst in die Kategorie der ausschließlich diplomatischen Mittel gewandert. Als solche ermöglichten sie es einerseits, die Erreichung einer Verein­ barung in einer beliebigen Frage zu erschweren oder zu torpedieren und ande­ rerseits ständig die faktische Passivität und den Wunsch zu rechtfertigen, sich aus internationalen Konflikten solange herauszuhalten, bis eine Beteiligung da­ ran – gestützt auf eine der Parteien – aus Sicht Stalins spürbare, und das hieß vor allem territoriale Vorteile einbrachte. Aleksandrovskij, der die Meinung Litvinovs teilte, dass „das Schicksal der Tschechoslowakei als vorherbestimmt angesehen werden“ müsse, hielt es für er­ forderlich, in einer Situation, in der „das Tempo der weiteren Entwicklung zur wichtigsten Frage wird, die man noch beeinflussen kann und muss, indem man es auf jede erdenkliche Weise verlangsamt“28 eine aktivere Position einzunehmen. Für eine solche Einflussnahme gab es verschiedene Methoden. Zum Beispiel folgende: Man verkaufte Prag auf dessen Ersuchen Flugzeuge (ohne Motoren)29 und schuf damit günstige Bedingungen, um von der Tschechoslowakei fortschritt­ liche Technologie zur Produktion eines breiten Sortiments an Kriegsmaterial in der UdSSR zu beziehen. 30 Damit erhielt man zumindest bei einem Teil der mili­ tärischen Kreise in der Tschechoslowakei die Einstellung aufrecht, sich gegen eine

26 Memorandum

des Generalstabschefs der RKKA und Armeekommandeurs 1. Ranges, B.M. Šapošnikov, für den Volkskommissar für Verteidigung, Marschall K.E. Vorošilov, über die wahrscheinlichsten Gegner der UdSSR, 24. 03. 1938. In: Rešin, L.E. u. a. (sost. L.E. Resin i dr.)/ Naumov, V.P. (pod red.): 1941 god: V 2 kn. [Das Jahr 1941. In 2 Büchern.]. Moskva 1998, kn. 2, pril. Dok. P 11, S. 557–560. 27 Wie der Militärhistoriker Ju.A. Gor’kov dokumentiert, wurde im Generalstab ein Plan zur Erweisung militärischen Beistands für die Tschechoslowakei nicht einmal „auf Vorrat“ ausge­ arbeitet, obwohl Derartiges zu den Routinetätigkeiten von Generalstäblern zählt (Mitteilung von Generaloberst Ju.A. Gor’kov an den Autor, 20. 07. 1998). 28 Schreiben Aleksandrovskijs an Litvinov, 30. 03. 1938. AVP RF, f. 0138, op. 19, p. 128, l. 159. 29 Obgleich Moskau im März 1938 zugestimmt hatte, der Tschechoslowakei zusätzlich zu den 21 bereits 1937 gelieferten, 20 Flugzeuge zu verkaufen, erhob Stalin Ende März keinen Wider­ spruch gegen das neuerliche Ersuchen Prags über den Verkauf von weiteren 20 Flugzeugen im Laufe des Jahres 1938. Siehe Beschluss des Politbüros vom 28. 03. 1938, pr. 60, p. 19. Sonder­ mappe. RGASPI, f. 17, op. 166, d. 588, l. 20–22. 30 Siehe Beschluss des Komitees für Verteidigung beim SNK (Rat der Volkskommissare) der Union der SSR „Über die Errichtung einer Produktion von Artilleriesystemen der Firma Škoda“ vom 05. 05. 1938, Beschluss des Politbüros vom 07. 05. 1938, pr. 61, p. 99. Sonder­ mappe. Ebenda, d. 589, l. 39–41.

188   Sergej Slutsch eventuelle Aggression zur Wehr zu setzen. Aber insgesamt hatten diese Instru­ mente passiven Charakter, denn die Sowjetunion verfügte damals nicht über die diplomatischen und erst recht nicht über die militärischen Mittel, um auf die Westmächte, die eine aktive Appeasement-Politik verfolgten, einzuwirken – ganz zu schweigen vom nationalsozialistischen Deutschland. Der bewaffnete sowjetisch-japanische Konflikt im Gebiet des Chasan-Sees (29. Juli bis 11. August 1938) demonstrierte anschaulich, das sich „die Gefechts­ ausbildung der Truppen, der Stäbe sowie des Front-Kommandopersonals auf ­einem sträflich niedrigem Niveau“ befand.31 Infolgedessen rückten die Truppen unvorbereitet zur Grenze aus und legten ihr Unvermögen bloß, unter Kampf­ bedingungen zu agieren, was hohe Verluste an Mannschaften und Material zur Folge hatte.32 Ungeachtet der mehr als dreifachen Überlegenheit über die an den Kampfhandlungen beteiligten japanischen Einheiten, betrugen die Gesamtverlus­ te der Roten Armee 4071 Mann (ungefähr 40 Prozent des politischen Komman­ dopersonals), die der japanischen – 1400.33 Es ist offensichtlich, dass von diesem „Sieg“ ein nicht unbeträchtlicher bitterer Nachgeschmack blieb, da die Kampf­ kraft der westlichen Militärbezirke sich damals wohl kaum wesentlich von jener des Militärbezirks Fernost unterschied. Nicht von ungefähr wies Vorošilov Ende 1938 auf der Sitzung des Militärrats im Rückblick auf die Ereignisse des (voran­ gegangenen) Sommers darauf hin, dass „wir an der Westgrenze einen Feind ­haben, der nicht weniger organisiert ist als die Japaner. […] ich denke da insbe­ sondere an Deutschland. […] Daher […] sollten wir unsere Arbeit so ausrichten, dass unsere Armee niemals in eine Situation wie die unserer Einheiten […] am Chasan-See gerät.“34 31 Protokoll

Nr. 18 der Sitzung des GWS der RKKA am 31. August 1938. In: Bobylev, P.N. (otv. sost.): Glavnyj voennyj sovet RKKA. 13 marta 1938 g. – 20 ijunja 1941 g: Dokumenty i mate­ raly [Der Hauptmilitärrat der Roten Armee. 13 März 1938 bis 20. Juni 1941. Dokumente und Materialien]. Moskva 2004, Dok. 24, S. 135. 32 Siehe Befehl des Volkskommissars für Verteidigung der UdSSR über die Ergebnisse der Analy­ se der Ereignisse am Chasan-See durch den Hauptmilitärrat und Verteidigungsmaßnahmen des Militärschauplatzes Fernost“ vom 04. 09. 1938. In: Emelin A.S. (otv. sost.) u. a./Zolotarev V.A. (pod obšč. red.): Russkij Archiv. Velikaja Otečestvennaja: Prikazy narodnogo komissara oborony SSSR. 1937 – 22 ijunja 1941 [Russisches Archiv. Der Große Vaterländische Krieg. Befehle des Volkskommissars für Verteidigung der UdSSR. 1937 bis 22. Juni 1941]. Moskva 1994, t. 13(2-1), Dok. 32, S. 58. 33 Siehe Krivošeev, G.F. (pod obščej red.): Grif sekretnosti snjat: Poteri Vooružennych Sil SSSR v vojnach, boevych dejstvijach i voennych konfliktach. Statističeskoe issledovanije [Geheimhal­ tung aufgehoben. Die Verluste der Streitkräfte der UdSSR in Kriegen, Kampfhandlungen und militärischen Konflikten. Statistische Untersuchung]. Moskva 1993, S. 72, Tab. 24; Koškin, A.A.: Krach strategii „speloj churmy“: Voennaja politika Japonii v otnošenii SSSR. 1931–1945. [Das Scheitern der Strategie der „reifen Dattelpflaume“. Die Militärpolitik Japans gegenüber der UdSSR. 1931–1945]. Moskva 1989, S. 52 34 Stenogramm des Schlusswortes K.E. Vorošilovs auf der Abendsitzung des Militärrats beim Volkskommissar für Verteidigung der UdSSR am 29. November 1938. In: Bobylev, P.N. (otv. sost.): Voennyj sovet pri narodnom komissare oborony SSSR. 1938, 1940: Dokumenty i mate­ rialy [Der Militärrat beim Volkskommissar für Verteidigung der UdSSR. 1938, 1940. Doku­ mente und Materialien]. Moskva 2006, S. 240–241.

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Obwohl Göring dem tschechoslowakischen Gesandten in Berlin, Vojtěch Mast­ ný, versicherte, der Einmarsch der Wehrmacht in Österreich sei „nichts anderes, als eine Familienangelegenheit“ und dass Berlin nach wie vor eine Verbesserung der Beziehungen mit Prag anstreben werde,35 kam es nach dem Anschluss zu ei­ ner ernsthaften Verschlechterung der internationalen Lage der Tschechoslowakei sowie in Europa insgesamt. Dennoch war der Außenminister der Tschechoslowa­ kei, Kamil Krofta, der Ansicht, dass „in nächster Zeit kein Angriff seitens Deutsch­ lands zu erwarten ist“, da Hitler erkannt habe, dass „die Tschechoslowakei nicht Österreich ist und Deutschland – ausgehend von der Möglichkeit eines gesamt­ europäischen Konflikts – für ihre Annexion zusätzliche Vorbereitungen treffen muss“.36 Jedoch teilte die Führung des Narkomindel diesen „Optimismus“ an­ scheinend nicht, da sie es für erforderlich hielt, den Abtransport sowohl der ge­ heimen als auch der nicht geheimen archivierten Unterlagen der Prager Bevoll­ mächtigten Vertretung nach Moskau zu beschleunigen.37 Indessen wurden auf der diplomatischen Ebene der isolationistische Kurs sowie die Nichteinmischung in die heraufziehende europäische Krise beibehalten. Wie Litvinov konstatierte, „führen wir ungeachtet der angespannten Lage in Europa mit niemandem Verhandlungen“.38 Vermutlich hatte Stalin aus den Schreiben und Berichten Alek­ sandrovskijs keine vollständige Klarheit hinsichtlich der Haltung der tschechoslo­ wakischen Führung gewonnen – er ordnete die Einbestellung des Bevollmächtig­ ten Vertreters zur Berichterstattung an,39 welche am 21. April erfolgte.40 Bis zum heutigen Tag verfügt die Forschung nur über indirekte und sehr dosierte Kennt­ nisse über die im Kreml getroffenen Entscheidungen, d. h. Informationen, die der Gesandte Zdeněk Fierlinger im Narkomindel zur Weiterleitung nach Prag erhielt: „Die UdSSR ist bereit, wenn sie darum gebeten wird, gemeinsam mit Frankreich und der Tschechoslowakei alle Maßnahmen zur Gewährleistung der Sicherheit der Tschechoslowakei zu ergreifen. Dazu verfügt sie über alle erforderlichen Mit­ tel. […] Der Wunsch, effektiven Beistand zu leisten, wird immer da sein, solange

35 Siehe

Politischer Bericht des Gesandten in Prag E. Eisenlohr an das AA vom 13. 03. 1938. In: ADAP, Serie D, Bd. II, Dok. 74, Anl., S. 124–125. Nach Ansicht von Propagandaminister Goeb­ bels, der sich in diesen Tagen in ständigem Kontakt mit Hitler befand, hatte „Göring […] Mastný etwas zu viel versprochen. Garantie der Grenzen, das ist jetzt ganz unzeitgemäß“. In: Die Tagebücher von Joseph Goebbels. Hrsg. von Elke Fröhlich im Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte und mit Unterstützung des Staatlichen Archivdienstes Rußlands. Teil I: Auf­ zeichnungen 1923–1941. München 2000, Bd. 5., S. 224. Eintrag vom 22. 03. 1938. 36 Aufzeichnung des Gesprächs Aleksandrovskijs mit Krofta, 30. 03. 1938. In: DVP, t. XXI, Dok. 110, S. 162. 37 Siehe Schreiben des Stellvertretenden Volkskommissars für Auswärtige Angelegenheiten, B.S. Stomonjakov, an den Geschäftsträger der UdSSR in der Tschechoslowakei, M.S. Šaprov, 09. 04. 1938. AVP RF, f. 0138, op. 19, p. 128, d. 1, l. 23. 38 Schreiben Litvinovs an den Bevollmächtigten Vertreter der UdSSR in den USA, A.A. Troja­ novskij, 26. 03. 1938. AVP RF, f. 05, op. 18, p. 147, d. 131, l. 8. 39 Siehe Notiz Litvinovs für den Sekretär des ZK der KPdSU (b), A.A. Andreev, 03. 05. 1938. Ebenda, p. 137, d. 1, l. 269. 40 Černobaev (Hg): Na prieme u Stalina S. 235–236.

190   Sergej Slutsch sich die Tschechoslowakei nicht von der demokratischen Politik abwendet.“41 Es stellt sich die Frage, was an diesen Formulierungen – verglichen mit dem, was die sowjetischen Diplomaten in Anlehnung an die entsprechenden Artikel des sowje­ tisch-tschechoslowakischen und des sowjetisch-französischen Vertrags wiederholt verkündet hatten – eigentlich neu war, außer dass die „demokratische Politik“ erwähnt wurde. Rein gar nichts!42 Dies legt den Gedanken nahe, dass man im Kreml anhand von Aleksandrovskij Berichts in Wirklichkeit ganz andere Ent­ scheidungen getroffen haben könnte, als diejenigen, die Fierlinger mitgeteilt wur­ den. Man braucht nur einige weitere Aktivitäten der sowjetischen Diplomaten und höchsten Führungspersönlichkeiten des Landes in dieser Richtung nachzu­ vollziehen, um sich davon zu überzeugen, dass der isolationistische Kurs der UdSSR unabänderlich war. Am 13. Mai führte Litvinov in Genf ein Gespräch mit dem französischen Au­ ßenminister Georges Bonnet, bei dem sich dieser danach erkundigte, welchen Beistand die Sowjetunion der Tschechoslowakei in Anbetracht der Erklärungen Warschaus und Bukarests leisten würde, die Einheiten der Roten Armee auf ­keinen Fall durch ihr Territorium durchzulassen. Nachstehend die Reaktion Lit­ vinovs: „Ich antwortete ihm, dass wir natürlich nicht genügend diplomatischen Einfluss auf die angrenzenden Staaten ausüben könnten und, was militärische Maßnahmen betreffe, so sei ich nicht kompetent, diese zu erörtern. Ich meinte, militärische Maßnahmen hätten gemeinsam mit den Tschechen erörtert werden müssen.43 Bonnet wies darauf hin, dass Frankreich über einen Militärattaché in Moskau verfüge, der die Frage mit unserem Generalstab besprechen könnte. Ich 41 Telegramm

Fierlingers an Krofta, 23. 04. 1938. In: Dokumenty po istorii mjunchenskogo s­ govora, Dok. 45, S. 87. 42 Nicht annähernd überzeugend erscheinen in diesem Zusammenhang Verweise auf die Erklä­ rung des Vorsitzenden des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR, M.I. Kalinin, vom 26. April (siehe Christoforov, V.S.: Mjunchenskoje soglašenije – prolog Vtoroj mirovoj vojny (po archivnym materialam FSB Rossii) [Das Münchener Abkommen – Prolog zum Zweiten Weltkrieg (laut Archivunterlagen des russischen FSB)]. In: Novaja i novejšaja istorija [Neuere und neueste Geschichte]. 2009. Nr. 1, S. 21–47, hier S. 29), in der er hinsichtlich der Bestim­ mungen des sowjetisch-tschechoslowakischen Beistandsvertrags ausführte, dass „der Pakt kei­ ner der Parteien verbietet, Beistand zu leisten, ohne auf Frankreich zu warten“. Kalinin, M.I.: O meždunarodnom položenii [Über die internationale Lage]. Moskva 1938, S. 14. Die Äuße­ rung Kalinins (eines „politischen Leichtgewichts“) vor den Propagandisten des Moskauer Le­ ninbezirks war für den internen Gebrauch bestimmt und hatte auf diplomatischer Ebene keinerlei Auswirkungen. Überdies wurde eine derartige Interpretation der möglichen Aktio­ nen der UdSSR vom Nakomindel stets dementiert. So erläuterte zum Beispiel Litvinov gegen­ über Coulondre, solche Überlegungen seien „eine rein theoretische Hypothese, die von uns nie diskutiert wurde und über die wir natürlich auch keinerlei Entscheidungen getroffen ha­ ben“. Siehe Aufzeichnung Litvinovs. AVP RF, f. 05, op. 18, p. 138, d. 6, l. 57. Eintrag vom 13. 06.  1938. 43 Beneš vertrat diesbezüglich eine andere Auffassung. Er dachte, dass „die UdSSR, Frankreich und die Tschechoslowakei sich natürlich untereinander über Umfang und Verfahren des ge­ genseitigen Beistands einigen müssen, aber darüber sollten Frankreich und die UdSSR mit­ einander sprechen. Genauer gesagt, sollte Frankreich für sich und für die Tschechoslowakei sprechen.“ Siehe Gespräch Aleksandrovskijs mit Beneš, 18. 05. 1938. In: DMISČO, t. 3, Dok. 287, S. 421.

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erwiderte, dass es in Moskau weder einen französischen noch einen tschechoslo­ wakischen Generalstab gebe.“44 Die im Verlauf dieses Gesprächs vom Chef des Narkomindel an den Tag gelegte Haltung kann schwerlich als konstruktiv be­ zeichnet werden, eher im Gegenteil. Hier noch ein Beispiel dafür, wie wenig die sowjetische Führung geneigt war, ihre Unterstützung für die Tschechoslowakei öffentlich zum Ausdruck zu bringen und insbesondere an die Existenz des Beistandsvertrags mit ihr zu erinnern. Am 16. Mai 1938 jährte sich die Unterzeichnung dieses Vertrags zum dritten Mal. Im Vorfeld übermittelte Potemkin Molotov einen diesem Ereignis gewidmeten Artikel zur Durchsicht, der – so Potemkin – „in ruhigem Ton“ gehalten und zur Veröffent­ lichung in der Zeitung „Izvestija“ bestimmt war. Im Grunde unterschied er sich in nahezu nichts von einem sehr ähnlichen Artikel, der genau ein Jahr zuvor im Zu­ sammenhang mit dem zweiten Jahrestag des sowjetisch-tschechoslowakischen Ver­ trags erschienen war, 45 außer durch seine eindeutig antibritische Tendenz. Molotovs Vermerk war äußerst lakonisch: „Es ist wohl besser auf den Artikel zu verzichten.“46 Im Verlauf der „Maikrise“ rund um die Tschechoslowakei47 nahm die UdSSR eine passive Haltung ein, wobei sie in der internationalen Arena die neue Richt­ linie des Kreml in vollem Umfang umsetzte, über die Litvinov Ende März im ­bereits erwähnten Brief an Aleksandrovskij geschrieben hatte. So ist es äußerst symptomatisch, dass die Führung des Narkomindel den Gesandten der Tschecho­ slowakei in der UdSSR, Fierlinger, erst am 25. Mai empfing, als die „Maikrise“ bereits überwunden war.48 Diese offizielle sowjetische Position blieb bei den aus­ ländischen Diplomaten in Moskau natürlich nicht unbeachtet. Sie kamen zu dem Schluss, dass „die Sowjetunion derzeit unter allen Umständen vermeiden will, in einen Krieg hineingezogen zu werden […], wobei das Fehlen einer gemeinsamen Grenze zwischen der Sowjetunion und der Tschechoslowakei von sowjetischer 44 Telegramm

Litvinovs an das NKID, 14. 05. 1938. In: DVP, t. XXI, Dok. 182, S. 263. Die im Schreiben Litvinovs an Aleksandrovskij vom 25. 05. 1938 enthaltene Darstellung des Ge­ sprächs mit Bonnet enthält etwas abgeschwächte Formulierungen. Ebenda, Dok. 197, S. 284. 45 K godovščine sovetsko-čechoslovackogo pakta o vzaimnoj pomošči [Zum Jahrestag des sow­ jetisch-tschechoslowakischen Beistandspakts]. In: Izvestija, 16. 05. 1937, S. 1. 46 RGASPI, f. 82, op. 1, d. 1356, l. 18. Aleksandrovskij wurde mitgeteilt, Molotov sei der Ansicht, dass es „unter den gegebenen Umständen kaum angebracht ist, diesen Tag besonders zu er­ wähnen. In Zusammenhang mit dieser Weisung des Gen. Molotov hat unsere Presse den drit­ ten Jahrestag unseres Vertrags mit der Tschechoslowakei am 16. Mail nicht hervorgehoben.“ Schreiben des kommissarischen Leiters der 2. Westabteilung, G.I. Vajnštejn, und des Referen­ ten I. Piven’ an Aleksandrovskij, 26. 05. 1938. AVP RF, f. 0138, op. 19, p. 128, d. 2, l. 48. 47 Eingehender siehe Haslam, J.: The Soviet Union and the Czechoslovakian Crisis of 1938. In: Journal of Contemporary History. 1979. Vol. 14, no. 4. S. 441–461. Lukes, I.: Did Stalin Desire War in 1938? A New Look at Soviet Behaviour during the May and September Crisis. In: ­Diplomacy and Statecraft. 1991. Vol. 2. S. 3–53. Pfaff: Die Sowjetunion und die Verteidigung der Tschechoslowakei 1934–1938, S. 281–301. 48 Siehe Schreiben Litvinovs an Aleksandrovskij vom 25. 05. 1938. In: Novye dokumenty iz isto­ rii Mjunchena [Neue Dokumente aus der Geschichte Münchens]. Moskva 1958, Dok. 14, S. 41. Es ist schwer zu sagen, ob die Maikrise einen Diskussionsgegenstand im Kreml bildete, jedenfalls wurden weder Litvinov noch Potemkin in der letzten Dekade dieses Monats in den Kreml einbestellt. Siehe Černobaev (Hg): Na prieme u Stalina S. 236–237.

192   Sergej Slutsch Seite stets als bequeme Entschuldigung verwendet werden könnte“.49 Als Cou­ londre Ende Mai im Auftrag Bonnets Potemkin mit der Frage „der Notwendig­ keit, sich mit der UdSSR und der Tschechoslowakei auf gemeinsame Schritte im Falle eines deutschen Angriffs zu verständigen“ konfrontierte, hatte der Stellver­ tretende Volkskommissar darauf „nicht reagiert, weil wir diesbezüglich vorerst über keine Direktive verfügen“.50 Allem Anschein nach beschloss Litvinov – dem die mehr als doppeldeutige Situation bewusst war, die infolge dieser Reaktion auf den Pariser Vorschlag entstanden war und die sich zudem mit der passiven ­Haltung der UdSSR im Zuge der „Maikrise“ überlagerte – entgegenkommende Schritte in eine weniger verbindliche Richtung einzuleiten, und zwar Richtung Polen. In einem Memorandum für Stalin verwies er darauf, dass Warschau seine Absicht nicht verberge, eine Aggression Deutschlands gegenüber der Tschechoslo­ wakei zu nutzen, um einen Teil von deren Territorium abzutrennen, was eine di­ rekte Hilfe für Berlin darstellen würde. Nach Ansicht des Volkskommissars, könne die UdSSR „mit einer entsprechenden Drohung eine Intervention Polens ver­ eiteln“,51 man solle aber vorher in Paris anfragen, ob Frankreich sich in einem solchen Fall angesichts des bestehenden franko-polnischen Bündnisvertrags als Alliierter Polens betrachten würde. Hier drängt sich naturgemäß eine Frage auf: Warum bringt die Führung des NKID, als der französische Diplomat über die Notwendigkeit der trilateralen Erörterung gemeinsamer Aktionen im Falle eines deutschen Angriffs zu sprechen beginnt, ein neues Element in den reichlich schleppenden sowjetisch-französischen Dialog ein, ohne darauf eine Antwort zu geben? Litvinov erklärt den komplexen Sinn einer derartigen Anfrage an die fran­ zösische Regierung, die „in die Presse durchsickern soll“ mit der Absicht, Polen einzuschüchtern, die Festigkeit des franko-polnischen Bündnisses abzuklären und „der Tschechoslowakei einen gewissen, zumindest diplomatischen Beistand zu er­ weisen“. Aber wesentlich sei etwas anderes: „Derzeit schreibt die gesamte auslän­ dische Presse, dass es vorerst gelungen sei, Europa dank der Aktivitäten Englands und zum Teil auch Frankreichs einen Krieg zu ersparen [im Zuge der „Maikrise“, S. S.]. Es ist erforderlich, uns auch an uns selbst zu erinnern.“ 52 [Unterstreichung von mir, S. S.] 49 Der

Botschafter in Moskau Graf von der Schulenburg an das Auswärtige Amt, 30. 05. 1938. In: ADAP, Serie D, Bd. II, Dok. 222, S. 286. Hitlers Ansicht war: „Russland: wird sich nicht beteili­ gen, nicht für Angriffskrieg geeignet“. Siehe Aufzeichnung General Becks über die Rede Hit­ lers vor den führenden Persönlichkeiten des Auswärtigen Amts und der Wehrmacht am 28. Mai 1938 hinsichtlich einer Aktion gegen die Tschechoslowakei, vom 28. Mai 1938. In: Müller, Klaus-Jürgen: Armee und Drittes Reich. 1933–1939. Darstellung und Dokumentation. Paderborn 1987, S. 334. 50 Auszug aus einem Telegramm Potemkins an Suric, 29. 05. 1938. Siehe DVP, t. XXI, S. 716, Anm. 77. Leider sahen sich die Bearbeiter des Bandes außerstande, die Aufzeichnung des Ge­ sprächs Potemkins mit Coulondre oder den gesamten Text von Potemkins Telegramm an Su­ ric zu veröffentlichen. 51 Wie sich einige Monate später herausstellte, verfügte Moskau über keine solchen Möglichkei­ ten (siehe unten). 52 Schreiben Litvinovs für Stalin, 29. 05. 1938. RGASPI, f. 17, op. 166, d. 590, l. 7. Der Vorschlag wurde gebilligt. Siehe Beschluss des Politbüros vom 04. 06. 1938, pr. 62, p. 13. Sondermappe.

Die Sowjetunion und die Sudetenkrise   193

Moskau erhielt eine durchaus zufriedenstellende Antwort auf seine Anfrage in  Paris. Sollte demnach Polen – trotz seiner Beteuerungen hinsichtlich einer Neutralitätspolitik im Falle eines deutschen Überfalls auf die Tschechoslowakei – diese dennoch angreifen, würde Frankreich seinen Bündnisvertrag mit Polen als „nicht länger gültig“ betrachten.53 Man sollte meinen, das Narkomindel hätte in einer derartigen Situation und angesichts seines Plans, Druck auf Warschau aus­ zuüben, daran erinnern müssen, dass es im sowjetisch-polnischen Nichtangriffs­ vertrag von 1932 den Artikel II gab, der das Recht auf Aufkündigung des Vertrags einräume, falls eine der Parteien eine Aggression gegenüber einem Drittstaat ver­ üben sollte.54 Dies geschah jedoch nicht. Mehr noch, praktisch zum selben Zeit­ punkt erläuterte Litvinov dem französischen Botschafter die Position der UdSSR im Falle eines polnischen Angriffs auf die Tschechoslowakei: Bei einer solchen Entwicklung der Ereignisse verpflichte der sowjetisch-tschechoslowakische Ver­ trag die UdSSR nicht dazu, der Tschechoslowakei zu Hilfe zu kommen, weil darin mit dem Aggressor einzig und allein Deutschland gemeint sei.55 Indem es also Paris dazu veranlasste, seine Position in Bezug auf Polen zumindest verbal klar­ zustellen – worüber Prag unverzüglich in Kenntnis gesetzt wurde56 – bewahrte Moskau vollständig freie Hand gegenüber Berlins „Juniorpartner“ bei einer even­ tuellen Aggression.

Sowjetisches Appeasement Eine bemerkenswerte Situation ergab sich auch bei der Frage der Gewährung konkreten Beistands für die Tschechoslowakei im Falle eines deutschen Angriffs. In Paris und Prag dachte man, diese Angelegenheit sei von den sowjetischen und französischen Militärs zu erörtern.57 In Moskau vertrat man die Ansicht, dass dies Ebenda, l. 6. Siehe auch Telegramm Litvinovs an den Geschäftsträger der UdSSR in Frank­ reich, E.V. Girschfel’d, 05. 06. 1938. In: DVP, t. XXI, Dok. 216, S. 309–310. Eine Kopie des Tele­ gramms erging an Aleksandrovskij zur Unterrichtung der tschechoslowakischen Regierung. 53 Siehe Aufzeichnung des Gesprächs Aleksandrovskijs mit Krofta, 13. 06. 1938. In: DVP, t. XXI, Dok. 231, S. 332. 54 Siehe Nichtangriffsvertrag zwischen der UdSSR und der Republik Polen vom 25. 07. 1932. In: DVP, t. XV, Dok. 300, S. 438. 55 Siehe Gespräch Litvinovs mit Coulondre, 13. 06. 1938. AVP RF, f. 05, op. 18, p. 138, d. 6, l. 58. In einem Gespräch mit dem Leiter des Führungsstabs der tschechoslowakischen Armee, L. Krejčí, Ende Juli legte Aleksandrovskij die eventuellen Handlungen der UdSSR im Falle eines polnischen Angriffs auf die Tschechoslowakei anders aus, indem er erklärte, dass es „aus Sicht unserer internationalen Verpflichtungen keinen Unterschied macht, wer der Aggressor ist. Wenn wir feststellen, dass es einen Aggressor gibt, werden wir gegen jegliche Agression kämp­ fen und unsere Verpflichtungen akkurat erfüllen.“ Siehe Aufzeichnung Aleksandrovskijs. AVP RF, f. 05, op. 18, p. 149, d. 168, l. 147. Eintrag vom 28. 07. 1938. 56 Siehe Anm. 53. 57 In diesem Zusammenhang mutet es ziemlich seltsam an, wenn V.S. Christoforov unter Be­ rufung auf ein unbenanntes Archivdokument behauptet, „der Botschafter Frankreichs in der UdSSR, R. Coulondre, [habe] in Gesprächen mit Litvinov im Sommer 1938 vorgeschla­ gen, die Frage des militärischen Beistands für die Tschechoslowakei nicht zu prüfen“. Siehe

194   Sergej Slutsch auf Ebene der Vertreter der Generalstäbe der drei Länder diskutiert werden solle. Auf den ersten Blick sieht die Position der sowjetischen Führung logischer aus, da sie die Erarbeitung und Abstimmung des Zusammenwirkens aller beteiligten Par­ teien bei militärpolitischen und rein militärischen Maßnahmen umfasste und nicht nur die Unterrichtung Prags über die bei den sowjetisch-französischen Ver­ handlungen getroffenen Entscheidungen. Das Problem war ein anderes – nämlich inwieweit der von den Diplomaten verkündete Vorschlag die tatsächlichen Ab­ sichten der sowjetischen Führung widerspiegelte. In dieser Hinsicht bestehen ge­ wisse Zweifel, obwohl die Spärlichkeit der zur Verfügung stehenden Dokumente keine allzu kategorischen Schlussfolgerungen zulässt. Und dennoch… Diese Fra­ ge wurde in einem Schreiben Litvinovs an den Bevollmächtigten Vertreter in der Tschechoslowakei ausführlich und offen angesprochen: „ Ich verstehe die tsche­ chische Regierung durchaus, wenn sie nicht wünscht, konkrete Fragen hinsicht­ lich unseres Beistands früher als Frankreich aufzuwerfen. Wir könnten ihr auch keine Antwort geben, zumal wir vorläufig nicht wissen, ob und wie Frankreich zu Hilfe kommen wird, da unser Beistand vom französischen Beistand abhängt. Wir sind allerdings der Auffassung, dass ein Herantreten Frankreichs an uns ebenfalls keine wünschenswerten Ergebnisse zeitigen würde und dass die Probleme un­ bedingt zwischen den Vertretern der Generalstäbe Frankreichs, der Tschechoslo­ wakei und der Sowjetunion erörtert werden sollten. Wir werden uns mit solchen Gesprächen nicht aufdrängen und Sie sollten die Frage nicht aufwerfen“, instru­ ierte der Volkskommissar Aleksandrovskij, „sondern nur das oben Ausgeführte erläutern, sollte man offiziell an Sie herantreten“ 58 [Unterstreichung von mir, S. S.]. Auch hier ist – wie in etlichen anderen bereits erwähnten Dokumenten – das offensichtliche Bestreben der Stalin’schen Führung evident, sich an keinerlei konkreten Aktivitäten zu beteiligen, die mit der sich vertiefenden tschechoslowa­ kischen Krise verbunden waren. Eine am 23. Juni vor Wählern in Leningrad gehaltene Rede Litvinovs bestätigt diese Schlussfolgerung in nicht geringem Maße. Neben allerlei abgedroschenen Phrasen – der sowjetisch-tschechoslowakische Pakt sei „der bedeutendste, wenn nicht der einzig bedeutende Faktor, der die Atmosphäre rund um die Tschecho­ slowakei entspannt“ – erinnerte der Volkskommissar nach einer Kritik an der Po­ litik der Westmächte59 daran, dass – da der jüngste Appell der UdSSR (17. März) Christoforov: Mjunchenskoje soglašenije, S. 30. Nebenbei bemerkt findet sich weder in den Dokumentensammlungen, die die Vorgeschichte des Münchener Abkommens beleuchten, noch in Band XXI der „Dokumente zur Außenpolitik der UdSSR“ auch nur eine einzige Auf­ zeichnung eines der Gespräche Litvinovs mit Coulondre vom Sommer 1938, obwohl sie ein­ ander – wie Archivdokumente belegen – wiederholt getroffen haben. 58 Schreiben Litvinovs an Aleksandrovskij, 11. 06. 1938. AVP RF, f 0138, op. 19, p. 128, d. 1, l. 38– 39. 59 Als er Aleksandrovskij seine Instruktionen erteilte, wies Litvinov auf die Notwendigkeit hin, „den Geist der Tschechoslowaken und ihre Resistenz gegenüber diesem Druck […] vonseiten Englands und Frankreichs […] zu stärken. Sie sollten allerdings nicht aus den Augen verlie­ ren“, betonte der Volkskommissar, „dass wir an Versuchen, die sudetendeutsche Frage auf ge­ waltsame Weise zu lösen, keineswegs ein Interesse haben und dass wir uns nicht im Entfern­

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zur Ergreifung kollektiver Maßnahmen, um der Aggression entgegenzuwirken, bei den anderen Staaten keinen Widerhall gefunden habe – „zumindest die sowje­ tische Regierung die Verantwortung für die weitere Entwicklung der Ereignisse niedergelegt hat“.60 Anfang Juli erhielt die Frage der Militärverhandlungen eine noch eindrucks­ vollere Schattierung. Fierlinger informierte Litvinov über eine Unterredung des Gesandten der ČSR in Frankreich mit Bonnet, in deren Verlauf es um Militärver­ handlungen mit der UdSSR gegangen war. Der Außenminister habe geantwortet, dass im Lichte „der erfolgreichen Zusammenarbeit zwischen England und Frank­ reich solche Verhandlungen derzeit nicht aktuell“ seien. In diesem Zusammen­ hang fragte Fierlinger Litvinov, ob die Sowjetunion bereit sei, solche Verhandlun­ gen auf bilateraler Basis mit der Tschechoslowakei zu führen, d. h. er betonte auf diese Weise das unzweifelhafte Interesse seiner Führung an derartigen Verhand­ lungen, was eine Abkehr von der kurz zuvor von Edvard Beneš im Gespräch mit Aleksandrovskij vom 18. Mai dargelegten Position bedeutete.61 Die Reaktion ­Litvinovs war unverändert: „[ …] das liegt im Zuständigkeitsbereich unseres ­Militärressorts, welches, soweit ich weiß, bislang auf dem Standpunkt trilateraler Verhandlungen verharrt und mir ist nicht bekannt, dass es von diesem Stand­ punkt abgegangen wäre“.62 Nachdem es nicht auf bilaterale Militärverhandlungen mit der Tschechoslowa­ kei eingegangen war, intensivierte Moskau zugleich jäh den Abschluss etlicher Vereinbarungen mit der Firma „Škoda“ über die Lieferung verschiedener Typen von Kriegsgerät, die Entwicklung von Artilleriesystemen für die Seestreitkräfte und die Gewährung technischer Unterstützung auf dem Gebiet der Metallurgie. testen gegen Maßnahmen aussprechen sollten, die unter Bewahrung der vollständigen politi­ schen Unabhängigkeit der Tschechoslowakei die Möglichkeit eröffnen, die Atmosphäre zu entspannen und die Gefahr einer militärischen Konfrontation abzuwenden.“. Ebenda, l. 39. Es ist äußerst symptomatisch, dass Litvinov dabei sowohl die Notwendigkeit der Unterstützung Prags in seinem Widerstand gegenüber dem Druck vonseiten Berlins als auch die Verteidi­ gung des Prinzips der territorialen Integrität der Tschechoslowakei außer Acht ließ. 60 Litvinov, M.M.: K sovremennomu meždunarodnomu položeniju [Zur derzeitigen internatio­ nalen Lage]. Moskva 1938, S. 20–23. Der gemäßigte Ton dieser Rede wurde auch vom deut­ schen Botschafter von der Schulenburg registriert, der in gar den Versuch entdeckte „eine sachliche Einstellung zur Politik des Dritten Reichs zu finden“. Schulenburg an das AA, 27. 06. 1938. In: ADAP, Serie D, Bd. I, Dok. 627, S. 750. Einige Aussagen Litvinovs über die ­Situation rund um die Tschechoslowakei, die sich offensichtlich nicht in allem in die jüngste Interpretation der Politik der UdSSR einfügten, haben dazu geführt, dass der Text dieser Rede des Volkskommissars für Auswärtige Angelegenheiten nach 1938 niemals in vollem Wortlaut veröffentlich wurde. 61 Siehe Anm. 43. 62 Aufzeichnung Litvinovs. AVP RF, f. 05, op. 18, p. 138, d. 6, l. 73. Eintrag vom 04. 07. 1938. Nach seiner Rückkehr nach Prag stellte Fierlinger die Sache so dar, als sei die Initiative zur Durch­ führung bilateraler Verhandlungen über eine militärische Zusammenarbeit von der sowjeti­ schen Seite ausgegangen. Aleksandrovskij musste nach Erhalt der Aufzeichnung des Gesprächs zwischen Litvinov und Fierlinger Letzteren umgehend desavouieren. Siehe Schreiben Alek­ sandrovskijs an Litvinov, 14. 07. 1938. AVP RF, f. 05, op. 18, p. 149, d. 168, l. 125–127; Aufzeich­ nung des Gesprächs Aleksandrovskijs mit Krofta vom 14. 07. 1938. Ebenda, l. 134–139.

196   Sergej Slutsch Zu diesem Zweck begaben sich im Frühjahr und Sommer 1938 verschiedene Gruppen von sowjetischen Experten sowie eine vom Armeekommandeur 1. Ran­ ges Grigorij Kulik angeführte Militärdelegation in die Tschechoslowakei, um sich über neue Gattungen von Bodenwaffen sowie über die Strukturen im Flugzeug­ bau und bei der Nachrichtenübermittlung zu informieren. Dabei betonten die hochrangigen Militärs in Prag, dass „von tschechoslowakischer Seite alles irgend Mögliche getan werden wird, um eine praktische Zusammenarbeit zu organisie­ ren, bei der es keinerlei Grenzen und Hindernisse gibt. […] Allerdings erwartet die tschechoslowakische Armee, dass auch vonseiten der UdSSR die gleiche offenfreundschaftliche Einstellung an den Tag gelegt wird. […] Das Problem besteht nicht nur darin, dass die Tschechoslowakei das gibt, was die UdSSR brauchen könnte, obwohl sie auch das auch ohne Vorbehalt tun wird, sondern in der Verei­ nigung dessen, was die UdSSR und die Tschechoslowakei haben, zu einem har­ monischen Ganzen, das beiden Ländern helfen würde, die Kraft ihres Widerstand gegen einen möglichen Angriff zu erhöhen.“63 Auch Ende Juli hatte sich an dieser Position der militärischen und politischen Führer der Tschechoslowakei – ungeachtet der Bemühungen Moskaus, eine bila­ terale Zusammenarbeit auf militärischem Gebiet zu vermeiden – im Grunde nichts geändert: „Tatsache bleibt bei alledem, dass sowohl Beneš als auch Krejčí sichtlich nicht gewillt sind, sich bei den Angelegenheiten mit den Škoda-Werken lange aufzuhalten“, teilte Aleksandrovskij mit, „sondern die praktische Arbeit fortsetzen [wollen], in erster Linie auf dem Gebiet der Luftfahrt“.64 Es ist offen­ sichtlich, dass dem Kreml die Entwicklung in diese Richtung nicht genehm war. Daher musste eine neue Begründung sowohl für seine fehlende Beteiligung an der großen europäischen Politik als auch für die Vermeidung der praktischen Zusammen­arbeit mit der Tschechoslowakei auf militärischen Gebiet gefunden werden. Der bewaffnete Konflikt mit Japan im Gebiet des Chasan-Sees Ende Juli und in der ersten Augusthälfte 1938 bot der sowjetischen Diplomatie vor dem Hinter­ grund der sich verschärfenden tschechoslowakischen Krise beträchtlichen Spiel­ raum für Manöver. Mit Blick auf die Ereignisse im Fernen Osten erhielten die Bevollmächtigten Vertreter in Paris, Prag und London aktualisierte Anweisungen. So wurde Suric einerseits geraten, dass „in den Gesprächen mit englischen, fran­ zösischen und anderen Diplomaten nicht mit übertriebenem Optimismus über die Eindämmung des Konflikts und das Nichtvorhandensein einer Kriegsgefahr gesprochen werden soll, da derlei Gerede umgehend den Japanern mitgeteilt wird, denen wir weiterhin drohen sollten, anstatt sie zu beruhigen“,65 und andererseits auf eventuelle Fragen „zum Einfluss der Ereignisse im Fernen Osten auf die Lö­

63 Schreiben

Aleksandrovskijs an Litvinov, 25. 05. 1938. Ebenda, l. 47–48. Aleksandrovskijs an Litvinov, 14. 07. 1938. Ebenda, l. 127. 65 Allem Anschein nach hat sich Litvinov hier verstellt. Der Sinn dieser Anweisung hing viel­ mehr mit dem Bestreben zusammen, den Eindruck anhaltender Spannungen im Fernen Os­ ten zu erzeugen, die angeblich die Aktivitäten der UdSSR in Europa objektiv einschränkten.

64 Schreiben

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sung der tschechoslowakischen und anderer europäischer Probleme geantwortet werden kann, dass England und Frankreich gleichsam die Vormundschaft über die Tschechoslowakei übernommen haben, sich beraten und Entscheidungen treffen, ohne uns zu fragen und anscheinend unserer Hilfe nicht bedürfen“.66 Die an Aleksandrovskij übermittelten Instruktionen enthielten deutlichere Formulie­ rungen und ließen keinerlei Raum für Mutmaßungen hinsichtlich der Position der UdSSR zur tschechoslowakischen Krise. Litvinov schrieb: „Natürlich sind wir außerordentlich daran interessiert die Unabhängigkeit der Tschechoslowakei zu erhalten und Hitlers Drang nach Südosten zu bremsen, aber ohne die Westmäch­ te können wir kaum etwas unternehmen, und Letztere halten es nicht für nötig, sich um unsere Mitwirkung zu bemühen, ignorieren uns und machen alles, was den deutsch-tschechoslowakischen Konflikt betrifft, unter sich aus.“ Ungeachtet dessen sei die Sowjetunion bereit, bei der Lösung des tschechoslowakischen Pro­ blems mitzuwirken, wobei Litvinov allerdings erneut wiederholte,67 „wir selbst werden uns für diese Mitwirkung nicht aufdrängen und schon gar nicht darum bemühen. […] In den Gesprächen mit Beneš können Sie sich von diesen allgeme­ inen Überlegungen leiten lassen“, fasste der Volkskommissar zusammen, „freilich ohne unser Desinteresse an den europäischen Angelegenheiten allzu stark zu be­ tonen“.68 Schließlich teilte der Bevollmächtigte Vertreter in London, I.M. Majskij, in Anbetracht sowohl der Rolle Großbritanniens bei der Entwicklung der Krise rund um die Tschechoslowakei als auch des Zustands der anglo-sowjetischen Be­ ziehungen – die nicht zu übermäßig dipomatischem Vorgehen verpflichteten – Außenminster E. Halifax ohne Umschweife mit: „Die sowjetische Regierung [im russ. Original: Sovpra] ist der Ansicht, dass das Schickal der ČS [Tschechoslowa­ kei] sich voll und ganz in den Händen der ‚westlichen Demokratien‘ befindet [Unterstreichung von mir, S. S.]. Wenn England und Frankreich eine harte Hal­ tung gegenüber Deutschland einnehmen wollen und können, wird die ČS gerettet und der europäische Friede auf lange Zeit gewährleistet sein.“69 Weniger offensichtlich war die Position der UdSSR gegenüber dem nationalso­ zialistischen Deutschland. Im Verlauf des Sommers 1938 sprachen die Führungs­ persönlichkeiten des Narkomindel lediglich zweimal Ende August mit dem deut­ schen Botschafter in Moskau, Friedrich-Werner Graf von der Schulenburg, noch dazu beide Male auf dessen Initiative. Obwohl bei der Begegnung mit Potemkin 66 Schreiben

Litvinovs an Suric, 09. 08. 1938. AVP RF, f. 05, op. 18, p. 148, d. 158, l. 55–56 Anm. 58 68 Schreiben Litvinovs an Aleksandrovskij, 11. 08. 1938. AVP RF, f. 0138, op. 19, p. 128, d. 1, l. 53– 54. 69 Pozdeeva, L.V. u. a. (sost.)/Čubar’jan, A.O. (otv. red.): Majskij, I.M. Dnevnik diplomata. Lon­ don 1934–1943: V 2 kn. [Tagebuch eines Diplomaten. London, 1934–1943. In 2 Bd.]. Moskva 2006, kn. 1, S. 250. Eintrag vom 17. 08. 1938. In einem am 17. August an das NKID gerichteten Telegramm, in dem der Inhalt des Gesprächs mit Halifax dargelegt wird, ist diese Passage ­etwas anders formuliert: „Wir […] sind der Ansicht, dass das Schicksal der Tschechoslowakei in erster Linie davon abhängt, ob England und Frankreich es in dieser kritischen Stunde fer­ tigbringen werden, eine harte Haltung gegenüber dem Aggressor einzunehmen“ [Unterstrei­ chung von mir, S. S.]. In: DVP, t. XXI, Dok. 300, S. 436. 67 Siehe

198   Sergej Slutsch auch die tschechoslowakische Krise angesprochen wurde, fand in der sowjetischen Aufzeichnung des Gesprächs nur die Position des deutschen Diplomaten ihren Niederschlag. Sollte sich, so seine Ansicht, die Mission Lord Runcimans als ergeb­ nislos erweisen und Prag nicht auf die von ihm geforderten Zugeständnisse in der sudetendeutschen Frage eingehen, so „könnten nolens volens Faktoren nicht der Überzeugung, sondern des Zwanges zu wirken beginnen. In diesem Fall, erklärt Schulenburg, dürfe ein Übergang Deutschlands zum Angriff keinesfalls, als ein ‚unprovozierter Überfall auf die Tschechoslowakei‘ betrachtet werden.“70 Allem Anschein nach vermied es Potemkin, die Schritte der UdSSR bei einer derartigen Entwicklung der Ereignisse zu beschreiben. Zwei Tage später fand eine lange Un­ terredung Litvinovs mit Schulenburg statt. Die Position, die der Volkskommissar in ihrem Verlauf einnahm, ist aus seinem lakonischen Telegramm an Aleksan­ drovskij und den Bevollmächtigten Vertreter in Deutschland, Aleksej Merekalov, bekannt: „Ich habe ihm mit Bestimmtheit gesagt, dass das tschechoslowakische Volk einmütig um seine Unabhängigkeit kämpfen wird, dass Frankreich im Falle eines Angriffs auf die Tschechoslowakei gegen Deutschland Partei ergreifen wird, dass England – ob Chamberlain das will oder nicht – Frankreich nicht ohne Bei­ stand lassen kann und dass auch wir unsere Verpflichtungen gegenüber der Tsche­ choslowakei erfüllen werden.“71 Die detaillierte deutsche Aufzeichnung dieses Gesprächs enthält nicht wenige interessante Äußerungen Litvinovs, die den Hintergrund der sowjetischen Politik in der Zeit der tschechoslowakischen Krise beleuchten. So betonte Litvinov, dass die sudetendeutsche Frage eine interne Angelegenheit der Tschechoslowakei sei, in die sich die UdSSR in keiner Weise eingemischt habe, auch nicht mit dem ­einen oder anderen Ratschlag an die Regierung. Was die Politik Deutschlands ­betreffe, so gehe es überhaupt nicht um die Sudetendeutschen; Berlin würde die Zerschlagung der gesamten Tschechoslowakei anstreben, wobei es diese vorzugs­ weise mit friedlichen Mitteln zu erreichen suche. Sollte es jedoch zum Krieg kom­ men, sei es offensichtlich, dass Deutschland ein unprovozierter Aggressor wäre – mit allen sich für die mit der Tschechoslowakei durch Beistandsverträge verbun­ denen Staaten ergebenden Konsequenzen. Hier ist alles klar, die sowjetische Position deutlich abgesteckt, der springende Punkt richtig erkannt. Ich möchte allerdings auf eine nicht unwichtige Nuance hinweisen: Der deutsche Botschafter 70 Aufzeichnung

des Gesprächs Potemkins mit Schulenburg, 20. 08. 1938. Ebenda, Dok. 302, S. 440. 71 Telegramm Litvinovs an Merekalov und Aleksandrovskij, 22. 08. 1938. Ebenda, Dok. 305, S. 447. In einem Telegramm Kroftas, das Informationen über diese Unterredung enthält und am 25. 08. an die Missionen der ČSR in Frankreich und Großbritannien erging, wird die ­Position Litvinovs als Rat an Schulenburg interpretiert, dass „Berlin die Tschechoslowakei in Ruhe lassen möge, da die UdSSR fest entschlossen ist, ihre Verpflichtungen ihr gegenüber bis zum letzten Buchstaben zu erfüllen“. DMISČO, t. 3, Dok. 320, S. 479. In der deutschen Auf­ zeichnung dieses Gesprächs ist diese Passage nahezu mit der aus dem Telegramm Litvinovs zitierten identisch und enthält keinerlei Empfehlungen an den deutschen Botschafter. Siehe Politischer Bericht von Schulenburg an das AA vom 26. 08. 1938. In: ADAP, Serie D, Bd. II, Dok. 396, S. 502.

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wurde nicht darauf aufmerksam gemacht, dass das Vorhaben der NS-Führung in Bezug auf die Tschechoslowakei rechtswidrig sei, sondern auf die möglichen Kon­ sequenzen, sollte sie dieses mit Hilfe eines Krieges verwirklichen. Auf die Frage Schulenburgs, ob Litvinov tatsächlich glaube, dass die Staaten wegen der Tsche­ chen einen großen Krieg in Europa anfangen würden, hielt ihm der Volkskom­ missar entgegen, es gehe nicht nur so sehr um die Tschechen als vielmehr um den Einfluss auf dem Kontinent. „Die Sowjetunion trage keinerlei Verantwortung für die Schaffung und die Zusammensetzung des tschechoslowakischen Staates; sie hat nicht in Versailles gesessen; dagegen müsse sie jeden Machzuwachs des ge­ walttätigen angriffslustigen Deutschland bekämpfen. Litwinow bemerkte dazu: wenn noch das alte demokratische Deutschland vorhanden wäre, hätte die tsche­ choslowakische Frage für die Sowjetunion ein ganz anderes Gesicht. Die Sowjets seien stets für das Selbstbestimmungsrecht der Völker eingetreten.“72 Man kann sagen, dass Moskau das Potenzial der Appeasement-Politik der Westmächte auf dem diplomatischen Parkett in vollem Umfang ausnutzte. End­ lich hatte man eine bestimmte Nische gefunden, die es ermöglichte, durch Fort­ setzung des bedingungsabhängig isolationistischen Kurses das Gesicht in der tschechoslowakischen Krise zu wahren. Etwas komplizierter verhielt es sich mit den Versuchen Prags, die militärische – und nicht nur die militärtechnische – Zu­ sammenarbeit auszuweiten. Hier kann das konsequente Bestreben der sowjeti­ schen Führung festgestellt werden, einer bilateralen Erörterung aus dem Weg zu gehen, ganz zu schweigen von irgendwelchen Vereinbarungen zwischen Moskau und Prag, insbesondere vor dem Hintergrund der offensichtlich fehlenden Bereit­ schaft Frankreichs, daran teilzunehmen. Die bereits Mitte Juli auf höchster politi­ scher und militärischer Ebene (Beneš, Krejčí) gestellte Frage nach einer Reise des Befehlshabers der Luftstreitkräfte, General Jaroslav Fajfr, nach Moskau73 war ei­ nen Monat später immer noch unbeantwortet, obwohl es in der entstandenen internationalen Lage offensichtlich war, dass – sollte die sowjetische Führung tat­ sächlich gewillt sein, der Tschechoslowakei realen Beistand zu leisten – dies nur auf dem Luftweg geschehen könne. Aleksandrovskij, der diesbezüglich bei den offiziellen Persönlichkeiten in Prag zumindest auf Erstaunen stieß, betrachtete es als erforderlich, seine Haltung in dieser Angelegenheit darzulegen: „Ich würde es für richtig halten, Fajfr dennoch unter allen Umständen zu antworten“, schrieb er an Litvinov, „und, wenn Sie es nötig finden, ihm gleichzeitig unsere Einstellung zum weiteren Ausbau der Zusammenarbeit zwischen den Armeen zu erläutern, die übrigens auch mir nicht genau bekannt ist“.74 Allem Anschein nach hatten Aleksandrovskijs Argumente einen gewissen Ef­ fekt, da Ende August einige tschechoslowakische Generäle die UdSSR besuchen 72 Ebenda. Allem

Anschein nach war diese Offenheit der Aussagen Litvinovs in der Unterredung mit Schulenburg die Ursache dafür, dass ihre sowjetische Aufzeichnung nicht veröffentlicht wurde, obwohl sie ausschließlich dem tschechoslowakischen Problem unter dem internatio­ nalen Aspekt gewidmet war. 73 Schreiben Aleksandrovskijs an Litvinov, 14. 07. 1938. AVP RF, f. 05, op. 18, p. 149, d. 168, l. 126. 74 Schreiben Aleksandrovskijs an Litvinov, 15. 08. 1938. Ebenda, l. 197.

200   Sergej Slutsch konnten, unter ihnen Fajfr und der Chef der Artillerie, Neteka.75 Litvinov maß den Ergebnissen dieser Besuche schon vor deren Beendigung keinerlei auch nur einigermaßen ernsthafte Bedeutung bei. Seiner – und höchstwahrscheinlich nicht nur seiner – Ansicht nach, „sollten wir wissen, wenn wir der Tschechoslowakei zu Hilfe kommen, dass diese Hilfe positive Endergebnisse bringen wird und deshalb müssen wir uns einfach für den Umfang des Beistands interessieren, den Frank­ reich leisten wird“. In diesem Zusammenhang verminderte die Nachricht von dem von Paris versprochenen Beistand durch die Luftflotte keineswegs die Skep­ sis des Volkskommissars, der der Auffassung war, „nur mit der Luftflotte allein kann die Tschechoslowakei nicht kämpfen, selbst wenn sie einen solchen Beistand auch von uns erhält“ [Unterstreichung von mir, S. S.].76 Aus diesen Worten wird deutlich, dass über die Frage, ob man der Tschechoslowakei im Falle eines deut­ schen Angriffs auch nur den seitens der UdSSR einzig möglichen Beistand durch die Luftflotte gewähren sollte, im Kreml nicht entschieden worden war. Aufgrund des fehlenden Zugangs zu den Aufzeichnungen der Gespräche der tschechoslowa­ kischen Vertreter mit der sowjetischen Militärführung ist es unmöglich, auch nur den in deren Verlauf besprochenen Fragenkomplex zu umreißen, geschweige denn die Positionen der einzelnen Parteien. Gleichzeitig ist bekannt, dass Fierlin­ ger im Narkomindel sein Bedauern hinsichtlich des Empfangs ausdrückte, der den tschechoslowakischen Militärs in Moskau bereitet worden sei. So hatte zum Beispiel die Unterredung Fajfrs mit dem Generalstabschef und Kommandeur 1. Ranges, Boris Šapošnikov, „formalen Charakter und erbrachte nichts Konkre­ tes“, was in Prag – nebst anderen derartigen Fakten – als Beweis „des mangelnden Willens, der Tschechoslowakei in der kritischen Phase, die sie durchlebt, wie auch immer geartete Unterstützung zu erweisen“, ausgelegt wurde. Ohne auf die von dem tschechoslowakischen Diplomaten konkret angesprochenen Tatsachen ein­ zugehen, beschränkte sich Potemkin auf die Feststellung, dass „die Antwort, die wir auf die offizielle Anfrage der französischen Regierung hinsichtlich der Mög­ lichkeiten, der Tschechoslowakei seitens der UdSSR Beistand zu leisten, gegeben77 und unverzüglich nach Prag übermittelt haben,78 völlig ausreicht, um die Ver­ leumdung in Bezug auf die Position der UdSSR in der tschechoslowakischen ­Frage zu zerstreuen“.79 Die Substanz dieser Antwort lief auf die wohlbekannten und aufgrund ihres mangelnden Realismus unverbindlichen Vorschläge des Narkomindel hinaus: 75 Aufzeichnung

Litvinovs. Aufzeichnung des Gesprächs mit Fierlinger vom 26. 08. 1938. AVP RF, f. 05, op. 18, p. 138, d. 6, l. 139. 76 Schreiben Litvinovs an Aleksandrovskij, 26. 08. 1938. AVP RF, f. 0138, op. 19, p. 128, d. 1, l. 59– 60. 77 Siehe Aufzeichnung des Gesprächs Litvinovs mit dem Geschäftsträger Frankreichs in der UdSSR, J. Payart, vom 01. 09. 1938. In: Dokumenty po istorii mjunchenskogo sgovora, Dok. 107, S. 185–186. 78 Siehe Telegramm Litvinovs an Aleksandrovskij, 02. 09. 1938. In : DVP, t. XXI, Dok. 324, S. 470– 471. 79 Aufzeichnung Potemkins. Gespräch mit Fierlinger, 09. 09. 1938. AVP RF, f. 0138, op. 19, p. 128, d. 1, l. 62–63.

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a) Anwendung der Mechanismen des Völkerbunds und seiner Satzung; b) Durch­ führung einer Konferenz von Vertretern der sowjetischen, tschechoslowakischen und französischen Armee; c) Einberufung einer Konferenz von Repräsentanten Englands, Frankreichs und der UdSSR und Verabschiedung einer gemeinsamen Er­ klärung, was „größere Chancen hat, Hitler von einem militärischen Abenteuer ab­ zuhalten, als jegliche andere Maßnahmen“.80 Als er die offizielle Antwort an Paris approbierte,81 war Stalin zweifellos bewusst, wie die Reaktion der Westmächte, vor allem Londons,82 ausfallen würde und wahrscheinlich aus diesem Grund wurden die Direktiven für Litvinov, der kurz vor seiner Abreise zur Konferenz des Völker­ bunds in Genf stand, zur gleichen Zeit festgelegt. Sie erwiesen sich übrigens offenbar schon bald als überflüssig, besonders nachdem der Besuch des englischen Premier­ ministers Neville Chamberlain bei Hitler in Berchtesgaden bekannt geworden war. Bereits nach dem ersten Besuch Chamberlains bei Hitler am 15. September so­ wie nach den anglo-französischen Verhandlungen in London vom 18. September, an denen die Premierminister, die Außenminister und etliche andere Minister teilnahmen und in deren Verlauf man eine gemeinsame Position hinsichtlich der Tschechoslowakei ausgearbeitet und entsprechende Vorschläge übermittelt hatte,83 war die Situation für Moskau weitaus einfacher geworden. Dies umso mehr, als die westlichen Diplomaten vor dem Hintergrund der Nötigung der Tschechoslo­ wakei zur Kapitulation vor dem nationalsozialistischen Deutschland versuchten, ihr Gesicht zu wahren und die Nachricht aufzubauschen begannen, an der ent­ standenen Situation sei die UdSSR mitschuldig. Von ihr sei eine Bestätigung ihres Beistands für Prag erwartet worden, sie sei jedoch über den Rahmen von Vor­ schlägen für diplomatische Aktionen nicht hinausgegangen, hieß es.84 Neben den von Chamberlain in die Tat umgesetzten und auf ihrem Höhepunkt befindlichen „Appeasement“-Aktivitäten gegenüber dem nationalsozialistischen Deutschland erleichterte eine derartige Entwicklung der Ereignisse – obgleich sie keinerlei Ein­ fluss auf das Schicksal der Tschechoslowakei ausübte – in den beiden der Mün­ chener Konferenz vorausgehenden Wochen die Aufgabe der sowjeti­schen Diplo­ matie und erlaubten es ihr sogar, auf der diplomatisch-propagandistischen Front zum Angriff überzugehen. 80 Siehe

Anm. 78. Antwort auf die offizielle Anfrage der französischen Regierung wurde unter Teilnahme einiger Mitglieder des Politbüros und Litvinos in der Nacht vom 1. auf den 2. September im Kreml diskutiert. Siehe Černobaev (Hg): Na prieme u Stalina, S. 239. Leider konnte der im Narkomindel ausgearbeitete Entwurf der Antwort nicht eingesehen werden. 82 Die abschlägige Antwort Londons wurde Litvinov am 11. September in Genf von Bonnet aus­ gehändigt, der dabei zu verstehen gab, dass man nichts machen könne und keinerlei neue Vorschläge vorlegte. Siehe Telegramm Litvinovs an das NKID, 11. 09. 1938. In: DVP, t. XXI, Dok. 343, S. 487–488. 83 Erklärung der Regierungen Großbritanniens und Frankreichs gegenüber der Regierung der ČSR vom 19. 09. 1938. In: Dokumenty po istorii mjunchenskogo sgovora. Dok. 138, S. 228–230. 84 Siehe Aufzeichnung des Gesprächs Potemkins mit Fierlinger, 15. 09. 1938. In: DVP, t. XXI, Dok. 349, S. 494–495 sowie Telegramm Potemkins an Litvinov, 15. 09. 1938. Ebenda, Dok. 350, S. 495–496. 81 Die

202   Sergej Slutsch Am 17. September informierte Litvinov im Vorfeld seiner Rede auf der Völker­ bundversammlung das Narkomindel über seine Absicht, die Substanz der sow­ jetischen Antwort auf die offizielle Anfrage der französischen Regierung vom 1. September publik zu machen. Auf Grundlage einer Notiz Potemkins wurde im Politbüro ein entsprechender Beschluss gefasst, der diesen Vorschlag sanktionier­ te.85 Im Endeffekt verurteilte Litvinov nicht nur die Politik – freilich nicht ge­ nannter – aggressiver Staaten, sondern kritisierte auch scharf die Politik des nach­ sichtigen Umgangs mit der Verletzung internationaler Verträge, der fruchtlosen Verhandlungen mit denjenigen, die sie verletzten, des Verzichts auf strenge Sank­ tionen gegenüber dem Aggressor und der geheimen Abmachungen mit diesem. Nachdem er die Notwendigkeit betont hatte „zuerst alle Maßnahmen zur Verhin­ derung eines bewaffneten Konfliktes auszuschöpfen“, prophezeite Litvinov, dem wohl bewusst war, dass es wegen der Tschechoslowakei höchstwahrscheinlich zu keinem Krieg kommen würde: „Heute einen problematischen Krieg vermeiden und morgen einen wahrhaften und allumfassenden Krieg bekommen, noch dazu um den Preis der Befriedigung des Appetits unersättlicher Aggressoren und der Zerstörung und Verstümmelung souveräner Staaten, heißt nicht, im Geist des Völkerbundvertrags handeln.“86 Man muss Litvinov Anerkennung zollen, der vor dem Hintergrund der sich dy­ namisch entwickelnden und äußerst folgenschweren Ereignisse in Europa nicht nur der passive – wenn auch begabte – Weiterleiter der Stalin’schen Instruktionen blieb. Ermutigt durch die Einschätzung seiner eben erst in Genf gehaltenen Rede,87 übermittelte er der sowjetischen Führung am 23. September eine Reihe von Vor­ schlägen, wobei er sie davon zu überzeugen suchte, dass Hitler aufgehalten werden müsse, dass aber „keine Erklärungen, auch keine gemeinsamen, oder Konferenzen“ dafür noch geeignet seien: „Erforderlich sind überzeugendere Beweise“ für „die Möglichkeit eines gemeinsamen sowjetisch-französisch-englischen Auftretens ge­ gen ihn“. Zum Zwecke der Verhinderung eines europäischen Krieges (hier trug Lit­ vinov höchstwahrscheinlich bewusst dick auf, hatte er doch noch zwei Tage zuvor von einem „heute problematischen Krieg“ gesprochen), so schrieb er, „stelle ich die Frage, ob wir nicht zumindest eine Teilmobilmachung ausrufen und in der Presse eine derartige Kampagne durchführen sollten, was Hitler und Beck dazu zwingen würde, an die Möglichkeit eines großen Krieges mit unserer Beteiligung zu glauben“.88 Die Reaktion Stalins auf diesen Vorschlag war eindeutig negativ.89 85 Siehe

Notiz Potemkins für Stalin vom 17. 09. 1938 sowie Beschluss des Politbüros des ZK der VKP(b), pr. 64, p. 26 vom 17. 09. 1938. Sondermappe. RGASPI, f. 17, op. 166, d. 592, l. 12,11. 86 Rede Litvinovs vor der Völkerbundsversammlung, 21. 09. 1938. In: DVP, t. XXI, Dok. 357, S. 509. 87 In einem am 22. September an Litvinov nach Genf verschickten Telegramm schrieb Stalin: „Die Rede ist Ihnen hervorragend gelungen“. RGASPI, f. 558, op. 11, d. 58, l. 54. 88 DVP, t. XXI, Dok. 369, S. 520. Das Telegramm wurde allem Anschein nach gekürzt veröffent­ licht. 89 „Nein!“ schrieb Stalin an den Rand von Litvinovs Telegramm. Siehe Bonwetsch, B./Kudrjašov, S.: Sovetskij Sojuz, Stalin i Germanija v 1933–1941 gg: Dokumenty iz Archiva Prezidenta Ros­ sijskoj Federacii. In: Vestnik Archiva Prezidenta Rossijskoj Federacii: SSSR-Germanija. 1933– 1941 [Die Sowjetunion, Stalin und Deutschland in den Jahren 1933–1941. Dokumente aus

Die Sowjetunion und die Sudetenkrise   203

Die Hinweise mancher Historiker auf Mobilmachungsmaßnahmen in etlichen Militärbezirken der UdSSR im letzten Septemberdrittel sowie auf Manöver in der Nähe der Grenze zu Polen – als angeblich entscheidender Beleg für die Bestre­ bungen des Kreml, der Tschechoslowakei realen, über den Rahmen der vertragli­ chen Verpflichtungen hinausgehenden Beistand zu leisten – können nicht als Ar­ gument (geschweige denn als einziges Argument!) für die Existenz weder des ent­ sprechenden politischen Willens noch der für dessen Umsetzung erforderlichen Möglichkeiten und Entscheidungen dienen. Was nun die eigentlichen Mobil­ machungsmaßnahmen und selbst die Durchführung von Manövern betrifft, so ­waren diese Maßnahmen der sowjetischen Führung ohne vorhergehende Lösung der politischen Probleme (Durchmarsch der Truppen durch das Territorium Po­ lens und Rumäniens oder zumindest Einräumung des Rechts auf Nutzung ihres Luftraums zur Luftunterstützung der Tschechoslowakei) sowie die Koordination der Aktivitäten der Generalstäbe usw. lediglich demonstrative Aktionen, die einen rein politischen Hintergrund hatten. Sie erzielten keinen auch nur einigermaßen erkennbaren Effekt und richteten sich zudem ausschließlich an die Adresse Po­ lens, aber keineswegs Deutschlands. Damit meine Schlussfolgerungen nicht „zu­ mindest seltsam“90 erscheinen, werde ich versuchen, meinen Standpunkt etwas ausführlicher zu begründen. Die Veröffentlichungen operativer Dokumente, die sich auf diese militärischen Maßnahmen beziehen, erfüllen leider nicht die an wissenschaftliche Publikatio­ nen gestellten Ansprüche, was kein absolut sicheres Urteil über ihre Vollständig­ keit zulässt.91 Was geht nun aus den bereits publizierten Texten der Dokumente hervor? Erstens: Es handelte sich um die Abhaltung großer Manöver des Sonder­ militärbezirks Kiev in unmittelbarer Nähe der sowjetisch-polnischen Grenze ab 24. September.92 Zweitens: Es ging um das Vorrücken von acht Schützen-, zwei dem Archiv des Präsidenten der Russischen Föderation. In: Mitteilungen des Archivs des Prä­ sidenten der Russischen Föderation. UdSSR-Deutschland. 1933–1941]. Moskva 2009, S. 24. 90 Mel’tjuchov, M.I.: Sovetsko-pol’skie vojny. Voenno-političeskoe protivostojanie 1918–1939 [So­ wjetisch-polnische Kriege. Militärpolitische Konfrontation 1918–1939]. Moskva 2001, S. 173. 91 Siehe Direktive des Volkskommissars für Verteidigung der UdSSR an den Militärrat des Son­ dermilitärbezirks Kiev vom 21. 09. 1938; Direktive des Generalstabs der RKKA an die Militär­ räte der Bezirke vom 28. 09. 1938; Direktive des Volkskommissars für Verteidigung der UdSSR an den Militärrat des Sondermilitärbezirks Belarus’ vom 29. 09. 1938. In: Dokumenty po isto­ rii mjunchenskogo sgovora, Dok. 162, 205, 206. In der Erläuterung wird der Inhalt der Direk­ tive K.E. Vorošilovs an den Militärrat des Sondermilitärbezirks Belarus’ vom 23. 09. 1938 wie­ dergegeben. Siehe auch: Zacharov, M.V.: Nakanune vtoroj mirovoj vojny (maj 1938 – sentjabr 1939) [Am Vorabend des Zweiten Weltkriegs (Mai 1938 bis September 1939)]. In: Novaja i novejšaja istorija. 1970. Nr. 5, S. 6–7. Es ist erstaunlich, dass sich in der vom Institut für Mili­ tärgeschichte des Verteidigungsministeriums der Russischen Föderation zusammengestellten thematischen Dokumentensammlung Platz für kein einziges operatives Dokument gefunden hat, das sich auf Mobilmachungsmaßnahmen im September 1938 bezieht. Siehe Emelin A.S. (otv. sost.) u. a./Zolotarev V.A. (pod obšč. red.): Russkij Archiv. Velikaja Otečestvennaja, t. 13 (2-1): Prikazy narodnogo komissara oborony SSSR. 1937 – 22 ijunja 1941. 92 Ich erinnere daran, dass die von London und Paris stark unter Druck gesetzte tschechoslowa­ kische Regierung bereits am 21. September den englischen und französischen Vorschlag zur Übergabe des Sudetenlands an Deutschland „als unteilbares Ganzes“ angenommen hatte, der ein entsprechendes Prozedere unter Beteiligung einer internationalen Kommission vorsah.

204   Sergej Slutsch Kavallerie- und drei Panzerdivisionen in den Bereich der Staatsgrenze (in der im Aufsatz von Marschall Matvej Zacharov enthaltenen Erläuterung dieses Doku­ ments werden die mit der Verlegung dieser Verbände verfolgten Ziele nicht ange­ führt). Drittens: Durch einen Befehl des Volkskommissars für Verteidigung wurde die Versetzung der einfachen Soldaten und Unterführer der Roten Armee in die Reserve in sämtlichen Militärbezirken verzögert. Viertens: Es wurden Anweisun­ gen zur Durchführung von 20-tägigen Waffenübungen der registrierten einfachen Soldaten und Unterführer der Sondermilitärbezirke Belarus’ und Kiev sowie der Militärbezirke Leningrad und Kalinin im Laufe des Oktobers sowie zur Einberu­ fung des Kommando- und politischen Personals der Einheiten und Verbände die­ ser Bezirke auf Grundlage des Mobilmachungsbedarfs gegeben.93 In keinem ein­ zigen der publizierten, aufgelisteten Dokumente taucht eine politische Begrün­ dung der unternommenen Mobilmachungsmaßnahmen auf. Zugleich lassen sich in den Archivdokumenten Hinweise auf die Motive für diese Entscheidungen der höchsten politischen Führung der UdSSR finden. Am 25. September übermittelte Vorošilov ein Schreiben an Stalin und Molotov, in dessen Einleitung es hieß: „Angesichts der Tatsache, das die Polen an unserer Grenze den Grenzschutz verstärken, Eisenbahnzüge heranschaffen […] die zu Manövern einberufenen Reservisten dabehalten und Reservisten zur Flakartillerie und in die Panzertruppen eingezogen haben, halte ich die Durchführung folgen­ der zusätzlicher Maßnahmen unsererseits für notwendig: […].“ Im Weiteren ging es um die Vorkehrungen, die anschließend Eingang in die Direktive des Volks­ kommissars vom 29. September fanden.94 Drei Tage später ließ Vorošilov Stalin und Molotov ein neuerliches Schreiben zukommen, in dem die Umsetzung eines weiteren Pakets von Mobilmachungsmaßnahmen vorgeschlagen wurde. Die Be­ gründung war folgende: „In letzter Zeit setzen die Polen die Verstärkung ihrer Grenzeinheiten durch Feldtruppen und Luftstreitkräfte fort, schieben sie bis zur Grenze vor und transportieren zum Teil technische Einheiten aus den im Landes­ inneren gelegenen Bezirken an unsere Grenze sowohl nördlich als auch südlich der POLESSJE. […] Die Deutschen machen in Ostpreußen mobil. Auf diese Wei­ se sammeln sich neben den allgemeinen militärischen Spannungen in Zentraleu­ ropa allmählich beträchtliche bewaffnete Kräfte unmittelbar an unseren Grenzen an. Ich halte es für unerlässlich, die von uns durchgeführten Maßnahmen Siehe Celovsky, Boris: Das Münchener Abkommen von 1938. Stuttgart 1958, S. 371–374. ­Potemkin hatte den Text der entsprechenden Note der tschechoslowakischen Regierung an England und Frankreich am 22. September von Fierlinger erhalten, worüber er Stalin umge­ hend unterrichtete. AVP RF, f. 05, op. 18, p. 138, d. 3, l. 222–223. Noch am gleichen Tag fand bei Stalin eine Besprechung der Mitglieder der führenden „Fünfergruppe“ statt, an der auch Potemkin teilnahm. Siehe Černobaev (Hg): Na prieme u Stalina, S. 240–241. 93 Siehe Verzeichnis der Dokumente in Anm. 91. 94 RGASPI, f. 17, op. 166, d. 592, l. 97–98. Stalin brachte auf dem Schreiben einen Vermerk an, der die Grundlage für eine Entscheidung des Politbüros des ZK der VKP(b) bildete: „Ohne Einstellung der Bauarbeiten in den befestigten Abschnitten folgende Maßnahmen durchfüh­ ren“ [gemäß Vorošilovs Vorschlägen]. Ebenda, l. 97, 96. Beschluss des Politbüros vom 25. 09.  1938, Protokoll Nr. 64, p. 88.

Die Sowjetunion und die Sudetenkrise   205

auszuweiten.“95 Die gebilligten Vorschläge komplettierten auch die Direktive des Volkskommissars für Verteidigung vom 29. September. Wie aus den Begründungen für die Mobilmachungsmaßnahmen ersichtlich ist, standen sie in keiner direkten Beziehung zur der sowjetischen Führung zuge­ schriebenen Absicht, der Tschechoslowakei im September 1938 Beistand zu ­leisten.96 Dies enthebt freilich nicht der Notwendigkeit, dieses Problem weiter zu erforschen, dessen Bearbeitung sich allerdings nicht ausschließlich darauf be­ schränken sollte, auf offizielle Erklärungen der sowjetischen Führung zu ver­ weisen – seien es nun die Antworten auf die Fragen des tschechoslowakischen Präsidenten,97 die oben erwähnten öffentlichen Auftritte und Interviews des Volkskommissars für Auswärtige Angelegenheiten oder aber auch das Paket der von der UdSSR im letzen Septemberdrittel 1938 durchgeführten Mobilmachungs­ maßnahmen, deren Gründe keineswegs so eindeutig sind, wie viele Historiker immer noch glauben. Davon zeugt zum Beispiel die Reaktion des Kreml auf die Konzentration der polnischen Truppen an der Grenze zur Tschechoslowakei.

Demonstrationen Richtung Polen Am 22. September übermittelte Aleksandrovskij dem NKID nach einem Gespräch mit Krofta ein Eiltelegramm, das die Bitte der tschechoslowakischen Regierung enthielt, „Warschau darauf aufmerksam [zu machen], dass der sowjetisch-polni­ 95 Ebenda,

l. 115–117. Beschluss des Politbüros vom 29. 09. 1938, Protokoll Nr. 64, p. 108. Son­ dermappe. Zum Wortlaut der Vorschläge Vorošilovs vom 25. und 29. September (ohne deren militärpolitische Begründung) siehe Mel’tjuchov, M.: Osvoboditel’nyj pochod Stalina, S. 221– 224. 96 Siehe z. B.: Christoforov, Mjunchenskoje soglašenije, S. 44. Die französische Forscherin S. Dullin weist darauf hin, dass alle „diese Schritte allerdings nicht publik gemacht und von keinerlei offiziellen Warnungen begleitet wurden“ – an wessen Adresse auch immer. Dullin, S.: Stalin i ego diplomaty. Sovetskij Sojuz i Evropa. 1930–1939 [Stalin und seine Diplomaten. Die Sowjetunion und Europa. 1930–1939]. Übers. a. d. Franz. Moskva 2009, S. 243. 97 Am 19. September übermittelte Beneš über Aleksandrovskij Fragen an die sowjetische Füh­ rung, die die Treue der UdSSR zum Vertrag mit der Tschechoslowakei von 1935 und zu den Artikeln 16 und 17 der Völkerbundsatzung betrafen. Diese erlaubten es, im Falle eines deut­ schen Angriffs auf den Beistand der Sowjetunion zu zählen. Als er am 20 September Stalin und die der „Fünfergruppe“ angehörenden Mitglieder des Poltibüros über Benešs Ersuchen informierte, legte Potemkin den Entwurf eines Antworttelegramms an Aleksandrovskij zur Begutachtung vor, der noch am gleichen Tag vom Politbüro gebilligt wurde. Siehe Politbjuro CK RKP(b)-VKP(b) i Evropa. Rešenija „osoboj papki“. 1923–1939 [Das Politbüro des ZK der RKP(b)-VKP(b) und Europa. Die Entscheidungen der „Sondermappe“. 1923–1939]. Moskva 2001, Dok. 271, S. 363. Auffallend ist eine etwas ungewöhnliche Formulierung in Potemkins Schreiben, die nahelegt, dass sein Verfasser – obwohl er um Erörterung der Antwort an den tschechoslowakischen Präsidenten ersuchte – allem Anschein nach von der ihm bereits be­ kannten Meinung Stalins in dieser Angelegenheit ausging, der keinerlei Einfluss auf die Situ­ ation der Tschechoslowakei in dieser für sie so kritischen Zeit nahm. Andernfalls sind die folgenden Worte Potemkins schwer vorstellbar: „Ich für meinen Teil denke, dass wir auf beide uns von Beneš gestellten Fragen keine andere Antwort geben können, als eine positive“ [Un­ terstreichungen von mir, S. S.]. RGASPI, f. 17, op. 166, d. 592, l. 47.

206   Sergej Slutsch sche Nichtangriffspakt in dem Moment unwirksam wird, in dem Polen die Tsche­ choslowakei angreift“. Das Ersuchen des Außenministers war damit begründet, dass „Polen entlang der gesamten Grenze zur Tschechoslowakei seine Truppen in Marschposition zusammenzieht“.98 Es ist schwer vorstellbar, dass man im Narko­ mindel und den anderen Ressorts bis zum Erhalt dieses Telegramms nichts von der Machtdemonstration der Polen an der tschechoslowakischen Grenze gewusst hatte. Wobei es in der Tat um eine Machtdemonstration ging, denn mit der Bil­ dung der für die Besetzung des Teschener Gebiets vorgesehenen militärischen Gruppierung wurde erst am 23. September begonnen.99 Natürlich hatte man in Moskau davon gewusst, aber in keiner Weise reagiert. Nun jedoch erfolgte eine buchstäblich blitzartige und auf den ersten Blick beeindruckende Reaktion. Alek­ sandrovskijs Telegramm ging kurz nach 21 Uhr ein und bereits um vier Uhr am Morgen des 23. September bestellte Potemkin den Geschäftsträger Polens, ­Tadeusz Jankowski, in das Narkomindel ein und las ihm eine Erklärung vor, in der die polnische Regierung davon in Kenntnis gesetzt wurde, dass die Regierung der UdSSR unter bestimmten, mit eventuellen Aktionen der polnischen Streitkräfte gegenüber der Tschechoslowakei in Zusammenhang stehenden Aktionen, „ge­ zwungen wäre, ohne Vorwarnung“ den sowjetisch-polnischen Nichtangriffsver­ trag von 1932 aufzukündigen.100 Der polnische Diplomat wurde aufgefordert, seine Regierung umgehend über diese Erklärung zu informieren.101 Der Inhalt dieser sowjetischen Demarche und die gesamte mit ihrer Übergabe verbundene Situation stellten in erster Linie auf die Außenwirkung ab. Abgesehen von einer ganze Reihe völlig offensichtlicher – darunter auch juristischer – Unge­ reimtheiten, die in der Erklärung der sowjetischen Regierung enthalten waren, war diese in keiner Weise (auch nicht indirekt) mit den in unmittelbarer Nähe der sowjetisch-polnischen Grenze angelaufenen Manövern des Sondermilitärbe­ zirks Kiev abgestimmt; es war darin auch keine Rede davon, dass die eventuellen Handlungen Polens gegen die territoriale Integrität eines Staates gerichtet seien, der mit der UdSSR durch einen Beistandsvertrag verbunden war; schließlich fehl­ ten in der Erklärung irgendwelche Forderungen an die polnischen Regierung, au­ ßer derjenigen nach der Widerlegung des Faktums der Truppenkonzentration an der polnisch-tschechoslowakischen Grenze. Somit stand hinter der Erklärung der sowjetischen Regierung – ungeachtet der in gewisser Weise ausgesprochen theat­ ralischen und außergewöhnlichen Umstände, die ihre Übergabe an den polni­ schen Geschäftsträger begleitet hatten – keineswegs die aktive Unterstützung der Tschechoslowakei, sondern lediglich deren Anschein. Einige Zeit später wurde 98 Telegramm

Aleksandrovskijs an das NKID, 22. 09. 1938. In: DVP, t. XXI, Dok. 365, S. 515–516. Siehe Wojtak, R.A.: Polish military Intervention into Czechoslovakian Teschen and Western Slovakia in September − November 1938. In: East European Quarterly. 1972. Vol. VI. no. 3, S. 379. 100 Erklärung der Regierung der UdSSR gegenüber der Regierung Polens vom 23. 09. 1938. In: DVP, t. XXI, Dok. 366, S. 516. 101 Siehe Aufzeichnung des Gesprächs Potemkins mit dem Geschäftsträger Polens in der UdSSR, T. Janowski, 23. 09. 1938. Ebenda, Dok. 367, S. 516–517. 99

Die Sowjetunion und die Sudetenkrise   207

diese außenpolitische Aktion von Litvinov überaus treffend charakterisiert, in­ dem er anmerkte, sie habe nur „bedingten Charakter“ gehabt.102 Auch in Warschau war dies sehr schnell erkannt worden. Die Antwort der pol­ nischen Regierung wurde Potemkin bereits am Abend des 23. September überge­ ben. Sie war äußerst lakonisch und hinsichtlich ihrer Schärfe an der Grenze des im diplomatischen Gebrauch Erlaubten: In höchst eindeutiger Form wurde der sowjetischen Führung zu verstehen gegeben, dass sie sich nicht in die polnischen Angelegenheiten einmischen solle.103 Zweifellos war dies eine ganz unverhohlene diplomatische Ohrfeige, die nur in Bezug auf einen Staat möglich war, in der in­ ternationalen Arena zu diesem Zeitpunkt sehr wenig Gewicht hatte. Schon bald hörte dieses Thema quasi zu existieren auf, da Polen, nachdem es Prag ein Ultimatum gestellt hatte, im Rahmen der von der Führung des Dritten Reichs initiierten und von der polnischen Führung aktiv unterstützten sogenann­ ten „Bereinigung“ des Problems der „nationalen Minderheiten“ in der Tschecho­ slowakei – das Teschener Gebiet besetzt hatte. Das Narkomindel übermittelte im Zusammenhang mit diesem Vorgehen Polens nicht einmal eine Protestnote. Fier­ linger, der am Morgen des 1. Oktober im NKID vorsprach, erhielt auf seine Frage zu den Absichten der UdSSR in Hinblick auf das polnische Ultimatum an Prag eine äußerst ausweichende Antwort – man müsse abwarten, was die Signatar­ mächte des Münchener Abkommens unternehmen würden.104 Dabei geriet die „scharfe Warnung“, die die sowjetische Regierung nur acht Tage zuvor ausgespro­ chen hatte, gänzlich in Vergessenheit. Kurze Zeit später versuchte Litvinov dieses Verhalten der UdSSR in Bezug auf den polnischen Expansionismus nachträglich zu rechtfertigen, indem er die ge­ samte Verantwortung für die Geschehnisse abwälzte – auf die Tschechoslowakei. In einem Brief an Aleksandrovskij lüftete er ein wenig den Vorhang hinsichtlich des möglichen Umfangs der sowjetischen Aktionen, sollte es zu einem bewaffneten polnisch-tschechoslowakischen Konflikt kommen: „Einen unklaren Eindruck macht auch das Verhalten der Tschechoslowakei bezüglich Polens und Ungarns. Wenn man auch vor Hitler kapitulieren musste, so erschien die tschechoslowaki­ sche Armee stark genug zu sein, um sich gegen Polen zu Wehr zu setzen. Selbst wenn wir es nicht für notwendig erachten sollten, gegen Polen vorzugehen, so müsste es sich nach unserer Warnung dennoch nach dem Osten umsehen und be­ deutende Kräfte an der sowjetisch-polnischen Grenze belassen. Es ist nicht ausge­ schlossen“, resümierte Litvinov, „dass wir zu diesem Zweck eine gewisse Umgrup­ pierung der Kräfte an der Grenze vornehmen würden [Unterstreichungen von mir,

102 Siehe

Aufzeichnung des Gesprächs Litvinovs mit dem Botschafter Polens in der UdSSR, W. Grzybowski, 31. 10. 1938. AVP RF, f. 0122, op. 22, p. 180a, d. 5, l. 68. 103 Siehe Aufzeichnung des Gesprächs Potemkins mit Jankowski, 23. 09. 1938. DVP, t. XXI, Dok. 372, S. 523. 104 Siehe Pagel, J.: Polen und die Sowjetunion 1938–1939. Die polnisch-sowjetischen Beziehun­ gen in den Krisen der europäischen Politik am Vorabend des Zweiten Weltkrieges. Stuttgart 1992, S. 161.

208   Sergej Slutsch S. S.]“.105 Das war also der Schlussakkord, eine Art Epilog des Leiters des Narko­ mindel zur Geschichte der Beteiligung der Sowjetunion an den Ereignissen rund um die Tschechoslowakei im Jahr 1938.

Fazit Das Engagement der UdSSR in der tschechoslowakischen Krise war nicht allzu groß und beschränkte sich im Wesentlichen auf den diplomatischen Bereich. Im Rahmen des Kräfteverhältnisses in der internationalen Arena tat die Sowjetunion nicht einen einzigen Schritt, der unter dem Einfluss dieses oder jenes Umstands den Umfang der vertraglichen Verpflichtungen Moskaus gegenüber der Tsche­ choslowakei erweitert hätte, ganz zu schweigen von irgendwelchen eigenständi­ gen, durch das objektive Interesse an der eigenen Sicherheit bedingten Aktivitäten – der Aufrechterhaltung des schwankenden, aber immer noch existierenden Gleichgewichts der Kräfte in Europa. 1938 konnte der Kreml die Westmächte nicht dazu zwingen, sich zur Erörterung der rund um die Tschechoslowakei ent­ standenen Situation zumindest an den Verhandlungstisch zu setzen, selbst wenn er sich darum bemüht hätte. Offensichtlich fehlten der sowjetischen Führung auch die realen Hebel, um das nationalsozialistische Regime im Alleingang dazu zu zwingen, von der heimlichen und der unverhohlenen Expansion auf dem eu­ ropäischen Kontinent Abstand zu nehmen – obwohl solche Gedanken Stalin wohl kaum in den Sinn gekommen wären, hatte er doch in den Jahren zuvor nicht we­ nige Anstrengungen unternommen, um eine Vereinbarung gerade mit Hitler zu erzielen.106 Der vom Kreml offiziell proklamierte außenpolitische Kurs der kol­ lektiven Sicherheit und Abwehr der faschistischen Aggression war nicht mehr als ein taktisches Manöver, eine bequeme Camouflage für die Generallinie der Stalin’schen Strategie, die – wie auch schon früher – darauf ausgerichtet war, die Welt zu spalten, die Staaten gegeneinander aufzuwiegeln und die entstandenen Gegensätze und Konflikte zu vertiefen. Daher war die Außenpolitik der UdSSR nicht darauf ausgerichtet, einen Krieg zu verhindern und nach politischer Part­ nerschaft mit diesen oder jenen Staaten zu suchen, sondern zu gewährleisten, vor ihnen sicher zu sein, was unter den Bedingungen des Großen Terrors im Inneren des Landes, als alle realen und imaginären Probleme mit der Existenz interner Feinde und einer feindlichen Umgebung erklärt wurden, unweigerlich zu einem erzwungenen Isolationismus in der internationalen Arena führte. Eine noch üblere Entwicklung der Ereignisse als die, die mit der Vereinbarung der vier Mächte in München ihren Abschluss fand, war aus sowjetischer Sicht

105 Schreiben

Litvinovs an Aleksandrovskij, 11. 10. 1938. AVP RF, f. 0138, op. 19, p. 122, d. 1, l. 85. 106 Eingehender siehe Slutsch, S.: Stalin und Hitler 1933–1941. Kalküle und Fehlkalkulationen des Kreml. In: Zarusky, Jürgen (Hg.): Stalin und die Deutschen. Neue Beiträge der For­ schung. München 2006, S. 59–88.

Die Sowjetunion und die Sudetenkrise   209

schwerlich denkbar. Und es ging hier durchaus nicht um das Schicksal der Tsche­ choslowakei, sondern in erster Linie darum, dass diese Vereinbarung überhaupt getroffen worden war, die in vielerlei Hinsicht die langjährigen Bemühungen des Kreml, eine Annäherung dieser Staaten zu verhindern, zunichtemachte. Im End­ effekt wäre jede andere Beilegung der tschechoslowakischen Krise – selbst ein großer Krieg – für Stalin akzeptabler gewesen, als das, was in München geschehen war. In der Folge geriet die UdSSR in eine äußerst schwierige Lage und ihre Isola­ tion in der internationalen Arena erreichte ihren Höhepunkt. Niemand, auch nicht Stalin, wollte 1938 der Tschechoslowakei wegen Krieg führen, aber diese Haltung hatte verschiedene Gründe. Darüber hinaus machte niemand den Versuch, seine militärische Macht auf eine Weise zu demonstrieren, die die Bedrohung der Existenz der Tschechoslowakei hätte verhindern können. Nur kurze Zeit später indes mussten alle Krieg führen, und zwar einen Krieg, in dem sie einen unermesslich höheren Preis zu zahlen hatten. Aus dem Russischen von Verena Brunel

Hans Woller

Vom Mythos der Moderation Mussolini und die Münchener Konferenz 1938 Die faschistische Presse überschlug sich fast, als Mussolini Ende September 1938 aus München in die Heimat zurückkehrte. Sie feierte ihn als die überragende Gestalt der Konferenz und insbesondere als Friedensfürsten, der Europa vor dem Schlimmsten bewahrt habe. Die spätere Forschung hat sich zwar intensiv mit Mussolinis Rolle in München befasst, ganz ist es ihr aber nicht gelungen, sich aus dem Banne der faschistischen Propaganda zu befreien. Noch immer ist die These weit verbreitet, Mussolini habe Hitler im September 1938 signalisiert, dass Italien nicht kriegsbereit sei, und der Führer habe nicht zuletzt deshalb einer Vier-Mächte-Konferenz zugestimmt, anstatt in der Tschechoslowakei sofort loszuschlagen, wie es eigentlich geplant gewesen war.1 Diese Interpretation und die noch zugespitztere These, Mussolini habe auf der Münchner Konferenz gleichsam den Moderator gegeben,2 haben jedoch ihre Tücken. Zwei Gründe sind es vor allem, die skeptisch stimmen: Erstens: die Radikalisierung des faschistischen Regimes, das ab Mitte der dreißiger Jahre zunehmend totalitäre Züge gewann und sich damit automatisch dem Dritten Reich annäherte. Die Vorbereitung der Rassengesetze ist nur ein Faktor im Rahmen dieser Radikalisierung3, ein weiterer ist die permanente Mobilisierung der Gesellschaft und ein dritter schließlich die zunehmende Militarisierung, die ganz im Zeichen einer aggressiven expansionistischen Außenpolitik stand.4 Mussolini wusste, dass Europa schweren Zeiten entgegensah – und er begrüßte diese Perspektive, weil Italien nur dann eine Chance bekam, territoriale Beute zu machen, wenn die Grenzen umgestoßen und neu gezogen würden. Zweitens: Auf welcher Seite das faschistische Italien in den aller Wahrscheinlichkeit nach bevorstehenden europäischen Neuordnungskriegen stand, war 1938 kein Geheimnis mehr. Nach dem Angriff auf Abessinien war bündnispolitisch zwar noch nicht alles entschieden. Mussolinis Spielraum wurde aber deutlich geringer, zumal um die Jahreswende 1935/36 auch noch ein letzter Vermittlungsversuch zwischen Paris, London und Rom scheiterte, der als Hoare-Laval-Plan in die

1

Vgl. Graml, Hermann: Europas Weg in den Krieg. Hitler und die Mächte 1939. München 1990, S. 106. 2 Vgl. Lill, Rudolf: Das faschistische Italien (1919/20–1945). In: Altgeld, Wolfgang (Hg.): Kleine italienische Geschichte. Stuttgart 2002, S. 410. 3 Vgl. Schlemmer, Thomas/Woller, Hans: Der italienische Faschismus und die Juden 1922 bis 1945. In: VfZ 53 (2005), S. 165–201. 4 Vgl. allgemein Mack Smith, Denis: Mussolini. Eine Biographie. München 1983, S. 291–324. Bosworth, Richard J. B.: Mussolini. Un dittatore italiano. Milano 2004.

212   Hans Woller Geschichte eingegangen ist.5 Mussolini, der dem Plan bereits zugestimmt hatte, fühlte sich düpiert und begann nun ernsthaft über ein Bündnis mit dem Dritten Reich nachzudenken. An dessen Seite – so seine Spekulation – ließe sich vermutlich sehr viel mehr herausschlagen als in Kooperation mit den Westmächten, die ihm bis dahin nur Enttäuschungen bereitet hatten. Ausdruck dieses Umdenkens war, dass Italien und das Deutsche Reich schon Anfang 1936 einen gemeinsamen Nenner in der Österreich-Frage fanden6, die 1938 genau in diesem Sinne gelöst wurde. Aber auch in anderer Hinsicht zeigte sich immer häufiger, dass in allen wichtigen Fragen eher ein Einvernehmen zwischen Rom und Berlin als mit Paris und London zu erzielen war – und das aus einem einfachen Grund: Großbritannien und Frankreich setzten noch immer auf den Status quo, während Mussolini und Hitler auf dessen rasche Überwindung drängten, hierbei aber nur dann mit Erfolgen rechnen konnten, wenn sie ihre Kräfte bündelten. Da jeder zunächst eine andere Beute im Auge hatte, ihr Expansionsdrang also vorerst kompatibel war, stand einer Komplizenschaft nichts im Wege. Wenn es dazu noch eines Beweises bedurft hätte, dann lieferte ihn der Spa­ nische Bürgerkrieg. Das deutsch-italienische Engagement in Spanien festigte die sich abzeichnende faschistische Kriegsallianz und zerbrach den letzten Rest römischer Verbindung mit den Westmächten. Wenn Mussolinis Intervention in Spanien nicht mit einem Debakel enden sollte, wenn er sein afrikanisches Imperium konsolidieren und wenn er weitere Raubzüge in Afrika oder im Mittelmeerraum starten wollte – dann musste er sich noch enger an Hitler binden, der ihn ebenfalls gut brauchen konnte, aber nie abhängig von ihm war. Dass Italien 1938 außenpolitisch festgelegt war und kaum mehr zurück konnte, lag auch an der Intensität der Wirtschaftsbeziehungen, oder anders formuliert, an der Abhängigkeit Italiens vom Deutschen Reich: Nach 1935 hatte der Warenaustausch zwischen beiden Ländern stark zugenommen, um sich bis 1938 zu verdoppeln und danach noch weiter zu intensivieren. 1938 importierte Italien Waren im Wert von 11,3 Mrd. Lire – über 3 Mrd. davon wurden für Einkäufe im Deutschen Reich aufgewendet, während sich die Importe aus Großbritannien und Frankreich drastisch reduziert hatten und kaum noch eine Rolle spielten. Bis 1940 verschoben sich die Gewichte weiter zugunsten des „Achsen“-Partners. Nun kamen über 38 Prozent aller italienischen Einkäufe im Ausland aus dem Deutschen Reich.7 5

Vgl. De Felice, Renzo: Mussolini il duce, Bd. 1: Gli anni del consenso 1929–1936. Torino 1974, S. 597–757 u. S. 810 f. 6 Vgl. Petersen, Jens: Hitler – Mussolini. Die Entstehung der Achse Berlin – Rom 1933–1936. Tübingen 1973, S. 466–471. – Der Botschafter in Rom von Hassell an das Auswärtige Amt, Telegramm vom 7. 1. 1936. In: Akten zur Deutschen Auswärtigen Politik 1918–1945, Serie C: 1933–1937. Das Dritte Reich: Die ersten Jahre, Bd. IV, 2: 16. September 1935 bis 4. März 1936, Göttingen 1975, S. 954 –957. 7 Vgl. Sommario di Statistiche Storiche Italiane 1861–1955. Roma 1958, S. 153–158. Ausführlicher dazu Woller, Hans: Hitler, Mussolini und die Geschichte der „Achse“. In: Klinkhammer, Lutz /Osti Guerrazzi, Amedeo /Schlemmer, Thomas (Hg.): Die „Achse“ im Krieg. Politik, Ideologie und Kriegführung 1939–1945. Paderborn/München/Wien/Zürich 2010, S. 34–48.

Vom Mythos der Moderation   213

Ein ähnliches Bild ergibt sich mit Blick auf die Exportwirtschaft und noch eindeutiger lagen die Dinge bei der Energieversorgung, trotz aller Anstrengungen noch immer die Achillesferse der italienischen Wirtschaft, weil etwa bei Kohle und Öl nur rund 15 Prozent aus eigenen Vorräten stammten. Hatte Großbritannien vor dem Ersten Weltkrieg den Löwenanteil des italienischen Kohlebedarfs gedeckt, so war diese Rolle vor dem Zweiten Weltkrieg an das Deutsche Reich übergegangen; 1929 betrug sein Anteil am italienischen Kohleimport fast 38 Prozent, 1935 schon über 50 Prozent, um danach weiter zu steigen, bis Italien 1940 fast ganz auf deutsche Kohlelieferungen angewiesen war.8 Vor dem Hintergrund wirtschaftlicher Abhängigkeit, großer politisch-ideologischer Affinität zum Dritten Reich und noch größerer imperialer Beutegier des faschistischen Regimes ist die These, Mussolini habe Hitler gebremst, um den Zweiten Weltkrieg zu verhindern, eher unwahrscheinlich. Die Verfechter dieser These haben aber nicht nur die Wahrscheinlichkeit gegen sich, sondern auch die italienischen Quellen über die Septemberkrise – soweit sie bekannt und zugänglich sind. Was besagen sie? 1. Mussolini glaubte nicht daran, dass der an sich erwünschte Krieg schon 1938 wegen der Sudetenkrise ausbrechen würde. In seinen Augen waren Großbritannien und Frankreich innerlich zerfressen und kraftlos geworden. In London und Paris, so meinte er, dachte niemand ernstlich daran, nur wegen der etwa drei Millionen Sudetendeutschen in einen Krieg zu ziehen. Das Risiko schien also gering. 2. In Rom wusste man lange Zeit nicht genau, was Hitler im Sommer 1938 vorhatte. Man bemühte sich aber auch nicht um gesicherte Informationen. Mussolini und seine Entourage teilten den deutschen Standpunkt, dass die Sudetengebiete zum Deutschen Reich gehörten, zeigten sich aber ansonsten an den Vorgängen in der fernen Tschechoslowakei nur insofern interessiert, als die außenpolitischen Rivalen Großbritannien und Frankreich dort in die Defensive geraten waren. 3. Dessen ungeachtet legte sich die faschistische Führung bereits frühzeitig – und ohne von Hitler gedrängt worden zu sein – fest. Das geschah am 8. September9, 8

Vgl. Schreiber, Gerhard: Die politische und militärische Entwicklung im Mittelmeerraum 1939/40. In: Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg. Hrsg. vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt, Bd. 3: Schreiber, Gerhard /Stegmann, Bernd /Vogel, Detlef: Der Mittelmeerraum und Südosteuropa. Von der „non belligeranza“ Italiens bis zum Kriegseintritt der Ver­ einigten Staaten. Stuttgart 1984, S. 4–271. Favagrosso, Carlo: Perchè perdemmo la guerra. Mussolini e la produzione bellica. Milano 1946, S. 79–81. Wagenführ, Horst: Italien. Berlin u. a. 1943, S. 127–129. Rieder, Maximiliane: Deutsch-italienische Wirtschaftsbeziehungen. Kontinuitäten und Brüche 1936–1957. Frankfurt a. M./New York 2003, S. 130–148. Mantelli, Brunello: Vom „bilateralen Handelsausgleich“ zur „Achse Berlin – Rom“. Der Einfluß wirtschaftlicher Faktoren auf die Entstehung des deutsch-italienischen Bündnisses 1933–1936. In: Petersen, Jens/Schieder, Wolfgang (Hg.): Faschismus und Gesellschaft in Italien. Staat – Wirtschaft – Kultur. Köln 1998, S. 253–279. 9 Vgl. Collotti, Enzo: Fascismo e politica di potenza. Politica estera 1922–1939. Milano 2000, S. 364 f.

214   Hans Woller als sie die Forderung Henleins nach Autonomie für die Sudetendeutschen im Rahmen der Tschechoslowakei unterstützte, und das wiederholte sich am 13. September, als sie Hitlers nun schon sehr viel weiter gehende Forderung nach einem Plebiszit und damit praktisch nach Abtretung der Sudetengebiete nicht nur übernahm, sondern sogar noch verschärfte, indem sie von ­Plebisziten sprach – also auch die Ansprüche Polens und Ungarns bekräftigte.10 4. Auch auf den Fall der Fälle, dass es schließlich doch zu einem Krieg kommen sollte, hatte sich die faschistische Führung vorbereitet. „Es ist klar“, notierte Ciano am 8. September in seinem Tagebuch, „dass sich der Duce unter allen Umständen an die Linie der Achse halten werde.“11 Und am 25. September unterstrich Mussolini diese Haltung noch einmal, als er Philipp von Hessen, Hitlers Sendboten, empfing und von diesem ins Bild gesetzt wurde, was in den nächsten Tagen zu erwarten war. „Wenn die Tschechen bis zum 1. Oktober das Ultimatum nicht annehmen, greift Berlin an – natürlich mit dem Ziel, die Tschechoslowakei total zu vernichten“, fasste Ciano die Botschaft Hitlers zusammen, um dann die italienische Haltung zu skizzieren: „Frankreich wird nicht marschieren, weil England sich nicht auf seine Seite stellen wird. Wenn der Konflikt sich dennoch ausweiten sollte, werden wir uns auf die Seite Deutschlands stellen, und zwar sofort nach dem Kriegseintritt Englands. […] Der Duce und ich“, so Ciano weiter, „haben Deutschland nicht zum Konflikt gedrängt, aber wir haben auch nichts getan, um Deutschland davon abzuhalten“.12 5. So oder so ähnlich äußerte sich Mussolini nicht nur in vertraulichen Gesprächen, sondern in aller Öffentlichkeit – in Reden vor Parteigenossen in Padua, Vicenza und Verona13, die natürlich auch in Berlin und anderswo genauestens verfolgt wurden, wie sich dem Goebbels-Tagebuch entnehmen lässt. Mussolini, so heißt es darin, „hält in Padua eine harte Rede. Ganz auf unserer Seite. Zwei Völker marschieren zusammen. Brutale Kampfansage gegen den Bourgeois. Er ist ein richtiger Kerl. Vergilt uns jetzt unsere Haltung im Abessinienkonflikt. Diese Rede kommt uns im Augenblick sehr gelegen.“14 6. Dementsprechend verhielt sich Mussolini auch in den letzten Tagen vor der Konferenz in München, als er am 28. September nicht mehr tat, als die Bitte Chamberlains um eine Verschiebung des deutschen Angriffs um 24 Stunden an Hitler weiterzuleiten und mit dem Zusatz zu versehen: „Selbstverständlich sei es Sache des Führer zu beurteilen, ob er […] in der Lage sei, englischem

10 Vgl.

ebenda, S. 366–369. Galeazzo: Diario 1937–1943. Hrsg. von Renzo De Felice. Milano 1990, S. 175. 12 Ebenda, S. 183 f. 13 Vgl. Es spricht der Duce. Le relazioni italo-germaniche nei discorsi e scritti di MUSSOLINI. Brescia 1940, S. 38–44. 14 Die Tagebücher von Joseph Goebbels. Hrsg. von Elke Fröhlich im Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte und mit Unterstützung des Staatlichen Archivdienstes Rußlands. Teil I: Aufzeichnungen 1923–1941, Bd. 6: August 1938–Juni 1939. München 1998, S. 111 (Eintrag vom 25. 9. 1938).

11 Ciano,

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Wunsch zu willfahren […]. Wie immer auch Entscheidung des Führers fällt, werde Duce neben ihm stehen.“15 7. Dazu passt, dass Mussolini – anders als nachträgliche Geschichtsklitterung es will – keinen Versuch machte, die Ergebnisse der Vier-Mächte-Konferenz zu beeinflussen oder in München in die Rolle eines Vermittlers zu schlüpfen. Die Vorschläge, die er am 29. September unterbreitete, waren ihm am Tag zuvor aus Berlin zugeschickt worden.16 Es gab also keine italienische Vermittlung, Italien hatte kein Interesse daran und war im Übrigen auch längst nicht mehr frei genug, als dass es die deutschen Kreise zu stören und eine eigenständige Rolle zu spielen vermocht hätte. Mussolinis Moderation ist ein Mythos.

15 Der

Botschafter in Rom an das Auswärtige Amt, Telegramm vom 28. 9. 1938. In: Akten zur Deutschen Auswärtigen Politik 1918–1945, Serie D (1937–1945), Bd. II: Deutschland und die Tschechoslowakei (1937–1938). Baden-Baden 1950, S. 795. 16 Vgl. Collotti, Fascismo e politica di potenza, S. 372.

Jürgen Zarusky

Der deutsche Widerstand gegen den ­Nationalsozialismus und das Münchener ­Abkommen* Die mit dem Münchener Abkommen beendete Sudetenkrise war nicht nur für das europäische Staatensystem, sondern auch für die reichsdeutschen Gegner der nationalsozialistischen Diktatur ein entscheidender Wendepunkt. Die Hitlergegner auf der Linken, die den Nationalsozialismus schon vor seiner Machtübernahme bekämpft hatten, hatten die Brutalität des NS-Regimes schon mehr als fünf Jahre lang zu spüren bekommen und vor seiner Kriegslüsternheit gewarnt. Nun aber war durch diese aggressive Politik die Gefahr eines großen, für das Reich wohl nicht zu gewinnenden Konfliktes heraufbeschworen worden, die auch in Stäben der Wehrmacht und in einigen Reichsbehörden oppositionelle Regungen hervorrief. Die Monate vor „München“ wurden zur formativen Phase des nationalkonservativen Widerstandes, und erst dadurch entfaltete sich das Spek­trum der politischen Gegner Hitlers vollständig.1 So heterogen sich die Strömungen des Widerstandes hinsichtlich Ideologie, sozialer Herkunft und Position auch ausnehmen, die spannungs- und entscheidungsreiche Periode kurz vor und nach dem Münchener Abkommen stellte eine gemeinsame Herausforderung für sie alle dar, auch wenn keine letztlich das Geschehen spürbar beeinflussen konnte. Für alle grundsätzlichen Gegner der NS-Diktatur war „München“ daher eine schwere Niederlage. Dass die Kriegsgefahr fürs erste abgewendet schien, machte sie nicht irre in ihren Einschätzungen der verhängnisvollen Politik Hitlers.

* Diesen Aufsatz widme ich dem Andenken an meinen Kollegen Hartmut Mehringer (1944– 2011). 1 Diesem Beitrag liegt ein integraler Widerstandsbegriff zugrunde, der sich nicht auf einen bestimmten Teil des politischen Spektrums beschränkt und auch den „Widerstand von außen“ aus dem Exil einbezieht, der bereits seit Herbst 1933 vom NS-Regime ebenso als „Vorbereitung zum Hochverrat“ verfolgt wurde wie der politische Widerstand im Landesinnern. Vgl. Zarusky, Jürgen: Einleitung. In: Ders./Mehringer, Hartmut (Bearb.): Widerstand als „Hochverrat“ 1933–1945. Die Verfahren gegen deutsche Reichsangehörige vor dem Reichsgericht, dem Volksgerichtshof und dem Reichskriegsgericht. Erschließungsband zur Mikrofiche-Edition. München 1998, S. 11–44, hier S. 17. Grundsätzlich zur Problematik: Steinbach, Peter: „Widerstand von außen“: Technik und Moral von Exilpolitik. In: Hansen, Ernst Willi/Schreiber, Gerhard/Wegner, Bernd (Hg.): Politischer Wandel, organisierte Gewalt und nationale Sicherheit. Beiträge zur neueren Geschichte Deutschlands und Frankreichs. Festschrift für Klaus-Jürgen Müller. München 1995, S. 331–346. Hinsichtlich des linken Widerstandes konzentriert sich der Beitrag auf Sozialdemokraten und Kommunisten, als den bedeutendsten Gruppierungen. Zu den sogenannten Zwischengruppen siehe: Foitzik, Jan: Zwischen den Fronten. Zur Politik, Organisation und Funktion linker politischer Kleinorganisationen im Widerstand 1933 bis 1939/40. Bonn 1986.

218   Jürgen Zarusky

Der Verlust eines Kampfpostens Die Lage der deutschen Gegner des Nationalsozialismus im Jahre 1938 war deplorabel. Die Organisationen der Arbeiterbewegung waren schon im ersten Halbjahr 1933 zerschlagen worden: Der Reichstagsbrand vom 27./28. Februar hatte den Anlass für eine massive Terrorwelle mit Hunderten von Todesopfern vor allem unter Kommunisten, Linkssozialisten, Sozialdemokraten und Gewerkschaftlern sowie der Verhaftung Zehntausender gegeben. Insbesondere die KPD wurde durch die Reichstagsbrandverordnung illegalisiert; auch ihre Mandatsträger in Landtagen und im Reichstag wurden verhaftet, wenn es ihnen nicht gelang, in den Untergrund oder ins Ausland zu gehen. Am 2. Mai wurden Gewerkschaften gleichgeschaltet, am 22. Juni die faktisch bereits weitestgehend unterdrückte SPD offiziell verboten. Zwar ging die Zahl der Häftlinge in den Konzentrationslagern bis zum Ende des Jahres 1933 stark zurück und die meisten der improvisierten Lager wurden aufgelöst, aber die linken Untergrundgruppen wurden sukzessive von der politischen Polizei aufgerollt. Tausende von Kommunisten und Sozialisten bevölkerten die Zuchthäuser und Konzentrationslager.2 Auch der erste vorsichtige Ansatz einer konservativen Opposition, der sich in der Marburger Rede des Vizekanzlers von Papen vom 17. Juni 1934 manifestiert hatte,3 war brutal unterdrückt worden. Papens Redenschreiber Edgar Julius Jung und seine beiden Helfer Herbert von Bose und Erich Klausener wurden im Zuge der Röhm-Affäre am 20. Juni 1934 ermordet, Papen selbst entmachtet.4 Die Überlegenheit des Nationalsozialismus gegenüber seinen Gegnern stützte sich aber nicht nur auf brutalen Terror, sondern mindestens ebenso sehr auf seine Attraktivität für zahlreiche Deutsche, die sich von Unterdrückung und NS-Verbrechen nicht irritieren ließen. Das zeigte höchst augenfällig die Abstimmung über den Status des Saarlandes vom 13. Januar 1935, die nach 15 Jahren Völkerbundsverwaltung fällig geworden war. Für den von der Freiheitsfront – einem nicht ohne große Schwierigkeiten zustande gekommenen Bündnis von Sozial­ demokraten, Kommunisten und einer dezidiert antinazistischen Minderheit des katholischen Zentrums – propagierten Status quo, also die weitere Völkerbundsverwaltung bis zur Wiederherstellung demokratischer Verhältnisse im deutschen 2

Winkler, Heinrich August: Der Weg in die Katastrophe. Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1930 bis 1933. Berlin/Bonn 1987, S. 867–949. Mehringer, Hartmut: Widerstand und Emigration. Das NS-Regime und seine Gegner. München 1997, S. 129–132. Schneider, Michael: Unterm Hakenkreuz. Arbeiter und Arbeiterbewegung 1933 bis 1939. Bonn 1999, S. 454–482. 3 Faksimile: http://www.bundesarchiv.de/oeffentlichkeitsarbeit/bilder_dokumente/00634/index-0.html.de [12. 08. 2012] Papen hatte eingangs in einer Art captatio benevolentiae erklärt, nur wer sich dem Nationalsozialismus und seinem Werk zur Verfügung gestellt und seine Loyalität bewiesen habe, könne das Recht zu „anständiger“ Kritik beanspruchen. 4 Graml, Hermann: Vorhut konservativen Widerstands. Das Ende des Kreises um Edgar Jung. In: Ders. (Hg.): Widerstand im Dritten Reich. Probleme, Ereignisse, Gestalten. Frankfurt am Main 1984, S. 172–182.

Der deutsche Widerstand gegen den Nationalsozialismus   219

Reich, entschieden sich gerade einmal 8,8  Prozent der Abstimmenden. Das war weniger als ein Drittel des Wählerpotentials, das die beiden Arbeiterparteien bis dahin regelmäßig hatten mobilisieren können. Die Deutsche Front, in der die bürgerlichen Parteien ebenso wie die zum Schein aufgelöste, tatsächlich aber tonangebende NSDAP aufgingen, konnte dagegen 90,8  Prozent für die „Heimkehr ins Reich“ mobilisieren. Nach der vom Völkerbund überwachten Abstimmung setzte ein Exodus der NS-Gegner ein. Eine überwältigende Mehrheit der Saarländer hatte Demokratie und Selbstbestimmungsrecht dazu genutzt, sich und zugleich die unterlegene und vom Terror bedrohte Minderheit der NS-Diktatur auszuliefern.5 In deutlicher Analogie hierzu steht die Entwicklung in den mehrheitlich deutsch besiedelten Randgebieten der Tschechoslowakischen Republik, wo die unter nationalsozialistischem Einfluss stehende Sudetendeutsche Partei die bürgerlichen politischen Kräfte aufsaugte und damit die Unterstützung einer überwältigenden Mehrheit gewann.6 Unmittelbar nach Hitlers Machtübernahme war die demokratische Tschechoslowakei zur Zuflucht für rund Zehntausend Gegner und Verfolgte der rasch etablierten NS-Diktatur und damit neben Frankreich zum wichtigsten Exilland geworden. „Ausschlaggebend dafür waren“, stellt Peter Heumos fest, „die kurzen Fluchtwege aus dem ost-, mittel- und süddeutschen Raum, die liberalen Einreisebestimmungen, eine 1500 km lange, unübersichtliche und auch leicht illegal zu passierende Grenze aus Bayern, Sachsen und Schlesien, die demokratischen Verhältnisse des Nachbarlandes, das weitgehende Fehlen von Sprachbarrieren und die Gewissheit, vor allem in Prag ein teilweise deutsch geprägtes kulturelles Milieu vorzufinden.“7 Ein „virtuelles Exil“ war die Tschechoslowakei für Thomas Mann, der im November 1936 die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft erhielt und so der Aberkennung der deutschen zuvorkam.8 Sein Bruder Heinrich, der 1934 eine Einbürgerungszusage von Präsident Masaryk erhalten hatte, hatte weniger Glück gehabt, weil die Gemeinde Reichenberg (Liberec), an die er das entsprechende notwendige Gesuch gerichtet hatte, die Sache unter dem Einfluss der Henlein-Bewegung so lange verschleppte, bis Heinrich Mann seinen Antrag zu-

5

Zur Mühlen, Patrik von: Schlagt Hitler an der Saar! Abstimmungskampf, Emigration u. Widerstand im Saargebiet, 1933–1935. Bonn. Paul, Gerhard: „Deutsche Mutter – heim zu Dir!“ Warum es mißlang, Hitler an der Saar zu schlagen. Der Saarkampf 1933–1935. Köln 1984. 6 Vgl. für einen eingehenderen Vergleich den Beitrag von Volker Zimmermann in diesem Band. 7 Heumos, Peter: Tschechoslowakei. In: Handbuch der deutschsprachigen Emigration 1933– 1945, Hg. von Claus-Dieter Krohn /, Patrik von zur Mühlen/Gerhard Paul und Lutz Winkler, unter redaktioneller Mitarbeit von Elisabeth Kohlhaas. Darmstadt 1998, Sp. 411–246, hier Sp. 411 f. Vgl. auch: Drehscheibe Prag. Deutsche Emigranten 1933–1939. Hg. vom AdalbertStifter-Verein. München 1989, sowie Capkova, Katerina/Frankl, Michal: Unsichere Zuflucht. Die TschechosIowakei und ihre Flüchtlinge aus NS-Deutschland und Österreich 1933–1938. Köln 2012. 8 Abel, Angelika: Thomas Mann im Exil. Zum zeitgeschichtlichen Hintergrund der Emigration. München 2003, S. 95–97. Conze, Eckart/Frei, Norbert/Hayes, Peter/Zimmermann, Moshe (Hg.): Das Amt und die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik. Bonn 2011, S. 82–85.

220   Jürgen Zarusky rückzog.9 Generell aber fanden die politischen Emigranten hier nicht nur Zuflucht, sondern auch die Möglichkeit, äußere Kampfposten gegen die NS-Diktatur zu errichten. Bezeichnend ist, dass in den Hochverratsverfahren des Volksgerichtshofs gegen deutsche und österreichische Widerstandskämpfer der „Aktionsort“ Prag sehr häufig erwähnt wird, sogar noch öfter als Paris.10 Die reichsdeutschen Sozialdemokraten fanden besonders günstige Voraussetzungen vor. Nach der Zerschlagung der Gewerkschaften im Mai 1933 war ein Rumpfvorstand mit dem Parteivorsitzenden Otto Wels an der Spitze mit dem Aufbau eines Auslandszentrums in Prag beauftragt worden. Der seit dem 30. Juli 1933 als Sopade firmierende sozialdemokratische Exilvorstand konnte auf die Unterstützung der in Parlament und Regierung vertretenen sudetendeutschen Genossen zählen, aber auch auf die Sympathien der Präsidenten Masaryk und Beneš für die deutschen Hitlergegner.11 „Man versuchte“, so 1938 rückblickend Friedrich Stampfer über die Strategie der Sozialdemokraten, „[…] die in Deutschland auftretenden Bestrebungen zur Bildung ‚illegaler‘ Organisationen zusammenzufassen und ihre Träger von den Vorgängen im Ausland zu unterrichten, draußen aber eine Tribüne zu schaffen, von der aus die Anklagen des betrogenen und unterdrückten deutschen Volkes gegen seine Unterdrücker der Welt unterbreitet werden konnten.“12 Die wichtigste programmatische Erklärung der Exil-SPD in der Vorkriegszeit war das „Prager Manifest“ vom Januar 1934, in dem die Notwendigkeit des revolutionären Kampfes gegen die nationalsozialistische Diktatur begründet und nachdrücklich auf deren „Gewaltdrohung gegen die Freiheit und Zivilisation aller andern Völker“ hingewiesen wurde. Eine kriegerische „neue Großraumpolitik“ solle „Neuland für die Siedlung im Osten schaffen“ und „alle ‚deutschstämmigen‘ Gebiete dem faschistischen Reich einverleiben“. Die Sopade warnte, den Friedensbekundungen Hitlers Glauben zu schenken. Die Diktatur „die durch frevelhaften Terror und schamlose Vergewaltigung von Recht und Gesetz die Macht behauptet“, werde auch internationale Verträge „brechen, sobald sie den Bruch für sinnvoll hält“. Die Gegenposition wurde ebenso klar formuliert: „Es ist nicht die Aufgabe der Sozialdemokratie, auf den Sturz der Despotie durch den Krieg zu hoffen. Es ist vielmehr ihre Aufgabe den Krieg zu verhindern. Deshalb verwirft sie alle militärischen Konzessionen an Hitlerdeutschland. Sie warnt die Arbeiter­parteien aller Länder, die Gefahren des deutschen Nationalismus zu unterschät­zen.“13 9

Albrechtová, Gertruda: Zur Frage der deutschen antifaschistischen Emigrationsliteratur im tschechoslowakischen Asyl. In: Historica 8 (1964), S. 177–233, hier S. 196–200. 10 Zarusky/Mehringer (Bearb.): Widerstand als „Hochverrat“ 1933–1945, Erschließungsband, S. 706 f. und 708–710. 11 Heumos: Tschechoslowakei, S. 414. 12 „Die deutsche Sozialdemokratie im Exil“. In Matthias, Erich/Link, Werner/Stampfer, Friedrich (Hg.): Mit dem Gesicht nach Deutschland. eine Dokumentation über die sozialdemokratische Emigration ; aus dem Nachlaß von Friedrich Stampfer ergänzt durch andere Überlieferungen. Düsseldorf 1968, S. 309–321. 13 Die Kunst des Selbstrasierens = Prager Manifest [Tarnschrift, online verfügbar unter http:// library.fes.de/library/netzquelle/rechtsextremismus/pdf/tarnschrift.pdf]. Prag 1934, S. 23–25. Siehe auch Sozialistische Aktion, 28. Januar 1934.

Der deutsche Widerstand gegen den Nationalsozialismus   221

Das „Prager Manifest“ fand seinen Weg ins Reich in der eingeschmuggelten Parteizeitung „Sozialistische Aktion“ und einer Tarnbroschüre mit dem Titel „Die Kunst des Selbstrasierens“. Für die Produktion und Verbreitung ihrer Publikationen konnte die Sopade in der ČSR schnell eine effektive Infrastruktur aufbauen: In der Verlagsanstalt Graphia in Karlsbad erschien als offizielles Organ seit dem 18. Juni 1933 wöchentlich der „Neue Vorwärts“ in einer Auslandsausgabe mit ­anfangs bis zu 14 000 Exemplaren; 1938 waren es noch 5300. Für den illegalen Vertrieb in Deutschland wurde ab Ende 1933 dort die „Sozialistische Aktion“ mit zeitweilig bis zu 17 000 Exemplaren gedruckt. Der organisierte, stetige Informationszufluss aus dem Reich fand seinen Niederschlag in den Deutschlandberichten der Sopade, den nach ihrer Umschlagsfarbe sogenannten Grünen Berichten, die, in einer Auflage von einigen hundert Stück vervielfältigt, vor allem politischen Funktionsträgern und Stäben des Auslandes zugestellt wurden, um diesen ein ­realistisches, von NS-Propaganda freies Deutschlandbild zu vermitteln.14 Von den elf Grenzsekretariaten, die die Sopade entlang der Grenzen des Reiches einrichtete, um Kontakt mit den im Untergund arbeitenden Genossen zu halten, entfielen die fünf wichtigsten auf die ČSR.15 In Prag befand sich neben der Sopade u. a. auch das Auslandsbüro der linkssozialistischen Organisation „Neu Beginnen“, zu deren Strategie es gehörte, verdeckt Einfluss auf die Sopade zu nehmen.16 Kommunistische Emigranten wurden in der ČSR zunächst eher abweisend behandelt. Das Verhältnis der tschechoslowakischen Behörden zur KPD-Emigration verbesserte sich erst nach dem Abschluss des Beistandsvertrages mit der Sowjetunion von 1935 und der damit einhergehenden „patriotischen Wende“ der KSČ.17 Das Politbüro der KPD war zunächst nach Paris, dann 1935 nach Moskau ausgewichen, jedoch wurde im Herbst 1935 eine operative Auslandsleitung unter Walter Ulbricht gebildet, die ein Jahr lang in Prag residierte, von wo sie dann nach Paris übersiedelte.18 In Prag verblieb jedoch die Abschnittsleitung Mitte.19 Auch die kleine Gruppe der deutschen Trotzkisten14 Deutschland-Berichte

der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (Sopade) 1934–1940, 7 Bde. Neu hg. und mit einem Register versehen von Klaus Behnken. Salzhausen 1980. 15 Buchholz, Marlis/Rother, Bernd (Hg.): Der Parteivorstand der SPD im Exil. Protokolle der Sopade 1933–1940. Bonn 1995, S. XXXVI. Eine Überblickskarte über die Grenzsekretariate findet sich bei Mehringer, Hartmut: Waldemar von Knoeringen. Eine politische Biographie. Der Weg vom revolutionären Sozialismus zur sozialen Demokratie. München 1989, S. 85. Hier auch die differenzierte und für die Lage der sozialistischen Emigration generell aufschlussreiche Darstellung der Tätigkeit von Knoeringens als Grenzsekretär der Sopade und der gleichzeitigen semiklandestinen Tätigkeit für die linkssozialistische Gruppe „Neu Beginnen“, S. 80–164. 16 Foitzik: Zwischen den Fronten, S. 130–140. 17 Heumos: Tschechoslowakei, S. 415. 18 Herbst, Andreas: Kommunistischer Widerstand. In: Steinbach, Peter/Tuchel, Johannes (Hg.): Widerstand gegen die nationalsozialistische Diktatur 1933–1945. Bonn 2004, S. 33–55, hier S. 42. 19 Weber, Hermann: Die KPD in der Illegalität. In: Löwenthal, Richard/zur Mühlen, Patrick (Hg.): Widerstand und Verweigerung in Deutschland 1933 bis 1945.Bonn 1984, S. 83–101, hier S. 92 f.

222   Jürgen Zarusky hatte zuerst in Prag Zuflucht gefunden. Wie andere Oppositionsparteien konnte sie dort ein organisatorisches Zentrum etablieren und die grüne Grenze für den Schriftenschmuggel nutzen.20 Von ganz anderem politischen Zuschnitt, aber ebenfalls auf das tschechoslowakische Exil angewiesen war die „Schwarze Front“ von Otto Strasser, die dieser nach seinem Austritt aus der NSDAP 1930 ins Leben gerufen hatte. Er hatte allerdings nie mehr als ein paar Tausend Anhänger um sich versammeln können. Strasser21 führte von der Tschechoslowakei aus seine Organisation fort und unterhielt dort sogar einen eigenen Kurzwellensender, der besonderen Unwillen bei den deutschen Machthabern hervorrief. Ein von Reinhard Heydrich beauftragtes Sonderkommando verübte in der Nacht vom 23. auf den 24. Januar 1935 einen Anschlag auf den Sender und ermordete dabei den Ingenieur Rudolf Formis22 – ein schwerer Schlag gegen die „Schwarze Front“. Die Verurteilung Strassers wegen Betreiben des Schwarzsenders zu fünf Monaten Gefängnis blieb indes ohne Konsequenz, denn – so berichtet Wenzel Jaksch –, „der sozialdemokratische Justizminister Dr. Derer sorgte dafür, dass diese Strafe nie abgebüsst zu werden brauchte.“ Jaksch sieht darin eine „Illustration dafür, dass in diesen Jahren eine ganz natürliche Interessengemeinschaft zwischen allen Gegnern Hitlers und seiner Kriegspläne bestand.“23 Im Wesentlichen bestand auch deren Tätigkeit aus der Aufrechterhaltung eines klandestinen Organisationsnetzes und Propaganda. Die Zeitung „Deutsche Revolution“ und die „Huttenbriefe“ wurden in der Tschechoslowakei hergestellt. Wegen eines angeblich im Auftrag Strassers geplanten Anschlages auf das Reichsparteitagsgelände wurde der im Dezember 1936 festgenommene „halbjüdische“ Helmut Hirsch im März 1937 vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilt und – ungeachtet der Interventionen des amerikanischen Botschafters William Dodd und der Zuerkennung der amerikanischen Staatsbürgerschaft – am 4. Juli 1937 hingerichtet.24 Die „demokratische Festung im Osten“, wie Thomas Mann 1938 die Tschechoslowakei nannte,25 bot 20 Weinhold,

Barbara: Eine trotzkistische Bergsteigergruppe aus Dresden im Widerstand gegen den Faschismus. Köln 2004. Englhardt, Falk: Entwicklung und Politik der trotzkistischen Linksopposition in Leipzig ab 1924 (Magisterarbeit). Chemnitz 2007. 21 Gebräuchlich ist auch die Schreibweise „Straßer“. Zur Schwarzen Front vgl. Moreau, Patrick: Nationalsozialismus von links. Die „Kampfgemeinschaft Revolutionärer Nationalsozialisten“ und die „Schwarze Front“ Otto Straßers, 1930–1935. Stuttgart 1984. Grabe, Wilhelm: Ein dissidenter Nationalsozialist im Exil. Otto Strasser und die „Schwarze Front“ 1933–1940. (unveröff. Magisterarbeit) Münster 1988. Biogramm im Biographischen Handbuch der deutschsprachigen Emigration 1: Politik, Wirtschaft, Öffentliches Leben. Hg. von Werner Röder und Herbert A. Strauss. München 1980, S. 740–742; 22 Grossmann, Kurt R.: Emigration. Geschichte der Hitler-Flüchtlinge 1933–1945. Frankfurt a. M. 1969, S. 95–97. 23 Jaksch, Wenzel: Das Unheilsjahr 1938. In: Ruhm und Tragik der Sudetendeutschen Sozialdemokratie. Zum 50. Geburtstag von Wenzel Jaksch. Malmö 1946, S. 101–110, hier S. 106. 24 Insgesamt wurden fast 60 Prozesse gegen Mitglieder der Schwarzen Front vor dem Volksgerichtshof geführt. Zarusky/Mehringer (Bearb): Widerstand als „Hochverrat“, S. 658 f.; Urteil 2H 9/37 -- 8J 31/37g Rs gegen Helmut Hirsch, MF 0089 in der Edition. Etzold, Thomas H.: An American Jew in Germany: The death of Helmut Hirsch. In: Jewish social studies 35 (1973), S. 125–140. 25 Mann, Thomas: Dieser Friede. Stockholm 1938, S. 24.

Der deutsche Widerstand gegen den Nationalsozialismus   223

den politischen Emigranten keine vollkommene Sicherheit,26 aber doch ein Refugium für Auslandsorganisationen und publizistische Schießscharten, aus denen heraus immer wieder spitze Pfeile auf das NS-Regime abgeschossen wurden. Gertruda Albrechtová ist zuzustimmen, wenn sie schreibt: „Obwohl die Emigration nie eine Einheit oder einen geschlossenen Machtfaktor bildete, lassen sich un­ zählige Beweise dafür anführen, wie sehr die Emigranten […] dem Nimbus des III. Reiches geschadet haben. Ihre unentwegte politische Tätigkeit, ihre Aufklärungsarbeit in Broschüren, Büchern, Zeitungen und Zeitschriften, in Vorlesungen und Rundfunkvorträgen haben den Nationalsozialismus einer Lüge nach der ­anderen, einer Gräueltat nach der anderen überführt und die Weltöffentlichkeit aufhorchen (wenn auch nicht eingreifen) lassen.27 So günstig sich die Emigrationsbedingungen zunächst gezeigt hatten und so groß die Solidarität zahlreicher Bürger der Tschechoslowakei mit den deutschen Flüchtlingen auch war – zwischen 1933 und 1939 brachten die diversen Hilfs­ komiteees, auf die die Exilanten auch in administrativer Hinsicht angewiesen waren,28 rund 15 Millionen Kronen, also fast 2 Millionen Reichsmark an Spenden auf29 –, die Hoffnungen auf eine grundlegende Veränderung der Verhältnisse in Deutschland blieben doch unerfüllt und das Leben im Exil wurde schwieriger. Von vorneherein war es überdies begleitet von Konflikten innerhalb der Emigration, die mit inneren Konflikten und zahlreichen Gestapo-Spitzeln zu kämpfen hatte.30 Auch der tschechoslowakische Geheimdienst interessierte sich für die Emigranten und konnte einzelne von ihnen als Mitarbeiter anwerben, wie etwa Wilhelm Buisson, einen Münchener Sozialdemokraten.31 Zum massivsten Problem für die Emigranten aber wurde der politische Druck der deutschen Regierung, die von der tschechoslowakischen immer nachdrücklicher forderte, deren politische Tätigkeit zu unterbinden. Dieses Thema stand neben der Situation der Sudetendeutschen und der Legalisierung nationalsozialistischer Aktivitäten in

26 Am

30. August 1933 war der bei den deutschen Rechtsextremisten verhasste deutsch-jüdische, ins tschechoslowakische Exil geflüchtete Philosoph Theodor Lessing in Marienbad von Nationalsozialisten ermordet worden. Vgl. Marwedel, Rainer: Theodor Lessing 1872–1933. Eine Biographie. Frankfurt am Main 1987, S. 341 ff. Eine geplante Entführung des SPD-Vorsitzenden Otto Wels im Sommer 1933 wurde durch eine Warnung tschechoslowakischer Diplomaten in Berlin an die heimischen Behörden vereitelt. Vgl. Seebacher-Brandt, Brigitte: Die deutsche politische Emigration in der Tschechoslowakei. In: Glotz, Peter/Pollok, Karl-Heinz/ Schwarzenberg, Karl/Nees Ziegler, John van (Hg.): München 1938. Das Ende des alten Europa. Essen 1990, S. 229–249, hier S. 230. 27 Albrechtová: Emigrationsliteratur im tschechoslowakischen Asyl, S. 179. 28 Becher, Peter: Metropole des Exils – Prag 1933–1939. In Exilforschung 20 (2002), S. 159–177, hier S. 163–165. 29 Heumos: Tschechoslowakei, S. 415. 30 Vgl. dazu Grossmann: Emigration, S. 67–97 und S. 105–110. 31 Der für München zuständige Grenzsekretär Waldemar von Knoeringen nahm deshalb von der Zusammenarbeit mit ihm Abstand. Buisson wurde 1938 in Österreich festgenommen und am 27. April 1940 vom Volksgerichtshof wegen Landes- und Hochverrats zum Tode verurteilt. Mehringer: Knoeringen, S. 82 f. und S. 424 f.; Zarusky/Mehringer (Bearb): Widerstand als „Hochverrat“, Anklage und Urteil Urteil 1L 2/40 – 14J 522/37g,, MF 0396/0704 f.

224   Jürgen Zarusky der ČSR im Zentrum der Verhandlungen über einen „Pressefrieden“, die nach einer antitschechischen Propagandaoffensive der nationalsozialistisch kontrollierten Presse 1936/37 geführt wurden.32 Ende 1937 gab die Prager Regierung schließlich dem deutschen Druck nach. Der tschechoslowakische Gesandte Mastný anerkannte am 8. November den Standpunkt des Auswärtigen Amtes und betonte, dass den Emigrantenblättern bereits vor Monaten das Kolportagerecht entzogen worden sei.33 Staatspräsident Beneš wurde indes bei einer Besprechung am 9. November 1937 von dem deutschen Gesandten Eisenlohr mit weiteren Forderungen konfrontiert.34 Beneš nahm in dem Gespräch eine gegenüber den Emigranten distanzierte Haltung ein, die seiner tatsächlichen Überzeugung wohl nicht entsprochen hat. Jedenfalls verwies er darauf, dass, nicht zuletzt unter dem Eindruck des Falles Hirsch, der ihn über die Gefahr terroristischer Tendenzen unter den Emigranten belehrt habe, eine Reihe von Maßnahmen eingeleitet worden seien. Insbesondere sei eine Umsiedlung der politischen Flüchtlinge aus den grenznahen in entlegenere Gebiete geplant.35 Eisenlohr ließ sich mit diesen allgemeinen Aussagen nicht beschwichtigen, sondern schob konkrete Forderungen nach: Er überreichte dem Präsidenten eine Liste von unerwünschten Emigrantenpublikationen und wies dabei besonders auf die „Gefährlichkeit“ der Deutschlandberichte der Sopade und der Verlagsanstalt Graphia in Karlsbad hin. Drei Wochen später, am am 29. November 1937 erläuterte Beneš dem Generalsekretär der sudetendeutschen Sozialdemokraten Siegfried Taub, einem Vertrauensmann der reichsdeutschen Emigranten, warum die Unterbindung ihrer politischen Tätigkeit unausweichlich sei. Zu den bereits bekannten deutschen Forderungen seien jetzt auch offizielle britische Demarchen gekommen, die das Verbot der Emigrantenpresse als „Zeichen guten Willens“ forderten. Beneš belegte dies Taub zufolge mit zwei offiziellen Schreiben der britischen Gesandtschaft.36 Auch eine dritte europäische Großmacht habe in jüngster Zeit entsprechend auf Prag eingewirkt. Auf Taubs Frage, „ob nicht ein solches Entgegenkommen zu neuen, weitergehenden und für die Tschechoslowakei unerfüllbaren Forderungen führen würde“, antwortete Beneš, es komme darauf an, Zwischenfälle zu vermeiden, um so Zeit zu gewinnen und vielleicht den Frieden in Europa zu sichern.37 32 Hermann,

Angela: Der Weg in den Krieg, 1938/39. Quellenkritische Studien zu den Tagebüchern von Joseph Goebbels. München 2011, S. 139–150. 33 Akten zur deutschen auswärtigen Politik 1918–1945 (ADAP). Serie D, Bd. 2. Göttingen 1950, Dok. 17, S. 28. 34 ADAP D, 2, Dok. 18, S. 33–35. 35 Dieses Vorhaben wurde durch öffentliche Proteste und die Intervention des DSAP-Abgeordneten Siegfried Taub abgewehrt. Vgl. Seebacher-Brandt: Politische Emigration, S. 241. 36 Dies wurde von offizieller englischer Seite später bestritten, während Friedrich Stampfer den Vorwurf an die Regierung Neville Chamberlain aufrechterhielt, sie habe Anteil an der Verdrängung der deutschen und österreichischen Emigranten aus der ČSR gehabt. Vgl. dazu Matthias/Link/Stampfer: Mit dem Gesicht nach Deutschland, S. 101 f. 37 Buchholz/Rother: Parteivorstand, Anhangdokument Nr. 24: Protokoll der Besprechung von Parteivorstands-Mitgliedern mit Vertretern der DSAP in der Tschechoslowakei am 3. Dezember 1937, S. 507–511.

Der deutsche Widerstand gegen den Nationalsozialismus   225

Die Sopade, von Taub mit der Information über das drohende Verbot des „Neuen Vorwärts“ und der „Sozialistischen Aktion“ konfrontiert, beschloss die Verlagerung des Publikationsstandortes nach Paris, wohin im April/Mai 1938 angesichts der massiven Einschränkung seiner politischen Handlungsmöglichkeiten dann der ganze Exilparteivorstand umsiedelte.38 Er verabschiedete sich mit einer Denkschrift, in der ausdrücklich anerkannt wurde, dass das Verhalten der Prager Regierung auf äußeren Druck zurückzuführen sei und nichts an dem historischen Verdienst der Tschechoslowakischen Republik ändere, „der deutschen Sozial­ demokratie in den ersten schweren Jahren des Exils eine Freistatt geboten zu haben“.39 Der „Neue Vorwärts“ konnte sein Erscheinen fast ohne Unterbrechung fortsetzen: Die letzte in Karlsbad produzierte Nummer (Nr. 238) kam am 31. Dezember 1937 heraus, die erste in Paris erstellte (Nr. 239) am 17. Januar 1938. In dem Leitartikel „Pressefrieden – und was dann?“ wurde darauf hingewiesen, dass auch die österreichische Regierung Schuschnigg Druck auf die ČSR ausgeübt habe, um das Erscheinen der „Arbeiterzeitung“ der österreichischen Sozialisten zu unterbinden, die mittlerweile ebenfalls nach Paris ausgewichen war. Für die Motive der tschechoslowakischen Regierung brachten die deutschen Sozialdemokraten zwar Verständnis auf, stellten aber nichtsdestoweniger die Frage: „Wohin wird man auf dieser schiefen Ebene noch gleiten?“ „München“ sollte darauf eine vorläufige Antwort geben, aber schon zuvor hatte die Tschechoslowakei 1937/38 die Rolle eines Stützpunktes für das Anti-HitlerExil verloren. So wechselten auch die „Neue Weltbühne“ und ihr Herausgeber Hermann Budzislawski 1938 nach Paris.40 Die in Karlsbad herausgegebenen „Nachrichten des Auslandsbüros von Neu Beginnen“ hatten schon im April 1937 das Erscheinen eingestellt.41 Die „Schwarze Front“ war bereits 1937 infolge ihrer programmatischen Inkonsistenz und der politischen wie persönlichen Sprunghaftigkeit ihres Anführers so stark erodiert, dass von ihr keine politischen Impulse mehr ausgingen. Mit der Flucht Otto Strassers aus der Tschechoslowakei im Oktober 1938 endete faktisch ihre Existenz.42 Zu den wenigen Vertrauensleuten von Sopade und Neu Beginnen, die noch in der ČSR blieben, gehörte Waldemar von Knoeringen, der sich Plänen widersetzte, die Neu Beginnen-Strukturen vollständig in den Westen zu transferieren. In den Krisenmonaten vor dem Münchener Abkommen nahm er Kontakt mit Wenzel Jaksch, dem Vorsitzenden der deutschen Sozialdemokraten in der Tschechoslowakei (DSAP), auf und ventilierte Pläne für den Einsatz deutscher Emigranten in den Reihen der Republikanischen Wehr, der Kampforganisation der DSAP, die auf Seiten der ČSR gegen Hitler38 Ebenda,

S. XXXIII f.

39 Matthias/Link/Stampfer:

Mit dem Gesicht nach Deutschland, Dok. 37, S. 316. Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933. Hrsg. vom Institut für Zeitgeschichte, München, und von der Research Foundation for Jewish Immigration, New York unter der Gesamtleitung von Werner Röder und Herbert A. Strauss. Band 1: Politik, Wirtschaft, Öffentliches Leben. München 1980. S. 102 f. 41 Bibliographische Angaben im OPAC des IfZ; http://library.fes.de/prodok/orgind/m710.pdf. 42 Grabe: Dissidenter Nationalsozialist, S. 106 f. 40 Biographisches

226   Jürgen Zarusky deutschland kämpfen sollte. All das blieben aus Ohnmacht geborene Gedankenspiele, und auch Knoeringen musste schließlich im Oktober seinen Posten aufgeben.43 Anfang August 1938 war auch Kurt Grossmann, Sozialdemokrat und Aktivist der Liga für Menschenrechte, der in der Tschechoslowakei die Demokratische Flüchtlingsfürsorge leitete, emigriert.44 Auch die Abschnittsleitung Mitte der KPD, die die Untergrundarbeit in Sachsen, Mitteldeutschland und Schlesien, wurde 1938 von Prag nach Malmö verlegt.45 Schon deutlich vor „München“ taugte die Tschechoslowakei nicht mehr zum auswärtigen Kampfposten für den antinazistischen Widerstand.

Vergebliche Warnungen Die Emigranten hatten damit einen Grund mehr, „Hitler als Angreifer“ zu sehen, wie eine Schlagzeile des „Neuen Vorwärts“ vom 29. Mai 1938 lautete. Ihre wichtigste Aufgabe sahen die linken Widerstandsgruppierungen darin, vor diesem ­Aggressor und seinem Doppelspiel mit den Sudetendeutschen zu warnen. Ihre Hoffnungen setzten sie dabei auf das tschechoslowakische Bündnissystem und die Standhaftigkeit von Frankreich, England und der Sowjetunion. Die Wochenendkrise vom 20. bis 22. Mai, die weithin als Zurückweichen des zum militärischen Angriff entschlossenen Hitler angesichts der Teilmobilmachung der tschechoslowakischen Streitkräfte aufgefasst wurde,46 schien diese Hoffnung zunächst zu bestärken. So hieß es etwa in dem genannten Artikel des Sopade-Organs: „Bei der ersten großen europäischen Entscheidung, die Hitler anstrebt, wird die Schwäche seiner Stellung schon im Vorstadium sichtbar. Heute gibt es keine Experimente mehr auf der Grundlage seiner ‚traumwandlerischen Sicherheit‘, heute muss er wissen, wo die großen Mächte im Kriegsfalle stehen werden. Er ist gewarnt.“47 In derselben Nummer trat der „Neue Vorwärts“ der larmoyant-­ aggressiven Propaganda der Nationalsozialisten und der sudetendeutschen Partei entgegen, die lautstark darüber klagten, im Zuge des Kommunalwahlkampfes komme es zu ständigen tätlichen Übergriffen und unerhörten Beleidigungen von Angehörigen der deutschen Volksgruppe. Der „Neue Vorwärts“ beklagte, „die dreiste Unverschämtheit und Verlogenheit dieser Darstellung“ sei in der ganzen Welt unwidersprochen geblieben. Tatsächlich gebe es Übergriffe, aber es handle sich um einen von den Anhängern der SdP ausgeübten „Wahlterror“ gegen jene Sudetendeutschen, die sich weigerten sich „gleichzuschalten“. „Was im sudeten­

43 Mehringer:

Knoeringen, S. 151–164. des Instituts für Zeitgeschichte, Zeugenschrifttum, ZS 1970, Interview mit Kurt Grossmann, online: http://www.ifz-muenchen.de/archiv/zs/zs-1970.pdf. 45 Weber: KPD in der Illegalität, S. 92 f. 46 Schmidt, Rainer F.: Die Außenpolitik des Dritten Reiches 1933–1939, Stuttgart 2002, S. 259– 266. 47 „Hitler als Angreifer“, Neuer Vorwärts Nr. 258 vom 29. Mai 1938. 44 Archiv

Der deutsche Widerstand gegen den Nationalsozialismus   227

deuschen Gebiete vor sich geht, ist die Übertragung des in Österreich geübten nationalsozialistischen Terrors auf tschechoslowakisches Staatsgebiet.“48 Die Deutschlandberichte der Sopade brachten in der Juni- und der AugustAusgabe 1938 ausführliche Mitteilungen über deutsche militärische Vorbereitungen und propagandistische Angriffe gegen die Tschechoslowakei, ferner über den Aufenthalt sudetendeutscher Deserteure der tschechoslowakischen Armee im Deutschen Reich und über die Lage im sudetendeutschen Gebiet.49 Die politische Einschätzung der dortigen Lage durch die Sopade war klarsichtig und wird durch die historische Forschung bestätigt: „Nicht weil die nationalen Gegensätze sich verschärft haben, ist die Lage zwischen Deutschland und der Tschechoslowakei gespannt, sondern gerade umgekehrt: weil das nazistisch-alldeutsche Deutschland die Existenz einer von ihm unabhängigen Tschechoslowakei nicht ertragen kann, betreibt es die Radikalisierung der deutschen Minderheit in diesem Nachbarlande“, hieß es in einem großen, ungezeichneten Artikel in der Beilage des „Neuen Vorwärts“ vom 5. Juni 1938, der mit einem Seitenhieb auf die Appeaser schloss: Das „schwere Werk“, den Frieden zu retten, werde sicherlich „nicht dem gelingen, der sich durch die ethisch-idealistischen Maskeraden skrupelloser Gewaltpolitiker täuschen lässt.“50 Die verhalten optimistische Reaktion auf die Wochenendkrise war inzwischen einer viel dunkleren Stimmung gewichen. In einer Sopade-Denkschrift von Ende Juni 1938 über die Lage der Partei im Exil hieß es: „Es ist wahr und muss offen ausgesprochen werden, dass zur Zeit bei den Gegnern Hitlers in Deutschland ­tiefe Niedergeschlagenheit herrscht. Sie sehen, dass große Massen des Volkes zu einer Erhebung gegen das System noch nicht reif sind, da sie geneigt sind, für den Verlust ihrer staatsbürgerlichen Freiheit und für die Verschlechterung ihrer Lebensbedingungen die außenpolitischen Erfolge Hitlers als vollen Gegenwert in Rechnung zu stellen. […] Die sozialdemokratische Opposition scheint in diesem Augenblick nicht nur durch den Terror niedergeschlagen, sondern auch durch die Tatsachen widerlegt. […].“ Auch das sozialdemokratische Exil, so der Verfasser Friedrich Stampfer, finde bei seinem Bemühen um die Verbreitung der Wahrheit, dass der Frieden nur durch den Sturz der Despotie gerettet werden könne, fast gar keine Unterstützung.51 Tatsächlich war die Lage des sozialistischen Untergrundes nach fünf Jahren permanenter Verfolgung und politischer Niederlagen so miserabel, dass sich bei vielen seiner Anhänger das ursprüngliche Konzept des Sturzes Hitlers zur Bewahrung des Friedens in sein Gegenteil verkehrte. In einem Stim48 „Die

Lüge“, ebenda. Vgl. auch den Beitrag von Detlef Brandes in diesem Band. gegen die Tschechoslowakei“, Deutschlandberichte Bd. 5 (1938), Juni 1938, S. 555–577, Nr. 8 [abgeschlossen 14. Sept. 1938]. ebenda S. 822–841. 50 „Deutschland und die Tschechoslowakei“. Neuer Vorwärts Nr. 259 vom 5. Juni 1938. Beilage. Weniger klarsichtig waren indes Spekulationen über eine „Kriegspartei“ in der deutschen Führung an deren Spitze Göring stehe, während Hitler zögere und sich mit der Unvermeidbarkeit des Kriegs „abfinde“. Vgl. „Noch ist der Friede nicht gesichtert!“. In: „Neuer Vorwärts“, Nr. 260 vom 12. Juni 1938. 51 Matthias/Link/Stampfer: Mit dem Gesicht nach Deutschland, Dok. 37, S. 320. 49 „Deutschland

228   Jürgen Zarusky mungsbericht zum Thema „Volk und Krieg“ vom Sommer 1938 führten die „Deutschlandberichte“ aus, dass die große Masse des Volkes den Krieg fürchte, von dem niemand glaube, dass er gewonnen werden könne. Ganz anders aber sahen das viele Sozialdemokraten: „Für unsere Genossen ist der Krieg die einzige Hoffnung. So schwer das wahren Friedensfreunden fällt, sie sehen keinen anderen Weg zum Sturz der Diktatur.“52 Ähnliche Stimmungen gab es auch im kommunistischen Untergrund, wie ein Rundschreiben des ZK-Sekretariats der KPD an die Abschnittsleitungen, die Kontakt zu den Illegalen im Land hielten, vom 29. Juli 1938 belegt. Die KPD-Führung, die wiederum unter dem politischen Druck des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale stand,53 bewertete die Einstellung unter den Kommunisten sehr kritisch: „In der Frage des Kampfes um den Frieden – das zeigen alle Berichte – herrscht unter den Antifaschisten, bis in die Reihen aktiver Parteikader hinein, noch immer stark die fatalistische Meinung vor, dass der Krieg unvermeidlich sei, dass es sich deshalb jetzt nicht lohne, im Kleinkampf in den Betrieben und Massenorganisationen Opfer zu bringen. Diese gefährliche Einstellung, die zur Grundlage das fehlende Vertrauen zur Kraft der Arbeiterklasse und zur Rolle unserer Partei hat, die deshalb auf das Eingreifen äußerer Mächte spekuliert, lähmt die Initiative im aktuellen Tageskampf.“54 Doch außer der „Popularisierung der Sowjetunion und des genialen Führers des Weltproletariats, des Genossen Stalin“ wodurch die „Massen“ von der Richtigkeit des kommunistischen Kurses überzeugt werden würden55, hatte das ZK-Sekretariat kaum Wegweisendes zu bieten. Wie wenig aussichtsreich der „Tageskampf“ tatsächlich war, zeigt etwa das Beispiel der jungen Kommunistin Hildegart Gurgeit. Seit 1935 in der Tschechoslowakei lebend, war sie Ende August 1938 in die von Broumov (Braunau) aus in Richtung Breslau betriebene kommunistische Arbeit einbezogen worden. Am 10. oder 11. September fuhr sie, ausgestattet mit genauen Instruktionen, dort hin und traf sich mit einem angeblichen „SPD-Mann“. Diesem händigte sie ein Schreiben zur Weiterleitung an das tschechoslowakische Konsulat aus, in dem die Friedensliebe der Breslauer beteuert und die tschechoslowakische Regierung zur Festigkeit im Konflikt mit Deutschland aufgefordert wurden. Sie forderte ihren Ansprechpartner des Weiteren auf, ein Flugblatt mit einer Warnung vor der Kriegsgefahr zu verfassen und zu verbreiten. Viel wurde daraus nicht, denn bereits am 20. September 1938 wurde Gurgeit in Breslau festgenommen. Der Volksgerichtshof verurteilte sie ein Jahr später unter Anrechnung der Untersuchungshaft zu acht Jah-

52 Deutschlandberichte

Bd. 5 (1938), Juli 1938 [abgeschlossen am 24. August 1938], S. 685. Hermann: Zur Anleitung des Widerstands der KPD. Ein Rundschreiben des ZK-Sekretariats an die Abschnittsleitungen vom 29. Juli 1938. In: Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung 26 (1990), S. 526–539, hier S. 526–530. 54 Ebenda, S. 533. 55 Ebenda, S. 536. 53 Wichers,

Der deutsche Widerstand gegen den Nationalsozialismus   229

ren Zuchthaus.56 Zu drei Jahren Zuchthaus verurteilte der Volksgerichtshof im November 1939 den spiritus rector einer kleinen kommunistischen Betriebszelle bei den Wacker-Chemiewerken in Burghausen, Sebastian Wallner. Seine drei Mitangeklagten erhielten Strafen zwischen einem Jahr Gefängnis und zweieinhalb Jahren Zuchthaus. Neben dem Austausch kommunistischer Literatur und einer bescheidenen Geldsammlung für die Angehörigen politischer Gefangener enthielt die Anklage auch den Vorwurf der Planung von Betriebssabotage im Falle eines 1938 ausbrechenden Krieges. Die Ermittlungen erbrachten indes nicht mehr, als dass Wallner für den Fall eines deutsch-tschechoslowakischen Krieges ein Eingreifen der UdSSR und einen Sieg des Bolschewismus vorhergesagt hatte. Immerhin hatte er wohl während der Sudetenkrise intensive Mundpropaganda betrieben; darauf deutet der ihm von Arbeitskollegen verliehene Spitzname „Dr. Benesch“ hin.57 So dramatisch die Lage im Spätsommer 1938 auch war – „Alles deutet darauf hin, dass die Zeit gekommen ist, wo es sich entscheidet, ob Hitler unser Volk in die Kriegskatastrophe stürzen kann oder ob er erneut zurückweichen muss“, hieß es etwa in einem KPD-Flugblatt vom August58 – so gering waren die Handlungsmöglichkeiten von Untergrund und Exil. Es blieb die weit verbreitete Deutung der Wochenendkrise als ein Zurückweichen Hitlers, zum anderen die Erwartung der Kampfbereitschaft Englands, Frankreichs und der Sowjetunion. Es sei „Selbstbetrug“ zu glauben, diese Mächte würden der Tschechoslowakei nicht beistehen und die deutsche Expansion widerstandslos zulassen, hieß es in dem Flugblatt. Die revolutionsnostalgische KPD-Führung setzte ihre unrealistische Hoffnung weiterhin auf die angeblich „viele Millionen zählende deutsche antifaschistische Opposition“, während die Gallionsfigur des aufgrund von Differenzen zwischen den stalinistischen Kommunisten und anderen Strömungen gescheiterten Pariser Volksfrontausschusses, Heinrich Mann, im September 1938 versuchte, angesichts der dramatischen Lage diesem noch einmal Leben einzuhauchen. Das Resultat der von ihm am 22. September einberufenen Konferenz waren zwei Aufrufe, gerichtet an das deutsche Volk und an die Völker der demokratischen Länder, in 56 Anklage

und Urteil 7J 677/38 – 2H 1/39 gegen Hildegart Gurgeit, Widerstand als „Hochverrat“ 1933–1945, Mikrofiche 0282, ( auch in der Online-Datenbank „ Nationalsozialismus, Holocaust, Widerstand und Exil 1933–1945). Vgl. auch das von Grit Ulrich erstellte Findbuch zum Nachlass Hildegart Gurgeit (1913–2005), Stiftung Archiv der Parteien und Massen­ organisationen im Bundesarchiv, NY 4589, Berlin 2006, http://midosa.startext.de:8180/barch/ MidosaSEARCH/ny4589/index.htm?kid=c8f4229c-5380-40cc-bf29-dc30fde­0790c. 57 Anklage und Urteil 6J 14/38 – 1H 20/39 gegen Huber, Wallner u. a., ebenda, Mikrofiche 0142 und 0283. 58 Flugblatt „Liebe Freunde“ (Augst 1938), Faksimile in: Der antifaschistische Widerstandskampf der KPD im Spiegel des Flugblattes 1933–1945. 240 Faksimiles und 6 originalgetreue Reproduktionen zusammengestellt und eingeführt von Margot Pikarski und Günter Uebel. Berlin (O) 1978. Nr. 103. Vgl. auch das vom 9. Mai 1938 datierenden Flugblatt „An die werktätige Bevölkerung der Rheinprovinz“ unter der Überschrift „Nach Österreich – die Tschechoslowakei!“, in dem es hieß, die Tschechoslowakei könne sich auf ihre Verbündeten verlassen; ebenda Nr. 100.

230   Jürgen Zarusky denen zur Einheit und zum Sturz Hitlers aufgerufen wurde, die aber nur von ZK-Mitgliedern sowie notorischen „Parteiliteraten und fellow travellers“ unterzeichnet wurden.59 Die Gestapo indes schätzte die allgemeine politische Situation im Reich im September 1938 als ruhig ein, allerdings meldet der entsprechende Monatsbericht eine verstärkte kommunistische Flüster- und Wandparolenpro­ paganda, die sich insbesondere aus Sendungen in Moskau stationierter Sender speise.60 Auch vom sozialdemokratischen Milieu ging nach Beobachtungen der Gestapo „eine lebhaftere Mundpropaganda“ aus.61 Mehr aber war nicht, und so sah der Vorstand der SPD in seinem Aufruf vom 14. September 1938 „An das deutsche Volk!“62 – unmittelbar nach Hitlers hasserfüllter antitschechischer Rede auf dem Nürnberger Parteitag am 12. September und den sie begleitenden Unruhen der sudetendeutschen Nationalisten – den Krieg bereits „in nächster Nähe“. Sollte er ausbrechen, falle „die ganze Wucht der Schuld auf Hitler und sein System“. Daher werde man im Falle des Krieges an der „Seite aller Gegner Hitlers, die für die Freiheit und die Kultur Europas kämpfen“ stehen. Die Aufforderung an das deutsche Volk „Erkämpfe Deine Freiheit“ durfte nicht fehlen, doch nun ging es schon nicht mehr darum, die Diktatur zu stürzen, um den drohenden Krieg zu verhindern, sondern darum ihn zu verkürzen: „Der Sturz des Systems verkürzt den Krieg, bewahrt Millionen vor dem Tode, rettet das Volk!“ Die Haltung der politischen Partner der SPD war indes nicht eindeutig. Die oppositionelle englische Labour Party hatte zwar ihre Regierung in einer gemeinsamen Resolution mit dem Gewerkschaftsbund TUC am 8. September zu Festigkeit gedrängt und erklärt, die britische Regierung dürfe „die deutsche Regierung darüber nicht länger im Zweifel lassen, dass sie sich mit der französischen Regierung und der Sowjetregierung vereinigen wird, um sich einem Angriff auf die Tschechoslowakei zu widersetzen“63, aber die kampfunwillige Regierung Daladier, auf die es entscheidend ankam, konnte in der Sudetenkrise auf die „loyale Opposition“ der französischen Sozialisten zählen.64 Und der Appell Thomas Manns, der unmittelbar nach seiner Ankunft in den USA am 25. September 1938 in einer Kundgebung im Madison Square Garden unter dem starken Beifall von über 59 So

Duhnke, Horst: Die KPD von 1933 bis 1945. Köln 1972, S. 255. Die Aufrufe „An das deutsche Volk“ und „An die Völker der demokratischen Länder!“ sind u. a. abgedruckt in der Zeitschrift „Die neue Weltbühne“, Jg. 34, Nr. 39 vom 29. September 1938, S. 1238–1240. Zum Heinrich-Mann-Ausschuss siehe Langkau-Alex, Ursula: Deutsche Volksfront 1932–1939. Zwischen Berlin, Paris, Prag und Moskau. Band 2 Berlin 2004, S. 444 f. 60 Lagebericht des Geheimen Staatspolizeiamtes über Kommunismus, Marxismus für Monat September 1938 (Oktober 1938). In: Nationalsozialismus, Holocaust, Widerstand und Exil 1933–1945. Online-Datenbank. De Gruyter. 05. 08. 2012. http://db.saur.de/DGO/basicFull CitationView.jsf?documentId=rk307, S. 2 f. 61 Ebenda, S. 7. 62 Neuer Vorwärts, Nr. 274 vom 18. September 1938. 63 Zit. nach Braunthal, Julius: Die Geschichte der Internationale. Band 2. Berlin, Bonn 31978, S. 510. Shaw, Louis Grace: The British Political Elite and the Soviet Union, 1937–1939. London 2003, S. 80. 64 Jordan, Nicole: Léon Blum and Chechoslovakia, 1936–1938. In: French History, 5 (1991), Nr. 1, S. 48–73, hier S. 69.

Der deutsche Widerstand gegen den Nationalsozialismus   231

20 000 Zuhörern erklärte, dass nur der Sturz Hitlers die Kriegsgefahr beseitigen könne, wurde wohl vom FBI genauer registriert als in den europäischen Kabinetten.65

Hat Chamberlain Hitler gerettet? Dass der Gedanke, die Diktatur Hitlers zu beenden, um den Krieg zu vermeiden, ausgerechnet bei einer Reihe von Angehörigen der deutschen Führungsstäbe kursierte, wäre zu diesem Zeitpunkt für die NS-Gegner von der demokratischen und kommunistischen Linken wohl nur schwer vorstellbar gewesen. Man setzte ebenso verzweifelte wie unrealistische Hoffnungen auf einen Volksaufstand oder vertraute auf die Festigkeit der Verbündeten der Tschechoslowakei, doch der Gedanke an eine Palastrevolution als Alternative zum Kriegskurs des Dritten Reichs spielte keine Rolle. Nichtsdestoweniger hatten sich in den Monaten vor „München“ vor allem an der Spitze der Wehrmacht, im Amt Ausland/Abwehr des Oberkommandos der Wehrmacht und im Auswärtigen Amt oppositionelle Bestrebungen gegen Hitlers Politik zu regen begonnen. Dabei sind Strategien und die personelle Konfigurationen sehr schwer genau zu bestimmen. So hat die von ­Susanne Meinl im Jahr 2000 getroffene Feststellung, „das Bild der sogenannten ‚Septemberverschwörung‘“ sei „trotz intensiver Forschung bis heute unklar“ nach wie vor Gültigkeit. „Das Ausmaß der Vorbereitungen und der Kreis der Teilnehmer sind immer noch umstritten, wichtige Punkte wie die Interaktion zwischen den einzelnen Gruppierungen nicht hinreichend geklärt.“66 In dieser Situation bleiben große Interpretationsspielräume offen, die zu verschiedenen Deutungen geführt haben: Auf der einen Seite steht das Bild einer relativ geschlossenen und koordinierten, bis in die höchsten Ränge reichenden Verschwörung. Andere Interpretationen zeichnen ein wesentlich disparateres Bild von verschiedenen, zwar gleichermaßen durch die Gefahr eines großen, nicht zu gewinnenden Krieges ­beunruhigten und durch diverse Kontakte verbundenen Kreisen und Persönlichkeiten, die allerdings sehr verschiedene Handlungskonzepte und -möglichkeiten besaßen. Dass die Haltung Englands in der Sudetenkrise für all jene, die Hitlers Politik mit Skepsis oder Ablehnung gegenüberstanden, von zentraler Bedeutung war, ist Konsens. Die Gefahr eines Krieges mit dem Britischen Weltreich war ein Hauptmotiv der inneren Opposition, die Glaubhaftigkeit dieser Drohung spielte in deren verschiedenen Szenarien eine kardinale Rolle. Chamberlains Weg nach München wurde daher schon von Angehörigen des Widerstandes und in der ­Folge – wenn auch meist zurückhaltender – von einer Reihe von Historikern als

65 Sprecher,

Thomas: Thomas Mann im Visier des FBI. In: Blätter der Thomas Mann Gesellschaft, Zürich, Nr. 28, 1999–2000, S. 19–53, hier S. 21 und Faksimile S. 25. Harprecht, Klaus: Thomas Mann. Eine Biographie. Reinbek bei Hamburg 1995, S. 1028. 66 Meinl, Susanne: Nationalsozialisten gegen Hitler. Die nationalrevolutionäre Opposition um Friedrich Wilhelm Heinz. Berlin 2000, S. 268 f.

232   Jürgen Zarusky Ursache des Scheiterns der Widerstandsbestrebungen von 1938 benannt. „Trotz unserer Warnung ist Chamberlain 1938 Hitler nachgelaufen. Damals war durch englische Festigkeit der Krieg vermeidbar und Hitler zu entlarven“, schrieb Carl Goerdeler fünf Jahre nach „München“ in einem vermutlich für britische Leser bestimmten Friedensplan.67 Hans Bernd Gisevius, ein Angehöriger des Widerstands, der der Gestapo entging, brachte den Gedanken in seinem wirkungs­ vollen, aber keineswegs immer zuverlässigen Widerstandsbuch „Bis zum bitteren Ende“ auf die prägnante Formel „Chamberlain rettete Hitler“.68 Vor allem in der älteren Forschungsliteratur, aber auch in einigen jüngeren, meist auf ein breites Publikum zielenden Darstellungen erscheint daher „München“ als Peripetie, die den aussichtsreichsten Versuch zum Sturz Hitlers vor 1944 zum Scheitern brachte.69 So schreibt etwa Joachim Fest in seiner populären Darstellung über den „langen Weg zum 20. Juli“, die Lage habe sich mit der Nachricht über die anberaumten Münchener Verhandlungen „von einem Augenblick auf den anderen völlig verkehrt“: „Krieg oder Staatsstreich war die Alternative gewesen und München hatte sie außer Kraft gesetzt.“70 Wenn die Nachgiebigkeit der Appeaser das „vermutlich aussichtsreichste Unternehmen zum Sturz des NS-Regimes und zur Wiederherstellung rechtsstaatlicher Ordnung in Deutschland“ zum Scheitern gebracht hat, weil es dem Aktionsplan einer breit angelegten Verschwörung die zentrale Begründung entzog, nämlich den Beweis, dass Hitler ­„allen Warnungen Einsichtiger zum Trotz zur Entfesselung eines Kriegs von uanbsehbaren Ausmaß schritt“ und sich damit als „frivoler Abenteurer, ja als Verderber des Reiches“ entlarvte, dann ist der „Tag von München“ in der Tat ein „dies ater der deutschen Opposition gegen Hitler“ (Krausnick)71 gewesen und ein nicht unerheblicher Teil der Verantwortung für das, was folgte, ginge auf das ­britische Konto. Eine solche Sichtweise findet man schon bei Goerdeler, der in seinem bereits zitierten Friedensplan von 1943 an seine Kritik der mangelnden 67 Jacobsen,

Hans-Adolf (Hg.): Spiegelbild einer Verschwörung. Opposition gegen Hitler und der Staatsstreich vom 20. Juli 1944. Geheime Dokumente aus dem Reichssicherheitshauptamt. Stuttgart 1989, S. 249–255, hier S. 253. Ritter, Gerhard: Carl Goerdeler und die deutsche Widerstandsbewegung. München 1964, Anhang, Dok. VI, S. 551–557, hier S. 555. 68 Gisevius, Hans Bernd: Bis zum bitteren Ende. Vom Reichstagsbrand bis zum 20. Juli 1944. Hamburg o. J. [1960], S. 378. Ähnlich auch bereits der britische Botschafter Henderson am 6. Oktober 1938 an den Secretary of State, Lord Halifax: „by keeping the peace, we have saved Hitler and his regime“, zit. nach Hoffmann, Peter: Widerstand, Staatsstreich, Attentat. Der Kampf der Opposition gegen Hitler. München 41985, S. 129. 69 Hoffmann, Widerstand, S. 69–129, v. a. S. 129. Thun-Hohenstein, Romedio Galeazzo Graf von: Der Verschwörer. General Oster und die Militäropposition. München 1984, S. 81–118. Krausnick, Helmut: Zum militärischen Widerstand gegen Hitler 1933–1938 – Möglichkeiten, Ansätze, Grenzen und Kontroversen. In: Aufstand des Gewissens. Militärischer Widerstand gegen Hitler und das NS-Regime 1933–1945. Katalog zur Wanderausstellung, herausgegeben vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt. Herford 21985, S. 311–364, hier S. 348 und 350. Fest, Joachim: Staatsstreich. Der lange Weg zum 20. Juli. TB-Ausgabe, Berlin 1997, 76–104, insbesondere S. 100. Fest geht dabei von der Ansicht aus, Mussolini habe Hitler zu „München“ überredet. Vgl. dazu den Beitrag von Hans Woller in diesem Band. 70 Fest, Staatsstreich, S. 100. 71 So die Argumentation von Krausnick, Militärischer Widerstand S. 348 und 350.

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britischen Festigkeit im Jahre 1938 die Feststellung anschloss: „Es liegt uns fern, die Verantwortung, die wir Deutsche zu tragen haben, vermindern zu wollen, aber es liegt ein nicht nur von uns Deutschen verschuldetes tragisches Geschehen vor, unter dem wir Deutsche nicht die geringsten Opfer für unsere Überzeugung gebracht haben.“72 Zweifellos waren nach dem von Hitler so gar nicht angestrebten politischen Erfolg von München die politischen Voraussetzungen für einen erfolgreichen Staatsstreich entfallen, doch stellt sich die Frage, wie aussichtsreich der Putschversuch wirklich gewesen ist. Um einer Antwort darauf näher zu kommen, ist ein differenzierender Blick auf die verschiedenen Akteure bzw. Akteursgruppen der sogenannten Septemberverschwörung erforderlich. Viele Darstellungen der „Septemberverschwörung“ beginnen mit dem „Schicksalstag“ des 5. November 1937, als Hitler bei einer Besprechung mit den Spitzen der Wehrmacht und Außenminister Neurath, die eigentlich Fragen der Rohstoffversorgung gewidmet sein sollte, seine Absicht erklärte, in Bälde, spätestens bis 1943/45 „die deutsche Raumfrage zu lösen“. Als nächstes Ziel nannte er dabei die „Niederwerfung“ der Tschechoslowakei und Österreichs. Reichswehrminister Werner von Blomberg und der Oberbefehlshaber des Heeres Werner von Fritsch ­sowie Außenminister Konstantin von Neurath, wiesen auf die diesem Szenario innewohnende Gefahr eines Krieges mit England und Frankreich hin, der schwerlich zu gewinnen sei, worauf Hitler seine Überzeugung kundtat, dass keiner der beiden westlichen Staaten zu den Waffen greifen werde. Neurath machte in Absprache mit Fritsch und dem Generalstabschef des Heeres, Ludwig Beck, noch einen Versuch, Hitler umzustimmen – es dauerte bis Mitte Januar, bis der „Führer und Reichskanzler“ für seinen Außenminister zu sprechen war –, und reichte nach dessen Scheitern seinen Abschied ein, der am 4. Februar angenommen ­wurde.73 Nachfolger wurde der hitlertreue Joachim von Ribbentrop, ein ­nationalsozialistischer Parvenü. Sein Staatssekretär hingegen wurde der konser­ vative Traditionsbeamte Ernst von Weizsäcker, der zuvor die Politische Abteilung des Auswärtigen Amtes geleitet hatte und das Amt mit der Absicht antrat, einen großen Krieg zu verhindern.74 Blomberg und Fritsch mussten im Zuge der nach ihnen benannten Krise Anfang 1938 ihre Ämter räumen, Blomberg wegen einer Me­salliance, Fritsch infolge der ungerechtfertigten Beschuldigung des Kontaktes zu männlichen Prostituierten. Hitler nutzte die Blomberg-Fritsch-Krise, um die Führungsspitze der Wehrmacht unmittelbarer an sich zu binden, indem er die Funktionen des Oberbefehlshabers und Reichskriegsministers selbst übernahm und das Wehrmachtsamt im Reichskriegsministerium zum Oberkommando der Wehrmacht umbildete. Fritschs Nachfolger als Oberbefehlshaber des Heeres

72 Jacobsen

(Hg.): Spiegelbild, S. 253. zum „Schicksalstag“ 5. November: Wendt, Bernd-Jürgen: Großdeutschland. Außenpolitik und Kriegsvorbereitung des Hitler-Regimes. München 1987, S. 11–37. 74 Blasius, Rainer A.: Für Großdeutschland – gegen den großen Krieg. Ernst von Weizsäcker in den Krisen um die Tschechoslowakei und Polen. Köln 1981, S. 26. 73 Vgl.

234   Jürgen Zarusky ­ urde Walther von Brauchitsch. Chef des Generalstabs war weiterhin Ludwig w Beck. Das Revirement an der Wehrmachtsspitze und im Außenministerium machte diese Institutionen zweifellos schlagkräftiger im Sinne von Hitlers politischen Absichten, doch insbesondere das Vorgehen gegen Fritsch erregte in Offizierskreisen Unmut und führte bei einigen zu einem starken Vertrauensverlust gegenüber Hitler. Eine direkte Linie zum Widerstand ist von der Blomberg-Fritsch-Affäre indes nicht zu ziehen – auch wenn nicht wenige spätere Widerständler durch sie die erste Desillusionierung gegenüber dem NS-Regime erfuhren –, denn keiner der drei vom Revirement Anfang 1938 Betroffenen spielte später irgendeine Rolle im Widerstand, der Skandal um Blomberg ist keineswegs auf ein Komplott zurück­ zuführen,75 und generell waren die Bedenken der drei später aus ihren Ämtern Entfernten weniger stark, als dies später dargestellt wurde.76 Die eigentliche Geschichte der „Septemberverschwörung“ beginnt, als nach dem Anschluss Österreichs die Tschechoslowakei als Hitlers nächstes Ziel ins Visier rückte. Die Befürchtung, er würde damit Deutschland in einen großen Krieg führen, in dem es nicht bestehen könne, einte die verschiedenen Gruppierungen, die mit dem Gedanken an eine Entmachtung Hitlers spielten. Klaus-Jürgen Müller hat schon Mitte der 1980er Jahre die in der Widerstandsliteratur gebräuch­ lichen Termini wie „deutsche Opposition“, „Verschwörung“ oder „Anti-HitlerFronde“ wegen ihrer mangelnden analytische Trennschärfe kritisiert und die nationalkonservative Opposition als „differenziertes Konfliktphänomen“ im Rahmen der Entente von Nationalsozialismus und alten Eliten analysiert. Er unterschied zwischen zwei Hauptrichtungen der Gegnerschaft zur Hitlers Politik während der Sudetenkrise. Den „eigentlichen Kern“ der Anti-Kriegs-Partei, so Müller, bildeten Generalstabschef Beck, sein Nachfolger Halder, der Chef der Abwehr, Canaris, und der Staatssekretär im Auswärtigen Amt, von Weizsäcker. Auf einer niedrigeren Stufe der staatlichen Hierarchie hatte sich der Kreis um Oberst Oster aus der Abwehr und Regierungsrat Hans Bernd Gisevius gebildet. Für diese entschiedenen Regimegegner sollte die Sudetenkrise den Anlass für den Sturz Hitlers bilden.77 Susanne Meinl spricht in Anknüpfung an Müller von einer „Antikriegs-“ und einer „Umsturzgruppe“ und fügt noch eine dritte hinzu, die „Attentatsgruppe“ um den unter Oster in der Abwehr tätigen einstigen Freikorpsaktivisten Friedrich Wilhelm Heinz, der die schließlich auch von Oster gebilligte Absicht vertrat, es sei notwendig, Hitler nicht nur festzunehmen, sondern ihn zu töten.78 75 Schäfer,

Kirstin A.: Werner von Blomberg. Hitlers erster Feldmarschall. Eine Biographie. Paderborn 2006, S. 183–185. 76 Janßen, Karl-Heinz/Tobias, Fritz: Der Sturz der Generäle. Hitler und die Blomberg-FritschKrise 1938. München 1994, S. 9 ff. 77 Müller, Klaus-Jürgen: Zu Struktur und Eigenart der nationalkonservativen Opposition bis 1938.Innenpolitischer Machtkampf, Kriegsverhinderungspolitik und Eventual-Staatsstreichplanung. In: Schmädeke, Jürgen/Steinbach, Peter (Hg.): Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Die deutsche Gesellschaft und der Widerstand gegen Hitler. München 21986, S. 329– 344, hier S. 330. 78 Meinl: Nationalsozialisten, S. 294.

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Tendenziell waren also Entschiedenheit und Radikalität umso stärker ausgeprägt, je niederrangiger die tatsächlichen oder „eventuellen“ Verschwörer waren. Das ist vielleicht eine für Staatsstreichbestrebungen nicht untypische, aber auf jeden Fall ungünstige Ausgangssituation. Das eigentümlich Flirrende an der sogenannten Septemberverschwörung ist auch dadurch bedingt, dass hier nicht nur Frondeure aktiv wurden, die kontinuierlich auf dem Pfad des Widerstands blieben, sondern auch hohe Amtsträger des NS-Regimes, die, mit welchen Vorbehalten auch immer, letztlich wieder auf dessen politischen Kurs einschwenkten und ihn vollzogen, wie insbesondere Franz Halder und Ernst von Weizsäcker. Auch wenn sie weitgehend passiv blieben, waren sie doch in Staatsstreichplanungen eingeweiht und duldeten diese, womit sie nach dem Rechtsverständnis der NS-Diktatur bereits Vorbereitung zum Hochverrat betrieben hatten.79 Für die Gruppe der Kriegsgegner war kennzeichnend, dass sie 1938 primär um und nicht gegen Hitler kämpften. So versuchte Generalstabschef Beck im Frühjahr und Sommer durch eine Reihe von Denkschriften, die er über seinen Vorgesetzten Brauchitsch einreichte, die Gefahren zu verdeutlichen, die mit dem Plan einer militärischen Zerschlagung der Tschechoslowakei zusammenhingen. Als ­Reaktion auf die Fruchtlosigkeit dieser Bemühungen schlug er Brauchitsch gegen­ über am 16. Juli einen kollektiven Rücktritt der führenden Generäle vor. Beck war sich darüber klar, dass ein solcher Schritt zu innenpolitischen Verwerfungen führen müsse und sah sie als Gelegenheit mit der NS-„Bonzokratie“ und der SS abzurechnen. Unangetastet sollte dabei freilich der „Führer“ bleiben. Der kollektive Rücktritt blieb bekanntlich aus, Brauchitsch machte sich Becks Vorstellungen nicht zu Eigen und ließ auch in der entscheidenden Besprechung der höheren Generalität am 4. August Becks Idee des Kollektivrücktritts unerwähnt. Dessen ­eigener Rücktritt war damit indes unvermeidlich geworden. Sein entsprechendes Gesuch vom 18. August wurde von Hitlers drei Tage später bewilligt, zwei Monate später folgte sein Abschied aus dem aktiven Dienst. 80 Die Frage der Bewertung von Becks Plänen ist in der Forschung kontrovers diskutiert worden. Zielten sie nicht doch bereits auf einen Staatsstreich ab?81 Becks Biograph Klaus-Jürgen Müller ist anderer Auffassung: „Eine Analyse der Entwicklung seit Ende 1937 indes lässt eine systeminterne Säuberungs- und Restaurierungsinitiative viel plausibler erscheinen als das plötzliche Erscheinen einer Staatsstreichabsicht.“82 In der Tat waren Becks Vorstellungen über die innenpolitischen Konsequenzen des „Generalsstreiks“ allzu schlicht, als dass sie als Konzept eines Systemumsturzes fungieren konnten. Hingegen hatte eine politische Flurbereinigung zugunsten der Wehrmacht unter Hitlers Herrschaft schon einmal stattgefunden, nämlich die blutige Abrechnung mit der SA am 30. Juni 1934. Schließ-

79 Vgl.

Zarusky: Einleitung zu Widerstand als „Hochverrat“, S. 14–19. Klaus-Jürgen: Generaloberst Ludwig Beck. Eine Biographie. Paderborn 2008, S. 307–

80 Müller,

364. u. a. Krausnick: Militärischer Widerstand, S. 340–344. 82 Müller: Beck. S. 362. 81 So

236   Jürgen Zarusky lich besteht auch einer der wesentlichen Unterschiede zwischen den oppositionellen Bestrebungen von 1938 und dem Staatsstreichversuch von 1944 darin, dass die Verschwörer des 20. Juli über sehr viel klarere politische Konzeptionen für eine Systemalternative verfügten. Becks Nachfolger Halder war in die Umsturzpläne Osters eingeweiht und gab sich den Anschein, sie zu unterstützen. Seine tatsächliche Rolle im Widerstand wird indes oft überschätzt,83 denn Halder hielt nicht nur die radikalen Oppositionellen auf Distanz, sondern behandelte die Staatsstreichpläne auch nur als eine Option für den Extremfall, und im übrigen, soweit ihre Umsetzung von ihm selbst abhing, stets dilatorisch. Nach dem Krieg hat er selbst erklärt, keinesfalls ein entschiedener Umstürzler gewesen zu sein. Halders Biograph Christian Hartmann kommt zu dem Schluss: „Die Option des Staatsstreichs und auch die Verbindungen ins gegnerische Ausland wollte er sich offen halten – nicht mehr.“84 Ganz ähnlich verhielt es sich bei Ernst von Weizsäcker. Dieser stand in Kontakt mit Halder und Canaris, was für sich genommen noch keinen konspirativen Charakter hatte. Dass Weizsäcker in einer für Halder abgegebenen eidesstattlichen Erklärung zur Vorlage bei der Spruchkammer Neustadt/Kreis Marburg diesen und implizit sich selbst zu grundsätzlichen Hitler-Gegnern erklärte, die die Ansicht teilten, dass „ohne Beseitigung des Hitler-Regimes auf Dauer der Friede nicht zu bewahren sei“ und Halder zuschrieb, dass das Münchener Abkommen, seine Absicht, Hitler zu „sistieren“ durchkreuzt habe,85 ist eine Interpretation, die eher auf den Entlastungszweck des Dokumentes als auf die tatsächlichen Vorgänge von 1938 hindeutet. Tatsächlich, so Rainer A. Blasius, „zielten Weizsäckers Aktivitäten in der Sudetenkrise nicht auf die Vorbereitung beziehungsweise Unterstützung eines Sturzes Hitlers ab, sondern auf die Verhinderung des ‚großen Krieges‘ durch einen ‚chemischen Auflösungsprozess‘ der Tschechoslowakei. Denn er sah in Himmler und Ribbentrop seine gefährlichsten Gegner, nicht in Hitler. Wenn dieser aber den Angriffsbefehl auf die Tschechoslowakei gegeben hätte, so hätte er auch nach Weizsäckers Auffassung abgesetzt werden müssen.“86 Von der „Antikriegspartei“ selbst wurde allerdings wenig Operatives in dieser Richtung übernommen. Derlei Planungen überließ man weitestgehend den Angehörigen der „Umsturzpartei“, wo Hans Oster und der ihm unterstellte Friedrich Wilhelm Heinz sowie der mit Oster von früher bekannte General Erwin von Witzleben, der Kommandeur des Berliner Wehrkreises, sowie Gisevius am aktivsten waren. Gisevius berichtet, Witzleben sei bereit gewesen, den Staatsstreich mit oder ohne Halder, der sich eigentlich das Startsignal vorbehalten hatte, durchzuführen und habe ihm in seinem Wehrkreiskommando für mehrere Wochen die Möglichkeit gewährt, „die notwendigen polizeilichen Maßnahmen zu entwerfen“, 83 So

z. B. durch Hoffmann, Widerstand, S. 109–129. Christian: Halder. Generalstabschef Hitlers 1938–1942. Paderborn, 2. erweiterte und aktualisierte Auflage 2010, S. 99–116, S. 412–418, Zitat S. 418. 85 Archiv des Instituts für Zeitgeschichte, Zeugenschrifttum Weizsäcker, ZS 0528 (http://www. ifz-muenchen.de/archiv/zs/zs-0528.pdf), Eidesstattliche Versicherung vom 4. Mai 1948. 86 Blasius: Für Großdeutschland, S. 55. 84 Hartmann,

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während General Brockdorff-Ahlefeld die militärische Aktion vorbereiten sollte. Laut Gisevius war die Aussage von Reichsminister Schacht, dass es über die Sudetenfrage zum Krieg mit England und Frankreich kommen werde, für Witzleben ausschlaggebend. Schacht, so Gisevius, habe im höheren Offizierskorps hohe ­Autorität besessen.87 Zu einem ganz entgegengesetzten Befund kommt indes der Schacht-Biograph Christopher Kopper. Ihm zufolge galt Schacht den hohen Militärs als unzuverlässig. Zwar seien seine Kontakte zum Widerstand verbürgt, aber für seine Selbststilisierung zu einem Widerständler der ersten Stunde, gebe es kaum andere Belege als seine eigenen Aussagen.88 Insgesamt wirkt der „Aktionsplan“ der „Septemberverschwörung“ reichlich verschwommen. Da ist zum einen die politische Unbestimmtheit. „Politische Fragen ließen wir damals bewußt aus dem Spiel. Schacht blieb es anheimgestellt, eine Liste für ein Direktorium aufzustellen. Offen gestanden schien uns dies die geringste Sorge“, schreibt Gisevius. Seine Erläuterung, man hätte dann schon „binnen weniger Tage auf ein ausreichendes Reservoir von anerkannten Politikern und Beamten“ zurückgreifen können,89 kann indes nur als Ausdruck erheblicher politischer Naivität oder als Floskel interpretiert werden, mit der die Leerstellen einer überhöhten Widerstandserzählung überspielt werden sollen. Wahrscheinlicher ist Letzteres, denn es gab schlicht keinen ausreichenden politischen Konsens zwischen den Beteiligten der „Septemberverschwörung“, der die Entwicklung eines kohärenten politischen Programms erlaubt hätte. Auch die strategischen Planungen wirken äußerst fragmentarisch. Zwar waren einige wichtige Voraussetzungen gegeben, insbesondere aufgrund der Einbindung von Witzlebens. Gisevius zufolge war auch der Berliner Polizeipräsident Graf Helldorff gewonnen worden.90 Neben dem bereits erwähnten General BrockdorffAhlefeldt und dem Kommandeur des Infanterieregiments 50, Oberst von Hase, in Landsberg an der Warthe konnte Witzleben auch mit General Wilhelm Adam, dem Oberbefehlshaber des Gruppenkommandos 2 in Westdeutschland, rechnen.91 Susanne Meinl fasst die Umsturzplanungen wie folgt zusammen: „Auf das Signal Halders, erfolgend nach dem Angriffsbefehl Hitlers, sollten die [in Potsdam stationierten] Truppen Brockdorff-Ahlefehldts in Berlin einrücken, das Berliner Regierungsviertel, die Nachrichtenzentralen und Rundfunksender besetzen und die Gestapoämter und SS-Befehlsstellen sowie die Kaserne der Leibstandarte [in Berlin- Lichterfelde] ausschalten. Parallel dazu wollte Witzleben mit dem präparierten Stoßtrupp in die Reichskanzlei eindringen und Hitler unter Waffen­ 87 Gisevius:

Ende, S. 350–367. Zu Witzleben siehe Witzleben, Georg von: Erwin von Witzleben (1881–1944). Eine biografische Untersuchung. Diss. phil. Hagen 2012. 88 Kopper, Christopher: Hjalmar Schacht. Aufstieg und Fall von Hitlers mächtigstem Bankier. München 2006, S. 335 f. Meinl: Nationalsozialisten, S. 294, rechnet Schacht hingegen der „Umsturzgruppe“ hinzu. 89 Gisevius: Ende, S. 362 90 Ebenda, S. 361. Gisevius’ Aussage ist die einzige Quelle hierfür. Vgl. Harrison, Ted: „Alter Kämpfer“ im Widerstand. Graf Helldorf, die NS-Bewegung und die Opposition gegen Hitler. In: VfZ 45 (1997), S. 385–423, hier S. 413. 91 Krausnick: Militärischer Widerstand, S. 346.

238   Jürgen Zarusky gewalt zum Rücktritt zwingen. Erich Kordt aus dem Gefolge Ribbentrops hatte sich dazu bereit erklärt, die großen Flügeltüren der Reichskanzlei zum geeigneten Zeitpunkt von innen zu öffnen, um dem Stoßtrupp den Weg zu bahnen. Danach sollte der verhaftete Hitler in ein vor der Reichskanzlei wartendes Fahrzeug geschafft und an einen noch unbekannten Ort verbracht werden, wo über sein Schicksal entschieden werden würde, und anschließend die Proklamation einer – zeitlich befristeten – Militärdiktatur mit Ludwig Beck an der Spitze erfolgen.“92 Heinz und Oster hätten lieber Prinz Wilhelm von Preußen als Regenten ausgerufen, und die Gruppe um Heinz wollte nicht eine Verhaftung Hitlers, sondern ein Attentat auf ihn durchführen, eine Ansicht der sich Oster anschloss.93 Nach der Begegnung Hitlers mit Chamberlain in Bad Godesberg am 22./23. September und dem Mobilmachungsbeschluss Prags in den späten Stunden des 23. Septembers sowie der äußerst aggressiven Sportpalastrede Hitlers am 26. September schien der Ernstfall nur noch eine Frage von ein, zwei Tagen zu sein. Als am Nachmittag des 28. September die Nachricht von der Einberufung der Münchener Konferenz verbreitet wurde, war das Szenario indes hinfällig. So konsistent aber die Putsch-Planung in der Zusammenfassung erscheint, mit so vielen Fragezeichen ist sie doch zu versehen. Beck war, wie Klaus-Jürgen Müller feststellt, „offenbar nicht in die Septemberkonspiration einbezogen“ und „eher damit beschäftigt, sich in seinem neuen Leben einzurichten“. Die Vorstellung er hätte sich unter diesen Umständen so ohne Weiteres bereitgefunden, als Militärdiktator zu fungieren, weckt Zweifel. Auf die Nachricht vom Münchener Abkommen reagierte er im Übrigen mit Erleichterung, weil der Krieg abgewendet war.94 Dass daneben auch Schacht und ein Hohenzoller als politische Spitze gehandelt wurden, erhöht die Unklarheit. Aber nicht nur in politischer Hinsicht bleiben Fragen offen. Selbst wenn die Einnahme Berlins und die Festnahme Hitlers gelungen wäre, was sollte mit dem Rest der nationalsozialistischen Führungsmannschaft, was mit den Truppen im Reich geschehen? Gisevius schreibt, man habe sich u. a. Informationen über die Dislozierung von SS-Einheiten im Reich verschafft.95 Aber was fing man damit an? Man wollte, so Gisevius, im Vertrauen auf die Wirkung der Kommandogewalt hochgestellter Generäle und den Überraschungseffekt, sobald man die Hauptstadt im Griff hatte, Fernschreiben versenden, „damit sich die Provinzgeneräle dem Putsch anschlossen“.96 In ähnlichem Sinne soll sich Halder angeblich schon im Juli 1938 gegenüber General Adam geäußert haben: „Wenn Witzleben los schlägt (sic!) müssen eben die Oberbefehlshaber im Reiche mitmachen.“97 Darin „dass immer wieder Offiziere darin einge92 Meinl:

Nationalsozialisten, S. 291 f. S. 293 f. 94 Müller: Beck, S. 369. 95 Gisevius: Ende, S. 364, S. 370 f. 96 Ebenda, S. 364. 97 Eidesstattliche Erklärung Adams an die Spruchkammer München X im Verfahren Halders vom 24. August 1948, Archiv des Instituts für Zeitgeschichte, Zeugenschrifttum Adam, ZS 0006 (online: http://www.ifz-muenchen.de/archiv/zs/zs-0006.pdf). 93 Ebenda,

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plant wurden [… ] die wenig oder gar nichts davon wussten“, sieht Christian Hartmann sehr zu Recht ein Indiz für „das Unausgereifte und Unsichere dieses Komplotts“.98 Als Zwischenbilanz ist festzuhalten, dass die Akteure der sogenannten Septemberverschwörung weder darin einig waren, ob der Umsturz an und für sich ein erstrebenswertes Ziel oder nur eine alleräußerste Notlösung war, noch darüber, wie mit Hitler nach einer Festnahme zu verfahren sei – nachgedacht wurde über eine gerichtliche Aburteilung ebenso wie die die Erklärung der Unzurechnungs­ fähigkeit oder ein Attentat –, noch darüber welche politischen Strukturen und Persönlichkeiten an die Stelle der Diktatur Adolf Hitlers treten sollten. Die Umsturzplanungen beschränkten sich im Wesentlichen auf Berlin, obwohl die jüngere Geschichte mit dem Kapp-Putsch ein Beispiel dafür bot, dass es damit nicht unbedingt schon getan war. Inmitten all dieser Unsicherheiten und Unklarheiten war ein Faktor konstant, nämlich dass England zu einer harten Haltung gegenüber Hitler bewogen werden sollte. Dies war der Auslöser des von Joachim Fest so bezeichneten „seltsamen Pilgerzugs, zu dem vom Sommer 1938 an, in nicht abreißender Folge, Abgesandte der Opposition nach London und vereinzelt auch nach Paris aufbrachen, um Hitlers Absichten gegen die Tschechoslowakei bekanntzumachen und möglichst demonstrative Erklärungen der Abwehrentschlossenheit zu erwirken.“99 Gewissermaßen als Prolog dazu hatte einer der wichtigsten Vertreter des nationalkonservativen Widerstandes, Carl Friedrich Goerdeler, im März 1938 in Großbritannien unter anderem mit Lord Vansittart gesprochen und Festigkeit gegenüber Hitler und die Unterstützung der „guten Elemente“ in Deutschland gefordert, dabei aber zugleich die Abtretung des Sudetenlandes gefordert.100 Vom 17. bis 24. August 1938 weilte der preußische Gutsbesitzer und konservative Hitler-Gegner der ersten Stunde Ewald von Kleist-Schmenzin in London, wo er die Anti-Appeaser Vansittart, Churchill und Lord Lloyd sowie den liberalen Journalisten Jan Colvin traf. In den Gesprächen, über die Chamberlain und Halifax sich eingehend informieren ließen, erklärte er, der Zeitplan für den Krieg gegen die Tschechoslowakei stehe bereits fest und sei nur durch eine eindeutige Warnung Englands, das seine Interventionsbereitschaft erklären müsse, abzuwenden. Die Generäle würden dann auf Frieden drängen und das Regime Hitlers durch ein gemäßigtes, wahrscheinlich ein monarchisches abgelöst werden. Kleist verband dieses Szenario allerdings, ähnlich wie Goerdeler, mit recht weitreichen-

  98 Hartmann:

Halder, S. 107 f. Staatsstreich, S. 76 f. Eingehend zum Phänomen der oppositionellen Reisediplomatie: Wendt, Bernd-Jürgen: Konservative Honoratioren – Eine Alternative zu Hitler? Englandkontakte des deutschen Widerstandes im Jahre 1938. In: Stegmann, Dirk/Wendt, Bernd-Jürgen/ Witt, Peter-Christian (Hg.): Deutscher Konservativismus im 19. und 20. Jahrhundert. Festschrift für Fritz Fischer. Bonn 1983, S. 347–367. 100 Ritter: Goerdeler, S. 173.   99 Fest:

240   Jürgen Zarusky den territorialen Revisionsansprüchen, insbesondere der Rückgabe des polnischen Korridors an das Reich.101 Eine weitere Mission, die mit Halder und Oster abgestimmte des Industriellen Böhm-Tettelbach, der am 2. September reiste, scheiterte, weil es nicht gelang, Kontakt zu einflussreichen Kreisen zu finden.102 Von Weizsäcker und seinem Umfeld gingen ebenfalls Signale in Richtung England aus, fest zu bleiben, um so den Frieden zu retten. Bei einer Begegnung mit dem Hohen Kommissar des Völkerbunds für Danzig in Berlin am 1. September bat Weizsäcker diesen eindringlich, dies durch die britische Vertretung in der Schweiz zu übermitteln. Auf konspirativen Wegen gelangte eine Botschaft von Erich Kordt, dem Chef des Ministerbüros im Auswärtigen Amt, zu seinem Bruder Theo, der als Botschaftsrat in London stationiert war. Während Weizsäcker eine britische Warnung auf diplomatischem Wege an Hitler erreichen wollte, hatte Oster erklärt, man brauche eine energische Erklärung, die auch dem einfachen Mann einleuchte, um Argumente für einen Umsturz zu haben. Theo Kordt der am 6. September unter ebenfalls nahezu konspirativen Umständen ein Gespräch mit dem britischen Außenminister Lord Halifax führen konnte, bat um diesen um eine öffentliche Erklärung per Rundfunk, die für die Armeeführung die Voraussetzung schaffen sollte, den Krieg zu verhindern und Hitler zu stürzen. Dies ging über Weizsäckers Auftrag hinaus und war nicht im Sinne seiner „Sonderpolitik“, auch wenn es später im Wilhelmstraßenprozess so dargestellt wurde.103 Eine ähnliche Forderung wie die Kordt-Brüder hatte auch Goerdeler, der sich in der Schweiz und damit etwas am Rande der ­Ereignisse aufhielt, bei einem Treffen mit dem britischen Industriellen Young erhoben, der darüber seiner Regierung berichtete.104 Die Bilanz all dieser, hier nur kursorisch behandelten Kontaktversuche ist ernüchternd. Klemens von Klemperer stellt fest: „Es bleibt die blanke Tatsache, dass keine der zahlreichen Bemühungen der deutschen Emissäre irgendwelche Früchte trug.“105 Dafür gibt es allerdings auch zahlreiche Gründe: Es war für die britische Seite nicht ganz durchsichtig, für wen die Emissäre konkret sprachen und welches politische standing sie hatten. Die territorialen Revisionsansprüche, die sie zum Teil mit ihren Appellen verbanden, waren nicht bescheidener als die Forderungen, die Hitler erhob, den die Appeaser ja ebenfalls für einen Revisionspolitiker hielten. Die an die Regierung Ihrer Majestät gerichtete Erwartung war also, ihre ­außenpolitische Strategie in Richtung einer härteren Gangart zu ändern, die im äußersten Fall Krieg hätte bedeuten können. Die deutschen Boten konnten aber keine realistische Perspektive entwickeln, die dieses Risiko aufgewogen hätte. 101 Scheurig,

Bodo: Ewald von Kleist-Schmenzin. Ein Konservativer gegen Hitler. Oldenburg 1968, S. 155–166. 102 Klemperer, Klemens von: Die verlassenen Verschwörer. Der deutsche Widerstand auf der Suche nach Verbündeten 1938–1945. Berlin 1994, S. 98. 103 Blasius: Großdeutschland, S. 141–144. Klemperer: Verschwörer, S. 99–102. 104 Young, A. P.: Die X-Dokumente. Die geheimen Kontakte Carl Goerdelers mit der britischen Regierung 1938/1939. München 1989, S. 79–90. 105 Klemperer: Verschwörer, S. 103.

Der deutsche Widerstand gegen den Nationalsozialismus   241

Auch der nicht ganz unwesentliche Aspekt der Kriegsunwilligkeit Frankreichs, des formell eigentlichen Bündnispartners der Tschechoslowakei, scheint für sie keine große Rolle gespielt haben. Will man eine Gesamtbewertung der sogenannten „Septemberverschwörung“ vornehmen, so muss den Ausgangspunkt die Feststellung bilden, dass alle in diesem Kontext Aktiven von der Unverantwortlichkeit von Hitlers Kriegspolitik überzeugt waren und in dem Bestreben, eine große Gefahr von ihrem Land abzuwenden, eigenständig politische Verantwortung übernahmen und dabei auch erhebliche Risiken eingingen. Damit ist allerdings noch nichts über die Tragfähigkeit der politisch-strategischen Konzepte der Akteure gesagt. Hierzu ist vor allem festzustellen, dass sie sich so gravierend voneinander unterschieden, dass von einer „Verschwörung“ im Sinne eines Bündnisses zu einem gemeinsamen Zweck kaum die Rede sein kann. Dass es sich eher um ein situativ bedingtes Konglomerat oppositioneller Tendenzen handelte, in dem Systemgegnerschaft und das ­Ringen um eine alternative Außenpolitik zusammenkamen,106 zeigte sich nach „München“, das die Vertreter der Antikriegspartei Beck, Halder, Weizsäcker positiv oder jedenfalls mit Erleichterung aufnahmen,107 während die entschiedenen Hitler-Gegner zutiefst frustriert waren.108 Allerdings finden sich auch hier Ambivalenzen. So war der Abwehroffizier Helmuth Groscurth nach Aussagen seines Bruders in die Pläne zur Verhaftung Hitlers eingeweiht, zugleich aber dienstlich mit der Unterstützung der subversiven Aktivitäten des „Sudetendeutschen Freikorps“ befasst. Henlein bezeichnete ihn Ende Oktober 1938 als „meinen alten getreuen Mitkämpfer in den letzten Jahren“.109 Die Heterogenität in den Reihen der Opposition gegen Hitlers Kriegspläne war wohl auch einer der Gründe dafür, dass es ihr an einer gemeinsamen politischen Konzeption fehlte, wenngleich es wohl einen nationalistischen Grundkonsens gab. Dieser allerdings war mit ausschlaggebend dafür, dass ihre „Englandpolitik“ von vorneherein zum Scheitern verurteilt war, denn es fehlte die Befähigung, bei den Sondierungen in London die Interessen des Gegenübers hinreichend zu ­berücksichtigen. Dass die britischen Kontaktleute hinsichtlich der Umsturzankündigungen zurückhaltend waren, ist verständlich: Solcherlei Verhandlungen entsprachen nicht den Regeln des zwischenstaatlichen Verkehrs und im übrigen blieben die Aussagen der Umstürzler auch sehr unbestimmt. Tatsächlich war die strategische Putschplanung weiter entwickelt als die politische, aber auch sie ließ

106 Vgl.

dazu die konzisen Analysen von Müller, Klaus-Jürgen: Über den „militärischen Widerstand“, und Blasius, Appeasement und Widerstand 1938. In: Steinbach, Peter/Tuchel, Johannes (Hg.): Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Berlin 1994, S. 266–279 bzw. S. 280– 293. 107 Müller: Beck, S. 369. Hartmann: Halder, S. 115. Blasius: Großdeutschland, S. 70. 108 Meinl: Nationalsozialisten, S. 297. 109 Groscurth, Helmuth: Tagebücher eines Abwehroffiziers 1938–1940. Mit weiteren Dokumenten zur Militäropposition gegen Hitler. Herausgegeben von Helmut Krausnick und Harald C. Deutsch unter Mitarbeit von Hildegard von Kotze, Stuttgart 1970, S. 35 und S. 156. Meinl, Nationalsozialisten, S. 298.

242   Jürgen Zarusky vieles unberücksichtigt und trug Züge eines Hasardspiels – das allerdings in einer Lage, die nicht ohne Grund als verzweifelt betrachtet wurde. Der Behauptung, Chamberlain habe Hitler gerettet, fehlt angesichts dieser vielen Unsicherheiten jede feste Grundlage. Angesichts von Halders uneindeutigem Verhalten bleiben erhebliche Zweifel, ob er im Fall der deutschen Mobilmachung tatsächlich den Putsch ausgelöst hätte; am Vormittag des 28. September als man binnen weniger Stunden mit der Mobilmachung rechnete, wollte er jedenfalls ohne Rückendeckung durch Brauchitsch nichts unternehmen und hatte – berechtigte – Zweifel an der Ausgereiftheit der Umsturzpläne. Und ob Erich von Witzleben wirklich bereit war, auch ohne Halder loszuschlagen, wie Gisevius behauptet,110 ungeachtet der erheblichen zusätzlichen Risiken, die durch das Fehlen eines übergeordneten Befehlshabers entstanden wären, muss man ebenfalls mit einem Fragezeichen versehen. Am 28. September jedenfalls forderte er von der Heeresführung sofortiges Handeln, die diesen Entschluss aber nicht fassen wollte.111 An diesem Tag waren die Nerven zweifellos bei vielen zum Zerreißen gespannt, was, angefangen von Gisevius über Joachim Fest bis zum amerikanischen Historiker Terry Parssinen viel Stoff für effektvolle Darstellungen gab.112 Dass unmittelbare Kriegsgefahr bestand, war eindeutig. Ob aber der geplante Putsch wirklich die unverzügliche Antwort auf einen Mobilisierungsbefehl Hitlers gewesen wäre, unterliegt so vielen Zweifeln, dass spannungsorientiertes Erzählen und analytische Geschichtswissenschaft an diesem Punkt einfach nicht zusammenkommen können.

Nach „München“ Die Friedenseuphorie, die Europa nach Abschluss des Münchener Abkommens ergriff, konnten die Hitler-Gegner im Untergrund und im Exil nicht teilen. Lagerübergreifend herrschte Einigkeit darüber, dass die Kriegsgefahr mitnichten be­ seitigt sei, im Gegenteil. Das Schicksal Zehntausender politischer Flüchtlinge aus dem Sudetenland, deren Zurückweisung Deutschland von Prag verlangte, was zum Teil auch geschah, wurde mit Bestürzung verfolgt.113 Anstrengungen für die Rettung, wie sie etwa auch Thomas Mann von den USA aus unternahm, konnten nur wenigen helfen. Psychologisch am schlimmsten war wohl das Gefühl der Isolation. Der nach Frankreich emigrierte deutsche Sozialist Werner Thalheim ­– er war Mitglied der Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP) gewesen – berichtete in ­einem Interview über den 30. September 1938 in Paris: „Wir wollen nichts mehr 110 Gisevius:

Ende, S. 361. Halder, 112. 112 Parssinen, Terry: Die vergessene Verschwörung. Hans Oster und der militärische Widerstand gegen Hitler, München 2008. 113 Vgl. „Reichsdeutsche und österreichische Flüchtlinge in der Tschechoslowakei“ und „20 000 sudetendeutsche Flüchtlinge abgeschoben“. In: Pariser Tageszeitung vom 13. Oktober 1938. Allgemein: Grossmann, Emigration, S. 125–149. 111 Hartmann:

Der deutsche Widerstand gegen den Nationalsozialismus   243

vom Krieg hören. So eine Stimmung gab es in Frankreich 1938. Und da kommen wir, wir waren eine Gruppe von etwa dreißig jungen Menschen, in die Rue ­Lafyette, wo da Tausende von Menschen standen und auf die Staatslimousine warteten, und trugen so ein kleines Transparent: ‚Hitler, c’est la guerre. Hitler – das ist Krieg.‘ Wir wären da ernstlich in Gefahr gewesen. Da entriss uns ein Pariser Polizist sofort das Transparent, schob uns zur Seite und schützte uns mit seinem breiten Mantel. Er hat uns aus dem Menschenknäuel herausgeführt und gesagt: Wie können Sie so etwas machen? Wir sind nicht für den Krieg, wir sind für den Frieden. Und wir haben uns gefragt: Ist das wirklich so, sind wir die letzten Franzosen, die hier noch für Frankreich demonstrieren, während die anderen schon alle bei Hitler sind?“114 Die liberale „Pariser Tageszeitung“ versuchte zu belegen, dass nicht „alle bei Hitler sind“, indem sie ausführlich die Stellungnahmen britischer Anti-Appeaser dokumentierte, so die Rücktrittsrede des Marineministers Duff Cooper und den Debattenbeitrag des schon im Februar als Außenminister demissionierten An­ thony Eden.115 Der „Neue Vorwärts“ prophezeite schon zwei Tage nach dem ­Abkommen: „Wenn Hitler zur Gewalt greift, wird er gegen eine Koalition der vier stärksten Mächte der Welt stehen! Diesen Krieg wird er verlieren!“ Über das ­wahre Ausmaß der von ihm heraufbeschworenen Kriegsgefahr habe der Diktator das Volk belogen.116 „Jede Partei der deutschen Opposition – von den Kommunisten bis zu den Deutschnationalen – weiss mit Sicherheit, dass nun erst recht die Kriegsgefahr verewigt ist“, konstatierte das SPD-Organ eine Woche später und erklärte: „Ihr könnt von Hitler den Frieden nur haben, wenn ihr mit der Freiheit bezahlt – mit der Freiheit der anderen und zuletzt mit eurer eigenen […].“117 Auch in einem Aufruf der KPD von Anfang Oktober hieß es, „eine Weltfront der mächtigsten Völker hatte sich gegen Hitlers provokatorische Politik gebildet“. Chamberlain und Daladier hätten indes die Friedenssehnsucht ihrer Völker „zu einem reaktionären Schachergeschäft mit Hitler auf Kosten der tschechoslowakischen Republik missbraucht“. Eindringlich warnten die Kommunisten vor neuen Kriegsgefahren und ließen – wie auch die Sozialdemokraten – das ceterum censeo, dass nur Hitlers Sturz den Frieden sichere, nicht fehlen.118 Die entscheidende Schwäche, hieß in der Resolution der aus Tarnungsgründen sogenannten Berner, tatsächlich Anfang 1939 in der Nähe von Paris abgehaltenen, Konferenz der KPD sei „die noch vorhandene Zersplitterung der antifaschistischen Kräfte“ gewesen, die die Umwandlung der Antikriegsstimmung in einen Massenwiderstand ver114 Interviewreihe „Zeitzeugen.

Gespräche mit ehemaligen Häftlingen des Konzentrationslagers Dachau. Werner Thalheim“, Transkript im Archiv des Verf. und der KZ-Gedenkstätte Dachau, S. 26 f. 115 Cooper, Duff: Die Geschichte der Septemberkrise. In: Pariser Tageszeitung vom 6. und vom 7. Oktober 1938. Eden, Anthony: Gefahren drohen. In: Pariser Tageszeitung vom 8. Oktober 1938. 116 „Hitler belügt das Volk“. In: Neuer Vorwärts Nr. 276 vom 2. Oktober 1938. 117 „Frieden? Ein Triumph der europäischen Reaktion“. In: Neuer Vorwärts Nr. 277 vom 9. Oktober 1938. 118 „An das deutsche Volk“. In: Der antifaschistische Widerstandskampf, Nr. 106.

244   Jürgen Zarusky hindert habe.119 Abgesehen von der sträflichen Unterschätzung des nationalsozialistischen Unterdrückungsapparates, mit dem gerade die Aktivisten der KPD schon reichlich Bekanntschaft gemacht hatten, verblüfft diese Einschätzung dadurch, dass ihr jegliche Einsicht in die Gründe der Spaltung fehlte, nämlich vor allem die von der KPD verteidigten stalinistischen Schauprozesse in der Sowjetunion, die Verdächtigung von Linkssozialisten als Trotzkisten und von Trotzkisten als Gestapo-Agenten sowie die totalitären Verfolgungen, mit denen die Kommunisten einen Linkssozialisten und Anarchisten während des Spanischen Bürgerkriegs überzogen. Nichtsdestoweniger erschien auch manchen nichtkommunistischen Linken die Sowjetunion nach dem „Verrat von München“ als letztes Bollwerk gegen deutsche Aggressionen wieder in einem besseren Licht.120 Von den USA aus meldete sich Thomas Mann kurz nach der Münchener Konferenz vehement zu Wort: Im Exil-Verlag Bermann-Fischer in Stockholm erschien noch 1938 eine Broschüre mit seiner Mitte Oktober verfassten Abhandlung „Dieser Friede“. Mit geradezu alttestamentarischer Wucht artikulierte der Nobelpreisträger in diesem Pamphlet die Wut und Verlassenheitsgefühle der Hitler-Gegner „extra et intra muros“ (10). Mann warf den Regierungen Englands und Frankreichs die Begünstigung des NS-Regimes aus antibolschewistischen Motiven und „die Selbstaufgabe der Demokratie als geistig-politischer Position“ vor. „Daß sich, was in Deutschland geschehen, mit dieser Genauigkeit und Vollständigkeit in ­Europa wiederholen würde, hatte niemand für möglich gehalten. Es grenzt ans Unheimliche, wie vollkommen die Figur jenes elenden von Papen, des Conser­ vativen, der Deutschland an Hitler auslieferte, in dem Engländer Chamberlain wiederkehrt.“ (15) Auch eine Denkfigur des nationalkonservativen Widerstandes taucht hier auf, nämlich dass das Regime „über Nacht […] hinweggefegt“ worden wäre, wäre es mit einer seriösen Kriegsdrohung konfrontiert worden (22). Über die tiefe Enttäuschung des tatsächlichen Ausgangs versuchte Mann sich und seine Leser mit der Formel zu trösten: „Gegen etwas wie Hitler behält man immer recht, es gehe aus damit, wie immer.“ (28) Dennoch waren die Folgen des Münchener Abkommens für die Gegner Hitlers insgesamt niederschmetternd, wie der SD in seinem Jahreslagebericht für 1938 mit Genugtuung feststellte.121 Darin stimmte er mit den Befunden der Sopade überein, die auf der Grundlage von Stimmungsberichten aus verschiedenen Regionen Deutschlands zu dem Schluss kamen, das Münchener Abkommen habe nicht nur die Hoffnungen der NS-Gegner aufs furchtbarste enttäuscht, „dass sich die Demokratien endlich zum Widerstand aufraffen würden“, sondern mehr noch: „Es erschüttert die Opposition gegen Hitler in ihrem innersten Kern, in ihrem Glauben an den schließlichen Sieg des Rechts und die Wiederherstellung von

119 Resolution

der Berner Konferenz der KPD (30. Januar bis 1. Februar 1939). In: Der antifaschistische Widerstandskampf, Beilage II, S. 8. 120 Duhnke: KPD, S. 284. 121 Boberach, Heinz (Hg.): Meldungen aus dem Reich. Die geheimen Lageberichte des Sicherheitsdienstes der SS 1938–1945. Band 2. Herrsching, 1984, S. 63 und S. 68.

Der deutsche Widerstand gegen den Nationalsozialismus   245

Treu und Glauben an die Welt. Wo sollen die Gegner der Diktatur die seelische Kraft hernehmen, für diese Ideale ihr Leben einzusetzen, wenn die demokratischen Weltmächte diese Ideale preisgeben, um sich einen trügerischen Frieden zu erkaufen.“122 Eine skeptische Haltung gegenüber der Dauerhaftigkeit des Friedens war den Sopade-Berichten zufolge in der Bevölkerung häufig anzutreffen.123 Bei vielen indes überwog die Erleichterung über den abgewendeten Krieg und sie konzentrierten sich wieder auf ihre Alltagssorgen. So schilderte Johann Georg Elser in einer Vernehmung Ende November 1939 die Haltung seiner Arbeitskollegen, die er indes nicht teilte: „Ich war bereits voriges Jahr um diese Zeit der Überzeugung, dass es bei dem Münchener Abkommen nicht bleibt, dass Deutschland anderen Ländern gegenüber noch weitere Forderungen stellen und sich andere Länder einverleiben wird und dass deshalb ein Krieg unvermeidlich ist.“124 Diesen großen Krieg wollte Elser durch ein Attentat auf die NS-Führung verhindern, das er am Abend des 8. November 1939 mittels einer Zeitzünderbombe im Münchner Bürgerbräukeller bei der alljährlichen Gedenkfeier zum Hitlerputsch durchführte. Die Explosion tötete acht Menschen, davon sieben „alte Kämpfer“ des Nationalsozialismus, sowie eine Kellnerin und verletzte sieben. Hitler war dem Anschlag entgangen, weil er den Saal früher als vorgesehen verlassen hatte. Elser, der versucht hatte, sich in die Schweiz abzusetzen, wurde an der Grenze verhaftet und in der Folge eingehend verhört, aber nie vor Gericht gestellt. Nach fünfeinhalbjähriger Haft in den KZs Sachsenhausen und Dachau wurde er am 9. April ermordet. Elsers einsamer Widerstand ist jahrzehntelang diskreditiert oder ignoriert worden. Erst die Arbeiten von Anton Hoch und Lothar Gruchmann seit Ende der 1960er Jahre eine Veränderung der Wahrnehmung eingeleitet haben.125 1999 hat der Dresdener Philosoph Lothar Fritze das Attentat einer moralphilosophischen Inspektion unterzogen, die ihn zu dem Schluss führte, die Tatausführung sei leichtfertig und mitleidlos und somit moralisch nicht zu rechtfertigen gewesen. Fritze führt hier insbesondere die unschuldigen Getöteten – als solche darf jedenfalls die Kellnerin gelten – an. Es ist hier nicht der Ort, sich näher mit der diskurs­ ethischen Konstruktion auseinanderzusetzen, die Fritzes Urteil zugrundeliegt,126 122 Deutschland-Berichte

der SoPaDe. Fünfter Jahrgang 1938, Nr. 9: September 1938 (Abgeschlossen am 10. Okt. 1938) S. 939 f. 123 Ebenda, Nr. 10, Oktober 1938 (Abgeschlossen am 10. Nov. 1938), S. 1056. 124 Steinbach, Peter/Tuchel, Johannes: Georg Elser. Der Hitler-Attentäter. Berlin 2010, S. 263. 125 Hoch, Anton: Das Attentat auf Hitler im Münchner Bürgerbräukeller 1939. In: VfZ 17 (1969), S. 383–413. Elser, Georg: Autobiographie eines Attentäters. Aussage zum Sprengstoffanschlag im Bürgerbräukeller, München am 8. November 1939. Hg. und eingeleitet Von Lothar Gruchmann. Stuttgart 1970. Hoch, Anton/Gruchmann, Lothar (Hg.): Georg Elser: Der Attentäter aus dem Volke. der Anschlag auf Hitler im Münchner Bürgerbräu 1939. Frankfurt a. M. 1980. 126 Zuzustimmen ist jedenfalls Hartmut Mehringer, der Fritze attestiert, er urteile ahistorisch, „vom Podest einer abstrakten Moral herab“. Vgl. seinen Diskussionsbeitrag zum Forum „Der Streit um den Widerstandskämpfer Georg Elser“. In: Jahrbuch Extremismus & Demokratie 12 (2000), S. 163–168, hier S. 167.

246   Jürgen Zarusky und auch die von skandalösen Begleitumständen geprägte Debatte, die er mit seiner moralischen Verurteilung Elsers ausgelöst hat.127 Relevant für die hier behandelte Thematik ist aber der Stellenwert des Münchener Abkommens und von Hitlers Kriegspolitik für Elsers Handeln, die in Fritzes Argumentation einen nicht unwichtigen Stellenwert haben. Er bezweifelt nämlich sowohl Elsers Kompetenz für die Beurteilung der Frage, ob Hitlers Politik tatsächlich unvermeidlich auf ­einen großen Krieg zulief als auch generell, dass ein „Normalbürger“ eine „hin­ reichend begründete Vermutung über die Unvermeidbarkeit des Krieges (nicht über den Unrechtscharakter des Regimes) gehabt haben konnte“.128 Gegen Elsers Kriegsprognose spreche, dass sie nach dem Münchener Abkommen, welches, so Fritze „seitens der Westmächte in friedenserhaltender Absicht geschlossen wurde“ getroffen worden sei, während das Abkommen für einen Teil der ­Militäropposition um Halder Grund genug gewesen sei, auf einen Putsch zu verzichten, der für den Fall der Mobilisierung gegen die Tschechoslowakei vorgesehen gewesen sei. Dies lasse die Schwierigkeiten erahnen, das weitere Vorgehen von Hitler zu prognostizieren.129 Abgesehen davon, dass Fritze sich hier hinsichtlich Halders auf ältere Literatur stützt und den seinerzeit aktuellen Forschungsstand ignoriert (insbesondere Hartmanns 1991 erschienene Halder-Biographie), vermischt er auch zwei sehr unterschiedliche Motive: Halder fürchtete einen Krieg, der nicht gewinnbar wäre, Elser lehnte den Krieg grundsätzlich ab. Auch die Frage, ob man „ohne ­politische Spezialkenntnisse, ohne ein Wissen um Planungs- und Entscheidungsprozesse innerhalb der Führung und ohne die Möglichkeit, außenpolitische Verwicklungen aus unmittelbarer Anschauung der Vorgänge beurteilen zu können – bereits zu einem so frühen Zeitpunkt (vor dem November 1938) begründet mutmaßen konnte, dass ein Krieg droht, für den Hitler verantwortlich oder der wenigstens durch den Tod von Hitler zu verhindern sein wird“, zeugt von einer offenkundig dünnen Kenntnisgrundlage Fritzes. Die Gegner Hitlers, in deren Milieu sich Elser bewegt hatte, haben schon vor 1933 dringlich davor gewarnt, dass seine Politik auf Krieg hinauslaufe. Vor dem November 1938, was Fritze für einen „frühen Zeitpunkt“ hält, hatte das Dritte Reich die Rüstungsbeschränkungen des Versailler Vertrags abgestreift, die allgemeine Wehrpflicht und den paramilitärischen Arbeits­dienst eingeführt. Es hatte unter Verletzung des Versailler Vertrags das entmilitarisierte Rheinland besetzt und militärisch in Spanien interveniert, um die rechtsradikalen Putschisten um General Franco zu unterstützen. All das war ­begleitet von einer totalen Militarisierung des öffentlichen Lebens und einer ­massiven Aufrüstung. Schließlich hatte Hitler in der Sudetenkrise in öffentlichen 127 Vgl.

dazu Hehl, Ulrich von: „Eine deutsche Affäre“? Beobachtungen zum Verlauf des Konflikts am Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung. In: Hettling, Manfred (Hg.) Figuren und Strukturen. Historische Essays für Hartmut Zwahr zum 65. Geburtstag. München 2002, S. 121–139. 128 Fritze, Lothar: Der Ehre zuviel – Eine moralphilosophische Betrachtung zum Hitler-Attentat von Georg Elser. In: Jahrbuch Extremismus & Demokratie 12 (2000), S. 101–139, hier S. 127. 129 Ebenda, S. 126.

Der deutsche Widerstand gegen den Nationalsozialismus   247

Auftritten und Erklärungen die Situation bis zum Rand des Krieges zugespitzt. Um das wahrzunehmen, musste man nicht in Generalstäben oder Ministerien sitzen. Fritze führt ferner an, dass Elser mit der unmittelbaren Ausführung seines Vorhabens ja schon Anfang August 1939 begonnen hatte, also vor dem Beginn des Kriegs am 1. September 1939, der erst seine Prognose bestätigte.130 Auch dieses Argument ist schwerlich ernstzunehmen. Abgesehen von dem inneren Widerspruch, dass Elser den befürchteten Krieg abwehren und nicht abwarten wollte, wird hier einmal mehr das tatsächliche historische Geschehen vollkommen ausgeblendet. Nicht einmal das Faktum, dass Hitler weniger als ein halbes Jahr nach den feierlichen Friedensbekundungen von München die im Nazijargon so genannte „Resttschechei“ zerschlug und deutsche Truppen in Prag einmarschierten, findet bei Fritze Erwähnung. Die Westmächte reagierten darauf bekanntlich mit einer öffentlichen Garantieerklärung für Polen, während in Deutschland die antipolnische Propaganda immer bedrohlicher anschwoll. Georg Elser hatte richtig erkannt, dass das Münchener Abkommen nur eine Zwischenstation auf dem Weg in den Krieg war. Und er war damit bei weitem nicht der einzige. Zahlreiche deutsche Hitlergegner im Untergrund und im Exil und auch einige in putschistischen Zirkeln des Staatsapparates spannten alle Kräfte an, um den Kriegszug an dieser Station zum Stehen zu bringen. Aber diese Kräfte waren zu gering. Doch so verschiedenartig, zersplittert und zum Teil einander feindlich gesonnen all die widerständigen Gruppierungen auch waren, so teilten sie in den dramatischen Ereignissen von 1938 doch zweierlei: die tiefe Beunruhigung durch die Kriegsgefahr und die Erfahrung einer desaströsen Niederlage.

130 Ebenda,

S. 125.

Thomas Oellermann

Die sudetendeutschen Gegner des Nationalso­ zialismus vom März 1938 bis zum März 1939 Eine Betrachtung der Geschichte der sudetendeutschen Gegner des Nationalsozi­ alismus sowie der Bestrebungen der Sudetendeutschen Partei (SdP) für den ge­ wählten Zeitraum ist nicht nur aufgrund der politischen Vielschichtigkeit der zu beschreibenden Gruppen ein schwieriges Unterfangen, sondern auch aufgrund einer enger oder weiter zu fassenden Definition von „Gegnerschaft“. Änderungen im Verhältnis verschiedener Gruppen zur sudetendeutschen Bewegung sind ge­ nauso zu berücksichtigen wie regionale Besonderheiten und Fragen ethnischer Zugehörigkeit. Hinzu kommt, dass die historiografische Erforschung des Themas bis in die Gegenwart hinein im Zusammenhang mit bestimmten politischen Fak­ toren zu sehen ist – so etwa das durch die tschechische Regierung im Jahr 2005 initiierte Vorhaben zur Geschichte der deutschen Hitlergegner in der Tschecho­ slowakei.1 Der folgende Beitrag befasst sich mit dem Verhalten politischer Orga­ nisationen und kultureller Gruppen zwischen dem für die tschechoslowakische Entwicklung folgenreichen „Anschluss“ Österreichs im März 1938 bis zur endgül­ tigen Zerstörung der Tschechoslowakei im März 1939.

Das gesellschaftliche Klima zu Beginn des Jahres 1938 Der starke Sog der Sudetendeutschen Partei Konrad Henleins schlug sich im ­Verlauf des Jahres 1938 nicht nur auf politischem Gebiet nieder. Viele Organisa­ tionen wurden von Bestrebungen erfasst, die auf eine Gleichschaltung des ge­ sellschaftlichen Lebens hinausliefen. Hierbei kam es oft zu scharfen Konflikten ­zwischen Anhängern der SdP und der demokratischen Parteien in der Tschecho­ slowakei. Eine solche Auseinandersetzung entspann sich etwa an den deutschen Theatern der Republik. Der „Nordböhmische Volksbote“ berichtete im April 1938 von Flügelkämpfen zwischen den SdP-nahen Chorsängern und Orchestermitglie­ dern und den zumeist demokratisch gesinnten Solisten und Bühnenarbeitern. Obwohl zahlreiche Lokalverbände des Bühnenbundes schon seit einiger Zeit un­ 1

Im Rahmen dieses Projekts erschienen unter anderem die folgenden Arbeiten: Čermáková, Barbora/Weber, David (Hg.): Sie blieben der Tschechoslowakei treu. Biographische Interviews mit deutschen Antifaschisten. Praha 2008. Kokošková, Zdeňka u. a.: Schicksale der vergessenen Helden. Geschichten der deutschen Antifaschisten aus der ČSR. Praha 2008. Kokošková, Zdeňka/Pažout, Jaroslav (Hg.): Odsunutí hrdinové / Abgeschobene Helden. Praha 2008. Okurka, Tomáš (Hg.): Zapomenutí hrdinové. Němečtí odpůrci nacismu v českých zemích. Vergessene Helden. Deutsche NS-Gegner in den böhmischen Ländern. Ústí nad Labem 2008. Kokoška, Stanislav/Oellermann, Thomas: Sudetští Němci proti Hitlerovi: sborník německých odborných studií [Sudetendeutsche gegen Hitler: Sammelband deutschsprachiger Fachstu­ dien]. Praha 2008.

250   Thomas Oellermann ter Kontrolle der SdP stünden, gebe es auch Beispiele wie die Ortsgruppe Teplitz (Teplice), die sich eindeutig gegen ihren dem Völkischen zuneigenden Obmann ausgesprochen habe.2 Ähnliche Entwicklungen vollzogen sich auch in anderen Organisationen und Verbänden. So wurde von sozialdemokratischer Seite die zunehmende Nähe zum Nationalsozialismus in der Führung des „Reichsverbandes deutscher ­Ärztevereine“ kritisiert, eines Dachverbandes, dem auch der kleine sozialdemokratische Ärzte­ verband angehörte.3 Neben der Übernahme von Organisationen durch SdP-Anhänger kam es auch infolge solcher Ereignisse diverse Male zur Selbstauflösung von Vereinen und Ver­ bänden, die vormals dem bürgerlichen Spektrum, wenngleich auch nicht zwin­ gend dem politischen, zugeordnet werden konnten. Ende April 1938 löste sich die Karlsbader Schlaraffia auf und entging somit augenscheinlich dem Los des Ol­ mützer Vereines, der sich den Bestrebungen einer völkischen Opposition erweh­ ren musste.4 Diese Beispiele einer fortschreitenden Gleichschaltung von auch gerade formell unpolitischen Organisationen verdeutlichen, wie sich das gesellschaftliche Leben der Sudetendeutschen im Sinne der SdP und Henleins politisierte und wie sich dadurch für die dezidierten Gegner dieser Bestrebungen der gesellschaftspoliti­ sche Spielraum verengte. Den bekennenden Demokraten unter den Sudetendeut­ schen gingen im Verlauf des Jahres 1938 zusehends die Ansatzpunkte für eine Wirkung in die Gesellschaft hinein verloren.

Die sudetendeutsche Sozialdemokratie im Jahr 1938 Für die Deutsche Sozialdemokratische Arbeiterpartei (DSAP) war der „Antifa­ schismus“, auch vor dem Hintergrund der Entwicklungen in Deutschland sowie in Italien, ein Wert, der geradezu zu einem einenden Band in der Arbeiterbewe­ gung wurde. Für die seit 1929 in der durch die Weltwirtschaftskrise gekennzeich­ neten aufreibenden Regierungswirklichkeit angekommenen Sozialdemokraten war die Gegnerschaft zu Nationalsozialismus und Konrad Henleins Bewegung eine Möglichkeit, die eigene Klientel zu mobilisieren, so etwa 90 000 Anhänger am 4. November 1934 bei Demonstrationen für die Demokratie.5 Auf längere Sicht fehlte den sudetendeutschen Sozialdemokraten allerdings ein programmatischer Gegenentwurf, um zumindest den innenpolitischen Konflik­ 2

Wie steht es um die anderen Theater. In: Nordböhmischer Volksbote Nr. 97 vom 26. April 1938. 3 Man muss es dreimal sagen. Der Reichsverband deutscher Ärztevereine ist schwerhörig. In: Nordböhmischer Volksbote Nr. 112 vom 13. Mai 1938. 4 Auflösung der Karlsbader Schlaraffia. In: Bohemia Nr. 95 vom 23. April 1938. Politische Aus­ einandersetzungen in Olmütz. In: Bohemia Nr. 101 vom 30. April 1938. 5 Kracik, Jörg: Die Politik des deutschen Aktivismus in der Tschechoslowakei 1920–1938. Frank­ furt u. a. 1999, S. 272.

Die sudetendeutschen Gegner des Nationalsozialismus   251

ten begegnen zu können. Dass ein zentraler innenpolitischer Konflikt, die tat­ sächliche und die empfundene Benachteiligung der deutschen Bürger der Tsche­ choslowakei gegenüber dem Staatsvolk auch durch die Regierungsteilnahme der Sozialdemokraten nicht gelöst werden konnte, führte zu einer Stimmung, die zu­ sammen mit den Ereignissen in Deutschland seit 1933 auch eine Ursache für den erdrutschartigen Sieg der SdP bei den Parlamentswahlen 1935 gewesen sein dürf­ te. Aus dem Stand wurde die Partei Henleins zur mit Abstand stärksten deutschen Partei. Das Erlebnis dieses Wahldesasters und die Erfahrung, dass anscheinend auch bisher dem sozialdemokratischen Milieu Nahestehende sowie Mitglieder von sozialdemokratischen Gewerkschaften sowie Kultur- und Freizeitverbänden Henlein ihre Stimmen gaben, verstärkte in der Sozialdemokratie den Trend zur Erneuerung der Parteiprogrammatik aber auch zur Debatte über die staatspoliti­ sche Stellung der Deutschen in der Tschechoslowakei. So oblag es dem in der Par­ tei an Einfluss gewinnenden Wenzel Jaksch, einen Einklang zwischen marxisti­ schen Grundwerten, tagespolitischen Notwendigkeiten der Regierungsverantwor­ tung und gegenwärtigen nationalpolitischen Forderungen zu finden. Von ihm ging der Versuch eines Schulterschlusses mit den übrigen sudetendeutschen de­ mokratischen Parteien zur Wiederbelebung des staatsbejahenden Aktivismus aus. Im Januar 1937 überreichten Vertreter von DSAP, dem Bund der Landwirte (BdL) und der Deutschen Christlichsozialen Volkspartei (DCSVP) der Regierung ein Memorandum, in dem eine nationale Gleichberechtigung bei den Stellen im Staatsdienst gefordert wurde.6 Die Anerkennung dieser Forderung seitens der ­Regierung im so genannten Feber-Abkommen konnte allerdings vor dem Hinter­ grund der außenpolitischen und innenpolitischen Ereignisse nicht mehr den ­Effekt erreichen, innerhalb der deutschen Bevölkerungsgruppe der SdP einen ­nationalpolitischen Erfolg entgegenzusetzen. Als politischer Erfolg wurde es aber zum Beispiel von den Sozialdemokraten noch bis zum Sommer 1938 verteidigt und beworben.7 Sie verwiesen hierbei auf die viel versprechenden Ansätze der mit der Umset­ zung des Abkommens zur nationalen Gleichberechtigung im Staatsdienst beauf­ tragten aktivistischen Landes- und Bezirksstellen, die internationalen Ereignisse schienen aber diese Politik der kleinen Schritte förmlich zu überrollen. Der An­ schluss Österreichs am 12. März 1938 bedrohte zum einen den Bestand des Staa­ tes und weichte zum anderen das sudetendeutsche demokratische Lager weiter auf. Drei Tage nachdem BdL und DCSVP am 23. März ihren Austritt aus der Re­ gierung, ihre Selbstauflösung und ihr Übergehen in die SdP erklärt hatten, wurde

6 7

Ebenda S. 341. Martin Bachstein bewertet das Feber-Abkommen als Illusion, da die anfängliche Begeisterung bald der „Ernüchterung des politischen Alltags“ habe weichen müssen. Bachstein, Martin K.: Wenzel Jaksch und die sudetendeutsche Sozialdemokratie. München 1974, S. 117. Noch am 18. Februar 1938 erschien im Nordböhmischen Volksboten, dem sozialdemokratischen Organ für Nordböhmen, eine Sonderbeilage zum Feber-Abkommen, u. a. mit Beiträgen von Ludwig Czech und Wenzel Jaksch. In: Nordböhmischer Volksbote Nr. 41 vom 18. Februar 1938.

252   Thomas Oellermann Wenzel Jaksch auf dem letzten Parteitag der DSAP zum Vorsitzenden gewählt.8 Der politische Handlungsspielraum für die sudetendeutschen Sozialdemokraten hatte sich weiter eingeengt. In der Folge versuchte man durch deutliche nationale Forderungen, der SdP den Wind aus den Segeln zu nehmen. Gegenüber dem tschechischen Mehrheitsvolk und der tschechischen Regierungsmehrheit wurden diese Forderungen verbunden mit einem klaren Bekenntnis zum Bestand der Tschechoslowakischen Republik und einer oft und gern kolportierten tatkräftigen Verteidigungsbereitschaft. Bereits im April 1936 hatte Wenzel Jaksch erklärt, dass der Staat sich keine Maginot-Linie, sondern „einen Festungsgürtel aus staatstreu­ en Deutschen“ schaffen solle.9 Als am 9. April 1938 Ludwig Czech nach neunjähriger Amtszeit von seinem Ministerposten zurücktrat und die Meinungsführerschaft in der DSAP auf Wen­ zel Jaksch allein überging, wurde somit auch ein innerparteilicher Konflikt zwi­ schen Czechs eher klassischem Marxismus und Jakschs eher pragmatischerem Volkssozialismus sowie zugleich eine Auseinandersetzung zweier Generationen beendet. Entsprechend konsolidiert begingen die sudetendeutschen Sozialdemokraten den 1. Mai, dies in vielen Städten zusammen mit den tschechischen Parteien und zahlreiche Male auch zusammen mit den Kommunisten.10 Erschien die Sozialde­ mokratie in den größeren Orten somit noch durchaus agil, war es um ihre Prä­ senz in kleineren Städten und Gemeinden schlechter bestellt. So konnte die DSAP für die im Mai 1938 stattfindenden Gemeindewahlen vielerorts aufgrund des Drucks auf ihre örtlichen Funktionäre keine Kandidatenlisten mehr aufstellen.11 In einigen größeren Städten wiederum kam es zu Wahlallianzen von deutschen Sozialdemokraten und verbliebenen deutschen Demokraten anderer Parteien. Ein solches Bündnis erzielte etwa in Prag 4850 Stimmen (gegenüber 15420 SdPStimmen).12 Hatte das Ergebnis der Parlamentswahlen von 1935 mit dem deutlichen Stim­ menzugewinn der SdP in den Reihen der DSAP zu Bestürzung und Empörung geführt, so wurde das zu erwartende Ergebnis der Gemeindewahlen mit aufmun­ ternden Durchhalteaufrufen kommentiert: „Aber wir haben gekämpft im Schat­ ten drohender Kriegsgefahr, gegen den Anschlusswahn, unter so schwierigen Ver­ hältnissen, wie nie zuvor. Und deshalb ist es kein zu großes Wort, wenn man jene, die diesen Kampf führten, als Helden bezeichnet.“13   8 Hoensch,

Jörg K.: Geschichte der Tschechoslowakei. Köln 1992, S. 81. nach Kučera, Jaroslav: Minderheit im Nationalstaat. Die Sprachenfrage in den tsche­ chisch-deutschen Beziehungen 1918–1938. München 1999, S. 143 10 Brandes, Detlef: Die Sudetendeutschen im Krisenjahr 1938. 2. Auflage München 2010, S. 136. Gemeinsame Feiern gab es in Reichenberg, Tannwald, Gablonz, Bodenbach, Böhmisch Kam­ nitz, Warnsdorf, Aussig, Freudenthal. 11 Werner, Emil: Emil Franzel ist als Geschichtsquelle untauglich, in: Sudeten-Jahrbuch, Bd. 1993, S. 48–58, S. 57. 12 Demokratischer und Linkssieg. Die Wahl in der Hauptstadt. In: Nordböhmischer Volksbote Nr. 121 vom 24. Mai 1938. 13 Unerschüttete Freiheitswacht. In: Nordböhmischer Volksbote Nr. 121 vom 24. Mai 1938.   9 Zitiert

Die sudetendeutschen Gegner des Nationalsozialismus   253

Neben der politischen Geschichte der DSAP, mit ihren innerparteilichen Kon­ flikten, mit ihrer programmatischen Neuausrichtung durch Wenzel Jaksch und mit ihrem deutlichen Bekenntnis zur Tschechoslowakischen Republik muss das Bild der sudetendeutschen Sozialdemokratie des Jahres 1938 auch anhand der zahlreichen Gewerkschaften sowie Kultur- und Freizeitverbände gezeichnet wer­ den. Lediglich bei den Sozialdemokraten spielten solche Vorfeldorganisationen 1938 noch eine wichtige Rolle, handelte es sich oftmals doch um in vielen Jahr­ zehnten gewachsene Verbandsstrukturen. Sicherlich vermochten diese Organisa­ tionen auch gerade durch ihren Anspruch, alle Bereiche des Lebens zu erfassen, das sozialdemokratische Lager zusammenzuhalten und gegen die Sogwirkung der SdP zu immunisieren. Als eine der größten Organisationen ist der Arbeiter- Turn- und Sportverband (ATUS) zu nennen, der sich nach einer Fusion mit den Arbeiter-Radfahrern 1937 in „ATUS-Union“ umbenannte. Seit seiner Gründung 1919 hatte sich der ATUS gewandelt von einem Verband, der zunächst in den Reihen der Arbeiterbewegung nur eine bedingte Akzeptanz genoss, da er als zuwenig politisch galt, hin zu einer Organisation, die vor allem durch ihre Turn- und Sportfeste eine hohe Mobilisie­ rung und dadurch eine große Außenwirkung erzielte. Natürlich gingen die politischen Verhältnisse auch nicht spurlos an der ATUSUnion vorbei. Gerade ihre Veranstaltungen und die der anderen sozialdemokrati­ schen Organisationen zeugen aber – selbst für das ereignisreiche Jahr 1938 – von einer Normalität bzw. von den Bemühungen um eine solche. Neben dem alltäg­ lichen Vereinsleben in den Städten und Gemeinden und den verschiedenen Auf­ märschen und Festen spielten auch die aufgrund der außenpolitischen Verhält­ nisse nunmehr nur schwierig aufrechtzuerhaltenden Auslandskontakte eine wich­ tige Rolle für die ATUS-Union. Im Juni nahm etwa ihre Fußballverbandsauswahl an einem Vierländerturnier in Paris teil.14 Im August wurden vier Spieler des Aus­ siger ATUS-Union-Vereins „Vorwärts“ Mannschaftsmeister im Schweizer Arbei­ tertennis.15 Noch Anfang September wurde ATUS Kleische aus Aussig (Ústí nad Labem) vor 600 Zuschauern durch ein 7:3 n. V. ATUS-Union-Fußballverbands­ meister 1938.16 Kurz vor den turbulenten Septembertagen veranstaltete die ATUSUnion am 10. und 11. September in Aussig ihre Radballmeisterschaften.17 Um weitestgehende Normalität war man im Sommer 1938 auch in der sozial­ demokratischen Jugend bemüht. Mitte Mai hatte in Reichenberg (Liberec) der Verbandstag der Sozialistischen Jugend (SJ) stattgefunden, der sich anhand eines Referats des Vorsitzenden der Sozialistischen Jugendinternationale Erich Ollen­

14 Die „Union“-Verbandself

in Paris. In: Nordböhmischer Volksbote Nr. 144 vom 21. Juni 1938. Tennisspieler – Schweizer Arbeiter-Tennismeister, In: Nordböhmischer Volksbote Nr. 190 vom 14. August 1938. 16 Kleische-Aussig Bundes-Fußballmeister 1938. In: Nordböhmischer Volksbote Nr. 210 vom 7. September 1938. 17 Nordböhmischer Volksbote Nr. 216 vom 14. September 1938. 15 Unsere

254   Thomas Oellermann hauer mit dem aktuellen Zeitgeschehen beschäftigte.18 Der Sommer stand dann im Zeichen zahlreicher Zeltlager der Jüngeren, der so genannten Roten Falken. Vom 27. Juni bis zum 17. Juli fanden in Steinsdorf (Kamenec) bei Bodenbach (Podmokly) das 3. Reichszeltlager und zugleich auch das 1. Reichsfalkentreffen statt.19 Auf dem einen Monat später stattfindenden Jugendlager der Sozialisti­ schen Jugend des Kreises Bodenbach in Böhmisch-Kamnitz (Česká Kamenice) richtete Divisionsgeneral Bohuslav Fiala das Wort an die Jugendlichen, ein Um­ stand, der vor dem Hintergrund eines strikten Antimilitarismus der SJ nur durch die gesteigerte Wehrbereitschaft in Zeiten großer außenpolitischer Bedrohung be­ gründet werden kann.20 Und auch das übrige sozialdemokratische Verbandswesen bemühte sich um eine geordnete Weiterführung der Tätigkeit, allen Widrigkeiten der Zeit zu Trotz. In einigen wenigen Fällen wurde das Organisationsnetz noch durch Neugrün­ dungen erweitert. So gründete sich im Januar 1938 in der Bodenbacher Volkshal­ le als eine Dependance des Verbandes der Arbeiterbriefmarkensammler in Aussig ein lokaler Sammlerverein.21 Anfang April hielt der nach der Gleichschaltung des überparteilichen Esperantobundes neu gegründete Bund der Arbeiter-Esperantis­ ten seine Jahreshauptversammlung in Pilsen (Plzeň) ab.22 Wenngleich alle diese Organisationen keine Massenorganisationen waren, steht ihre Existenz und ihre Tätigkeit stellvertretend für das auch für das Jahr 1938 noch breite und weit ver­ zweigte sozialdemokratische Verbandsspektrum.

Die Gewerkschaften im Jahr 1938 – das Ende der ­Geschlossenheit Neben den Kultur- und Freizeitverbänden stellten die Gewerkschaften aufgrund ihrer umfangreichen Mitgliedschaft einen wichtigen Pfeiler der sozialdemokrati­ schen Arbeiterbewegung dar. 1935 war ihnen mit Gründung der SdP-nahen Deutschen Arbeitergewerkschaft (DAG) eine Konkurrenz entstanden, die nun versuchte, den sozialdemokratischen Gewerkschaften die Führungsrolle streitig zu machen. Wenngleich gelegentlich über entsprechende Mitgliederverluste zu­ gunsten der DAG berichtet wurde, erwiesen sich die sozialdemokratischen Ge­ werkschaften hinsichtlich ihrer Mitgliederzahlen und der Ergebnisse bei Betriebs­ ausschusswahlen als relativ beständig.23 Dies mag darin begründet liegen, dass sie 18 Kürbisch,

Friedrich G.: Chronik der sudetendeutschen Sozialdemokratie 1863–1938. Stuttgart 1982, S. 79. 19 Freundschaft unserer Falkenzeit, eine Darstellung von 1921–1938. In: Sudeten-Jahrbuch, Bd. 1991, S. 73–81, S. 81. 20 Divisionsgeneral Fiala im Jugend-Zeltlager. In: Nordböhmischer Volksbote Nr. 190 vom 14. August 1938. 21 (ohne Titel) Nordböhmischer Volksbote Nr. 15 vom 19. Januar 1938. 22 (ohne Titel) Nordböhmischer Volksbote Nr. 53 vom 4. März 1938. 23 DAG – stärkste sudetendeutsche Gewerkschaft. In: Bohemia Nr. 89 vom 15. April 1938.

Die sudetendeutschen Gegner des Nationalsozialismus   255

auf eine lange Tradition und somit auf gewachsene Strukturen zurückgreifen konnten. Zugleich hatten sie sich in den Hochzeiten der Weltwirtschaftskrise, oft selbst am Rande des finanziellen Bankrotts stehend, als zuverlässigste Auszahler der unter dem Begriff „Genter System“ durch die Gewerkschaftsverbände organi­ sierten Arbeitslosenhilfe erwiesen. Zumindest für eine Reihe von Gewerkschaften lässt sich somit von einer inne­ ren Stabilität und einem Festhalten an sozialdemokratischen Überzeugungen sprechen. Es waren dies insbesondere die traditionellen Fachverbände, deren Wurzeln teilweise weit vor die der Partei zurückreichten. Zu nennen wären etwa die Bergarbeiter und die Metallarbeiter, die sich ausdrücklich als Teil der sozialde­ mokratischen Bewegung verstanden und in verschiedenen Themenbereichen mit ATUS und SJ kooperierten. Ausschlaggebend für die Treue dieser und weiterer Gewerkschaften war noch die Durchsetzung ihrer Funktionärsapparate mit Mit­ gliedern der Partei, auch dies eine gewachsene Struktur. Auf der anderen Seite standen aber die Gewerkschaften der staatlichen Ange­ stellten und Facharbeiter. Diese hatten sich erst nach dem Ersten Weltkrieg zu ei­ nem Anschluss an die sozialdemokratische Gewerkschaftsbewegung entschlossen. Das einigende Band der Sozialdemokratie konnte allerdings in der Folge den Ge­ gensatz im Betrieb zwischen den Arbeitern und den Angestellten als verlängertem Arm der Betriebsleitung nicht überbrücken. Die Angestellten verblieben in einer Sonderrolle, womit sich auch die im Folgenden geschilderten Ereignisse des Jah­ res 1938 erklären könnten. Im April fasste die Jahreshauptversammlung der Ortsgruppe Reichenberg des Verbandes der öffentlichen Angestellten den Beschluss, den sozialdemokratischen Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) zu verlassen. Ebenso wurde die Forderung aufgestellt, dass der Verband zukünftig unpolitisch geführt werden müsse.24 Den fortgesetzten Forderungen nach Einberufung eines Verbandstages von Seiten SdPnaher Mitglieder wusste sich die sozialdemokratische Verbandsleitung Ende Mai nicht mehr anders zu erwehren als durch Ausschluss der Führer der so genannten „Völkischen Opposition“.25 Damit waren diese inneren Konflikte aber keinesfalls beendet. So gelang es der sozialdemokratischen Minderheit der Bodenbacher Ortsgruppe nur mit großer Mühe, eine Versammlung ergebnislos abzubrechen.26 Für den August 1938 ließen sich wiederum Aktivitäten eines „völkischen Aus­ schusses“ in der Reichenberger Ortsgruppe feststellen.27 Eine ähnliche Entwicklung vollzog sich in der Gewerkschaft der Postler. Nach dem durch Krankheit bedingten Rückzug des langjährigen Vorsitzenden Josef Tichak machten sich auch hier völkische Tendenzen bemerkbar, die letztendlich 24 Angestellten-Verband

verlässt Gewerkschaftsbund. In: Bohemia Nr. 96 vom 24. April 1938. des Hauptorganisationsamtes OG-33/38 vom 8. 6. 1938. Národní Archiv (im Folgen­ den: NA), SdP-dodatky, K. 13-1. Zit. nach: Brandes: Krisenjahr 1938, S. 69. 26 Nazi raus! Mißlungener Gleichschaltungsversuch bei den öffentlichen Angestellten. In: Nord­ böhmischer Volksbote Nr. 161 vom 12. Juli 1938. 27 Nazi-Unverschämtheiten gegen die öffentlichen Angestellten. In: Nordböhmischer Volksbote Nr. 195 vom 20. August 1938. 25 Weisung

256   Thomas Oellermann zum Austritt aus dem Deutschen Gewerkschaftsbund führten.28 In der Graphi­ schen Union scheiterten jedoch vergleichbare Bestrebungen der SdP. Der Austritt aus dem DGB wurde auf einer ordentlichen Hauptversammlung am 10. und 11. September 1938 abgelehnt.29

Die Republikanische Wehr – sozialdemokratischer Selbstschutz im Jahr 1938 Eine besondere Rolle im sozialdemokratischen Verbandsspektrum kam der Repu­ blikanischen Wehr (RW) zu. Diese Organisation, deren Ursprünge auf Auseinan­ dersetzungen mit den Kommunisten am Ende der 1920er Jahre zurückgingen, war unter dem Eindruck der zunehmenden Störaktionen durch die SdP Mitte der 1930er Jahre zu einem landesweiten und straff organisierten Verband geworden. Die RW stand vor allem sinnbildlich für die Wehrbereitschaft der sudetendeut­ schen Sozialdemokratie. Das größte Mitgliederreservoir für den Dienst in der RW stellte der ATUS, dem auch einige führende Funktionäre entstammten.30 Im Jahr 1938 war die Republikanische Wehr von zentraler Bedeutung, da sie vielerorts durch den Schutz von Veranstaltungen die Aufrechterhaltung der Tätigkeit von Partei, Gewerkschaften und Verbänden sicherstellte.31 Während der Unruhen Mitte September 1938 war es wiederum die RW, die Sozialdemokraten schützte und Gebäude der Arbeiterbewegung gegen den Ansturm von SdP-Anhängern verteidigte. In diesem Zusammenhang ist etwa der Angriff auf das Egerer Volks­ haus am 13. September zu nennen.32 Eine Einschränkung erfuhr die Tätigkeit der Republikanischen Wehr, als am 17. September durch die Polizeidirektion Prag das Tragen der RW-Uniform verboten wurde.33 Sie blieb aber weiterhin aktiv und betätigte sich in der Fürsorge für die Flüchtlinge aus dem Grenzgebiet. Zudem wurde eine Eingliederung in die Streitkräfte der Tschechoslowakischen Republik als selbstständige Einheit diskutiert.34 Bei der Besetzung der Grenzgebiete im Ok­ tober 1938 eskortierte die RW wiederum Sozialdemokraten und andere Flücht­

28 Die

Unpolitischen – Verbandstag der Gewerkschaft der Postler. In: Nordböhmischer Volksbo­ te Nr. 116 vom 18. Mai 1938. 29 Die Graphische Union bleibt eine freie Gewerkschaft. In: Nordböhmischer Volksbote Nr. 215 vom 13. September 1938. 30 Zu nennen sind hier der hohe ATUS-Funktionär Alois Ullmann, der bis 1935 als Obmann der RW fungierte, sowie der Funktionär der Arbeiterradfahrer Ernst Otto Rambauske, der seit 1932 im so genannten Reichsordnerbeirat der DSAP mitwirkte. Nach: Hasenöhrl, Adolf: Kampf, Widerstand, Verfolgung der sudetendeutschen Sozialdemokraten. Stuttgart 1983, S. 272. Kürbisch: Chronik, S. 70. 31 Schober, Franz: Das Jahr 1938, die Jägerndorfer Arbeiterschaft im Widerstand gegen den Fa­ schismus. In: Sudeten-Jahrbuch, Bd. 1988, S. 58–59, S. 58. 32 Kürbisch: Chronik, S. 79. 33 Ebenda, S. 80. 34 Sudetendeutsche Flüchtlinge in Prag. In: Nordböhmischer Volksbote Nr. 218 vom 16. Septem­ ber 1938. Hasenöhrl: Kampf, Widerstand, Verfolgung, S. 295.

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linge ins Inland. Für einen Fortbestand in der Zweiten Republik gab es dann aller­dings keine Grundlage mehr.

Die deutschen Kommunisten im Jahr 1938 Eine weitere wichtige Gruppe, die wie die Sozialdemokraten geschlossen in einer klaren Gegnerschaft zu Hitler und Henlein stand und die auch nach dem ­Anschluss dem sudetendeutschen Widerstand zuzurechnen war, bildeten die Kommunisten, wenngleich hier eine dezidierte Aussage zum Anteil der sudeten­ deutschen Kommunisten aufgrund der übernationalen Struktur der Kommunis­ tischen Partei der Tschechoslowakei (KSČ, Komunistická strana Československa) nur in Ansätzen möglich ist.35 Für die Politik der Kommunisten im Jahr 1938 waren die Beschlüsse des 7. Kom­ intern-Kongresses im Sommer 1935 in Moskau von großer Bedeutung. Hier wur­ den die kommunistischen Parteien auf eine Zusammenarbeit mit den „reformis­ tischen“ sozialdemokratischen Parteien gegen den Faschismus eingeschworen.36 Die KSČ vollzog diese politische Richtungsänderung Ende 1936, indem sie nun einen nationalen Ausgleich innerhalb der Tschechoslowakei anstrebte und nicht mehr die Lostrennung von Gebieten befürwortete.37 Da sie damit der Regierungs­ mehrheit nicht mehr in starrer Opposition gegenüberstanden, konnten sich die Kommunisten aus der politischen Isolierung der Vorjahre lösen.38 Die von den Kommunisten angestrebte Volksfront in Form einer engen Zu­ sammenarbeit mit den Sozialdemokraten bei der Abwehr des Nationalsozialismus konnte allerdings nur partiell auf lokaler Ebene vollzogen werden. Gerade auf sozialdemokratischer Seite schienen im Verhältnis zu den Kommunisten einfach die Erfahrungen der sehr oft mit subversiven Methoden betriebenen Spaltung von Partei, Gewerkschaften und Verbänden weiterhin vorzuherrschen.39 Und auch für das Jahr 1938 lassen sich noch – trotz einer Öffnung der KSČ und trotz der allgemeinen innen- und außenpolitischen Bedrohung – Konflikte solcher Art beobachten. Unter der Bezeichnung „fortschrittliche Studenten“ luden im März allgemein Rupnik, Jacques: Dějiny Komunistické strany Československa: od počátků do převzetí moci [Geschichte der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei: von den An­ fängen bis zur Machtübernahme]. Praha 2002. Vaculík, Jaroslav: Češi v cizině – emigrace a návrat do vlasti [Tschechen im Ausland – Emigration und Rückkehr in die Heimat]. Brno 2002. Mervart, Jan/Musilová, Dana: Dokumenty k dějinám Komunistické strany Českosloven­ ska [Dokumente zur Geschichte der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei]. Ústí nad Orlicí 2006. 36 Oschlies, Wolf: Die Kommunistische Partei der Tschechoslowakei in der Ersten Tschechoslo­ wakischen Republik (1918–1938). Köln 1974, S. 42. 37 Kracik: Die Politik des deutschen Aktivismus, S. 337. 38 Schaffrannek, Christoph: Die politische Arbeiterbewegung in den böhmischen Ländern 1933– 1938, Berlin 2003, S. 6. 39 Auf die Spaltung der Partei 1920 war die Gründung kommunistischer Gewerkschaften ge­ folgt. Ende der 1920er Jahre kam es dann auch in den Kultur- und Freizeitorganisationen der Arbeiterbewegung zu Spaltungsversuchen durch kommunistische Gruppen. 35 Siehe

258   Thomas Oellermann die vier Prager kommunistischen Studentengruppen zu einer Versammlung ein, auf der unter Teilnahme von Vertretern des Schulministeriums, der Studentenfür­ sorge und mit Billigung des Rektors der Deutschen Universität ein von allen Stu­ dentenorganisationen entworfenes Sozialprogramm diskutiert werden sollte.40 Auf diese Ankündigung reagierten die deutschen agrarischen, katholischen und sozialdemokratischen Studentengruppen mit strikter Ablehnung. Nationale, libe­ rale und christlichsoziale Studentengruppen entsandten eine Delegation ins Schulministerium, das daraufhin seine Teilnahme an dieser Veranstaltung absag­ te.41 Dieses Beispiel verdeutlicht, dass es nur örtlich und zeitlich begrenzt zu einer Zusammenarbeit von Kommunisten mit anderen Parteien kam. So gab es etwa am 1. Mai diverse gemeinsame Veranstaltungen, an denen oft auch die tschechi­ schen demokratischen Parteien beteiligt waren, aber auch Beispiele wie das der DSAP in Grulich (Králíky), die eine gemeinsame Kundgebung mit der Kommu­ nistischen Partei ablehnte.42 Ähnlich den sudetendeutschen Sozialdemokraten konnten auch die Kommunisten auf einen festen Kern an Anhängern bauen, so dass verschiedene ihrer Veranstaltungen im Sommer 1938 einen massenhaften Zuspruch erfuhren.43 Der zunehmende Terror durch Anhänger der SdP ließ auch die Kommunisten näher an Regierung und Republik heranrücken, wie ein Aufruf der Karlsbader KSČ zeigt: „Wir appelieren [sic!] daher an die Regierung, alles zu unternehmen, um unsere Sudeten-Heimat zu schützen. Wir Antifaschisten und Demokraten stehen an der Seite unserer Regierung und sind bereit die Republik mit unserem Leben zu verteidigen.“44 Bei den Unruhen und Ausschreitungen Mitte September 1938 wurden dement­ sprechend auch die sudetendeutschen Kommunisten zum Ziel. So wurde eine Versammlung mit dem führenden Kommunisten Karl Kreibich in Bodenbach stundenlang von 2000 SdP-Anhängern belagert, die erst von der Polizei vertrie­ ben werden konnten.45 Von Mitte September stammt auch ein Aufruf des Zentral­ komitees der KSČ, der inhaltlich mit den entsprechenden Aufrufen der deutschen demokratischen Parteien vergleichbar ist: „Wie immer der Krieg ausgeht, er wird die Sudeten als Kriegsschauplatz ver­ wüsten, zerstören, vernichten. Es geht um die Heimat, um das Leben unserer Frauen und Kinder. Jeder einzelne von euch trägt eine ungeheure Verantwortung. Ihr sollt den Vorwand dafür abgeben, dass das deutsche Volk in einen aussichtslo­ 40 Eine

Kundgebung fortschrittlicher Studenten. In: Bohemia Nr. 55 vom 6. März 1938. Querschüsse abgewehrt. In: Bohemia Nr. 57 vom 9. März 1938. 42 Staatspolizeibehörde Leitmeritz an Präsidium der Landesbehörde in Prag vom 12. 5. 1938. Zit. nach: Brandes: Krisenjahr 1938, S. 137. 43 Brandes: Krisenjahr 1938, S. 247. Nach Angaben der KSČ etwa der „Tag der Freiheit“ in Aussig am 7. August mit 12 000 Teilnehmern. 44 Resolution der KSČ Bezirk Karlsbad an die Regierung der ČSR. Karlsbad 3. 9. 1938. In: Protifa­ šistický a národně osvobozenecký boj českého a slovenského lidu 1938–1945, Edice dokumen­ tů, [Der antifaschistische und nationale Befreiungskampf des tschechischen und böhmischen Volkes 1938–1945, Dokumentenedition] (1. díl, 2. svazek, 1. sešit), Praha 1980, S. 15–16. 45 Zwischenfälle in Bodenbach. In: Nordböhmischer Volksbote Nr. 213 vom 10. September 1938. 41 Kommunistische

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sen Krieg gegen die ganze Welt gejagt wird. Es geht dabei nicht um eure Rechte. Die könnt ihr durch friedliche Verhandlungen mit dem tschechischen Volk be­ kommen. Ergreift die Hand, die euch der Präsident der Republik im Namen des tschechischen Volkes zur Versöhnung gereicht hat.“46

Die Deutsche Christlichsoziale Volkspartei – zwischen Antifaschismus und Auflösung Die Schwierigkeit, die Gruppe der sudetendeutschen Gegner des Nationalsozialis­ mus und der Sudetendeutschen Partei genau zu umgrenzen, wird bei einer nähe­ ren Betrachtung des politischen Katholizismus deutlich. Die Deutsche Christ­ lichsoziale Volkspartei (DCSVP) als parteipolitische Organisation des politischen Katholizismus trat nach ihrer Regierungsbeteiligung in den 1920er Jahren unter dem Einfluss des aktivistischen Flügels am 2. Juli 1936 wieder in die Regierung ein. In dieser wurde Erwin Zajiček Minister ohne Geschäftsbereich.47 Ein wichti­ ger Grund für diese staatsbejahende Haltung war das Vorgehen des Nationalsozi­ alismus gegen den Katholizismus in Deutschland. Die offizielle aktivistische Haltung der DCSVP zu Beginn des Jahres 1938 darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es auch im politischen Katholizismus Auflösungserscheinungen und Abwanderungsbewegungen gab. So wurden Ver­ sammlungen der DCSVP nur noch mäßig besucht.48 Zunehmend standen die weiterhin aktivistischen Teile der Partei unter dem starken Druck der Einschüch­ terungsmaßnahmen der SdP. Auch christlichsoziale Veranstaltungen wurden zum Ziel gewaltsamer Übergriffe.49 Von einschneidender Bedeutung für die weitere Entwicklung des sudetendeut­ schen politischen Katholizismus war der Anschluss Österreichs im März 1938. Am 16. März trat die DCSVP aus den aktivistischen Zentralstellen aus und nahm Verhandlungen mit der SdP auf.50 Eine Woche später stellte die Partei dann offi­ ziell ihre Tätigkeit ein und der nationale Parteiflügel unter Karl Hilgenreiner suchte Anschluss an die SdP.51 Für eine Betrachtung hinsichtlich der Gegner von 46 Aufruf

des ZK’s der KSČ an die Sudetendeutschen zu Henleins Versuch eines Putsches. 15. 9. 1938. In: Protifašistický a národně osvobozenecký boj českého a slovenského lidu 1938– 1945. Edice dokumentů (1. díl, 2. svazek, 1. sešit), Praha 1980, S. 67–68. 47 Kracik: Die Politik des deutschen Aktivismus, S. 333. — Vgl. zuletzt: Šebek, Jaroslav: Der deut­ sche politische Katholizismus. In: Schulze Wessel, Martin/Zückert, Martin (Hg.): Handbuch der Religions- und Kirchengeschichte der böhmischen Länder und Tschechiens im 20. Jahr­ hundert. München 2009, S. 115–134. 48 Kracik: Die Politik des deutschen Aktivismus, S. 353. 49 Landesbehörde Brünn an Innenminister vom 17. 3. 1938. Zit. nach: Brandes: Krisenjahr 1938, S. 59. 50 Kracik: Die Politik des deutschen Aktivismus, S. 393. 51 Šebek, Jaroslav: Politické strany německé menšiny [Die politischen Parteien der deutschen Minderheit], in: Malíř, Jiří (Hg.): Politické strany: vývoj politických stran a hnutí v českých zemích a Československu v letech 1861–2004 (I. Dil: období 1861–1938) [Die politischen Par­ teien, Entwicklung der politischen Parteien und Bewegungen in den böhmischen Ländern

260   Thomas Oellermann Hitler und Henlein sind aber jene Parteikreise von Interesse, die ihrer Parteifüh­ rung das Recht einer Überführung in die SdP absprachen und zudem im Sommer mit dem Gedanken einer Neugründung spielten. Gerade in Südmähren schienen zahlreiche Ortsgruppen der DCSVP auch vor dem Hintergrund des Schicksals des österreichischen Katholizismus nach dem März 1938 den neuen Kurs der Par­ teiführung abzulehnen.52 Diese Gleichschaltung erfasste auch weitere Organisationen des katholischen Spektrums, wobei hingegen der Reichsbund der deutschen katholischen Jugend und der katholische Frauenbund im Frühjahr 1938 noch ihre organisatorische Selbstständigkeit betonten, wenngleich zahlreiche ihrer Mitglieder sich sicherlich bereits der SdP angeschlossen hatten.53 Im weiteren Verlauf des Jahres 1938 hielt sich immer wieder das Gerücht, dass Kreise im katholischen Milieu die Wiedererstehung einer selbstständigen Partei betrieben. Entsprechende Mutmaßungen wurden bereits im Zusammenhang mit der Kommunalwahl angestellt.54 Noch im September 1938 wurde über eine sol­ che Neugründung spekuliert.55 Zur führenden Persönlichkeit des nicht-gleichge­ schalteten politischen Katholizismus entwickelte sich hierbei der ehemalige Gene­ raldirektor des Volksbundes deutscher Katholiken Emanuel Reichenberger. Die Abwahl Reichenbergers auf einer Delegiertentagung Ende August 1938 sorgte in einigen Ortsgruppen des Volksbundes für starke Unmutsäußerungen.56 Noch Mitte September rief Reichenberger in einer Rundfunkrede zur Verstän­ digung zwischen den Völkern auf und warnte eindringlich vor den Konsequen­ zen der sich abzeichnenden Entwicklung.57

Der Bund der Landwirte – im Sog der Sudeten­ deutschen Partei Eine ähnliche Entwicklung wie in der DCSVP vollzog sich auch im Bund der Landwirte (BdL). Bereits vor dem Jahr 1938 war es im BdL zu Auseinanderset­ zungen hinsichtlich des Nationalsozialismus und der SdP gekommen. Die Zwie­ spältigkeit im BdL verdeutlicht die Haltung des Führers der deutschen Landju­ und der Tschechoslowakei in den Jahren 1861–2004 (1.Teil: Zeitraum 1861–1938)]. Brno 2005, S. 861–891, S. 881. 52 Südmährische Christlichsoziale gegen die Gleichschaltung. In: Nordböhmischer Volksbote Nr. 89 vom 15. April 1938. 53 Katholische Jugend parteipolitisch unentschieden. In: Bohemia Nr. 69 vom 23. März 1938. Katholischer Frauenbund bleibt bestehen. In: Bohemia Nr. 90 vom 16. April 1938. 54 Gerüchte um christlichsoziale Dissidenten. In: Bohemia Nr. 98 vom 27. April 1938. 55 Katholiken gegen die Gleichschalter. In: Nordböhmischer Volksbote Nr. 220 vom 18. Septem­ ber 1938. 56 Ein Aufruf Generaldirektor Reichenbergers. In: Nordböhmischer Volksbote Nr. 206 vom 2. September 1938. 57 Wir wollen Frieden, Frieden, Frieden. In: Nordböhmischer Volksbote Nr. 219 vom 17. Sep­ tember 1938.

Die sudetendeutschen Gegner des Nationalsozialismus   261

gend Gustav Hacker, der 1936 auch den Vorsitz des BdL übernommen hatte. Er beteiligte sich zwar am von Wenzel Jaksch initiierten so genannten Jungaktivis­ mus, äußerte sich aber zugleich anerkennend über den Nationalsozialismus in Deutschland. Nach dem Anschluss Österreichs war er es, der den BdL in die SdP überführte.58 Nicht alle BdL-Mitglieder waren allerdings mit diesem Schritt ein­ verstanden. Die Ortsgruppe in Woken sprach von einem „Verrat Hackers“, ver­ nichtete ihre schriftlichen Unterlagen und spendete ihr Vermögen dem örtlichen Kriegerdenkmal.59 Der sozialdemokratische „Nordböhmische Volksbote“ bewer­ tete die Situation in DCSVP und BdL von daher wie folgt: „Zweifellos gibt es bei den beiden gleichgeschalteten Parteien sehr viele, die diesen Schritt nicht mitma­ chen werden. Sie können sicher sein, dass schon die nächste Zukunft die Richtig­ keit ihres standhaften Verhaltens bestätigen wird.“60 Anfang Mai kam es in Prag unter der Leitung des ehemaligen Vorsitzenden Franz Spina zu einem Treffen verschiedener BdL-Funktionäre, auf dem mit Ver­ weis auf die unberührte Organisationsstruktur in Nord- und Südmähren auf ei­ nen selbstständigen Fortbestand des BdL verwiesen wurde.61 Mit Billigung Spinas gingen einige Gruppen aus diesen Landesteilen dann auch zum in der Zwischen­ zeit gegründeten demokratischen „Deutschen Wirtschaftsverband der Tschecho­ slowakischen Republik“ (DWV) über.62

Die Deutsche Demokratische Freiheitspartei – Partei des sudetendeutschen Liberalismus Als weitere Partei, die den Gegnern von Henlein und Hitler zuzurechnen ist, muss die liberale Deutsche Demokratische Freiheitspartei (DDFP) genannt werden. Diese hatte sich nach einigen Jahren in einem Bündnis namens Deutsche Arbeitsund Wirtschaftsgemeinschaft (DAWG) 1933 wieder als eigenständige Partei kons­ tituiert.63 Die DDFP verfügte allerdings über keine breite Mitgliederbasis und war vielmehr eine Honoratiorenpartei, die bereits 1937 in der Bedeutungslosigkeit zu versinken drohte.64 Eine Tätigkeit entwickelten im Jahr 1938 nur noch einige ­wenige Ortsgruppen. So veranstaltete der Kreisverband Prag zusammen mit der Jugendorganisation Jungdemokraten verschiedene Vortragsveranstaltungen im Prager Deutschen Haus.65 Der Anschluss Österreichs und die Auflösung von BdL 58 Šebek:

Politické strany německé menšiny, S. 885. Dauba an Bezirksamt Dauba vom 31. 3. 1938. Zit. nach: Brandes: Krisenjahr 1938, S. 65. 60 Die Gleichschaltung gelingt nicht überall. In: Nordböhmischer Volksbote Nr. 94 vom 23. April 1938. 61 Der BdL lebt weiter. In: Nordböhmischer Volksbote Nr. 107 vom 7. Mai 1938. 62 Brandes. Krisenjahr 1938, S. 66. 63 Šebek: Politické strany německé menšiny, S. 889. 64 Kracik: Die Politik des deutschen Aktivismus, S. 348. 65 Debattenabend der Deutschdemokratischen Freiheitspartei. In: Bohemia Nr. 15 vom 19. Janu­ ar 1938. Die Deutschdemokratische Freiheitspartei. In: Bohemia Nr. 18 vom 22. Januar 1938. 59 Bezirksgendarmerie-Kommando

262   Thomas Oellermann und DCSVP wirkten sich auch auf die DDFP aus. Ende März beschloss die Hauptleitung der Partei, die politische Tätigkeit ruhen zu lassen und überließ es ihren Gliederungen, diesem Beispiel zu folgen oder weiterhin eigenverantwortlich tätig zu sein. Während sich der Kreisverband Prag als die Hochburg der Partei entschied, die politische Tätigkeit fortzuführen, löste sich etwa die Ortsgruppe in Weipert (Vejprty) im neunzehnten Jahr ihres Bestehens mit sofortiger Wirkung auf.66 Die DDFP in Prag führte auch in den folgenden Monaten Versammlungen durch und wandte sich noch Mitte September mit einem Aufruf an die deutschen Bürger der Tschechoslowakei: „Deutsche Bürger dieses Staates, duldet nicht, dass es so weit komme. Wendet Euch von einer Bewegung ab, die Euer großes Vertrauen schmählich mißbraucht hat! Tretet ein in die Reihen derer, die Euch den Frieden bewahren wollen und Euch die vollen Rechte, welche den deutschen Bürgern in dieser Republik gebüh­ ren, ohne die Mittel der Gewalt auf friedlichem Wege der Völkerversöhnung und Völkerverständigung Seite an Seite mit allen demokratisch gesinnten Parteien und Bürgern dieses Staates erringen wollen.“67

Der Klub „die Tat“ – Sammelbecken der aktivistischen Parteien Aus Reihen der aktivistischen Parteien hatte sich am 7. Oktober 1937 auch der überparteiliche Klub „die Tat“ gegründet. Die Initiative hierzu ging von einem Per­ sonenkreis um die gleichnamige von Norbert Walter herausgegebene Zeitung aus.68 Der Klub diente dem Austausch zwischen deutschen Aktivisten unterschied­ licher Parteizugehörigkeit und veranstaltete zu diesem Zwecke Diskussionsabende zu verschiedenen Themen. Da der 1938 94 Mitglieder zählende Klub keine breite Mitgliederbasis erreichen konnte, konzentrierte er sich auf eher symbolische Handlungen.69 In einem Memorandum an Franz Spina vom Mai 1938 forderte „die Tat“ einen Schutz der Demokraten vor dem Terror der SdP sowie ein „Minis­ terium für die Angelegenheiten der Nationalitäten“.70 Ein weiteres ­Memorandum wurde später dem britischen Sondergesandten für die sudetendeutsche Frage, Lord Runciman, übergeben.71 Noch Ende September erklärte sich der Dachverband der Deutschen Demokratischen Jugend, dem neben der Prager SJ, dem Deutschen Ju­ gendbund, den Deutschen Jungdemokraten, der Unabhängigen deutschen katholi­ 66 DDFP-Ortsgruppe

Prag betrachtet sich nicht als ruhend. In: Bohemia Nr. 81 vom 6. April 1938. Die Ortsgruppe Weipert. In: Bohemia Nr. 72 vom 26. März 1938. 67 Aufruf der Deutschdemokraten. In: Nordböhmischer Volksbote Nr. 217 vom 15. September 1938. 68 Mladí Němci pro demokratismus a aktivní politiku [Junge Deutsche für Demokratismus und eine aktive Politik]. 13. 12. 1937. NA, PMV 225-1271-8-13. 69 Valná hromada klubu „die Tat“ [Jahresversammlung des Klubs „die Tat“]. 14. 12. 1938. NA, PMV 225-1271-8-7. 70 „Mémoire R.“ vom 11. 5. 1938. Zit. nach: Brandes, Krisenjahr 1938, S. 230 f. 71 Kracik: Die Politik des deutschen Aktivismus, S. 424.

Die sudetendeutschen Gegner des Nationalsozialismus   263

schen Jugend, dem kommunistischen Arbeiter Sport- und Kulturverband, der Ju­ gend des Einheitsverbandes der Privatangestellten, der ­Freien Vereinigung Sozialis­ tischer Akademiker und dem kommunistischen Freiheitsbund deutscher Hochschüler auch die Arbeitsgemeinschaft der deutschen demokratischen Jugend „die Tat“ angehörte, zum Schutz der Republik für kampfbereit.72 Der Klub „die Tat“ setzte seine Tätigkeit auch nach dem Oktober 1938 fort, wenngleich sich der Schwerpunkt verschob. So beschäftigte sich eine eigens einge­ richtete „Sektion für planmäßige Auswanderung und Kolonisation“ mit der Emi­ gration aus der Tschechoslowakei.73

September 1938 – Unruhen und Flucht Die von der SdP angestachelten Unruhen und Ausschreitungen von Mitte Sep­ tember 1938 brachten die sudetendeutschen Gegner des Nationalsozialismus in große Bedrängnis. In jenen Gebieten, in denen die staatliche Ordnung nicht mehr aufrechterhalten werden konnte, blieb vielen Sozialdemokraten, Kommunisten mitsamt ihren Familien nur die Flucht ins Landesinnere. Bereits für den 16. Sep­ tember wurde in der sozialdemokratischen Presse von Flüchtlingen gesprochen, die in Prag in verschiedenen öffentlichen Einrichtungen untergebracht worden seien und für deren Betreuung das Rote Kreuz und die Republikanische Wehr gesorgt hätten.74 Das Nachtasyl in Prag-Vysočany beherbergte am 18. September bereits 680 Flüchtlinge. Und während hier große Bemühungen für die Flücht­ lingsfürsorge unternommen wurden, veröffentlichten Wenzel Jaksch, der aus dem ehemaligen BdL stammende Toni Köhler, Emanuel Reichenberger, Carl Kostka von der DDFP und Kurt Sitte von „die Tat“ einen Aufruf, mit dem sie vor den sich abzeichnenden Gefahren warnten: „Vereinigen wir unseren guten Willen und unsere Kräfte in dem Streben, den Krieg von unseren Heimatgauen fernzuhalten und unserem schwergeprüften Volke eine bessere Zukunft zu bereiten!“75 Die große Anzahl von Flüchtlingen in Prag erforderte den Weitertransport in andere Orte des inneren Böhmens. Einige hundert Flüchtlinge kehrten nach einer Beruhigung der Lage wieder in die Grenzgebiete zurück.76 Die Situation hatte sich aber für die sudetendeutschen Demokraten einschneidend verändert. Unter dem Eindruck außen- und innenpolitischer Ereignisse war ihre Bewegungsfrei­ heit deutlich eingeschränkt, so dass vielmals ein Rückzug angetreten werden 72 Deutsche

demokratische Jugend kampfbereit. In: Sozialdemokrat Nr. 228 vom 28. September 1938. 73 Valná hromada klubu „die Tat“ [Jahresversammlung des Klubs „die Tat“]. 14. 12. 1938. NA, PMV 225-1271-8-7. 74 Sudetendeutsche Flüchtlinge in Prag. In: Nordböhmischer Volksbote Nr. 218 vom 16. Septem­ ber 1938. 75 Rettet den Frieden! Ein Aufruf der demokratischen Gruppen. In: Nordböhmischer Volksbote Nr. 220 vom 18. September 1938. 76 Deutsche Flüchtlinge verlassen Prag. In: Nordböhmischer Volksbote Nr. 222 vom 21. Septem­ ber 1938.

264   Thomas Oellermann musste. Mit dem 23. September stellte die DSAP ihre lokalen Zeitungen ein und gab nur noch das Hauptblatt „Sozialdemokrat“ heraus.77 Eine RW-Abteilung brachte die Fahne der Partei aus Karlsbad (Karlovy Vary) nach Prag in Sicher­ heit.78 In diesen turbulenten Tagen zahlte sich der weiterhin funktionierende Funktionärsapparat von DSAP und den weiteren sozialdemokratischen Organisa­ tionen aus. Von dieser breiten Arbeiterbewegung musste dann ab dem 1. Oktober 1938 mit der Besetzung der Sudetengebiete symbolisch Abschied genommen wer­ den: „Es ist ein schwerer Abschied, den wir heute nehmen müssen von der sude­ tendeutschen Arbeiterbewegung, von ihren mühevoll aufgebauten Institutionen, von ihren herrlichen Menschen!“79 Für viele sudetendeutsche Antifaschisten war bereits die Vereinbarung, eine Konferenz in München zur Klärung der sudetendeutschen Frage abzuhalten, eine nur schwer zu begreifende Tatsache. Zu sehr sah man die Tschechoslowakei durch Verträge geschützt, als dass ihr territorialer Bestand in Zweifel gezogen hätte wer­ den können. Als das als Münchener Abkommen bezeichnete Ergebnis der Ver­ handlungen publik wurde, war die Enttäuschung unter den sudetendeutschen Antifaschisten umso größer. In seinen Erinnerungen beschrieb der Karlsbader DSAP-Abgeordnete Eugen de Witte diese Stimmung: „Und als dann der Abend dieses Donnerstags die Nachricht brachte, dass Hitler, Mussolini, Chamberlain und Daladier dahin übereingekommen seien, das Spiel mit dem Sudetenland zu beendigen und das Land an Hitlers Partei auszuliefern, ging für den ersten Au­ genblick alles, was in den Menschen da an Erwartung, Sorge, Kriegsfurcht, Ärger, und Hass aufgespeichert gewesen war, in einer Art Betäubung unter.“80 Ida Wöhl, 1938 junges Mitglied der KSČ, erinnert sich gleichermaßen an die Reaktion auf das Münchener Abkommen: „Wir haben 1938 nicht gedacht, dass es soweit kommt“.81

Nach dem Münchener Abkommen – Flucht und ­Vorbereitung zur Emigration Mit dem Ende der sudetendeutschen Arbeiterbewegung wurde das Eigentum der verschiedenen Organisationen konfisziert. Die 28 Häuser der Naturfreunde etwa wurden beschlagnahmt und dem Deutschen Jugendherbergsverband übertra­ gen.82 Ebenso wurden die Turnhallen und Sportstätten des zuletzt über 58 000 77 An

die Leser und Abnehmer unseres Blattes. In: Nordböhmischer Volksbote Nr. 224 vom 23. September 1938. 78 Die Fahne der Partei. In: Sozialdemokrat Nr. 226 vom 25. September 1938. 79 Botschaft der Partei. In: Sozialdemokrat Nr. 231 vom 1. Oktober 1938. 80 De Witte, Eugen: für Heimat und Freiheit, Stuttgart 1982, S. 36. 81 Wagnerová, Alena: Helden der Hoffnung, die anderen Deutschen aus den Sudeten 1935–1989. Berlin 2008, S. 19. 82 Storch, Alois: Die Naturfreundebewegung in der Tschechoslowakei bis 1938, in: Sudeten-Jahr­ buch, Bd. 1965, S. 87–93.

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Mitglieder zählenden ATUS konfisziert. In der Folgezeit wurde die Flüchtlingsfür­ sorge zu einem zentralen Betätigungsfeld der verschiedenen in Prag bereits ansäs­ sigen oder notdürftig nach Prag verlegten Organisationen. Bis zum 27. September waren immerhin knapp 25 000 Personen aus den grenznahen Gebieten geflüch­ tet.83 Allein für die sozialdemokratischen Flüchtlinge wurde später von einer Zahl von 30 000 Personen ausgegangen.84 Bei diesen Ziffern muss allerdings berück­ sichtigt werden, dass gerade im Oktober – britische Schätzungen gingen von 20 000 bis 25 000 Personen aus – viele Flüchtlinge wieder in das von der Wehr­ macht besetzte Gebiet zurückgeschickt wurden.85 Mittels ihrer Kontakte zur briti­ schen Labour Party versuchte die DSAP, internationalen Druck auf die Regierung in Prag auszuüben, um weitere dieser Ausweisungen zu verhindern.86 Zahlreiche Hilfsmaßnahmen politischer und finanzieller Art aus Großbritannien und ebenso aus Schweden machen deutlich, dass die politischen Flüchtlinge aus den Grenzge­ bieten eindeutig im Fokus internationaler Bemühungen standen, was sich oftmals zu Ungunsten anderer Flüchtlingsgruppen auswirkte.87 Diese Bevorzugung schien dadurch gerechtfertigt, dass es im Anschluss an die militärische Besetzung zu zahlreichen Verhaftungen gekommen war. Für die ­So­zialdemokraten wird in diesem Zusammenhang eine Zahl von 5000 bis 7900 ­Inhaftierten genannt.88 In einigen Fällen versuchten sich sozialdemokratische Funktionäre diesem Schicksal durch öffentliche Loyalitätsbekundungen gegen­ über dem neuen Regime zu entziehen.89 Wolfgang Sabbath, ein sozialistischer Arzt aus Saaz (Žatec), sah hingegen anscheinend vor den drohenden Repressalien keinen anderen Ausweg als seinem und dem Leben seiner Familie durch Giftin­ jektion ein Ende zu setzen.90 Für die Flüchtlinge konnten Prag und die anderen Aufnahmestädte in Inner­ böhmen nur eine Zwischenstation auf dem weiteren Weg ins Ausland sein, wenn­ gleich die DSAP noch Anfang Oktober ihren Fortbestand deklarierte: „Aber sie lebt weiter als Partei der Arbeiter und Angestellten innerhalb der deutschen Min­ derheit, die auch weiterhin unserer Republik angehören wird. Sie lebt weiter als Partei der sozialistisch und demokratisch denkenden und fühlenden Menschen dieser Minderheit.“91

83 Heumos,

Peter: Die Emigration aus der Tschechoslowakei nach Westeuropa und dem Nahen Osten 1938–1945. München 1989, S. 15. 84 Hasenöhrl: Kampf, Widerstand, Verfolgung, S. 30. 85 Heumos: Die Emigration aus der Tschechoslowakei, S. 24. 86 Hilfe für die Flüchtlinge. Eine Spende der britischen Arbeiterpartei. In: Sozialdemokrat Nr. 234 vom 5. Oktober 1938. 87 Heumos: Die Emigration aus der Tschechoslowakei, S. 23. 88 Brügel geht von bis zu 5000 sudetendeutschen Sozialdemokraten aus, die in KZ-Haft kamen. Brügel, Wolfgang: Tschechen und Deutsche 1939–1946. München 1974, S. 122. Kürbisch nennt eine Zahl von 7900. Kürbisch: Chronik, S. 80. 89 Die Abschwörer. In: Sozialdemokrat Nr. 228 vom 9. Oktober 1938. 90 Mit der Familie in den Tod. In: Sozialdemokrat Nr. 232 vom 2. Oktober 1938. 91 Die Partei lebt weiter. In: Sozialdemokrat Nr. 232 vom 2. Oktober 1938.

266   Thomas Oellermann Relativ schnell schien aber klar zu werden, dass es für die sudetendeutschen Demokraten keine Zukunft mehr im tschechoslowakischen Reststaat geben wür­ de. Zum einen ließ sich dies an der zunehmenden autoritären Ausprägung dieser Zweiten Republik festmachen, in deren Folge zum Beispiel die tschechische Sozi­ aldemokratie dem Internationalismus abschwor und in der Nationalen Partei der Arbeit (Národní strana práce) aufging. Des Weiteren kam es auch unter den 240 000 Deutschen des Staates zu einer weiteren Gleichschaltung im nationalsozi­ alistischen Sinne, die den Demokraten zunehmend die Grundlage ihrer Arbeit nahm.92

Die drei Wellen der Emigration Dementsprechend wurde die Emigration möglichst großer Gruppen betrieben und zu einem Hauptzweck der verbliebenen demokratischen Organisationen. Die Ausreise in bereitwillige Aufnahmeländer und in Länder, die als Zwischenstation für weitere Zielländer dienten, lässt sich in drei Wellen unterteilen und am Bei­ spiel der Sozialdemokraten verdeutlichen. Eine erste Welle verließ bereits im Ok­ tober und November das Land. Hierzu gehörten etwa der Ascher Sozialdemokrat Andreas Amstätter, der Gewerkschaftssekretär Andreas Denk aus BöhmischKrummau (Český Krumlov), das Falkenauer Mitglied des Parteivorstands Franz Katz, der ehemalige Bürgermeister von Bodenbach Fritz Kessler, der langjährige Bundesobmann des ATUS Heinrich Müller aus Aussig, der Egerer Parteisekretär Wilhelm Novy und das Mitglied des Parteivorstands Richard Reitzner aus Boden­ bach.93 Neben diesen Sozialdemokraten sind für diese erste Welle ebenso Emanu­ el Reichenberger und der Kommunist Bruno Köhler, der sich mit einem Auftrag der KSČ ins Ausland begab, zu nennen.94 Während im Rahmen dieser ersten Welle besonders gefährdete Personen ins Ausland in Sicherheit gebracht wurden, vollzog sich von November 1938 bis Feb­ ruar 1939 die zweite Welle schon vor dem Hintergrund entsprechender Abkom­ men zur Aufnahme sudetendeutscher Flüchtlinge. Zu den führenden Sozialdemo­ kraten dieser Welle zählten der langjährige Vorsitzende der SJ Karl Richard Kern, der Freudenthaler Parteifunktionär Franz Fischer, die Aussiger Abgeordnete Irene Kirpal, der Sekretär der Metallarbeitergewerkschaft Josef Ladig aus Komotau (Chomutov), die Funktionärin der sozialdemokratischen Frauenorganisation Else Paul, der Sekretär der Textilarbeitergewerkschaft Ernst Otto Rambauske aus Brau­ nau (Broumov), der Mitgründer der Republikanischen Wehr und Arbeitersport­ 92 Gebhart, Jan/Kuklík, Jan:

Druhá republika 1938–1939. Svár demokracie a totality v politickém, společenském a kulturním životě [Die Zweite Republik 1938–1939. Streit von Demokratie und Totalität im politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Leben]. Praha 2004, S. 143. 93 Röder, Werner (Hg.): Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933, Politik, Wirtschaft, öffentliches Leben, München 1999, S. 14, S. 125, S. 352, S. 362, S. 512, S. 535, S. 587. 94 Ebenda, S. 591, S. 378.

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funktionär Alois Ullmann aus Teplitz, der Theoretiker der Arbeiterbildung Dr. Robert Wiener aus Prag, der Karlsbader Abgeordnete Eugen de Witte und der Obmann der Bergarbeitergewerkschaft Josef Zinner aus Falkenau (Sokolov).95 Zur Vorbereitung der Emigration sudetendeutscher Kommunisten wurde im De­ zember der ehemalige Abgeordnete Gustav Beuer nach London delegiert. Weitere Kommunisten dieser zweiten Welle waren der Bodenbacher Parteisekretär Karl Kneschke, der Redakteur Robert Korb, der Rechtsanwalt Dr. Hans Rothschild, der Redakteur Dr. Viktor Stern sowie mit Karl Kreibich der führende sudetendeutsche Kommunist der Zweiten Tschechoslowakischen Republik.96 In diesem Zusam­ menhang sind auch für die DDFP der Funktionär der „Tat“ Dr. Alfred Peres und der Vorsitzende der Jungdemokraten Dr. Rudolf Popper zu nennen.97 Letztendlich konnten weitere sudetendeutsche Demokraten und Kommunisten unmittelbar vor und nach dem deutschen Einmarsch in den tschechoslowakischen Reststaat am 15. März 1939 ins Ausland fliehen. Zu den Sozialdemokraten dieser dritten Emigrationswelle zählten der ehemalige Senator Dr. Karl Heller, der Bo­ denbacher Gewerkschafts- und Parteifunktionär Franz Kögler, der Prager SJ- und „Tat“-Funktionär Friedrich Turnovsky sowie mit Willibald Werner einer der füh­ renden Karlsbader Sozialdemokraten. Vorübergehend in den Schutz der britischen Botschaft begaben sich das Trautenauer Mitglied des Parteivorstands Franz Krejci, der in Emigrationsfragen oftmals in Parteiauftrag ins Ausland delegierte Franz Rehwald, der Abgeordnete und informelle Generalsekretär der DSAP Siegfried Taub als auch Wenzel Jaksch, dem Tage später eine abenteuerliche Flucht nach Po­ len gelang.98 Krejci, Rehwald und Taub wurde nach britischer Intervention freies Geleit ins Ausland zugesichert. Zu den Kommunisten dieser dritten Welle zählten Rudolf und Käthe Beckmann, die im Parteiauftrag nach Großbritannien geschickt wurde, der Redakteur der Aussiger „Internationalen“ Leopold Grünwald, der sich zeitweilig als Schlepper für kommunistische Flüchtlinge an der polnischen Grenze betätigte, der ehemalige Abgeordnete Alois Neurath aus Reichenberg sowie der seit 1938 in Prag für die inzwischen illegale KSČ tätige Paul Reimann.99

Zielländer der Emigration In den meisten Fällen war Großbritannien das erste Zielland der sudetendeut­ schen Emigranten. Da die sudetendeutschen Sozialdemokraten unter Jaksch aber die Unterbringung möglichst vieler ihrer Anhänger beabsichtigten, musste ein Land in Übersee gefunden werden, das bereit war, eine Personengruppe in dieser Größe aufzunehmen. Kanada schien hierbei aufgrund der engen Bindungen an 95 Ebenda,

S. 361, S. 176, S. 364, S. 408, S. 551, S. 583, S. 774, S. 818, S. 828, S. 849. S. 60, S. 373, S. 385, S. 621, S. 733, S. 393. 97 Ebenda, S. 552, S. 572. 98 Ebenda, S. 282, S. 377, S. 770, S. 814, S. 395, S. 589, S. 756, zu Jaksch: Grünwald: In der Fremde für die Heimat, S. 12. 99 Röder: Biographisches Handbuch, S. 45, S. 44, S. 249, S. 531, S. 593. 96 Ebenda,

268   Thomas Oellermann Großbritannien die besten Voraussetzungen zu bieten. Am 21. September 1938 bat Jaksch in der britischen Gesandtschaft um die Aufnahme von 400 000 seiner Gefolgsleute.100 In der Folge verhandelten Franz Rehwald und Emanuel Reichen­ berger in Ottawa über die Aufnahme von Flüchtlingen. Zugleich erreichte Willi Wanka in London die Unterstützung der britischen Regierung und der Labour Party für eine Ansiedlung in Kanada. Zur Finanzierung der Aktion wurden 4 Mil­ lionen Pfund einer Anleihe Großbritanniens an den tschechoslowakischen Rest­ staat abgezweigt.101 Erst nach längeren Verhandlungen rückte die kanadische Re­ gierung von ihrer Bedingung ab, nur Personen mit landwirtschaftlicher Ausbil­ dung aufzunehmen.102 Die Zahl der Einwanderer sollte 1200 Familien umfassen. Verzögerungen bei den Ausreiseformalitäten führten dazu, dass letztendlich nur 302 Familien vor dem deutschen Einmarsch im März 1939 in Richtung Kanada aufbrechen konnten. Ein letztes Schiff mit sudetendeutschen Flüchtlingen verließ England am 28. Juli 1939.103 Auf die sudetendeutschen Sozialdemokraten warteten in den kanadischen Siedlungsgebieten anfänglich sehr harte Lebensbedingungen. Es fehlte an Wohn­ häusern und Versorgungsinfrastruktur.104 Nach diesem schweren Beginn sollten sich die Siedlungen in den Folgejahren aber durchaus positiv entwickeln. Für eine massenweise Auswanderung war zwischenzeitlich auch Neuseeland im Gespräch. Die erfolgreichen Verhandlungen mit Kanada führten aber dazu, dass letztendlich nur einige wenige sudetendeutsche Sozialdemokraten von Großbri­ tannien aus nach Neuseeland weiterreisten.105 Ähnlich verhielt es sich mit Bolivien. Mit Parteiauftrag war der Prager Sozial­ demokrat Richard Schönfelder nach Bolivien gereist und hatte dort auch ein Auf­ nahmeabkommen erreichen können, das aber aufgrund der Vereinbarungen mit Kanada obsolet wurde.106 Zu den wenigen sudetendeutschen Sozialdemokraten, die eine neue Heimat in Bolivien fanden, gehörte der ehemalige Abgeordnete und Parteisekretär aus Sternberg (Šternberk) Rudolf Zischka.107 Zum Dreh- und Angelpunkt der sudetendeutschen Emigration wurde Groß­ britannien. 2000 Sozialdemokraten und 800 Kommunisten, die bis zum März 1939 hierhin emigrieren konnten, machten London in der Folgezeit auch zum politischen Zentrum des sudetendeutschen Exils.108 Vor der Etablierung politi­ scher Organisationen – die Sozialdemokraten beschlossen am 22. Februar 1939 100 Brandes:

Krisenjahr 1938, S. 291. Gegner und Opfer des Nationalsozialismus als Emigranten aus den böhmischen Ländern nach Amerika, in: Becher, Peter (Hg.): Drehscheibe Prag, zur deutschen Emigration in der Tschechoslowakei 1933–1939. München 1992, S. 151–164, S. 159 f. 102 Ebenda, S. 159. 103 Ebenda, S. 161. 104 Ebenda, S. 162. 105 Grünwald, Leopold: In der Fremde für die Heimat. Sudetendeutsches Exil in Ost und West. München 1982, S. 40. Zu nennen ist hier z. B. Fritz Kessler. 106 Grünwald: In der Fremde für die Heimat, S. 39. 107 Röder: Biographisches Handbuch, S. 850. 108 Ebenda, S. 60. 101 Hahn, Fred:

Die sudetendeutschen Gegner des Nationalsozialismus   269

die Einstellung der DSAP und die Weiterführung der Tätigkeit als „Treuegemein­ schaft sudetendeutscher Sozialdemokraten“ – wurde das Leben der neu eingetrof­ fenen sudetendeutschen Flüchtlinge durch das schwierige Leben in den Aufnah­ melagern geprägt. Eine ähnliche Situation für die Anfangszeit ergab sich auch für die Flüchtlinge in Skandinavien. Im November hatten die ersten 20 Sudetendeutschen via Polen, Li­ tauen und Schweden Norwegen erreicht.109 Zum Zentrum des Exils in Skandinavi­ en wurde in der Folge aber Schweden. Dies resultierte auch aus den guten Bezie­ hungen zur schwedischen Sozialdemokratie. So konnte das dortige Exil auf den Kontakten, die Ernst Paul während seiner Tätigkeit in der Sozialistischen Jugendin­ ternationale geknüpft hatte, aufbauen.110 Während die Position der sudetendeut­ schen Sozialdemokraten gefestigt war, waren die Bedingungen für die 50 bis 60 Kommunisten im Lande, die zumeist illegal eingereist waren, umso unsicherer.111 Einigen wenigen sudetendeutschen Gegnern des Nationalsozialismus jüdischen Bekenntnisses bot sich auch die Möglichkeit einer Auswanderung nach Palästina. Der bekannteste Vertreter dieser Exil-Gruppe war der Aussiger Stadtphysikus und Sozialdemokrat Dr. Theodor Gruschka. Zu nennen wären aber auch der Direktor des Konsumgenossenschaftswarenhauses in Bodenbach Rudolf Korn und der Marienbader Stadtrat Dr. Adolf Stark.112 Verhältnismäßig spät erst begann die kommunistische Emigration in die Sowjetunion. Anscheinend wurden erst nach dem Einmarsch der Wehrmacht im März 1939 größere Gruppen über die sowjetische Botschaft in Warschau in die UdSSR geschleust. 113 Hier fanden sie eine entsprechende Aufnahme und einige konnten sich in der Folgezeit im Rahmen des Sudetendeutschen Freiheitssenders betätigen.114

Grundlagen des späteren Widerstands Die verhältnismäßig starke Emigration und die zahlreichen Verhaftungen mach­ ten Handlungen des Widerstands in den böhmisch-mährischen Grenzgebieten in den ersten Monaten nach dem Oktober 1938 nahezu unmöglich. Wenn man al­ lerdings die Versuche, den Kontakt untereinander aufrechtzuerhalten und Infor­ mationen auszutauschen als Vorstufe für spätere tatsächliche Handlungen wertet, lässt sich für die ersten Monate von Widerstand sprechen. Auch die Verhaftung des aus dem Exil zur Koordination entsprechender Aktionen zurückgekehrten Alois Ullmann konnte den sudetendeutschen Widerstand in den folgenden Jah­

109 Grünwald:

In der Fremde für die Heimat, S. 29. S. 25. 111 Ebenda, S. 25. 112 Ebenda, S. 41. 113 Ebenda, S. 12. 114 Ebenda, S. 46. 110 Ebenda,

270   Thomas Oellermann ren nicht aufhalten.115 Die jeweiligen Gruppen konnten hierbei auf den Erfah­ rungen der illegalen Grenzarbeit seit 1933 aufbauen.116

Zusammenfassung und Ausblick Innerhalb eines Jahres – vom März 1938 bis März 1939 – hatte sich die Situation der sudetendeutschen Gegner von Henlein und Hitler entscheidend verändert. Von den ehemals dezidiert staatsbejahenden deutschen Parteien war nur die DSAP übrig geblieben. Das Bekenntnis zur tschechoslowakischen Demokratie der deutschen Kommunisten schien hingegen mehr durch einen strikten Antifaschis­ mus als durch eine ausdrückliche Loyalität zur Republik begründet worden zu sein. Nach dem Aufgehen von BdL und DCSVP in der SdP standen aus dem üb­ rigen deutschen politischen Spektrum nur noch kleinere Gruppen in der Tradi­ tion des Aktivismus und bekannten sich zum Bestand der Tschechoslowakei. Mit der Besetzung der Grenzgebiete in Folge des Münchener Abkommens und spätestens mit dem Einmarsch der Wehrmacht in den tschechoslowakischen Rest­ staat nahm der Weg der sudetendeutschen Demokraten drei unterschiedliche Ver­ läufe. Einige tausend wurden verhaftet, umgebracht oder blieben teilweise bis 1945 in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern.117 Andere nahmen nach einer Phase der Konsolidierung den Widerstand gegen die Nationalsozialis­ ten auf.118 Diejenigen, denen die Flucht ins Ausland gelungen war, konstituierten sich wiederum in der sozialdemokratischen Treuegemeinschaft, in der kommu­ nistischen Beuer-Gruppe oder auch in der liberalen Perez-Gruppe und bemühten sich, Einfluss auf die sich abzeichnende Nachkriegsordnung mit ihren folgen­ schweren Konsequenzen für die Sudetendeutschen zu nehmen.119 Dieses konflikt­ reiche Bemühen sollte bis 1945 und darüber hinaus zu einer weiteren Fraktionie­ rung des sudetendeutschen demokratischen Spektrums führen. 115 Röder: Biographisches Handbuch, S. 774. 116 Hasenöhrl: Kampf, Widerstand, Verfolgung,

S. 79. Hier ein Bericht aus Nordböhmen über die illegale Grenzarbeit nach 1933. 117 Siehe hierzu etwa das Kapitel „die Kehrseite des Jubels: Verfolgung und Terror“ in: Gebel, Ralf: „Heim ins Reich!“. Konrad Henlein und der Reichsgau Sudetenland (1938–1945), Mün­ chen 2000. Grulich, Rudolf: Sudetendeutsche Katholiken als Opfer des Nationalsozialismus. Brannenburg 1999. 118 Zum Widerstand siehe u. a. Grünwald, Leopold: Sudetendeutscher Widerstand gegen Hitler. München 1978. Dau, Rudolf: der Anteil der deutschen Antifaschisten am nationalen Befrei­ ungskampf des tschechischen und slowakischen Volkes, Potsdam 1966. Knorr, Lorenz: Ge­ gen Hitler und Henlein antifaschistischer Widerstand unter den Sudeten und in der Wehr­ macht, Köln 2008. 119 Zum Exil siehe u. a.: Müssener, Helmut: Exil in Schweden, politische und kulturelle Emigra­ tion nach 1933. München 1974. Seliger-Archiv: Menschen im Exil, eine Dokumentation der sudetendeutschen sozialdemokratischen Emigration von 1938 bis 1945. Stuttgart 1974. Brandes, Detlef: Großbritannien und seine osteuropäischen Alliierten: 1939–1943, die Regie­ rungen Polens, der Tschechoslowakei und Jugoslawiens im Londoner Exil vom Kriegsaus­ bruch bis zur Konferenz Teheran. München 1988. Amstätter, Andreas: Tomslake, die Ge­ schichte der sudetendeutschen Sozialdemokraten in Kanada, Euskirchen 1995.

Volker Zimmermann

Die „neue Welt“ nach „München“ Erste ­Erfahrungen der Sudetendeutschen mit der „NS-Volksgemeinschaft“ „Wir lebten alle in einer neuen Welt“, erklären zwei sudetendeutsche Zeitzeugen in einem Rückblick auf die Jahre nach dem „Münchener Abkommen“.1 In ihrer Schilderung wirkt noch die Begeisterung nach, die sie über die neuen Verhältnisse in den im Oktober 1938 von der Tschechoslowakei an das Deutsche Reich abgetretenen Grenzgebieten empfanden. Angesichts des in zahlreichen Fotografien und Filmaufnahmen sowie Berichten festgehaltenen Jubels über die Ankunft deutscher Truppen im Oktober 1938 kann diese Aussage nicht überraschen: Zeitgenössische Darstellungen von Wehrmachtssoldaten, Angehörigen der Sudetendeutschen Partei (SdP) Konrad Heinleins oder von sozialdemokratischen Gegnern des Nationalsozialismus sowie Schilderungen von Zeitzeugen weisen bezüglich der positiven Bevölkerungsreaktionen auf den Einmarsch kaum Unterschiede auf. Eine wahre Aufbruchsstimmung herrschte in den so genannten „Sudetengebieten“. Während ihre Eingliederung in das Deutsche Reich mit der am 21. November 1938 erfolgten „Vereinigung“ in rechtlicher Hinsicht schnell und reibungslos vonstatten ging und mit der Bildung des Reichsgaus Sudetenland im April 1939 auch in eine auf Dauer angelegte Form überführt wurde,2 bestand eine weitaus anspruchsvollere Aufgabe darin, die Zustimmung der Bevölkerung zu den neuen Verhältnissen zu verstetigen: Nach der (partei-)politischen und administrativen Eingliederung mussten die neuen Reichsbürger die neue Situation auch dauerhaft gutheißen und unterstützen. Rahmen und Instrument zugleich war hierfür die nationalsozialistische „Volksgemeinschaft“, die die Lösung aller politischen, sozialen und wirtschaftlichen Probleme versprach. Die mit großem propagandistischem Aufwand andauernd verkündete Überwindung der Klassengrenzen durch die nationalsozialistische „Rasse- und Weltanschauungsgemeinschaft“ spielte somit nicht nur bei der Gleichschaltung der deutschen Gesellschaft ab 1933, sondern auch in den eingegliederten Gebieten eine zentrale Rolle.3 1

Bundesarchiv (im Folgenden: BArch) Bayreuth. Bestand: Ostdokumentation 20/15. Kennziffer: I/17: Zeitzeugenbericht von Alfred L. und Wenzel B., Königswalde, Kreis Schluckenau, undatiert. Die nachfolgenden Ausführungen beruhen im Wesentlichen auf meiner Studie Zimmermann, Volker: Die Sudetendeutschen im NS-Staat. Politik und Stimmung der Bevölkerung im Reichsgau Sudetenland (1938–1945). Essen 1999. 2 Reichsgesetz über die Wiedervereinigung der sudetendeutschen Gebiete mit dem Reich vom 21. 11. 1938. In: Reichsgesetzblatt 1938 I 1641. Gesetz über den Aufbau der Verwaltung im Reichsgau Sudetenland vom 14. 4. 1939. Reichsgesetzblatt 1939 I 780. 3 Von der umfangreichen Literatur zur „Volksgemeinschaft“ seien in diesem Zusammenhang lediglich genannt: zur Aussagekraft eines diesbezüglichen Forschungsansatzes mit einem

272   Volker Zimmermann Im Folgenden wird dem Aufbruch der ehemaligen deutschen Minderheit der Tschechoslowakei in diese „neue Welt“ der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft anhand einiger ausgewählter Aspekte nachgegangen. Im Vordergrund steht zunächst die Frage, welche Hoffnungen sich die Sudetendeutschen auf die Zukunft machten und wie sie an diesen Erwartungen gemessen die Entwicklungen in den ersten Monaten nach der Eingliederung beurteilten. Offensichtlich sind nämlich die als positiv empfundenen Veränderungen unmittelbar nach „München“ für nicht wenige Menschen derart prägend gewesen, dass sie diese Zeit auch im Rückblick als eine der wichtigsten Phasen ihres Lebens ansahen. Diese Erfahrungen trugen zweifellos dazu bei, dass viele auch die deutlich sichtbaren Begleiterscheinungen der neuen nationalsozialistischen Herrschaft entweder ignorierten oder guthießen – so die Verfolgung von NS-Gegnern, die Flucht und Vertreibung von Tschechen, deutschen Antifaschisten und Juden kurz vor und nach „München“ sowie die nur einen Monat nach dem Einmarsch auch in den „sudetendeutschen Gebieten“ organisierten antijüdischen Pogrome. Als besonderen Grund dafür wird die enge Verbindung zwischen nationaler und sozialer Frage angesehen. Zum Zweiten sollen Bevölkerungsreaktionen in den ersten Monaten nach dem „Anschluss“ an das Deutsche Reich analysiert werden. Sie geben Hinweise auf die Akzeptanz der „Volksgemeinschaft“ und die zeitgenössische Einschätzung ihrer Leistungen über den ersten Freudentaumel hinaus. Drittens wird die Frage nach Vergleichsmöglichkeiten gestellt: Die Sudetendeutschen waren schließlich nicht die einzigen, die in der kurzen Geschichte des „Dritten Reiches“ an Deutschland „angeschlossen“ wurden. Inwiefern Erwartungshaltungen und Reaktionen vergleichbar waren, lässt sich anhand von Ereignissen und Reaktionen im Zusammenhang mit der „Heimkehr“ des Saarlandes 1935 und dem „Anschluss“ Österreichs im März 1938 feststellen. Die Ergebnisse werden schließlich in einem Fazit zusammengeführt, in dem die Bedeutung der „Volksgemeinschaft“ für die später hinzugekommen deutschen Staatsbürger noch einmal erörtert wird.

Verknüpfung nationaler und sozialer Problemlagen Für die Interpretation der ersten Monate im Deutschen Reich sind kurz- und langfristige Faktoren zu unterscheiden. Kurzfristig waren die internationale „Sudetenkrise“, die forcierte Selbstgleichschaltung des größten Teils der deutschen Überblick über die bislang veröffentlichten Studien (der eher skeptische) Kershaw, Ian: „Volksgemeinschaft“. Potenzial und Grenzen eines neuen Forschungskonzepts. In: VfZ 59/1 (2011), S. 1–17, und (der optimistische) Wildt, Michael: „Volksgemeinschaft“. Eine Antwort auf Ian Kershaw. In: Zeithistorische Forschungen 8/1 (2011), S. 102–109. Zur Rolle der Propaganda und deren Wirkung auf Arbeiterschaft und Jugendliche Welch, David: Nazi Propaganda and the ‚Volksgemeinschaft‘. Constructing a People’s Community. In: Journal of Contemporary History 39/2 (2004), S. 213–238.

Die „neue Welt“ nach „München“   273

Minderheit in der Tschechoslowakei durch die von Konrad Henlein geführte „Sudetendeutsche Partei“ seit 1937/38 sowie die bürgerkriegsähnlichen Zustände und Kriegsangst im September 1938 für viele Menschen prägend.4 Der Wunsch nach einer schnellen und vor allem friedlichen Beendigung des deutsch-tschechoslowakischen Konfliktes – der letztlich in erster Linie ein sudetendeutsch-tschechischer war – durch Eingliederung in das Deutsche Reich sowie eine davon erwartete Stabilisierung der Lebensverhältnisse sind somit als wichtiger Grund für den Jubel zu interpretieren.5 Langfristig war für viele Menschen außer dem als diskriminierend empfundenen Minderheitenstatus in der Tschechoslowakei6 aber kaum eine Erfahrung prägender als die einer dauerhaften, strukturellen Arbeitslosigkeit. Wenn im Winter 1932/33 zwei Drittel der tschechoslowakischen Arbeitsuchenden Deutsche waren,7 hatte dies nicht nur die bekannte Staatsverdrossenheit zur Folge. Aufgrund der nur geringen Absicherung durch Arbeitslosenunterstützung waren große Teile der deutschen Bevölkerung von einer sozialen Notlage betroffen: Bis zum Juli 1936 war die Zahl der Arbeitslosen in den überwiegend von Deutschen bewohnten Gebieten zwar auf 224 168 gesunken. Zählen wir aber die Familienmitglieder der Arbeitslosen hinzu, war immer noch ein beträchtlicher Anteil der rund drei Millionen Personen zählenden deutschen Minderheit Opfer der Wirtschaftskrise. Die Arbeitslosenzahl sank zunächst weiter bis zum Sommer 1938, schnellte dann aber im Laufe der so genannten Sudetenkrise wieder in die Höhe.8 Offensichtlich ist also, dass Arbeitslosigkeit und Furcht vor sozialer Unsicherheit bis zum „Münchener Abkommen“ ein zentrales Thema blieben. Auch diejenigen, die 1938 wieder Arbeit hatten, konnten sich sehr gut an die Erfahrung der vergangenen Jahre erinnern. Infolgedessen nehmen viele Berichte über die ersten Eindrücke nach der Eingliederung in das Deutsche Reich gerade auf diese Problematik Bezug, so zum Beispiel die Äußerungen der beiden eingangs erwähnten Zeitzeugen: „Die Arbeitslosigkeit gehörte bald der Vergangenheit an, jeder hatte 4 5 6

7 8

Siehe zur Entwicklung in den Grenzgebieten 1938 den Beitrag von Detlef Brandes in diesem Band. Siehe hierzu Zimmermann: Die Sudetendeutschen im NS-Staat, S. 71–79. Zur deutschen Minderheit in der Tschechoslowakei liegt seit Langem eine Fülle an Literatur vor, unter anderem: Jaworski, Rudolf: Vorposten oder Minderheit? Der sudetendeutsche Volkstumskampf in den Beziehungen zwischen der Weimarer Republik und der ČSR. Stuttgart 1977. Smelser, Ronald M.: Das Sudetenproblem und das Dritte Reich 1933–1938. Von der Volkstumspolitik zur nationalsozialistischen Außenpolitik. München, Wien 1980. Hoensch, Jörg K.: Geschichte der Tschechoslowakei. 3. Aufl. Stuttgart u. a. 1992, S. 266. Braumandl, Wolfgang: Die Wirtschafts- und Sozialpolitik des Deutschen Reiches im Sudetenland 1938–1945. München 1985, S. 128. Bohmann, Alfred: Das Sudetendeutschtum in Zahlen. Handbuch über den Bestand und die Entwicklung der sudetendeutschen Volksgruppe in den Jahren von 1910 bis 1950. Die kulturellen, soziologischen und wirtschaftlichen Verhältnisse im Spiegel der Statistik. München 1959. Eine Zahl von 250 000 bis 300 000 Arbeitslosen im Jahr 1938 schätzt Demuth, Siegfried: Industriepolitik im Sudetenland vor und nach dem Anschluß. Die wichtigsten sudetendeutschen Industrien, ihre Entstehung und Entwicklung bis zur Gegenwart. Dissertation. Dresden 1942, S. 142.

274   Volker Zimmermann Arbeitsmöglichkeit und lohnenden Verdienst.“9 Andere Aussagen gehen dabei auch ins Detail: „Handel, Gewerbe, Handwerk nahmen sogleich nach der Eingliederung einen erfreulichen Aufschwung, auch die noch im geringen Maße bisher ausgeübte Heimarbeit (Handweberei) blieb weiter bestehen. […] Wie ein Wunder wirkte sich der Anschluß auf die Industrie aus: Sofort war die Arbeitslosigkeit verschwunden, die Betriebe konnten wieder voll, ja alsbald in Schichten arbeiten.“10 Nun war allerdings die Arbeitslosigkeit weder „sofort“ verschwunden, noch kann von einer flächendeckenden Schichtarbeit die Rede sein. Wichtiger waren in diesem Zusammenhang eher die Symbolik und die nachhaltig prägende Überzeugung, es sei etwas für die Menschen getan worden. Hierzu zählte natürlich der wie bereits zuvor im Deutschen Reich nun auch in den neuen Gebieten von der Propaganda in den Vordergrund gestellte Autobahnbau, der allerdings – ebenfalls wie im Reich – hinsichtlich seiner Bedeutung für den Arbeitsmarkt nicht überschätzt werden darf. Viel bedeutender war, dass die Reichsregierung sofort drei Millionen Reichsmark für Arbeitsbeschaffungsprogramme der verschiedensten und in den meisten Fällen eher unspektakulären Art zur Verfügung stellte sowie dass weitere Sofortmaßnahmen im Rahmen des Vierjahresplans eine beschleunigte Vermittlung von Arbeitskräften bewirkten.11 Diese sorgfältig inszenierte Hilfe war eine der eindrücklichsten Erfahrungen direkt nach dem „Anschluss“: Nachdem die Jubelfeiern vorbei waren, standen zwangsläufig die konkreten Alltagsprobleme wieder im Mittelpunkt des Interesses. Der Weg aus dem Elend – das laut der deutschnationalen Propaganda von der Prager Regierung verschuldet worden war – führte nun in der Wahrnehmung ­vieler Menschen direkt über die Maßnahmen der Reichsregierung und ihrer ­Vertreter vor Ort. Wichtig war in diesem Zusammenhang auch die Zahlung von Arbeitslosenunterstützung: Bis zum 1. Dezember 1938 wurden über 10 Millionen Reichsmark gezahlt, bis zum 30. April 1939 beliefen sich die diesbezüglichen Gesamtausgaben auf rund 40 Millionen Reichsmark.12 Die nationalsozialistische Führung sah dies aus gutem Grund als eine lohnende Investition in die Zukunft an, um Loyalität sicherzustellen. So hieß es am 7. November 1938, gut einen Monat nach dem Einmarsch der Wehrmacht, in einem Bericht für den Regierungsbezirk Eger (Cheb): „Die Stimmung der Bevölkerung ist nach wie vor gut. Die prompte Zahlung ausreichender Arbeitslosenunterstützung, wie auch die Schaffung vermehrter Arbeitsmöglichkeiten, wird dankbar anerkannt.“13 Die Arbeitslosenunterstützung erleichterte zumindest ein wenig die Zeit bis zu einem Aufbau neuer Beschäftigung, der auf den ersten Blick überraschend schnell   9 BArch

Bayreuth. Bestand: Ostdokumentation 20/15. Kennziffer: I/17: Zeitzeugenbericht von Alfred L. und Wenzel B., Königswalde, Kreis Schluckenau, undatiert. 10 BArch Bayreuth. Bestand: Ostdokumentation 20/14. Kennziffer: I/16: Bericht von Josef P., ­undatiert. 11 Braumandl: Wirtschafts- und Sozialpolitik, S. 130 f. 12 Ebenda, S. 130. 13 BArch Berlin. Sign.: R 18/6080: Lagebericht vom 7. 11. 1938.

Die „neue Welt“ nach „München“   275

verlief. Am 30. November 1938 zählten die Behörden noch 196 076 Arbeitslose im Sudetenland – und am 30. April 1939 nur noch 45 479.14 Selbstredend feierte die Presse diese Erfolge in gebührender Aufmachung. Dabei unterschlug sie allerdings, dass die niedrigen Ziffern auf viele Faktoren und keineswegs nur auf eine steigende Zahl von Arbeitsplätzen zurückzuführen waren: Viele sudetendeutsche Arbeitslose – rund 100 000 bis Ende 1938, 1939 dann noch einmal rund 60 000 bis 70 00015 – wurden in das Reich vermittelt oder wanderten auf eigene Faust dorthin ab, die Dienstpflicht im Reichsarbeitsdienst sowie Einberufungen zur Wehrmacht entlasteten ebenfalls die Statistik, und das Instrument der Kurzarbeit verhinderte zusätzlich weitere Entlassungen. Die Kurzarbeit wurde im Sudetenland im Übrigen erst 1940 überflüssig.16 Zwar konnten einige dieser Maßnahmen, insbesondere die Vermittlung in andere Gebiete des Reiches, durchaus Missstimmung zur Folge haben. Viele Betroffene hatten keinerlei Interesse daran, ihre gerade erst „befreite“ Heimat für eine Arbeit in fremden Städten und Regionen zu verlassen.17 Aber an dem positiven Gesamteindruck änderte dies nichts. Die existenzielle Not breiter Schichten der Bevölkerung schien wenige Monate nach „München“ der Vergangenheit anzugehören. Für die noch nicht so Glücklichen bestand die begründete Aussicht auf baldige Besserung ihrer Situation, denn der positive Trend setzte sich in den folgenden Jahren fort: Die boomende Rüstungsindustrie sorgte während des Krieges schließlich für Vollbeschäftigung. Laut einem Bericht des Präsidenten des Landesarbeitsamtes Sudetenland waren im Juni 1941 nur noch 203 männliche und 321 weibliche Arbeitskräfte ohne Beschäftigung – auch wenn hier aufgrund des Krieges der Effekt der Einberufung zur Wehrmacht noch stärker zu veranschlagen ist.18 Besonders stark und zahlreich profitierten die Arbeiter von dieser Entwicklung, da sie allein Ende November 1938 rund 90 Prozent der registrierten Arbeitslosen ausmachten.19 Die traditionelle Wählerklientel der Deutschen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (DSAP) und der Kommunistischen Partei der TschechosloSudetendeutschtum in Zahlen, S. 151. Bartoš, Josef: Okupované pohraničí a české obyvatelstvo 1938–1945 [Das okkupierte Grenzgebiet und die tschechische Bevölkerung]. Praha 1978, S. 57. 15 Svatosch, Franz: Das Grenzgebiet unter dem Hakenkreuz. Die sozialökonomischen Veränderungen Nord- und Nordwestböhmens während der ersten Phase der hitlerfaschistischen Okkupation (Oktober 1938 bis Mitte 1942). 2 Bde. Dissertation. Potsdam 1969, S. 166. 16 Státní oblastní archiv Litoměřice [Staatliches Gebietsarchiv Leitmeritz, im Folgenden: SOAL). Bestand: ŽV NSDAP. Inv.-Nr. 17, Karton 25: Lagebericht des Bezirkswirtschaftsamtes für den Wehrwirtschaftsbezirk IV b vom 6. 8. 1940. 17 Dies belegen mehrere Berichte von sozialdemokratischen Informanten. Vgl. DeutschlandBerichte der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (Sopade) 1934–1940. Salzhausen, Frankfurt am Main 1980, Jahrgang 1939, Januar, S. 23. Deutschland-Berichte, Jahrgang 1939, Februar, S. 139. Deutschland-Berichte, Jahrgang 1939, März, S. 367 f. Deutschland-Berichte, Jahrgang 1939, Juni, S. 714. 18 SOAL. Bestand: ŽV NSDAP. Inv.-Nr. 10, Karton 21: Bericht des Präsidenten des Landesarbeitsamtes für Juni 1941. 19 Berechnet auf Grundlage der Daten in Bohmann: Sudetendeutschtum in Zahlen, S. 151. 14 Bohmann:

276   Volker Zimmermann wakei (KSČ) hatte also einen handfesten materiellen Vorteil, was ihren Widerstandswillen neben der Einschüchterung durch Massenverhaftungen exponierter sozialdemokratischer und kommunistischer NS-Gegner direkt nach dem Einmarsch zumindest geschwächt haben dürfte. Ein Informant der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (Sopade) stellte denn auch im Januar 1939 fest: „Am meisten zufrieden ist bis jetzt die Arbeiterschaft. Es gibt Arbeit für alle.“20 Im Kleinen wiederholte sich in den eingegliederten Gebieten all das, was im Deutschen Reich seit 1933 im Großen geschehen war – allerdings im Zeitraffer: Während im Reich deutliche Verbesserungen und der Abbau der Arbeitslosigkeit erst nach einigen Jahren festzustellen waren, spürten viele Sudetendeutsche eine unmittelbare Verbesserung ihrer Lebenssituation bereits wenige Monate nach dem Einmarsch der Wehrmacht. Diese hohe Geschwindigkeit dürfte ebenfalls zugunsten des Regimes gewirkt haben. Nun würde eine ausschließliche Konzentration auf den Faktor Arbeitslosigkeit zu kurz greifen, um die erwähnte positive Stimmung zu erklären. So ­hatte der Hitler-Mythos bereits seit 1933 über die Grenzen hinweg auf die deutsche Bevölkerung in der Tschechoslowakei eingewirkt. Noch wichtiger erscheint aber eine Mobilisierung und allmähliche Durchdringung der Gesellschaft der Minderheit durch die ebenfalls 1933 gegründete Sudetendeutsche Heimatfront (SHF) bzw. seit 1935 Sudetendeutsche Partei sowie weiterer deutschnationaler bis national­ sozialistischer Organisationen. Diese propagierten gemeinsam eine über den Minderheitenstatus in der Tschechoslowakei definierte „Schicksalsgemeinschaft“. Doch auch ihnen verschaffte die soziale Frage Zulauf, was entsprechend ausgenutzt wurde. Ein gutes Beispiel bildet hierfür die 1934 ins Leben gerufene „Sudetendeutsche Volkshilfe“ (SVH), einer in der Tschechoslowakei vom Bund der Deutschen und vom Deutschen Turnverband als Äquivalent zur Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV) geschaffenen Organisation. Sudetendeutsche spendeten für Sudetendeutsche, beschafften Lebensmittel, sammelten Kleidung und organisierten Kohle- und Holzspenden. 1936 wurde sogar ein Ferienhilfswerk eingerichtet.21 Von der SVH lässt sich eine direkte Verbindungslinie zur nationalsozialistischen „Volksgemeinschaft“ ab dem Oktober 1938 ziehen. Die Idee einer über soziale Klassen hinweg reichenden und national (offenbar noch nicht in erster Linie rassisch) definierten Gemeinschaft wurde hier bereits etabliert: „Wird die SVH in diesem Geiste geführt, so wird manch einer, der in Not geraten, wieder zu hoffen beginnen und manch Irregeleiteter wieder zurückfinden zu seinem Volke und sich als dienendes Glied dem Ganzen anschließen.“22 – entsprechend dem im Reich verkündeten Slogan: „Gemeinnutz geht vor Eigennutz“. Nach dem „An-

20 Deutschland-Berichte,

Jg. 1939, Januar, S. 16. SVH siehe Luh, Andreas: Der Deutsche Turnverband in der Ersten Tschechoslowakischen Republik. Vom völkischen Vereinsbetrieb zur volkspolitischen Bewegung. 2. Aufl. München 2006, S. 318–320. 22 Zitiert nach ebenda, S. 321. 21 Zur

Die „neue Welt“ nach „München“   277

schluss“ 1938 schien sich diesbezüglich der Kreis zu schließen und dieser Slogan mehr als je zuvor zu gelten, trafen doch kurz nach der Wehrmacht die Züge und Lastwagen der NSV mit Kleidung und Lebensmitteln für die Not leidenden „Schwestern und Brüder“ ein. Insofern war neben der „Befreiung“ von der so genannten „Fremdherrschaft“ und der gebannten Kriegsgefahr gerade diese Form von Solidarität der alten mit den neuen „Volksgenossen“ das zentrale erste Er­ lebnis in der „neuen Welt“.

Reaktionen Werden die Reaktionen der Sudetendeutschen in den ersten Monaten nach dem Einmarsch analysiert, ergibt sich allerdings ein zwiespältiges Bild. Zwar hielt einerseits die Aufbruchstimmung längere Zeit an, doch wurde andererseits bald Kritik an mehreren Entwicklungen laut. Dabei lässt sich feststellen, dass soziale und wirtschaftliche Themen nach wie vor sowohl die positiven wie negativen Reaktionen stark bestimmten. Nun konnten aber Probleme nicht mehr einer „Fremdherrschaft“ zugeschrieben werden, sondern allenfalls noch mit dem Verweis auf einen angeblich zwanzig Jahre lang währenden Niedergang der deutschen Wirtschaft während der „Tschechenherrschaft“ ins Feld geführt werden. In der Verantwortung standen jedoch in erster Linie deutsche Funktionsträger. Dies bedeutete wiederum, dass sich die „Volksgemeinschaft“ an ihren Leistungen messen lassen musste. Zunächst manifestierte sich der Jubel in Handlungen und Meinungsäußerungen, die als Verfestigung der positiven Haltung und der Aufbruchsstimmung gedeutet werden können. In diesem Zusammenhang sind mehrere Daten von Interesse: Zum einen bieten sich eine Interpretation der Beitrittszahlen zur NSDAP Sudetenland in den ersten Monaten nach dem Anschluss sowie eine Analyse der Wahlergebnisse zu den Reichstagsergänzungswahlen im Dezember 1938 als Zustimmungs- und Loyalitätsbekundungen an, zum anderen als Indikatoren für langfristige soziale und wirtschaftliche Zukunftshoffnungen die Zahl der Heiraten und schließlich – mit entsprechender zeitlicher Verzögerung – die Zahl der Geburten in dem neuen Reichsgebiet. Bezüglich der Beitrittszahlen zur NSDAP lässt sich ein eindeutiger Trend feststellen. Die Sudetendeutsche Partei wurde am 5. November 1938 in die NSDAP überführt, also einen Monat nach dem Einmarsch. Wiederum einen Monat später war der Aufbau der sudetendeutschen NSDAP, ihrer Gliederungen und angeschlossenen Verbände offiziell abgeschlossen.23 Wie im Falle der Gleichschaltung in den Jahren 1933/34 setzte man somit auf Geschwindigkeit. Konrad Henlein 23 Lammel,

Richard: Der Aufbau der NSDAP. In: Das Sudetenland im Reich. Ein Querschnitt durch die Aufbauarbeit und Leistung des Reichsgaues Sudetenland. Hrsg. i.A. des Gauleiters und Reichsstatthalters Konrad Henlein von Gauamtsleiter Dr. Karl Viererbl. Reichenberg 1943, S. 39 f., hier S. 40.

278   Volker Zimmermann nannte sich nun NSDAP-Gauleiter, ein Großteil der SdP-Ämter und ihrer Leiter war ohne große Veränderungen in die neuen Verhältnisse überführt worden. Die SdP hatte im Zuge der von ihr angeführten Selbstgleichschaltung der sudetendeutschen Gesellschaft vor „München“ gerade ihre eigenen Parteistrukturen dem reichsdeutschen Vorbild im Laufe der Jahre 1937/38 weitestgehend angepasst. Zwar gab es auf der Ebene der NSDAP-Funktionäre durchaus Streitigkeiten und Probleme, auf die hier nicht näher eingegangen werden soll.24 Für die Frage nach der Wirkungsmacht der Propaganda von der „Volksgemeinschaft“ ist aber vielmehr entscheidend, dass ein großer Teil der SdP-Mitglieder diesen Übergang mittrug und ein wahrer Ansturm auf die neue NSDAP Sudetenland zu beobachten war. Die nach 1945 oftmals vorgebrachte Behauptung, SdP-Mitglieder seien „automatisch“ in die NSDAP überführt worden, lässt sich leicht widerlegen. Im Gegenteil wollte die Münchener Parteizentrale keineswegs die immense Zahl der 1,3 Millionen SdP-Mitglieder übernehmen, sondern „vorerst eine strenge Siebung“ durchführen.25 Aus diesem Grund sollten sich Interessenten individuell um die Mitgliedschaft bewerben, wofür der NSDAP-Reichsschatzmeister Franz Xaver Schwarz am 6. Dezember 1938 Kriterien festlegte. Vereinfacht gesagt, galt das Eintrittsdatum zur SdP als ideologischer Lackmustest: Je früher jemand zur SdP gestoßen war, insbesondere vor dem Anschluss Österreichs, als umso zuverlässiger galt er den Parteistellen. Unter diesen Voraussetzungen lassen sich die Mitgliedszahlen der NSDAP durchaus als Beleg für die Zustimmung zu den neuen Verhältnissen heranziehen. Aus einem Schreiben des Beauftragten des Reichsschatzmeisters in Revisionsangelegenheiten für den Gau Sudetenland geht hervor, dass die Aufnahmeaktion im Juli 1939 nahezu beendet war.26 Einen Monat später resümierte das Amt des sudetendeutschen Gauschatzmeisters Gustav Flögel, dass bis zu diesem Zeitpunkt rund 420 000 Mitgliedskarten in Reichenberg (Liberec) eingetroffen und 260 000 an neue Mitglieder ausgeliefert worden seien.27 Dies bedeutet, dass 1939 fast 16 Prozent der Gesamtbevölkerung des neuen Parteigaues Mitglieder der NSDAP wurden. In den folgenden Jahren stieg diese Zahl noch weiter an.28 Der NSDAPGau Sudetenland hatte somit, gemessen an der Bevölkerungszahl, die höchste

24 Siehe

zu den Konflikten in der Anfangsphase ausführlich Zimmermann: Die Sudetendeutschen, S. 227–247. 25 BArch Berlin. Bestand: Research-Akte 313 „Sudetenland“, Bl. 30 f.: Aktennotiz der ParteiKanzlei vom 18. 10. 1938. 26 BArch Berlin. Bestand: Research-Akte 313 „Sudetenland“, 100 f.: Schreiben des Beauftragten des Reichsschatzmeisters der NSDAP in Revisionsangelegenheiten für den Gau Sudetenland der NSDAP an Hauptdienstleiter Saupert vom 7. 7. 1939. Saupert war beim Reichsschatzmeister für den Verwaltungsaufbau der NSDAP zuständig. 27 BArch Berlin. Bestand: Research-Akte 313 „Sudetenland“, 104: Gauschatzmeister Sudetenland an Reichsschatzmeister (Hauptamt V, Mitgliederwesen) am 15. 8. 1939. 28 BArch Berlin. Bestand: NS 1/1116: Akte des Hauptamtes Mitgliedschaftswesen des Reichsschatzmeisters.

Die „neue Welt“ nach „München“   279

Mitgliederzahl aller Parteigaue im Reich, ein Trend, der sich auch bei der sudetendeutschen SA beobachten ließ.29 Diese Zustimmung zu den neuen politischen Verhältnissen durch die Bemühung um Parteimitgliedschaft ist allerdings differenziert zu interpretieren: Bis Juli 1939 wurden 458 057 Anträge von „Volksgenossen des Gaues Sudetenland“ und 32 734 von Bewohnern der an andere Gaue abgetretenen ehemaligen tschechoslowakischen Gebiete gezählt. Damit hatte rund ein Drittel der 1,3 Millionen ehemaligen SdP-Mitglieder einen Antrag auf NSDAP-Mitgliedschaft gestellt.30 Auch wenn bei der Interpretation dieser Zahlen die im Vergleich zur SdP höhere Altersgrenze für Parteieintritte und höhere Mitgliedsbeiträge zu berücksichtigen sind sowie wahrscheinlich manche Personen angesichts der oben genannten strengen Aufnahmeregelungen auf einen Antrag von vornherein verzichteten, ergibt sich doch der Schluss, dass sich offensichtlich für nicht wenige mit der Eingliederung in das Deutsche Reich und der Stabilisierung der Verhältnisse ein parteipolitisches Engagement erübrigte. Als weiterer Hinweis auf eine allgemeine soziale und wirtschaftliche Aufbruchsstimmung und den Zuspruch zur politischen Entwicklung lässt sich zudem mit Einschränkung das Ergebnis der Reichstagsergänzungswahlen in den sudetendeutschen Gebieten am 4. Dezember 1938 deuten. Zur Wahlpropaganda gehörte einmal mehr die Inszenierung wirtschaftlicher und sozialer Maßnahmen. Der „Stellvertreter Hitlers“ Rudolf Heß persönlich eröffnete wenige Tage vor den Wahlen den Bau der Autobahn in Eger. Fritz Todt, der „Generalinspekteur für das deutsche Straßenwesen“, sagte anlässlich des ersten Spatenstiches, wenn nun einige hundert Sudetendeutsche mit dem Bau anfingen, so würden bald an allen im Gau geplanten Strecken 15 000 bis 20 000 Menschen beschäftigt sein.31 Reichs­ propagandaminister Joseph Goebbels versprach in einer Wahlrede ebenfalls den Ausbau der Verkehrswege und pries die Arbeit der NSV, des Winterhilfswerks (WHW) sowie der NS-Gemeinschaft „Kraft durch Freude“ (KdF).32 Natürlich handelte es sich im Dezember 1938 nicht um freie Wahlen. Vor dem Hintergrund des Jubels und der beschriebenen Entwicklung kann aber getrost davon ausgegangen werden, dass die Nationalsozialisten keine oder kaum Wahlfälschungen nötig hatten. Die Wahlbeteiligung lag bei 98,62 Prozent der Stimm­ berechtigten,33 der Reichswahlleiter zählte in den sudetendeutschen Gebieten 29 BArch

Berlin. Bestand: Sammlung Schumacher, Ordner 408: Bericht eines Mitglieds der Obersten SA-Führung über Eindrücke einer Reise in das Gebiet der SA-Gruppe Sudeten und in das Protektorat. Von der Dienststelle Schrifttum an die Dienststelle Organisation und Einsatz am 19. 1. 1942 übersandt (geheim). 30 BArch Berlin. Bestand: Research-Akte 313 „Sudetenland“, 104: Gauschatzmeister Sudetenland an Reichsschatzmeister (Hauptamt V, Mitgliederwesen) am 15. 8. 1939. Siehe zu den SdP-Mitgliederzahlen in den 1930er Jahren Zimmermann: Die Sudetendeutschen, S. 58. 31 Autobahnbau in Eger feierlich eröffnet. In: Die Zeit (Reichenberg), 4. Jahrgang, 1938, Folge 272, vom 2. 12. 1938, S. 2. 32 Archiv der sozialen Demokratie Bonn. Bestand: Seliger-Archiv. Sign.: 1968: Wahlaufruf „Führer befiel, wir folgen“, undatiert. 33 Zu den Zahlenangaben siehe Statistisches Reichsamt (Hg.): Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich, 59. Jahrgang, 1941/42. Berlin 1942, S. 659.

280   Volker Zimmermann 2 153 687 Ja-Stimmen (98,78  Prozent). Sudetendeutsche, die in anderen Teilen des Reiches wohnten, konnten in eigens dafür bereitgestellten Wahllokalen abstimmen; auf dem Gebiet des „Altreichs“ votierten daraufhin 229 527 (99,72 Prozent) und im Land Österreich 84 722 (99,66  Prozent) Wähler für die NSDAP.34 Insgesamt gaben 2 467 936 (98,90 Prozent) Sudetendeutsche Adolf Hitler, Konrad Henlein und Karl Hermann Frank ihre Stimme. Die Zahl der Nein-Stimmen betrug 27 485, die der ungültigen Stimmen lag bei 5540, 34 963 Wahlberechtigte hatten nicht gewählt.35 Die sudetendeutsche Bevölkerung honorierte die „Befreiung“. Darauf, dass ihre Mehrheit freiwillig mit „Ja“ stimmte, weist ein Vergleich der Stimmabgabe in einzelnen Landkreisen hin: Messbare Abweichungen von den hohen Zustimmungsraten gab es nur in Gebieten, in denen zahlreiche Angehörige der tschechischen Minderheit lebten, die – sofern sie als deutsche Staatsbürger galten – ebenfalls wählen durften. Zwar kann man einen sozialen Druck innerhalb der tschechischen Minderheit, mit Nein zu stimmen, und einen umgekehrten Druck sowie politische Kontrolle auf deutscher Seite unterstellen. Das Wahlergebnis deuteten allerdings selbst NS-Gegner als Zustimmung zu den neuen Verhältnissen. So heißt es in einem Sopade-Bericht: „Es unterliegt […] keinem Zweifel, daß sich auch bei freien Wahlen nach einmal vollzogener Besetzung mehr als 90% der Bevölkerung für den Anschluß des Sudetengebiets an Deutschland ausgesprochen hätte.“36 Offensichtlich äußerten sich gleichzeitig die Hoffnungen der Menschen und ihr neu gewonnenes Vertrauen in die Zukunft in einem Anstieg der Eheschließungs- und Geburtenzahlen. Hatten 1935 auf dem Gebiet des Reichsgaus nur 24 348 Paare geheiratet, so waren es 1939 insgesamt 44 078. Das Referat für Statistik im Amt des Reichsstatthalters sah in der Heiratsfreude einen Hinweis auf Optimismus: „Die durch die politische Befreiung sich eröffnenden Zukunftsmöglichkeiten, ein neuer starker Glaube an eine schönere und nicht nur wirtschaftlich gesicherte Zukunft überhaupt, sind gewiß die Ursache dieser allerdings mehr einmaligen Erscheinung […].“37 Entgegen der Intention des Verfassers, die politische Zufriedenheit hervorzuheben, darf die Formulierung „nicht nur“ bezüglich der wirtschaftlichen Zukunft wohl eher im Gegenteil als weiterer Beleg für die 34 Jeder

achte Wähler, insgesamt 313 451 Menschen, gab seinen Stimmzettel im „Altreich“ und im ehemaligen Österreich ab. Vgl. Jeder achte Wähler lebt im Altreich. In: Die Zeit (Reichenberg), 4. Jahrgang, 1938, Folge 276, vom 6. 12. 1938, S. 3. 35 Dies ergibt sich aus der Differenz zwischen der Zahl der abgegebenen Stimmen und der Zahl der Stimmberechtigten. 36 Deutschland-Berichte, Jg. 1939, Januar, S. 15 f. 37 Die natürliche Bevölkerungsbewegung im Sudetengau. Mit besonderer Berücksichtigung der Volkszugehörigkeit. Ausführliche Zahlenangaben für die Jahre 1939 und 1940 und für das 1. Vierteljahr und die Monate April und Mai des Jahres 1941. Abgeschlossen am 26. 9. 1941. Der Reichsstatthalter im Sudetengau, Reichenberg. Hervorhebung durch den Verfasser. – Zemský archiv Opava [Landesarchiv Troppau]. Bestand: úVP Opava. Sign.: Z 25, Inv.-Nr. 967: Statistik „Die natürliche Bevölkerungsentwicklung im Sudetengau. 1939 endgültige und 1940 vorläufige Ergebnisse“.

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zentrale Bedeutung der sozialen und wirtschaftlichen Hoffnungen interpretiert werden. Diese Vermutung legt auch die regionale Verteilung der Heiraten nahe: Die meisten wurden 1939 in Gegenden verzeichnet, in denen ein besonders deutlicher wirtschaftlicher Aufschwung zu erwarten war. Außerdem hatten die Menschen vor allem in den neuen administrativen Ballungszentren des Gaues verstärkt geheiratet. Die Hoffnung auf eine bessere Zukunft schlug sich dann schließlich auch in der Geburtenzahl nieder: 1937 hatte diese mit 45 060 Geburten einen Tiefstand erreicht, 1939 kamen aber 63 862 und 1940 sogar 71 419 Kinder zur Welt.38 Dieser Trend deutet auf eine Stabilisierung der sozialen und gesellschaftlichen Verhältnisse hin und korreliert mit dem massiven Abbau der Arbeitslosigkeit in den Jahren 1939/40. Bei allen diesen Anzeichen für eine kurz nach dem Anschluss wachsende Zuversicht in die Zukunft und Zustimmung zur neuen Entwicklung ist jedoch auch eine wachsende Kritik unverkennbar, die sich zu einem großen Teil wieder auf wirtschaftliche und soziale Probleme bezog. Der Abbau der Arbeitslosigkeit und die Zahlung von Arbeitslosenunterstützung allein beseitigten nämlich nicht alle Schwierigkeiten, bald steigende Preise machten sich bei niedrigen Löhnen besonders gravierend bemerkbar. Gerade die exportorientierten Industriebetriebe konnten ihren Beschäftigten kaum Lohnerhöhungen zubilligen, da sie sonst wiederum die Preise für ihre Produkte hätten erhöhen müssen – wodurch ihre Konkurrenzfähigkeit gefährdet gewesen wäre.39 Nur die Beschäftigten der wehrwirtschaftlich wichtigen Unternehmen sowie der Lebensmittel-, Möbel- und Schuhproduktion konnten eine langsame Angleichung ihrer Löhne an das in anderen Reichsgebieten übliche Niveau verzeichnen.40 Bei einzelnen Berufsgruppen war gegenüber der Zeit vor dem Anschluss sogar eine Verschlechterung der Lage festzustellen.41 Der Wandel im Zeitraffer galt auch für dieses Problem: Im Reichsgau Sudetenland setzte dieselbe Entwicklung ein, die in den ersten Jahren des nationalsozialistischen Staates auch im „Altreich“ zu beobachten gewesen war: Die Lohnsteigerungen in den Konsumgüterindustrien waren erheblich hinter denen in den Produktionsgüterindustrien zurückgeblieben, während die Lebensmittelpreise gestiegen waren und sich für manche Bevölkerungsteile der Lebensstandard verschlechtert hatte.42 38 Ebenda.

1939 stammten 5647 Kinder aus tschechischen und gemischtnationalen Ehen, 1940 6931 aus tschechischen bzw. gemischtnationalen Ehen. 39 Hynitzsch, Wolfgang: Die Währungsumstellung in Elsass-Lothringen (1870/71 und 1918/19), in Österreich (1938) und im Sudetenland (1938). Dissertation. Mainz 1959, S. 96. 40 Svatosch: Das Grenzgebiet unter dem Hakenkreuz, S. 267. 41 Preispolitischer Lagebericht der Preisüberwachungsstelle beim Regierungspräsidenten Aussig für die Zeit seit 1. 12. 1938 vom 17. 1. 1939. SOAL, úVP ústí, PS, Karton 29. 42 Mason, Timothy W.: Sozialpolitik im Dritten Reich. Arbeiterklasse und Volksgemeinschaft. Opladen 1977, S. 148–154. Siehe hierzu auch Kershaw, Ian: Popular Opinion and Political ­Dissent in the Third Reich: Bavaria 1933–1945. Oxford 1983, S. 95–97. Hachtmann, Rüdiger: Industriearbeit im „Dritten Reich“. Untersuchungen zu den Lohn- und Arbeitsbedingungen in Deutschland 1933–1945. Göttingen 1989, S. 97–99.

282   Volker Zimmermann Selbst der Sicherheitsdienst der SS (SD) konstatierte zu Beginn des Jahres 1939 wachsenden Unmut und bemerkte, dass sich „die Lage aller Betroffenen – Arbeiter, Beamte, Angestellte, Rentner usw. – selbst gegenüber der Periode der Tschechenherrschaft verschlechtert“ habe.43 So wurde die Lohn-Preis-Schere das sozialpolitische Dauerthema des Jahres 1939,44 was auch sozialdemokratische Informanten wieder hoffen ließ. In einem Sopade-Bericht von Anfang 1939 heißt es: „Das beste Ernüchterungsmittel für die Arbeiter sind die Lohntüten […]. ‚Das hält sich nicht lange‘ kann man jetzt schon bei Arbeitern und Mittelständlern allenthalben hören. Über diesen verhältnismäßig schnellen Stimmungsverfall, von dem in der Vorweihnachtszeit noch nicht viel zu bemerken war, scheint sich auch die Führung Rechenschaft zu geben.“45 Der Sopade-Informant vermutete richtig. So berichte der Regierungspräsident von Aussig (Ústí nad Labem) am 31. Januar 1939: „Die politische Lage im Regierungsbezirk Aussig kann an sich als völlig ruhig bezeichnet werden. Es bedarf jedoch des Hinweises, daß die Zeit der ersten Begeisterung vorüber ist und daß eine Periode der kritischen Einstellung eingesetzt hat, die aufmerksame Beobachtung verdient.“46 Ein halbes Jahr später meldete er eine „fühlbare Verschlechterung“ der Stimmung.47 Selbst NSDAP-Gauleiter Konrad Henlein gestand die negative Stimmung öffentlich ein und verwies darauf, dass sie den Schwierigkeiten der Übergangszeit geschuldet sei: „Es gibt heute viele Sudetendeutsche, denen der Wiederaufbau unserer Heimat viel zu langsam erscheint. Sie verkennen die Schwierigkeiten, die mit der Angliederung eines durch zwanzig Jahre verarmten und zurückgebliebenen Wirtschaftsgebietes an die blühende Wirtschaft Großdeutschlands zusammenhängen.“48 Die Frage, ob die Mehrheit der sudetendeutschen Bevölkerung von der Eingliederung in das Reich materiell profitierte oder nicht, lässt sich nur schwer beantworten. Wie bereits erwähnt, war ein Aufschwung und auch eine Erhöhung der Löhne in einigen Branchen durchaus spürbar und viele der eingangs zitierten Berichte lassen ebenfalls darauf schließen, dass neben der in den Lagemeldungen der staatlichen Behörden und Parteidienststellen erkennbaren kritischen Haltung auch eine positive Resonanz auf den wirtschaftlichen Anschluss vorhanden war. Arbeitslosenhilfe, die Zahlung von Zuschüssen an kinderreiche Familien, Mutter43 1.

Vierteljahreslagebericht 1939 des Sicherheitshauptamtes. In: Meldungen aus dem Reich 1938–1945. Die geheimen Lageberichte des Sicherheitsdienstes der SS. Hrsg. u. eingeleitet von Heinz Boberach. 17 Bde. Herrsching 1984, hier Bd. 3, S. 330. 44 SOAL. Bestand: úVP ústí, PS, Karton 30: Lagebericht für den Regierungsbezirk Aussig für März und April 1939. Anlage 1 „Preispolitischer Lagebericht“. 45 Deutschland-Berichte, Jg. 1939, Februar, S. 134. 46 SOAL. Bestand: úVP ústí, PS, Karton 30: Lagebericht für den Regierungsbezirk Aussig vom 31. 1. 1939. 47 SOAL. Bestand: úVP ústí, PS, Karton 30: Lageberichte für den Regierungsbezirk Aussig vom 7. 6. 1939 und vom 29. 7. 1939. 48 Konrad Henlein gegen Gerüchtemacher. In: Die Zeit (Reichenberg), 5. Jahrgang, 1939, Folge 209, vom 31. 7. 1939, S. 1 f., hier S. 2.

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schaftsbeihilfen, der Bau von Werkskantinen, Verbesserungen im Arbeitsrecht und weitere Leistungen – allesamt als Elemente der „Volksgemeinschaft“ gepriesen – steigerten die soziale Attraktivität des nationalsozialistischen Regimes. Offenkundig war aber, dass viele vor und kurz nach „München“ gegebene Versprechungen nicht eingehalten werden konnten und die Enttäuschung darüber großen Anteil an dem Stimmungsumschwung hatte. Hinzu kamen Enttäuschungen über das Verhalten mancher Reichsdeutscher: So kauften Soldaten und Schnäppchenjäger kurz nach dem Einmarsch günstig Waren ein. Einige in das Gebiet versetzte „altreichdeutsche“ Funktionsträger verhielten sich nach Meinung mancher Sudetendeutscher arrogant und anmaßend. Der stellvertretende Gauleiter Hermann Neuburg schrieb nach dem Krieg: „Auch die offiziellen Stellen [der SdP, V.Z.], einschließlich Henlein selbst, sahen praktisch in jedem ‚Altreichsdeutschen‘ einen kleinen Herrgott. Jeder, der von jenseits der Grenze kam, war für sie die Inkarnation des Nationalsozialismus, in jedem sahen sie den Vertreter eines Volkes, das bereit war, für sie und ihre Befreiung alles einzusetzen und herzugeben.“49 Henlein selbst sprach dieses Phänomen in einem Interview mit der Berliner Börsenzeitung im Juni 1939 in demselben Sinne an. Danach hätten die Sudetendeutschen eine sehr idealistische Vorstellung von dem, was aus dem „Altreich“ kam: „Es wäre doppelt bedauerlich, wenn dieses Bild durch Verständnislosigkeit und durch Taktlosigkeit einzelner getrübt wird.“50 Auch solche Erfahrungen dämpften die Freude über die nur scheinbar solidarische „Volksgemeinschaft“.

Vergleich mit dem Saarland und Österreich Offenbar ahnten einige der erfahreneren „Volksgenossen“ aus anderen Reichsgebieten, dass manche der neuen Mitbürger bald in ihren hohen Zukunftserwartungen enttäuscht würden. Bereits vor dem Einmarsch der Wehrmacht notierte ein Berichterstatter der Sopade folgende Stellungnahme: „Die Henleinleute werden ihr blaues Wunder erleben, genau wie die Saarländer und Österreicher.“51 Offensichtlich war für ihn ein Vergleich der drei Anschlussfälle mehr als nahe liegend. In der Tat lassen sich viele Gemeinsamkeiten zwischen dem Saarland 1935 sowie Österreich und dem Sudetenland 1938 finden. Auch bei dem Blick auf diese Vergleichsfälle soll im Folgenden die soziale und wirtschaftliche Frage im Vordergrund stehen. Das erste gemeinsame Merkmal ist bekanntlich der weit verbreitete Jubel: 49 Archiv

ministerstva vnitra [Archiv des Innenministeriums] Praha. Sign.: 301-139-3, 4 f.: Hermann Neuburg, ehemaliger Reichshauptamtsleiter in der Partei-Kanzlei, Lebenslauf und Tätigkeitsbericht. 50 Zitiert nach Arndt, Veronika: „Blut- und Boden“-Politik im „Sudetengau“. Zur Agrar- und Nationalitätenpolitik der Deutschen Faschisten im okkupierten nordöstlichen Grenzland der ČSR (sogen. Ostsudetenland). Dissertation. Leipzig 1970, S. 60. 51 Deutschland-Berichte, Jahrgang 1938, S. 941.

284   Volker Zimmermann „Am 1. März fand die Rückgliederung statt. Die Freude und der Jubel kannte[n] keine Grenzen. Und als nun zu den Feierlichkeiten unerwartet auch der Führer in Saarbrücken erschien und zum ersten Male im Saarland vor den Saarländern stand, da brach ein Sturm der Begeisterung los!“52 Mit diesen Worten fasste die Dorfchronik von Zilshausen im Saarland die Lage 1935 zusammen. Ein Wehrmachtsoffizier schrieb im Bericht über seinen Einsatz in Österreich drei Jahre später: „Es ist unmöglich zu beschreiben, was in jenen Tagen auf den Einmarschstraßen vorging.“53 Eine „beifallheulende Menschenmasse“ machte ein amerikanischer Journalist in Wien aus.54 Eine weitere Gemeinsamkeit ist in den übersteigerten Hoffnungen zu sehen. Neben einer in allen drei Fällen (wenn auch sehr unterschiedlich ausgeprägten) „nationalen Frage“ waren es gerade die wirtschaftlichen und sozialen Nöte, die viele Menschen auf eine Besserung hoffen ließen. So war das durch Steinkohlenbergbau und Hüttenindustrie geprägte Saarland mit seiner starken Arbeiterschaft von der Weltwirtschaftskrise besonders schwer getroffen worden: 31,3  Prozent der Erwerbspersonen waren Ende 1932 ohne Arbeit, und kurz vor dem Anschluss wurden noch deutlich mehr gezählt.55 Da sich viele der Not leidenden Zechen unter französischer Verwaltung befanden, wurde – wie in den mehrheitlich von Deutschen besiedelten Grenzgebieten der Tschechoslowakei – der nationale Gegner für die Misere verantwortlich gemacht.56 Viele Zeitgenossen schauten auf das Deutsche Reich, das seit 1933 als Vorbild für Krisenbekämpfung galt. Die saarländische NSDAP, das Zentrum und andere Parteien bildeten als Reaktion auf die Entwicklung in Berlin die „Deutsche Front“. „Deutsche Mutter – heim zu Dir!“, lautete die Losung.57 Eine Mutter, die für ihr – in diesem Fall verlorenes – Kind sorgt, es beschützt und ihm ein wärmendes Zuhause gibt, dies war eben nicht zuletzt angesichts der wirtschaftlichen Not ein verlockendes Bild, das entsprechend auf viele Saarländer wirkte: „Die Rückkehr in den deutschen Mutterschoß erschien als Regression des Kindes in den primärnarzißtischen Befriedigungszustand absoluten Versorgtseins und sozialer Geborgen­ heit.“58 Das Deutsche Reich förderte diese hohe Erwartungshaltung und setzte öffentlichkeitswirksam gerade auf die wirtschaftspolitische Karte: Arbeitsbeschaffungs52 Dorfchronik

Zilshausen. Das Jahr 1935. In: Homepage der Ortsgemeinde Zilshausen. URL: http://www.zilshausen.net/chronik/1933-45.htm (letzter Zugriff 18. 5. 2008). 53 Zitiert nach Bukey, Evan B.: Hitlers Österreich. „Eine Bewegung und ein Volk“. Hamburg u. a. 2001, S. 51. 54 Zitiert nach ebenda, S. 54. 55 Mallmann, Klaus-Michael/Paul, Gerhard: Herrschaft und Alltag. Ein Industrierevier im Dritten Reich. Bonn 1991, S. 40. 56 Wegner, Alexander von: Die „saarländische Sphinx“. Zur Interpretation der Saarabstimmung. In: Jahrbuch für westdeutsche Landesgeschichte 20 (1994), S. 273–317, hier S. 283 f. 57 So auch der Titel der Studie von Paul, Gerhard: „Deutsche Mutter – heim zu dir!“ Warum es mißlang, Hitler an der Saar zu schlagen. Der Saarkampf 1933–1935. Mit einem Vorwort von Eike Henning. Köln 1984. 58 Ebenda, S. 290.

Die „neue Welt“ nach „München“   285

maßnamen in den an das Saarland angrenzenden Reichsgebieten fielen nicht zufällig mitten in die Zeit des Abstimmungskampfes.59 Diese Wohltaten kämen auch den Saarländern zugute, wenn erst einmal nach einem Anschluss ein ebensolches Programm in Angriff genommen würde: „Wir haben 4 Millionen im Reich wieder in Arbeit gebracht, und dann sollen wir es nicht fertigbringen, 40 000 Arbeitslosen von der Saar wieder Arbeit zu geben?“,60 verkündete Propagandaminister Joseph Goebbels 1934. Und weiter: „Für den Saarbergmann werden wieder bes­ sere Zeiten kommen“, dieser werde wie vor dem Krieg sein Butterbrot mit Wurst essen.61 Wie im Sudetenland war die Arbeiterschaft, die auch hier den Großteil der Arbeitslosen stellte, zugänglich für die sozialen Verheißungen: „Wenn nur die Arbeiter nicht so dumm wären!“ schrieb der sozialdemokratische Journalist Paul Siegmann am 2. Juni 1934 in sein Tagebuch.62 Alleine mit dem zweifelsohne auch im Saarland während des Abstimmungskampfes ausgeübten Terror ist die „Selbstgleichschaltung der Saarländer“63 also kaum zu erklären. Es war eben auch hier die Verbindung zwischen der Hoffnung auf eine nationale „Erlösung“ nach 15 Jahre währender französischer Herrschaft und der Hoffnung auf ein überzeugendes sozialpolitisches Programm. Bei der Abstimmung 1935 votierten schließlich 90,5 Prozent der Saarländer für den Anschluss an das Deutsche Reich, 0,4 Prozent für Frankreich. Im Gegensatz zum Reichsgau Sudetenland mussten die Saarländer allerdings länger auf eine Verbesserung der Lage warten, denn direkt nach dem Anschluss stieg die Zahl der Arbeitslosen im Gegenteil sogar stark an: Ende April 1935 lag sie bei 50 800, während sie im Dezember 1932 noch bei rund 43 000 gelegen hatte. Dies war eine wesentlich höhere Ziffer als in der schlimmsten Phase der Weltwirtschaftskrise, sie lag sogar über dem Reichsdurchschnitt. Die Maßnahmen zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit reichten von Arbeitsbeschaffungsprogrammen über eine Zuzugssperre bis zu Einberufungen zur Wehrmacht. Ferner standen eine erweiterte Arbeitsdienstpflicht und ein Arbeitseinsatz in anderen Reichsgebieten auf dem Programm, was allerdings auf Widerspruch stieß. Viele Menschen wollten lieber in der ihnen vertrauten Umgebung eingesetzt werden.64 Auch dies ist eine Parallele zur Lage im „Sudetenland“ 1938/39. Die großen sozialen Hoffnungen entwickelten sich nun auch im Saarland zu einem Bumerang. Der Spottreim „Deutsch ist die Saar immerdar, aber schlimmer

59 Feld,

Reinhard: Die Organisation der Arbeit und die Beseitigung der Arbeitslosigkeit. In: Regionalgeschichtliches Museum Saarbrücken (Hg.): Zehn statt tausend Jahre. Die Zeit des Nationalsozialismus an der Saar (1935–1945). Katalog zur Ausstellung des Regionalgeschichtlichen Museums im Saarbrücker Schloss. Saarbrücken 1988, S. 99–114, hier S. 100. 60 Zitiert nach Paul: „Deutsche Mutter – heim zu Dir“, S. 182. 61 Zitiert nach Mallmann/Paul: Herrschaft und Alltag, S. 41. 62 Siegmann, Paul: Vor vierzig Jahren. Der Kampf um den 13. Januar 1935. Tagebuch-Auszüge. In: Zeitschrift für die Geschichte der Saargegend 22 (1974), S. 224–325, hier S. 272. 63 Wegner: Die „saarländische Sphinx“, S. 286–290. 64 Ebenda, S. 40 f.

286   Volker Zimmermann als es war“ spricht Bände.65 Erst 1937 endete die problematische Phase, als sich der zu großen Teilen durch die forcierte Aufrüstung bedingte wirtschaftliche Aufschwung auf dem Arbeitsmarkt auswirkte. Auch die Löhne stiegen nun, wobei sich allerdings – wie im übrigen Reich – für in der Rüstungsindustrie beschäftigte Arbeiter die Lebenslage schneller verbesserte als in der Konsumgüterindustrie. Klagen wurden aber nun seltener laut. Die Zustimmung zu den neuen Verhältnissen war also eindeutig auch im Saarland eng an die wirtschafts- und sozialpolitischen Leistungen des neuen Regimes geknüpft – eine „nationale Befreiung“ alleine reichte jedenfalls in keinster Weise für eine stabile Akzeptanz in der Bevölkerung aus. Eine ähnliche Beobachtung lässt sich im Zusammenhang mit dem Anschluss Österreichs machen. Nach Ansicht vieler Menschen hatte die politische Führung bei der Bekämpfung der drängendsten Probleme versagt, und 1932 war infolge der Weltwirtschaftskrise ein Drittel der Erwerbstätigen arbeitslos.66 Das in den 1930er Jahren autoritär regierende ständestaatliche Regime – der Austrofaschismus – konnte die politische, wirtschaftliche und soziale Krise nicht bewältigen und verlor zunehmend an Rückhalt. Dafür erstarkte zur gleichen Zeit die Anschlussbewegung stetig und gewann gerade in den städtischen Mittelschichten und in der Arbeiterschaft Anhänger.67 Im Gegensatz zum Saarland ist zudem die längere Zeitspanne zwischen der Machtübernahme der NSDAP im Reich und dem Anschluss zu beachten: Fünf Jahre lang könnten die Österreicher das allmähliche Verschwinden der Arbeitslosigkeit im Deutschen Reich beobachten. Da auch 1938 die heimische Ökonomie auf dem Niveau von 1929 verharrte und die Zahl der Arbeitslosen immer noch bei einer halben Million lag,68 ist die Ähnlichkeit zum Sudetenland und zum Saarland offenkundig: Gerade die Arbeiterschaft war für die Unterstützung des Anschlusses von zentraler Bedeutung.69 Dass die nationalsozialistische Propaganda auch in diesem Fall eine verheißungsvolle soziale und wirtschaftliche Zukunft versprach, erscheint selbstverständlich. Die Euphorie ist gerade mit dieser Mobilisierung zu erklären: Gerhard Botz meinte hierzu, dem Nationalsozialismus sei es gelungen, „eine ­revolutionäre Aufbruchsstimmung hervorzurufen und schlagartig die unterschiedlichsten Hoffnungen in das neue Regime zu wecken, weniger schon eine unmittelbare Verbesserung der Lebenslage zu bewirken als die Erwartung einer 65 Mallmann/Paul:

Herrschaft und Alltag, S. 39. zur Vorgeschichte Bukey: Hitlers Österreich, S. 22–26. Zur Frage der Anschlussbewegung auch vor 1933 siehe Luža, Radomir V.: Österreich und die grossdeutsche Idee in der NS-Zeit. Wien u. a. 1977. 67 Hierzu Botz, Gerhard: Zwischen Akzeptanz und Distanz. Die österreichische Bevölkerung und das NS-Regime nach dem „Anschluß“. In: Stourzh, Gerald/Zaar, Brigitta (Hg.): Österreich, Deutschland und die Mächte. Internationale und österreichische Aspekte des „Anschlusses“ vom März 1938. Wien 1990, S. 429–455, hier S. 433 f. 68 Ebenda, S. 442. 69 Bukey, Evan B.: Die Stimmung in der Bevölkerung während der Nazizeit. In: Tálos, Emmerich/Hanisch, Ernst/Neugebauer, Wolfgang/Sieder, Reinhard (Hg.): NS-Herrschaft in Österreich. Ein Handbuch. Wien 2001, S. 73–87, hier S. 76. 66 Vgl.

Die „neue Welt“ nach „München“   287

solchen“.70 Die 99,7  Prozent „Ja“-Stimmen bei der Volksabstimmung sind ihm zufolge daher auch ein Abbild der tatsächlichen Einstellung eines Großteils der Bevölkerung. Vor allem die Arbeiterschaft profitierte schließlich von dem Beschäftigungsboom, der nach dem „Anschluss“ einsetzte. Die Arbeitslosenzahl sank von 404 000 im April 1938 auf 95 000 im April 1939. Diese Entwicklung ist auch im Falle Österreichs für die Loyalität zum Regime offenbar sehr viel höher zu veranschlagen als eine ideologische Affinität zum Nationalsozialismus.71 Es ist also festzuhalten, dass in Österreich wie im Saarland breitere Bevölkerungsschichten gerade ihre wirtschaftlichen und sozialen Hoffnungen als erfüllt betrachten konnten – und wie im Falle des Reichsgaus Sudetenland dazu vor allem der Rüstungsboom beitrug, der ab 1937/38 zahlreiche Arbeitsplätze in der Industrie entstehen ließ. Aus dieser Perspektive waren der Anschluss Österreichs und des Sudetenlandes zeitlich günstiger erfolgt als der „frühe“ Anschluss des Saarlandes, wo eine längere Durststrecke zurückzulegen war. Einige weitere Indikatoren für die Aufbruchsstimmung sind dabei durchaus vergleichbar: So stieg die Zahl der Eheschließungen und der Geburten in Österreich nach dem „Anschluss“ massiv an, im Falle der Geburtenrate sogar um etwa 50 Prozent im Vergleich mit der Zeit davor. Der Gau Salzburg erhielt den Ehrentitel „Gau der vollen Wiegen“.72 Allerdings wurde in Österreich ebenso wie im Saarland schnell Kritik an einem zu langsamem Aufschwung, Steuern und steigenden Preisen bei zu geringen Löhnen laut.73 In den beiden Vergleichsfällen gab es zudem massive Probleme wegen unterschiedlicher Mentalitäten der entsandten Funktionsträger aus dem „Altreich“ und der neuen Reichsbürger: Klagen über arrogantes Verhalten lassen sich wiederholt feststellen. So war mit der Eingliederung des Saargebietes auch ein Zuzug pfälzischer Funktionäre verbunden, die nun im Saarland wichtige Positionen einnahmen. Registriert wurden Äußerungen wie: „Klettert auf die Beem, die Pfälzer kommen.“74 NSDAP-Gauleiter Josef Bürckel reagierte auf diese Lage am 3. April 1935 sogar in einem Zeitungsbeitrag mit dem Titel „Gegen Lügner und ­Provokateure“. Zwar waren nur in höheren Positionen Beamte aus dem übrigen Reich eingesetzt worden, aber viele Menschen waren dennoch von einer „Überfremdung“ überzeugt.75 Manche österreichische Kreise klagten wiederum über 70 Botz:

Zwischen Akzeptanz und Distanz, S. 441. Jagschitz, Gerhard: Von der „Bewegung“ zum Apparat. Zur Phänomenologie der NSDAP 1938–1945. In: Tálos, Emmerich/Neugebauer, Wolfgang (Hg.): NS-Herrschaft in Österreich 1938–1945. Wien 1988, S. 487–516, hier S. 507. 72 Botz: Zwischen Akzeptanz und Distanz, S. 448. 73 Kerschbaumer, Gert: Der deutsche Frühling ist angebrochen… Glücksversprechen, Kriegsalltag und Modernität des Dritten Reiches – am Beispiel Salzburg. In: Tálos, Emmerich/Neugebauer, Wolfgang (Hgg.): NS-Herrschaft in Österreich 1938–1945. Wien 1988, S. 381–395, hier 386–387. Bukey: Stimmung, S. 74 f. 74 Jacoby, Fritz: Die nationalsozialistische Herrschaftsübernahme an der Saar. Die innenpolitischen Probleme der Rückgliederung des Saargebietes bis 1935. Saarbrücken 1973, S. 164. 75 Ebenda. 71 So

288   Volker Zimmermann die „Preußen“ bzw. „Piefkes“, die alles besser wüssten und gute Posten besetzten.76 Doch blieb trotz dieser letztgenannten Phänomene die Schlüsselfrage für die andauernde Zustimmung sowie die Generierung von loyalem Verhalten der Abbau der Arbeitslosigkeit sowie Lohn- und Preisfragen. Wenn die diesbezüglich in den Anschluss von der Propaganda einheimischer und reichsdeutscher Nationalsozialisten geschürten hohen Erwartungen nicht befriedigt wurden, drohte nachhaltige Enttäuschung und daraus resultierend Konfliktpotential – gerade wegen der extremen Euphorie in den ersten Wochen und Monaten, die nun entsprechend deutlich in ihr Gegenteil umschlagen konnte. Denn die Propaganda hatte ebenfalls bewirkt, dass die neuen „Volksgenossen“ auf die mit dem Anpassungsprozess verbundenen Härten nicht vorbereitet waren und die diesbezügliche Toleranzschwelle niedrig lag.

Fazit Die Ähnlichkeiten zwischen den Problemlagen, Erwartungen und Reaktionen von Sudetendeutschen, Saarländern und Österreichern im Zusammenhang mit der Eingliederung in das Deutsche Reich sind auffällig. Die Vermutung liegt nahe, dass gerade die propagandistische Wirkung des Konzepts der „Volksgemeinschaft“ eine Erklärung dafür liefert. Sofern sie nicht zu den ausgesprochenen NS-Gegnern zu zählen waren, erwarteten in allen drei Fällen viele Menschen von der Eingliederung in das Reich die Lösung ihrer sozialen Probleme. Zwar spielte die Frage der nationalen Selbstbestimmung in je unterschiedlicher Ausprägung eine Rolle – aber die „Volksgemeinschaft“ war für die meisten offensichtlich kein nationaler Selbstzweck, sondern in erster Linie Mittel zum Zweck: Die Gründe für Loyalität, Legitimität und Stabilität und umgekehrt auch für Widerspruch sind demnach vor allem im sozialen und wirtschaftlichen Bereich zu suchen.77 Die verkündete Aufhebung von Standes- und Klassengrenzen war von den außerhalb des Reiches Lebenden somit vor allem in das Versprechen eines (nationalen) solidarischen Beistandes und eines messbaren sozial- und wirtschaftspolitischen Vorteils übersetzt worden. Im Falle der Bürger des Reichsgaus Sudetenland hatte die Verflechtung der nationalen und sozialen Hoffnungen allerdings eine andere Dimension als im Falle Österreichs und des Saarlandes. Die Problematik der Sudetendeutschen, die mit einem Anteil an der Gesamtbevölkerung der Tschechoslowakei von rund 23  Prozent eine außerordentlich große nationale 76 Jagschitz:

Von der „Bewegung“ zum Apparat, S. 498 f. – „Piefkes“ ist eine sehr abwertende österreichische Bezeichnung für „Preußen“. 77 So argumentiert für Österreich Tálos: Sozialpolitik, S. 118. – In diesem Zusammenhang soll auch auf die nach dem Erscheinen der Studie Götz Alys ausgebrochene Kontroverse über die nationalsozialistische Sozialpolitik und deren Bedeutung für loyales Verhalten gegenüber dem nationalsozialistischen Regime hingewiesen werden. Aly, Götz: Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus. Frankfurt am Main 2005.

Die „neue Welt“ nach „München“   289

Minderheit in einem multiethnischen Staat bildete, unterscheidet sich deutlich von der nationalen Frage in dem als Verwaltungseinheit klar abgegrenzten Saarland und der von der österreichischen Anschlussbewegung gestellten „großdeutschen“ Frage. Aus diesem Grund kann einem großen Teil der deutschen Minderheit in der Tschechoslowakei eine besonders starke Radikalisierung im Rahmen des so genannten „Volkstumskampfes“ unterstellt werden. Von dieser Vermutung ausgehend wären nun zwei Reaktionen denkbar gewesen: Entweder ließ die nationale Begeisterung viele Menschen über „Unzulänglichkeiten“ hinwegsehen oder die Enttäuschung über Probleme bei der Lösung existentieller Probleme fiel umso größer aus. Auf Letzteres weisen die massiven Unmutsäußerungen nicht nur über soziale Probleme, sondern auch die im Reichsgau Sudetenland besonders ausgeprägten Beschwerden über das als negativ empfundene Verhalten „altreichsdeutscher“ Funktionsträger hin. Dort wie auch in den anderen beiden Fällen kann aber in keinem Fall aus den Problemen abgeleitet werden, dass der Anschluss an das Deutsche Reich nun abgelehnt worden wäre oder dass dieser für die Betroffenen generell ein Verlustgeschäft gewesen sei: Die vielen Berichte über negative Meinungsäußerungen dürfen nicht zu einer „Überschätzung der oppositionellen Tendenzen der Bevölkerung bei gleichzeitiger Unterbewertung der konformistischen und akklamatorischen Haltung“78 führen, wie es Ian Kershaw schon vor längerer Zeit formulierte. Aufbruchstimmung und Hoffnungen auf ein besseres Leben erklären zudem die Ignoranz gegenüber bzw. Akzeptanz der Ausgrenzung und Verfolgung anderer. Zwar dürfte der vom nationalsozialistischen Regime betonte Aspekt der „Rasse- und Weltanschauungsgemeinschaft“ kaum im Zentrum aller Wünsche gestanden haben, aber die nationalsozialistische Gesellschaft definierte sich nun einmal über Abgrenzung. Insofern konnte sich derjenige glücklich schätzen, der dazugehörte – zumal in allen drei Gebieten wie auch im „Altreich“ nicht wenige von der Enteignung und Verteilung jüdischen Vermögens profitierten und für sie daher materielle Vorteile mit der „Volksgemeinschaft“ verknüpft waren.79 Bei allen in der Forschung bereits erörterten Gründen für das Bevölkerungsverhalten und -meinungen, die von tief verwurzeltem Antisemitismus und ideologischer Verblendung zur sozialen Kontrolle und Angst vor Repression reichen: Sofern sie die Verfolgung nicht guthießen oder direkt unterstützten, stand bei vielen Bürgern die Verfolgung politischer und anderer Gegner ganz offensichtlich nicht im Mittelpunkt ihrer eigenen alltäglichen Sorgen, was als – zugegebenermaßen unspektakulärer, aber durchaus wirkungsmächtiger – Aspekt ebenfalls die Hinnahme und damit indirekte Begünstigung des Terrors erklärt. Einen Stolperstein hatten die Vertreter des nationalsozialistischen Regimes jedoch in allen drei Fällen selber zu verantworten: Die Mobilisierung vor und kurz 78 Kershaw,

Ian: Alltägliches und Außeralltägliches: ihre Bedeutung für die Volksmeinung 1933– 1939. In: Peukert, Detlev/Reulecke, Jürgen (Hg.): Die Reihen fest geschlossen. Beiträge zur Geschichte des Alltags unterm Nationalsozialismus. Wuppertal 1981, S. 273–292, hier S. 277. 79 Siehe zu diesem Themenbereich den Beitrag von Jörg Osterloh in diesem Band.

290   Volker Zimmermann nach der Eingliederung speiste sich folgerichtig zu einem großen Teil aus massiver sozialpolitischer Propaganda. Diese verschwieg allerdings, dass ein wirtschaftlicher Anpassungsprozess auch mit Härten verbunden sein würde. So rief das Regime durch seine überzogenen Versprechungen eine unrealistische Erwartungshaltung hervor, die auch nach dem Abklingen der ersten Euphorie nach dem Anschluss zwangsläufig in der einen oder anderen Form nachwirken bzw. sich zumindest zeitweise äußerst negativ auswirken konnte. Der Kriegsausbruch schuf dann wieder eine neue Situation, sodass die Frage nach der langfristigen Tragfähigkeit des Versprechens der „Volksgemeinschaft“ aufgrund der kurzen Friedenszeit insbesondere für den Reichsgau Sudetenland und die österreichischen Reichsgaue noch weniger als für das alte Reichsgebiet (inklusive dem Saarland) beantwortet werden kann.80 Daher stellt sich insbesondere die Frage, ob sich – neben vielen anderen Faktoren – möglicherweise die Hoffnung auf eine nach dem Krieg erfolgende spätere Einlösung der sozial- und wirtschaftspolitischen Versprechen systemstabilisierend auswirkte.

80 Zu

den gerade hinsichtlich der Arbeiterschaft nicht eingelösten Versprechen vgl. unter anderem König, Wolfgang: Volkswagen, Volksempfänger, Volksgemeinschaft. „Volksprodukte“ im Dritten Reich: Vom Scheitern einer nationalsozialistischen Konsumgesellschaft. Paderborn 2004.

Jörg Osterloh

Die nationalsozialistische Politik gegen Juden und Tschechen im Sudetenland 1938–1945 Am 26. September 1938 erklärte Adolf Hitler in seiner im In- und Ausland viel beachteten Rede im Berliner Sportpalast, die „Sudetengebiete“ seien „die letzte territoriale Forderung, die ich Europa zu stellen habe.“ Und er betonte ausdrücklich: „Wir wollen gar keine Tschechen.“1 Allerdings hatte es sich hierbei um bloße Lippenbekenntnisse gehandelt. So verlangte er wenige Tage später in München eine großzügige Grenzregelung zugunsten des Deutschen Reiches und erhob damit Anspruch auf eine Reihe von Gebieten mit unklarer Bevölkerungsmehrheit. In dem Gebiet, das die Tschechoslowakei schließlich infolge des „Münchener Abkommens“ an das Deutsche Reich abtreten musste, lebten rund 3,6 Millionen Menschen – unter ihnen auch Hunderttausende Tschechen. Ihre genaue Zahl ist umstritten, fest steht aber: 1930, beim letzten Zensus in der Ersten Tschechoslowakischen Republik, hatten die Zählkommissare in den Gerichtsbezirken des späteren Reichsgaus Sudetenland mehr als 725 000 Tschechen registriert. Und neben ihnen gab es noch eine zweite nennenswerte Minderheit: Die Statistiken von 1930 wiesen auch rund 29 000 Juden, die sich in der Mehrzahl zur deutschen Nationalität bekannt hatten, für die böhmisch-mährischen Grenzregionen aus.2 Mitte Mai 1939 vermerkten die Mitarbeiter des Statistischen Reichsamtes bei der Volkszählung des Großdeutschen Reiches im neu geschaffenen Reichsgau Sudetenland (zu dem allerdings nicht die gesamten annektierten Gebiete gehörten)3 nur etwa 290 000 Tschechen. Diese stellten damit aber immer noch rund zehn Prozent der Gesamtbevölkerung des Gaues. Die übrigen Tschechen waren entweder nach Innerböhmen geflohen oder hatten sich beim Zensus zur deutschen Volkszugehörigkeit bekannt. Auch die Auswirkungen der antijüdischen Politik des nationalsozialistischen Regimes traten bei der Volkszählung bereits offen zutage: Von den ursprünglich etwa 24 500 Juden auf dem Gebiet des späteren Sudetengaus befanden sich Mitte Mai 1939 noch lediglich rund 2400 dort.4 Soweit die nüchterne, aber bereits viel sagende Statistik. 1

Domarus, Max: Hitler. Reden und Proklamationen 1932–1945. Kommentiert von einem deutschen Zeitgenossen. Band I/2: Triumph. Würzburg 1962, S. 927 und 932. 2 Vgl. Zimmermann, Volker: Die Sudetendeutschen im NS-Staat. Politik und Stimmung im Reichsgau Sudetenland 1938–1945. Essen 1999, S. 65–67 und 279–281. 3 Der größte Teil des infolge des „Münchener Abkommens“ von der ČSR an das Deutsche Reich abgetretenen Gebiets bildete den Sudetengau bzw. ab Mai 1939 den Reichsgau Sudetenland. Daneben wurden einige südböhmische und südmährische Landkreise im Herbst 1938 Bayern beziehungsweise Niederdonau und Oberdonau angeschlossen. Das so genannte Hultschiner Ländchen wiederum wurde dem Regierungsbezirk Oppeln in Schlesien einverleibt. Zur Verwaltungsgliederung vgl. Zimmermann: Die Sudetendeutschen, S. 137–142. 4 Statistik des Deutschen Reichs. Bd. 552,4: Volkszählung. Die Bevölkerung des Deutschen Reichs nach den Ergebnissen der Volkszählung 1939: Die Juden und jüdischen Mischlinge im

292   Jörg Osterloh Dieser Beitrag lenkt den Blick auf die Folgen von „München“ für die jüdische und tschechische Bevölkerung in den vom Deutschen Reich besetzten Grenzregionen der Tschechoslowakei.5 Besonderes Augenmerk gilt den Hintergründen und den Exponenten der Politik des nationalsozialistischen Regimes gegenüber Tschechen und Juden. Zunächst soll aber kurz deren Lage während der Septemberkrise und in den Tagen und Wochen nach der Annexion der Grenzgebiete skizziert werden.

Terror, Vertreibungen, Ausweisungen und Flucht im Herbst 1938 Im September 1938 kulminierten mit der „Sudetenkrise“ die Aggressionen gegen die Juden und Tschechen, aber auch gegen die politischen Gegner der Sudetendeutschen Partei (SdP) in den Grenzgebieten.6 Von entscheidender Bedeutung für die weitere Radikalisierung der Sudetendeutschen war Hitlers Rede auf dem Nürnberger Reichsparteitag der NSDAP am 12. September, in der er erklärte: „Die Deutschen in der Tschecho-Slowakei sind weder wehrlos noch sind sie verlassen. Das möge man zur Kenntnis nehmen.“7 Die darauf folgenden Demonstrationen und Ausschreitungen in den böhmisch-mährischen Grenzregionen besaßen den Charakter einer Kampagne. Übergriffe waren nun an der Tagesordnung. Viele Juden und Tschechen sahen sich im September 1938 zur Flucht nach Innerböhmen gezwungen. Dies ist auch ein Indiz dafür, dass sich insbesondere die jüdische Bevölkerung zu diesem Zeitpunkt bereits weitgehend isoliert und schutzlos sah.8 Auf einen Rückhalt durch die tschechoslowakische Regierung konnte sie nun nicht mehr vertrauen. Bis Ende September waren Tausende geflohen, die ersten Orte deklarierten sich bereits unverhohlen als „judenfrei“.9 Die „Egerer Zeitung“ kommentierte die Fluchtbewegung Mitte des Monats wie folgt:

5 6 7 8

9

Deutschen Reich. Berlin 1944, 4/38–39. Bundesarchiv (im Folgenden: BArch). Bestand: Neue Reichskanzlei. Sign.: R 43 II/591 a: Die Juden und die jüdischen Mischlinge in den Reichs­ teilen nach dem Geschlecht auf Grund der Volkszählung vom 17. Mai 1939 – Vorläufiges Ergebnis. Osterloh, Jörg: Nationalsozialistische Judenverfolgung im Reichsgau Sudetenland 1938–1945, München 2006, S. 252–254. Zimmermann, Volker: Täter und Zuschauer. Die Judenverfolgung im „Sudetengau“ 1938–1945. In: Theresienstädter Studien und Dokumente 1999, S. 180–203, hier S. 188–189. Der Text basiert im Wesentlichen auf: Osterloh: Nationalsozialistische Judenverfolgung. Hierzu jetzt auch die detaillierte Darstellung von Brandes, Detlef: Die Sudetendeutschen im Krisenjahr 1938. 2. Auflage München 2010, S. 259–310. Domarus: Hitler. Bd. I/2, S. 897–906, Zitat S. 905. Vgl. hierzu den eindrucksvollen Bericht von Gedye, G[eorge] E[ric] R.: Die Bastionen fielen. Wie der Faschismus Wien und Prag überrannte. Wien 1947, S. 385–394 (zuerst unter dem Titel: Fallen Bastions. The Central European Tragedy, London 1939). Jews leave Sudetenland. In: Jewish Chronicle vom 23. 9. 1938, S. 22. Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes, Prag. Bestand: Gesandtschaft Prag. Sign.: 332/1–3, Bl. 18056–18057: Eisen­ lohr, an Auswärtiges Amt, Fernschreiben Nr. 361, 14. 9. 1938.

Die nationalsozialistische Politik gegen Juden und Tschechen   293

„Das Bild der Straßen Karlsbads hat sich in den vergangenen Tagen gründlich verändert: waren schon in den letzten Wochen zahlreiche bekannte Firmentafeln verschwunden, so hat nach dem historischen Montag dieser Woche [13. September] die Wandlung des Stadtbildes ein rasendes Tempo anzunehmen begonnen: der Dienstag und der Mittwoch diente einer sehr erheblichen Anzahl von Geschäftsinhabern zur völligen Räumung ihrer Geschäftslokalitäten und ihrer Lagerräumlichkeiten, die heute mit teilweise zertrümmerten Fenstern die Passanten angähnten.“10 Mit dem Hinweis auf die zerstörten Geschäfte erläuterte das Blatt seinen Lesern unverblümt die Gründe für die Flucht vieler Juden und Tschechen. Zahlreiche Erinnerungsschriften von Sudetendeutschen konstatierten später zwar freimütig die Flucht der Juden und Tschechen, zugleich hoben die Chronisten aber hervor, „in ihrem Ort“ sei den Abwanderern nichts geschehen. Zuweilen wurde mit anklagendem Unterton festgestellt, dass es den Juden und Tschechen – im Gegensatz zu den Sudetendeutschen 1945/46, so der unausgesprochene Vorwurf – noch gelungen sei, ihren Besitz zu veräußern oder teilweise mitzunehmen.11 Das „Münchener Abkommen“ bestimmte das weitere Schicksal der Menschen in den Grenzregionen. Die tschechoslowakische Armee räumte vereinbarungs­ gemäß das Abtretungsgebiet bis zum 10. Oktober 1938. Mit ihr verließen auch Zehntausende von tschechoslowakischen Staatsbediensteten mit ihren Familien die betroffene Region. Die Mehrheit der Sudetendeutschen feierte in den ersten Oktobertagen das Ende der „Tschechenherrschaft“; sie begrüßte die Einheiten der Wehrmacht frenetisch und umjubelte Adolf Hitler, der wiederholt durch die besetzten Gebiete reiste, allerorts als Erlöser. In die Freudengesänge der meisten Sudetendeutschen mischten sich aber rasch die ersten Misstöne. Es begann sofort eine massive Verfolgung tatsächlicher wie vermeintlicher Gegner des Nationalsozialismus, von der vor allem Sozialdemokraten, Kommunisten und Tschechen betroffen waren. Binnen kurzem wurde von Angehörigen und Anhängern der Sudetendeutschen Partei ein „ungehemmter Terror“ entfesselt. Neben sudetendeutschen Gegnern des „Anschlusses“ litten besonders die jüdischen und tschechischen Bewohner der Grenzgebiete unter den zahllosen Übergriffen. Viele radikale Sudetendeutsche nutzten die Gelegenheit, sich für die „Tschechenknechtschaft“ der vergangenen zwanzig Jahre zu „rächen“. Es handelte sich aber keineswegs nur um spontane Übergriffe, denn mit der 10 Jäher

Ausgang der Karlsbader Saison. In: Egerer Zeitung vom 17. 9. 1938, S. 5. hierzu etwa: BArch-Lastenausgleichsarchiv. Bestand: Ost-Dok. Sign.: 20/45, I/49: Erich Schuster über Stadt Mährisch-Schönberg, 18. 5. 1963. Ebenda. Sign.: 20/45, I/49: „Dokumentation der sudetendeutschen Volksgruppe. Betr.: Mährisch Schönberg, Teil I 1918–1938“. Ebenda. Sign.: 20/55, III/5, Bl. 123: Georg Eigner über Gemeinde Bratelsbrunn, 21. 11. 1960. Ebenda. Sign.: 20/55, III/5, Bl. 106: Gemeinde Dürnholz, o. J. Ebenda. Sign.: 20/55, III/5, Bl. 71: Franz Slowaczek über Gemeinde Eisgrub, 18. 12. 1960. Ebenda. Sign.: 20/7, I/9, Bl. 23: Heinrich Theumer über Gemeinde Ullersdorf (Kreis Dux), o. D. — Den Abtransport von Material und Maschinen hatten sudetendeutsche Spitzel vielfach dem Sicherheitsdienst (SD) gemeldet. Siehe etwa: Rossijskij Gosudarstvennyj Voennyj Archiv (Russisches Staatliches Militärarchiv, im Folgenden: RGVA). Sign.: 500-1-968, Bl. 185: Stapostelle Dresden an Gestapo, Fernschreiben, 28. 8. 1938.

11 Vgl.

294   Jörg Osterloh Wehrmacht waren aus Gestapo- und SD-Beamten gebildete „Einsatzgruppen“ in die Grenzgebiete eingerückt. Diese verfügten über mithilfe der SdP zusammengestellte Gegnerlisten, auf deren Grundlage zahlreiche Menschen verhaftet wurden,12 was den Übergang zu einer systematischen Verfolgung aller Regimegegner markierte. Der sudetendeutsche Politiker Karl Hermann Frank bestätigte 1946 in einer Vernehmung durch die tschechoslowakische Polizei, dass die Gestapo in den ersten Monaten nach der Besetzung „ständig“ angeblich „links stehende“ Tschechen und Juden verhaftet hatte.13 Die Festgenommen füllten indes nicht nur die Gerichtsgefängnisse und Haftanstalten des Sudetenlandes, sondern auch die Lager im „Altreich“. Bis zum Frühjahr 1939 wurden etwa 10 000 Menschen ihrer Freiheit beraubt, wobei sich nach derzeitiger Quellenlage nicht eindeutig feststellen lässt, wie viele Juden und Tschechen sich darunter befanden. Schon nach wenigen Tagen weitete sich der Terror auch auf die Juden aus. Gewalttätigkeiten, Boykotte gegen Kaufleute, Ausschlüsse aus Berufsverbänden usw. – das Spektrum der Maßnahmen glich jenem im „Altreich“. Es kam zu zahlreichen Verhaftungen wie auch systematischen Vertreibungen von Juden, die an die Ereignisse im österreichischen Burgenland wenige Monate zuvor erinnerten.14 Der wesentliche Unterschied zwischen den Vorgängen in den besetzten Grenzregionen der Tschechoslowakei und der Emigrationspolitik im „Altreich“ und in Österreich war, dass für die dortigen Juden kein vergleichbarer, problemlos zugänglicher „Fluchtraum“ existierte. Aus den Grenzgebieten jedoch waren bis Anfang November bereits rund 12 000 Juden nach Innerböhmen geflohen oder vertrieben worden.15 Der Terror der „Anschlusszeit“ ging dort nahtlos in den Novemberpogrom über, der sich nicht von den Vorgängen in anderen Reichsteilen unterschied. Zu den Tätern zählten sowohl Einheimische – zumeist Mitglieder der Partei oder der SA – wie auch Angehörige von Gestapo und SS aus dem „Altreich“ und Österreich.16 Mancherorts fielen aber auch Tschechen den Übergriffen zum Opfer – mit der Begründung, mit den Juden „gemeinsame Sache“ gemacht zu haben. Die Ausschreitungen brachten die Bevölkerung dieser Gebiete unmittelbar mit dem Terror gegen die Juden in Berührung; vielerorts zum ersten und einzigen Mal in der Geschichte des „Dritten Reiches“. Während dem Pogrom im „Altreich“ aber 12 Vgl.

Zimmermann: Die Sudetendeutschen, S. 71–82. Gebel, Ralf: „Heim ins Reich!“ Konrad Henlein und der Reichsgau Sudetenland (1938–1945). München 1999, S. 64–76. 13 Protokoll über die Einvernahme Karl Hermann Franks in tschechoslowakischer Untersuchungshaft in Prag (Anfang 1946). In: Král, Vaclav (Hg.): Die Deutschen in der Tschechoslowakei 1933–1947. Dokumentensammlung. Praha 1964, S. 338–339 (Dok. 246). 14 Vgl. Osterloh: Judenverfolgung, S. 185–203. Kocourek, Ludomír: Das Schicksal der Juden im Sudetengau im Licht der erhaltenen Quellen. In: Theresienstädter Studien und Dokumente 1997, S. 86–104, hier S. 86–87. 15 Vgl. Heumos, Peter: Die Emigration aus der Tschechoslowakei nach Westeuropa und dem Nahen Osten 1938–1945. Politisch-soziale Struktur, Organisation und Asylbedingungen der tschechischen, jüdischen, deutschen und slowakischen Flüchtlinge während des Nationalsozialismus. Darstellung und Dokumentation. München 1989, S. 16 f. 16 Vgl. Osterloh: Judenverfolgung, S. 203–232. Vgl. auch den Erlebnisbericht von Hahn, Karl ­Josef: Kristallnacht in Karlsbad. Prag 1998.

Die nationalsozialistische Politik gegen Juden und Tschechen   295

fünf Jahre einer sich stetig radikalisierenden „Judenpolitik“ vorangegangen waren, fand er im „Reichsgau Sudetenland“ und den weiteren annektierten Gebieten etwa sechs Wochen nach dem „Anschluss“ statt. Die Reaktion der Sudetendeutschen auf die Ausschreitungen glich dennoch jener der Menschen anderswo im Reich – negative Stimmen ertönten vor allem wegen der sinnlosen Zerstörung von „Werten“, Mitleid mit den Opfern wurde zumindest nicht offen artikuliert.17 Der Pogrom mündete in einer weiteren Flucht- und Vertreibungswelle. Teilweise mussten Juden binnen weniger Tage unter Zwang Erklärungen über eine „freiwillige Ausreise“ unterzeichnen. Den Erfolg ihrer Verdrängungsmaßnahmen konnten Gestapo, Partei und Behörden den erwähnten dürren Zahlen der Volkszählung des Großdeutschen Reiches vom 17. Mai 1939 entnehmen.18 Kaum ein anderes Gebiet des Reiches war Ende 1938 in einem ähnlichen Maße „judenrein“ geworden wie der „Sudetengau“. Im Fall der Tschechen ist zwar keine Anweisung einer Partei- oder Staatsdienststelle bekannt, die belegen würde, dass es im Herbst 1938 zu organisierten und systematischen Vertreibungen gekommen wäre, allerdings richteten sich die Ausweisungen sehr häufig gegen verbliebene tschechoslowakische Staatsbeamte und Mitglieder des tschechischen Turnvereins „Sokol“. Dass es zu keinen flächendeckenden Maßnahmen gekommen war, lag vermutlich an der Rücksichtnahme auf das Ausland. Unter dem permanenten Druck von SdP-Anhängern und der nationalsozialistischen Behörden sahen gleichwohl viele Tschechen keinen anderen Ausweg, als ins Landesinnere zu fliehen. Bis Ende 1938 hatten bereits bis zu 200 000 Tschechen den Sudetengau verlassen.19

„Tschechenpolitik“ im Sudetengau Die deutsch-tschechische „Konfliktgemeinschaft“20 hatte im Oktober 1938 eine neue Eskalationsstufe erreicht. Viele Sudetendeutsche, die sich nach dem Zerfall der Habsburgermonarchie 1918/19 als zu einer ungeliebten Minderheit in einem von ihnen selbst ungewollten Staat degradiert gesehen hatten, hofften nun darauf, die von der SdP und seit Herbst 1937 auch von der reichsdeutschen Propaganda 17 Vgl.

allg. Kershaw, Ian: Antisemitismus und Volksmeinung. Reaktionen auf die Judenverfolgung. In: Broszat, Martin (Hg.): Bayern in der NS-Zeit. Bd. II: Herrschaft und Gesellschaft im Konflikt. Teil A. München, Wien 1979, S. 281–348, hier S. 318–336. 18 Vgl. Statistik des Deutschen Reichs Bd. 552,4: Volkszählung. Die Bevölkerung des Deutschen Reichs nach den Ergebnissen der Volkszählung 1939: Die Juden und jüdischen Mischlinge im Deutschen Reich, Berlin 1944, 4/38–39. 19 Vgl. Zimmermann: Die Sudetendeutschen, S. 65 und S. 98–100. Macek, Jaroslav: Flüchtlinge aus dem Grenzgebiet im Jahre 1938. In: Tschechen und Deutsche – historische Tabus/Češi a němci – historická tabu. Hg. von der Ackermann-Gemeinde und der Bernhard Bolzano-Stiftung. Praha 1995, S. 139–145. 20 Für diesen Terminus siehe Křen, Jan: Die Konfliktgemeinschaft. Tschechen und Deutsche 1780–1918. 2. Auflage. München 2000.

296   Jörg Osterloh lauthals beklagten Folgen der tschechoslowakischen Politik beseitigen zu können. Ihre Klagen bezogen sich unter anderem auf die Bodenreform von 1919, die Unterdrückung der deutschen Sprache und die Benachteiligung des deutschen Schulwesens. Nahezu die gesamte politische Führung der Sudetendeutschen befürwortete ein rigoroses Vorgehen gegen die Tschechen.21 Die Ausrichtung der „Tschechenpolitik“ war im Herbst 1938 aber zunächst noch offen, durfte diese doch nach wie vor die außenpolitischen Interessen des Reiches nicht tangieren. Ein am 20. November 1938 zwischen dem Deutschen Reich und der ČSR geschlossenes Abkommen sollte die rechtliche Stellung der jeweiligen Minderheit klären. Vage war vom „Schutz der beiderseitigen Volksgruppen“ die Rede. Das nationalsozialistische Regime hatte jedoch zu keinem Zeitpunkt die Absicht, der tschechischen Minorität im Sudetengau tatsächlich den verbrieften Schutz zu gewähren.22 Bemerkenswert ist das Vorhaben des SdP-Politikers Ernst Kundt, „Führer“ der in der Zweiten Tschecho-Slowakischen Republik verbliebenen Deutschen, die Wut der Tschechen über das Geschehene auf die Juden zu lenken.23 Spätestens nach der „Zerschlagung der Resttschechei“ und der Errichtung des „Protektorats Böhmen und Mähren“ Mitte März 1939 musste man im Sudetengau die dauerhafte Anwesenheit einer starken tschechischen Minderheit zur Kenntnis nehmen. Während aus der Gauhauptstadt Reichenberg (Liberec) nun Forderungen nach einer systematischen Abschiebung der Tschechen in das „Protektorat“ laut wurden, ertönte von dort erheblicher Widerspruch. Die Vorstellungen der Gauleitung des Sudetenlandes gingen deshalb dahin, den „Volkstumskampf“ der Zwischenkriegszeit als „Grenzlandkampf“ fortzuführen. Durch die SS und seitens der Protektoratsverwaltung kam aber auch ein rassenpolitischer Ansatz ins Spiel: Im Sommer 1940 keimte der Gedanke auf, dass ein Großteil der Tschechen assimilierbar sei – in der NS-Terminologie nannte sich dieses Konzept „Umvolkung“. Hitler selbst hieß das „Umvolkungskonzept“ im September 1940 gut und wies Karl Hermann Frank, zu diesem Zeitpunkt Staatssekretär beim Reichsprotektor in Prag, an, die „Verdeutschung“ des böhmischen und mährischen Raumes vorzubereiten. Die Pläne sahen vor, die tschechische Bevölkerung in verschiedene Klassen, von „rassisch wertvoll“ bis hin zu „rassisch unbrauchbar“, einzuteilen. In der Rassenhierarchie der Nationalsozialisten nahmen die Tschechen unter den slawischen Völkern einen relativ privilegierten Rang ein; so galten selbst für Reinhard Heydrich Anfang 1942 immerhin 40 bis 60  Prozent von ihnen als „eindeutschungsfähig“. Erheblich radikaler als bei den meisten sudetendeutschen Volkstumspolitikern 21 Zu

den Gravamina auch Brandes: Die Sudetendeutschen, S. 1–23. Zur „Tschechenpolitik“ vgl. allgemein: Zimmermann: Die Sudetendeutschen, v. a. S. 279–337. Kural, Václav/Radvanovský, Zdeněk a kol.: „Sudety“ pod Hákovým Křížem [Die „Sudetengebiete“ unter dem Hakenkreuz]. Ústí nad Labem 2002. 22 Vertrag zwischen dem Deutschen Reich und der Tschechoslowakischen Republik über Staatsangehörigkeits- und Optionsfragen vom 20. 11. 1938. In: Reichsgesetzblatt. Teil II. 1938, S. 895–900. 23 BArch. Sign.: R 43 II/1498: Kundt-Niederschrift, S. 65–68.

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waren indes die Pläne der SS für die „nichteindeutschungsfähigen“ Tschechen: Massenhafte Aussiedlung, aber auch physische Vernichtung waren für sie vorgesehen. Dass die „Umvolkung“ weitestgehend im Planungsstadium stecken blieb, lag am Verlauf des Krieges.24 Die praktische „Tschechenpolitik“ im Reichsgau Sudetenland hingegen ließ kaum erkennen, dass Rassenplaner in Berlin und Prag in einem Teil der Tschechen potentielle „Volksgenossen“ sahen. Um es in eine einfache Formel zu bringen: Gauleiter Konrad Henlein und seine Mitarbeiter förderten, was deutsch, und hemmten, was tschechisch war. Tschechen besaßen keine politischen und kulturellen Betätigungsmöglichkeiten, auf wirtschaftlichem Gebiet wurden sie radikal eingeschränkt. Ein erstes Signal war das Verbot vom Dezember 1938, die tschechische Sprache in Behörden und Ämtern zu gebrauchen. Zugleich verschwanden tschechische Aufschriften aus dem Stadtbild, so etwa auf Orts- und Bahnhofsschildern. Tschechische politische Parteien waren verboten; ebenso war den Tschechen die Mitgliedschaft in der NSDAP und den ihr angeschlossenen Gliederungen unmöglich, mit gewissen Ausnahmen bei der Deutschen Arbeitsfront. Eine wichtige Rolle bei der Zerschlagung des kulturellen Lebens der tschechischen Bevölkerungsminderheit spielte der Stillhaltekommissar für Organisationen (Stiko) im Gau Sudetenland, der bereits ab Oktober 1938 das gesamte dortige Vereins- und Organisationswesen neu ordnen sollte. Dies betraf zwar grundsätzlich alle Organisationen des Gaues, aber die jüdischen wurden ausnahmslos, die tschechischen bis auf einen kümmerlichen Rest aufgelöst. Das dabei sichergestellte Vermögen, es handelte sich allein bei den tschechischen Vereinen um immerhin rund 142 Mil­ lionen RM, floss überwiegend auf die Konten der NSDAP im Gau.25 Der folgenreichste Eingriff in die kulturelle Autonomie der tschechischen Bevölkerungsgruppe war die Schulpolitik des nationalsozialistischen Regimes. Bereits am 8. November 1938 erging eine Weisung Henleins, dass Schulen mit tschechischer Unterrichtssprache nur in den Gegenden mit einer „bodenständigen Bevölkerung“ erlaubt würden. Vor allem im Regierungsbezirk Aussig (Ústí nad Labem), wo erst in den vergangenen Jahrzehnten zahlreiche Tschechen zugewandert waren, sollten daher nach dem Willen des zuständigen Regierungspräsidenten Hans Krebs keine Minderheitenschulen bestehen bleiben. Die tschechischen Kinder sollten auf diesem Weg in die deutschen Schulen gezwungen werden. Aber auch im Regierungsbezirk Troppau (Opava) mit einem tschechischen Bevölkerungsanteil von rund 20  Prozent durften ab dem Schuljahr 1941 keine Kinder mehr an Bürgerschulen mit tschechischer Unterrichtssprache aufgenommen werden. Gleichfalls wurde ihnen aber auch der Besuch deutscher Fachschulen unter24 Heinemann,

Isabel: „Rasse, Siedlung, deutsches Blut“. Das Rasse- und Siedlungshauptamt der SS und die rassenpolitische Neuordnung Europas. Göttingen 2003, S. 176–184. Zimmermann: Die Sudetendeutschen, S. 287–296 und S. 305–309. Siehe jetzt auch Küpper, René: Karl Hermann Frank (1898–1946). Politische Biographie eines sudetendeutschen Nationalsozialisten. München 2010, S. 164–178 und S. 241–252. 25 Zimmermann: Die Sudetendeutschen, S. 296–302. Zum Stiko vgl. ebenda, S. 163–170. Gebel: „Heim ins Reich!“, S. 119–128, 284. Osterloh: Judenverfolgung, S. 263–300.

298   Jörg Osterloh sagt. Damit wurden soziale Aufstiegsmöglichkeiten für Tschechen radikal beschnitten, die durch diese Maßnahme langfristig aus dem Gau verdrängt werden sollten. Denn Tschechen, die qualifizierte Berufe ergreifen wollten, mussten entweder darauf verzichten, oder aber in das „Protektorat“ abwandern.26 Ein Hauptaugenmerk sudetendeutscher NS-Funktionäre galt von Anfang an der „Wiedergutmachung“ der tschechoslowakischen Bodenreform von 1919, die zahlreiche tschechische Landwirte auf ehedem deutschen Grundbesitz im Sudetenland geführt hatte.27 Die tschechischen Bauern galten als Haupthindernis auf dem Weg zur vollständigen „Germanisierung“ des „sudetendeutschen Raumes“. Zugleich hatte Konrad Henlein bereits Mitte Oktober 1938 argumentiert, dass die Bodenreform einer der Hauptgründe für den wirtschaftlichen Niedergang der Sudetendeutschen in der ČSR gewesen sei.28 Die Entscheidung, ob die Tschechen von den Gütern vertrieben werden sollten, wurde den Sudetendeutschen jedoch aus der Hand genommen: Berlin ordnete aus außenpolitischen Gründen zunächst Zurückhaltung an. Aber auch nach Kriegsbeginn kam die „Wiedergutmachung“ nicht voran; dies lag vor allem am Veto Heinrich Himmlers, der seit 1939 als Reichskommissar für die Festigung des deutschen Volkstums mit der „Rückführung“ so genannter Volksdeutscher aus Polen und anderen Gebieten in das Reich betraut war. Da er diese Aufgabe im Sudetengau erst nach Kriegsende anpacken wollte, setzte er zur Enttäuschung des Reichslandwirtschaftsministeriums und der Gauleitung in Reichenberg auch für die flächendeckende und systematische „Wiedergutmachung“ der Bodenreform einen Aufschub durch.29 Indes griffen die sudetendeutschen Behörden von Anfang an auf Betriebe von Tschechen zu, indem sie diese unter fadenscheinigen Begründungen beschlagnahmten beziehungsweise auf Höfen Geflüchteter kommissarische Verwalter einsetzten. Bereits am 25. Oktober 1938 etwa erließ der Sonderbeauftragte des Reichsnährstandes im Sudetenland einen Aufruf an alle Bezirkshauptleute, umgehend sämtlichen Grundbesitz von Tschechen und Juden festzustellen. Die treuhänderische Verwaltung und letztlich der Verkauf des Bodens sollten vorbereitet werden. Da die tschechischen Eigentümer ihren Besitz zumeist nicht freiwillig veräußern wollten, griffen die deutschen Behörden unter fadenscheinigen Begründungen zum Mittel der Beschlagnahme. Ein Erlass Henleins vom 12. November ordnete die Treuhandverwaltung an, wenn eine ordnungsgemäße Geschäftsführung durch Abwesenheit der hierzu berechtigten Personen oder aus sonstigen „zwingenden Gründen“ nicht gewährleistet war.30 Nach dem Vorbild der entspre26 Zimmermann:

Die Sudetendeutschen, S. 302–305. hierzu Balcar, Jaromír: Instrument im Volkstumskampf? Die Anfänge der Bodenreform in der Tschechoslowakei 1919/29. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 46 (1998), S. 391– 428. Puttkamer, Joachim von: Die Tschechoslowakische Bodenreform von 1919: Soziale Umgestaltung als Fundament der Republik. In Bohemia 46/2 (2005), S. 315–342. 28 BArch. Sign.: R 1501/5415, Bl. 113: Niederschrift einer Besprechung über Boden- und Siedlungsfragen in den sudetendeutschen Gebieten vom 13. 10. 1938. 29 Vgl. Zimmermann: Die Sudetendeutschen, S. 311. 30 Státní oblastní archiv Litoměřice. Bestand: Úřad vládního prezidenta (Behörde des Regierungspräsidenten). Sign.: PS, Kt. 29: Auszug aus der Anordnung des Reichskommissars für die

27 Siehe

Die nationalsozialistische Politik gegen Juden und Tschechen   299

chenden Erlasse im „Altreich“ und in Österreich erging am 12. Mai 1939 die Verordnung über die Einziehung volks- und staatsfeindlichen Vermögens in den ­sudetendeutschen Gebieten, der zufolge der Reichsstatthalter oder von ihm beauftragte Stellen das „Vermögen von Personen oder Personenvereinigungen, die volks- oder staatsfeindliche Bestrebungen gefördert“ hatten, zugunsten des Reiches einziehen konnte.31 Henlein hatte die Gestapo mit dieser Aufgabe betraut, woraufhin die Staatspolizeistellen zahlreiche Vermögen beschlagnahmt und in denjenigen Fällen, in denen diese Grundbesitz umfassten, an die Liegenschaftsstellen der Oberfinanzpräsidenten in Karlsbad (Karlovy Vary) und Troppau abgetreten hatten. Auch wenn diese Verordnung in erster Linie der Enteignung jüdischen Besitzes diente, fiel ihr doch zugleich auch der Besitz zahlreicher Tschechen zum Opfer. Spätestens als Berlin Ende Februar 1940 das „Reichserbhofrecht“ im Reichsgau einführte, war endgültig klar, dass tschechische Landwirte im Sudetenland generell keine Zukunft haben sollten. Fortan konnte nur noch Bauer sein, wer „deutschen oder stammesgleichen Blutes“ war und seine „arische“ Abstammung bis in das Jahr 1800 nachweisen konnte. Bauern, auf die diese Kriterien nicht zutrafen, konnte die Erbschaft verweigert werden.32 Dies musste zwangsläufig das Ende der tschechischen Bauern im Sudetengau binnen einer Generation bedeuten. Bis Oktober 1943 hatte das Reich auf unterschiedlichen Wegen bereits ungefähr 75 000 ha Boden im Besitz von tschechischen Bauern in seine Hand gebracht, darunter bereits 65 000 ha Bodenreformbesitz.33 Die Enteignungen und Aussiedlungen von tschechischen Bauern standen im direkten Kontext der Ansiedlung von „Volksdeutschen“ im Sudetengau. Die „Neubildung deutschen Bauerntums“ spielte insbesondere in den Landkreisen mit einem hohen tschechischen Bevölkerungsanteil im Osten des Reichsgaus eine entscheidende Rolle, wo die Bevölkerungsverhältnisse zugunsten der Sudetendeutschen verschoben werden sollten. Als im September 1942 schließlich die ersten Volksdeutschen im Sudetenland eintrafen, richtete Henlein einen „Ansiedlungsstab“ ein. Die große Zahl von Enteignungen 1942 und 1943 korrespondierte mit den Ansiedlungen; bis Mitte 1944 kamen insgesamt rund 3200 Personen, überwiegend aus Südtirol, in den Sudetengau.34 Ebenso wie aus der Landwirtschaft wurden die Tschechen aus Industrie, Handel und Handwerk verdrängt, tschechische Bewerber bei der Erteilung von Gewerbekonzessionen benachteiligt. Bereits frühzeitig hatten von der Sudetendeutschen Partei organisierte Boykotte tschechische Unternehmer und Einzelhändler sudetendeutschen Gebiete vom 12. 11. 1938. Vgl. auch die Pressemeldungen über Henleins Anordnung, u. a.: Zur Einsetzung und Bestätigung von kommissarischen Leitern. In: TeplitzSchönauer Anzeiger vom 18. 11. 1938. 31 Verordnung über die Einziehung volks- und staatsfeindlichen Vermögens in den sudetendeutschen Gebieten In: Reichsgesetzblatt. Teil I, 1939, S. 911. 32 Verordnung über die Einführung des Erbhofrechts im Reichsgau Sudetenland vom 27. 2. 1940. In: Reichsgesetzblatt. Teil I, 1940, S. 426–434. 33 Vgl. Zimmermann: Die Sudetendeutschen, S. 310–314. 34 Heinemann: „Rasse, Siedlung, deutsches Blut“, S. 182. Zimmermann: Die Sudetendeutschen, S. 316–319.

300   Jörg Osterloh in ihrer Existenz gefährdet.35 Ihren sudetendeutschen Konkurrenten stand zudem seit November 1938 die Möglichkeit offen, über die Reichswirtschaftshilfe zinsverbilligte, reichsverbürgte Kredite zur Ankurbelung oder Erweiterung ihres Geschäfts in Anspruch zu nehmen. Wie die überlieferten Kreditanträge belegen, diente die Reichswirtschaftshilfe in erheblichem Maß der Übernahme von Geschäften geflohener oder vertriebener Tschechen und Juden durch Sudetendeutsche, denen im Rahmen der Kredit­aktion das notwendige Startkapital zur Ver­ fügung gestellt wurde.36 Die tschechischen Betriebe in den „übersetzten“ (also überfüllten) Branchen wurden geschlossen, die „freigesetzten“ Angestellten dem Arbeitseinsatz zugeführt. Zahlreiche Tschechen sahen sich aufgrund der Vernichtung ihrer wirtschaftlichen Existenz aus dem Sudetengau in das „Protektorat Böhmen und Mähren“ gedrängt, häufig wurden sie auch direkt zur „Aussiedlung“ aufgefordert. Im August 1943 gab Henlein als Ziel der „Tschechenpolitik“ vor, dass der Sudetengau nach dem Krieg „rein deutsch und frei von Tschechen“ sein müsse.37 Die Realität sah im vierten Kriegsjahr gleichwohl anders aus. Die Behörden des Sudetengaus konnten die durch die „Aussiedlung“ zahlreicher Tschechen entstandenen Lücken nicht mehr schließen, sodass der immense Druck auf die tschechischen Bewohner des Sudetengaus sogar Kritik aus den Reihen der sudetendeutschen Politiker hervorrief. So protestierte etwa im Oktober 1943 der Aussiger Regierungspräsident Hans Krebs dagegen, dass die Abschiebung von tschechischen Landwirten aus den Kreisen Gablonz (Jablonec nad Nisou) und Reichenberg nicht mit ihm abgesprochen worden sei. Er betonte, dass er nichts gegen Einzelabschiebungen einzuwenden habe, befürchte jedoch bei Kollektivmaßnahmen negative Rückwirkungen auf die politische Stimmungslage der tschechischen Minorität im Bezirk. Und selbst der nicht eben als „Tschechenfreund“ bekannte Karl Hermann Frank erklärte im Frühjahr 1944, dass mit Rücksicht auf die Kriegsnotwendigkeiten eine Kurskorrektur der Minderheitenpolitik nötig sei – die allerdings nicht durchgeführt wurde.38 Die kriegsbedingte Realpolitik lief den Plänen der sudetendeutschen Nationalsozialisten zunehmend zuwider. Aufgrund des immensen Arbeitskräftebedarfs der Kriegswirtschaft kamen nun auch im Sudetenland in immer größerer Zahl „Fremdarbeiter“ zum Einsatz, unter ihnen viele Tschechen. Im April 1944 etwa arbeiteten dort rund 100 000 „Protektoratsangehörige“, die meisten von ihnen im Regierungsbezirk Aussig. Die Zahl der im Reichsgau Sudetenland registrierten 35 Vgl.

zu den frühen Boykotten und deren Folgen Boyer, Christoph: Nationale Kontrahenten oder Partner? Studien zu den Beziehungen zwischen Tschechen und Deutschen in der Wirtschaft der ČSR (1918–1938). München 1999, S. 151–152. 36 Gesetz zur Sicherung der Kreditversorgung in den sudetendeutschen Gebieten vom 31. Oktober 1938. In: Reichsgesetzblatt. Teil I, 1938, S. 1531. Vgl. allgemein zur Reichswirtschaftshilfe Osterloh: Judenverfolgung, S. 363–391. 37 Státní oblastní archiv Litoměřice. Bestand: Župní vedení (Gauleitung) NSDAP. Sign.: Inv. č 14, kt. 22: Lagebericht Regierungspräsident Troppau für August 1943. 38 Vgl. Zimmermann: Die Sudetendeutschen, S. 295–296, 314–316, 321 und 325.

Die nationalsozialistische Politik gegen Juden und Tschechen   301

Tschechen war damit auf etwa 400 000 angewachsen. Henlein kommentierte im November 1944 diesen Befund mit dem Hinweis, dass unter allen Umständen zu vermeiden sei, dass die tschechischen Arbeitskräfte im Sudetengau sesshaft würden.39 Die ursprünglich intendierte Verdrängung der Tschechen aus dem Sudetengau war damit freilich endgültig gescheitert.

„Judenpolitik“ im Sudetengau Der Antisemitismus war ab Oktober 1938 auch im Sudetenland Staatsdoktrin.40 Binnen weniger Wochen wurden die antijüdischen gesetzlichen Bestimmungen des „Altreichs“ „im Zeitraffer“ in den besetzten Grenzregionen eingeführt. Sie begleiteten den blanken Terror. Besonderes Augenmerk wurde zunächst der Erfassung der jüdischen Bevölkerung gewidmet. Einen vorläufigen Höhepunkt fand die „Verordnungswelle“ mit der Implementierung der „Nürnberger Rassegesetze“ am 27. Dezember 1938.41 Taktische Kompromisse waren kaum noch notwendig: Während sich im „Altreich“ in den vorangegangenen fünf Jahren „ruhige“ und rasante Phasen der „Judenpolitik“ abgewechselt hatten (bei einer sich freilich stetig radikalisierenden Grundtendenz), gab es in den böhmisch-mährischen Grenzregionen im Herbst 1938 keine retardierenden Momente mehr. Schon Ende 1938 waren die Juden dort daher fast vollständig entrechtet. Diese Eskalation stand im unmittelbaren Kontext der außenpolitischen Erfolge des Jahres 1938, namentlich der „Anschlüsse“ Österreichs und natürlich des Sudetenlandes selbst an das Deutsche Reich. Mit anderen Worten brachte die Annexion des Reichsgaus Sudetenland nicht nur die dort ansässigen Juden in den Herrschaftsbereich des nationalsozialistischen Regimes, sondern ermöglichte zugleich ein besonders rabiates Vorgehen gegen sie. Der Reichsgau Sudetenland war aber – anders als Österreich – kein weiteres „Experimentierfeld“ der „Judenpolitik“, die Voraussetzungen hierfür waren durch die Flucht und Vertreibung der meisten Juden im Jahr 1938 auch nicht gegeben.42 Wie im „Altreich“ und in Österreich setzten auch in den zum Reichsgau Sudetenland geformten Grenzregionen und in den übrigen annektierten Gebieten sofort nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten wirtschaftliche Verfolgungsmaßnahmen gegen die jüdische Bevölkerung ein. Die Überführung von 39 Vgl.

ebenda, S. 319–321. Zum Fremdarbeitereinsatz vgl. noch immer grundlegend: Herbert, Ulrich: Fremdarbeiter. Politik und Praxis des „Ausländer-Einsatzes“ in der Kriegswirtschaft des Dritten Reiches. Neuausg. Berlin, Bonn 1999. 40 Herbst, Ludolf: Das nationalsozialistische Deutschland, 1933–1945. Die Entfesselung der Gewalt: Rassismus und Krieg. Frankfurt a. M. 1996, S. 37. Vgl. zum Folgenden allgemein Osterloh: Judenverfolgung. 41 Verordnungsblatt für die sudetendeutschen Gebiete. 1938, S. 145. 42 Vgl. zur Entwicklung der „Judenpolitik“ u. a. die Standardwerke von Adam, Uwe Dietrich: Judenpolitik im Dritten Reich. Düsseldorf 1972. Friedländer, Saul: Das Dritte Reich und die Juden. Bd. 1: Die Jahre der Verfolgung 1933–1939. München 1998.

302   Jörg Osterloh „jüdischem“ in „arischen“ Besitz wurde von den Nationalsozialisten euphemistisch als „Arisierung“ bezeichnet.43 Die „Abwesenheit“ der meisten jüdischen Betriebs- und Geschäftsinhaber determinierte den Ablauf der „Arisierung“ und unterschied diese wesentlich von den Vorgängen im „Altreich“ und in Österreich: Einer­seits mussten die oftmals verlassenen jüdischen Betriebe in Gang gehalten werden, um die Arbeitsplätze in dem von der Wirtschaftskrise stark betroffenen Gebiet zu sichern. Andererseits sollte aber unmittelbar nach dem Einmarsch der Wehrmacht die Überleitung der meisten jüdischen Unternehmen in „arischen“ Besitz betrieben werden. Es entfachte sich rasch ein Verteilungswettkampf um die betroffenen etwa 4000 bis 5000 Betriebe.44 Die „Arisierung“ wurde im Sudetenland initiiert, als im Reich bereits deren Endphase angebrochen war. Während dort die erste „Arisierungsphase“ aber noch fast „völlig außerhalb der Gesetzgebung“45 stattgefunden hatte, wurde im Sudetenland auf die einschlägigen Gesetze des Reiches zurückgegriffen. Das „wilde Kommissarwesen“ in Österreich im März und April 1938 galt den Verantwortlichen in Berlin und Reichenberg als abschreckendes Beispiel. In Wien war die persönliche Bereicherung der Parteigenossen am Besitz von Juden so sehr in den Vordergrund getreten, dass der propagandistische Erfolg des „Anschlusses“ durch die Exzesse beeinträchtigt zu werden drohte.46 Unter allen Umständen sollten ähnliche Auswüchse im Sudetenland vermieden werden. Als ein grundlegendes Problem sollten sich schon bald die divergierenden Interessen Berlins und der sudetendeutschen Behörden erweisen. Der Industrialisierungsgrad des Sudetenlandes war einer der höchsten in Europa. Vorherrschend waren neben verschiedenen Konzernen der Montanindustrie vor allem Betriebe der Textil- und Glasbranche. Das wirtschaftliche Hauptinteresse des Reiches lag in der Nutzbarmachung dieses Potenzials für die Rüstungswirtschaft. Für das Reichswirtschaftsministerium diente die „Arisierung“ im Sudetenland damit auch als ein strukturpolitisches Instrument, während für die sudetendeutschen Behörden der Gedanke der Arbeitsbeschaffung für arbeitslose „Volksgenossen“ bezie-

43 Zum

Begriff: Bajohr, Frank: „Arisierung“ in Hamburg. Die Verdrängung der jüdischen Unternehmer 1933–1945. Hamburg 1997, S. 9, Anm. 1. 44 Diese Zahl lässt sich anhand der Daten aus zehn Städten näherungsweise errechnen; eine umfassende Übersicht über die wirtschaftliche und soziale Lage der jüdischen Bevölkerung im Sudetenland liegt nicht vor. Čechoslovakische Statistik, Bd. 116, Reihe VI, II. Teil: Volkszählung in der Čechoslovakischen Republik vom 1. Dezember 1930. Prag 1935, S. 174–195 (Tab. 5). Die Zahlen entsprachen damit im Wesentlichen jenen im „Altreich“, wo 1933 rund 520 000 Juden lebten und ca. 100 000 selbstständige jüdische Betriebe bestanden, darunter etwa 50 000 Einzelhandelsgeschäfte. Vgl. Barkai, Avraham: Die deutschen Unternehmer und die Judenpolitik im „Dritten Reich“. In: Büttner, Ursula (Hg.): Die Deutschen und die Judenverfolgung im Dritten Reich. Hamburg 1992, S. 207–229, hier S. 209 mit Anm. 10. Zur Kritik an den Zahlen Barkais siehe Bajohr: „Arisierung“, S. 134. 45 Vgl. Barkai: Unternehmer, S. 210. 46 Vgl. Moser, Jonny: Das Unwesen der kommissarischen Verwalter. In: Konrad, Helmut/Neugebauer, Wolfgang (Hg.): Arbeiterbewegung, Faschismus, Nationalbewusstsein. Wien 1983, S. 89–97.

Die nationalsozialistische Politik gegen Juden und Tschechen   303

hungsweise der Erhalt von Arbeitsplätzen in den jüdischen Betrieben von Anfang an leitend war.47 Tatsächlich fiel die Bilanz der „Arisierung“ für die Sudetendeutschen aber ernüchternd aus. Lediglich in der zumeist veralteten Textil- sowie in der Nahrungsmittelindustrie konnten nennenswerte Übernahmen jüdischer Betriebe durch Einheimische verzeichnet werden. In allen kriegswichtigen Branchen waren hingegen überwiegend Interessenten aus dem „Altreich“ zum Zuge gekommen. Die meisten Einzelhandelsunternehmen wurden geschlossen, landwirtschaftliche Betriebe gingen zumeist an Siedlungsgesellschaften und wurden für die Siedlungspolitik des Reiches nutzbar gemacht. „Jüdischer“ Wohnraum wiederum wurde in den meisten Fällen von staatlichen und Parteibehörden beansprucht. Die sudetendeutsche Wirtschaft profitierte daher in erster Linie vom nachlassenden Konkurrenzdruck, da sich die Marktlage durch die zahlreichen Liquidationen von Betrieben in jüdischem und tschechischem Besitz erheblich entspannte.48 Frank Bajohrs in der Forschung mittlerweile zu einem Standard gewordene Typologie, die „Ariseure“ in „aktive und skrupellose Profiteure“, „stille Teilhaber“ und den Juden gegenüber „gutwillige Geschäftsleute“ einzuteilen, stößt im Sudetenland an ihre Grenzen. Denn die jüdischen Eigentümer waren – wie überall im Reich seit Herbst 1938 – kaum noch handelnde Akteure und darüber hinaus ­waren die meisten von ihnen bereits geflohen. Die „Ariseure“ hatten also zumeist keinen direkten Kontakt mehr zu den jüdischen Besitzern. Treffend ist hingegen Bajohrs Einschätzung der „Arisierung“ als „gesellschaftlicher Prozess“.49 Auch im Sudetenland korrumpierte und integrierte sie die Erwerber. Den Beteiligten muss klar gewesen sein, dass die meisten Betriebe ohne „München“ von ihren Eigentümern kaum veräußert worden wären. Erst die „Judenpolitik“ ermöglichte den „Ariseuren“ das berufliche Fortkommen. Man musste somit kein Antisemit sein, um an der wirtschaftlichen Verfolgung teilzuhaben. Der Erwerb eines jüdischen Unternehmens und die rassistische Politik des nationalsozialistischen Regimes standen daher in einem unmittelbaren Kontext. Die „Entjudung“ der sudetendeutschen Wirtschaft konzentrierte sich auf einen kurzen Zeitraum von Ende 1938 bis Frühjahr 1940.50 Viele Betriebe befanden sich noch in treuhänderischer Verwaltung. Der Verkauf der Unternehmen zog sich in zahlreichen Fällen noch Monate, oft auch Jahre hin und kam teilweise bis Kriegsende gar nicht mehr zustande. Der Gesamtwert des „arisierten“ jüdischen 47 Zu

den widerstrebenden Interessen vgl. Osterloh: Judenverfolgung, S. 307–313. Zimmermann: Die Sudetendeutschen, S. 185–189. Zur Bedeutung des Erhalts von Arbeitsplätzen siehe z. B. die Argumentation in: BArch. Sign.: R 2/16174, Bl. 116: 3. Kreditausschusssitzung für die Reichswirtschaftshilfe vom 9. 1. 1939, Vorbericht Firma RA Dr. Erich Hermann, Deutsch-Gabel. 48 Vgl. Osterloh: Judenverfolgung, S. 399–426 und 439–482. 49 Bajohr, Frank: „Arisierung“ als gesellschaftlicher Prozeß. Verhalten, Strategien und Handlungsspielräume jüdischer Eigentümer und „arischer“ Erwerber. In: Wojak, Irmtrud/Hayes, Peter (Hg.): „Arisierung“ im Nationalsozialismus. Jahrbuch zur Geschichte und Wirkung des Holocaust. Frankfurt a. M. 2000, S. 15–30, hier S. 25–28. 50 Vgl. Zimmermann: Die Sudetendeutschen, S. 205.

304   Jörg Osterloh Besitzes lässt sich nicht mehr zweifelsfrei ermitteln. Im Dezember 1940 wurde der Wert des im Sudetenland „arisierten“ Vermögens auf rund 8,7 Milliarden Kč veranschlagt, etwa 1 Milliarde RM.51 Diese Schätzung scheint aber etwas zu hoch gegriffen, da der Gesamtwert des Besitzes von Juden im „Altreich“ für 1933 auf etwa 12 Milliarden RM taxiert wird.52 Die Behandlung der im Reichsgau Sudetenland verbliebenen Juden unterschied sich nicht von der „Judenpolitik“ im „Altreich“. Die Entrechtung und Enteignung wurde zu einem radikalen Ende geführt. Bereits im Juni 1940 war die jüdische Bevölkerung im Sudetengau auf 1886 Personen zusammengeschrumpft; 53 in diesem Jahr kam es schließlich auch zur verstärkten „Konzentration“ zahlreicher Juden in „Judenhäusern“.54 Die Vertreibung aus ihren Wohnungen verfolgte mehrere Ziele: Zunächst die Freimachung des Wohnraums; damit einhergehend die weitere Pauperisierung der Juden; die Konzentrierung möglichst vieler Juden an wenigen Orten, auch damit sie für alle weiteren „Maßnahmen“ leicht verfügbar wurden; und ihre weitgehende Isolation von der Bevölkerung. Etwas später als anderswo setzten im Sudetenland die Deportationen von Juden ein. Über die Gründe hierfür kann nur spekuliert werden, vermutlich lag es an der geringen Zahl der noch verbliebenen Juden. Zwischen Juli 1942 und Februar 1943 wurden rund 400 Juden aus dem Reichsgau Sudetenland direkt in die Vernichtungslager im besetzten Polen geschickt.55 Die folgenden Transporte aus 51 Czechoslovakia.

In: Národní archiv, Bestand: Zahraniční tiskový archiv. Jewish Record, XII/1940, Sign.: k. 586, inv. č. 492, E-14. Siehe auch Zimmermann: Die Sudetendeutschen, S. 205. Diese Schätzung ging von 25 000 betroffenen Juden im Sudetenland aus und veranschlagte damit ein Pro-Kopf-Vermögen von umgerechnet etwa 40 000 RM. 52 Vgl. etwa Barkai, Avraham: „Schicksalsjahr 1938“. Kontinuität und Verschärfung der wirtschaftlichen Ausplünderung der deutschen Juden. In: Pehle, Walter H. (Hg.): Der Judenpogrom 1938. Von der „Reichskristallnacht“ zum Völkermord. Frankfurt a. M. 1988, S. 94–117, hier S. 97 mit Anm. 15. Graml, Hermann: Reichskristallnacht. Antisemitismus und Judenverfolgung im Dritten Reich. 3. Auflage München 1998, S. 172. Hepp, Michael: Deutsche Bank, Dresdner Bank – Erlöse aus Raub, Enteignung und Zwangsarbeit 1933–1945. In: 1999, 15 (2000), S. 64–116, hier S. 71. Die Schätzung beruht auf der Grundlage von 525 000 Juden im Deutschen Reich im Januar 1933 und geht damit von einem Vermögen von rund 23 000 RM pro Person aus. Aber auch die von Junz, Helen B.: Where did all the Money go? The Pre-Nazi Era Wealth of European Jewry. Amsterdam 2001, S. 86, vorgelegten Zahlen, denen zufolge 550 000 „Rassejuden“ im Deutschen Reich (nach Klassifikation gemäß der „Nürnberger ­Gesetze“) 1933 insgesamt 16 Mrd. RM besessen hatten (rund 29 000 RM pro Kopf), belegen, dass die Angaben des „Jewish Record“ zu hoch gegriffen sein dürften. Zu den Zahlen von Junz auch Goschler, Constantin/Lillteicher, Jürgen: Einleitung. In: Dies. (Hg.): „Arisierung“ und Restitution. Die Rückerstattung jüdischen Eigentums in Deutschland und Österreich nach 1945 und 1989. Göttingen 2002, S. 12. 53 RGVA. Sign.: 500-1-431, Bl. 200: Reichsvereinigung der Juden in Deutschland an Reichsministerium des Innern, 2. 7. 1940. 54 Zu den „Judenhäusern“ noch immer grundlegend Buchholz, Marlis: Die hannoverschen Juden­häuser. Zur Situation der Juden in der Zeit der Ghettoisierung und Verfolgung 1941 bis 1945. Hildesheim 1987. 55 Vgl. zu den Deportationen 1942 u. a. BArch. Sign.: R 8150/27: Bestandsmeldung der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland vom 4. 8. 1942. Sowie zum letzten Transport aus dem Reichsgau Sudetenland direkt in die Vernichtungslager: Zemský archiv Opava (Landesarchiv Troppau). Bestand: Vrchní finanční prezident Opava (Oberfinanzpräsident Troppau). Sign.:

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dem Sudetenland, von denen 611 Menschen betroffen waren, steuerten das im Protektorat Böhmen und Mähren befindliche „Altersghetto“ Theresienstadt an. Viele von ihnen wurden allerdings später weiter in die Todeslager deportiert, die 366 Deportierte nicht überlebten.56 Im Mai 1945 erlebten schließlich nur noch etwa 400 Juden ihre Befreiung im Sudetenland.

Fazit Der „Anschluss“ der mehrheitlich deutsch besiedelten Grenzregionen der Tschechoslowakei an das Deutsche Reich war die Voraussetzung für die Massenverbrechen an der dortigen jüdischen Bevölkerung. Sudetendeutsche Apologien beschworen daher nach 1945 die alleinige Verantwortung der Reichsdeutschen für die Untaten. Tatsächlich waren alle grundlegenden Entscheidungen zur „Judenpolitik“ in Berlin getroffen worden, die Vorbereitung und Umsetzung der antijüdischen Maßnahmen bis hin zu den Deportationen hätten aber auch im Sudetenland ohne einen breiten Kreis von Mittätern kaum realisiert werden können.57 Beteiligt waren Angehörige von Gestapo, Polizei, Stadtverwaltungen, Finanz- und Justizbehörden sowie natürlich der Partei. Mitarbeiter der Banken halfen bei der Sicherstellung des Vermögens der Deportierten. Die „Judenpolitik“ und insbesondere die Deportationen waren auch im Sudetenland eine „Kollektivtat“.58 Zwar entsprachen die „Judenpolitik“ und ihre stetige Radikalisierung mit Sicherheit nicht der Wunschvorstellung der sudetendeutschen Bevölkerung, allerdings wurde diese als unvermeidliche „Begleitmusik“ des Regimes, welches das Sudetenland „heim ins Reich“ geholt hatte, hingenommen. Die mit dem „Anschluss“ verbundene Verfolgung der Juden schien daher vielen legitim. Viele Sudetendeutsche nahmen die Verfolgung ihrer jüdischen Nachbarn aus „gruppenegoistischen Motiven“59 bereitwillig und gleichgültig in Kauf. Für die Mehrheit der Sudetendeutschen stand der „Nationalitätenkampf“ mit den Tschechen an erster Stelle. Die Gegnerschaft zur ČSR und, im Zusammenhang damit, der Antislawismus waren seit dem Ende des Habsburgerreiches die

poř.č. 91, inv.č. 2077a, Bl. 38–41: Liste der Juden, die nach den vom Reichssicherheitshauptamt ergangenen Richtlinien nach dem Osten evakuiert wurden, undatiert. 56 Vgl. Terezínská pamětní kniha. Židovské oběti nacistických deportací z Čech a Moravy 1941– 1945. Dil I, II [Theresienstädter Erinnerungsbuch. Die jüdischen Opfer der nazistischen Deportationen aus Böhmen und Mähren 1941–1945. Teil I, II]. Praha 1995, hier Bd. II, S. 1319– 1331. 57 Vgl. Gerlach, Christian: Kalkulierte Morde. Die deutsche Wirtschafts- und Vernichtungspolitik in Weißrußland 1941 bis 1944. Hamburg 1999, S. 21. 58 Paul, Gerhard: Von Psychopathen, Technokraten des Terrors und „ganz gewöhnlichen Deutschen“. Die Täter der Shoah im Spiegel der Forschung. In: Ders. (Hg.): Die Täter der Shoah. Fanatische Nationalsozialisten oder ganz normale Deutsche? Göttingen 2002, S. 13–90, hier S. 15. 59 So Otte, Anton: Einführung. In: Židé v Sudetech/Juden im Sudetenland. Hg. von der Česká křesťanská akademie und der Ackermann-Gemeinde. Praha 2000, S. 11.

306   Jörg Osterloh identitätsstiftende Basis für viele Deutsche in den böhmischen Ländern. Von zentraler Bedeutung für die sudetendeutsche Bevölkerung war die Forderung nach der „Wiedergutmachung“ des durch die Tschechoslowakei vermeintlich erlittenen Unrechts. Die Sudetendeutschen hatten sich bis zum „Anschluss“ als Opfer einer „Tschechisierungskampagne“ Prags gesehen, weshalb nicht nur die „Arisierung“ des jüdischen, sondern vor allem auch die „Germanisierung“ des Besitzes von Tschechen als gerechte Kompensation hierfür betrachtet wurde. Viele antitschechische Maßnahmen der Gauleitung griffen die eigenen Beschwerden über die tschechoslowakische Politik in den vorangegangenen 20 Jahren auf. In diesem letzten Kapitel der wechselhaften und nicht eben konfliktarmen Geschichte des Zusammenlebens von Deutschen und Tschechen in den böhmischen und mährischen Grenzgebieten hatten sudetendeutsche Politiker nicht nur als Helfershelfer Berlins, sondern auch als treibende Kraft bei der Unterdrückung der tschechischen Minderheit eine Schuld auf sich geladen, die eine schwere Hypothek für die zukünftigen Beziehungen zwischen Tschechen und Deutschen darstellte.

Jaromír Balcar

Besetzte Wirtschaft: Die ökonomische ­Durchdringung der Tschechoslowakei und ihre mittel- und langfristigen Auswirkungen1 Einleitung In der Dekade von 1938 bis 1948 geriet die Tschechoslowakei in einen zweifachen imperialen Zugriff: Zunächst fiel der junge Staat, der 1918 aus der Konkursmasse der untergegangenen Habsburgermonarchie entstanden war, im Zuge des Münchener Abkommens vom September 1938 sowie der Zerstückelung des Staates im März 1939, mit der die Besetzung des Kernraums der böhmischen Länder einherging, der NS-Expansionspolitik zum Opfer. Bereits kurz nach der Befreiung im Mai 1945, die zur Wiederherstellung des tschechoslowakischen Staates führte, begann eine Orientierung auf Moskau, die nach der kommunistischen Machtübernahme im Februar 1948 in die zügige Eingliederung der Tschechoslowakei in den entstehenden Ostblock gipfelte. In beiden Fällen ging mit der politischen auch eine weitgehende ökonomische Integration in wirtschaftliche Großräume einher, in denen insbesondere die böhmischen Länder dank ihres hohen Industrialisierungsgrads eine wichtige Rolle spielten: Im Zweiten Weltkrieg avancierten sie zur „Rüstkammer des Reiches“2, später dann zum Maschinenwerk des Sozialismus. Nun stellt „München“ zweifellos den Auftakt zur erzwungenen Integration in den „großdeutschen Wirtschaftsraum“ dar. Aber waren damit auch Weichenstellungen verbunden, die später die Übernahme des staatssozialistischen Wirtschaftssystems begünstigten? Markierte die NS-Besatzung Böhmens und Mährens überhaupt eine längerfristig wirksame ökonomische Zäsur? Um diese Fragen zu beantworten, werden zunächst die ökonomischen Ziele der NS-Okkupationspolitik im „Protektorat Böhmen und Mähren“ beleuchtet. Dem schließt sich die Analyse von zwei Bereichen an, in denen die deutschen Besatzer wesentliche Veränderungen der Wirtschaft vornehmen wollten: die Penetration der böhmisch-mährischen Industrie mit reichsdeutschem Kapital und die personellen Veränderungen 1

Die hier präsentierten Ergebnisse entstammen einem von der DFG geförderten Forschungsprojekt, das von 2005 bis 2008 am Historischen Seminar der Ludwig-Maximilians-Universität München durchgeführt worden ist. Vgl. Balcar, Jaromír/Kučera, Jaroslav: Von der Rüstkammer des Reiches zum Maschinenwerk des Sozialismus. Wirtschaftslenkung in Böhmen und Mähren 1938–1953. Göttingen 2013 (Veröffentlichungen des Collegium Carolinum 128). Das Manuskript des vorliegenden Beitrags wurde im Januar 2009 abgeschlossen. Jaroslav Kučera (Prag) sei für inhaltliche Kritik, Kathrin Drückhammer (Lübeck) für Korrekturarbeiten herzlich gedankt. 2 Dieses Bild wurde wiederholt zur Charakterisierung der bedeutenden Rolle Böhmens und Mährens im Rahmen der NS-Kriegswirtschaft verwendet, so beispielsweise in der „Neuen Zürcher Zeitung“ vom 29. 1. 1943 oder in der „Brüsseler Zeitung“ vom 14. 3. 1943.

308   Jaromír Balcar in den Chefetagen der Wirtschaft. Abschließend sollen die längerfristigen Folgewirkungen dieser Eingriffe im Hinblick auf die Etablierung der staatssozialistischen Planwirtschaft in der Tschechoslowakei diskutiert werden. Behandelt werden im Folgenden also Aspekte einer politischen Wirtschaftsgeschichte der Tschechoslowakei im Sinne Martin Broszats. Im Fokus stehen dabei nicht allein jene Gebiete, die im Zuge des Münchener Abkommens an das Deutsche Reich fielen, sondern auch das böhmisch-mährische Binnenland, das deutsche Truppen im März 1939 besetzten. Die meisten Studien zur Wirtschaftsgeschichte der Tschechoslowakei orientierten sich bis zur „samtenen Revolution“ von 1989 und teilweise auch darüber hinaus weitgehend an den politischen Zäsuren des 20. Jahrhunderts und betonten daher eher die Brüche als die Kontinuitätslinien zwischen den einzelnen Systemen und Wirtschaftsordnungen.3 Gestützt auf neuere Forschungsarbeiten sowie Quellenmaterial vor allem aus Prager Archiven, will dieser Beitrag einige der Verbindungslinien aufzeigen, die aus der Besatzungszeit in die Phase der Wiederherstellung des tschechoslowakischen Staates bis in den Übergang zum Staatssozialismus hineinreichten. Der Zeithorizont reicht somit vom September 1938 bis zur Befreiung im Mai 1945 mit Ausblicken bis in die frühen 1950er Jahre.

NS-Besatzungspolitik im Protektorat zwischen ­„Germanisierung“ und Indienstnahme für die ­Kriegswirtschaft Die mehrheitlich deutsch besiedelten Randgebiete, die die Tschechoslowakei im Zuge des Münchener Abkommens an Deutschland abtreten musste, wurden unmittel­bar nach ihrer Besetzung in die Wirtschaft des „Dritten Reichs“ eingegliedert.4 Im böhmisch-mährischen Binnenland mit seiner überwiegend tschechischen Bevölkerung, das deutsche Truppen im März 1939 besetzten, bewegte sich die NS-Okkupationspolitik dagegen in einem Spannungsfeld zwischen zwei Polen: Den ersten markierten die kurzfristigen ökonomischen Interessen der Besatzer, den zweiten ihre mittel- und langfristigen Pläne, die böhmischen Länder zu „germanisieren“ und als integralen Bestandteil in das „Großdeutsche Reich“ einzugliedern. Beide Ziele ließen sich nur schwer miteinander vereinbaren, weil sie unterschiedliche, ja konträre Strategien erforderten – dieser Umstand war 3

Aus der Fülle der Literatur seien nur einige wichtige Titel genannt: Teichová, Alice: Wirtschaftsgeschichte der Tschechoslowakei 1918 bis 1980. Wien, Köln, Graz 1988. Kosta, Jiří: Abriß der sozialökonomischen Entwicklung der Tschechoslowakei 1945–1977. Stuttgart 1978. Ders.: Die tschechische/tschechoslowakische Wirtschaft im mehrfachen Wandel. Münster 2005. Průcha, Václav: Hospodářské dějiny Československa v 19. a 20. století [Wirtschaftsgeschichte der Tschechoslowakei im 19. und 20. Jahrhundert]. Praha 1974. Faltus, Jozef/Průcha, Václav: Hospodářské dějiny [Wirtschaftsgeschichte]. Praha 1992. 4 Vgl. Zimmermann, Volker: Die Sudetendeutschen im NS-Staat. Politik und Stimmung der Bevölkerung im Reichsgau Sudetenland (1938–1945). Essen 1999, S. 185–225.

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maßgeblich für die Ambivalenz der NS-Besatzungspolitik im „Protektorat Böhmen und Mähren“ im Bereich der Ökonomie verantwortlich. Kurzfristig ging es den Besatzern darum, die finanziellen Ressourcen und das große wirtschaftliche Potential der böhmischen Länder für die eigene Kriegswirtschaft nutzbar zu machen.5 Zunächst bedeutete dies in erster Linie die Erwirtschaftung von Devisen, die das unter chronischem Mangel an harter Währung leidende NS-Regime zur Finanzierung seiner enormen Rüstungsanstrengungen benötigte, die aber auch für die Aufrechterhaltung der Rohstoffimporte der Protektoratswirtschaft unverzichtbar waren. Dazu schien es erforderlich, die gewachsenen Außenhandelsbeziehungen der böhmisch-mährischen Industrie aufrechtzuerhalten und nach Möglichkeit auszubauen.6 Hinter diesem Ziel mussten andere Interessen – insbesondere der Partei und der reichsdeutschen Privatwirtschaft – einstweilen zurückstehen. Bereits am 18. März 1939 hieß es in einem Rundschreiben des Reichswirtschaftsministeriums, dass „jeder Warenabfluss, insbesondere von Rohstoffen und industriellen Halbfabrikaten“, aus dem Protektorat ins Altreich „bis auf weiteres“ unterbleiben müsse.7 Anfang Mai 1939 untersagte eine Weisung von Rudolf Hess allen Dienststellen und Gliederungen der NSDAP, sich in die politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Belange des Protektorats einzumischen.8 Wie ernst es den Reichsbehörden damit war, mussten deutsche Großunternehmen, die Geschäftsbeziehungen zu Protektoratsfirmen aufnehmen wollten, wenig später erfahren: Ein Rundschreiben des Reichswirtschaftsministeriums vom 10. Juli 1939 machte unmissverständlich klar, dass eine Auftragsvergabe an Protektoratsunternehmen nur mit vorheriger behördlicher Genehmigung zulässig sei, die jedoch in der Regel nicht erteilt würde, „da jede weitere Auftragserteilung sich in einer Verschlechterung der Exportbereitschaft der Wirtschaft des Protektorats auswirken und den Eingang von Devisen zur Sicherung der Rohstoffversorgung der dortigen Betriebe ernstlich gefährden muss“.9 5

6

7

8 9

Vgl. Volkmann, Hans-Erich: Die Eingliederung der Sudetengebiete in das Deutsche Reich. In: Ders.: Ökonomie und Expansion. Grundzüge der NS-Wirtschaftspolitik. Hg. von Bernhard Chiari. München 2003, S. 183–205. Erste Überlegungen zu staatlichen Maßnahmen zur Exportförderung im Protektorat finden sich in: Rossijskij Gosudarstvennyj Voennyj Archiv, Moskau (Russländisches Staatliches Militärarchiv, im Folgenden: RGVA). Sign.: 1458-10-8, Bl. 44–45: Schreiben des Generalreferenten Hans Kehrl an das Reichswirtschaftsministerium, Abteilung V Export, vom 23. 3. 1939 betr. Durchführung der Ausfuhrförderungsmassnahmen im Protektorat. RGVA. Sign.: 1458-10-8, Bl. 24–25: Rundschreiben des Reichswirtschaftsministeriums vom 18. 3. 1939 betr. Beschaffung von Rohstoffen und Halbfabrikaten in den Gebieten des Protektorats Böhmen und Mähren. Hervorhebung im Original. Dazu auch, mit näheren Erläuterungen: Ebenda, Bl. 28–29: Schreiben des Generalreferenten Kehrl an den Chef der Zivilverwaltung, Friedrich Bachmann, vom 18. 3. 1939. RGVA. Sign.: 1458-10-11, Bl. 31: Anordnung des Stellvertreters des Führers 98/39 vom 4. 5.  1939 betr. Protektorat Böhmen und Mähren. RGVA. Sign.: 1458-10-11, Bl. 48: Rundschreiben des Reichswirtschaftsministeriums (Dr. Friedrich Landfried) an die „Reichswerke für Erzbergbau und Eisenhütten Hermann Göring“, das Volkswagenwerk, die Junkers Flugzeug- und Motorenwerke, die Mineralöl-Baugesellschaft und die Wirtschaftsgruppe Bauindustrie vom 10. 7. 1939 betr. Erteilung von Aufträgen an die Wirtschaft des Protektorats.

310   Jaromír Balcar Die Strategie der Indienstnahme des böhmisch-mährischen Wirtschaftspotentials begann sich jedoch bereits im September 1939 zu verändern, da der Beginn des Zweiten Weltkriegs zu einer partiellen Lähmung des Welthandels führte, was die exportwirtschaftliche Bedeutung des Protektorats sinken ließ. Ab diesem Zeitpunkt, vor allem aber nach dem Scheitern des Blitzkrieg-Konzepts vor den Toren Moskaus im Winter 1941, wurde im Zuge der „Erzeugungsschlachten“ für den „totalen Krieg“ die beachtliche Industriekapazität des Protektorats primär dazu genutzt, um Wehrmacht, Luftwaffe und Marine mit Rüstungsgütern aller Art zu versorgen.10 Dies zeitigte zwei gravierende Folgen: Erstens wurde damit ein tief greifender Strukturwandel der böhmisch-mährischen Industrie weg von der – veralteten und besonders krisenanfälligen – Leichtindustrie hin zu den modernen, kapitalintensiven Zweigen der Schwer- und Produktionsgüterindustrie eingeleitet. Dieser Strukturwandel, der den Reichsgau wie das Protektorat gleichermaßen betraf, markiert eine der langfristig folgenreichsten ökonomischen Veränderungen der Besatzungszeit. So nahm die Zahl der Beschäftigten in der Eisen- und Metallindustrie zwischen März 1939 und März 1945 um mehr als das Doppelte zu und auch der Chemiesektor verzeichnete deutliche Zugewinne, während andere Branchen – etwa die Textilindustrie, die Glas- und die Keramikproduktion – teilweise drastische Einbußen hinnehmen mussten.11 Damit ging zweitens eine Umorientierung der Außenhandelsbeziehungen Böhmens und Mährens auf das Reich einher – und damit den Staat – als fast alleinigem Abnehmer der Industrieproduktion.12 Für die betroffenen Unternehmen hatte dies doppelt negative Folgen: Zum Einen wurden gewachsene Absatzbeziehungen zerschnitten,

10 Immerhin

waren Böhmen und Mähren bereits die Rüstungsschmiede der Habsburgermonarchie gewesen, und auch in der Zwischenkriegszeit hatte die Tschechoslowakei über eine umfangreiche und moderne Rüstungsindustrie verfügt. Vgl. dazu Hummelberger, Walter: Die Rüstungsindustrie der Tschechoslowakei 1933 bis 1938. In: Forstmeier, Friedrich/Volkmann, Hans-Erich (Hg.): Wirtschaft und Rüstung am Vorabend des Zweiten Weltkrieges. Düsseldorf 1975, S. 308–330. In der Zwischenkriegszeit hatte die Tschechoslowakei zu den sieben größten Waffenproduzenten der Welt gehört. Teichová, Alice: The Protectorate of Bohemia and Moravia (1939–1945): the economic dimension. In: Teich, Mikuláš (Hg.): Bohemia in History. Cambridge 1998, S. 267–305, hier S. 267. Eine Neubewertung anhand der Verlagerung von Wehrmachtsaufträgen an Unternehmen in den besetzten Gebieten, die den Stellenwert des Protektorats für die NS-Kriegswirtschaft wesentlich höher veranschlagt als die bisherige Forschung, nahm jüngst Jonas Scherner vor. Scherner, Jonas: Europas Beitrag zu Hitlers Krieg. Die Verlagerung von Industrieaufträgen der Wehrmacht in die besetzten Gebiete und ihre Bedeutung für die deutsche Rüstung im Zweiten Weltkrieg. In: Buchheim, Christoph/Boldorf, Marcel (Hg.): Europäische Volkswirtschaften unter deutscher Hegemonie 1938–1945. München 2012, S. 69–92. 11 Die Zahlenangaben nach Statistický zpravodaj [Statistische Nachrichten] Nr. 1–2 (1945), S. 8. Vgl. auch Teichová: Protectorate, S. 281 f. 12 Deutschland war bereits in der Zwischenkriegszeit der wichtigste Handelspartner der Tschechoslowakei gewesen, doch im Zuge der Besatzung gerieten Böhmen und Mähren außenhandelspolitisch in eine fast völlige Abhängigkeit vom Reich. Bereits Ende 1940 machte der Handel mit Deutschland 80 Prozent der Einfuhren und 71 Prozent der Ausfuhren des Protektorats aus. Teichová: Protectorate, S. 279.

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die in der Regel finanziell lukrativer waren als die Wehrmachtsaufträge. Zum Anderen bedingte dies vielfach kostspielige Umstellungen der Produktpalette.13 Zwar galt die Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung als oberste Maxime der NS-Protektoratspolitik, um den Ausstoß der Industrieproduktion nicht zu beeinträchtigen.14 Doch obwohl sowohl Reichs- als auch Protektoratsbehörden diese Parole wieder und wieder ausgaben, waren insbesondere Teile der deutschen Protektoratsverwaltung bestrebt, die „Germanisierung“ tschechischer Wirtschaftspositionen in Böhmen und Mähren nicht auf die lange Bank zu schieben, sondern umgehend – also noch während des Krieges – in Angriff zu nehmen. Die Speerspitze dieser Richtung verkörperte Staatssekretär Karl Hermann Frank, nach dem Reichsprotektor der zweitmächtigste Mann an der Moldau. Bereits im Herbst 1940 beauftragte Frank Bernhard Adolf, den neben Walter Bertsch wichtigsten Wirtschaftslenker des Protektorats15, „festzustellen, welche Wirtschaftspositionen im Protektorat in absehbarer Zeit im Interesse der Germanisierung unter deutschen Einfluss kommen müssen.“16 Das Resultat seiner Überlegungen legte Adolf im Frühjahr 1941 in Form einer Denkschrift vor, die die Leitlinien der ökonomischen Germanisierungspolitik umriss.17 Das Ziel der deutschen Politik im Protektorat, das noch zu Lebzeiten Hitlers erreicht werden müsse, sei „die integrale Lösung der tschechischen Frage“, worunter nicht nur die Sicherung der Ostgrenze zu verstehen sei, sondern „die Eindeutschung des gesamten böhmisch-mährischen Raumes, des geopolitischen Zentrums des Großdeutschen Reiches, und die Vernichtung des Tschechentums als eigenständigen Volkes in diesem Raume“. Allerdings sollte die „Germanisierung“ ohne Beeinträchtigung der Wirtschaft erfolgen. „Das bedeutet, daß wir 13 Vgl. dazu

Balcar, Jaromír/Kučera, Jaroslav: Nationalsozialistische Wirtschaftslenkung und unternehmerische Handlungsspielräume im Protektorat Böhmen und Mähren (1939–1945). Staatlicher Druck, Zwangslagen und betriebswirtschaftliches Kalkül. In: Buchheim, Christoph/ Boldorf, Marcel (Hg.): Europäische Volkswirtschaften unter deutscher Hegemonie 1938–1945. München 2012, S. 147–171. 14 Diese Leitlinie hatte Regierungspräsident Bachmann in seiner Funktion als Stabsführer des Chefs der Zivilverwaltung beim Heereskommando 3 den Ministern der Protektoratsregierung bereits unmittelbar nach dem deutschen Einmarsch mitgeteilt. RGVA. Sign.: 1458-10-8, Bl. 4–5: Ausführungen des Regierungspräsidenten Bachmann anlässlich des Empfangs der tschechischen Minister am 16. 3. 1939. 15 Zu Adolf sowie zu den folgenden Ausführungen vgl. Balcar, Jaromír: Bernhard Adolf (1908– 1977). NS-Rüstungspolitik im Protektorat Böhmen und Mähren zwischen Ökonomie und „Germanisierung“. In: Bauer, Theresia/Kraus, Elisabeth/Kuller, Christiane/Süß, Winfried (Hg.): Gesichter der Zeitgeschichte. Deutsche Lebensläufe im 20. Jahrhundert. München 2009, S. 69–84. 16 Národní archív v Praze (Nationalarchiv in Prag, im Folgenden: NA). Bestand: Německé státní ministerstvo (Deutsches Staatsministerium, im Folgenden: NSM). Sign.: Kart. 12, 110-4-2, Bl. 93: Vermerk des Amts des Reichsprotektors vom 2. 11. 1940. 17 Dr. Bernhard Adolf: Die Aufgaben der Wirtschaft bei der Eindeutschung des Protektorates Böhmen und Mähren, undatiert. In: Fremund, Karel/Král, Václav (Hg.): Die Vergangenheit warnt. Dokumente über die Germanisierungs- und Austilgungspolitik der Naziokkupanten in der Tschechoslowakei. Prag 1960, Dok. 16, S. 98–108. Die folgenden Zitate ebenda, Hervorhebung im Original.

312   Jaromír Balcar z­ unächst diejenigen Positionen und Schnittpunkte wirtschaftlicher und damit auch politischer und kultureller Macht in deutsche Hände überführen müssen, von denen aus das Arbeiten des Organismus ‚Böhmen und Mähren‘ und die von ihm im Rahmen Großdeutschlands zu erfüllenden Funktionen gelenkt und geleitet werden.“ Dieses Ziel wollte Adolf in drei Etappen erreichen: Zunächst sollten die zentralen Schaltstellen der Wirtschaft sowie die bedeutsamsten Produktionsmittel „in deutsche Hand überführt“ werden. In der zweiten Etappe sollte dann „die eigentliche Masseneindeutschung mit voller Wucht“ einsetzen, wozu große Anreize zur Assimilierung geschaffen werden sollten: „Ein Deutscher darf nicht Untergebener eines Tschechen sein. Der Deutsche ist immer der Herr.“ Da die deutsche Kultur, so Adolfs Kalkül, „himmelhoch über der tschechischen“ stehe, bedeute die Aufnahme in die deutsche Gesellschaft die „höchste Ehre für jeden Tschechen“. Während die deutschen Wirtschaftsverbände dafür sorgen sollten, dass ihren Mitgliedern ökonomische Vorteile gewährt würden, müssten „Widerstandsherde“ – Unternehmen in tschechischem Besitz – mit wirtschaftlichen Mitteln „niedergekämpft“ werden: „Assimilationsfeindlich eingestellte Einzelpersonen werden in ihrem Fortkommen gehindert, wirtschaftlich zugrundegerichtet, gegebenenfalls zur Auswanderung gezwungen. […] Vollständig assimilierte ehemalige Tschechen dürfen in keiner Weise mehr diffamiert werden.“ In der dritten Etappe sollte schließlich die „[e]ndgültige Liquidation der tschechischen Reste durch staatliche Machtmittel“ erfolgen. Die Denkschrift Bernhard Adolfs enthielt freilich wenig Neues, sondern fasste im Wesentlichen die Gedanken zusammen, die Konstantin von Neurath und Karl Hermann Frank in ihren Memoranden vom August 1940 entwickelt hatten und die von Hitler bereits im Oktober 1940 abgesegnet worden waren.18 Zudem fehlte jeder Hinweis darauf, wie das formulierte Programm in die Praxis umgesetzt werden sollte – etwa welche Unternehmen zuerst in deutsche Hände überführt oder wo und wie die deutschen Manager rekrutiert werden sollten, um die Plätze der zu verdrängenden Tschechen einzunehmen. So kritisierte SS-Obersturmbannführer Gerhard Eilers, Adolfs Denkschrift stelle „nichts weiter dar als das, was bei anderen Stellen, die sich mit diesen Fragen beschäftigen, schon immer erörtert wurde. Die Denkschrift geht in keinem Falle ins Einzelne, was jedoch gerade die Aufgabe des Verfassers gewesen wäre.“19 Mit dieser Kritik konfrontiert, sagte Adolf zu, „eine besondere Kraft mit der Ausarbeitung der Details zu beauftragen.“20 Allem Anschein nach ist es dazu jedoch nicht gekommen, zumindest ist bis heute kein derartiges Dokument aufgefunden worden, und Adolfs Gedanken kreisten seinerzeit um ganz andere Fragen.21 Das heißt jedoch nicht, dass die Wirtschaft 18 Die

Memoranden von Neurath und Frank sind abgedruckt in: Fremund/Král (Hg.), Vergangenheit, Dokument 6, S. 59–73. Zur Zustimmung Hitlers ebenda, Dok. 14, S. 95. 19 NA. Bestand: NSM. Sign.: Kart. 12, 110-4-2, Bl. 54: Gerhard Eilers an Robert Gies vom 15. 7.  1941 betr. Ausarbeitung von Dr. Adolf über die Germanisierung von Wirtschaftspositionen im Protektorat. 20 Ebenda, Bl. 96: Vermerk von Robert Gies vom 13. 9. 1941. 21 Vgl. Balcar: Bernhard Adolf, S. 74 f.

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des Protektorats keinem massiven Germanisierungsdruck ausgesetzt gewesen wäre – im Gegenteil: Mit der reichsdeutschen Großindustrie stand ein durchsetzungsfähiger Akteur bereit, der in Böhmen und Mähren eigene Interessen verfolgte und im Weg der Kapitalpenetration der Protektoratsindustrie gewissermaßen Germanisierungspolitik auf eigene Rechnung betrieb.

Die Durchdringung der böhmisch-mährischen Industrie mit reichsdeutschem Kapital In der Zwischenkriegszeit waren reichsdeutsche Konzerne nur in relativ geringem Umfang an tschechoslowakischen Unternehmen beteiligt gewesen,22 und zwar aus politischen Gründen: Prag wollte die politische Allianz mit den Siegermächten auch ökonomisch untermauern und begrüßte daher amerikanische, britische und französische Kapitalbeteiligungen. Investitionen aus dem potentiell revisionistischen Reich stand man dagegen skeptisch gegenüber: Als beispielsweise im Jahre 1921 der Mannesmann-Konzern 25  Prozent des Aktienkapitals der Prager Eisen-Industrie-Gesellschaft (Pražská železářská společnost) übernahm, musste er die diskriminierende Klausel akzeptieren, seinen Einfluss „niemals zu politischen, sondern immer ausschliesslich zu rein geschäftlichen Zielen“ zu verwenden.23 In den 1930er Jahren, vor dem Hintergrund der zunehmenden Bedrohung durch das nationalsozialistische Deutschland, versuchte die tschechoslowakische Regierung sogar, das reichsdeutsche Kapital aus dem Land zu drängen – allerdings nur mit mäßigem Erfolg, wie das Beispiel der Siemens-Tochter Elektrotechna zeigt.24 Für die reichsdeutsche Industrie stellte die Tschechoslowakei einen wichtigen Brückenkopf für das lukrative Südostgeschäft dar. Die Chance, hier verstärkt Fuß zu fassen, bot sich mit dem Münchener Abkommen, das dem reichsdeutschen Kapital eine Reihe von Einfallstoren öffnete: die direkte Übernahme von Unternehmen oder einzelnen Betrieben, den Erwerb von Aktien im Zuge der „Arisierung“ und die Übernahme von Kapitalbeteiligungen, die zuvor Unternehmen aus dem westlichen Ausland gehalten hatten. Hierbei deckten sich die expansiven 22 Vgl.

dazu und im Folgenden Boyer, Christoph: Reichsdeutsches und tschechisches Kapital zwischen Konkurrenz und Partnerschaft. In: Günther, Jutta/Jajeśniak-Quast, Dagmara (Hg.): Willkommene Investoren oder nationaler Ausverkauf? Ausländische Direktinvestitionen in Ostmitteleuropa im 20. Jahrhundert. Berlin 2006, S. 85–104. Zur Beteiligung ausländischer Konzerne an Unternehmen der Tschechoslowakei in der Zwischenkriegszeit vgl. ausführlich Teichová, Alice: An Economic Background to Munich. International Business and Czechoslovakia 1918–1939. Cambridge 1974. 23 Archív České národní banky, Praha [Archiv der Tschechischen Nationalbank, im Folgenden: AČNB]. Bestand: Živnostenská banka [Gewerbebank, im Folgenden: ŽB]. Sign.: S VIII/d-54/27, Kart. 129/1505: Finanzministerium der ČSR an die Gewerbebank vom 16. 6. 1921. 24 Vgl. Boyer, Christoph: Ökonomische Effizienz und ‚Nationale Verhältnisse‘. Die SiemensTochter Elektrotechna in der Ersten Tschechoslowakischen Republik. In: Bohemia 43/1 (2002), S. 74–88.

314   Jaromír Balcar ­ iele der reichsdeutschen Konzerne weitgehend mit den Interessen der NS-Be­ Z satzungspolitik, der es nicht zuletzt darum ging, die „deutsche Wirtschaft“ im Protektorat zu stabilisieren.25 Die reichsdeutschen Großkonzerne waren auf diesen Moment gut vorbereitet, wie das Beispiel der IG Farbenindustrie verdeutlicht. Deren Volkswirtschaftliche Abteilung hatte in den 1930er Jahren detaillierte Berichte über den Verein für chemische und metallurgische Produktion verfasst, den größten Chemieproduzenten der Tschechoslowakei.26 Die Tinte auf dem Münchener Diktat war noch nicht trocken, da begannen die Vertreter der IG Farben bereits, wegen der Übernahme der in den abzutretenden Grenzgebieten gelegenen Hauptproduktionsstätten des Prager Vereins in Aussig (Ústí nad Labem) und Falkenau (Falknov nad Ohří, heute Sokolov) zu verhandeln – wenn man dabei überhaupt von „Verhandlungen“ sprechen kann: Dank politischer Rückendeckung konnten die Manager der IG Farben die Gegenseite unter extremen Druck setzen, indem sie mit der Enteignung der Produktionsstätten im Grenzland drohten, falls eine „gütliche Einigung“ nicht zustande kommen würde. So blieb dem Prager Verein schließlich nichts anderes übrig, als dem Verkauf der Werke Aussig und Falkenau an ein Konsortium aus IG Farben und Chemischer Fabrik von Heyde zu relativ ungünstigen Bedingungen zuzustimmen.27 In anderen Fällen bedurfte es keines Drucks. Das galt insbesondere für die Kapitalbeteiligungen westeuropäischer Konzerne an Unternehmen in der Tschechoslowakei. Französische und englische Unternehmen waren offenbar Ende der 1930er Jahre vielfach nur allzu gerne bereit, ihre Anteile an tschechoslowakischen Unternehmen an reichsdeutsche Konzerne zu veräußern. Auf diesem Wege stieg der reichsdeutsche Anteil an den ausländischen Kapitalinvestitionen in den böhmischen Ländern, der Ende 1937 nur bei 7,2  Prozent gelegen hatte, bereits bis Ende 1940 auf 47 Prozent an.28 Pointiert formuliert: Nachdem die Appeasement25 Diesem

Ziel diente unter anderem die Gewährung reichsverbürgter Kredite an deutsche Unternehmer im Protektorat, deren Gesamthöhe sich zum 31. 12. 1944 auf 32 Millionen RM belief. Vgl. Jančík, Drahomír/Kubů, Eduard: „Arizace“ a arizátoři. Drobný a střední židovský majetek v  úvěrech Kreditanstalt der Deutschen 1939–1945 [„Arisierung“ und Arisierer. Das kleine und mittlere jüdische Eigentum in den Krediten der Kreditanstalt der Deutschen 1939– 1945]. Praha 2005, S. 41–53. 26 RGVA. Sign.: 1458-10-191, Bl. 1–36: Volkswirtschaftliche Abteilung der I. G. Farbenindustrie AG: Verein für chemische und metallurgische Produktion, Prag (Aussiger Verein) vom 28. 7. 1938. 27 Vgl. Wixforth, Harald: Die Expansion der Dresdner Bank in Europa. München 2006, S. 101– 107. Osterloh, Jörg: Nationalsozialistische Judenverfolgung im Reichsgau Sudetenland 1938– 1945. München 2006, S. 344–347. Zum Hintergrund vgl. Pátek, Jaroslav: Tschechoslowakischdeutsche Kapital- und Kartellbeziehungen in der Chemieindustrie der Zwischenkriegszeit. In: Barth, Boris u. a. (Hg.): Konkurrenzpartnerschaft. Die deutsche und die tschechoslowakische Wirtschaft in der Zwischenkriegszeit. Essen 1999, S. 94–111. 28 Zahlenangaben nach Teichová: Protectorate, S. 286. Vgl. dazu Kubů, Eduard: Vom Kommen und Gehen ausländischen Kapitals in der Tschechoslowakei. In: Günther, Jutta/JajeśniakQuast, Dagmara (Hg.): Willkommene Investoren oder nationaler Ausverkauf? Ausländische Direktinvestitionen in Ostmitteleuropa im 20. Jahrhundert. Berlin 2006, S. 71–84. Šouša, Jiří/ Kubů, Eduard/Novotný, Jiří: Under Threat of Nazi Occupation. The Fate of Multinational In-

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Politiker in London und Paris sich damit abgefunden hatten, dass die Tschechoslowakei künftig allein zur deutschen Einflusssphäre gehören würde, schrieben auch die westeuropäischen Wirtschaftskapitäne diese Region ab. Eine weitere Möglichkeit zur Kapitalpenetration der böhmischen Länder stand reichsdeutschen Unternehmen in Gestalt der „Arisierung“ zur Verfügung, dem legalisierten und staatlich organisierten Raub jüdischen Eigentums.29 Im Zuge dieser schamlosen Ausplünderung wechselten auch in Böhmen und Mähren Aktienpakete und ganze Produktionsstätten im Gesamtwert von über 1,6 Milliarden Kronen den Besitzer.30 Davon profitierten – jedenfalls im Bereich der Industrie – in erster Linie reichsdeutsche Unternehmen, da ihre sudetendeutsche Konkurrenz in der Regel das zur Übernahme notwendige Kapital nicht aufbringen konnte.31 Die Beute war mitunter so lukrativ, dass sich mehrere reichsdeutsche Interessenten ins Gehege kamen – beispielsweise bei der Übernahme der im Sudetenland gelegenen Braunkohlegruben der Gebrüder Petschek und der Familie Weinmann, um die sich die „Reichswerke Hermann Göring“ und die Friedrich Flick KG stritten, bevor sie letztlich zu einem für beide Seiten günstigen Arrangement kamen.32 Nach dem Einmarsch ins Binnenland im März 1939 fungierte die „Arisierung“ zudem kaum mehr verdeckt als Instrument zur „Germanisie-

dustries in the Czech Lands 1938–1945. In: Kobrak, Christopher/Hansen, Per H. (Hg.): European Business, Dictatorship and Political Risk, 1920–1945. New York 2004, S. 206–222. Zur Übernahme von Kapitalbeteiligungen an Unternehmen in Ostmittel- und Südosteuropa, die sich zuvor in den Händen von Unternehmen aus dem westlichen Ausland befunden hatten, vgl. auch Röhr, Werner: Forschungsprobleme zur deutschen Okkupationspolitik im Spiegel der Reihe „Europa unterm Hakenkreuz“. In: Ders. (Hg.): Europa unterm Hakenkreuz. Die Okkupationspolitik des deutschen Faschismus. Bd. 8: Analysen, Quellen, Register. Heidelberg 1996, S. 23–263., hier S. 259–262. 29 Zur „Arisierung“ in den böhmischen Ländern vgl. Kárný, Miroslav: „Konečné řešení“. Genocida českých židů v německé protektorátní politice [„Endlösung“. Der Genozid an den böhmischen Juden in der deutschen Protektoratspolitik]. Praha 1991. Jančík/Kubů: „Arizace“. Kreutzmüller, Christoph/Kučera, Jaroslav: Die Commerzbank und die Vernichtung der jüdischen Gewerbetätigkeit in den böhmischen Ländern und in den Niederlanden. In: Herbst, Ludolf/Weihe, Thomas (Hg.): Die Commerzbank und die Juden 1933–1945. München 2004, S. 173–222. Jančík, Drahomír: Die „Arisierungsaktivitäten“ der Böhmischen Escompte-Bank im Protektorat Böhmen und Mähren 1939–1945. In: Ziegler, Dieter (Hg.): Banken und „Arisierungen“ in Mitteleuropa während des Nationalsozialismus (Geld und Kapital. Jahrbuch der Gesellschaft für mitteleuropäische Banken- und Sparkassengeschichte). Stuttgart 2002, S. 143–173. 30 Král, Václav: Otázky hospodářského a sociálního vývoje v českých zemích v letech 1938–1945 [Fragen der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung in den böhmischen Ländern 1938– 1945]. 3 Bde. Praha 1959. Bd. 1, S. 59. Teichová: Protectorate, S. 292. 31 Osterloh, Jörg: Judenverfolgung und „Arisierung“ im Reichsgau Sudetenland. In: Glettler, Monika/Lipták, L’ubomír/Míškova, Alena (Hg.): Geteilt, besetzt, beherrscht. Die Tschechoslowakei 1938–1945: Reichsgau Sudetenland, Protektorat Böhmen und Mähren, Slowakei. Essen 2004, S. 211–228, hier S. 225. Vgl. dazu ausführlich ders.: Nationalsozialistische Judenverfolgung, S. 301–405. 32 Vgl. Bähr, Johannes u. a.: Der Flick-Konzern im Dritten Reich. München 2008, S. 322–378. Wixforth, Harald/Ziegler, Dieter: Die Expansion der Reichswerke „Hermann Göring“ in Europa. In: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 2008/1, S. 257–278, hier S. 265–268.

316   Jaromír Balcar rung“ tschechischer Wirtschaftspositionen, wie die Protektoratsregierung ver­ bittert konstatierte.33 Auch die drastische Erhöhung des Aktienkapitals, die fast alle großen Unternehmen Böhmens und Mährens in der Besatzungszeit vornahmen, stellte ein Einfallstor für Kapital aus dem „Altreich“ dar. In manchen Fällen dienten die Kapitalerhöhungen sogar in erster Linie dem Zweck, die Aktienmehrheit des Unternehmens in deutsche Hände zu bringen. So war es beispielsweise bei der Ferdinands-Nordbahn (FNB), dem größten Kohleproduzenten im Protektorat, die sich bis 1940 mehrheitlich in tschechischem Besitz befand. Als die Brünner Waffenwerke im Juli 1940 Kohlefelder und Gruben im Revier von Mährisch-Ostrau (Ostrava) abstoßen wollten, zeigte sowohl die Bergbau- und Hüttengewerkschaft Witkowitz, die damit ihre Kohlebasis erweitern wollte, als auch die Ferdinands-Nordbahn, für die der Gewinn neuer Kohlevorkommen eine Lebensfrage darstellte, großes Interesse. Das Rennen machte schließlich die Ferdinands-Nordbahn, und zwar in erster Linie aus nationalitätenpolitischen Überlegungen: Die Gesellschaft sollte den Kauf nicht aus Rücklagen oder durch Kredite finanzieren, sondern durch die Ausgabe neuer Aktien, die von den Brünner Waffenwerken übernommen wurden, die ihrerseits zum Konzern der „Reichswerke Hermann Göring“ gehörten. „Es liege daher“, so die deutschen Direktoren der FerdinandsNordbahn, „nicht nur im wirtschaftlichen Interesse der FNB, sondern auch im politischen Interesse, der FNB die Felder der Brünner Waffen zuzuweisen, um dadurch eine deutsche Mehrheit bei der FNB zu erreichen.“34 Bei fast all diesen Transaktionen spielten reichsdeutsche Großbanken eine unrühmliche Rolle.35 Zum einen übernahmen die Dresdner Bank und die Deutsche Bank jeweils eine tschechoslowakische Aktienbank – nach dem Münchener Abkommen zunächst die Filialen im Grenzgebiet, später dann auch den Rest inklusive der Prager Zentralen. Zum anderen boten sie reichsdeutschen Investoren, die

33 Eine

entsprechende Eingabe hatte die Protektoratsregierung bereits am 23. Juni 1939 vorbereitet, schickte sie jedoch angesichts der gegen null tendierenden Erfolgschancen der Intervention nie an das Amt des Reichsprotektors ab. Kopper, Christopher: Die „Arisierung“ der deutsch-böhmischen Aktienbanken. In: Barth u. a. (Hg.): Konkurrenzpartnerschaft, S. 236– 245, hier S. 242. 34 NA. Bestand: Úřad řišského protektora – Státní tajemník [Amt des Reichsprotektors – Staatssekretär, im Folgenden: ÚŘP-ST]. Sign.: Kart. 75, Sign. 109-4-1264, Bl. 35–40: Aktenvermerk über die Besprechung am 12. 7. 1940 bei Karl Hermann Frank betr. die Kohlefelder und Gruben der Brünner Waffenwerke. 35 Vgl. im Folgenden James, Harold: Die Deutsche Bank und die „Arisierung“. München 2001, S. 141–184. Kopper: „Arisierung“. Wixforth, Harald: Auftakt zur Ostexpansion. Die Dresdner Bank und die Umgestaltung des Bankwesens im Sudetenland 1938/39. Dresden 2001. Ders.: Expansion, S. 55–394. Kučera, Jaroslav: Der zögerliche Expansionist. Die Commerzbank in den böhmischen Ländern 1938–1945. In: Bankhistorisches Archiv 31 (2005), S. 33–56. Jančík, Drahomír/Kubů, Eduard/Šouša, Jiří: Arisierungsgewinnler. Die Rolle der deutschen Banken bei der „Arisierung“ und Konfiskation jüdischer Vermögen im Protektorat Böhmen und Mähren (1939–1945). Wiesbaden 2011. Neben den reichsdeutschen Großbanken spielte insbesondere bei der „Arisierung“ auch die sudetendeutsche Genossenschaftsbank „Kreditanstalt der Deutschen“ eine nicht zu unterschätzende Rolle. Vgl. Jančík/Kubů: „Arizace“.

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an der Übernahme von Beteiligungen in Böhmen und Mähren interessiert waren, ihre Dienste mit einschlägigen Werbebroschüren an, in denen sie die böhmischen Länder als besonders lukrative Investitionsobjekte anpriesen.36 Der „Auftakt zur Ostexpansion“ (Harald Wixforth) erwies sich für beide Banken als sehr einträg­ liches Geschäft: Sie strichen ansehnliche Vermittlungsprovisionen und Kredit­ zinsen ein und konnten darüber hinaus durch diesen speziellen „Service“ neue Kunden an sich binden. Aufs Ganze gesehen setzten die Besatzer in den böhmischen Ländern somit zwar keine Änderung der Eigentumsordnung ins Werk, aber doch eine relativ umfangreiche Verschiebung der Besitzverhältnisse. Der deutsche Kapitalanteil, der 1938 nur 208 Millionen Kronen betragen hatte, stieg bis 1945 auf 2,4 Milliarden Kronen an.37 Im Zuge dieses Umschichtungsprozesses rissen sich reichsdeutsche Konzerne eine Reihe der bekanntesten Unternehmen der böhmisch-mährischen Industrie unter den Nagel. Als größter Expansionist erwiesen sich die „Reichswerke Hermann Göring“, die sich unter anderem die Bergbau- und Hüttengewerkschaft Witkowitz (Vítkovice), die Poldihütte sowie die Škoda- und die Brünner Waffenwerke einverleibten.38 Wenn man sich auch bis zum Kriegsbeginn bemühte, diesen Transaktionen den Schein der Legalität zu geben – Richard J. Overy sprach in diesem Zusammenhang von einem „curious legalism“39 –, verbargen sich dahinter nur allzu oft Drohungen, Erpressungen und nackte Gewalt, deren Opfer in erster Linie jüdische Unternehmer und Aktionäre sowie ausländische, aber auch tschechische Kapitalgesellschaften waren. Allerdings wurden – anders als im „Reichsgau Sudetenland“ – die tschechischen Wirtschaftspositionen im „Protektorat Böhmen und Mähren“ keineswegs vollständig geschleift.40 Eine Reihe wichtiger Unternehmen wie beispielsweise der Leder- und Schuhkonzern Baťa, die im Maschinenbau tätige Českomoravská Kolben-Daněk (das Unternehmen firmierte in der Besatzungszeit unter dem ­Namen „Böhmisch-Mährische Maschinenfabrik“), der Verein für chemische und metallurgische Produktion und insbesondere die mächtige Prager Gewerbebank (Živnostenská banka) mit ihren weit verzweigten Industriebeteiligungen blieben – einstweilen zumindest – unangetastet.41 Bisweilen bewahrte sie die deutsche 36 Deutsche

Bank: Das Protektorat Böhmen und Mähren im deutschen Wirtschaftsraum. Berlin 1939. Dresdner Bank: Volk und Wirtschaft im Reichsprotektorat Böhmen und Mähren und in der Slowakei. Berlin 1939. 37 Das entsprach 61,1 Prozent des ausländischen Kapitals in den böhmischen Ländern. Kaden, Helma (Hg.): Nacht über Europa. Bd. 1: Die faschistische Okkupationspolitik in Österreich und der Tschechoslowakei (1938–1945). Köln 1988, S. 47. Die Angabe der reichsdeutschen Investitionen zu Kriegsende stellen freilich allenfalls einen Näherungswert dar. Alice Teichová, die sich auf eine Untersuchung des Statistischen Staatsamts aus dem Jahr 1945 bezieht, gibt ihn mit knapp 1,9 Milliarden Kronen an. Teichová: Protectorate, S. 287. 38 Vgl. Wixforth/Ziegler: Expansion, S. 264–272. 39 Overy, Richard J.: Goering: The Iron Man. London 1984, S. 125 f. 40 Vgl. – allerdings mit etwas anderem Akzent – Kaden: Okkupationspolitik, S. 45. 41 Zur Gewerbebank vgl. Král: Otázky. Bd. 2, S. 213–330. Lacina, Vlastislav: Dějiny bankovnictví v českých zemích [Geschichte des Bankwesens in den böhmischen Ländern]. Praha 1999, S. 298–307. Da die Geschichte der Živnostenská banka jedoch nach wie vor ein Desiderat der

318   Jaromír Balcar Protektoratsverwaltung vor diesem Schicksal, die – schon um ihre eigenen Kompetenzen zu sichern – ein weiteres Ausgreifen reichsdeutscher Konzerne auf das Protektorat verhinderte. So war es etwa im Fall der bereits erwähnten Prager Eisen-Industrie-Gesellschaft, die von Mannesmann und der Gewerbebank dominiert wurde. Als sich die beiden Großaktionäre Anfang 1943 nicht auf die personelle Neubesetzung der Unternehmensspitze einigen konnten, intervenierten mit dem Minister für Wirtschaft und Arbeit, Walter Bertsch, und dem Präsidenten des Zentralverbands der Industrie für Böhmen und Mähren, Bernhard Adolf, die beiden wichtigsten Wirtschaftslenker des Protektorats zugunsten der – tschechischen – Gewerbebank und damit gegen den reichsdeutschen Konzern.42 Damit war die alleinige Machtübernahme von Mannesmann bei Prager Eisen fürs erste abgewendet.43

Das Personalrevirement in den Chefetagen der Industrie Während das Kapital reichsdeutscher Banken und Unternehmen bereits unmittelbar nach „München“ seinen Eroberungsfeldzug in die böhmischen Länder startete und dabei eine Reihe von spektakulären Erfolgen verzeichnen konnte, kam die Ersetzung tschechischer durch deutsche Manager auf den Kommandobrücken der böhmisch-mährischen Industrie nur schleppend voran. Das ist insofern bemerkenswert, als dies eine zentrale Forderung Adolfs bei der Übernahme der Schaltstellen der Wirtschaft markierte, die bereits in der ersten Etappe der „Germanisierung“ erfüllt werden sollte: „Dabei genügt es nicht“, so Adolfs Credo, „lediglich Aktienmajoritäten zu erwerben oder deutsche Generaldirektoren isoliert einzusetzen, vielmehr ist in jedem einzelnen Falle der Einbau eines genügend großen deutschen Führungsstabes erforderlich, damit – bei sparsamstem Einsatz Forschung darstellt, liegen die Motive der deutschen Besatzungsmacht, die mit Abstand wichtigste tschechische Bank nicht in deutsche Hände zu überführen, noch weitgehend im Dunkeln. In einer Besprechung über die Reorganisation des Bankwesens im Protektorat vom 21. 3. 1939 hieß es dazu: „Dem tschechischen Volk ist auch im Bankwesen ein angemessener freier Raum zu belassen.“ Daher sollten neben der Živnostenská banka auch die Legio-Bank, die Agrarbank sowie einige kleinere Banken „von der Erfassung durch deutsche Kreditinstitute […] unbedingt ausgenommen“ bleiben. RGVA. Sign.: 1458-10-8, Bl. 34–36: Vermerk Dr. Rudolf Schicketanz über die am 21. März 1939 abgehaltene Besprechung vom 21. 3. 1939. Angesichts der Tatsache, dass die Besatzungsbehörden bei weit weniger wichtigen Banken und Industrieunternehmen kaum Rücksicht auf tschechische Befindlichkeiten nahmen, klingt dieses Argument allerdings wenig überzeugend. 42 Bundesarchiv Berlin. Sign.: R 8119/6959, Bl. 220: Wilhelm Zangen an Walter Bertsch vom 27. 1. 1943. 43 Vgl. Státní oblastní archiv v Praze [Staatliches Bezirksarchiv in Prag, im Folgenden: SOA Prag]. Bestand: Mimořádný lidový soud v Praze [Außerordentliches Volksgericht Prag, im Folgenden: MLS Prag]. Sign.: 0032/48: Verhörprotokoll des Außerordentlichen Volksgerichts Prag von Ing. Jan Dvořáček vom 24. 4. 1947. Vgl. dazu auch die der Perspektive von Mannesmann bzw. von Wilhelm Zangen verhaftete Darstellung von Wessel, Horst A.: Mannesmann und die tschechoslowakische Röhrenindustrie in der Zwischenkriegszeit. In: Barth u. a. (Hg.): Konkurrenzpartnerschaft, S. 75–93, hier S. 91.

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der vorhandenen deutschen Kräfte – die Leitung des Unternehmens im Sinne der Eindeutschungspolitik restlos gewährleistet ist.“ Auf diesem Weg sollten die Tschechen „aus leitenden und einflußreichen Stellungen in bedeutungslosere“ abgedrängt und eine deutsche Oberschicht geschaffen werden.44 Angesichts des eklatanten Mangels an geeignetem deutschen Personal, der sich mit Fortgang des Krieges noch verschärfte, erwies sich die Umsetzung dieses Programms jedoch als problematisch, wie ein Blick auf die personelle Besetzung der Wirtschaftsverbände im Protektorat zeigt, denen in der NS-Kriegswirtschaft eine wichtige Lenkungs- und Vermittlungsfunktion zukam: Nach einer Aufstellung des hauptamtlichen Personals der Wirtschaftsverbände vom 11. April 1944 waren im Verbandswesen der gewerblichen Wirtschaft des Protektorats insgesamt 3310 Personen beschäftigt, darunter 388 Deutsche (11,7 Prozent) und 2922 Tschechen (88,3 Prozent). Der Löwenanteil entfiel mit 1260 Beschäftigten auf den Zentralverband der Industrie für Böhmen und Mähren und seine Wirtschaftsgruppen: Hier waren 241 Deutsche (19,1 Prozent) und 1019 Tschechen (80,9 Prozent) tätig.45 Auch im Bereich der Industrie ließ sich allenfalls das realisieren, was Adolf im Frühjahr 1941 als unzureichend bezeichnet hatte: die Überführung von Ak­ tienkapital in deutsche Hände und die Einsetzung deutscher Vertrauensmänner in den Unternehmensleitungen oder Aufsichtsgremien. Dies kam ans Licht, als die deutsche Protektoratsverwaltung im Sommer 1943 mit massiven Vorwürfen gegen ihre Wirtschaftspolitik konfrontiert wurde. Deutsche Großkonzerne und die Reichsgruppe Industrie monierten, „das Protektorat schliesse sich zu sehr ab, treibe seine eigene Wirtschaftspolitik und lasse vor allem zu wenig deutsche Kräfte aus dem übrigen Reichsgebiet an leitende Positionen der Protektoratswirtschaft heran. Dieses Bestreben der Abkapselung des Protektorats werde […] mit volkstumspolitischen Erwägungen getarnt.“46 Zwar war diese Kritik mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit taktisch motiviert, da es den reichsdeutschen Unternehmen in erster Linie darum ging, selbst Einfluss auf lukrative Protektoratsbetriebe zu gewinnen. So vermutete Walter Bertsch, der seinerzeit als einziges deutsches Kabinettsmitglied der auf dem Papier autonomen tschechischen Protektoratsregierung dem Ministerium für Wirtschaft und Arbeit vorstand, „dass die Leder- und Schuhwirtschaft des übrigen Reichsgebiets es wohl nicht verwinden könne, dass sie sich bei Bata [sic!] nicht in der gewünschten Weise einnisten könne.“ Die „Aufstellung der wichtigsten Protektoratsfirmen unter deutscher Leitung“, die Bertsch anfertigte, um die Vorwürfe zu entkräften, verdeutlichte indes nur, wie dünn die deutsche Personaldecke in den Spitzenpositionen der böhmisch-mährischen Industrie war. Selbst 44 Adolf:

Die Aufgaben der Wirtschaft. In: Fremund/Král (Hg.): Vergangenheit, S. 102. Sign.: 1458-10-13, Bl. 235–245: Vertretung des Zentralverbands der Industrie für ­Böhmen und Mähren in Berlin an das Reichswirtschaftsministerium, Abt. II Gro II a, vom 11. 4. 1944 betr. Organisation der gewerblichen Wirtschaft im Protektorat/Zahl der beschäftigten Deutschen und Tschechen. 46 NA. Bestand: ÚŘP-ST. Sign.: Kart. 85, Sign. 109-4-1383, Bl. 15: Vermerk Dr. Walter Bertsch vom 26. 6. 1943. Das folgende Zitat ebenda. 45 RGVA.

320   Jaromír Balcar im Vorstand der Gewerbebank, „in der sehr weitreichende industrielle Interessen des hiesigen Raumes konzentriert sind“47, war mit dem Generaldirektor a. D. Dr. Karl Hartmann nur ein einziges deutsches Mitglied vertreten. Ähnlich sah es in vielen Großunternehmen Böhmens und Mährens aus. So war, um nur ein Beispiel zu nennen, im Spätsommer 1941 der bereits erwähnte Bernhard Adolf zum Generaldirektor des Vereins für chemische und metallur­ gische Produktion (Spolek pro chemickou a hutní výrobu) ernannt worden.48 Nachdem Adolf den tschechischen Direktor Karel Martínek, mit dem er den Konzern zunächst gemeinsam geleitet hatte,49 aus dem Unternehmen gedrängt hatte, arbeitete er mit den übrigen Direktoren – darunter ganz überwiegend Tschechen – vertrauensvoll zusammen. In besonderem Maße galt das für Antonín Srba, der Adolf innerhalb des Konzerns loyal zuarbeitete50 – und dabei gleichzeitig im Inlandswiderstand gegen die deutschen Besatzer aktiv war.51 Adolf gelang es zwar, im Lauf der Zeit einige ehemalige „Bundesbrüder“ aus seiner Prager Studentenverbindung in das Unternehmen „einzubauen“, doch abgesehen von Friedrich Kuhn-Weiß, der die Leitung der Außenhandelsabteilung des Konzerns übernahm, spielten sie im Unternehmen allenfalls eine untergeordnete Rolle, da ihnen die nötigen Fachkenntnisse fehlten.52 Das große Personalrevirement blieb somit aus – sehr zum Leidwesen einiger deutscher Angestellter, die mit der Ernennung des neuen Generaldirektors ihre eigene Aufstiegschance innerhalb des Konzerns gewittert hatten. Da der neue Generaldirektor „doch hauptsächlich aus politischen Gründen eingesetzt wurde“, schrieb einer von ihnen im Sommer 1942 verbittert, sei es „ganz unbegreiflich, dass er die Deutschen geradezu zurückdrängt und die Tschechen und Slowaken sichtlich bevorzugt.“53 Zwar sollte man derartige Vorwürfe eines enttäuschten Karrieristen nicht überbewerten. Fest steht jedoch: Wenn sich die Besatzer zur Kontrolle der böhmischmährischen Industrie mit dem „Einbau“ einiger weniger deutscher Manager in die Unternehmensleitungen oder Aufsichtsgremien zufrieden gaben, taten sie das 47 Ebenda

Bl. 12–14: Walter Bertsch an Hans Kehrl vom 28. 6. 1943, Anlage: Aufstellung der wichtigsten Protektoratsfirmen unter deutscher Leitung. 48 AČNB. Bestand: ŽB. Sign.: S VIII/d-65/35, Kart. 176/1553: Beschluß des Verwaltungsrats und des Exekutivausschusses des Vereins für chemische und metallurgische Produktion vom 14. 8. 1941. 49 AČNB. Bestand: ŽB. Sign.: S VIII/d-65/35, Kart. 176/1553: Bernhard Adolf an Jan Dvořáček vom 10. 11. 1941. 50 So bat Adolf Srba beispielsweise im Juni 1942, zur Vorbereitung eines Treffens mit Walter Bertsch, „mir eine ausführliche Zusammenstellung der von Ihnen als notwendig angesehenen zu behandelnden Fragen vorzubereiten.“ NA. Bestand: Fond 71. Sign. Kart. 6: Bernhard Adolf an Antonín Srba vom 17. 6. 1942. 51 Verschiedene Unterlagen zu den Aktivitäten Srbas im Widerstand finden sich in: NA. Bestand: Chemický spolek (Chemischer Verein, im Folgenden: ChS). Sign.: Kart. 3062. 52 SOA Prag. Bestand: MLS Prag. Sign.: 0032/48: Verhörprotokoll des Außerordentlichen Volksgerichts Prag von Dr. Antonín Srba vom 24. 4. 1947. Zur Rolle von Friedrich Kuhn-Weiß im Verein für chemische und metallurgische Produktion vgl. Hachmeister, Lutz: Schleyer. Eine deutsche Geschichte. München 2004, S. 209–211. 53 NA. Bestand: ChS. Sign.: Kart. 2022: Dipl. Ing. Rudolf Steiner an Direktor Wilhelm Nussbaumer vom 2. 7. 1942.

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aufgrund des eklatanten Mangels an geeignetem deutschen Personal – anderenfalls wäre der Austausch des Führungspersonals zweifellos erheblich umfassender ausgefallen. Unter dem Blickwinkel der Kriegswirtschaft erwies sich freilich der Umstand, dass sehr viele Tschechen in den Chefetagen der Protektoratsindustrie verblieben waren, aufs Ganze gesehen als unproblematisch, da sich deutsche wie tschechische Unternehmer und Manager mit demselben Problem konfrontiert sahen:54 Die böhmisch-mährische Industrie war durch die erzwungene Integra­ tion in den „großdeutschen Wirtschaftsraum“ unter Handlungsdruck geraten, da sie nunmehr – insbesondere nach der Aufhebung der Zoll- und Devisengrenze zum 1. Oktober 1940 – mit der technisch und hinsichtlich der Kapazitäten deutlich überlegenen reichsdeutschen Industrie auf einem gemeinsamen Binnenmarkt konkurrieren musste. Modernisierung, Rationalisierung und Kapazitätserweiterung lauteten demnach die Gebote der Stunde. Dazu wurden umfangreiche Investitionsprogramme in Angriff genommen, die sich unter den Bedingungen der Kriegswirtschaft freilich nur dann realisieren ließen, wenn die Produktion als kriegswichtig galt. Insofern dienten beileibe nicht alle Kapitalerhöhungen, die zur Finanzierung der gewaltigen Investitionsleistungen nötig waren, ausschließlich oder auch nur erstrangig dem Ziel, dem reichsdeutschen Kapital ein weiteres Einfallstor zu öffnen.55 So war denn auch die Dimension der eingangs skizzierten Veränderung der Industriestruktur der böhmischen Länder die Folge eines Zusammenspiels von staatlichem Druck und unternehmerischem Kalkül. Einerseits forcierte die Besatzungsmacht im Interesse ihrer Kriegswirtschaft die Umstellung auf Schwerindustrie und Rüstungsproduktion. Zu diesem Zweck wurden nicht kriegswichtige Betriebe zwangsweise stillgelegt, die Belegschaften wiederholt „ausgekämmt“ und Arbeitskräfte gezielt in kriegswichtige Branchen gelenkt. Andererseits lag die Umorientierung auf Produktionsgüter auch im Interesse der Unternehmen selbst, die sich dadurch als kriegswichtig positionieren wollten oder auch mussten. Dass sich die Interessen von Staat und Industrie in diesem Punkt weitgehend deckten, dürfte für das Ausmaß des Wandels der Industriestruktur zumindest mitverantwortlich gewesen sein.

Die Folgen der ökonomischen Veränderungen der ­Besatzungszeit Welche Folgen zeitigte all dies für die Tschechoslowakei nach der Befreiung im Mai 1945? Die hier vertretene These lautet, dass die ökonomischen Veränderungen der Besatzungszeit, die nach „München“ ins Werk gesetzt worden waren, 54 Zur

folgenden Argumentation vgl. ausführlich Balcar/Kučera: Nationalsozialistische Wirtschaftslenkung. 55 So etwa die Interpretation von Mastny, Vojtech: The Czechs under Nazi Rule. The Failure of National Resistance, 1939–1942. New York, London 1971, S. 68.

322   Jaromír Balcar günstige Voraussetzungen für den Übergang zum Staatssozialismus und die ökonomische Integration in den Ostblock schufen. Drei Argumente sprechen für diese Interpretation:56 Den Startschuss auf dem Weg in die Planwirtschaft markierte die Nationalisierung der Banken, Versicherungen und der Großindustrie im Oktober 1945,57 die in der Tschechoslowakei sehr viel größere Ausmaße annahm als in den meisten anderen Staaten West- wie Osteuropas nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Im März 1947 umfasste der nationalisierte Sektor bereits über 60 Prozent der Industriebeschäftigten und rund zwei Drittel der industriellen Kapazität des Staates.58 Zwei Umstände ermöglichten bzw. erleichterten die Nationalisierung in so gewaltigen Dimensionen: erstens das Instrument der „Nationalverwaltung“, das weite Teile der Groß- und Schlüsselindustrien bereits unmittelbar nach der Befreiung unter staatliche Kontrolle und Einflussnahme brachte,59 und zweitens die massive reichsdeutsche Kapitalpenetration in der Besatzungszeit, die mit der weitgehenden Verdrängung des Kapitals der späteren Siegermächte verbunden war. Deutsches Eigentum konnte nämlich nach Kriegsende entschädigungslos konfisziert werden – die faktische Verstaatlichung von Großunternehmen mit englischer, französischer oder amerikanischer Kapitalbeteiligung wäre dagegen sehr viel problematischer gewesen, wie die schwierigen Verhandlungen mit Bern und Washington über das von der Nationalisierung betroffene schweizerische und US-Kapital in der Tschechoslowakei verdeutlichen.60 Die von den 56 Vgl.

ausführlich zur folgenden Argumentation, soweit nicht anders angegeben, Balcar, Jaromír/Kučera, Jaroslav: Von der Gestaltung der Zukunft zur Verwaltung des Mangels. Wirtschaftsplanung in der Tschechoslowakei von der Befreiung bis in die frühen 1950er Jahre. In: Schulze Wessel, Martin/Brenner, Christiane (Hg.): Zukunftsvorstellungen und staatliche Planung im Sozialismus: Die Tschechoslowakei im ostmitteleuropäischen Kontext 1945–1989. München 2010, S. 187–203. 57 Die gesetzliche Grundlage bildete das Dekret des Präsidenten der Republik über die Nationalisierung der Gruben und einiger Industrieunternehmen Nr. 100/1945 Slg. [Sammlung der Gesetze und Verordnungen] vom 24. 10. 1945. In: Jech, Karel/Kaplan, Karel (Hg.): Dekrety prezidenta republiky 1940–1945. Dokumenty [Die Dekrete des Präsidenten der Republik 1940–1945. Dokumente]. 2. Aufl. Brno 2002, Dok. 32, S. 476–490. 58 Der nationalisierte Sektor war de facto sogar noch größer, wenn man die Unternehmen hinzurechnet, die unter Nationalverwaltung standen; diese umfassten weitere 15 Prozent der Industriebeschäftigten. Diese Angaben nach Kosta: Abriß, S. 18 f. 59 Jech, Karel (Hg.): Němci a Maďaři v dekretech prezidenta republiky. Studie a dokumenty 1940–1945 [Die Deutschen und Magyaren in den Dekreten des Präsidenten der Republik. Studien und Dokumente 1940–1945]. Brno 2003, S. 427–435. 60 Vgl. Kuklík, Jan/Jančík, Drahomír/Kubů, Eduard/Novotný, Jiří/Šouša, Jiří: „Spící konta“ ve švýcarských bankách za znárodněný švýcarský majetek v Československu? Československo-švýcarská jednání o tzv. náhradových otázkách 1945–1967 [„Schlafende Konten“ in Schweizer Banken für die Nationalisierung schweizerischen Eigentums in der Tschechoslowakei? Die tschechoslowakisch-schweizerischen Verhandlungen über sog. Entschädigungsfragen 1945– 1967]. In: Harna, Josef/Prokš, Petr (Red.): Studie k moderním dějinám. Sborník prací k 70. narozeninám Vlastislava Laciny [Studien zur modernen Geschichte. Festschrift zum 70. Geburtstag von Vlastislav Lacina]. Praha 2002, S. 445–462. Michálek, Slavomír: Compensation for Nationalized American Property in Czechoslovakia 1945–49. In: Pynsent, Robert B. (Hg.): The Phoney Peace. Power and Culture in Central Europe 1945–1949. London 2000, S. 162– 170. Kuklík, Jan: Znárodněné Československo. Od znárodnění k privatizaci – státní zásahy do vlastnických a majetkových práv v Československu a jinde v Evropě [Die nationalisierte

Besetzte Wirtschaft   323

­ esatzern vorgenommenen massiven Eingriffe in die Besitzstruktur begünstigten B somit tendenziell – erstens – den gigantischen Umfang der Nationalisierung im Herbst 1945. Als dauerhafte Weichenstellung erwies sich – zweitens – die Veränderung der Industriestruktur, die in der Besatzungszeit eingeleitet worden war. Theoretisch wäre es möglich gewesen, die Produktion in den während des Krieges stillgelegten Betrieben der Leichtindustrie wieder aufzunehmen. In der Tat gab es in der ersten Zeit nach der Befreiung Stimmen, die den Strukturwandel der Kriegszeit, der auf eine Zurückdrängung der traditionellen Exportgüterindustrie hinauslief, als „Deformation“ bezeichneten.61 Doch unter anderem aufgrund der Absatzprobleme tschechoslowakischer Produkte auf den Westmärkten, der Erfahrungen aus der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre, die Politikern und Ökonomen aller Couleur noch in den Knochen steckte, sowie der nicht zuletzt daraus resultierenden Hoffnung, eine wie auch immer geartete planwirtschaftliche Ordnung könne derartiges in Zukunft vermeiden, schlug die Tschechoslowakei bereits vor 1948 einen anderen Weg ein: Zwar wurde der im Sommer 1946 ausgearbeitete Zweijahresplan offiziell als „wirtschaftlicher Wiederaufbauplan“ bezeichnet, doch lenkte auch er den Hauptstrom der Investitionsmittel in die Schwerindustrie.62 Und das war erst der Anfang: Bereits 1947 verschob sich das Planziel vom Wiederaufbau zum „Aufbau des Sozialismus“. Um dieses Ziel zu erreichen, sah der gemeinsame Entwurf der Kommunisten und Sozialdemokraten zum ersten Fünfjahresplan einen weiteren strukturellen Umbau vor, der die Schwer- und Investitionsgüter­ industrie zu Lasten der Verbrauchsgüterindustrie bevorzugte63 – später hat man dies als den „eisernen Weg zum Sozialismus“ bezeichnet. Damit eng verbunden war die Frage der außenhandelspolitischen Neuorientierung. Nach der Entkoppelung von Deutschland befand sich die Tschechoslowakei wieder in derselben Position wie schon in der Zwischenkriegszeit: Sie war auf den Import von Rohstoffen und den Export von Industrieprodukten angewiesen. Allerdings zeigte sich bald, dass die tschechoslowakischen Erzeugnisse hinsichtlich Tschechoslowakei. Von der Nationalisierung zur Privatisierung – staatliche Eingriffe in das Eigentum und andere Eigentumsrechte in der Tschechoslowakei und anderswo in Europa]. Praha 2010, S. 200–202 bzw. 290–321. 61 Mrázek, Otakar: Aktuální problémy naší průmyslové výroby [Aktuelle Probleme unserer Industrieproduktion]. In: Nové hospodářství 1 (1945), S. 4. Halbhuber, Jaroslav: Hospodářská politika nového Československa ve světle poznatků moderní ekonomiky. Pokus o rozbor a kritiku [Die Wirtschaftspolitik der neuen Tschechoslowakei im Licht der Erkenntnisse der modernen Ökonomie. Versuch einer Analyse und einer Kritik]. Praha 1946, S. 30. 62 Zum Zweijahresplan vgl. Goldmann, Josef: Tschechoslowakei auf dem Weg in die Planwirtschaft. Überblick der Nachkriegsentwicklung und des Zweijahrplanes. Prag o. J. [1947]. Henderson, Patrick David/Seers, Dudley: Technik und Verlauf des tschechoslowakischen Zweijahrplanes. Prag 1948. 63 NA. Bestand: Hospodářská rada ústředního výboru KSČ (Wirtschaftsrat des ZK der KSČ). Sign.: sv. 35, aj. 270, část 1, 26 f: Záznam o výsledku jednání Národohospodářské komise KSČ a Národohospodářské komise ČSSD o hlavních směrnicích pro přípravu pětiletého plánu [Vermerk über das Ergebnis der Volkswirtschaftlichen Kommissionen der KSČ und der ČSSD über die Hauptrichtlinien für die Vorbereitung des Fünfjahresplans] vom 18. 12. 1947.

324   Jaromír Balcar Qualität, Design und Preis nicht mit denen der westlichen Industriestaaten, allen voran der USA, mithalten konnten. Als Ausweg bot sich eine handelspolitische Orientierung auf das im Entstehen begriffene sozialistische Lager an, das großen Bedarf an schwerindustriellen Gütern hatte und über die Rohstoffe verfügte, die die Tschechoslowakei benötigte. Für diese Entscheidung sprach auch die Geographie, da die Tschechoslowakei damit nicht mehr von Transportwegen durch das potentiell revisionistische Deutschland abhängig war. Um Missverständnissen vorzubeugen, sei abschließend nochmals betont, dass die ökonomischen Konsequenzen der NS-Okkupation die Tschechoslowakei keineswegs zwangsläufig in den Staatssozialismus trieben und dass für diese Entwicklung natürlich nicht allein wirtschaftliche Faktoren ausschlaggebend waren. Die von den Besatzern bewirkten Veränderungen auf dem Gebiet der Wirtschaft schufen jedoch günstige Voraussetzungen für den schnellen und reibungslosen Übergang in die staatssozialistische Planwirtschaft – für einen Weg, den die Tschechoslowakei, anders als die übrigen Staaten Ostmittel- und Südosteuropas, überwiegend aus freien Stücken beschritten hat.

Martin Zückert

Das Münchener Abkommen und die Kirchen Deutungen und Folgen Als die deutsche Wehrmacht infolge des Münchener Abkommens Anfang Oktober 1938 die böhmisch-mährischen Grenzregionen besetzte, vollzog sie damit nicht nur einen weiteren Schritt der nationalsozialistischen Aggressionspolitik. Die Besetzung tschechoslowakischen Gebietes veränderte zugleich die Dimension und die Bedingungen nationalsozialistischer Religionspolitik. Die Auseinandersetzungen zwischen Regime und Kirchen hatten seit 1933 im Wesentlichen vor dem Hintergrund des deutschen Bikonfessionalismus und der langfristigen Entwicklung des Verhältnisses zwischen dem Staat und den christlichen Religionsgemeinschaften in Deutschland stattgefunden. Bereits der „Anschluss“ Österreichs hatte jedoch eine Veränderung mit sich gebracht, da nun ein mehrheitlich katholisches Land, das durch die langfristigen Folgen der josephinischen Reformen, Staatskirchentum und Los-von-Rom-Bewegung geprägt war, unter nationalsozialistische Herrschaft kam.1 Bedingt durch die habsburgische Herrschaft über die böhmischen Länder bis zum Jahr 1918 beeinflussten diese Faktoren auch die religiöse Entwicklung in den im Herbst 1938 besetzten Grenzregionen. Neu war freilich, dass die nationalsozialistische Herrschaft nun auf ein Gebiet übergriff, in dem gesellschaftliche Nationalisierungsprozesse den religiösen Bereich in hohem Maße beeinflusst hatten. Dies zeigte sich insbesondere bei kirchenorganisatorischen Fragen: Die Tschechoslowakische Republik hatte sich nach 1918 bewusst vom Modell eines staatstragenden Katholizismus wie in der Habsburgermonarchie abgegrenzt.2 Unter dem Motto „Weg von Rom“ wurden antikatholische Stimmungen in der Bevölkerung befördert, andere Konfessionen aufgewertet und eine Trennung von Kirche und Staat angestrebt. Mit der Tschechoslowakischen Kirche spaltete sich eine tschechische Reformbewegung von der katholischen Kirche ab, die sich zunehmend als Nationalkirche des neuen Staates verstand. Sie zählte im Jahr 1930 knapp 800 000 Mitglieder. Die bisher nach augsburgischem und helvetischen Bekenntnis organisierten Protestanten gründeten – mit Aus­ nahme der Gemeinden im östlichen Schlesien – nach 1918 national organisierte ­Kirchen: die tschechische „evangelische Kirche der böhmischen Brüder“ (1930 mit knapp 297 000 Mitgliedern) und die „Deutsche evangelische Kirche BöhmenMähren-Schlesien“ (132 000 Mitglieder). Diese Veränderungen waren mit Über1

Zur Entwicklung in Österreich vgl. Moritz, Stefan: Grüß Gott und Heil Hitler. Katholische Kirche und Nationalsozialismus in Österreich. 2. Auflage Wien 2002. 2 Zur kirchengeschichtlichen Entwicklung in der Ersten Tschechoslowakischen Republik vgl. Marek, Pavel: Das Verhältnis zwischen Staat und Kirchen. In: Schulze Wessel, Martin/Zückert, Martin (Hg.): Handbuch der Religions- und Kirchengeschichte der böhmischen Länder und Tschechiens im 20. Jahrhundert. München 2009, S. 3–46.

326   Martin Zückert tritts- und Austrittsbewegungen verbunden, durch die sich das konfessionelle Feld veränderte. Je nach Schätzung verlor die katholische Kirche zwischen 800 000 und zwei Millionen Mitglieder, die entweder konfessionslos wurden oder sich einer anderen Religionsgemeinschaft anschlossen.3 Diese Veränderung betraf in erster Linie die tschechische Gesellschaft in den böhmischen Ländern, doch wurde die Dimension des Wandels als gesamtstaatliches Phänomen wahrgenommen.4 Seit Mitte der zwanziger Jahre kam es wieder zu einer vorsichtigen Annäherung zwischen Staat und katholischer Kirche, die 1928 in den Abschluss eines „Modus Vivendi“ mündete. Die Trennung zwischen Kirche und Staat blieb unvollkommen, Geistliche wurden im Rahmen der „Kongrua“ vorwiegend vom Staat finanziert. Die katholische Kirche blieb mit 8 377 000 Angehörigen in der westlichen Landeshälfte (75  Prozent in Böhmen und 85  Prozent in Mähren-Schlesien) die bei weitem stärkste Konfession, ohne jedoch gesellschaftsprägende Konfession zu sein.5 Auch unter Katholiken tschechischer und deutscher Nationalität setzte sich der Trend einer Nationalisierung fort. Bereits seit der Jahrhundertwende gab es Ansätze, die Diözesangrenzen nach nationalen Gesichtspunkten neu festzulegen. Die volkskirchlich orientierte Bewegung unter den deutschen Katholiken in den dreißiger Jahren war somit sowohl Ausdruck von innerkirchlichen Reformversuchen wie auch einer Annäherung an nationale Einigungsbestrebungen.6 Im Vergleich zu Deutschland traf die nationalsozialistische Kirchenpolitik in den besetzten Randgebieten der Tschechoslowakei seit 1938 somit auf andere Bedingungen: auf andere Prägungen im Verhältnis zwischen Staat, Kirchen und Gesellschaft sowie auf einen hohen Stellenwert nationaler Deutungen und Zuschreibungen in den kirchlichen Milieus. 3

Ebenda, S. 27. Zur konfessionellen Entwicklung der deutschen Bevölkerung in der Tschechoslowakei vgl. Zückert, Martin: Staatlicher Wandel und konfessionelle Formierung. Die Kirchen und die deutschen Bevölkerungsgruppen in der Tschechoslowakei nach 1918. In: Střed 3/1 (2011), S. 39–59. 5 In Böhmen gehörten im Jahr 1930 74,78 Prozent der Bevölkerung der römisch-katholischen Kirche an, in Mähren-Schlesien 85,88 Prozent. Von den Angehörigen der deutschen Nationalität bekannten sich in Böhmen 90,6 Prozent, in Mähren-Schlesien 94 Prozent zur römischkatholischen Kirche. Bei den Angehörigen der tschechoslowakischen Nationalität war der Anteil der Katholiken insbesondere auf Grund der Übertrittbewegung zur Tschechoslowakischen Kirche vor allem in Böhmen mit 67,6 Prozent (Mähren-Schlesien 85,14 Prozent) niedriger. Die Zahlen wurden errechnet gemäß der Angaben bei Albrecht, Alfred: Statistik der deutschen Katholiken in Böhmen und Mähren-Schlesien. In: Donat, Heinrich (Hg.): Die deutschen Katholiken in der Tschechoslowakischen Republik. Eine Sammlung von Beiträgen zur geistigen und religiösen Lage des Katholizismus und des Deutschtums. Unveränderter Nachdruck. München 1970 (Originalausgabe: Warnsdorf 1934), S. 39–73, hier S. 43 f. und 53. Vgl. zudem die Gesamtstatistik bei Bischof, Anna: Konfessionsstatistiken zu den böhmischen Ländern und der Tschechoslowakei im 20. Jahrhundert. In: Schulze Wessel/Zückert (Hg.): Handbuch der Religions- und Kirchengeschichte der böhmischen Länder, S. 899–905. 6 Šebek, Jaroslav: Mezi křížem a národem. Politické prostředí sudetoněmeckého katolicismu v meziválečném Československu [Zwischen Kreuz und Nation. Das politische Milieu des sudetendeutschen Katholizismus in der Tschechoslowakei der Zwischenkriegszeit]. Brno 2006. 4

Das Münchener Abkommen und die Kirchen   327

Der Einfluss des deutsch-tschechischen Antagonismus auf den Kirchensektor verleitete nach dem Herbst 1938 zu weitreichenden Einschätzungen. In einem „Lagebericht für den Regierungsbezirk Aussig“ wurde etwa im Januar 1939 festgestellt: „Die Kirchen sind bisher im Sudetenlande kaum in Erscheinung getreten. Es kann wohl auch, ohne dabei in einem Irrtum zu verfallen, gesagt werden, dass eine Kirchenfrage in dem Sinne, wie sie im Altreich eine überaus grosse politische Bedeutung gewonnen hat, im Sudetenland kaum entstehen wird, da der jahrelange Kampf um die Erhaltung des Volkstums auch die Geistlichen in die gemeinsame Abwehrfront gegen das Tschechentum gestellt hat. Es ist zu erwarten, dass das Erlebnis dieses gemeinsamen Kampfes um das Volkstum den Ausbruch eines Streites um Religionsformen verhindern wird.“7 Mit Blick auf die darauffolgenden Entwicklungen erwiesen sich solche Einschätzungen nicht als zutreffend. Auseinandersetzungen um die gesellschaftliche Rolle der Kirchen wie auch insbesondere das Vorgehen gegen katholische Priester legten Konfliktlinien zwischen dem Regime und den Kirchen offen. Zu klären ist somit, in welcher Weise die Polyethnizität der böhmischen Länder und die staatliche tschechoslowakische Entwicklung bis 1938 auf das Verhältnis von besetzendem Staat zu Kirchen und religiöser Entwicklung einwirkten. Hierzu werden im Folgenden zunächst die kirchlichen Reaktionen auf die Krise im Herbst 1938 und das darauf folgende Münchener Abkommen sowohl in Deutschland als auch in der Tschechoslowakei analysiert. Anschließend werden die unmittelbaren Folgen der nationalsozialistischen Besetzung der böhmisch-mährischen Grenzregionen für die Kirchen skizziert. In einem letzten Schritt ist dann zu klären, wie sich die nationalsozialistische Herrschaft unter den spezifischen Bedingungen der böhmischen Länder auf das religiöse Leben und die konfessionellen Strukturen auswirkten. Im Zentrum steht hierbei die Entwicklung des „Sudetengaus“ bzw. aller seit dem Herbst 1938 deutsch besetzten Grenzregionen, da eine Schilderung zur insgesamt anders verlaufenden Entwicklung in der Zweiten Tschecho-Slowakischen Republik bzw. seit März 1939 im „Protektorat Böhmen und Mähren“ über das Thema dieses Beitrags hinausgehen würde.8 7

Archiv města Ústí nad Labem [Archiv der Stadt Aussig an der Elbe]. Bestand: Landrat Aussig (1938–1945). Karton 166, Sign. Pol 1001/7. „Lagebericht für den Regierungsbezirk Aussig“ vom 31. 1. 1939, 8. 8 Festzustellen ist im Protektorat eine verstärkte Nationalisierung des kirchlichen Umfeldes, was auch zum Engagement kirchlicher Kreise im tschechischen Widerstand beitrug. Umfassend hierzu: Stříbrný, Jan: Kirchen und Religion im „Protektorat Böhmen und Mähren“. In: Schulze Wessel/Zückert (Hg.): Handbuch der Religions- und Kirchengeschichte, S. 407–496. Insbesondere zu den evangelischen Kirchen vgl. Šimsová, Milena (Hg.): Prošli jsme v jeho síle. Evangelíci v čase druhé světové války [Wir kamen durch in seiner Kraft. Die Evangelischen in der Zeit des Zweiten Weltkriegs]. Praha 2003. In der zweiten Kriegshälfte drängte die Protektoratsregierung die Kirchenführungen zu Stellungnahmen gegen den Kommunismus und die Sowjetunion. Vgl. hierzu: Küpper, René: Zur Instrumentalisierung der katholischen Kirche für die nationalsozialistische Protektoratspolitik. In: Zückert, Martin/Hölzlwimmer, Laura (Hg.): Religion in den böhmischen Ländern 1938–1948. Diktatur, Krieg und Gesellschaftswandel als Herausforderungen für religiöses Leben und kirchliche Organisation. München 2007, S. 159–171, hier S. 167–171.

328   Martin Zückert

Reaktionen der Kirchenleitungen im Herbst 1938 „Die Großtat der Sicherung des Völkerfriedens gibt dem deutschen Episkopate Anlaß dem Führer und Reichskanzler Glückwunsch und Dank namens der Diözesanen aller Diözesen Deutschlands ehrerbietigst auszusprechen und feierliches Glockengeläute am Sonntag anzuordnen.“9 Mit diesem Worten reagierte der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Adolf Kardinal Bertram, am 1. Oktober 1938 per Telegramm an Adolf Hitler auf das „Münchener Abkommen“ und die darauf folgende Besetzung der tschechoslowakischen Grenzgebiete durch das nationalsozialistische Deutschland. Wie schwer es den deutschen Bischöfen fiel, Antworten auf die Veränderungen im Herbst 1938 zu finden, zeigt zum einen die Tatsache, dass sich der Münchener Kardinal von Faulhaber, der die Glückwunschadresse angeregt hatte, am 12. Oktober 1938 genötigt sah, in einem erklärenden Schreiben gegenüber dem bayerischen Episkopat deutlich zu machen, dass das Glückwunschtelegramm lediglich den Dank an die beteiligten Staatsmänner für die „Bereitschaft zum Frieden“ ausdrücken sollte und damit der religiöse Charakter der Äußerung gewahrt worden sei.10 Zum anderen fällt auf, dass sich weder im zitierten Telegramm noch in anderen Äußerungen katholischer Würdenträger in Deutschland ein Bezug auf die unmittelbaren Folgen findet. Die Okkupation der böhmisch-mährischen Grenzregionen und die Festlegung einer neuen deutsch-tschechoslowakischen Grenze beeinträchtigte die kirchliche Administration in einer mehrheitlich katholisch geprägten Region und sorgte für eine Reihe von Folgeproblemen in den betroffenen Gebieten wie auch im Verhältnis dieser Gebiete zur katholischen Kirche in Deutschland. Die fehlende Thematisierung der unmittelbaren Folgen von „München“ für die katholische Kirche kann nicht allein auf eine fehlende Perzeption durch die kirchliche Hierarchie in Deutschland zurückgeführt werden. Deutlich wird vielmehr die Verunsicherung der Bischöfe, wie sie sich gegenüber dem nationalsozialistischen Regime und seinen Okkupationsbestrebungen verhalten sollen, ohne sich gegen die überwiegend positiven Reaktionen in der Bevölkerung zu stellen. Ihr Erfahrungshorizont basierte vor allem auf den Einschätzungen nach dem „Anschluss“ Österreichs ein halbes Jahr zuvor. Bei der Abstimmung im April 1938, die den „Anschluss“ nachträglich legitimieren sollte, hatte sich der Rottenburger Bischof Johannes Baptista Sproll demonstrativ der Stimme enthalten und damit Protestdemonstrationen ausgelöst, die bis zu seiner Ausweisung aus Württemberg   9 Akten

deutscher Bischöfe über die Lage der Kirche 1933–1945. Band IV. 1936–1939. Bearbeitet von Ludwig Volk. Mainz 1981. Dokument Nr. 483: Bertram an den deutschen Episkopat mit Bertram an Hitler. S. 588. 10 Katholische Kirche und Nationalsozialismus 1930–1945. Ein Bericht in Quellen. Hrsg. von Hubert Gruber. Paderborn, München, Wien, Zürich 2006. Dokument Nr. 181: Schreiben des Vorsitzenden der Freisinger Bischofskonferenz, Michael Kardinal von Faulhaber, an den bayerischen Episkopat über die Entstehung des Glückwunschtelegramms an Reichskanzler Hitler. 12. Oktober 1938, S. 383 f.

Das Münchener Abkommen und die Kirchen   329

führten.11 In Österreich selbst hatte sich wiederum der Wiener Kardinal Theodor Innitzer gemeinsam mit den österreichischen Bischöfen im März 1938 in einer „Feierlichen Erklärung“ positiv zum deutschen Einmarsch geäußert, was in kirchlichen Kreisen teilweise auf Befremden gestoßen war.12 Der nach „München“ eingeschlagene Kurs zielte nun offensichtlich darauf ab, das Ereignis selbst als Akt der Friedenssicherung darzustellen, um es auf diese Weise gegenüber den deutschen Katholiken positiv bewerten zu können. Entsprechend kritisch vermerkte ein Bericht des Chefs des Sicherheitshauptamtes vom 8. November 1938, dass „kirchliche Kreise“ das Münchener Abkommen als „Frucht der Gebete der Gläubigen“ gewertet hätten und es in München als „Fügung Gottes“ dargestellt worden sei, dass das Abkommen am „Namenstag des hl. Michael, des Schutzpatrons der Deutschen“ zustande gekommen sei.13 Durchaus ähnlich reagierte am 11. Oktober 1938 Anton Alois Weber. Der Bischof der nordböhmischen Diözese Leitmeritz (Litoměřice) wandte sich mit einer Anweisung an die Vikariatsämter im nun deutsch besetzten Teil der Leitmeritzer Diözese und ersuchte, am Sonntag, den 16. Oktober eine „rein kirchliche gottesdienstliche Feier“ abzuhalten: „zum Danke für die Erhaltung des schwer bedroht gewesenen Weltfriedens, wie auch zum Danke für die glückliche Vermeidung grösserer Erschütterungen der bürgerlichen Ruhe und Ordnung in diesem Lande, angesichts der grossen Ereignisse, welche sich in den letzten Tagen hier abgespielt haben. Wo die Feier stattfindet, hat sie aus heiliger Messe, Ambrosianischen Lobgesange und einem Bittgebete für Kirche, Land, Volk und Vorsteher derselben zu bestehen.“14 Die Hierarchie der katholischen Kirche in der Tschechoslowakei war infolge des Münchener Abkommens mit tief greifenden Veränderungen und der Frage ihrer Bewertung konfrontiert. Die zitierten teils formelhaften Äußerungen Bischof Webers, des einzigen deutschen Bischofs in der Tschechoslowakei, können dies sehr gut veranschaulichen. Dass Weber diese Anweisung gab, ist zunächst als Bestreben zu deuten, nicht zu den die böhmischen und mährischen Diözesen unmittelbar betreffenden Veränderungen zu schweigen, sondern Stellung zu beziehen und dabei – ähnlich wie von katholischen Würdenträgern in Deutschland praktiziert – den Aspekt der Friedenssicherung zu betonen. Stärker als in Deutschland scheint es Weber aber nicht nur um eine öffentliche Äußerung, sondern auch darum gegangen zu sein, unmittelbar gegenüber Priestern und Gläubigen Position zu beziehen. 11 Berichte

des SD und der Gestapo über Kirchen und Kirchenvolk in Deutschland 1934–1944. Bearbeitet von Heinz Boberach. Mainz 1971. Dokument Nr. 13: Die Haltung der Kirche in der Zeit der außenpolitischen Spannung, S. 294–300, hier S. 294. 12 Vgl. Moritz: Grüß Gott und Heil Hitler, S. 22–24. 13 Berichte des SD und der Gestapo über Kirchen und Kirchenvolk in Deutschland 1934–1944. Dokument Nr. 13: Die Haltung der Kirche in der Zeit der außenpolitischen Spannung. S. 294– 300, hier S. 299. 14 Státní oblastní archiv Litoměřice (künftig SOA Litoměřice). Bestand: Biskupství Litoměřice, Ordinariát. Karton 11 (Pokyny za kněze). Schreiben des Bischöflichen Ordinariats Leitmeritz vom 11. 10. 1938.

330   Martin Zückert Webers Anweisung zielte offensichtlich auch darauf, den Wildwuchs kirchlicher Reaktionen, zumindest in seinem Bistum entgegenzutreten und extreme Tendenzen einzufangen. Dass dies aus seiner Sicht notwendig war, verdeutlichen Vorkommnisse vom Oktober 1938: In Teplitz-Schönau (Teplice-Šanov) etwa hatte Dechant Johann Herkner einen „Fest- und Dankgottesdienst“ abgehalten, zudem auf einem Altar ein Hitler-Bild aufgestellt worden war. Dabei hatte er unter anderem geäußert: „Unsere Heimat ist frei von Fremdherrschaft. Zwanzig Jahre ging der Schrei zum Himmel, nun hat Gott ihn erhört, er hat uns den Mann gesendet, hat ihn dem deutschen Volke gesendet. (…) Gott schütze unseren Führer, unsere Wehrmacht, unser Volk. Und unser ganzes Herz und unsere Seele wollen wir legen in dieses Lied: ‚Deutschland, Deutschland über alles, über alles in der Welt‘.“15 Wie viele Priester deutscher Nationalität ähnlich agiert haben, lässt sich nicht genau sagen. Die Angliederung der Grenzgebiete und die damit verbundene Ausbreitung des nationalsozialistischen Herrschaftssystems stießen im katholischen Milieu grundsätzlich kaum auf Widerstände. Dies lässt sich auch damit erklären, dass sich die kirchlich orientierten deutschen Parteien und Verbände zum Teil bereits während der „Selbstgleichschaltung“ der sudetendeutschen Teilgesellschaft seit dem Frühjahr 1938 aufgelöst hatten. Ein Beispiel ist das Agieren des „Hilfsverbands der deutschen katholischen Erziehungs- und Bildungsanstalten in der ČSR“, der nach Gesprächen mit Vertretern der Sudetendeutschen Partei (SdP) am 3. Juni 1938 den deutschen Lehrern katholischer Schulen nahelegte, bei den anstehenden Gemeindewahlen die SdP zu wählen, da „es keine kath. Partei mehr gibt“. Dabei seien keine Rückschlüsse „von der nationalsozialistischen Partei Deutschlands auf die hiesige SdP“ zu ziehen.16 Zu erklären ist, warum Webers Anweisung erst zwei Wochen nach „München“ erfolgte. Aufschluss darüber bietet sein Brief an den Prager Kardinal Karel Kašpar vom 5. Oktober. Darin berichtet Weber, dass ihm jeglicher Kontakt „mit den besetzten Gebieten“ unmöglich sei. Leitmeritz war zu diesem Zeitpunkt noch nicht von deutschen Truppen besetzt worden; laut seinem Brief war für Weber noch unklar, ob sein Amtssitz zukünftig zum abgetretenen Gebiet oder weiterhin zur 15 Zitiert

nach Renner, Ernst: Befreite Heimat. Bad Teplitz-Schönau im Kampf und Jubel großer Tage. Teplitz-Schönau 1939, 50 f. Im westböhmischen Mies (Stříbro) lud der Dechant Wilhelm Riehl mit folgenden Worten zu einem Dankgottesdienst, bei dem laut Zeitungsbericht quer über den Altar ein Transparent mit der Aufschrift „Gott schütze unseren Führer“ hing: „Wir wollen Gott, dem Allmächtigen, der den Führer Großdeutschlands und Befreier unserer Heimat Adolf Hitler bei seinem Befreiungs- und Friedenswerk sichtbar gesegnet hat, danken.“ Vergleiche „Festgottesdienst mit Nationalhymnen“. In: Westdeutscher Beobachter vom 1. 11. 1938. Bundesarchiv Berlin (künftig BArch). Reichsministerium für die kirchlichen Angelegenheiten (R 5101). Sign. 22209, 49. 16 SOA Litoměřice. Bestand: Biskupství Litoměřice, Ordinariát. Karton 35, Sign. 1092. Vertrauliche Mitteilungen der Hauptleitung des Hilfsverbands vom 3. 6. 1938, unterschrieben von Heinrich Donat. Zum „Hilfsverband der katholischen Erziehungs- und Bildungsanstalten in der ČSR“ vergleiche Donat, Heinrich: Um Schule und Erziehung. In: Ders. (Hg.): Die deutschen Katholiken in der Tschechoslowakischen Republik, S. 170–190, hier S. 185.

Das Münchener Abkommen und die Kirchen   331

Tschechoslowakei gehören würde. Absehbar war nur, dass alle böhmischen und mährischen Diözesen durch die territorialen Veränderungen betroffen sein würden. Weber bat in seinem Schreiben schließlich um eine Absprache unter den betroffenen Bischöfen und mit dem Heiligen Stuhl, um Unstimmigkeiten wie im März 1938 zu vermeiden.17 Die führenden Kirchenvertreter der Deutschen Evangelischen Kirche in Böhmen, Mähren, Schlesien bekannten sich im Herbst 1938 rasch zu den neuen staatlichen Bedingungen und suchten die Anbindung an die evangelische Kirche im Deutschen Reich.18 Bereits am 10. November 1938 wurde der Beschluss über die Rechtsnachfolge gefasst und die Angliederung an die Reichskirche angeboten, die schließlich auf dem fünften Kirchentag im August 1940 formal vollzogen wurde. Als Teilkirche der Deutschen Reichskirche erfolgte die Umbenennung in „Deutsche Evangelische Kirche im Sudetengau und im Protektorat“. Bei der im Mai 1939 erfolgten Vereidigung auf Adolf Hitler zeigte sich laut Bericht „große Ein­ mütigkeit“.19

Veränderungen kirchlicher Strukturen Die Folgen der Grenzziehung trafen alle Konfessionen der böhmischen Länder in ihren Strukturen und in ihrem Selbstverständnis. Unter zunehmenden Einschränkungen durch Staats- und Parteistellen mussten organisatorische Veränderungen wie inhaltliche Neuausrichtungen vorgenommen werden. Bisher wurde dieser Prozess jedoch nur isoliert für einzelne Konfessionen dargestellt. Eine gegenüberstellende Entwicklung zeigt jedoch, dass das religiöse Feld bedingt durch das zunehmend aggressive Auftreten der sudetendeutschen Bewegung seit 1937, den politischen Spannungen vor und den Veränderungen nach „München“ einem vielfältigen Wandel unterlag, der auch das Handeln der Kirchen prägte. Die kirchengeschichtliche Forschung zum „Reichsgau Sudetenland“ hat sich bisher neben organisationsgeschichtlichen Fragen vor allem mit der Verfolgung von Geistlichen und Einschränkungen kirchlicher Arbeit durch die Nationalsozialisten beschäftigt. Es ist eine große Zahl von katholischen Priestern dokumentiert, die in Gefängnisse und Konzentrationslager eingeliefert wurden. Zahlreiche von ihnen starben oder wurden von den Nationalsozialisten ermordet.20 Die Ein17 SOA

Litoměřice. Bestand: Biskupství Litoměřice, Ordinariát. Karton 2, Inv.-Nr. 15. Schreiben von Bischof Weber an den Prager Erzbischof Kašpar vom 5. 10. 1938. 18 Vergleiche die Ausführungen evangelischer Pfarrer in Endesfelder, Walter: Evangelische Pfarrer im völkischen Freiheitskampf der Ostmark und des Sudetenlandes. Berlin 1939. 19 Heinke-Probst, Maria: Die Deutsche Evangelische Kirche in Böhmen, Mähren und Schlesien. In: Schulze Wessel/Zückert (Hg.): Handbuch der Religions- und Kirchengeschichte der böhmischen Länder, S. 165–186, hier S. 184 f. Zur Eingliederung vgl. auch die Schilderung des damaligen Kirchenpräsidenten: Wehrenfennig, Erich: Mein Leben und Wirken. Melsungen 1956, S. 22. 20 Zum Sudetengau vergleiche Valasek, Emil: Der Kampf gegen die Priester im Sudetenland 1938 bis 1945. Eine Dokumentation. In: Archiv für Kirchengeschichte von Böhmen-MährenSchlesien 16 (2003), S. 1–240. Grulich, Rudolf: Sudetendeutsche Katholiken als Opfer des Na-

332   Martin Zückert schränkungen des kirchlichen Vereinswesens trafen wiederum nicht zuletzt den karitativen Bereich.21 In weitaus geringerem Maße wurden bisher freilich die Bedingungen und Veränderungen kirchlichen Lebens im Nationalsozialismus unter der spezifischen Ausgangslage der böhmischen Länder analysiert. Dabei kann gerade eine solche Perspektive dazu beitragen, den Stellenwert von Religion unter der nationalsozialistischen Diktatur in seiner jeweiligen regionalen Ausprägung zu erfassen. Am 14. November 1938 trafen sich die provisorischen Beauftragten für die an Deutschland gefallenen Gebiete der Diözesen Brünn, Königgrätz, Leitmeritz, Olmütz und Prag sowie Beauftragte des bisher tschechoslowakischen Teils der Breslauer Erzdiözese zu einer Besprechung. Die Tagesordnung verweist bereits auf die zentralen Probleme der katholischen Kirchenorganisation in den betroffenen Grenzregionen: die Geistlichenbesoldung, die Folgen für die Theologenausbildung und den Religionsunterricht sowie die Situation der tschechischen Priester und der kirchlichen Vereine. Durch die plötzliche Einstellung der Zahlungen des tschechoslowakischen Staates standen viele Priester in den Grenzregionen und ab einem gewissen Zeitpunkt die Kirche selbst vor großen materiellen Problemen. Vertreter des nationalsozialistischen Staates, der sich weder an die Regelungen des „Modus Vivendi“ zwischen Prag und Heiligem Stuhl aus dem Jahr 1928 noch an das nun für das „Altreich“ gültige Reichskonkordat gebunden sah,22 konnten diese Situation als Druckmittel einsetzen und sie später für eine aus ihrer Sicht kirchenfeindliche Maßnahme nutzen. In einer Übergangsphase wurde mit dem Reichskirchenministerium über vorübergehende Zahlungen verhandelt; im Juni 1939 vereinbarte eine Konferenz der westdeutschen Bischöfe dann eine allgemeine Kirchenkollekte „zur Linderung der Notlage des Klerus in den sudetendeutschen Gebieten“.23 1939 führten die Behörden im Reichsgau schließlich das System der Kirchenbeiträge ein: Katholische, evangelische und altkatholische Kirche sollten nun selbst bei tionalsozialismus. Brannenburg 1999. Macek, Jaroslav: Pronásledování a odpor katolické církve v  letech 1938–1945 [Verfolgung und Widerstand der katholischen Kirche in den Jahren 1938–1945]. In: Kural, Václav/Radvanovský, Zdeněk (Hg.): „Sudety“ pod hákovým křížem [Das „Sudetenland“ unter dem Hakenkreuz]. Ústí nad Labem 2002, S. 427–452. Kocourek, Ludomír: Příspěvek k  dějinám církve a jejího hnutí odporu v  okupovaném pohraničí českých zemí 1938–1945 [Ein Beitrag zur Geschichte der Kirche und ihrer Widerstandsbewegung im besetzten Grenzgebiet der böhmischen Länder 1938–1945]. In: Radvanovský, Zdeněk (Hg.): Historie okupovaného pohraničí 1938–1945 [Geschichte des besetzten Grenzlandes 1938– 1945]. Bd. 5. Ústí nad Labem 2000, S. 69–82. 21 Vgl. hierzu Küpper, René: Nationalsozialistische Religions- und Kirchenpolitik im Reichsgau Sudetenland. In. Schulze Wessel/Zückert (Hg.): Handbuch der Religions- und Kirchengeschichte, S. 317–357, hier S. 339–343. 22 Zum Modus Vivendi und seiner Bewertung vergleiche Tretera, Jiří Rajmund: Stát a církve v České republice [Staat und Kirchen in der Tschechischen Republik]. Kostelní Vydří 2002, 39. Halas, František X.: Fenomén Vatikán. Idea, dějiny a současnost papežství – diplomacie Svatého stolce – České země a Vatikán [Idee, Geschichte und Gegenwart des Papsttums – die Diplomatie des Heiligen Stuhls – die böhmischen Länder und der Vatikan]. Brno 2004, S. 554–561. 23 Akten deutscher Bischöfe über die Lage der Kirche 1933–1945. Band IV. Dokument Nr. 506: Protokoll der Konferenz der westdeutschen Bischöfe, S. 633.

Das Münchener Abkommen und die Kirchen   333

ihren Gläubigen Geld zur Finanzierung von Kirchen und Geistlichen einfordern. Konrad Henlein interpretierte diese Maßnahme als „Neuregelung des Staatskirchenrechtes im nationalsozialistischen Sinne“. Damit sollte offensichtlich die Abkehr der Bevölkerung von den Kirchen gefördert werden – dies wird daran deutlich, dass Henlein öffentlich Gerüchten entgegentrat, dass Konfessionslose analog zu den Kirchenbeiträgen eine „Kultsteuer“ zu bezahlen hätten. Neben diesem finanziellen Hebel zur Förderung der Austrittsbewegung boten sich der nationalsozialistischen Verwaltung weitere Einflussmöglichkeiten, da die Abwicklung in den Gemeinden durch staatlich kontrollierte Pfarrkirchenräte koordiniert werden sollte.24 Bisher wurde diese Maßnahme zu Recht vor allem als kirchenfeindliche Aktion interpretiert. In der Tat kam es zu einer breiten Austrittswelle mit Höhepunkten in den Jahren 1939 und 1940. Allerdings ermöglichte die Einführung der Beitragsfinanzierung den Kirchen auch neue Mobilisierungsoptionen. Bischof Weber erklärte in einem Schreiben an die Gläubigen, dass die Beiträge eine gute Möglichkeit böten, „an einem der edelsten Werke mitzuarbeiten (…): an der Erhaltung und Entfaltung des katholischen Glaubens in unserem geliebten Heimat­ lande.“25 Bereits einige Jahre zuvor hatte der Prager Theologe Karl Hilgenreiner eine autonom geregelte Kirchenbeitragsordnung als eine Form der „Actio catholika“ ins Gespräch gebracht.26 Zukünftig wäre deswegen zu klären, inwieweit es eine solche Mobilisierung gab und kirchliche Bindungen damit gestärkt, die Distanz zum nationalsozialistischen Regime unter Gläubigen dagegen womöglich befördert werden konnten. Da sich die Nationalsozialisten weder an den „Modus Vivendi“ noch an die Regelungen des Reichskonkordats gebunden sahen, konnten sie weitere Maßnahmen durchsetzen: dazu zählte die Einschränkung des Religionsunterrichts, die Verlegung von Feiertagen wie auch die Unterbindung von Prozessionen. Unmittelbarste Folge des Münchener Abkommens für die Kirchen war jedoch die Zerschneidung ihrer territorialen Strukturen. In den im „Reichsgau“ gelegenen Ter­ ritorien errichtete die katholische Kirche Generalvikariate, in Südböhmen und Südmähren wurden Administraturbezirke mit enger Anbindung an die Bistümer Regensburg, Passau, Linz und St. Pölten gebildet.27 Diese Zerteilung reduzierte 24 Slapnicka,

Helmut: Die Kirchenbeiträge in den sudetendeutschen Gebieten 1939–1945. In: Archiv für Kirchengeschichte von Böhmen-Mähren-Schlesien 6 (1982), S. 206–256. 25 Zitiert nach Zückert, Martin: Religion und nationalsozialistische Herrschaft in den böhmischmährischen Grenzregionen. Kirchliches Leben und religiöser Wandel 1938–1945. In: Ders./ Hölzlwimmer (Hg.): Religion in den böhmischen Ländern, S. 173–198, hier S. 187. 26 Slapnicka: Die Kirchenbeiträge, S. 209. 27 Vgl.: Hüttl, Josef: Kirche und Nationalsozialismus. Der Budweiser Administraturbezirk der Diözese St. Pölten 1940–1946. Wien–Salzburg 1979 (Veröffentlichungen des Instituts für kirchliche Zeitgeschichte 9). Ders.: Die sudetendeutsche Administratur Passau 1939–1946. In: Archiv für Kirchengeschichte von Böhmen-Mähren-Schlesien 4 (1976) 61–106. Ders.: Bischof Michael Buchberger und der neue Administraturbezirk in Westböhmen 1939–1946. In: Schwaiger, Georg/Staber, Josef (Hg.): Regensburg und Böhmen. Festschrift zur Tausendjahrfeier des Regierungsantrittes Bischof Wolfgangs von Regensburg und der Errichtung des Bistums Prag. Regensburg 1972 (Beiträge zur Geschichte des Bistums Regensburg 6), 309–357. Ders.: Das Generalvikariat Hohenfurth als Verwaltungsbereich der Diözese Linz (1940–1946).

334   Martin Zückert den kirchlichen Handlungsspielraum und ermöglichte der nationalsozialistischen Kirchenpolitik vielfältige Angriffsflächen. Dies betraf zum Beispiel die Regelung der Theologenausbildung, die schließlich – national getrennt – auf Prag konzentriert wurde, wie auch die konkrete pastorale Tätigkeit: Nachdem Bischof Weber im Teil seiner Diözese, die bei der Tschechoslowakei verblieb bzw. seit 1939 zum Protektorat gehörte, auf Tschechisch gepredigt hatte, wurden ihm weitere Grenzübertritte verboten.28 Bestrebungen einzelner deutscher Kirchenvertreter, nun die Schaffung einer eigenständigen sudetendeutschen Kirchenprovinz zu forcieren, waren vor allem na­ tional motiviert. Karl Hilgenreiner forderte im Oktober 1938 als Konsequenz von „München“ von den Sudetendeutschen ein „Bekenntnis zur religiösen Weltgemeinschaft der katholischen Kirche und engen(n) Anschluss an die deutsche Volksgemeinschaft!“ und „schon wegen der nationalen Schwierigkeiten“ eine Neuregelung der Diözesangrenzen.29 Die Zielsetzung einer Neuabgrenzung nach ethnischen Kriterien griff alte Pläne aus der Zeit um 1900 auf, die bereits damals von tschechischen Vertretern mit Verweis auf die Einheit der historischen Länder abgelehnt worden war. Die tschechischen Bischöfe bekräftigten diese Position bei einem Rombesuch im Oktober 1938 und trafen damit offensichtlich auf offene Ohren. Der Vatikan – in solchen Fragen traditionell nicht an schnellen Lösungen interessiert – sagte zu, zunächst nur provisorischen, seelsorgerisch notwendigen MaßnahIn: 73. Jahresbericht des Bischöflichen Gymnasiums und Diözesanseminars am Kollegium Petrinum 1976/77, 3–38. Paleczek, Rudolf: Die kirchliche Administration des deutschen Anteils der Diözese Budweis 1938–1946. In: Archiv für Kirchengeschichte von Böhmen-MährenSchlesien 7 (1985) 111–136. Reiß, Karl: Das deutsche Generalvikariat in Westböhmen 1938– 1945. In: Kirche, Recht und Land. Festschrift, Weihbischof Prof. Dr. Adolf Kindermann dargeboten zum 70. Lebensjahre im Auftrage des Sudetendeutschen Priesterwerkes und der Ackermann-Gemeinde von Mons. Dr. Karl Reiß und Staatsminister a. D. Hans Schütz. Königstein/Taunus–München 1969, 228–239. Janko, Anton: Das deutsche Generalvikariat Trautenau 1938–1945. In: Archiv für Kirchengeschichte von Böhmen-Mähren-Schlesien 8 (1987) 49–92. Kretschmer, Ernst: Das Generalvikariat für den sudetendeutschen Anteil der Erzdiözese Olmütz in Branitz O/S 1938–1945. In: Archiv für Kirchengeschichte von Böhmen-MährenSchlesien 5 (1978) 392–406. Zabel, Johann: Das Generalvikariat Nikolsburg 1938–1945. In: Archiv für Kirchengeschichte von Böhmen-Mähren-Schlesien 5 (1978) 407–421. Mai, Paul: Das Bistum Regensburg und die Vikariate Bischofteinitz, Hostau und Deschenitz (1939–1945). In: Setkání na hranici/Treffen an der Grenze. 2. Böhmisch-Oberpfälzer Archivsymposium 1994. Ústí nad Labem 1997, 141–145. 28 Da Weber bei Aufenthalten im zum Protektorat gehörenden Teil seiner Diözese auf Tschechisch gepredigt hatte, wurde ihm die Einreise in das Protektorat in der Folgezeit verboten. Vergleiche Macek: Pronásledování a odpor katolické církve, S. 442. 29 Katholiken-Korrespondenz. Ein Zeitenwächter für gebildete Katholiken. 32 [19]/10 (1938), S. 210 f. Noch weiter ging Adolf Kindermann, 1939 Gründer des Theologenkonvikts in Prag, in seiner im selben Jahr anonym veröffentlichten Schrift „Kirche im Sudetenland“, in der er im Trend der Zeit, aber entgegen der ethnischen Realitäten der böhmischen Länder, feststellte: „Seelsorgerisch gesehen sind die Volksgrenzen auch die besten Kirchengrenzen. Das ist die Auffassung von Kirche und Staat in der neuen Zeit; denn die Seelsorge muß volksverbunden sein.“ Zitiert nach Sladek, Paulus: Adolf Kindermann – Rektor des Prager Theologenkonvikts. In: Weihbischof Dr.  Adolf Kindermann. Leben, Werk und Wirken. Dargestellt von Mitbrüdern, Mitarbeitern und Freunden. Königstein/Taunus 1976 (Schriftenreihe des sudetendeutschen Priesterwerks Königstein/Taunus 22), S. 38–47, hier S. 43.

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men zuzustimmen.30 Dies war indirekt auch eine Stellungnahme gegen die Fiktion, nach der eine Trennung nach ethnisch homogenen Territorien möglich sei. Auch die Deutsche Evangelische Kirche stand nun vor dem Problem, dass bestehende kirchliche Strukturen durch die neue Grenzziehung durchschnitten worden waren. Die geistliche Versorgung und der Kontakt zur Kirchenleitung in Gablonz (Jablonec nad Nisou) wurde dadurch besonders in der Frühphase erschwert.31 Vor ähnlichen Problemen standen auch die Altkatholische Kirche mit ihrem Zentrum im nordböhmischen Warnsdorf (Varnsdorf) und ihren Gemeinden in Innerböhmen32 sowie – unter noch schwierigeren Bedingungen – die tschechischen protestantischen Kirchen und die Tschechoslowakische Kirche zu.33 Gerade ein Blick auf die Situation tschechischer Gläubiger und Pfarrer in den Grenzregionen kann die Konsequenzen für die pastorale Betreuung verdeutlichen.

Das Verhältnis Religion und Nation Leidtragende der im kirchlichen Bereich angewandten aggressiven Nationalitätenpolitik waren die tschechischen Gläubigen aller Religionsgemeinschaften im „Sudetengau“. Die Tschechoslowakische Kirche wurde von den NS-Behörden als „Tarnorganisation“ bezeichnet, in der sich „nationaldenkende Tschechen“ zusammenfinden würden. Gegen Bibelstunden der evangelischen Kirche der böhmischen Brüder wurde vorgegangen, weil sie als „politisch unerwünschte Zusammenkünfte der Tschechen“ angesehen wurden. Beide Religionsgemeinschaften büßten durch die neue Grenzziehung Gemeindestrukturen in den Grenzregionen ein und bemühten sich unter schweren Bedingungen, die religiöse Betreuung von Gläubigen sicherzustellen.34 26 im Regierungsbezirk Aussig tätige katholische Priester tschechischer Nationalität wurden ausschließlich nach ihrer nationalen Haltung beurteilt – der Regierungspräsident von Aussig, Hans Krebs, forderte daraufhin ihre Auswechslung „durch geeignete deutsche Priester“.35 Solche Forderungen trafen die Betroffenen hart – viele von ihnen flohen ins Landesinnere 30 Hrabovec,

Emilia: Der Heilige Stuhl und die böhmischen Länder 1938–1945. In: Zückert/ Hölzlwimmer (Hg.): Religion in den böhmischen Ländern, S. 99–146, hier S. 129. 31 Heinke-Probst: Die Deutsche Evangelische Kirche, S. 183. 32 Für die tschechischen und deutschen Altkatholiken im Protektorat musste ein eigenes Generalvikariat errichtet werden, das jedoch formal an die Warnsdorfer Kirchenführung gebunden blieb. Die Gemeinde in Brünn wurde während des Krieges dem altkatholischen Bischof in Wien unterstellt. Vergleiche Lášek, Jan B.: K dějinám starokatolictví ve Varnsdorfu [Geschichte des Altkatholizismus in Warnsdorf]. In: Kruh přátel muzea Varnsdorf (Hg.): Almanach ke 130. výročí povýšení Varnsdorfu na město [Almanach zum 130. Jahrestag der Erhebung Warnsdorfs zur Stadt]. Varnsdorf 1998, 17–23, hier 22. 33 Vgl. hierzu ausführlich: Zückert: Religion und nationalsozialistische Herrschaft in den böhmisch-mährischen Grenzregionen, S. 173–198. 34 Ebenda, S. 183 f. 35 BArch. Reichsministerium für die kirchlichen Angelegenheiten (R 5101). Sig. 21772. „Kirch­ liche und Religiöse Belange der tschechischen Volksgruppe im Regierungsbezirk Aussig“ vom 15. 8. 1939.

336   Martin Zückert oder wurden vertrieben. Die Forderungen trafen aber auch die katholische Hierarchie, die eine Verantwortung auch gegenüber tschechischen Gläubigen spürte und sich bewusst war, dass die Präsenz tschechischer Priester aufgrund fehlender deutscher Geistlicher notwendig war. Eine erste staatliche Einschränkung – das Verbot für tschechische Priester, deutschen Kindern Religionsunterricht zu erteilen – wurde von einer Zusammenkunft der von den katholischen Bistümern ernannten Beauftragten für die Grenzregionen aufgrund der großen Zahl der dort tätigen tschechischen Geistlichen „als Katastrophe“ bezeichnet.36 Umgekehrt konnten sich die nationalsozialistischen Behörden in ihrem Vorgehen auf eine gewisse Akzeptanz in der Bevölkerung stützen. Bereits vor 1938 hatten sich einzelne Gemeinden mit mehrheitlich deutschsprachiger Bevölkerung gegen die Einsetzung tschechischer Gemeindepriester gewehrt; dieser Trend setzte sich nun unter anderen politischen Vorzeichen fort. In der im Protektorat gelegenen St. Jakobs-Pfarrei in Brünn (Brno) versuchten zum Beispiel die deutschen Pfarreiangehörigen, die eine Unterschriftensammlung für die Einsetzung eines deutschen Pfarrers durchführten, zusammen mit Regierungskommissar Oskar Judex in den Jahren 1939 und 1940 den tschechischen Pfarrer aus dem Amt zu drängen, wobei die vorhandenen Akten offen lassen, ob Judex eine unterstützende oder eine initiierende Rolle einnahm. Offensichtlich gelang dies auf Grund der Haltung des Brünner Ordinariats jedoch nicht. Inwieweit hier „atmosphärische“ Mikrofaktoren im Verhältnis zwischen Pfarrer und Gemeinde oder antitschechische Ressentiments den Stein des Anstoßes bildeten, geht aus den vorhandenen Dokumenten leider nicht hervor.37 Allerdings gab es auch Priester deutscher ­Nationalität, die diesem Trend entgegensteuerten. Pfarrer Josef Stingl erteilte im westböhmischen Albrechtsried (Albrechtice u Sušice) tschechischen Kindern in ihrer Sprache Religionsunterricht und benutzte im Gottesdienst gelegentlich beide Sprachen – wir wissen davon, weil er daraufhin mit dem Regime in Konflikt geriet.38 Die nationale Deutung des Wandels durch höhere Kirchenvertreter leistete ­einer nationalen Ausprägung des religiösen Sektors Vorschub. Kardinal Bertram nahm den Leitmeritzer Bischof Weber in die deutsche Bischofskonferenz auf, da er „in ihm den Vertreter der rund 3 Millionen Sudetendeutschen“ sah.39 Der 36 SOA

Litoměřice. Bestand: Biskupství Litoměřice, Ordinariát. Karton 2, Nr. 18. Niederschrift über die Konferenz der Bischöflichen Kommissare im Sudetenland am 3. Mai 1939, S. 6. 37 Archiv města Brno. Městský národní výbor, církevní oddělení [Archiv der Stadt Brünn. Städtischer Nationalausschuss, Kirchenabteilung]. Karton 19, Sig. 112. 38 Valasek: Der Kampf gegen die Priester, S. 195. Die kirchliche Lage in Bayern nach den Regierungspräsidentenberichten 1933–1943. Bd. 4: Regierungsbezirk Niederbayern und Oberpfalz. Bearbeitet von Walter Ziegler. Mainz 1973, Dokument Nr. 104: Monatsbericht der Regierung (November 1939), S. 249. In dieser Lagebeschreibung wird konkret von einem Vorfall am Allerheiligentag 1939 berichtet. Pfarrer Stingl soll „eine Anzahl Vaterunser deutsch und anschließend eine Anzahl tschechisch“ gebetet haben. 39 Akten deutscher Bischöfe über die Lage der Kirche 1933–1945. Bd. 4 (1936–1939). Bearbeitet von Ludwig Volk. Mainz 1981. Nr. 508: „Bertram an die deutschen Metropoliten“. Schreiben vom 16. 7. 1939, S. 651. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass ­Bischof Weber am 16. Juni 1939 mit Verweis auf die Zugehörigkeit seines Bistums zur Prager Kirchenprovinz bei Kardinal Karel Kašpar um Erlaubnis angefragt hatte, an den Sitzungen

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Schritt erscheint pragmatisch, die Deutung widersprach freilich den territorialen und ethnischen Bedingtheiten in Böhmen und Mähren. Auch wenn die Entwicklung der Kirchen in der Zweiten Tschecho-Slowakischen Republik und seit März 1939 im deutsch besetzten Protektorat nicht unmittelbar im Zusammenhang zum Geschilderten stand, erscheint ein Aspekt an dieser Stelle erwähnenswert: sowohl die katholische Kirche als auch die anderen Konfessionen im Protektorat wurden in ihrer Außenwirkung nationaler. Wallfahrten wurden zu nationalen Manifestationen, Religionsunterricht bekam eine nationale Komponente und einige Widerstandskreise entstammten kirchlichen Gruppen oder nutzten deren Infrastruktur. František Halas folgert daraus, dass tschechische Christen von den Nationalsozialisten eher als Tschechen und weniger aufgrund ihrer religiösen Überzeugung verfolgt wurden.40 Bestimmte Formen forcierter Nationalisierung verweisen aber auch auf eine andere Komponente religiösen Wandels. Mitte Oktober 1938 wandten sich zwei deutsche Priester aus Westböhmen an den Regensburger Bischof Buchberger und forderten die Schaffung von separaten Kirchenstrukturen für die deutschen Gläubigen der Region. Für sie war es untragbar, dass weiterhin „Prag“ zu den deutschen Katholiken in Westböhmen sprach. Sollte dies nicht geändert werden, drohte ihrer Meinung nach eine Abfallbewegung.41

Zur Relevanz konfessioneller Konkurrenzsituationen Infolge des Münchener Abkommens veränderten sich die Kirchen in den Grenzregionen in ihrem Gemeindeleben, in ihren Deutungen wie auch in ihren Selbstverortungen. Noch 1937 hatte der Präsident der Deutschen evangelischen Kirche, Erich Wehrenfennig, anlässlich einer kirchlichen Woche in Karlsbad für die deutschen Protestanten der böhmischen Länder die Rolle einer „doppelten Minderheit“ – national und konfessionell – definiert. Ein Jahr später, Ende 1938, unterstützte er die enge Anbindung an die Protestanten im Reich und appellierte: „Wir wollen Kirche sein und immer mehr aus Diaspora Kirche werden“.42 Die zahlenmäßig kleine, vor allem in Nordböhmen situierte Altkatholische Kirche nannte ihre Zeitschrift von „Kirchenzeitung“ in „Die Volkskirche“ um, betonte das „deutder Deutschen Bischofskonferenz teilzunehmen, und zugleich darum bat, weiterhin an den Prager Konferenzen teilnehmen zu dürfen. Zumindest für die Konferenz der böhmischen und mährischen Bischöfe am 15. Februar 1940 ist Webers Teilnahme belegt. Auf Webers Anfrage hatte Kardinal Kašpar wiederum bereits am 25. Juni 1939 geantwortet: „[…] Es ist doch selbstverständlich, daß Exzellenz an den Bischofskonferenzen in Fulda sich beteiligen müssen. Der liebe Gott schütze die Beratungen. […]“. SOA Litoměřice. Bestand: Biskupství Litoměřice, Ordinariát. Karton 2, Sig. 15 und 18. Karton 3 (Bischofskonferenzen). 40 Halas: Fenomén Vatikán, S. 579. 41 Bischöfliches Zentralarchiv Regensburg. O/A Adm. Böhmen. Sign.: 4. Schreiben an den Regensburger Bischof vom 17. 10. 1938. 42 Wehrenfennig, Erich: Wir sind Brüder. In: Endesfelder (Hg.): Evangelische Pfarrer im völkischen Freiheitskampf, S. 124.

338   Martin Zückert sche Wesen“ ihrer Konfession und strebte die Einbindung in kirchliche Strukturen des Deutschen Reiches an.43 Diese Perspektiven dürften sich auch im Auftreten der Konfessionen vor Ort bemerkbar gemacht haben. Das jeweilige Gemeindeleben veränderte sich zudem durch den Zuzug von deutschen Beamten und Soldaten sowie deren Angehörigen. In der katholischen Kirche fürchtete man etwa einen liturgischen Wildwuchs, da „volkskirchliche Gepflogenheiten“ aus dem „Reich“ an Boden gewinnen würden.44 Vom Regime unterstützt kam es nach 1938 zu einer quantitativ bedeutenden Kirchenaustrittsbewegung. Ein alleiniger Blick auf diese versperrt freilich die Perspektive auf das Phänomen der Konfessionswechsler. Es hatte ein deutlich geringeres Ausmaß als bei den Austritten: im Regierungsbezirk Aussig in Nordböhmen traten etwa zwischen 1939 und 1942 47 000 Angehörige aus der Katholischen und 5500 aus der evangelischen Kirche aus. Zugleich vermeldete die katholische Kirche knapp 3000 Eintritte, die deutsche evangelische Kirche knapp 4500.45 Dennoch war es für das Handeln der Kirchenleitungen ein erheblicher Faktor, dessen Ursachen in die Zeit vor „München“ zurückreichen. Vor allem seit 1937 war es in mehreren Orten zu Gruppenübertritten von deutschen Katholiken zur Deutschen evangelischen Kirche gekommen. Als Grund wurde meist ein tschechischer Pfarrer vor Ort oder die Durchführung von speziellen „tschechischen Gottesdiensten“ für tschechische Gemeindemitglieder genannt. Meist handelte es sich nur um kleinere Gruppen. Von der Sudetendeutschen Partei propagandistisch als national motivierte Massenbewegung dargestellt, entfaltete das Phänomen jedoch eine erhebliche Wirkung. Im April 1938 empfahl der Leiter des kirchlichen Jugendamtes der Diözese Leitmeritz, Norbert Kocholaty den freiwilligen Übergang der katholischen Jugendverbände in die sich selbst gleichschaltende sudetendeutsche Jugendbewegung, da sonst ein antikatholischer Kampf drohe: „Aus diesem würden nach den jetzigen Verhältnissen nur die Protestanten einen Nutzen ziehen, als die

43 „Zum

Neuen Jahr“. In: Die Volkskirche. Organ der Alt-Katholiken des Sudetengaues Nr. 1 vom 20. 1. 1939. 44 SOA Litoměřice. Bestand: Biskupství Litoměřice, Ordinariát. Karton 10, Sign. 111. Schreiben von Vikariatsverweser Josef Tittel an Bischof Weber vom 4. 10. 1943. 45 Der Sudetengau in Zahlen. Statistische Kurznachrichten. 3. Folge. Bearbeitet beim Reichsstatthalter im Sudetengau, Unterabteilung Ib. Reichenberg-Oberrosental 1943, S. 25. Während in dieser Zeit im Stadtkreis Reichenberg 9,7 Prozent der Katholiken austraten, waren es zum Beispiel im Kreis Leitmeritz lediglich 2,1  Prozent und im Kreis Schluckenau (Šluknov) nur 1 Prozent. Zu beachten ist zudem, dass im genannten Zeitraum knapp 2800 Neu- oder Wiedereintritte in die katholische Kirche gezählt wurden. — Es erscheint allerdings als problematisch, die Zahl der Kirchenaustritte als zentralen Indikator für die Akzeptanz des national­ sozialistischen Regimes anzusehen, wie dies von Sven Granzow, Bettina Müller-Sidibé und Andrea Simml für Deutschland insgesamt angedeutet wurde. Gerade für die Deutung der zunächst ansteigenden, dann allmählich abfallenden Zahl der Kirchenaustritte in der untersuchten Region sind zunächst einmal die Bedingungen eines staatlichen und politischen Wandels und die damit verbundenen finanzpolitischen Umstellungen in Betracht zu ziehen. Vergleiche Granzow, Sven/Müller-Sidibé, Bettina/Simml, Andrea: Gottvertrauen und Führerglaube. In: Aly, Götz (Hg.): Volkes Stimme. Skepsis und Führervertrauen im Nationalsozialismus. Frankfurt a. M. 2006, S. 38–58.

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christliche Kirche, welche die Einigung des deutschen Volkes nicht nur nicht hindert, sondern fördert.“46 Für Zeitgenossen konnte somit sehr wohl das Gefühl eines sich in Veränderung befindlichen religiösen Feldes entstehen – diese Wahrnehmung dürfte sich durch „München“ noch verstärkt haben und auf die Kirchen zurückgewirkt haben.

Abschließende Bemerkungen Die katholische Kirche, die Deutsche Evangelische Kirche und die Altkatholische Kirche in den nach „München“ von Deutschland annektierten Gebieten traten seit dem Herbst 1938 institutionell zunehmend mit den Kirchen im „Altreich“ in Verbindung, ohne über die Erfahrungen zu verfügen, die die Kirchen in Deutschland zwischen 1933 und 1938 in der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus gemacht hatten. Weiterhin ungeklärt ist in diesem Zusammenhang die Frage, in welchem Ausmaß es vor dem Münchener Abkommen unter den Christen deutscher Nationalität in der Tschechoslowakei zu einer Auseinandersetzung mit der religiösen Lage im Deutschen Reich gekommen war. Die Kirchen und Gläubigen in der Tschechoslowakei hatten stattdessen eine zwanzigjährige Entwicklung hinter sich, in der vom Staat eine insgesamt als tolerant zu kennzeichnende Politik gegenüber den Konfessionen gekoppelt mit der langfristigen Zielsetzung, Staat und Kirche zu trennen, betrieben worden war. Aufgrund zunächst fehlender Vereinbarungen zwischen dem Staat und den Kirchen brachten die Folgen von „München“ allen christlichen Kirchen Einschränkungen. Das nationalsozialistische Herrschaftssystem ging dabei in den betroffenen Regionen, auch wenn in religionspolitischer Hinsicht ebenfalls wie im Deutschen Reich von einer wenig abgestimmten Polykratie ausgegangen werden kann,47 schon zu einem frühen Zeitpunkt härter gegen Kirchenvertreter vor als im „Altreich“. Zahlreiche Pfarrer wurden vom Regime verfolgt. Die vor allem die katholische Kirche betreffenden Verfolgungsmaßnahmen wurden in der Forschung bisher nur national getrennt dargestellt. Erwähnenswert ist deshalb die Tatsache, dass die Tschechische Christliche Akademie derzeit eine Dokumentation vorbereitet, in der kirchliche Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung unabhängig von ihrer Nationalität gewürdigt werden sollen.48

46 SOA

Litoměřice. Bestand: Biskupství Litoměřice, Ordinariát. Karton 35, Sign. 1092. Schreiben von Norbert Kocholaty an den Leitmeritzer Bischof Weber vom 4. 4. 1938. Zum weiteren Kontext vgl.: Zückert: Religion und nationalsozialistische Herrschaft in den böhmisch-mährischen Grenzregionen, S. 193–195. 47 Vgl. Küpper: Nationalsozialistische Religions- und Kirchenpolitik, S. 319 f. 48 Vgl. zum Projekt „Martyrologium katolické církve v českých zemích ve 20. století. Svědci krve z řad katolických křesťanů všech národností“ [Martyrologium der katholischen Kirche in den böhmischen Ländern im 20. Jahrhundert. Blutzeugen aus der Reihe katholischer Christen aller Nationalitäten] folgenden Internetauftritt: http://www.krestanskaakademie.cz/martyrologium/ [Zugriff am 17. 10. 2012].

340   Martin Zückert Ein Nebeneffekt der Angliederung Österreichs und der böhmisch-mährischen Grenzregionen war, dass sich im nationalsozialistischen Deutschland die Konfessionsstruktur zu Gunsten der Katholiken verschob, was aber über die vereinzelte Wahrnehmung des Wandels kaum auf die kirchenpolitische Praxis eingewirkt haben dürfte. Im „Reichsgau Sudetenland“ und den weiteren an Deutschland angeschlossenen tschechoslowakischen Grenzregionen selbst kam dem „nationalen Faktor“ eine besondere Bedeutung zu. Sein Einfluss, der das kirchenpolitische Vorgehen der Nationalsozialisten nach einer Übergangsphase letztlich weniger beeinflusste als von den Protagonisten zunächst angenommen, wirkte sich auf das Agieren der Kirchenleitungen und der Gläubigen aus. Prägend war hierbei vor allem eine Gemengelage von nationaler Mobilisierung, Diktaturerfahrung und langfristigen konfessionellen Entwicklungen. Zusammen mit den Maßnahmen des nationalsozialistischen Regimes und den mentalen und praktischen Folgen des Krieges veränderte sie das kirchliche Leben in den 1938 von Deutschland besetzten Regionen grundlegend und beeinflusste auch die religiöse Alltagspraxis. Mit Blick auf die Katholiken im nationalsozialistischen Deutschland wurde in den letzten Jahren diskutiert, inwieweit es im katholischen Milieu eine grundsätzlich ablehnende Haltung gegenüber dem Regime gab oder ob eher eine milieuimmanente Abschottung und damit verbundene, auf die Interessen der Kirche bezogene Resistenzhaltungen überwogen.49 Für die deutschen Katholiken in den besetzten böhmisch-mährischen Grenzregionen ist zunächst das Fehlen eines vergleichsweise geschlossenen Milieus zu konstatieren. Neben der religionshistorischen Entwicklung bis zu den dreißiger Jahren trug dazu vor allem der Untergang der klassischen Milieustrukturen durch die „Selbstgleichschaltung“ katholischer Verbände vor und das Verbot verbliebener kirchlicher Vereine nach „München“ bei. Letztlich sorgten insbesondere nationale Abgrenzungsbestrebungen in den ersten Jahren nach dem Münchener Abkommen für Interessensübereinstimmungen zwischen dem Regime und vielen Katholiken, die erst allmählich durch Gegensätze, die die nationalsozialistische Religionspolitik auslöste, abgelöst wurden. Für eine Betrachtung der religiösen Entwicklung in den böhmischen Ländern in der Zeit des Nationalsozialismus ist es deswegen über die Würdigung von Einzelschicksalen hinaus wichtig,50 „Religion“ in der Zeit einer Diktatur zu analysieren und nicht allein von Gegensätzen zwischen Regime und Kirchen auszugehen.

49 Vgl.

hierzu Kösters, Christoph: Katholisches Milieu und Nationalsozialismus. In: Hummel, Karl-Joseph/Kißener, Michael (Hg.): Die Katholiken und das Dritte Reich. Kontroversen und Debatten. Paderborn 2009, S. 145–165. 50 So fokussiert zum Beispiel der Band von Otfrid Pustejovsky, von der Darstellung von Einzelschicksalen ausgehend, letztlich zu stark auf einem von vornherein gegebenen, grundlegenden Gegensatz. Pustejovsky, Otfrid: Christlicher Widerstand gegen die NS-Herrschaft in den Böhmischen Ländern. Eine Bestandsaufnahme zu den Verhältnissen im Sudetenland und dem Protektorat Böhmen und Mähren. Berlin 2009.

Ignác Romsics

Ungarn und der Erste Wiener Schiedsspruch Das Thema dieses Beitrages ist schon in mehreren Studien eingehend untersucht worden. Aus der deutschsprachigen Literatur muss vor allem das Buch von Jörg K. Hoensch erwähnt werden, das schon 1967 publiziert wurde.1 Von ungarischer Seite können wir unter anderem auf die Monographie von Lóránt Tilkovszky2 hinweisen, die ebenfalls 1967 veröffentlicht wurde. Ein junger ungarischer Historiker, Gergely Sallai, hat 2002 dem Thema ein neues Buch gewidmet.3 Dazu kommen natürlich auch Memoiren und Aufsätze. Der vorliegende Aufsatz soll unsere vielseitigen Kenntnisse über das Thema zusammenfassen und dabei einige wichtige Aspekte hervorheben. Zur Erklärung des Hintergrunds ist es sinnvoll, mit dem Jahr 1920 zu beginnen. Wie bekannt, wurde in diesem Jahr der Friedensvertrag von Trianon unterzeichnet. Das Territorium Ungarns ging in Folge des Vertrages von 325 000 bzw., wenn Kroatien nicht mitgerechnet wird, von 282 000 qkm auf 93 000 qkm zurück. Die Zahl seiner Einwohner sank von 20,8 bzw. 18,2 auf 7,9 Millionen. Das Reich der Stephanskrone hat also – ohne Kroatien – 67 Prozent seines Territoriums und 58 Prozent seiner Bevölkerung verloren. Wird noch das territoriale und politische Autonomie genießende Kroatien hinzugerechnet, dann steigen die Gebietsverluste auf 71  Prozent, die Verluste der Bevölkerung auf 63  Prozent. Das größte Gebiet – 103 000 qkm mit mehr als fünf Millionen Einwohnern – erhielt Rumänien. Es folgte die Tschechoslowakei mit 61 000 qkm und 3,5 Millionen Menschen. Der südslawische Staat erhielt neben Kroatien und Slawonien 20 000 qkm mit 1,5 Millionen Einwohnern, während Österreich 4300 qkm und mit fast 300 000 Menschen zugesprochen wurden. Von den 10,6 Millionen Einwohnern, die in den abgetrennten Gebieten lebten, waren nach den am Kriterium der Muttersprache orientierten Angaben der ungarischen Volkszählung von 1910 3,2 Millionen, also 30,2% Ungarn. Von ihnen lebten 1,6 Millionen in Rumänien, eine Million in der Tschechoslowakei, genauer gesagt in der Slowakei und in der Karpato-Ukraine, ungefähr eine halbe Million in Jugoslawien und einige Zehntausende in Österreich. Der primäre Beweggrund für diese tiefgreifenden territorialen Veränderungen war bekanntlich die Anerkennung und Annahme des Selbstbestimmungsrechtes der Völker, d. h. des modernen Gedankens, dass jede ethnische Gruppe das Recht hat, als politische Gemeinschaft aufzutreten und einen Staat zu gründen. Dieses Prinzip wurde aber nicht eingehalten, wo es ohne jede Schwierigkeit hätte ange-

1

Hoensch, Jörg K.: Der ungarische Revisionismus und die Zerschlagung der Tschechoslowakei. Tübingen 1967, S. 323. 2 Tilkovszky, Lóránt: Revízió és nemzetiségpolitika Magyarországon 1938–1941. [Revision und Nationalitätenpolitik in Ungarn 1938–1941]. Budapest 1967. 3 Sallai, Gergely: Az első bécsi döntés [Der Erste Wiener Schiedsspruch]. Budapest 2002. S. 296.

342   Ignác Romsics wandt werden können. Von den Magyaren, die Bürger anderer Staaten wurden, lebten nämlich etwa anderthalb Millionen entlang der Grenze, in geschlossenen Siedlungsgebieten.4 Es ist also gar nicht überraschend, dass sich Ungarn in der Zwischenkriegszeit den politischen und territorialen Bedingungen des Friedensvertrags nicht anpassen konnte und wollte. Diese Regelung wurde sowohl von der überwiegenden Mehrheit der Ungarn im Mutterland als auch von den Ungarn, die das Schicksal einer Minderheit teilten, als provisorischer Zustand aufgefasst, weshalb sie sich auf eine Widervereinigung vorbereiteten. Diese Hoffnung wurde von der ungarischen Regierungspropaganda stark genährt. Eine Grenzrevision, bzw. – im optimalen Fall – die Wiederherstellung der alten Grenze wurde das A und O der ­ungarischen Außenpolitik. Ergänzend ist freilich darauf hinweisen, dass sich aus den statistischen Angaben der Nachbarländer bezüglich der ethnischen Aufteilung der Bevölkerung ein etwas anderes Bild ergibt. Nach den Ergebnissen der tschechoslowakischen Volkszählung von 1921 lebten z. B. nicht eine Million, sondern nur 760 000, nach den Angaben der Volkszählung von 1930 sogar nur etwa 700 000 Magyaren in der Tschechoslowakei. Es ist auch bekannt, dass die ungarischen Volkszählungsergebnisse von 1910 von slowakischen und anderen Historikern als verfälscht und nicht zuverlässig eingestuft werden. Diese Vorbehalte sind nicht von der Hand zu weisen. Jörg K. Hoensch hat völlig recht, wenn er anführt, dass die Definition des Wortes Muttersprache bei den ungarischen Zählungen manchmal oder oft mit „Lieblingssprache“ gleichgesetzt wurde und jeder, der ungarisch sprach, als Magyare registriert wurde. Es stimmt auch, dass in Ungarn vor dem Krieg eine Magyarisierungspolitik angewandt wurde, die ihren Höhepunkt um 1910 erreichte. Gegen die tschechoslowakischen Methoden lassen sich aber auch kritische Einwendungen erheben. Dort galt die Nationalität als entscheidendes Gliederungsmerkmal der Bevölkerung. „Da es aber in der Slowakei und in Ruthenien“, wie Hoensch feststellt, an einer ausreichenden politischen Aufklärung fehlte, das völkische Empfinden noch weitgehend unentwickelt und der Begriff der Nationalität im staatlichen und nicht im völkischen Sinne begriffen wurde, hatte diese Methode, die ein öffentliches nationalpolitisches Bekenntnis verlangte, große Nachteile für nationale Minderheiten: sie ermangelte des objektiven Merkmals der Zugehörigkeit zu einer Nationalität, wie es die Sprache darstellt.“5 Weil die Volkszählungen in beiden Staaten also nicht frei von Nationalitätenkämpfen durchgeführt wurden, dürfte die richtige Zahl der Magyaren weniger als eine Million und mehr als 700 000 betragen haben. Die Unzufriedenheit und das Gefühl der Frustration der Magyaren sind aber auch in diesem Fall begreifbar. Das Hauptproblem der Neuordnung entstand nicht aus dem Nationalitätenprinzip an sich, sondern aus seiner prinzipienlosen und falschen Anwendung. Deswegen wurde die ungarische 4

Romsics, Ignác: Der Friedensvertrag von Trianon. In: Studien zur Geschichte Ungarns Bd. 6. Herne 2005, S. 224. 5 Hoensch: Der ungarische Revisionismus, S. 133, Fn. 6.

Ungarn und der Erste Wiener Schiedsspruch   343

Außenpolitik ganz entscheidend vom Friedensvertrag von Trianon bestimmt. Graduelle Unterschiede bestanden hier lediglich in der Frage, ob eine totale Revision oder eine die ethnischen Gesichtspunkte berücksichtigende Revision anzustreben sei. Bis in die 1930er Jahre erlaubte aber die internationale Lage keine Grenzrevi­ sion in Ostmitteleuropa. Erst Adolf Hitlers Machtergreifung in Deutschland bedeutete eine entscheidende Wende in der Gestaltung der internationalen Kräfteverhältnisse und damit auch für die ungarische Außenpolitik. Es war sicherlich kein Zufall, dass sich Ministerpräsident Gyula Gömbös sofort nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten in persönlichen Briefen an den „Führer“ wandte und sich durch seinen Besuch in Berlin am 17. Juni 1933 um eine enge wirtschaftliche und politische Zusammenarbeit bemühte. Nach den Vorstellungen von Gömbös und anderer ungarischer Politiker sollte Berlin innerhalb eines unter deutscher Führung stehenden Europa Budapest eine Vormachtstellung im Donauraum einräumen.6 Diese ungarische Vorstellung war natürlich eine Illu­ sion. Nach deutscher Auffassung sollte Ungarn auf seine Revisionsforderungen gegenüber Rumänien und Jugoslawien vorerst verzichten und diese zunächst ausschließlich auf die Tschechoslowakei, also auf die Rückgabe Oberungarns, konzentrieren. So stattete Reichsverweser Miklós Horthy am 22. August 1936 Hitler einen Besuch in Berchtesgaden ab und trug seine Vorstellungen einer aktiven Revisionspolitik vor. Er erhielt einmal mehr die Antwort, dass Ungarn nicht alle seine Revisionsforderungen gleichzeitig erheben, sondern all seine Kräfte auf die Tschechoslowakei konzentrieren sollte. Auch wenn Ungarn ständig eine Grenzrevision mit deutscher Hilfe anstrebte, so sahen die ungarischen Politiker gleichzeitig in der Steigerung des deutschen Einflusses im Donauraum eine große Bedrohung. Folgerichtig intensivierte deshalb die Regierung Béla Imrédy die diplomatischen Beziehungen zu Polen und versuchte auch, durch Verhandlungen mit der Kleinen Entente einen friedlichen Revisionserfolg zu erzielen. Die drei Staaten erklärten sich schließlich Ende August 1938 in Bled bereit, die Rüstungsgleichberechtigung Ungarns anzuerkennen und in der Minderheitenfrage einzulenken. Dieser innere Konflikt der ungarischen außenpolitischen Bestrebungen manifestierte sich Ende August 1938 während des Staatsbesuches von Horthy und Imrédy in Deutschland. Die Nachricht der Vereinbarungen von Bled wurde am 22. August bekannt, als sich Horthy und die ungarische Delegation gerade in Kiel aufhielten und als Hitler die ungarischen Politiker wissen ließ, dass er auf die Slowakei und die Karpato-Ukraine keinen Anspruch erhebe, wenn sich die ungarischen Truppen aktiv an der Zerschlagung der Tschechoslowakei beteiligen würden. Die Ungarn waren aber nicht bereit, sich kopfüber in ein Abenteuer mit ungewissem Ausgang zu stürzen. Außenminister Kálmán Kánya erklärte, die Ungarn würden marschieren, wenn auch nur 60– 6

Pritz, Pál.: Magyarország külpolitikája Gömbös Gyula miniszterelnöksége idején 1932–1936 [Die Außenpolitik Ungarns während der Ministerpräsidentschaft von Gyula Gömbös 1932– 1936]. Budapest 1982, S. 116–135.

344   Ignác Romsics 70 Prozent Erfolgsaussichten vorhanden seien. Einen Selbstmord könne man aber nicht von ihnen erwarten. Der „Führer“ geriet gewohnheitsmäßig in Wut und seine Antipathie gegenüber den Ungarn verstärkte sich. „Wer mittafeln wolle, müsse allerdings auch mitkochen“, erklärte er später.7 Wie bekannt führte die dramatische Zuspitzung des deutsch-tschechoslowakischen Konflikts am 29. September 1938 zur Einberufung der Münchener Konferenz der Großmächte. Ein Anhang zum Abkommen besagte, dass Ungarn und die Tschechoslowakei ihre territorialen Probleme innerhalb von drei Monaten bilateral lösen sollten. Sofern sich die tschechoslowakische und die ungarische Regierung nicht einigen könnten, sollte die ungarische und auch die polnische Frage Gegenstand einer weiteren Zusammenkunft der vier Großmächte werden. Dass die ungarischen Forderungen wenigstens in einer Anlage erwähnt wurden, war allein dem Auftreten Mussolinis zu danken. In seiner Eröffnungssprache erklärte Hitler ganz offen, dass er „nur als Sprecher für die deutschen Minderheiten auftreten könne“.8 Die ungarisch-tschechoslowakischen Verhandlungen begannen wegen der ­unklaren Regierungsverhältnisse in Prag erst am 9. Oktober 1938 in Komarno (Komárom). Der Leiter der ungarischen Delegation war Außenminister Kálmán Kánya, während die slowakische Delegation von Jozef Tiso, dem späterem Ministerpräsidenten der slowakischen Regierung geleitet wurde.9 Das ungarische Kabinett erwartete: (1) die sofortige Rückgliederung der geschlossen von Magyaren bewohnten Gebiete der Südslowakei und der Karpato-Ukraine, (2) die Inbesitznahme der restlichen Karpato-Ukraine und der von der ruthenisch sprechenden Bevölkerung bewohnten Gebiete der Ostslowakei, wodurch die für Ungarn strategisch wichtige gemeinsame Grenze mit Polen erreicht würde, (3) und den Anschluss der von Slowaken bewohnten Südkarpaten. Bei den offiziellen Verhandlungen wurden aber nur die folgenden Ansprüche erhoben: (1) die sofortige symbolische Besetzung einiger Siedlungen, (2) die Abtretung aller von Magyaren bewohnten Gebiete in der Tschecho-Slowakei und (3) ein Plebiszit in der restlichen Slowakei und in der restlichen Karpato-Ukraine. Das von Ungarn bewohnte Gebiet umfasste einen Gürtel von 14 000 qkm südlich der Linie Bratislava (Pozsony) – Nitra – Košice (Kassa) – Užhorod (Ungvár) –Mukačevo (Munkács). In diesem Gebiet lebten 1910 etwa 1 090 000 Einwohner, 7

Hoensch: Der ungarische Revisionismus, S. 78–80. Ebenda, S. 103–104 9 Die Verhandlungen wurden von der neu etablierten slowakischen Landesregierung, nicht von der Prager Zentralregierung geführt. Zudem nahm Ivan Párkányj als Minister für karpatoukrainische Fragen im Auftrag der Prager Regierung an den Gesprächen teil. Vgl. Hoensch: Der ungarische Revisionismus, S. 130 f. 8

Ungarn und der Erste Wiener Schiedsspruch   345

davon waren nach den ungarischen Angaben fast 850 000 oder 78% Magyaren. Der Anteil der Slowaken betrug 13,5%, derjenige der Deutschen 6%. In der ersten Phase der Verhandlungen sagte die slowakische Delegation die symbolische Abtretung von Sahy (Ipolyság) und der Eisenbahnstation von Slovenské Nové Mesto (Sátoraljaújhely) zu (diese Eisenbahnstation gehörte nach 1920 zur Tschechoslowakei während die Stadt ungarisch blieb.) Sie wies aber die Forderung nach einem Plebiszit in der Rest-Slowakei und in der Karpato-Ukraine entschieden zurück. Die Berechtigung von Grenzrevisionen bestritten die slowakischen Delegierten nicht prinzipiell. Sie lehnten aber die Volkszählungsergeb­ nisse von 1910 als Verhandlungsgrundlage ab. Einen konkreten Gegenvorschlag machten sie aber nicht. Am zweiten Tag akzeptierte die ungarische Delegation, dass die Frage einer Volksabstimmung in slowakischen und karpato-ukrainischen Gebieten nicht verhandelbar war. Im Weiteren wurde also nur die Frage der eventuellen Grenzrevision behandelt.10 Am 12. Oktober legte Tiso das erste konkrete Angebot vor. Es sah die Gewährung einer Territorialautonomie für die ungarische Minderheit innerhalb der Tschecho-Slowakei vor. Darauf antwortete Kánya, dass er zum Verhandeln, nicht aber „zum Witze reißen“ nach Komárom gekommen sei. Nach einer Pause präsentierte Tiso sein erstes territoriales Angebot. Er bot die Abtretung der Großen Schütt-Insel mit 1800 qkm Fläche und 120 000 Einwohnern, die beinahe ausschließlich Magyaren waren, an. Am 13. Oktober brachte Tiso sein zweites territoriales Angebot ein. Es ging um einen schmalen Landstreifen an der Südgrenze mit 5400 qkm. Nach slowakischen Angaben lebten hier 400 000 Einwohner davon 320 000 Magyaren und 44 000 Slowaken. Nach ungarischen Quellen betrug die Zahl der Bevölkerung 350 000, davon 342 000 mit ungarischer Nationalität. Die slowakische Delegation begründete ihren Vorschlag damit, dass auf diese Weise die Zahl der in der Slowakei bleibenden Magyaren mit der Zahl der in Ungarn lebenden Slowaken gleich wäre. Nach den slowakischen Schätzungen lebten nämlich in Trianon-Ungarn etwa 400 000 Slowaken. Die ungarischen Volkszählungen registrierten aber nur 104 000 (1930). Daraufhin wurden die Verhandlungen abgebrochen. Im Namen der ungarischen Delegation erklärte Außenminister Kánya: „Auf dieser Basis können wir die Verhandlungen nicht weiterführen. Die ungarische Delegation wäre bereit, kleinere Veränderungen ihres Vorschlags durchzuführen. Das Angebot aber, das die tschecho-slowakische Delegation vorschlägt, ist für Ungarn inakzeptabel.“ Der slowakische Rundfunk teilte am selben Tag mit, dass die tschecho-slowakischen Truppen bereit wären, die Grenzen auch mit Waffen zu verteidigen.11 Gemäß dem bereits erwähnten Zusatz zum Münchener Abkommen sollten nun die vier Großmächte entscheiden. Obwohl Mussolini einen Vier-MächteEntscheid unterstützt hätte, lehnte Hitler diesen kategorisch ab. Stattdessen empfahl er sowohl den ungarischen als auch den tschecho-slowakischen Politikern die 10 Sallai:

Az első bécsi döntés, S. 82–91. Der ungarische Revisionismus, S. 140

11 Hoensch:

346   Ignác Romsics Wiederaufnahme der bilateralen Verhandlungen. Gleichzeitig machte er klar, dass der Inhalt der Vereinbarung eine ethnisch gerechtfertigte Linie sein solle. Dafür überreichten die Ungarn den deutschen Politikern einen neuen Vorschlag, der auf kleinere Territorien verzichtete. Diese sogenannte Darányische Linie (Kálmán Darányi war der ungarische Verhandlungspartner von Hitler und von Ribbentrop), wurde von Reichsaußenminister Ribbentrop modifiziert. Nach Ribbentrops Vorstellungen wären bei einer korrekten Grenzziehung Bratislava und Nitra bei der Slowakei, Užhorod (Ungvár) und Munkács (Mukačevo) bei der Karpato-­ Ukraine verblieben. Direktverhandlungen wären nur über die Zukunft von Košice (Kassa), bzw. der Umgebung dieser Stadt notwendig geworden. Mit diesem Drehbuch waren auch die Westmächte zufrieden, weil sie in der Wiederaufnahme der Verhandlungen die Möglichkeit einer friedlichen Beilegung des Grenzkonflikts sahen. Nach dem Vorschlag von Ribbentrop hätte Ungarn ein Gebiet mit 9600 qkm Fläche wiedergewonnen. Das bedeutete 68,5 Prozent der ursprünglichen ungarischen Forderung und 93% des zweiten ungarischen, von Darányi überreichten Vorschlags. Nach den tschecho-slowakischen Quellen lebten hier 728 000 Einwohner, davon fast 500 000 Magyaren. Die Zahl der Slowaken betrug 168 000. Nach den ungarischen Angaben von 1910 war der Anteil der Magyaren noch höher. Die tschecho-slowakische Regierung akzeptierte diesen deutschen Vorschlag und teilte ihren Standpunkt am 22. Oktober 1938 dem ungarischen Gesandten in Prag mit. Die Annahme dieses Angebots durch die ungarische Regierung hätte bedeutet, dass zwei ostmitteleuropäische Staaten unter dem Druck der Großmächte in der Lage waren, auf friedlichem und bilateralem Wege ihren Grenzstreitfall beizulegen. Das war aber nicht der Fall. Die ungarische Regierung lehnte das letzte tschecho-slowakische Angebot ab und übergab am 24. Oktober ihren Gegenvorschlag in Prag. Nach ihrer Note sollte die tschecho-slowakische Armee das von Prag akzeptierte Gebiet innerhalb von drei Tagen räumen und der Honvéd, der ungarischen Armee, übergeben. Die künftige Zugehörigkeit der umstrittenen Gebiete und Städte sollte eine Volksabstimmung unter internationaler Kontrolle entscheiden. Über die Zugehörigkeit von Bratislava (Pozsony) schlugen die Ungarn weitere Besprechungen vor. Für den Fall der Ablehnung dieser Vorschläge durch die tschecho-slowakische Regierung, empfahl die ungarische Regierung einen Schiedsspruch der Achsenmächte und Polens.12 Die tschecho-slowakische Regierung erörterte die ungarischen Gegenvorschläge am 25./26. Oktober 1938. Das Ergebnis dieser Diskussionen war die Annahme der Arbitrage der Achsenmächte. Die Teilnahme von Polen wurde aber in Prag abgelehnt. Nach den tschecho-slowakischen Vorstellungen sollten sich beide Staaten dem Schiedsspruch von vornherein unterwerfen und innerhalb eines Tages in Berlin und in Rom um die Übernahme des Schiedsrichteramtes nachsuchen. Der zweite Abschnitt der ungarisch-tschecho-slowakischen Verhandlungen endete also mit der Anrufung der Arbitrage Deutschlands und Italiens. Nach dem 12 Sallai:

Az első bécsi döntés, S. 104–112.

Ungarn und der Erste Wiener Schiedsspruch   347

Eintreffen der ungarischen und tschecho-slowakischen Noten erklärte die Reichsregierung am 30. Oktober ihre Bereitschaft, an der Durchführung der Arbitrage teilzunehmen. Italien hatte dies bereits früher getan. Die Regierungen Frankreichs und Großbritanniens erhoben keine Einwände gegen ihren Ausschluss. Das im Münchener Abkommen vorgezeichnete Verfahren wurde also ohne Widerspruch der britischen und der französischen Regierung aufgegeben.13 Die Entscheidung wurde am 2. November in Wien getroffen. Die neue Grenz­ linie zwischen Ungarn und der Tschecho-Slowakei wurde gemeinsam mit den Außenministern Ciano und Ribbentrop festgelegt. Von Ciano wurde die so­ genannte Ribbentrop Linie wesentlich zugunsten Ungarns modifiziert. Das im Ersten Wiener Schiedsspruch an Ungarn abgetretene Gebiet betrug nämlich mehr als 12 000 qkm mit einer Bevölkerung von fast rund 1 000 000 Einwohnern. Das machte 86% der ursprünglichen ungarischen Forderung aus. Die umstrittenen Städte Bratislava und Nitra blieben innerhalb der Slowakei. Košice (Kassa), Užhorod (Ungvár) und Mukačevo (Munkács) kehrten aber zu Ungarn zurück. Die Slowakei verlor rund 19% ihrer Fläche und rund 26% ihrer Einwohner. Was die ethnische Einteilung der Bevölkerung betrifft, sind die Zahlen und die Prozentsätze wieder unterschiedlich. Nach den tschecho-slowakischen Angaben von 1930 erreichte der Anteil der Magyaren nur 56,8%. Nach der neuen ungarischen Volkszählung von 1941 betrug der Prozentsatz der Magyaren 84%. Der große Unterschied erklärt sich teilweise durch die Bevölkerungsbewegungen, zu denen es vor und nach der Arbitrage kam. Die tschechischen Beamten und Siedler verließen das übergebene Gebiet, während die ehemaligen ungarischen Flücht­ linge, die jetzt zurückkehrten und die sogenannten Fallschirmjäger, die neue Anstellungen suchten, die Zahl der Magyaren erhöhten. Es gab natürlich Menschen mit einer doppelten oder unsicheren Identität und, wie erwähnt, unterschieden sich auch die Volkszählungsmethoden. Die Magyaren repräsentierten jedenfalls eine absolute Mehrheit. Die Grenzziehung in Wien war also unter ethnischen Gesichtspunkten korrekter als die Entscheidung der Siegermächte in Trianon. Von einem machtpolitischen Standpunkt aus betrachtet diente der Schiedsspruch aber vor allem Hitlers weitgehendem Ostkonzept. Wie wurde die Arbitrage aufgenommen? Die britischen Politiker erklärten mehrmals und ganz offen, dass der Erste Wiener Schiedsspruch, den sie für gerechtfertigt und akzeptabel hielten, dem Geist des Münchener Abkommen entsprach. Die Franzosen waren derselben Meinung. Die halboffizielle Zeitung des Quai d’Orsay (Le Temps) bezeichnete zwar den Schiedsspruch als „Diktat von Wien“, erklärte aber, dass er „die Gefahr schwerer Komplikationen zwischen Budapest und Frankreich beseitigt und die Lage im Geiste des Münchener Abkommens bereinigt“ habe.14 Es war selbstverständlich, dass die Gebietsrückgabe von der überwiegenden Mehrheit der ungarischen Gesellschaft mit großer Freude begrüßt wurde. Es war 13 Ebenda,

S. 113–122. Der ungarische Revisionismus, S. 181–198, (Zitat auf der Seite 195).

14 Hoensch:

348   Ignác Romsics genauso selbstverständlich, dass die Slowaken enttäuscht waren. Das Verhältnis zwischen Ungarn und dem am 14. März 1939 proklamierten Slowakischen Staat war während des Krieges stets feindselig, obwohl beide Staaten zu demselben machtpolitischen Block gehörten. Die Beziehungen zwischen diesen beiden Nachbarländern sind auch heute noch belastet.

· Stanisław Zerko

Polen, die Sudetenkrise und die Folgen des Münchener Abkommens Spätestens beim Ausbruch der Sudetenkrise traten die grundlegenden Dilemmata der polnischen Außenpolitik der 1930er Jahre ans Tageslicht. Das damalige Hauptproblem der in Warschauer Regierungskreisen erörterten äußeren Sicherheit des Landes bildeten die Beziehungen zum nationalsozialistischen Deutschland, das sich als äußerst dynamischer Machtfaktor auf dem internationalen Parkett erwies. Angesichts der britischen und französischen „Appeasement“-Politik gegenüber dem Dritten Reich, aber auch vor dem Hintergrund der mit der politischen Strategie des Kremls verbundenen Gefahren waren die Handlungsspielräume der polnischen Diplomatie noch geringer als in den 1920er Jahren. Die politischen Entscheidungsträger in Warschau waren sich dieser Beschränkungen voll bewusst. Dennoch unterschätzte man die potentielle Bedrohung Polens, die sich aus der wachsenden Machtposition des Dritten Reiches ergab. Statt dessen hielt der polnische Außenminister Józef  Beck angesichts der geplanten deutschen Militäraktion gegen die ČSR den Zeitpunkt für gekommen, von Prag die Abtretung eines Territoriums zu erzwingen, das seit vielen Jahren Gegenstand eines erbitterten Grenzstreits zwischen Polen und der Tschechoslowakei gewesen war. Der drohende Zerfall des tschechoslowakischen Staates wurde aus polnischer Sicht sogar begrüßt. Die politischen Beziehungen zwischen Polen und der ČSR waren seit Beginn der Zwischenkriegszeit erheblichen Belastungen ausgesetzt, die sich nach 1934 immer weiter zuspitzten.1 Bereits unmittelbar nach Ende des Ersten Weltkrieges 1

Zu den polnisch-tschechoslowakischen Beziehungen der Jahre 1918–1938 existiert eine umfangreiche Sekundärliteratur. Seitens der polnischen Forschung ragen folgende Monographien und Sammelbände heraus: Kołakowski, Piotr: Między Warszawą a Pragą. Polsko-czechosłowackie stosunki wojskowo-polityczne 1918–1939 [Zwischen Warschau und Prag. Die militärisch-politischen Beziehungen zwischen Polen und der Tschechoslowakei 1918–1939]. Warszawa 2009. Stosunki polsko-czechosłowackie 1932–1939 w relacjach dyplomatów II Rze­ czypospolitej [Die polnisch-tschechoslowakischen Beziehungen 1932–1939 in zeitgenössischen Berichten von Diplomaten der Zweiten Polnischen Republik]. Bearb. v. Sławomir M. Nowinowski. Lódz 2006. Stosunki polsko-słowackie w I połowie XX wieku. Materiały pokonferencyjne [Die polnisch-slowakischen Beziehungen in der ersten Hälfte des 20. Jhts. Konferenzmaterialien]. Red. Joanna Głowinska. Wroclaw 2006. Kamiński, Marek K.: Konflikt polsko-czeski 1918–1921 [Der polnisch-tschechische Konflikt 1918–1921]. Warszawa  2001. Stosunki polsko-czesko-słowackie w latach 1918–1945 [Die polnisch-tschechisch-slowakischen Beziehungen 1918–1945]. Red. Ewa Orlof. Rzeszów 1992. Wandycz, Piotr S.: The Twilight of French Eastern Alliances, 1926–1936. French-Czechoslovak-Polish Relations from Locarno to the ­Remilitarization of the Rhineland. Princeton  (N.J.)  1988. Ders.: France and her Eastern Allies 1919–1925. French-Czechoslovak-Polish Relations from the Paris Peace Conference to ­Locarno. Minneapolis 1962. Szklarska-Lohmannowa, Alina: Polsko-czechosłowackie stosunki dyplomatyczne 1918–1925 [Die diplomatischen Beziehungen zwischen Polen und der Tschechoslowakei 1918–1925]. Wrocław  1967. Kozeński, Jerzy: Czechosłowacja w polskiej ­polityce zagranicznej 1933–1938 [Die Tschechoslowakei in der polnischen Außenpolitik 1933–1938]. Poznań 1964.

350   Stanisław Żerko warfen die Auseinandersetzungen um den südlich des Flusses Olsa gelegenen Teil des Teschener Schlesiens (sog. „Olsa-Gebiet“ – poln.  Zaolzie) einen dunklen Schatten auf das Verhältnis zwischen Warschau und Prag. Denn in Polen hatte man nicht vergessen, dass dieser überwiegend von Polen bevölkerte Gebietsstreifen2 im Januar  1919 von tschechoslowakischen Truppen besetzt und im Sommer  1920 – als die Rote Armee vor den Toren Warschaus stand – von der ČSR ohne vorherige Volksabstimmung annektiert worden war. Beinahe sämtliche politischen Gruppierungen Polens vertraten seitdem die Auffassung, dass das OlsaGebiet aus ethnischen Gründen dennoch zum polnischen Staat gehöre. Seit dem „Mai-Umsturz“ von 1926, durch den das politische Lager von Marschall Józef Piłsudski (poln. Sanacja) die Macht im Lande übernahm, ging man in Warschau fest davon aus, dass man unter günstigen Umständen in der Zukunft auch das Olsa-Gebiet zurückgewinnen könne. Die Lage der dort lebenden Polen wurde ­dabei nicht zu Unrecht als höchst unbefriedigend eingestuft. Denn die tschechoslowakischen Behörden betrieben gegenüber der polnischen Bevölkerung im ­Teschener Schlesien tatsächlich eine Politik der schrittweisen nationalen Assimilation. Zugleich unterstützte auch die polnische Diplomatie im Verbund mit ­geheimdienstlichen Aktivisten die gegen Prag gerichtete Tätigkeit polnischer Minder­heitenorganisationen in der ČSR. Die bis Mitte der 1920er Jahre bzw. im Frühjahr 1933 erneut unternommenen Versuche einer politischen Annäherung zwischen Warschau und Prag schlugen rasch fehl. Der seit Anfang November 1932 amtierende polnische Außenminister Józef  Beck legte gegenüber den Machthabern der Tschechoslowakei eine starke persönliche Abneigung an den Tag, die übrigens auch von Marschall  Piłsudski vollauf geteilt wurde. Unabhängig von dem schwelenden Territorialkonflikt um Teschen kristallisierten sich in den 1930er Jahren tiefgreifende Unterschiede in der außenpolitischen Orientierung beider Staaten heraus, obwohl sowohl Polen als auch die ČSR durch bilaterale Beistandspakte mit Frankreich verbunden ­waren. Eine wesentliche Ursache für die unüberbrückbaren Gegensätze zwischen Polen und der Tschechoslowakei bildete die eigentümliche Rivalität um die regionale Führungsrolle in Ostmitteleuropa. Denn die ČSR stellte aus polnischer Sicht ein gravierendes Hindernis für die anvisierte Bildung eines neutralen Blocks aus kleinen und mittleren Staaten zwischen Baltikum, Schwarzem Meer und Adriaküste dar (Idee des sog. „Zwischenmeerlands“ – poln. Międzymorze).3 Warschau 2

Gemäß der unter Vermittlung der Westmächte am 3. Februar  1919 festgelegten bilateralen Demarkationslinie hatte das der ČSR zuerkannte umstrittene Gebiet eine Fläche von 1280  qkm. Von den dort ansässigen 295 000  Menschen waren 48,6% Polen, ca. 40% Tschechen und 11,3% Deutsche. Der an Polen fallende Teil des Teschener Schlesiens war 1002 qkm groß und zählte 139 000 Bewohner – darunter 61%  Polen, 31%  Deutsche und 1,4% Tschechen. Vgl. Chmielarz, Andrzej: Walka o Śląsk Cieszyński w 1918 i 1919 roku [Der Kampf um das Teschener Schlesien 1918–1919]. In: Stosunki polsko-czesko-słowackie 1918–2005 [Die polnisch-tschechisch-slowakischen Beziehungen 1918–2005]. Red. Janusz Gmitruk/Andrzej Stawarz. Warszawa 2006, S. 85. 3 Vgl. zu diesen von der zeitgenössischen Presse Polens vor allem unter dem Begriff „Drittes Europa“ zusammengefassten Plänen Kornat, Marek: Sehenden Auges. Polens Außenpolitik

Polen, die Sudetenkrise und die Folgen des Münchener Abkommens   351

setzte sich ferner immer offener für die slowakischen Autonomiebestrebungen ein und machte aus seiner wohlwollenden (später auch unterstützenden) Haltung in Hinblick auf die ungarischen Territorialansprüche gegenüber der ČSR kaum noch einen Hehl. Darüber hinaus herrschte in den 1930er Jahren in polnischen Regierungskreisen zunehmend die Überzeugung, dass der tschechoslowakische Vielvölkerstaat ein künstliches Gebilde verkörpere, das letztendlich zum inneren Zerfall verurteilt sei. Abgesehen davon warf man den Machthabern in Prag vor, die ukrainische Irredenta-Bewegung im eigenen Land insgeheim zu fördern. Warschau und Prag trennte ferner die grundsätzliche Haltung gegenüber der Politik der Reichsregierung und des Kremls. Denn während Polen hartnäckig sämtliche Versuche bekämpfte, sowjetischen Modellen der kollektiven Sicherheit Europas eine feste Gestalt zu verleihen, betrachtete die ČSR diesbezügliche Bestrebungen Moskaus nicht nur mit größtem Wohlwollen, sondern schloss im Mai 1935 sogar einen bilateralen Beistandspakt mit der UdSSR. Da sich Warschau bislang vehement gegen das politische Engagement des Kremls bei der Lösung europäischer Sicherheitsprobleme gestemmt hatte, hielt man das Vorgehen Prags bestens dazu geeignet, einer sowjetischen Expansion nach Zentraleuropa den Weg zu ebnen, was indirekt auch gegen essenzielle Interessen Polens verstoßen hätte. Darüber hinaus beschuldigte man die tschechoslowakische Regierung, die Tätigkeit der kommunistischen Partei im eigenen Lande zu tolerieren und den Aktivitäten der Komintern-Außenstellen tatenlos zuzusehen. Bilaterale Spannungen bestanden auch in Zusammenhang mit der Politik beider Staaten gegenüber dem Dritten Reich. Denn während sich die deutsch-tschechoslowakischen Beziehungen in der Ära der Weimarer Republik insgesamt eher reibungslos gestalteten, war das Verhältnis zwischen Warschau und Berlin durch zahlreiche Feindseligkeiten geprägt. Daher sah man auch nach der Machtergreifung Hitlers in Prager Regierungskreisen überhaupt keinen Grund, warum nun eine wie auch immer geartete Intensivierung der bilateralen Beziehungen zu Polen in Betracht kommen sollte. Außerdem glaubte man in Prag nicht daran, dass es Warschau gelingen werde, sich den deutschen Revisionsforderungen auf längere Sicht erfolgreich zu widersetzen. Auch der Versuch einer engeren Koordinierung der beiderseitigen Außenpolitik angesichts der gemeinsamen Bedrohung vor dem Hitler-Stalin-Pakt. In: Osteuropa 50/7 8 (2009), S. 47–74. Ders.: Realny projekt czy wizja ex  post? Koncepcja „Trzeciej Europy“ Józefa Becka [Realprojekt oder Vision ex  post? Józef Becks Konzeption des „Dritten Europas“]. In: Prace Komisji Środkowoeuropejskiej 15 (2007), S. 21–50. Grygajtys, Krzysztof: Sowiecka strategia geopolityczna w Europie a Polska 1923–1943 [Polens Haltung zur geopolitischen Strategie der UdSSR in Europa 1923–1943]. Warszawa  2006, S. 88–95. Troebst, Stefan: „Intermarium“ und „Vermählung mit dem Meer“. Kognitive Karten und Geschichtspolitik in Ostmitteleuropa. In: Geschichte und Gesellschaft 28/3 (2002), S. 435–469. Znamierowska-Rakk, Elżbieta: Sprawa połączenia Bałtyku z Morzem Czarnym i Morzem Egejskim w polityce II Rzeczypospolitej [Das Problem der Verbindung von Ostseeraum, Schwarzem Meer und Ägäis in der Politik der Zweiten Polnischen Repu­ blik]. In: Międzymorze. Polska i kraje Europy Środkowo-Wschodniej – XIX–XX wiek [Zwischenmeerland. Polen und die Länder Ostmitteleuropas – 19.–20. Jht.]. Warszawa  1995, S. 287–298.

352   Stanisław Żerko durch den im Juli 1933 auf Betreiben Mussolinis geschlossenen Viererpakt endete bald mit einem herben Rückschlag. Die seitdem erkennbare kontinuierliche Verschlechterung der polnisch-tschechoslowakischen Beziehungen gipfelte am Vorabend der Sudetenkrise in einem geradezu eisigen Verhältnis zwischen Warschau und Prag – diesmal jedoch unter umgekehrten Vorzeichen. Denn während Polen seine Beziehungen zum Deutschen Reich nach der Machtergreifung Hitlers völlig unerwartet normalisieren konnte, wurde die ČSR innerhalb weniger Jahre zum Hauptziel der nationalsozialistischen Expansionsbestrebungen. Die Unterzeichnung der deutsch-polnischen Gewaltverzichtserklärung vom 26. Januar  1934 (auf Betreiben der deutschen Diplomatie wurde dabei die Bezeichnung „Nichtangriffspakt“ bewusst vermieden!) markiert eine folgenreiche Zäsur in der Geschichte der polnischen Außenpolitik der Zwischenkriegszeit.4 Ohne die Charakterisierung der nach 1934 geltenden Grundaxiome dieser Politik bleiben jedoch die Motive unverständlich, von denen sich Warschau während der Sudetenkrise im Frühjahr 1938 leiten ließ. Das eigentliche Fundament der Außenpolitik Polens bis 1939 bildete das von Marschall Piłsudski persönlich ausgehandelte und im Februar 1921 unterzeichnete Beistandsabkommen mit Frankreich. Parallel dazu traf man in polnischen Regierungskreisen schon relativ früh Vorkehrungen für eine politische Annäherung an Großbritannien, was sich jedoch nicht nur aufgrund der unterschiedlichen Haltung beider Länder in der Deutschlandpolitik bald als reines Wunschdenken erwies. Die aus den starken Revisionsbestrebungen Berlins resultierenden schlechten Beziehungen Polens zum Deutschen Reich bildeten rasch das Grundproblem der polnischen Diplomatie. Als Frankreich Mitte der 1920er Jahre von seiner starren Linie gegenüber der Weimarer Republik abrückte und nach einem sicherheitspolitischen Modus vivendi mit seinem großen Nachbarstaat im Osten suchte, wurde die internationale Lage für Polen erheblich komplizierter.5 Denn die Locarno-Verträge von 1925 bedeuteten aus der Sicht Warschaus vor allem eine Schwächung des eigenen Schutzbündnisses mit Frankreich.6 Daher gewann die Revitalisierung dieses Bündnisses für die polnische Außenpolitik in der Folgezeit höchste Priorität. Die dabei in Warschauer Regierungskreisen gehegten Hoffnungen erwiesen sich jedoch als trügerisch. Polen befürchtete weiterhin, dass die auf politische Verständigung mit dem Deutschen Reich fixierten Westmächte im Na4

Vgl. Schattkowsky, Ralph: Innen- und außenpolitische Aspekte des deutsch-polnischen Nichtangriffsabkommens vom 26. Januar 1934. In: Deklaracja polsko-niemiecka o niestosowaniu przemocy z dnia 26 stycznia 1934 r. z perspektywy Polski i Europy w siedemdziesiątą rocznicę podpisania [Die deutsch-polnische Gewaltverzichtserklärung vom 26. Januar 1934 aus polnischer und europäischer Perspektive am 70. Jahrestag der Unterzeichnung]. Red. Mieczysław Wojciechowski. Toruń 2005, S. 22–39. 5 Bereits während der Ruhrkrise 1923 klagte man in Warschau darüber, dass Frankreich den polnischen Bündnispartner de facto lediglich als Vasallen behandle. Vgl. Tagebucheintrag des Sejm-Marschalls Maciej Rataj vom 4. 2. 1923 über das Gespräch mit Außenminister Aleksander Skrzyński. In: Rataj, Maciej: Pamiętniki [Memoiren]. Warszawa 1965, S. 157. 6 Die treffendste Analyse der Dilemmata der polnischen Außenpolitik nach Locarno bietet nach wie vor Wandycz: The Twilight of French Eastern Alliances.

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men des europäischen Friedens zumindest eine teilweise Korrektur des deutschpolnischen Grenzverlaufs für notwendig erachten würden. Vor diesem Hintergrund beschloss man in Warschau, konkreten Nutzen aus der Machtübernahme Hitlers zu ziehen, da dieser allem Anschein nach eine Kehrtwende in der traditionellen deutschen Polenpolitik zu vollziehen gedachte.7 Infolge dessen kam es zu einer für die Weltöffentlichkeit überraschenden Entspannung der beiderseitigen Beziehungen, was in der Unter­zeichnung der deutsch-polnischen Nichtangriffserklärung vom 26. Januar 1934 sichtbaren Ausdruck fand. Die Normalisierung des bilateralen Verhältnisses bedeutete für Marschall Piłsudski und Außenminister Beck einen großen außenpolitischen Erfolg. Denn die Entspannung der Beziehungen Polens zum Dritten Reich erweiterte die Handlungsspielräume der polnischen Diplomatie erheblich. Nach Ansicht Piłsudskis hatte diese Lösung jedoch allenfalls provisorischen Charakter, worauf er im März 1934 bei einer Beratung im engsten Vertrautenkreis ausdrück­lich hinwies. Demnach befanden sich die guten Beziehungen zwischen Warschau und Berlin lediglich in einem Übergangsstadium, das kaum länger als vier Jahre anhalten würde.8 Ungeachtet dessen sollte Polen laut Piłsudski eine lavierende Politik der Äquidistanz zwischen Ost und West betreiben, die man im polnischen ­Außenministerium intern als „Gleichgewichtspolitik“ bezeichnete. Vor dem Hintergrund des im Juli 1932 geschlossenen Nichtangriffspakts mit der UdSSR und der deutsch-polnischen Gewaltverzichtserklärung vom Januar  1934 vermieden Piłsudski und Beck es seither strikt, sich mit einem der beiden mächtigen Nachbarstaaten gegen den anderen zu verbünden. Daher lehnte man die vom französischen Außenminister Louis  Barthou und seinem sowjetischen Amtskollegen Maksim  Litvinov angebotene Teilnahme am „Ost-Locarno“-Projekt (sog.  „Ostpakt“) rigoros ab, wollte sich aber auch nicht als „Juniorpartner“ Hitlers mit dem Dritten Reich gegen die UdSSR verbünden. Diese „Gleichgewichtspolitik“ spiegelte dennoch nicht das tatsächliche Verhältnis Polens zu den beiden Großmächten in Ost und West wider. Denn die politischen Beziehungen zwischen Warschau und Moskau wurden von Jahr zu Jahr schlechter und gelangten im September 1938 an ihren vorläu­figen Tiefpunkt. Genau umgekehrt verhielt es sich mit den deutsch-polnischen Beziehungen, in denen eine gute und streckenweise sogar ausgezeichnete Atmosphäre herrschte.

Vgl. zu den deutsch-polnischen Beziehungen nach Hitlers Machtergreifung Żerko, Stanisław: Stosunki polsko-niemieckie 1938–1939 [Die deutsch-polnischen Beziehungen 1938–1939]. Poznań  1998. Wojciechowski, Marian: Die polnisch-deutschen Beziehungen 1933–1938. Leiden  1971. Roos, Hans: Polen und Europa. Studien zur polnischen Außenpolitik 1931–1939. 2. Aufl. Tübingen 1965. 8 „Der Kommandant schätzt, dass die guten Beziehungen zwischen Polen und Deutschland aufgrund der sich im deutschen Volk vollziehenden psychischen Veränderungen noch vier Jahre andauern können, für mehr Jahre möchte sich der Kommandant jedoch nicht verbürgen“ (Zit. Świtalski, Kazimierz:Diariusz 1919–1935 [Tagebuch 1919–1935]. Warszawa 1992, S. 660 f.). 7

354   Stanisław Żerko Hitlers Motive für die Abkehr von der traditionell antipolnischen Politik der Weimarer Republik waren anfangs rein taktischer Art.9 Denn der neue Reichskanzler wollte sein Regime zunächst unversehrt durch die zeitliche „Risikozone“ führen, solange das Land in politischer und militärischer Hinsicht noch auf unsicheren Füßen stand: Es ging darum, Zeit zu gewinnen, um die eigene Herrschaft weiter zu festigen, Deutschland hochzurüsten und das französische Sicherheitssystem im Osten Europas dadurch zu schwächen, dass man einen Keil in das ­polnisch-französische Verhältnis trieb. Zugleich torpedierte die NS-Diplomatie sämtliche Versuche der Bildung einer antideutschen Bündniskonstellation in ­Europa, wobei potentielle gegnerische Staaten über die wahren Absichten des Dritten Reiches hinweggetäuscht und orientierungslos gemacht werden sollten. Die Unterzeichnung der deutsch-polnischen Gewaltverzichtserklärung bewies, dass Hitler auch dort nach Verständigungsmöglichkeiten suchte, wo Konflikte bislang als unvermeidlich gegolten hatten. Bald darauf hielt der deutsche Diktator jedoch den Zeitpunkt für gekommen, die taktische Verständigung mit Polen in ein dauerhaftes Bündnis umzuwandeln.10 Dahinter stand die Auffassung, dass sich vielleicht auch für den polnischen Nachbarn ein fester Platz im zukünftigen „deutschen Europa“ finden würde. Die hegemoniale Stellung des Dritten Reiches auf dem Alten Kontinent sollte auf dem nationalsozialistischen Machtimperium im Osten Europas gründen – und damit auf den Trümmern der Sowjetunion. Als wichtigste Bundesgenossen galten dabei Großbritannien und Italien, wobei Hitler in den 1930er Jahren auch Japan als verbündeten Staat ansah. Nach 1933 hegte der „Führer“ zunächst die Absicht, den das Deutsche Reich von der UdSSR abgrenzenden polnischen Nachbarstaat mit seinem ansehnlichen Militärpotential als „Juniorpartner“ für einen zukünftigen Krieg gegen die Sowjetunion zu gewinnen. Dabei spielte die unverhohlene persönliche Anerkennung, die Hitler und andere hochrangige NS-Würdenträger Marschall Piłsudski aufgrund dessen Sieges über die Rote Armee im Sommer 1920 entgegenbrachten, eine erhebliche Rolle. Nicht unwichtig war auch die Tatsache, dass das von Piłsudski im Mai  1926 eingeführte autoritäre Regierungssystem in Polen eine sichtbare Abkehr von den Hitler so verhassten Prinzipien der parlamentarischen Demokratie verkörperte. Seit seiner Machtübernahme im Januar 1933 warnte der deutsche Reichskanzler in fast allen Unterredungen mit polnischen Diplomaten vor der Bedrohung durch die UdSSR und sprach von der bedeutsamen Rolle Polens im Osten Europas. Innerhalb kürzester Zeit unternahmen die nationalsozialistischen Machthaber intensive Bemühungen, Polen als Bundesgenossen im Kampf gegen die Sowjetunion zu gewinnen. Eine Schlüsselrolle   9 Eine

eingehende Analyse des Kurswechsels der deutschen Polenpolitik bietet u. a. Wollstein, Günter: Vom Weimarer Revisionismus zu Hitler. Das Deutsche Reich und die Großmächte in der Anfangsphase der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland. Bonn – Bad Godesberg 1973. 10 Vgl. eingehender: Żerko, Stanisław: Polska w hitlerowskiej koncepcji polityki zagranicznej 1933–1939 [Polen in Hitlers außenpolitischer Konzeption 1933–1939]. In: Studia nad Faszyzmem i Zbrodniami Hitlerowskimi 24 (2001), S. 247–276.

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spielte dabei Hermann  Göring, unter dessen Obhut Hitler die Beziehungen zu Polen stellte.11 Die seit 1935 anlässlich der traditionellen Jagdausflüge in der Bialowiezer Heide (an der Grenze zu Weißrussland) abgehaltenen Besuche des Reichsfeldmarschalls bei Außenminister  Beck boten eine günstige Gelegenheit, der polnischen Seite das Angebot Hitlers ohne größere Umschweife näherzubringen. An dieser diplomatischen Aktion beteiligten sich auch andere NS-Größen wie z. B. Joseph Goebbels12 und der spätere Generalgouverneur Hans Frank.13 Bereits vor seiner Amtszeit als Außenminister schaltete sich ferner Joachim von Ribbentrop in die deutschen Bestrebungen ein, die polnische Regierung von den Vorzügen einer „Juniorpartnerschaft“ zu überzeugen. Nichtsdestoweniger wurde das Auswärtige Amt von Anhängern der traditionellen antipolnischen Orientierung dominiert, die sich mit Hitlers neuem Kurs sehr schwer taten und daher wiederholt versuchten, ihn auf vielfältige Weise zu torpedieren. Auch in der deutschen Gesellschaft und insbesondere innerhalb der konservativen Eliten stieß die neue Polenpolitik insgesamt auf breite Ablehnung. Aus ihrer Enttäuschung machten auch zahlreiche Führer der deutschen Minderheit in Polen keinen Hehl, die sich darüber beklagten, dass Berlin die eigenen Landsleute jenseits der Ostgrenze sträflich im Stich lasse. In Warschau reagierte man auf die deutschen Avancen mit entschiedener Ablehnung oder äußerster Zurückhaltung. Die polnische Regierung bemühte sich zwar um möglichst korrekte Beziehungen zum Dritten Reich, ließ sich jedoch nie auf ein bilaterales Sicherheitsbündnis ein. Das oberstes Ziel der polnischen Außenpolitik bestand weiterhin in der Erlangung realer französischer Sicherheitsgarantien, wobei zugleich günstige Voraussetzungen für eine politische Annäherung an Großbritannien geschaffen werden sollten. Angesichts zunehmender „Appease­ ment“-Tendenzen der französischen und insbesondere britischen Deutschlandpolitik hielt Außenminister Beck ein etwaiges Abweichen von der „Linie des 11 Eine

ausführliche Erörterung der Rolle Görings innerhalb des NS-Regimes bietet Martens, Stefan: Hermann Göring: „Erster Paladin des Führers“ und “Zweiter Mann im Reich“. Paderborn  1985. Vgl. auch Kube, Alfred: Pour le mérite und Hakenkreuz. Hermann Göring im Dritten Reich. München 1986, S. 103–118. Zahlreiche Äußerungen Görings in Gesprächen mit polnischen Politikern in den Jahren 1935–1939 enthält die mehrbändige wertvolle Quellensammlung Diariusz i teki Jana Szembeka (1935–1939) [Tagebuch und Akten Jan Szembeks (1935–1939), im Folgenden: DTJS]. 4 Bde., bearb. v. Tytus Komarnicki/Józef Zarański. London 1964–1972. 12 Goebbels hielt Anfang Januar 1937 in seinem Tagebuch fest, dass „eine Linie Berlin-LondonRom-Warschau nicht zu verachten wäre“ (zit. nach: Die Tagebücher von Joseph Goebbels. Hrsg. von Elke Fröhlich im Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte und in Verbindung mit dem Bundesarchiv. Teil I, Bd. 3. München 1987, S. 4 [Notiz v. 4. 1. 1937]. Vgl. auch Michels, Helmut: Ideologie und Propaganda. Die Rolle von Joseph Goebbels in der nationalsozialistischen Außenpolitik bis 1939. Frankfurt/Main 1992. 13 Frank sprach bereits im Februar 1936 am Rande einer Tagung der „Polnischen Kommission für Internationale Intellektuelle Zusammenarbeit“ in Warschau davon, dass „Polen und Deutschland gemeinsam eine Macht bilden würden, der man in Europa nur schwer widerstehen könne. Dieser Staatenblock umfasse eine geschlossene Masse von 100 Millionen Einwohnern“ (Zit. aus Szembeks Tagebucheintrag v. 12. 2. 1936. In: DTJS II). Vgl. Schenk, Dieter: Hans Frank. Hitlers Kronjurist und Generalgouverneur. Frankfurt/Main 2006, S. 135.

356   Stanisław Żerko 26. Januar 1934“ (wie man in Warschau die Sorge um gutnachbarschaftliche Beziehungen zum Dritten Reich nannte) für extrem unverantwortlich. Sämtliche Versuche einer Wiederbelebung des polnisch-französischen Beistandspakts blieben aber relativ erfolglos, wobei das Verhältnis zwischen Warschau und Paris stark getrübt war. Schuld daran trugen wohl beide Seiten. Denn in Pariser Regierungskreisen wollte man die Beziehungen zu Polen auch weiterhin nicht nach partnerschaftlichen Prinzipien gestalten, wobei die französischen Diplomaten aus ihren Irritationen über die zunehmende politische Selbständigkeit Warschaus keinen Hehl machten. In Paris siegte in Krisensituationen vielmehr die Überzeugung, dass eher eine Verständigung mit Berlin notwendig sei, was auch deutliche Zugeständnisse an die deutsche Seite miteinschloss. Im polnischen Außenministerium versuchte man hingegen die schon länger bestehenden Frustrationen zu unterdrücken, die das hochmütige Auftreten französischer Regierungs- und Militärkreise geweckt hatte. Die Schaukelpolitik Warschaus zwischen Berlin und Paris wurde in der Ära der „Appeasement“-Politik also intern für unverzichtbar gehalten, sie brachte Beck jedoch in der westlichen Welt den Ruf eines illoyalen Partners ein. Die intensivsten Beziehungen pflegte Polen damals zu denjenigen Staaten, die den nach 1918 geschaffenen territorialen Status quo Europas grundsätzlich in Frage stellten – Deutschland, Italien, Japan und Ungarn. Vor diesem Hintergrund verkümmerte der Beistandspakt mit Frankreich zur bloßen politischen Fassade, wobei die deutsch-polnische Annäherung im Frühjahr 1938 bei Ausbruch der Sudetenkrise an einen Höhepunkt gelangte. In den von 13.–14. Januar 1938 stattfindenden Gesprächen in Berlin gab Ribbentrop dem polnischen Außenminister klar zu verstehen, dass die Reichsregierung das „Österreich-Problem“ in absehbarer Zukunft endgültig „lösen“ wolle (an dieser Frage zeigte sich Beck aber eher desinteressiert!). Zugleich machten die nationalsozialistischen Machthaber aus ihren aggressiven Absichten hinsichtlich der Tschechoslowakei kaum einen Hehl.14 Vor diesem Hintergrund bezeichnete der polnische Außenminister die Beziehungen seines Landes zur ČSR als „denkbar schlecht“ und hielt es für unvorstellbar, dass „darin je eine Änderung ein­ trete“.15 Beck beabsichtigte, das Tschechoslowakei-Problem während des bevorstehenden Besuchs Görings in Warschau konkret anzusprechen. Gegenüber seinen Mitarbeitern im Ministerium ließ Beck verlauten, dass er die deutsche Seite bei dieser Gelegenheit darüber informieren wolle, welche der bislang zur ČSR gehörenden Territorien aus polnischer Sicht „unantastbar seien“.16 Im Warschauer Außenministerium wurden daraufhin interne Beratungen abgehalten, um das genaue Ausmaß der polnischen Territorialansprüche gegenüber Prag festzulegen. Dabei betonte Beck, dass Polen im Falle einer Angliederung der „deutschen 14 Vgl.

Akten zur deutschen auswärtigen Politik 1918–1945 (im Folgenden: ADAP). Serie D: 1937–1945, Bd. 5, Baden-Baden  1953 (Dok. 28). Polskie dokumenty dyplomatyczne 1938 (Polnische diplomatische Dokumente des Jahres 1938, im Folgenden: PDD). Red. Marek Kornat. Warszawa 2007 (Dok. 9). 15 Zit. ADAP. Serie D, Bd. 5 (Dok. 28). 16 Zit. DTJS IV, S. 35 (Tagebucheintrag v. 18. 2. 1938).

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­ ebiete der gegenwärtigen Tschechoslowakei“ an das Dritte Reich zugleich daG nach streben müsse, „einen unabhängigen slowakischen Staat zu bilden“. Alle diese Erwägungen waren Gegenstand der Gespräche Becks mit den höchsten Würdenträgern der Zweiten Polnischen Republik: Präsident Ignacy  Mościcki und Marschall Edward Rydz-Śmigły.17 Reichsfeldmarschall Göring offenbarte dem polnischen Außenminister am 23. Februar 1938 bei seinem Besuch in Warschau den „gesamten deutschen Plan zu Österreich auf sehr genaue und umfassende Weise“.18 Beck und Göring stimmten auch darin überein, dass es angebracht sei, die deutsche und polnische Politik gegenüber der ČSR zu koordinieren. Dabei versicherte der preußische Ministerpräsident, dass man Warschau vorab in Kenntnis setzen werde, falls Berlin sich diesbezüglich zu bestimmten Aktivitäten entschlösse. Dieses Thema sprach Beck übrigens selbst an, indem er betonte, dass Polen an „einem gewissen Gebiet der Tschechoslowakei“ und an der „Art der etwaigen Erledigung des tschechischen Problems“ interessiert sei. Zugleich forderte er die Verlängerung der deutsch-polnischen Gewaltverzichtserklärung von 1934, was von Göring offensichtlich begrüßt wurde19. In Hinblick auf die weitere Entwicklung der beiderseitigen Beziehungen herrschte im polnischen Außenministerium eher Optimismus. In deut­ lichem Kontrast zu dieser positiven Grundstimmung stand die Besorgnis von General Kazimierz  Sosnkowski, einem politisch an den Rand gedrängten ehe­ maligen Gefolgsmann Piłsudskis. In einer Unterredung mit Becks Stellvertreter, Unterstaatssekretär Graf Jan  Szembek, warnte Sosnkowski nämlich davor, dass die „Ereignisse zu schnell ablaufen. Das, was derzeit geschieht, verhakt sich bereits mit unseren vitalen Interessen“. Dabei deute alles darauf hin, dass „jetzt Österreich an die Reihe kommt, danach die Tschechoslowakei, dann wir und schließlich Frankreich“.20 Warschau vermied damals alles, was den Anschein erwecken konnte, dass man sich der NS-Politik bezüglich Österreichs widersetzte. Dahinter stand die feste Überzeugung, dass die Westmächte sich mit den von Hitler geschaffenen vollendeten Tatsachen ohnehin abfinden würden.21 Den vom Deutschen Reich vollzogenen „Anschluss“ Österreichs nutzte Polen dazu aus, Litauen zur Wiederaufnahme bilateraler diplomatischer Beziehungen zu zwingen, die die litauische Regierung im Oktober  1920 aufgrund des sogenannten  Wilna-Streits abgebrochen hatte. Die im März 1938 im Stile einer Großmacht unternommene polnische Aktion (Ultimatum und von Warschau inspirierte antilitauische Straßendemonstrationen in polnischen Städten) bewirkte zwar eine offizielle Normalisierung der Beziehungen mit dem kleinen Nachbarland im Nordosten, verschlechterte jedoch zugleich unübersehbar die Wahrnehmung Polens im Ausland, das bereits damals 17 Vgl.

ebenda, S. 38 (Tagebucheintrag v. 19. 2. 1938). umschrieb dies der damalige polnische Botschafter in Berlin, Józef Lipski, in seinem Tagebucheintrag vom 23. 2. 1938 (zit. nach: Ebenda, S. 40). 19 Vgl. PDD 1938 (Dok. 37). 20 Zit. DTJS IV, S. 40 (Tagebucheintrag v. 23. 2. 1938). 21 Vgl. DTJS IV, S. 73 (Tagebucheintrag v. 12. 3. 1938) bzw. S. 75. 18 So

358   Stanisław Żerko beschuldigt wurde, die aggressive Vorgehensweise der nationalsozialistischen Außen­politik nachzuahmen. Gleichzeitig liefen in Warschau die Vorbereitungen für die Reaktion auf die erwartete Krise hinsichtlich der Tschechoslowakei. Anfang März  1938 erwog man im polnischen Außenministerium verschiedene Möglichkeiten zur – wie man beschönigend sagte – „Lösung des territorialen Status quo“ dieses Staates. Beck beharrte weiterhin darauf, die Slowakei „in jedem Fall von den Tschechen abzutrennen“. Dabei wies Unterstaatssekretär Szembek seinen Chef darauf hin, dass Polen bei der „tschechischen Frage mit großem Druck von französischer Seite rechnen muss, was uns große Nervenstärke abverlangen wird“.22 Gewisse Befürchtungen angesichts der deutschen Expansion äußerte insbesondere Marschall Rydz-Śmigły, der davor warnte, dass sich Berlin nach der Annexion Österreichs und der ČSR auch gegen Polen wenden könne. Während er einerseits betonte, dass man die „Politik der Entspannung gegenüber Deutschland weiter fortsetzen“ müsse, machte er zugleich darauf aufmerksam, dass man der nationalsozialistischen Führung nicht „blind vertrauen“ dürfe. Rydz-Śmigły war der Ansicht, dass seinem Land angesichts der Auseinandersetzungen um die ČSR von deutscher Seite „bedeutende Vorteile in Danzig“23 eingeräumt werden müssten. Im polnischen Außenministerium legte man in dieser Hinsicht recht großen Optimismus an den Tag. Botschafter Lipski in Berlin vertrat die Ansicht, dass das Tschechoslowakei-Problem so rasch wie möglich mit der deutschen Seite erörtert werden müsse, wobei Polen in dieser Frage bereits über einen „deutlich präziseren, fertigen Plan“24 verfügen sollte. Beck hingegen wollte die Schaukelpolitik zwischen dem Deutschen Reich und den Westmächten vor dem Hintergrund der Sudetenkrise weiter vertiefen. Denn er war sich eigentlich sicher, dass London und Paris die territoriale Integrität der Tschechoslowakei nicht mit Waffengewalt verteidigen würden. Am 11. Mai 1938 gab der polnische Außenminister seinem Stellvertreter Szembek zu verstehen, dass sich in Europa mittlerweile „zwei entgegengesetzte Achsen gebildet“ hätten: „Rom-Berlin und Paris-London.“ Daher gehöre es zu den obersten Prinzipien der polnischen Außenpolitik, sich „keinem dieser Staatenblöcke anzuschließen“. 25 Kurze Zeit zuvor hatte Unterstaatssekretär Szembek den polnischen Botschafter in Bukarest darüber aufgeklärt, dass Polen danach streben sollte, die Führungsposition unter den Ländern „im Gebiet zwischen Russland und Deutschland“ einzunehmen. Zu diesem Zweck war es nach Ansicht Szembeks „notwendig, die französischen Einflüsse in dieser Region zu neutralisieren und die Tschechoslowakei niederzumachen. Unsere Politik sollte diese Ziele stets klar vor Augen haben“.26

22 Zit.

DTJS IV, S. 56 (Tagebucheintrag v. 4. 3. 1938). DTJS IV, S. 75 (Tagebucheintrag v. 12. 3. 1938). 24 Zit. DTJS IV, S. 80 (Tagebucheintrag v. 14. 3. 1938). 25 Zit. DTJS IV, S. 145 (Tagebucheintrag v. 11. 5. 1938). 26 Zit. DTJS IV, S. 132 (Tagebucheintrag v. 18. 4. 1938). 23 Zit.

Polen, die Sudetenkrise und die Folgen des Münchener Abkommens   359

Diese Politik barg ein erhebliches Risiko, so dass Beck unbedingt den Eindruck vermeiden wollte, dass Polen vor dem Hintergrund der sich zuspitzenden Lage in „irgendwelche Kombinationen mit den Deutschen“27 verwickelt war. Dies verstand der deutsche Botschafter in Warschau, Graf Moltke, nur zu gut, als er Vizeminister Szembek am 23. Mai 1938 mitteilte, Beck in den letzten Wochen bewusst nicht aufgesucht zu haben, um „angesichts der gereizten und komplizierten Situation in Europa jegliche Kommentare und Gerüchte zu vermeiden“.28 Göring wiederum zeigte nicht die geringsten Skrupel, Polen als deutschen Verbündeten zu präsentieren, als er am 20. April 1938 gegenüber dem britischen Botschafter in Berlin verlauten ließ, dass das Deutsche Reich den „tschechoslowakischen Wurmfortsatz“ gemeinsam mit Polen und Ungarn zu entfernen gedenke.29 In einem Lagebericht vom September 1938 stellte Botschafter Moltke fest, dass die deutschpolnische Zusammenarbeit in Sachen ČSR praktisch bereits bestehe. Dennoch dürfe diese Tatsache aufgrund der Charaktereigenschaften des polnischen Außenministers nicht öffentlich betont werden, da Beck um jeden Preis den Verdacht vermeiden wolle, dass sich sein Land vom Deutschen Reich abhängig mache. Moltke wies lediglich darauf hin, dass Beck seine politischen Ziele möglichst auf eigene Faust erreichen wolle.30 Laut den Nachkriegserinnerungen eines hohen Beamten des polnischen Außenministeriums der 1930er Jahre, Michał Łubieński (damals Kabinettsleiter), herrschte „in der Tschechoslowakei-Frage keine ausdrückliche Verständigung zwischen Polen und Deutschland“, sondern lediglich eine „Atmosphäre der Verständigung“. Dennoch „konnte unser ganzes Verhalten bei den Deutschen die übrigens richtige Überzeugung hervorrufen, dass Polen in der Auseinandersetzung mit den Tschechen nicht auf der gegnerischen Seite stehen wird“.31 Die vom Oberkommando der Wehrmacht am 20. Mai 1938 erteilten Anweisungen für den Fall „Grün“ sahen vor, dass beim etwaigen Ausbruch eines deutsch-tschechoslowakischen Krieges auch Ungarn und Polen gegen die ČSR auf den Plan treten würden. Dabei hielt man die Unterstützung Warschaus und Budapests im Falle einer passiven Haltung Frankreichs sogar für noch wahrscheinlicher.32 27 Zit.

DTJS IV, S. 157. DTJS IV, S. 159. 29 Vgl. Documents on British Foreign Policy (im Folgenden: DBFP). Third series, vol. 1 (Dok. 152). 30 Vgl. ADAP. Serie D, Bd. 2 (Dok. 642). 31 Zit. nach: Bułhak, Henryk: Stosunek Józefa Becka do Czechosłowacji w r. 1938 w ujęciu Michała Łubieńskiego, dyrektora Gabinetu Ministra Spraw Zagranicznych II Rzeczypospolitej [Józef Becks Verhältnis zur Tschechoslowakei im Jahre 1938 aus der Sicht Michał Łubieńskis, dem Kabinettsdirektor im Außenministerium der Zweiten Polnischen Republik]. In: Studia z Dziejów Rosji i Europy Środkowo-Wschodniej 30 (1995), S. 125. Die unveröffentlichten Memoiren Łubieńskis befinden sich derzeit im Józef-Piłsudski-Institut in New York. Übertrieben erscheint hingegen die radikale Auffassung des französischen Botschafters in Warschau, Léon Noël, wonach sich Beck seit Mai 1938 „ganz offen und vorbehaltlos in dem Feldzug, der zur Vernichtung der Tschechoslowkei führen sollte, als Helfer des deutschen Kanzlers zeigte“ (Zit. Noёl, Léon: Der deutsche Angriff auf Polen [dt. Übers.]. Berlin 1948, S. 193). 32 Vgl. ADAP. Serie D, Bd. 2 (Dok. 175 u. 221). 28 Zit.

360   Stanisław Żerko Die Hauptforderung der polnischen Regierung bestand bis zum Ende der Sudeten­krise vor allem darin, der eigenen Bevölkerung im Olsa-Gebiet größtmögliche Privilegien einzuräumen. In seinem Interview vom 21. März  1938 für die englische Tageszeitung Daily  Mail betonte Außenminister Beck, dass die im Teschener Schlesien lebenden Polen das „gute Recht haben, eine lokale Autonomie zu verlangen, wie sie von den Sudetendeutschen gefordert wird“.33 Während der gesamten Sudetenkrise stellten die Machthaber in Warschau daher analoge Forderungen zu den an Prag gerichteten deutschen Ansprüchen auf. Bereits am 22. März 1938 übermittelte der polnische Gesandte in Prag der tschechoslowakischen Regierung eine offizielle Note, in der den höchsten Regierungsstellen die Tolerierung antipolnischer kommunistischer Aktivitäten vorgeworfen und eine Auflösung der „Außenstelle der Komintern“ gefordert wurde.34 Über diese Note setzte man auch die deutsche Seite in Kenntnis. Diese Vorgehensweise resultierte aus einer erneuten Welle von Sondierungsgesprächen Berlins über einen etwaigen Beitritt Polens zum Antikomintern-Pakt. Wie Botschafter Lipski in seinen Erinnerungen rückblickend feststellt, machte ihm Göring am 16. März 1938 „offen das Angebot einer deutsch-polnischen militärischen Zusammenarbeit gegen Russland“. Laut Lipski war diese Offerte weitaus detaillierter als alle früheren Vorschläge Görings.35 Das polnische Außenministerium wollte der deutschen Seite mit der Note an die tschechoslowakische Regierung wohl demonstrieren, dass Warschau gegen die Tätigkeit der Komintern völlig selbständig auftreten, aber dennoch außerhalb des Antikomintern-Pakts bleiben werde.36 Als kurze Zeit später – am 31. März 1938 – auch Ribbentrop im Gespräch mit Botschafter Lipski eine Intensivierung der deutsch-polnischen Kooperation im Kampf gegen die Ausbreitung kommunistischer Einflüsse in Europa vorschlug, wich dieser einer eindeutigen Antwort geschickt aus und verwies statt dessen auf die offizielle Note Warschaus an Prag.37 Nichtsdestoweniger kam in dieser Note die Verschärfung der polnischen Politik gegenüber der ČSR klar zum Ausdruck. Die gegen den tschechoslowakischen Staat gerichteten Aktivitäten der polnischen Diplomatie verliefen mehrgleisig. Daher trat Warschau in direkten Kontakt 33 Zit.

Beck, Józef: Beiträge zur europäischen Politik. Reden, Erklärungen, Interviews 1932–1939 (dt. Übers.). Essen 1939, S. 457. 34 Vgl. Stanisławska, Stefania: Warszawska filia Antykominternu. Nieopublikowane dokumenty MSZ Polski w sprawie tzw. Ekspozytury Kominternu w Pradze [Die Warschauer „Zweigstelle“ des Antikomintern-Pakts. Unveröffentlichte Dokumente des polnischen Außenministeriums zur sog. „Außenstelle“ der Komintern in Prag] (Studia z najnowszych dziejów powszechnych 3, 1963). 35 Vgl. Diplomat in Berlin. Papers and Memoirs of Józef Lipski, Ambassador of Poland (im Folgenden: Diplomat in Berlin). Ed. by Wacław Jędrzejewicz. New York–London 1968 , S. 353– 354. 36 Dies betonen insbesondere Stanisławska, Stefania:Wielka i mała polityka Józefa Becka (marzec – maj 1938) [Die große und kleine Politik Józef Becks (März – Mai 1938)]. Warszawa 1962, S. 89–90. Cienciała, Anna M.: Poland and the Western Powers 1938–1939. London–Toronto 1968, S. 61. 37 Vgl. PDD 1938 (Dok. 74); ADAP. Serie D, Bd. 5 (Dok. 34); DTJS IV, S. 119 (Tagebucheintrag v. 4. 4. 1938).

Polen, die Sudetenkrise und die Folgen des Münchener Abkommens   361

zur Führung der Sudetendeutschen Partei (SdP) und es entwickelte sich eine gewisse Koordination der antitschechoslowakischen Maßnahmen zwischen der polnischen, deutschen und ungarischen Minderheit sowie der Slowakischen Volkspartei.38 Darüber hinaus kam es zur verstärkten Zusammenarbeit des polnischen Außenministeriums mit slowakischen Politikern, die zunächst eine weitgehende Autonomie im Rahmen eines föderalisierten tschechoslowakischen Staates und für die spätere Zukunft auch eine völlige Abtrennung der Slowakei von der ČSR anstrebten.39 Dabei stand die polnische Diplomatie vor dem Dilemma, wie man die politischen Ambitionen der Slowaken mit den ungarischen Bestrebungen vereinbaren konnte, die auf eine erneute Angliederung der slowakischen Gebiete an Ungarn abzielten. Aus der Sicht Warschaus wäre eine Umwandlung dieser Ter­ ritorien in einen souveränen slowakischen Staat die beste Lösung gewesen, auch wenn dies die traditionell sehr guten Beziehungen zwischen Polen und Ungarn möglicherweise getrübt hätte. Die Gebietsansprüche Budapests an Prag bildeten eines der Hauptthemen der intensiven polnisch-ungarischen Gespräche des Jahres 1938, die durch den Staatsbesuch von Regent Miklós Horthy im Februar eingeleitet wurden, wobei die ungarische Seite ihre Forderungen allerdings erst im September näher präzisierte. Die polnische Regierung erklärte sich bereits damals grundsätzlich mit der Angliederung der Slowakei an Ungarn einverstanden und war bestrebt, dem ungarischen Staat den Weg für eine Annexion der KarpatoUkraine zu ebnen.40 Im Gegensatz zu Polen lehnten die Machthaber in Budapest es trotz Hitlers starkem Drängen im September 1938 ab, gegen Rumänien mit Waffengewalt aufzutreten. Die starke Zurückhaltung der ungarischen Seite resultierte vor allem aus der Furcht vor etwaigen negativen Reaktionen Rumäniens, das mit der Tschechoslowakei in der gegen Ungarn gerichteten Kleinen Entente verbunden war. Vor diesem Hintergrund übte Warschau nicht nur verstärkt diplomatischen Druck auf Bukarest aus, um die rumänische Seite von sämtlichen antiungarischen Aktivitäten abzuhalten, sondern vor allem auch, um die eher ­ablehnende Haltung der rumänischen Regierung und Militärführung gegenüber einem mit tschechoslowakischer Hilfe erfolgenden, etwaigen Durchmarsch der Roten Armee weiter zu festigen.41 38 Dazu

z. B. Batowski, Henryk: Rok 1938 – dwie agresje hitlerowskie [Das Jahr 1938 – zwei Nazi Aggresionen]. Poznań 1985, S. 321. 39 Vgl. Orlof, Ewa: Dyplomacja polska wobec sprawy słowackiej w latach 1938–1939 [Die Haltung der polnischen Diplomatie gegenüber dem Slowakei-Problem 1938–1939]. Kraków 1980, S. 46 ff. 40 Vgl. Koźmiński, Maciej: Polska i Węgry przed drugą wojną światową (październik 1938 – wrzesień 1939). Z dziejów dyplomacji i irredenty [Polen und Ungarn vor dem Zweiten Weltkrieg (Oktober 1938–September 1939). Zur Geschichte der Diplomatie und der IrredentaBewegung]. Wrocław–Warszawa–Kraków  1970, S. 59 ff. Siehe zur ungarischen Außenpolitik Hoensch, Jörg K.: Der ungarische Revisionismus und die Zerschlagung der Tschechoslowakei. Tübingen 1967, S. 54 ff. 41 Vgl. Bułhak, Henryk: Polska a Rumunia 1918–1939. In: Przyjaźnie i antagonizmy. Stosunki Polski z państwami sąsiednimi w latach 1918–1939 [Freundschaften und Antagonismen. Die Beziehungen Polens zu seinen Nachbarstaaten 1918–1939]. Red. Janusz Żarnowski. Wrocław 1977, S. 340 ff.

362   Stanisław Żerko Die Westmächte übten seit Ausbruch der Sudetenkrise rasch erhöhten Druck auf die polnische Regierung aus, um diese nicht nur zu einem milderen politischen Kurs gegenüber der ČSR zu bewegen, sondern auch in der Hoffnung, eine größere Distanz in den deutsch-polnischen Beziehungen zu erzwingen. Bereits am 1. Mai 1938 informierte Georges Bonnet den polnischen Botschafter in Paris über die Ergebnisse der zwei Tage zuvor abgeschlossenen französisch-britischen Beratungen in London und betonte dabei, dass die Außenminister beider Westmächte „über die von unverhohlener Zurückhaltung und Gleichgültigkeit geprägte Haltung der polnischen Regierung unangenehm überrascht“ seien. Ferner legte der Chef der französischen Diplomatie den Machthabern in Warschau nahe, „ihren Standpunkt so zu wählen, dass Deutschland während der Verhandlungen nicht den Eindruck bekommt, sich auf Polen stützen zu können“.42 Derartige Suggestionen bekamen die polnischen Diplomaten von britischer und französischer Seite in der Folgezeit noch öfters zu hören, wobei sich die Lage im Zuge der sogenannten „Maikrise“ (19.–21. Mai  1938) weiter zuspitzte. Unmittelbar nach diesen dramatischen Ereignissen lud Bonnet am 22. Mai  1938 den polnischen Botschafter in Paris zu sich und bat um eine präzise Auskunft darüber, welche Haltung Warschau einnehmen werde, falls Frankreich die vom Deutschen Reich angegriffene ČSR verteidigen würde. Der französische Außenminister verlangte darüber hinaus, dass die polnische Regierung ähnlich wie Großbritannien mit ­einer Démarche in Berlin vorstellig werden solle.43 Für Beck kam ein solcher offizieller Einspruch gegen die deutsche Regierungspolitik jedoch nicht in Frage, da – wie er im Gespräch mit seinem Stellvertreter Graf Szembek betonte – Polen ansonsten „sofort in einen Konflikt mit den Deutschen geraten wäre und sich sämtliche Möglichkeiten einer Gleichgewichtspolitik genommen hätte“.44 Gleichzeitig setzte man von polnischer Seite die Attacken auf den tschechoslowakischen

42 Zit. PDD

1938 (Dok. 94). Nur wenige Tage später klagte angeblich auch Lord Halifax bei einer Unterredung mit dem polnischen Botschafter in London darüber, dass ihm „Gerüchte zu Ohren gekommen seien, dass Polen seine Beziehungen zu den Tschechen bewusst verschärfe, um seine Beuteanteile im Falle eines deutschen Angriffs vorzubereiten“ (zit. nach: Ebenda [Dok. 100]). 43 Vgl. Łukasiewicz, Julius: Dyplomata w Paryżu [Als Diplomat in Paris]. Red. Wacław Jędrzejewicz/Henryk Bułhak. Erw. Neuaufl. Warszawa  1995, S. 121–124. Siehe auch DTJS IV, S. 158 (Tagebucheintrag v. 22. 5. 1938). Die britische Démarche enthielt die Warnung, dass ein deutscher Angriff auf die ČSR unweigerlich zu einer Intervention Frankreichs führen würde, das dann seinerseits von Großbritannien militärische Unterstützung erhielte. Dieser diplomatische Schachzug Londons war zweifellos nur ein geschickter Bluff. Die französische Regierung richtete jedenfalls keine eigene Démarche an Berlin, da Paris gemäß den Vereinbarungen mit der britischen Seite vielmehr die Aufgabe hatte, sich an die Machthaber in Prag zu wenden. 44 Zit. DTJS IV, S. 158. In seinen Erinnerungen kommentierte Beck die angespannte Lage nach der „Maikrise“ rückblickend mit bissigen, aber durchaus zutreffenden Worten: „Die verschiedenen Auftritte der französischen Diplomatie erinnerten in ihrer Form eher an den Wunsch, den Tschechen dadurch Erleichterung zu verschaffen, dass man die deutsch-polnischen Beziehungen ins Verderben stürzt.“ (Zit. nach: Beck, Józef: Polska polityka zagraniczna w latach 1926–1939 [Die polnische Außenpolitik 1926–1939]. Red. Anna M. Cienciała, Paryż  1990, S. 213).

Polen, die Sudetenkrise und die Folgen des Münchener Abkommens   363

Staat unvermindert fort.45 Als am 23. Mai  1938 in der renommierten Londoner Tageszeitung Evening Standard die sensationelle Meldung erschien, dass Beck gegenüber Botschafter Moltke angeblich die Warnung ausgesprochen habe, dass sich Polen im Falle einer Verteidigung der Tschechoslowakei durch Frankreich und Großbritannien den beiden Westmächten anschließen werde, ließ man diese Nachricht auf Weisung Warschaus unverzüglich dementieren.46 Beck ließ daraufhin einerseits Bonnet ausrichten, dass sein Land zwar keine Démarche an Berlin richten werde, aber selbstverständlich bereit sei, „die sich im Rahmen der bestehenden Verträge ergebenden Bündnisverpflichtungen zu erfüllen“ (der polnischfranzösische Beistandspakt von 1921 verpflichtete Polen im Falle eines französischen Angriffs auf Deutschland übrigens nicht zur Hilfeleistung). Andererseits betonte der polnische Außenminister zugleich seine „Bereitschaft zur freundschaftlichen Diskussion über sämtliche neue Phänomene“. Diese Verlautbarung wurde jedoch von der deutlichen Warnung begleitet, dass sich Polen niemals auf eine Kooperation mit der UdSSR einlassen werde. Beck kritisierte ferner die ČSR auf scharfe Weise und warnte, dass etwaige „Konzessionen Prags an irgendeine Minderheit bei gleichzeitiger Übergehung der Polen unverzüglich zur Spannung zwischen unseren Staaten führen werden“.47 Gleichzeitig gab der polnische Außenminister in den darauffolgenden Wochen wiederholt zu verstehen, dass sein Land im Falle eines französisch-britischen Angriffs auf das Dritte Reich den Westmächten zur Seite stehen würde.48 Aufgrund der Quellenlage bleibt unklar, ob diese Hinweise Becks nur aus rein taktischen Motiven erfolgten.49 45 Vgl. ADAP.

Serie D, Bd. 2 (Dok. 201). Stanisławska: Wielka i mała polityka, S. 187 f. 47 Zit. PDD 1938 (Dok. 118). Botschafter Łukasiewicz führte im Gespräch mit Bonnet vom 26. Mai 1938 die von Beck erteilte Anweisung aus; vgl. ebenda (Dok. 123 u. 126). 48 Vgl. Poland and the Coming of the Second World War. The Diplomatic Papers of A. J. Drexel Biddle Jr., United States Ambassador to Poland 1937–1939. Ed. by Philip V. Cannistraro/Edward D. Wynot/Theodore P. Kovaleff. Columbus  (Ohio) 1976, S. 221 (Bericht v. 19. 6. 1938). Vor diesem Hintergrund betonte Beck, dass seine Deutschlandpolitik durch die allzu kompromissbereite Haltung der Westmächte erzwungen werde. In seinen in rumänischer Internierungshaft verfassten Erinnerungen konstatierte Beck, dass er dabei „stets in kategorischer Form“ hinzugefügt habe, dass „die polnische Politik innerhalb von 24 Stunden geändert worden wäre“, wenn sich seine Hypothese von der passiven Haltung Frankreichs „als falsch erwiesen hätte, da wir im Falle eines europäischen Krieges gegen Deutschland nicht einmal indirekt auf Seiten Deutschlands hätten stehen dürfen“ (Zit. Beck: Polska polityka zagraniczna, S. 219). Ähnliche Überlegungen finden sich in den Äußerungen des damaligen polnischen Gesandten in Prag. Vgl. Odpowiedź Kazimierza Papéego na ankietę rządu polskiego na uchodźstwie dotyczącą polskiej polityki zagranicznej wobec Czechosłowacji w 1938 r. [Die Antwort Kazimierz Papées auf die Umfrage der polnischen Exilregierung zur Politik Polens gegenüber der Tschechoslowakei im Jahre 1938]. Bearb. v. Marek K. Kamiński/Ewa Orlof. In: Dzieje  Najnowsze 30/4 (1998), S. 156 f. Im Spiegel der polnischen amtlichen Dokumente des Jahres 1938 lässt sich diese These jedoch nicht bestätigen, was angesichts der laut Beck angeblich „stets in kategorischer Form“ erteilten Hinweise eigentlich nicht schwer fallen dürfte. 49 Als Lord Halifax am 13. September 1938 den polnischen Botschafter in London unverhohlen fragte, ob die Westmächte im Falle eines Kriegsausbruchs mit dem Beistand Polens rechnen könnten, erhielt er eine ausweichende Antwort; vgl. DBFP. Third series, vol. 2 (Dok. 865); PDD 1938 (Dok. 203). 46 Vgl.

364   Stanisław Żerko Obwohl Polen also nur höchst widerwillig für das Dritte Reich offen Partei ergriff, gaben sich die nationalsozialistischen Machthaber mit dem Standpunkt Warschaus während der „Maikrise“ zunächst zufrieden. Am 31. Mai 1938 sprach das Auswärtige Amt (auf Anraten Moltkes) der polnischen Regierung aufgrund ihrer wohlwollenden Haltung gegenüber Berlin sogar offiziell Dank aus.50 Umgekehrt dankte Botschafter Lipski Reichsfeldmarschall Göring am 13. Juni 1938 im Namen Becks dafür, dass die Reichsregierung bezüglich der tschechoslowakischen Frage in ständigem Kontakt mit Warschau geblieben sei.51 Vier Tage später bestätigte Lipski bei einem erneuten Treffen mit Göring, dass sich die polnische Regierung einem Durchmarsch der Roten Armee durch einheimisches Territorium, aber auch der Überquerung des polnischen Luftraumes durch sowjetische Kampfflugzeuge kategorisch widersetze. Der polnische Botschafter ließ seinen Gesprächspartner bei dieser Gelegenheit wissen, dass Polen „den jüngsten Versuch einer Überquerung sowjetischer Flugzeuge abgewehrt habe, was [Göring] mit sichtbarer Zufriedenheit quittierte“. Der Reichsfeldmarschall bat ferner darum, dass Warschau in dieser Angelegenheit auch auf Bukarest einwirken möge, da man den rumänischen Staat diesbezüglich einer nachgiebigeren Haltung verdächtige. Lipski erwiderte, dass die polnische „Zusammenarbeit mit Rumänien eben auf die Verhärtung seines Standpunktes gegenüber Russland hinausläuft“. Göring versicherte indessen, dass das Deutsche Reich dem polnischen Nachbarn bei ­einem Konflikt mit der Sowjetunion zu Hilfe kommen werde.52 Einige Wochen darauf – am 10. August 1938 – teilte Göring dem polnischen Botschafter mit, dass „nach Erledigung der tschechischen Frage“ nun auch die Lösung des RusslandProblems anstehe.53 Nur zwei Wochen später ließ Lipski gegenüber dem Reichsfeldmarschall verlauten, dass Polen entschlossen sämtliche Versuche abwehren werde, sich in „antideutsche Kombinationen“ verwickeln zu lassen. Göring versicherte darauf, dass die Reichsregierung zu einer Verlängerung der Gewaltverzichtserklärung vom 26. Januar 1934 um 25 Jahre bereit sei.54 Botschafter Lipski hatte seinem Minister bereits seit einiger Zeit nahegelegt, die Sudetenkrise als günstigen Anlass zu nehmen, um sich verstärkt um die endgültige Anerkennung des Status  quo der polnischen Westgrenze durch das Deutsche Reich zu bemühen. Lipski sprach dieses Thema gegenüber Beck bereits bei Görings Warschaubesuch im Februar 1938 an und wies darauf hin, dass den nationalsozialistischen Machthabern so sehr am Wohlwollen Warschaus gelegen sei, dass diese bereit seien, den polnischen Wünschen weitgehend entgegenzukommen.55 Wie bereits erwähnt, schlug der polnische Außenminister dem Reichsfeld50 Vgl. ADAP.

Serie D, Bd. 2 (Dok. 228). ebenda. (Dok. 255). 52 Vgl. PDD 1938 (Dok. 149). 53 Vgl. PDD 1938 (Dok. 176). 54 Vgl. PDD 1938 (Dok. 184). 55 Diese Zusammenhänge schildert Becks damaliger persönlicher Sekretär Paweł  Starzeński in seinen Memoiren. Vgl. Starzeński, Paweł: Trzy lata z Beckiem [Drei Jahre mit Beck]. Warszawa 1991, S. 69 f., 84. 51 Vgl.

Polen, die Sudetenkrise und die Folgen des Münchener Abkommens   365

marschall im Februar 1938 vor, die Gültigkeit der bilateralen Nichtangriffserklärung von 1934 zu verlängern. Indessen lehnte Beck noch Ende Mai 1938 eine ­etwaige Erörterung der Grenzfrage strikt ab, da er dieses Problem für vertraglich gelöst hielt und sämtliche Verhandlungen über eine deutsche Grenzgarantie als großen Fehler ansah. Über die Grenzfrage dürfe nicht gefeilscht und endlos diskutiert werden, da dies nur zur Untergrabung des bisherigen Status  quo führe. Nach Auffassung Becks wäre es am besten gewesen, wenn Hitler aus eigener Ini­ tiative eine Deklaration über die Garantie der beiderseitigen Grenze abgegeben hätte.56 Letztendlich akzeptierte der polnische Außenminister jedoch die Vorschläge Lipskis und anderer enger Mitarbeiter, um unter Ausnutzung der Lage des Deutschen Reiches von Berlin eine offizielle Erklärung zu folgenden Punkten zu erhalten: 1) Anerkennung des Status quo von Danzig, 2) Garantie des endgültigen Charakters der Westgrenze Polens (Garantieerklärung nach dem Muster des deutschen Kommuniqué gegenüber Frankreich zum Elsass-Problem bzw. gegenüber Italien in Hinblick auf Südtirol), 3) Verlängerung der Gewaltverzichtserklärung vom 26. Januar  1934.57 Die vor diesem Hintergrund geplante Begegnung zwischen Beck und Göring kam jedoch nicht zustande58, so dass fortan Botschafter Lipski die Aufgabe zukam, der deutschen Seite entsprechende Versicherungen abzutrotzen. Die in diesen drei Punkten zusammengefassten Wünsche der polnischen Regierung trug Lipski am 16. September 1938 Reichsfeldmarschall Göring vor. Zuvor war es jedoch bereits zu einer persönlichen Begegnung zwischen Hitler und Chamberlain in Berchtesgaden gekommen, bei der sich der britische Premierminister mit der Annexion der Sudetengebiete durch das Deutsche Reich einverstanden erklärt hatte. Vor diesem Hintergrund forderte Göring den polnischen Botschafter nachdrücklich dazu auf, dass nunmehr auch Polen „kategorisch auf der Forderung nach einer Volksabstimmung in den von Polen bewohnten Gebieten beharren“ solle. Lipski wiederum machte Göring die vertrauliche Mitteilung, dass „noch in den letzten Tagen von englischer Seite uns gegenüber Anstrengungen unternommen wurden, die ohne Erfolg blieben“. Die polnische Drei-Punkte-Erklärung nahm Göring zwar insgesamt positiv auf, wollte sich aber nicht zu deren Einzelheiten äußern. Der Reichsfeldmarschall gab vielmehr zu verstehen, dass man das Danzig-Problem „sofort nach der Erledigung der tschechischen Frage“ erörtern könne und verwies ferner auf den von deutscher Seite bereits früher angesprochenen Plan einer exterritorialen Autobahn nach Ostpreußen durch Pommerellen.59 Seit diesem Gespräch nahmen die Dinge eine aus polnischer Sicht höchst beunruhigende Kehrtwende. Der politische Druck der Westmächte auf Polen, sich vom Deutschen Reich zu distanzieren und auf aggressive Maßnahmen gegenüber der Tschechoslowakei zu 56 Vgl.

DTJS IV, S. 171 (Tagebucheintrag v. 30. 5. 1938). PDD 1938 (Dok. 187); siehe auch Starzeński: Trzy lata z Beckiem, S. 88 u. 93. 58 Vgl. PDD 1938 (Dok. 187 u. 193); Diplomat in Berlin (Dok. 94). 59 Vgl. PDD 1938 (Dok. 218). 57 Vgl.

366   Stanisław Żerko verzichten, erreichte im September 1938 einen Höhepunkt. Die Haltung der polnischen Regierung versteifte sich jedoch im Vergleich zu den Vormonaten immer mehr. Auf die von Lord Halifax am 13. September 1938 geäußerte Bitte an die Machthaber in Warschau, die Reichsregierung zur politischen Mäßigung aufzurufen, gab der polnische Botschafter in London, Edward Raczyński, eine „ablehnende“ Antwort. Auf die Frage, ob die Westmächte im Falle eines Krieges gegen Deutschland mit der Unterstützung Polens rechnen könnten, erhielt Halifax hingegen eine ausweichende Antwort.60 Am gleichen Tag, an dem es zur Begegnung zwischen Chamberlain und Hitler in Berchtesgaden kommen sollte – am 15. September 1938 –, ließ Beck den Regierungen des Deutschen Reiches, Italiens, Frankreichs und Großbritanniens mitteilen, dass das „allgemeine Programm zur Lösung des Tschechoslowakei-Problems“ auch eine „Volksabstimmung im Teschener Schlesien“ umfassen müsse (ähnlich wie Hitler im Gespräch mit Chamberlain ein Plebiszit in den Sudetengebieten verlangte). Beck warnte, dass seine Regierung bereit sei, zur „Realisierung dieses Ziels die schärfsten Mittel zu gebrauchen und dabei auch vor dem Mittel der Drohung nicht zurückschrecke“.61 Währenddessen konnte Berlin einen weiteren diplomatischen Erfolg für sich verbuchen, der die Bedeutung der Hilfe Polens bei der von der Reichsregierung angestrebten „Lösung“ der Sudetenkrise erheblich schmälerte. Denn auf der Londoner Konferenz entschlossen sich die Machthaber Großbritanniens und Frankreichs in der Nacht zum 19. September  1938 dazu, der tschechoslowakischen Regierung die Abtretung derjenigen Gebiete an das Deutsche Reich zu „empfehlen“, in denen der Bevölkerungsanteil mit deutscher Abstammung über 50% läge. Dies bedeutete einen bewussten Verzicht auf die bisher forcierte Konzeption der Volksabstimmung. Die polnischen Botschafter in Berlin, London, Paris und Rom erhielten zeitgleich am 19. September 1938 die Anweisung Becks, offiziell zu verlautbaren, dass Warschau in Bezug auf das Olsa-Gebiet genau dieselbe Vorgehensweise fordern werde, um diese Region an Polen anzugliedern.62 In Reaktion darauf warnten die Westmächte die polnische Regierung in sehr kühlem Ton davor, mit der Anwendung von Gewalt zu drohen oder diese tatsächlich einzusetzen.63 Nichtsdestoweniger traf man in Polen im August 1938 erste Vorbereitungen für einen eventuellen militärischen Konflikt mit der ČSR. Gegen Ende der Manöver in Wolhynien ließ Marschall Rydz-Śmigły am 19. September 1938 die ersten Truppenverbände in den westlichen Abschnitt der polnisch-tschechoslowakischen Grenze verschieben. Am 22. September  1938 – drei Tage nach dem an Prag gerichteten britisch-französischen Ultimatum zur Abtretung der Sudetengebiete an das Deutsche Reich – wurde auf Geheiß aus Warschau die „Selbständige Operationsgruppe ‚Schlesien‘“ unter dem Kommando von General Władysław Bortnowski gebildet. Deren Aufgabe bestand darin, das Olsa-Gebiet entweder infolge einer 60 Vgl.

PDD 1938 (Dok. 203); DBFP. Third series, vol. 2 (Dok. 865). PDD 1938 (Dok. 209). 62 Vgl. PDD 1938 (Dok. 231). 63 Vgl. PDD 1938 (Dok. 260). 61 Zit.

Polen, die Sudetenkrise und die Folgen des Münchener Abkommens   367

polnisch-tschechoslowakischen Verständigung zu besetzen oder aber mit Militärgewalt in dieses Territorium einzudringen.64 Daraufhin formierten sich mehrere polnische Freiwilligenverbände, die von der Legion „Olsa-Gebiet“ angeführt ­wurden. Die vom militärischen Geheimdienst Polens gelenkten konspirativen Gruppierungen und Organisationen führten im Teschener Schlesien zahlreiche Sabotageaktionen durch, in deren Verlauf es zu blutigen Scharmützeln mit tschechoslowakischen Soldaten kam, die vielfach tödlich endeten.65 Unterdessen informierte Lipski am 19. September 1938 seinen Vorgesetzten darüber, dass Hitler ihn für den Tag darauf zu einem Gespräch nach Berchtesgaden geladen hatte. Daraufhin übersandte Beck seinem Botschafter unverzüglich eingehende Instruktionen für diese Unterredung. Aus deren Inhalt wird deutlich, wie sehr man in Warschau das tatsächliche Gewicht der Unterstützung Polens für die deutsche Politik überschätzte. Denn der polnische Außenminister meinte, Lipski daran erinnern zu müssen, dass „die außerordentliche Bedeutung [dieses Gesprächs] eine mutige Darstellung der Probleme erlaubt, weitaus stärker als in normalen Verhandlungen“. Beck erklärte sogar seine Bereitschaft, sich so rasch wie möglich mit Hitler oder Göring zu treffen, und zwar „ohne Rücksicht auf technische oder politische Schwierigkeiten“. Darüber hinaus sollte Lipski den deutschen Reichskanzler daran erinnern, wie sehr die polnische Regierung „durch ihre Haltung die Möglichkeit einer sowjetischen Intervention in der tschechischen Frage in breiterem Stil gelähmt hat. Der von uns in Bukarest ausgeübte Druck hat die gewünschte Wirkung gezeigt. Unsere derzeitigen Truppenmanöver in Wolhynien wurden von Moskau als Warnung verstanden“. Abgesehen davon müsse Hitler ausgerichtet werden, dass Polen nach wie vor gegen eine Einbindung der Sowjetunion in europäische Angelegenheiten sei. Die ČSR hingegen werde von Warschau als „künstliches Gebilde“ angesehen. Im Sommer 1938 habe die polnische Regierung daher „viermal den Vorschlag abgelehnt, sich an internationalen Interventionen“ zur Verteidigung des tschechoslowakischen Staates gegenüber dem Deutschen Reich zu beteiligen. Bei der ausführlichen Erläuterung dieser Haltung sollte Lipski im Gespräch mit Hitler auch die polnischen Forderungen bezüglich des Olsa-Gebiets (einschließlich der Stadt Bohumín/Oderberg) und der von Polen angestrebten gemeinsamen Grenze mit Ungarn in Erinnerung rufen, ohne dabei das früher vorgeschlagene Drei-Punkte-Programm „Danzig – Westgrenze – Verlängerung des Vertrags von 1934“ zu vernachlässigen.66 Außenminister Beck erwartete, dass Lipskis Gespräch mit Hitler am 20. September 1938 eine positive Zäsur in den deutsch-polnischen Beziehungen bedeuten würde. Hitler hingegen reagierte auf die polnischen Postulate äußerst ge64 Vgl.

näherhin Deszczyński, Marek P.: Ostatni egzamin. Wojsko Polskie wobec kryzysu czechosłowackiego 1938–1939 [Eine letzte Prüfung. Die Haltung der Polnischen Armee zur Sudetenkrise 1938–1939]. Warszawa 2003, S. 133 ff. Kołakowski: Między Warszawą a Pragą, S. 505 ff. 65 Vgl. ebenda, S. 467 ff. Długajczyk, Edward: Tajny front na granicy cieszyńskiej. Wywiad i dywersja w latach 1919–1939 [Die geheime Front an der Grenze zum Teschener Schlesien. Nachrichtendienst und Sabotage 1919–1939]. Katowice 1993, S. 134 ff. 66 Vgl. PDD 1938 (Dok. 239).

368   Stanisław Żerko schickt. Denn er bestätigte zwar formell, dass auch er eine „definitive Anerkennung der Grenze“ im Sinn habe, erinnerte jedoch zugleich an den bereits früher unterbreiteten Vorschlag, eine deutsche Autobahn und Eisenbahnlinie durch Pommerellen zu bauen (einen „Korridor“ von ca. 30  Meter Breite). Es ist kaum verwunderlich, dass Lipski angesichts dieser Situation rasch die Lust verlor, die „Angelegenheit weiter zu vertiefen“. In Bezug auf die Tschechoslowakei gab der polnische Botschafter auf Hitlers ausdrückliche Frage hin zu verstehen, dass Polen auch vor der Anwendung militärischer Gewalt nicht zurückschrecken werde, falls seine Forderungen von der tschechoslowakischen Regierung zurückgewiesen würden. In diesem Zusammenhang versprach der Reichskanzler sogar, im Falle eines polnisch-tschechoslowakischen Konflikts um das Olsa-Gebiet zu Warschau zu stehen. Dabei riet Hitler der polnischen Seite, bereits unmittelbar nach der deutschen Besetzung der Sudetengebiete auf den Plan zu treten, da „dann die ganze Operation kürzer dauern würde“.67 Die Unterredung zwischen Lipski und Hitler kam letztlich einer empfindlichen Niederlage für die polnische Diplomatie gleich. Der seitdem immer rauher werdende Tonfall Warschaus gegenüber Prag führte unweigerlich zur weiteren Verschlechterung der Beziehungen Polens zu Frankreich und Großbritannien, aber auch zur offenen Krise im Verhältnis zwischen Warschau und Moskau. Gleichzeitig zeichnete sich eine eventuelle Wiederbelebung des von Polen im Sommer 1933 so heftig bekämpften Viererpakts ab, also des Direktorats von London, Paris, ­Berlin und Rom. Was die tschechische Frage anging, so bildete Hitlers Unterstützungszusage an Polen für den Kriegsfall lediglich einen höchst zweifelhaften diplomatischen Erfolg für Beck. Denn die Antwort des deutschen Reichskanzlers auf die polnischen „drei Punkte“ barg eine Gefahr, die bereits am 24. Oktober 1938 in Gestalt der deutschen „Gegenvorschläge“ ans Tageslicht treten sollte. Am 21. September 1938 forderte die polnische Regierung die Tschechoslowakei auf, gegenüber der polnischen Minderheit im Lande genau die gleichen Beschlüsse anzuwenden, die für die Sudetendeutschen gelten sollten. Zugleich kündigte Polen die im Schiedsvertrag von 1925 enthaltene Minderheitenvereinbarung einseitig auf.68 Warschau setzte London und Paris über dieses Postulat in Kenntnis, wobei man in der an die französische Regierung gerichteten Note die Ignorierung der polnischen Forderungen auf der Londoner Konferenz als „unfreundliche Vorgehensweise“ bezeichnete, die „mit dem Geist der Freundschaft und Allianz nicht in Einklang steht“. Geradezu beleidigend klang hingegen der letzte Punkt dieser Note: „Zu den tschechischen Beteuerungen und Versprechen hegt die Regierung Polens keinerlei Vertrauen. Nach den Erfahrungen der Jahre 1919–1921 in den polnisch-tschechischen Angelegenheiten sowie angesichts der Haltung Frankreichs in den jüngsten Verhandlungen kann die Regierung Polens auch kein Ver-

67 Zit. PDD

1938 (Dok. 248). Leider verfügt die Forschung nicht über eine Aktennotiz deutscher Provenienz zu diesem Gespräch. 68 Vgl. PDD 1938 (Dok. 253).

Polen, die Sudetenkrise und die Folgen des Münchener Abkommens   369

trauen mehr zu den Aktionen der französischen Regierungen haben.“69 Das die Einreichung der polnischen Note begleitende Gespräch zwischen Bonnet und Botschafter Łukasiewicz hatte streckenweise einen unglücklichen Charakter. Denn der französische Außenminister bat die polnische Regierung darum, sich mit der Regelung ihrer Ansprüche auf dem Verhandlungsweg zufriedenzugeben, aber auch „mit dem Ernst der Lage zu rechnen und durch die eigene Aktion nicht den Eindruck zu erwecken, in Analogie zu Hitler aufzutreten“.70 Botschafter Łukasiewicz präsentierte Bonnet daraufhin den gesamten Katalog aller bisherigen Vorwürfe Warschaus gegenüber Paris. Als Hauptargument für die sofortige Realisierung der polnischen Forderungen vertrat Łukasiewicz die These, dass die öffent­ liche Meinung in seinem Heimatland nicht den Eindruck gewinnen dürfe, dass man das Olsa-Gebiet aus den Händen Hitlers erhalten habe.71 Der sich verschärfende Konfrontationskurs Polens gegenüber der Tschechoslowakei stürzte auch die polnisch-sowjetischen Beziehungen rasch in eine tiefe Krise.72 Wie bereits erwähnt, bestand ein Grundaxiom der außenpolitischen Strategie Warschaus darin, jegliche Bündniskonstellationen mit Stalin um jeden Preis zu vermeiden. Polen widersetzte sich ferner einer aktiven Beteiligung der Sowjetunion an der Lösung von Konflikten in Mittel- und Osteuropa ganz entschieden. Denn in Warschau war man der Ansicht, dass die etwaige Bildung einer antideutschen Koalition aus Westmächten und der UdSSR sehr negative Folgen für die europäische Staatenordnung haben würde. In führenden polnischen Regierungskreisen herrschte die Überzeugung, dass die Sowjetunion für die internationalen Beziehungen einen unberechenbaren, ja geradezu bedrohlichen Machtfaktor darstelle. Dabei überwog die Auffassung, dass ein Grundpfeiler der sowjetischen Außenpolitik – entgegen Litvinovs hehren Friedensbeteuerungen vor dem Völkerbund – darin bestehe, wachsende politische Gegensätze unter den kapitalistischen Staaten des Westens heraufzubeschwören, um einen neuen gesamteuropäischen Krieg zu entfachen. Vor diesem Hintergrund hielt man die vom Kreml propagierte Idee einer „kollektiven Sicherheitsordnung“ für recht naiv und sah darin eine außerordentliche Gefahr für elementare Interessen Polens. Im September 1938 kam es östlich der polnisch-sowjetischen Grenze zu einer Reihe von Militärübungen und Truppenbewegungen, wobei die an Polen angrenzenden Militärbezirke in erhöhte Alarmbereitschaft versetzt wurden. Auf polni69 Zit.

PDD 1938 (Dok. 255 – franz. Originaltext). PDD 1938 (Dok. 263). 71 Vgl. PDD 1938 (Dok. 264 –Telefonogramm in Ergänzung zum vorherigen Dokument). Ende November 1938 ließ Beck Lord Halifax mitteilen, dass Polen anfangs gehofft habe, seine Postulate im Einvernehmen mit Frankreich und Großbritannien durchsetzen zu können. „Da sich dies jedoch als undurchführbar erwiesen hat, gaben wir uns mit der Möglichkeit zufrieden, dieses Problem ganz selbständig zu lösen, ohne auch nur irgendjemandem, also auch nicht Deutschland, zu Dank verpflichtet zu sein“ (zit. nach: PDD 1938 [Dok. 435]). 72 Eingehende Studien zu dieser Krise bieten: Pagel, Jürgen: Polen und die Sowjetunion 1938– 1939. Stuttgart 1992, S. 151–155. Materski, Wojciech: Na widecie. II Rzeczpospolita wobec Sowietów 1918–1943 [Auf der Hut. Das Verhältnis der Zweiten Polnischen Republik zur Sowjetunion 1918–1943]. Warszawa 2005, S. 497–511. 70 Zit.

370   Stanisław Żerko scher Seite hingegen führte man Mitte September 1938 in Wolhynien mehrere Truppenmanöver durch. Am 22. September – an diesem Tag setzte die Konzentration polnischer Truppen an der Südgrenze Polens ein – richtete Prag die offizielle Bitte an Moskau, die Machthaber in Warschau vor einem etwaigen Angriff auf die ČSR zu warnen. Am Morgen darauf richtete der Kreml in einer diplomatischen Note tatsächlich die Warnung an Polen, im Falle eines polnischen Angriffs auf die Tschechoslowakei den polnisch-sowjetischen Nichtangriffspakt (gemäß Art. 2 dieses Vertrags) ohne Vorwarnung aufzukündigen. Zugleich forderte man von Warschau eine offizielle Versicherung, die Integrität der Grenze zur ČSR weiterhin zu respektieren.73 Diese Aufforderung Moskaus beantwortete Beck sogleich mit einer knappen, ungewöhnlich scharf formulierten Note: „1) Anordnungen bezüglich der Verteidigung des Staates hängen ausschließlich von der Polnischen Regierung ab, die sich vor niemandem rechtfertigen muss; 2) die Polnische Regierung kennt die Texte der Verträge genau, die sie abgeschlossen hat“. Der diese Note in Moskau überbringende polnische Diplomat zeigte sich über die sowjetische Démarche verwundert, da Warschau an der Grenze zur UdSSR überhaupt keine militärischen Anweisungen erteilt habe.74 In der polnischen Forschung herrscht diesbezüglich zu Recht die Ansicht, dass Becks rasche Gegenreaktion den Kreml wohl in der Auffassung bestätigte, dass es zwischen Warschau und Berlin irgendeine geheime Übereinkunft geben musste, die im Falle eines multilateralen Krieges ein Engagement Polens an der Seite Hitlers vorsah.75 Beck sandte bereits am 16. September 1938 ein Rundschreiben an alle ausländischen diplomatischen Vertretungen, in dem er betonte, dass an einer etwaigen internationalen Konferenz zur tschechoslowakischen Frage insbesondere Polen teilnehmen müsse, da es mit der ČSR durch den längsten Grenzabschnitt verbunden sei – aber auch dessen übrige Nachbarstaaten.76 Nach dem dramatischen Verlauf der erneuten Begegnung Hitlers und Chamberlains in Bad Godesberg (22.– 24. September) wurde tags darauf (25.–26. September) eine weitere Konferenz in London einberufen, auf der die Westmächte u. a. den Beschluss fassten, unmittelbar beim polnischen Außenministerium zu intervenieren, um Polen von der geplanten Militäraktion gegen die Tschechoslowakei abzubringen. Unter Berufung auf einen unmittelbar vorausgegangenen Brief des tschechoslowakischen Staatspräsidenten Edvard  Beneš an seinen polnischen Amtskollegen Ignacy  Mościcki reichten die Botschafter Frankreichs und Großbritanniens am 26. September 1938 in Warschau zwei gleichlautende Démarchen ein, laut derer beide Länder von der polnischen Regierung eine wohlwollend neutrale Haltung gegenüber Prag erwarteten, wobei sich die ČSR im Gegenzug mit der Abtretung des Olsa-Gebiets einverstanden erkläre, was von den beiden Westmächten unterstützt werde.77 Der

73 Vgl.

PDD 1938 (Dok. 268). PDD 1938 (Dok. 273 u. 275). 75 Vgl. Materski: Na widecie, S. 506. 76 Vgl. PDD 1938 (Dok. 216 u. 259). 77 Vgl. DBFP. Third series, vol. 2 (Dok. 1102); PDD 1938 (Dok. 298). 74 Vgl.

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von Beneš am 22. September  1938 eigenhändig verfasste Brief erreichte seinen Empfänger jedoch erst vier Tage später und enthielt die Zusage, den Verlauf der polnisch-tschechoslowakischen Grenze zugunsten Polens zu korrigieren, um die beiderseitigen Beziehungen auf eine neue, freundschaftliche Grundlage zu stellen.78 Beck griff diesen Vorschlag am 26. September  1938 jedoch bewusst nicht sofort auf.79 Der polnische Außenminister wollte nämlich die nationalsozialistischen Machthaber angesichts der unmittelbar bevorstehenden bilateralen Ge­ spräche nicht verstimmen, da er sich von deutscher Seite weiterhin viel erhoffte. Daher plädierte der polnische Gesandte in Prag erst einen Tag später mittels einer offiziellen Note für die Unterzeichnung eines bilateralen Vertrages über die unverzüg­liche Abtretung der offensichtlich mehrheitlich von Polen bevölkerten tschechoslowakischen Gebiete und schlug ferner für einen späteren Zeitpunkt eine Volksabstimmung in denjenigen Regionen vor, in denen die polnische Bevölkerung zu großen Teilen vertreten war. Die Note trug jedoch keinen ultimativen Charakter.80 Die Reichsregierung wurde über die bedeutendsten Aktivitäten der polnischen Diplomatie sowie über entsprechende Reaktionen und Einflussversuche der Westmächte durch Botschafter  Lipski stets ausführlich auf dem Laufenden gehalten. Aus polnischer Sicht bildete Hitlers Rede vom 26. September 1938 im Berliner Sportpalast eine gute Prognose für die weitere Zukunft der beiderseitigen Beziehungen. Denn der deutsche Reichskanzler ließ dabei verlauten, dass der Wunsch nach Abtretung der Sudetengebiete bis zum 1. Oktober die letzte Territorialforderung des Deutschen Reiches in Europa darstelle. In Hinblick auf Polen betonte Hitler, dass er das Verhältnis zu Warschau noch mehr als bisher vertiefen wolle und fügte hinzu, dass das 33 Millionen Einwohner zählende polnische Volk über einen freien Zugang zum Meer verfügen müsse.81 Diese Worte fielen vor dem Hintergrund einer äußerst angespannten internationalen Lage, da Europa damals aufgrund der Auseinandersetzungen um die ČSR am Rande eines Krieges stand. Darüber hinaus stellte Ribbentrop Botschafter Lipski noch am gleichen Tag unverhohlen die Frage, ob bei einem Einmarsch der Wehrmacht in die Tschechoslowakei auch polnische Truppen unterstützend hinzustoßen würden. Lipski enthielt 78 Vgl.

Landau, Zbigniew/Tomaszewski, Jerzy: Monachium 1938. Polskie dokumenty dyplomatyczne [München 1938. Polnische diplomatische Dokumente]. Warszawa 1985 (Dok. 360 – Orig. u. poln. Übers.). Die Antwort Prags auf die Note vom 21. September  1938 erhielt der polnische Gesandte erst am 25. September. In der Note wurde zugleich ein Brief von Präsident Beneš an Mościcki angekündigt, in dem eine Korrektur der beiderseitigen Grenze durch direkte bilaterale Verhandlungen vorgeschlagen wurde; PDD 1938 (Dok. 291). 79 Vgl. DBFP. Third series, vol. 3 (Dok. 53). 80 Vgl. PDD 1938 (Dok. 307). Die offizielle Antwort aus Prag traf am 30. September 1938 in Warschau ein, als man sich dort bereits für ein Ultimatum an die tschechoslowakische Regierung entschieden hatte. Im polnischen Außenministerium hielt man diese Antwort im Übrigen für „ungenügend und hinhaltend“; DTJS IV, S. 284 (Tagebucheintrag v. 30. 9. 1938). Siehe auch Landau / Tomaszewski: Monachium 1938 (Dok. 439). 81 Vgl. Domarus, Max: Hitler. Reden und Proklamationen 1932–1945. Bd. 1, Halbband 2. München 1965, S. 925.

372   Stanisław Żerko sich einer eindeutigen Antwort, gab jedoch zu verstehen, dass die Anwendung militärischer Gewalt für sein Land durchaus in Frage kommen könne. Als sich der deutsche Außenminister daraufhin für operative Kontakte unter den Kommandostäben beider Länder aussprach, traf er beim polnischen Botschafter auf beredtes Schweigen.82 Einen Tag später versicherte Beck gegenüber Botschafter Moltke in Warschau, dass sich sein Land auch weiterhin jeglicher Zusammenarbeit mit der UdSSR widersetzen werde, falls sich der Kreml in europäische Angelegenheiten einzumischen gedenke.83 Botschafter Lipski hingegen wurde vom polnischen Außenminister insgeheim darüber in Kenntnis gesetzt, dass Polen über „einsatzbereite militärische Kräfte verfüge“, so dass Warschau je nach Entwicklung der Lage „nach Ausbruch eines deutsch-tschechischen Konflikts recht rasch handeln“ könne. In Berlin müsse Lipski nochmals betonen, dass sich die polnische Regierung einer „Intervention der Sowjets“ kategorisch entgegenstelle.84 In diesen dramatischen Tagen hielt die polnische Diplomatie auf allen Ebenen regen Kontakt mit der deutschen Seite.85 Infolge dessen stellte Ribbentrop am 27. September 1938 Lipski die Frage, „ob und zu welchem Zeitpunkt die polnischen Truppen in die Tschechoslowakei einrücken würden, falls die Tschechen die deutschen Forderungen zurückweisen würden und die Wehrmacht in Aktion träte“. Laut Lipski war Ribbentrop der Ansicht, dass die „polnische Regierung, die als Hauptlast die Ostgrenze auf ihren Schultern trage, in dem Augenblick in den Konflikt eintreten würde, in dem sie wisse, ob die Aktion nur lokalen Ausmaßes sei oder bereits einen Weltkrieg“ bedeute. Ribbentrop suggerierte ferner eine „nähere Präzisierung der politischen und militärischen Interessen“ Warschaus und Berlins für den Fall eines Angriffs und der raschen Besetzung der ČSR durch das Deutsche Reich. ­Darauf gab der polnische Botschafter jedoch keine Antwort, da er keine entsprechenden Instruktionen aus Warschau erhalten hatte.86 Bei einem erneuten ­Gespräch mit Lipski in der Nacht zum 28. September 1938 ließ der Reichsaußenminister das Problem der etwaigen militärischen Lösung des deutsch-tschechoslowakischen Konflikts überraschender Weise völlig unerwähnt. Statt dessen bat Ribbentrop den polnischen Botschafter um Auskunft darüber, ob Polen nicht doch dem Antikomintern-Pakt beitreten wolle und drängte Lipski, Außenminister Beck von diesem deutschen Wunsch zu informieren. Allem Anschein nach bildete dieses diplomatische Manöver eine weitere Etappe der längerfristig angeleg82 Vgl.

PDD 1938 (Dok. 303). Serie D, Bd. 2 (Dok. 652). 84 Zit. Landau / Tomaszewski: Monachium 1938 (Dok. 388). 85 Daher wurden auch untergeordnete deutsche Dienststellen miteinbezogen. So telefonierte z. B. der Presseattaché der polnischen Botschaft in Berlin, Mieczysław Wnorowski, am 22. und 23. September  1938 mit Beamten des Auswärtigen Amtes in Bad  Godesberg, um diese darüber zu informieren, welche Kundgebungen und antitschechischen Propagandaaktionen die polnische Seite organisiert hatte; vgl. Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes. Büro Reichs­ außenminister. Polen (1936–1938), Notizen über die Telefonanrufe von M. Wnorowski, S. 244 (78605) et al. 86 Vgl. PDD 1938 (Dok. 316). 83 Vgl. ADAP.

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ten Politik der Reichsregierung, einem deutsch-polnischen Militärbündnis unmittelbar nach der „Lösung“ der Sudetenfrage den Weg zu ebnen. Lipskis Antwort fiel jedoch aus deutscher Sicht abermals enttäuschend aus.87 In den frühen Morgenstunden des 28. September 1938 kündigte man für den Folgetag die Einberufung einer Konferenz der vier Großmächte in München an. Für die polnische Seite bedeutete diese Konferenz eine äußerst empfindliche Niederlage – trotz der beschwichtigenden Erklärungen Ribbentrops gegenüber Lipski in einem unmittelbar nach Konferenzende – am Morgen des 30. September – geführten Telefongespräch.88 Die Münchener Konferenz hielt man in Warschau für gleichbedeutend mit der Wiedergeburt des traditionellen europäischen Großmächtequartetts und der Verständigung zwischen den Westmächten und dem Deutschen Reich – ohne Mitwirkung Polens und in Zukunft sogar auf Kosten seiner elementaren Interessen. Die Einberufung dieser Konferenz schmälerte zudem das internationale Ansehen des polnischen Staates, und in Prestigefragen war gerade Außenminister Beck sehr empfindlich. Eine wesentliche Rolle spielten sicherlich auch die Befürchtungen der polnischen Regierung, dass sich die deutsche Seite im Falle einer späteren Regelung der Teschener Frage zum Hauptanwalt der polnischen Interessen machen würde (was der polnische Botschafter in Paris gegenüber Außenminister Bonnet bereits wenige Tage zuvor zu verstehen gegeben hatte). Während der am 30. September 1938 im Warschauer Königsschloss kurzfristig anberaumten Beratung der fünf höchsten Staats- und Würdenträger Polens ließ Beck verlauten, dass man die Realisierung der polnischen Wünsche angesichts der nun eingetretenen Lage auf eigene Faust von der Tschechoslowakei per Ultimatum erzwingen müsse. Dabei betonte der polnische Außenminister, dass es dabei nicht nur um die Regelung polnischer Ansprüche und die Forderung gehe, den Polen im Olsa-Gebiet dieselben Rechte zuzugestehen wie den Deutschen in den Sudetengebieten. Die polnische Regierung protestiere vielmehr auch gegen die von den vier Großmächten in München demonstrierten Methoden zur Regelung territorialer Streitfragen. Denn damit werde den kleineren Staaten willkürlich ein fremder politischer Wille aufgezwängt. Abgesehen davon bestand nach Ansicht Becks die Gefahr, dass das Deutsche Reich auch das Teschener Schlesien annektieren würde. Gegen das vorgeschlagene Ultimatum an Prag votierte lediglich der stellvertretende Ministerpräsident Eugeniusz  Kwiatkowski, der diese Vorgehensweise und auch den Zeitpunkt für höchst unangemessen hielt, da dies nur den „Anschein erweckt, als ob man mit dem Hitlerschen Aggressor sachlich und ­taktisch zusammenarbeitet“. Kwiatkowski wurde daraufhin von Marschall RydzŚmigły heftig angegriffen, während Beck dessen Befürchtungen weitgehend baga87 Der

diesem Thema gewidmete Bericht des polnischen Botschafters gilt als verschollen, so dass die Forschung lediglich über eine dazu nachträglich angefertigte Notiz Lipskis verfügt. Vgl. Diplomat in Berlin, S. 427. 88 Dabei betonte Ribbentrop, dass Polen „über die Art und Weise zufrieden sein könne, in der seine Interessen im [Münchener] Abkommen gesichert wurden“ (zit. nach: PDD 1938 [Dok. 347]).

374   Stanisław Żerko tellisierte.89 Um 23.45 Uhr reichte der polnische Gesandte das von seiner Regierung gestellte Ultimatum in Prag ein, in dem die Abtretung des von Warschau geforderten Territoriums an Polen verlangt wurde. Eine Antwort musste binnen zwölf Stunden in Warschau eingehen – im Falle einer Ablehnung drohte man mit der Anwendung militärischer Gewalt.90 Aus den Äußerungen Becks gegenüber seinen engsten Mitarbeitern geht deutlich hervor, dass es sich bei diesem Ultimatum keineswegs um einen Bluff handelte und man in Warschau tatsächlich damit rechnete, „kriegsähnliche Schritte“91 einleiten zu müssen. Noch am gleichen Tag, an dem die tschechoslowakische Regierung das polnische Ultimatum erhielt, bedankte sich Beck bei Botschafter Moltke für die von Berlin an den Tag gelegte Loyalität gegenüber Warschau während der Sudetenkrise und der Münchener Konferenz. Dabei erkundigte sich der polnische Außenminister vor allem danach, ob die Reichsregierung seinem Land bei einem etwaigen Militärkonflikt mit der ČSR wohlwollend gesonnen wäre. Darüber hi­ naus fragte Beck, ob Hitler im Falle eines sowjetischen Angriffs auf Polen auf dessen Seite stehen würde. Beide Gesprächspartner gingen zugleich davon aus, dass diese Fragen rein theoretischen Charakter hatten, da man nicht mehr mit dem Ausbruch eines bewaffneten Konflikts rechnete. Botschafter Moltke betonte jedoch in seinem Bericht an Berlin, dass man den Machthabern in Warschau mit Rücksicht auf die „zukünftige Entwicklung der deutsch-polnischen Beziehungen“ so rasch wie möglich antworten müsse (dabei hatte Moltke natürlich eine positive Antwort im Sinn!).92 Diese Antwort übermittelte Ribbentrop Botschafter Lipski in einem vertraulichen Gespräch am 1. Oktober  1938. Von deutscher Seite wurde dabei die offizielle Versicherung abgegeben, dass Warschau im Falle eines polnisch-tschechoslowakischen Krieges mit der wohlwollenden Haltung Berlins rechnen könne. Bei Ausbruch eines Krieges zwischen Polen und der UdSSR werde das Deutsche Reich hingegen gegenüber Polen eine „mehr als wohlwollende Haltung einnehmen, wobei [Ribbentrop] ausdrücklich zu verstehen gab, dass die deutsche Regierung Hilfe leisten würde“.93 Noch am gleichen Tag sprach Lipski auch mit Göring, der sich noch offener äußerte: „Es ist völlig undenkbar, dass das Reich Polen in dessen Kampf gegen die Sowjets nicht hilft.“94 In der Forschung wird in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass die von Ribbentrop zugesagte Unterstützung keineswegs bedingungslos ge-

Kwiatkowski, Eugeniusz: W takim żyliśmy świecie [So war die Welt, in der wir lebten]. Kraków  1990, S. 103. Siehe auch Beck: Polska polityka zagraniczna, S. 223 sowie DTJS IV, S. 283 f. (Tagebucheintrag v. 30. 9. 1938). In Hinblick auf Kwiatkowski hielt Beck an anderer Stelle fest, dass sich dieser „vor allen bedeutenderen Entscheidungen stets gefürchtet“ habe (zit. nach: Beck: Polska polityka zagraniczna, S. 208). 90 Vgl. PDD 1938 (Dok. 353 bzw. 352, 354). 91 Zit. DTJS IV, S. 284 (Tagebucheintrag v. 30. 9. 1938). 92 Vgl. ADAP. Serie D, Bd. 5 (Dok. 54). 93 Zit. PDD 1938 (Dok. 364). 94 Zit. PDD 1938 (Dok. 364). Siehe auch ebenda. (Dok. 363); Landau / Tomaszewski: Monachium 1938 (Dok. 463). 89 Vgl.

Polen, die Sudetenkrise und die Folgen des Münchener Abkommens   375

wesen sei, sondern an die Erfüllung gewisser deutscher Forderungen geknüpft worden wäre.95 Die Machthaber in Prag nahmen jedoch das polnische Ultimatum an, so dass am 2. Oktober  1938 die ersten Truppen der Polnischen Armee ins Olsa-Gebiet einmarschierten. Außenminister Beck konnte einen glänzenden Erfolg verbuchen und durch sein Land rollte eine Welle von regierungsfreundlichen Kundgebungen, obwohl auch kritische Stimmen nicht fehlten und gewisse Befürchtungen offenbar wurden.96 Unter den westlichen Demokratien riefen das polnische Ultimatum und die damit verbundene Kriegsdrohung an die „alleine gelassene“ Tschechoslowakei zumeist einen sehr schlechten Eindruck hervor. Dabei bestätigten sich die vom stellvertretenden Ministerpräsidenten Kwiatkowski geäußerten Befürchtungen, dass der von Warschau am 30. September 1938 gefällte Beschluss einen tiefen Schatten auf die Wahrnehmung Polens im Ausland werfen würde. Dabei wurden auch Stimmen laut, dass sich Polen wie eine Hyäne verhalte, die sich auf das in „München“ zu Boden geworfene Opfer stürze. Mit den polnischen Beweggründen weniger vertraute zeitgenössische Beobachter fühlten sich in ihrer Meinung bestätigt, dass der polnische Außenminister auf illoyale, hinterhältige Weise handle und mit den Mächtigen des Dritten Reiches sogar unter einer Decke stehe. Zahlreiche prominente Vertreter der westlichen Staatenwelt kamen vor diesem Hintergrund zum Schluss, dass Polen eigentlich keine Unterstützung verdiene, falls es seinerseits zum nächsten Ziel der NS-Aggressionspolitik werde.97 Im Oktober 1938 erhob die polnische Diplomatie auch Ansprüche auf kleine Landstriche der Slowakei, nämlich einen Teil des Orava-Gebietes und die Zips, die ebenfalls im Jahr 1920 angegliedert worden waren. Während der Sudetenkrise war diese Frage von Warschau nicht erhoben worden, weil der polnische Seite an bestmöglichen Beziehungen mit der slowakischen Volkspartei gelegen war. Als sich aber Anfang Oktober 1938 zeigte, dass die Führer der slowakischen Opposition dem Verbleib in dem föderalisierten tschechoslowakischen Staat zustimmten, trat Polen Ende Oktober/Anfang November mit der Forderung nach kleinen Abtretungen im Gebiet der Orava und der Zips sowie zusätzlich in der Region des Teschener Schlesien (des sogenannten Czadeckie) auf. Die Regierung in Prag und die autonome Regierung in Bratislava akzeptierten die Forderung Warschaus, die indes „den Zerfall des über viele Jahre erbauten Gebäudes des polnischen Einflusses bedeutete, vor allem in der [Slowakischen] Volkspartei“.98 Das polnische Vorgehen 95 Vgl.

Wojciechowski: Polnisch-deutsche Beziehungen 1933–1938, S. 509. europaweit bekannte polnische Essayist Jerzy Stempowski äußerte sich damals wie folgt: „Diese Annexion ist die Einleitung zu einer erneuten Teilung Polens“ (zit. nach: Dąbrowska, Maria: Dzienniki 1936–1945 [Tagebücher 1936–1945]. Warszawa 2000, S. 219 [Notiz v. 29. 10. 1938]). 97 Vgl. zu den Reaktionen auf das polnische Ultimatium näherhin Żerko: Stosunki polsko-niemieckie 1938–1939, S. 98 ff. 98 Batowski, Henryk: Europa zmierza ku przepaści [Europa steuert auf den Abgrund zu]. Poznań 1977, S. 57. Eingehender ebenda, S. 50 ff. sowie Orlof, Ewa: Dyplomacja polska wobec sprawy słowackiej w latach 1938–1939 [Die polnische Diplomatie und die slowakische Frage in den Jahren 1938–1939]. Kraków 1980, S. 99 ff. In der deutschen Literatur: Hoensch, Jörg K.: Der ungarische Revisionismus und die Zerschlagung der Tschechslowakei. Tübingen 1967, S. 200 ff. 96 Der

376   Stanisław Żerko wurde in der Slowakei weithin als verräterischer Akt betrachtet; in dem Land wurde seitdem eine antipolnische Stimmung vorherrschend. Den Epilog bildete der 1. September 1939, als slowakische Abteilungen an der Seite deutscher Truppen die südliche Grenze Polens überschritten.99 Wie aus Meldungen der polnischen Konsuln im Deutschen Reich hervorging, hatte unter der deutschen Bevölkerung im Herbst 1938 nicht selten die Ansicht geherrscht, dass nun Polen „an die Reihe“ kommen werde. Denn in zahlreichen Gesprächen bekam man oftmals zu hören, dass Hitler auch das Posener Gebiet, Pommerellen und Oberschlesien fordern werde, und dass die in Polen lebenden Deutschen „befreit werden sollten“.100 Ähnliche Auffassungen verbreiteten sich auch unter der deutschen Minderheit in Polen, was zwangsläufig Unruhe bei den staatlichen Behörden auslöste.101 Zu genau dem gleichen Schluss gelangten ferner einige deutsche Diplomaten alter konservativ-völkischer Prägung. Unter den in Hitlers Pläne nicht näher eingeweihten Vertretern des Auswärtigen Amtes wurde daher erwogen, ob Berlin nicht die günstigen Begleitumstände nützen und zumindest einige der alten Revisionsforderungen aufgreifen sollte: „Zu jener Zeit hätte Polen kaum Freunde gehabt, wenn Deutschland flugs das Korridor-Problem angepackt hätte.“102 Ernst von Weizsäcker verlieh in seinen Erinnerungen der Überzeugung Ausdruck, dass in einem solchen Fall niemand dem diskreditierten, international isolierten polnischen Staat („Schakal von München“) zu Hilfe geeilt wäre.103 Im Herbst 1938 vertrat von Weizsäcker die Ansicht, dass die Reichsregierung von Warschau endlich die Bildung einer „Landbrücke nach Ostpreußen“ sowie die Zustimmung zur Angliederung Danzigs an das Deutsche Reich fordern sollte. Polen sollte dabei auf die Rolle eines Pufferstaates zwischen Deutschland und der Sowjetunion reduziert werden. Eben diesen Rat erteilte Weizsäcker seinem Außenminister im Dezember  1938.104 Gegenüber Admiral  Canaris stellte Weizsäcker fest, dass Frank  99 Zuletzt:

Baka, Igor: Udział Słowacji w agresji na Polskę w 1939 roku [Die Teilnahme der Slowakei an dem Angriff auf Polen 1939]. Warszawa 2010. 100 Zit. Archiwum Akt Nowych, Warszawa [Archiv der Neuen Akten Warschau]. Ambasada Berlin 841 [Botschaft in Berlin 841], konsul generalny w Lipsku F. Chiczewski do J. Lipskiego [Generalkonsul in Leipzig F. Chiczewski an J. Lipski], 17. 11. 1938, S. 74. Laut einem internen Bericht des Auswärtigen Amtes vom 26. 8. 1938 an Ribbentrop herrschte in der deutschen Bevölkerung damals die Meinung vor, dass „nach Liquidation der tschechischen Frage Polen an der Reihe ist“ (zit. nach: Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof, Nürnberg, 14. November 1945–1. Oktober 1946, Nürnberg. Bd. 39, Nürnberg 1949, S. 100 [Dok. 076-TC]). 101 Vgl. Jaworski, Rudolf/Wojciechowski, Marian (Hg.): Deutsche und Polen zwischen den Kriegen. Minderheitenstatus und „Volkstumskampf“ im Grenzgebiet. Amtliche Berichterstattung aus beiden Ländern 1920–1939. München–New  Providence–London–Paris  1997 (Dok. 230 – Bericht des Wojewoden von Posen für Oktober 1938). 102 Zit. Spitzy, Reinhard: So haben wir das Reich verspielt. Bekenntnisse eines Illegalen. München-Wien 1986, S. 324. 103 Vgl. zu früheren Versionen der Erinnerungen Weizsäckers Blasius, Rainer A.: Für Großdeutschland – gegen den großen Krieg. Staatssekretär Ernst Frhr. von Weizsäcker in den Krisen um die Tschechoslowakei und Polen 1938/39. Köln–Wien 1981, S. 75 f. 104 Vgl. Hill, Leonidas E. (Hg.): Die Weizsäcker-Papiere 1933–1950.Frankfurt a. M.-Berlin-Wien 1974, S. 150. Von Weizsäcker, Ernst: Erinnerungen. München-Leipzig-Freiburg i.Br. 1950, S. 212.

Polen, die Sudetenkrise und die Folgen des Münchener Abkommens   377

reich und Großbritannien im Falle eines deutsch-polnischen Militärkonflikts neutral bleiben würden.105 Auch der deutsche Botschafter in London, Herbert von Dirksen, wies darauf hin, dass die britische Regierung den Machthabern in Warschau seit Ausbruch der Sudetenkrise nicht gerade mit Sympathie begegne und sogar damit rechne, dass das Deutsche Reich von Polen zumindest Danzig und den „Korridor“ einfordern werde.106 Hitler hatte jedoch mit Polen völlig andere Pläne. Vor diesem Hintergrund sparten die nationalsozialistischen Machthaber gegenüber der polnischen Regierung offiziell nicht mit Komplimenten. Am 1. Oktober  1938 bezeichnete z. B. Reichsfeldmarschall Göring in einem Telefongespräch mit Lipski das polnische Vorgehen im Teschener Schlesien als „außerordentlich kühne und in prächtigem Stil durchgeführte Aktion“. Noch am gleichen Tag ließ Ribbentrop den polnischen Botschafter wissen, dass sich der „Reichskanzler heute beim Frühstück im engsten Kreise mit großer Anerkennung über die Politik Polens geäußert“ habe. Lipski teilte Außenminister Beck daraufhin umgehend mit, dass „unser Schritt hier als Ausdruck großer Stärke und eigenständigen Handelns anerkannt worden ist, was die sicherste Garantie für unsere guten Beziehungen zur Reichsregierung darstellt [sic!]“.107 Die anfänglichen Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich der neuen Demarkationslinie wurden rasch überwunden, da das Deutsche Reich den strategisch wichtigen Eisenbahnknotenpunkt in Bohumín/Oderberg an Polen abtrat. Die polnische Diplomatie zeigte sich unmittelbar nach der Münchener Konferenz vor allem daran interessiert, zu einer gemeinsamen Grenze mit Ungarn zu gelangen. Dieses Ziel sollte durch die Abtretung der damals noch zum tschechoslowakischen Staat gehörenden Karpato-Ukraine an Ungarn erreicht werden.108 Von wesentlicher Bedeutung waren dabei die in Warschau gehegten Befürchtungen, dass die im Rahmen einer föderalisierten Tschecho-Slowakei politisch autonome Karpato-Ukraine möglicherweise zu einem „ukrainischen Piemont“ werden könne, was auch die territoriale Integrität des polnischen Staates bedroht hätte. Die Bildung einer polnisch-ungarischen Grenzlinie sollte zugleich einen bedeutenden Schritt darstellen, um die ansonsten recht unrealistischen Pläne der Schaffung eines neutralen Staatenblocks in Ostmitteleuropa unter Führung ­Polens – das sogenannte „Zwischenmeerland“ oder „Dritte Europa“ – zu verwirklichen. Botschafter Moltke bemerkte jedoch sehr wohl, dass die polnischen Bestrebungen

105 Vgl.

Groscurth, Hellmuth: Tagebücher eines Abwehroffiziers 1938–1940. Stuttgart  1970, S. 159. 106 Vgl. ADAP. Serie D, Bd. 4 (Dok. 287). 107 Zit. PDD 1938 (Dok. 364). 108 Vgl. Kotowski, Albert S.: „Ukrainisches Piemont“? Die Karpatenukraine am Vorabend des Zweiten Weltkrieges. In: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 49/1 (2001), S. 67–95. Ganzer, Christian: Die Karpato-Ukraine 1938/39 – Spielball im internationalen Interessenkonflikt am Vorabend des Zweiten Weltkrieges. Hamburg  2001. Siehe auch Shandor, Vincent: Carpatho-Ukraine in the Twentieth Century. A Political and Legal History. Cambridge (Mass.) 1997.

378   Stanisław Żerko in Hinblick auf eine gemeinsame Grenze mit Ungarn vor allem aus der Furcht Warschaus vor einer weiteren Expansion des Deutschen Reiches in den an Südpolen angrenzenden Gebieten resultierten.109 Die Situation war geradezu paradox: Die Bildung der polnisch-ungarischen Grenze sollte einen Meilenstein auf dem Weg zur Realisierung des indirekt gegen Berlin gerichteten Projekts „Drittes Europa“ darstellen, aber um die Zustimmung zur Angliederung der Karpato-Ukraine an Ungarn warb die polnische Diplomatie vor allem bei den nationalsozialistischen Machthabern. Im Laufe von fast zwei Monaten – von 10. August bis 1. Oktober 1938 – griff die polnische Seite diese Frage gegenüber der Reichsregierung daher mindestens fünfmal auf.110 In den darauffolgenden Wochen verstärkte Warschau seine Bemühungen erneut, wobei Lipski dem deutschen Außenminister am 18. Oktober  1938 mitteilte, dass Beck in dieser Frage mit dem Deutschen Reich in „freundschaftlichen Konsultationen bleiben“ wolle.111 Bereits vier Tage zuvor hatte Hitler dem Sondergesandten Horthys und früheren ungarischen Ministerpräsidenten Kálmán Darányi in einem Gespräch zu verstehen gegeben, dass er eine etwaige Angliederung der Karpato-Ukraine an Ungarn nur dann akzeptiere, wenn Warschau und Budapest gleichzeitig zu Bundesgenossen Berlins würden. Dabei betonte der Reichskanzler, dass „wenn Deutschland mit Ungarn und Polen einen großen Block formen würde, nichts endgültig sei und Grenzveränderungen immer noch vorgenommen werden könnten“.112 Hitler zeigte sich nach „München“ entschlossen, eine definitive Festlegung der Haltung Polens in Hinblick auf den von ihm insgeheim anvisierten Krieg im Osten zu erzwingen. Denn ohne vorherige Klärung, ob sich die polnische Regierung nicht doch für einen Beitritt zu der vom Deutschen Reich angeführten Staatengruppe entscheiden würde, war aus Sicht des deutschen Reichskanzlers an konkrete Vorbereitungen für einen zukünftigen Krieg gegen die Sowjetunion nicht zu denken. Andernfalls hätte auch sämtlichen Operationen der Wehrmacht im Westen Europas das Risiko gedroht, dass Polen seinem französischen Bündnispartner zu Hilfe gekommen wäre. Vor diesem Hintergrund wurde Botschafter Lipski am 24. Oktober 1938 zu einer Unterredung mit Ribbentrop nach Berchtesgaden geladen. Der deutsche Außenminister hatte sich sorgfältig auf dieses Gespräch vorbereitet113 und führte es in geschickter Weise. Dabei lobte Ribbentrop die Haltung der polnischen Regierung während der Sudetenkrise in Superlativen und berief sich auch auf die angeblich von Hitler geäußerte Worte: „Die Polen sind wahre Teufelskerle. Pilsudski 109 Vgl. ADAP.

Serie D, Bd. 5 (Dok. 64). Wojciechowski: Polnisch-deutsche Beziehungen 1933–1938, S. 528. 111 Vgl. ADAP. Serie D, Bd. 5 (Dok. 75). 112 Zit. ADAP. Serie D, Bd. 4 (Dok. 62). 113 In der Nacht zum 21. 10. 1938 erhielt das Auswärtige Amt die telefonische Anweisung, Außenminister Ribbentrop unverzüglich Abschriften von Dokumenten über die Entwicklung der deutsch-polnischen Beziehungen der letzten Jahre zu übermitteln. Vgl. Politisches Archiv des Auswärtigen Amts [PA AA] Berlin, Büro Reichsaußenminister, Polen (1936–1938), Notiz v. 22. 10. 1938, S. 296 (78657). 110 Vgl.

Polen, die Sudetenkrise und die Folgen des Münchener Abkommens   379

wäre mit ihnen zufrieden gewesen.“ Im Gegensatz dazu wurde die Politik der ungarischen Regierung als beklagenswert bezeichnet. Budapest habe „trotz der Warnungen des Führers den richtigen Augenblick zum Handeln übersehen“, so dass der Reichskanzler auf die Ungarn nunmehr „ohne größere Anerkennung“ blicke. Lipski kam daraufhin ohne größere Umschweife auf den eigentlichen Grund seines Besuchs zu sprechen, der da­rin bestand, die deutsche Zustimmung für die Angliederung der Karpato-Ukraine an Ungarn einzuholen.114 Ribbentrop tat so, als ob die Pläne zur Bildung einer polnisch-ungarischen Grenze für ihn noch neu waren und wich der konkreten Beantwortung dieser Frage gezielt aus. Stattdessen bauschte er etwaige Hindernisse auf diesem Weg künstlich auf und ging unverzüglich auf ein ganz anderes Problem ein, das schließlich das gesamte Gespräch dominieren sollte. Ribbentrop wies nämlich darauf hin, dass „die Zeit gekommen ist, die Beziehungen zwischen Deutschland und Polen vollständig von allen bestehenden Problemen zu reinigen“, was die „Krönung des von Marschall Pilsudski und dem Führer eingeleiteten Werks“ wäre. Daher schlug Ribbentrop eine „allgemeine Regelung“ der deutsch-polnischen Beziehungen vor. Zu „lösen“ sei vor allem das Danzig-Problem, und zwar durch die erneute Integrierung dieser Stadt ins Deutsche Reich. Durch Pommerellen solle unterdessen eine exterritoriale Reichsautobahn und eine Eisenbahnlinie nach Ostpreußen entstehen. Die gemeinsame Grenze zwischen beiden Ländern erhalte damit eine dauerhafte Garantie115, wobei der bilaterale Gewaltverzichtsvertrag von 1934 um 10 bis 25 Jahre verlängert werden würde. Am wichtigsten waren jedoch die beiden letzten Punkte dieses Forderungskatalogs. Denn Warschau sollte nicht nur dem AntikominternPakt beitreten, sondern auch eine „Konsultationsklausel“ zur Nichtangriffserklärung von 1934 akzeptieren, wodurch Polen zur inhaltlichen Abstimmung seiner Außenpolitik mit dem Deutschen Reich verpflichtet worden wäre. Ribbentrop gab Lipski zu verstehen, dass er keine sofortige Antwort von polnischer Seite ­erwarte, sondern bat darum, diese Vorschläge gründlich zu überdenken. Etwa 20 Minuten nach Beendigung dieses Gesprächs lud der deutsche Außenminister Botschafter Lipski erneut zu sich und fügte hinzu, dass, „wenn man zwischen Deutschland und Polen zu einer Globallösung käme“, auch für das Problem der Karpato-Ukraine ein „günstiges Arrangement gefunden werden könne“.116 Ribbentrops Vorschläge liefen eindeutig auf die Umwandlung Polens in einen Satel­

114 In

diesem Zusammenhang beschrieb Lipski die Karpato-Ukraine als Unruheherd für die gesamte umliegende Region sowie als Zentrum kommunistischer Agitation und Spionage. Dabei tauchte sogar der Vorwurf auf, dass die tschechoslowakische Regierung in diesem Landstreifen mehrere Flugbasen für sowjetische Kampfflieger habe errichten lassen. 115 Der polnische Historiker Batowski, Henryk: Europa zmierza ku przepaści [Europa steuert auf den Abgrund zu]. Poznań 1977, S. 107 (Anm. 24), stellt die Überlegung an, was die von beiden Staaten vertraglich zugesagte Garantie hinsichtlich „ihrer gemeinsamen Grenzen (Garantie) oder Territorien auf beiden Seiten“ bedeutet hätte. Batowski schließt dabei nicht aus, dass das Deutsche Reich den Bestand der polnischen Ostgrenze – und Polen die deutsche Westgrenze hätte garantieren sollen. 116 Zit. ADAP. Serie D, Bd. 5 (Dok. 81).

380   Stanisław Żerko litenstaat des Deutschen Reiches hinaus, obwohl die konkreten Forderungen zu Danzig und zum „Korridor“ an sich nicht übertrieben waren.117 Tief beunruhigt von Ribbentrops Worten unterrichtete Lipski seinen Dienstherrn in Warschau ausführlich von diesem Gespräch. Beck maß den deutschen Vorschlägen jedoch keine größere Bedeutung bei und verlor darüber auf der am 4. November 1938 im engsten Mitarbeiterkreis abgehaltenen Konferenz kein einziges Wort. Die internationale Lage seines Landes schätzte der polnische Außenminister sogar recht optimistisch ein. In Hinblick auf die Beziehungen zum Deutschen Reich erlaubte sich Beck dabei den Scherz, dass die „Löwen gar nicht so furchtbar seien, wenn man näher mit ihnen lebe“. Die Situation Polens sei insgesamt günstig („Wir befinden uns an einem guten politischen Ausgangspunkt“). Zugleich zeigte sich Beck immer noch von dem auf Kosten der ČSR erzielten „Erfolg“ beeindruckt und meinte, dass „man eigentlich von den Tschechen noch viel mehr hätte herausholen können, ohne auf größeren Widerstand zu stoßen. Die Schwäche dieses Staates hat unsere Erwartungen übertroffen“.118 Diese Worte des polnischen Außenministers zeugen von einer erheblichen politischen Desorientiertheit, aber auch von unbekümmertem Leichtsinn und einer gehörigen Überschätzung des internationalen Gewichts Polens. Der bereits zwei Tage zuvor am 2. November 1938 gefällte Wiener Schiedsspruch bedeutete eine empfindliche Niederlage für die polnische Diplomatie. Denn dieser Beschluss ließ nicht nur das Projekt der polnisch-ungarischen Grenze endgültig scheitern, sondern zeigte erneut, dass über wesentliche Interessen Polens über die Köpfe der Machthaber in Warschau hinweg entschieden wurde. Aus dem Wiener Schiedsspruch ging die autonome ukrainische Regierung in der Karpato-Ukraine gestärkt hervor. Ein dort möglicherweise entstehendes „ukrainisches Piemont“ hielt man in Polen angesichts der in dieser Region lebenden Minderheit von fünf Millionen Ukrainern für eine außerordentliche Gefahr. Im Wissen um den unmittelbar bevorstehenden Wiener Schiedsspruch wollte die polnische Regierung vor der internationalen Öffentlichkeit bereits Ende Oktober 1938 demonstrieren, dass Polen seine Territorialansprüche ganz aus eigener Kraft durchzusetzen vermochte. Daher forderten polnische Diplomaten am 31. Oktober in Bratislava/Pressburg und am 1. November  1938 in Prag geringfügige Korrekturen der Grenzlinie zur Slowakei. Bereits recht früh wurde der starke Einfluss Polens in der Slowakei um den Preis einiger unbedeutender Landstriche zunichtegemacht. Den jüngsten Postulaten der nationalsozialistischen Machthaber hingegen ließ Beck eine höfliche, aber bestimmte Absage erteilen. Der polnische Außenminister ging nämlich davon aus, seine bisherige Schaukelpolitik zwischen dem Deutschen Reich und den Westmächten auch weiterhin betreiben zu können und meinte, 117 Der

deutsche Diplomat Erich Kordt weist in seinen nach Kriegsende verfassten Erinnerungen darauf hin, dass Außenminister Gustav  Stresemann zu Zeiten der Weimarer Republik für derart begrenzte Territorialforderungen von der einheimischen Öffentlichkeit vehement angegriffen worden wäre – unter dem Vorwurf des Ausverkaufs der nationalen Interessen seines Landes. Vgl. Kordt, Erich: Nicht aus den Akten. Stuttgart 1950, S. 300. 118 Zit. DTJS IV, S. 357 f.

Polen, die Sudetenkrise und die Folgen des Münchener Abkommens   381

dass sich Berlin auch diesmal mit der ablehnenden Haltung Warschaus abfinden würde. Becks Aufmerksamkeit richtete sich damals weitaus stärker auf die politische Zukunft der Karpato-Ukraine als auf die sich abzeichnende scharfe Konfrontation mit Hitler.119 Die deutschen Vorschläge vom 24. Oktober 1938 sah der polnische Außenminister indessen als persönliche Intrige Ribbentrops an. Dass hinter diesen Forderungen aber letztlich Hitler selbst stand, erkannte Beck wohl erst im Laufe seines Gesprächs mit dem deutschen Reichskanzler am 5. Januar 1939 in Berchtesgaden.120 Denn unmittelbar nach seiner Rückkehr wurden im Warschauer Königsschloss vertrauliche Beratungen innerhalb der engsten Staatsführung in Anwesenheit von Präsident Mościcki und Marschall Rydz-Śmigły abgehalten. Die höchsten Entscheidungsträger des polnischen Staates kamen dabei überein, dass die etwaige Annahme von Ribbentrops Angebots (noch nicht identisch mit ultimativen Forderungen!) das eigene Land „unweigerlich auf eine schiefe Bahn führen“ würde, die „mit dem Verlust der Unabhängigkeit und der Rolle eines deutschen Vasallen endet“.121 Hinsichtlich der Danzig-Frage und des „Korri­ dor“-Problems ließ sich die polnische Seite zwar zu geringfügigen Zugeständnissen bewegen und zeigte sich zumindest nach außen hin kompromissbereit. Zugleich wollte Beck jedoch den Versuch unternehmen, die Beziehungen zu Frankreich und Großbritannien noch mehr als bisher zu festigen. Am 25. Januar 1939 – am Vorabend des fünften Jahrestages der Unterzeichnung der bilateralen Nichtangriffserklärung – wurde der deutsche Außenminister in Warschau mit überschwenglicher Höflichkeit empfangen. Beide Seiten versicherten sich dabei wiederholt ihres Willens, ihre „freundschaftlichen“ Beziehungen weiterhin aufrechtzuerhalten. Aber als Ribbentrop erneut auf seine zuletzt unterbreiteten Vorschläge zu sprechen kam, erhielt er keine nähere Antwort. Statt dessen warnte ihn Beck sogar davor, die jüngsten Gespräche in Warschau gegenüber Hitler in allzu optimistischen Tönen zu schildern.122 *  *  * Die Außenpolitik Polens während der Sudetenkrise und in der Zeit unmittelbar nach der Münchener  Konferenz enthielt zwar Elemente einer nüchternen Lage­ 119 Vgl.

Dąbrowski, Dariusz: Rzeczpospolita Polska wobec kwestii Rusi Zakarpackiej (Podkarpackiej) 1938–1939 [Die Haltung der Republik Polen zum Problem der Karpato-Ukraine 1938–1939]. Toruń 2007. 120 Dazu äußerte sich Beck wenige Monate später in einem privaten Brief an einen engen Freund wie folgt: „Während meines Besuches bei Hitler in Berchtesgaden bemerkte ich eine gefährliche Veränderung an diesem Menschen, den ich […] begründetermaßen seit 1934 für ein in Deutschland selten angetroffenes Beispiel von Vernunft in der Außenpolitik hielt. Allzu leicht errungene Erfolge […] haben diesen Menschen, mit dem man noch vor einem Jahr ganz vernünftig über europäische Politik sprechen konnte, in einen Zustand versetzt, der bereits unmittelbar unsere Interessen bedroht“ (zit. nach: Polskie dokumenty dyplomatyczne. Styczeń  –  sierpień  1939 [Polnische diplomatische Dokumente. Januar–August  1939]. Red. Stanisław Żerko. Warszawa 2005 [Dok. 275]). 121 Zit. nach: Beck: Polska polityka zagraniczna, S. 240. 122 Vgl. dazu näherhin Żerko: Stosunki polsko-niemieckie 1938–1939 (Kap. II–III).

382   Stanisław Żerko betrachtung, zeigte sich aber zugleich überaus desorientiert. Ausgehend von der „Appeasement“-Politik der Westmächte versuchte die polnische Regierung bis zuletzt, zwischen Berlin, Paris und London zu lavieren. Diese Grundkonzeption wurde jedoch fast von Anfang an durch ein weiteres Handlungsmotiv entscheidend gestört. Dieses bestand im Bestreben, beinahe um jeden Preis vom OlsaGebiet Besitz zu ergreifen sowie in dem festen Willen, zum endgültigen Zerfall des tschechoslowakischen Staates beizutragen. Im Endeffekt kam es daher zu einer vorübergehenden, gegen Prag gerichteten Zusammenarbeit zwischen Warschau und Berlin. Dabei bewertete die polnische Diplomatie die Politik der Westmächte zwar überaus realistisch und hegte aus guten Gründen auch keine Illusionen über die Rolle der Sowjetunion. Dennoch überschätzte Außenminister Beck die tatsächliche Bedeutung seines Landes für das Deutsche Reich erheblich und nahm zugleich dessen wachsendes Bedrohungspotential nicht ernst genug. Keineswegs unbedeutend erwiesen sich auch gewisse Prestigeerwägungen der Machthaber in Warschau, die vom Willen getragen wurden, sich dem Direktorat des Viererpakts zu widersetzen. Dennoch kam gerade diese Mächtekonstellation auf der Münchener Konferenz voll zum Tragen. In der Folgezeit schlug Polen einen überaus riskanten Weg ein, der rasch zur weitgehenden politischen Isolation gegenüber den Westmächten führte. Dabei stieß das polnische Ultimatum an Prag in der demokratischen Welt auf einhellige Ablehnung. Gleichzeitig gelang es Warschau nicht, die nach der Münchener Konferenz entstandene internationale Lage für sich auszunützen und Berlin zur Annahme des polnischen Standpunkts in der Danzig-Frage und zur endgültigen Anerkennung der beiderseitigen Grenze zu bewegen. Kurze Zeit später griff die deutsche Seite diese Probleme erneut auf und verknüpfte sie untrennbar mit der Forderung nach einem Beitritt Polens zum Antikomintern-Pakt. Die unbeirrte Absage der polnischen Regierung an ein Militärbündnis mit dem Deutschen Reich führte zu einer scharfen diplomatischen Krise, die schließlich in den „Septemberfeldzug“ von 1939 mündete. Aus dem Polnischen von Jan Obermeier

Valerián Bystrický/Michal Schvarc

„München“ und die Entstehung des ­Slowakischen Staates Das „Münchener Abkommen“ vom 29. September 1938 veränderte sowohl die außen- als auch die innenpolitischen Verhältnisse der Tschecho-Slowakei. Die Annahme des Abkommens beeinträchtigte die Positionen der tschechischen politischen Elite und begünstigte die politischen Machtkämpfe insbesondere in der Slowakei. Die nach wie vor umstrittene staatsrechtliche Stellung der Slowakei innerhalb der Tschechoslowakischen Republik wurde in der nunmehr autonomen Slowakei – offiziell Autonomes Land Slowakei (Slovenská krajina) – für den politischen Machtkampf instrumentalisiert. Seit der zweiten Hälfte der 1930er Jahre forderten alle slowakischen beziehungsweise in der Slowakei tätigen Parteien, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß, eine tiefgehende Änderung der staatsrechtlichen Stellung der Slowakei innerhalb der Tschechoslowakischen Republik. Ihre Forderungen reichten von administrativen Änderungsvorschlägen wie der Stärkung der Selbstverwaltung bis hin zur Föderalisierung des Gesamtstaates. Auf dem Höhepunkt der Staatskrise Ende September 1938 schlugen einige Vertreter von „Hlinkas Slowakischer Volkspartei“ (Hlinkova slovenská ľudová strana, im Folgenden HSĽS) die Schaffung eines unabhängigen Staates als Alternative vor.1 In der Zeit nach dem Münchener Abkommen begann ein kleiner Teil der HSĽS-Führung, die künftige staatsrechtliche Stellung der Slowakei neu zu überdenken. Bis dahin vertrat die HSĽS die Konzeption des so genannten Autonomismus, dessen Ideologie sich auf die Grundsätze des Pittsburgher Abkommens vom 30. Mai 1918 stützte. Die HSĽS konnte sich demnach die nationale Existenz der Slowaken nur „im Staatenbund mit einem ihrer Nachbarn, womöglich mit den böhmischen Ländern“ vorstellen.2 Die veränderten außen- und innenpolitischen Verhältnisse ließen schließlich den Gedanken an „eine vollständige staatsrechtliche Verselbstständigung – ein neues Moment in der Entwicklung der slowakischen Ideologie“ aufkommen.3 Dennoch wurde eine, wenngleich vorübergehende Lösung in der Aufrechterhaltung des gemeinsamen Staates gefunden.

1

Landau, Zbigniew/Tomaszewski, Jerzy (Hg.): Monachium 1938. Polskie dokumenty dyplomatyczne. [Das Münchener Abkommen von 1938. Dokumente der polnischen Diplomatie]. Warszawa 1985. S. 486. Zarański, Józef (Hg.): Diariusz i teki Jana Szembeka 1935–1945 [Tagebücher und Aufzeichnungen Jan Szembeks 1935–1945]. Bd. 4. London 1972, S. 323. 2 Šolc, Jaroslav: Slovensko v českej politike [Die Slowakei in der tschechischen Politik]. Banská Bystrica 1993. S. 75. Zur Entwicklung autonomistischer Tendenzen in der Slowakei allgemein vgl.: Hoensch, Jörg K.: Dokumente zur Autonomiepolitik der Slowakischen Volkspartei Hlinkas. München, Wien 1984. 3 Šolc, Slovensko. S. 75.

384   Valerián Bystrický/Michal Schvarc

Das Abkommen von Sillein (Žilina) Die nach dem September 1938 erfolgte Umverteilung der Machtpositionen und die neuen Möglichkeiten der Einflussnahme auf die innenpolitische Entwicklung hatten zur Folge, dass unter den slowakischen Parteien, und vor allem innerhalb der HSĽS, das Föderalisierungsprogramm die Oberhand gewann. Dieses hatte die HSĽS bereits in einem Vorschlag vom 5. Juni 1938 unterbreitet.4 Auch Staatspräsident Edvard Beneš und die tschechoslowakische Regierung vertraten die Meinung, dass die Lage allein durch die Erfüllung der Forderungen der HSĽS zu klären sei. Nachdem sich die Regierung Jan Syrovýs mit dem Gesetz über die Existenz der tschechischen und slowakischen Nationen einverstanden erklärt hatte, beschloss sie am 5. Oktober 1938, dass den Verhandlungen über die künftige staatsrechtliche Stellung der Slowakei der Vorschlag der HSĽS vom Juni 1938 zugrunde gelegt werden sollte.5 Auch die zweite Regierung Syrovýs entwarf keine eigene Konzeption der staatsrechtlichen Änderungen. Sie nahm die Bedingungen des geplanten Abkommens der slowakischen Parteien an, noch bevor dieses am 6. Oktober 1938 in Sillein (Žilina) öffentlich bekannt gegeben wurde. Die tschechische Politik verfügte zum gegebenen Zeitpunkt über keinen Plan, wie sie die Probleme in der Slowakei handhaben wollte.6 Das Abkommen von Sillein und das darauf folgende Gesetz über die slowakische Autonomie vom 22. November 1938 schufen ein asymmetrisches Föderalisierungsmodell. Außer der Zentralregierung verfügten die Autonomieregierungen in Bratislava und Užgorod ebenfalls über die Exekutivgewalt. Die Wahl der gesetzgebenden Versammlung des Autonomen Landes der Slowakei – des „Landtags der Slowakei“ (Snem Slovenskej krajiny) – am 18. Dezember 1938 folgte den Grundsätzen des Pittsburgher Abkommens. Der Landtag bildete die Grundlage der slowakischen Staatlichkeit und „vervollkommnete“ die Slowaken zu einer politischen Nation. Die slowakische Staatlichkeit sollte nichtsdestoweniger im Rahmen der Tschecho-Slowakischen Republik verwirklicht werden, denn im Abkommen von Sillein wurde eindeutig festgelegt, dass die konstitutionelle Verankerung „dieser Vorlage die endgültige Lösung der staatsrechtlichen Stellung der Slowakei mit sich bringt“.7 Die Repräsentanten der tschechischen Politik waren mit diesen Grundsätzen einverstanden. Am 8. Oktober 1938 beschlossen sie zusammen mit den Vertretern der HSĽS die Verabschiedung des Gesetzes über die slowakische Autonomie.8 Die Hoffnung, die Lösung der slowakischen Frage im Sinne der Vor4

„Slovák“ vom 5. Juni 1938. Národní archiv Praha [Nationalarchiv Prag], Prezídium ministerskej rady [Präsidium des Minis­ terialrates] (PMR), Karton 4143, XIX-1, XIX-3 (Eintragungen Prag, 5. und 6. Oktober 1938). 6 Masařík, Hubert. V proměnách Evropy. Paměti československého diplomata [Im Wandel Europas. Erinnerungen eines tschechoslowakischen Diplomaten]. Praha, Litomyšl 2002, S. 279. 7 Dokumenty slovenskej národnej identity a štátnosti [Dokumente zur slowakischen nationalen Identität und Staatlichkeit]. Bd. 2. Bratislava 1998, S. 181. 8 Gebhart, Jan/Kuklík, Jan. Druhá republika 1938–1939. Svár demokracie a totality v politickém, společenském a kultúrním životě [Die Zweite Republik 1938–1939. Die Auseinandersetzung 5

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schläge der HSĽS würde eine Verbesserung der tschechisch-slowakischen Beziehungen sowie die Konsolidierung sowohl der innenpolitischen Verhältnisse als auch der außenpolitischen Lage der Tschecho-Slowakischen Republik nach sich ziehen, musste jedoch aus mehreren Gründen enttäuscht werden. Das Abkommen von Sillein und das darauf folgende Gesetz über die slowakische Autonomie hatten eine Umverteilung der Macht zur Folge. Die Schwächung der tschechischen politischen Elite und der Zentralregierung ermöglichte vorübergehend die Bildung eines Blocks zwischen der HSĽS und der Agrarpartei. In diesem nahm die HSĽS eine dominante Position ein. Innerhalb des rechten Spektrums traten somit zunehmend rechtsradikale Züge zum Vorschein. Die außenpolitische Lage, die innenpolitischen Veränderungen und die Umverteilung der Macht beschleunigten die Zerstörung des demokratischen Systems und den Aufbau des autoritären Regimes. Diese Tendenzen beeinflussten auch die außenpolitische Orientierung der HSĽS. Die HSĽS verkündete in Sillein das „Manifest der slowakischen Nation“ (Manifest slovenského národa), in dem es hieß: „Wir verharren an der Seite derjenigen Völker, die den Kampf gegen die marxistisch-jüdische Ideologie der Zerstörung und Gewalt aufgenommen haben.“9 Dies bedeutete, abgesehen von der antisemitischen Zuspitzung, lediglich die Bestätigung der ideologischen Kontinuität und der Wahrnehmung der außenpolitischen Entwicklung. Eine scharfe Kritik richtete sich daher gegen die „linke“ Außenpolitik von Edvard Beneš und Kamil Krofta, denen die Schuld am Münchener Abkommen zugeschrieben wurde. Das Manifest betonte die Notwendigkeit der Sicherheitsgarantien, die den veränderten Umständen entsprechen müssten. Es implizierte damit eine Abkehr von den bisherigen, gescheiterten außenpolitischen Konzeptionen, da es davon ausging, dass in der gegebenen Situation der gemeinsame Staat keine Garantien für die Aufrechterhaltung der territorialen Integrität und keinen Schutz der slowakischen Interessen mehr bieten würde. In der HSĽS setzte sich die Meinung durch, dass allein das nationalsozialistische Deutschland aufgrund seiner Vormachtposition in Mitteleuropa die territoriale Integrität der Slowakei zukünftig garantieren könne.

Neuausrichtung und Gebietsveränderungen Fast zwanzig Jahre lang hatte die HSĽS das Pittsburgher Abkommen ihrem Programm und ihren Aktivitäten zugrunde gelegt. Als sie an die Macht kam, verletzte sie jedoch diese Grundsätze offenkundig. Sie zerstörte das demokratische System und errichtete ein autoritäres Regime. Zudem forderten die Radikalen der HSĽS die Teilung der Tschecho-Slowakischen Republik und die Bildung eines unabhängigen slowakischen Staates. Ein Teil der HSĽS-Politiker war zudem offensichtlich zwischen Demokratie und Totalität im politischen, sozialen und kulturellen Leben]. Praha, Litomyšl 2004, S. 82. 9 Hoensch: Dokumente, S. 249.

386   Valerián Bystrický/Michal Schvarc nicht bereit, die durch das Abkommen von Sillein auferlegten Verpflichtungen in Bezug auf die endgültige staatsrechtliche Lösung der slowakischen Frage einzuhalten. Nicht zufällig besuchten die radikalen HSĽS-Politiker auf ihrer ersten Auslandsreise ausgerechnet den zweiten Mann des „Dritten Reiches“, Hermann Göring. Ihr Vertreter Ferdinand Ďurčanský versprach dabei Göring, auf der ersten Sitzung des neu gewählten slowakischen Landtags einen unabhängigen, ausschließlich an Deutschland orientierten slowakischen Staat auszurufen.10 Die Radikalen wurden bei ihren Bestrebungen insbesondere von Franz Karmasin unterstützt, der Ende der 1920er Jahre die „Karpatendeutsche Partei“ (im Folgenden KdP) mitbegründet hatte und bis zum September 1938 Konrad Henleins Stellvertreter für die Slowakei und die Karpato-Ukraine war.11 In der neuen politischen Elite der Slowakei setzten sich allmählich zwei Konzeptionen der zukünftigen Entwicklung durch. Innerhalb des gemäßigten HSĽSFlügels, in dem die pro-tschechoslowakische Orientierung überwog, gingen die Meinungen im Februar und insbesondere im März 1939 auseinander. Seine ­Repräsentanten nahmen allerdings keine eindeutige beziehungsweise endgültige Stellung zur zukünftigen staatsrechtlichen Position der Slowakei ein. Auch der Regierungs- und gleichzeitige Parteivorsitzende Jozef Tiso äußerte sich weder öffentlich noch offiziell dazu. Um einen Ausweg aus der komplizierten politischen Lage zu finden, erwogen einige führenden Repräsentanten dieses Flügels bereits im März, schrittweise und legal die Unabhängigkeit zu erklären und diese in einer nicht näher bestimmten Zukunft zu realisieren. Ihre Beweggründe waren nicht nur die Angst vor der außenpolitischen Lage sowie der seit Januar 1939 verstärkte Druck Deutschlands. Die Anstrengungen, den bürokratischen Apparat, die Streitund Polizeikräfte aufzubauen – das heißt, bereits im Rahmen der Tschecho-Slowakei günstige Bedingungen für das Funktionieren eines unabhängigen Staates zu schaffen – veranlassten sie ebenso dazu. Diese Vision war jedoch ziemlich unklar. Im Rückblick bestritt auch Tiso, bereits zur Zeit der Ersten Tschechoslowakischen Republik einen unabhängigen Staat in die Wege geleitet zu haben.12 Wie umstritten diese Entwicklung war, erschließt sich bezeichnenderweise aus den vertraulichen Gesprächen beziehungsweise aus der Denkschrift, die während der September-Krise Tiso zusammen mit dem Polen gegenüber freundlich ge10 Akten

zur deutschen auswärtigen Politik 1918–1945 (weiter ADAP), Serie D, Band IV, BadenBaden 1952, S. 76. 11 Zu Karmasin siehe z. B.: Lipták, Ľubomír: Franz Karmasin opäť na scéne [Franz Karmasin wieder auf der Bühne]. Bratislava 1962. Baka, Igor: Franz Karmasin. Slovenský Henlein [Franz Karmasin. Der slowakische Henlein]. In: Do pamäti národa. Osobnosti slovenských dejín prvej polovice 20. storočia [Zum Gedächtnis der Nation. Persönlichkeiten der slowakischen Geschichte der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts]. Bratislava 2003, S. 295–298. 12 „Ich erkläre es öffentlich: Wir wollten zur Zeit der ehemaligen Republik keinen unabhängigen Staat. Ich sage es offen. Wer das Gegenteil behaupten will, ist ein Geschichtsfälscher. Wir ­haben Jehlička als Verräter gebrandmarkt, weil er das angestrebt hat. Das ist eine historische Tatsache. Niemand braucht sich dafür zu schämen. Wir meinten es mit der Autonomie innerhalb der ČSR aufrichtig. Wir ordneten lediglich das Staatsinteresse dem Volksinteresse unter.“ Fabricius, Miroslav/Hradská, Katarína (Hg.): Jozef Tiso. Prejavy a  články [Jozef Tiso. Reden und Aufsätze] (1938–1944). Band 2. Bratislava 2007, S. 611.

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sinnten HSĽS-Abgeordneten Karol Sidor dem polnischen Botschafter in Prag Kazimierz Papeé überreichten. In dieser plädierten sie für einen „von Polen garantierten unabhängigen slowakischen Staat“.13 Sidor propagierte dies auch während seines Besuchs in Warschau vom 19. bis zum 21. Oktober 1938, wo er von einem „ganz unabhängigen slowakischen Staat“ sprach, der durch die Trennung vom tschechischen Landesteil entstehen könnte, „wie es bei der Loslösung Norwegens von Schweden der Fall war“.14 Obwohl Tiso die Möglichkeit der Bildung eines unabhängigen Staates nur vorsichtig andeutete (dessen Orientierung an Deutschland erwähnte er paradoxerweise nicht), wurde sie vom Minister der autonomen Regierung Ďurčanský am 19. Oktober 1938 während seiner Unterredung mit ­Joachim von Ribbentrop eindeutig befürwortet.15 Andere Radikale deuteten diese Alternative gleichfalls an: etwa Vojtech Tuka im Gespräch mit Adolf Hitler am 12. Februar 1939 und ebenso Alexander Mach, der Kontakte zu nationalsozialistischen Agenten pflegte. Die Inhalte der Unterredungen, die während dieser geheimen Treffen geführt wurden, variierten allerdings beträchtlich. Den Repräsentanten des gemäßigten Parteiflügels schwebte zudem eher ein langfristiger Prozess vor, weshalb sie solche Vorstellungen so gut wie gar nicht in der Öffentlichkeit kommunizierten. Sie neigten grundsätzlich zur Erhaltung des gemeinsamen Staates, obwohl sie die autonome Slowakei politisch stärken wollten. Dagegen warben Tuka, Mach und andere in den Medien für die Schaffung des unabhängigen Staates als vermeintlich einzigen Ausweg aus der komplizierten Situation. Anfang März 1939 planten sie sogar einen Staatsstreich.16 Dieser sollte sich vor allem auf die paramilitärische Organisation der HSĽS, die „Hlinka-Garde“ (Hlinkova ­garda) stützen,17 die schon im Oktober 1938 die Aufmerksamkeit der deutschen Nachrichtendienste geweckt hatte. Die Hlinka-Garde sollte dabei als einer von mehreren Katalysatoren des inszenierten Zerfallsprozesses der Tschecho-Slowakei dienen. Die slowakische Öffentlichkeit sollte die Idee des unabhängigen Staates nicht nur als Erfüllung ihrer nationalen Ambitionen empfinden, sondern gleichermaßen als eine Art Vorbeugung, die die Slowakei vor der Aufteilung und Besetzung durch die Nachbarstaaten retten würde. Die Veränderungen infolge des Münchener Abkommens und insbesondere die anschließende territoriale Aufteilung der Republik machten solche Argumente nur plausibel. Der Wiener Schiedsspruch vom 2. November 1938 bestimmte die neuen Grenzen aufgrund strategisch-politischer und postulierter ethnischer Grundsätze. Die Slowakei musste an Ungarn 13 Landau/Tomaszewski:

Monachium 1938, S. 486. Diariusz i teki, S. 318–323. 15 ADAP, Serie D, Band IV, S. 84. 16 Vnuk, František: Mať svoj štát znamená život. Politická biografia Alexandra Macha [Ein eigener Staat bedeutet Leben. Die politische Biographie Alexander Machs]. Bratislava 1991, S. 186. „Slovák“ [Der Slowake] vom 7. Februar 1939. „Národné noviny“ [Nationalzeitung] vom 6. und 26. Januar 1939. Mach, Alexander: Z ďalekých ciest. Fragmenty z memoárov [Von weiten Reisen. Erinnerungsfragmente]. Martin 2008, S. 131. 17 Slovenský národný archív [Slowakisches Nationalarchiv] (Im Folgenden: SNA), Národný súd 1945–1947 [Volksgericht 1945–1947] (weiter NS), Tn ľud 17/1947 – F. Karmasin, Mikrofilm II. A 945 (Karmasins Eintrag vom 14. Februar 1939). 14 Zarański:

388   Valerián Bystrický/Michal Schvarc ein Gebiet von insgesamt 10 390 Quadratkilometern mit mehr als 850 000 Einwohnern abtreten, von denen über 272 000 Personen slowakischer und tschechischer Nationalität waren.18 Im Oktober 1938 stellte schließlich auch Polen territoriale Forderungen an die Tschecho-Slowakei. Diese bewegten sich außerhalb des im Münchener Abkommen festgesetzten Rahmens, denn Polen wollte in diesem Fall gesondert vorgehen. In Warschau forderte man vor allem die Abtretung des Teschener Landes (Český Těšín, Czeski Cieszyn), doch wurden überraschenderweise auch territoriale Forderungen an die Slowakei gestellt. Nach erschütternden Auseinandersetzungen und Zusammenstößen der Bevölkerung mit der polnischen Armee musste die Slowakei ein Gebiet von 226 Quadratkilometern mit 4280 Einwohnern an Polen abtreten.19 Infolge des Wiener Schiedsspruchs, der Abtretung von Engerau (Petržalka) an Deutschland und weiterer Gebiete in der Arwa-Region (Orava) und der Zips (Spiš) an Polen verlor die Slowakei einen beträchtlichen Teil ihres Territoriums. Ohne ausländische Garantien und Hilfe war sie außerstande, ihre territoriale Integrität aufrechtzuerhalten, und zwar zu einem Zeitpunkt, als sie vom gemeinsamen Staat keinen Rückhalt erwarten konnte. Die divergierenden Meinungen in Bezug auf die etwaige Änderung der staatsrechtlichen Verhältnisse spiegelten sich auch in der Form wider, in der die Ausrufung des unabhängigen Staates durch den slowakischen Landtag vorgenommen werden sollte. Ein solcher Akt war weitgehend unrealistisch, denn das regionale Parlament durfte keine Verfassungsänderungen verabschieden, die die territoriale Integrität des Staates betrafen. Dies wäre nur auf „revolutionärem Weg“ möglich gewesen und hätte erst nachträglich legitimiert werden können, wie es dann am 14. März 1939 tatsächlich geschah. Die Radikalen schrieben diesem Aspekt der Unabhängigkeitserlangung allerdings keine wesentliche Rolle zu und beabsichtigten, die Unabhängigkeit durch eine Rundfunkansprache zu verlautbaren. Ungeachtet dessen prägte die öffentliche Darstellung und Betonung der Notwendigkeit eines unabhängigen Staates das politisch-soziale Leben der autonomen Slowakei bis Anfang März 1939 kaum. Die Gründe dafür müssen im Fehlen eines machtpolitischen Garanten sowie der Mechanismen gesucht werden, ohne die weder die Verwirklichung eines solchen Programms noch die Sicherheit des neuen Staatswesens zu erreichen waren.

Innenpolitische Bedingungen Die neuen Machthaber in der Slowakei verfügten über Vollmachten, die es ihnen erlaubten, ihre politischen Ambitionen zum großen Teil unabhängig von der 18 Deák,

Ladislav: Hra o Slovensko. Slovensko v politike Maďarska a Poľska v rokoch 1933–1939 [Das Spiel um die Slowakei. Die Slowakei in der Politik Ungarns und Polens 1933–1939]. Bratislava 1991, S. 169. 19 Ebenda, S. 212.

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­ rager Zentralregierung zu befriedigen. Die ersten Handlungen der AutonomieP regierung sollten das demokratische System zerstören, indem die übrigen Parteien verboten beziehungsweise zwangsvereinigt wurden. Diverse Verordnungen schlossen verschiedene kulturelle, sportliche, karitative und berufsständische ­Organisationen und Vereine aus dem politisch-sozialen Leben aus und zwangen sie, sich mit den entsprechenden Organisationen der HSĽS und der Hlinka-Garde zu vereinigen. Die HSĽS erreichte bis Ende 1938 die Vormachtstellung in allen Bereichen des öffentlichen Lebens, einschließlich der Medien. Die Öffentlichkeit billigte dieses Vorgehen genauso wie die massive ideologische Beeinflussung, die auf Erfolgen bei der Durchsetzung der neuen staatsrechtlichen Verfassung fußte. Die Propaganda der HSĽS wusste die Vorteile zu nutzen, die sie aus ihrer einstigen Opposition zog, denn sie trug keine politische Verantwortung für das Münchener Abkommen und seine Folgen. Der ganze Prozess wurde von der Verhöhnung der Demokratie, des demokratischen Systems und der demokratischen Mächte, vom Kampf gegen den „JudeoBolschewismus“, von den Lobpreisungen autoritärer Regimes und des ständischen Gedankens sowie von der Akzeptanz der Vormachtstellung des nationalsozialistischen Deutschlands in Mitteleuropa begleitet. Er rief weder gewalttätige politische Auseinandersetzungen noch deutlichen Widerstand seitens der ehemaligen Regierungsparteien hervor, sondern bloß einseitige Presseattacken der HSĽS und der Hlinka-Garde gegen das alte Regime und dessen Repräsentanten sowie gegen alles, was im Zusammenhang mit der Entwicklung nach 1918 stand. Die slowakische Gesellschaft beziehungsweise weite Teile von ihr verzichteten relativ schnell auf das demokratische System und akzeptierten die neuen Machthaber. Ein Teil der Öffentlichkeit nahm den Gedanken des Aufbaus einer „neuen, unseren“ Slowakei sogar mit Begeisterung auf. Eine wichtige Rolle spielte in diesem Prozess nicht nur die Bedrohung der territorialen Integrität der Slowakei infolge des Münchener Abkommens, sondern auch die Befürchtung, dass sogar die nationale Existenz der Slowaken gefährdet sein könnte. Die politischen Akteure, die traditionell in Opposition zur HSĽS standen, strebten daher ebenfalls eine innenpolitische Stabilisierung an, die ihrer Meinung nach eine koordinierte Vorgehensweise erforderte. Zugleich sollte vor dem Ausland die Gesellschaft betont als ein einheitliches Ganzes dargestellt werden. Dies wurde auch in der Unterstützung der autonomen Regierung durch die Sozialdemokratie in der Zeit zwischen dem Münchener Abkommen und dem Wiener Schiedsspruch deutlich.20 Um diese Prioritäten durchzusetzen und den Aufbau der slowakischen Staatlichkeit im Rahmen der Tschecho-Slowakischen Republik voranzutreiben, wurden die antidemokratischen Praktiken der herrschenden Partei mehr oder weniger geduldet oder sogar gut geheißen. Die HSĽS förderte im Zuge der von ihr angestrebten Alleinherrschaft Organisationen, mit deren Hilfe sie die Umverteilung der Macht bewerkstelligen wollte. 20 „Robotnícke

noviny“ [Arbeiterzeitung] vom 11. Oktober 1938. Ivan Dérer, der Verfasser des Artikels, war einer der führenden sozialdemokratischen Persönlichkeiten in der Slowakei.

390   Valerián Bystrický/Michal Schvarc Neben den kurzlebigen Nationalkomitees traf dies vor allem auf die sich etablierende Hlinka-Garde zu. Diese im Sommer 1938 gegründete paramilitärische Organisation wurde Anfang Oktober 1938 zur wichtigsten machtpolitischen Stütze der „neuen“ Slowakei. Obwohl sie nicht bewaffnet war, griff die Hlinka-Garde ins politische Leben ein. Ihre Repräsentanten, vor allem Karol Sidor, setzten sich in den Machtstrukturen des Regimes durch. Sie wurde nach nationalsozialistischem Muster und mit Hilfe von „Freiwilligen“ aus Deutschland aufgebaut. Insbeson­ dere der Wiener „Sicherheitsdienst“ (SD) setzte auf diese „Karte“ und stellte der Führung der Hlinka-Garde bereitwillig einen – selbstverständlich inoffiziellen – Berater zur Verfügung.21 Die Hlinka-Garde bildete den Brennpunkt des Nationalismus und Separatismus. In ihren Reihen gruppierten sich zudem Asoziale und Karrieresüchtige, die die geltenden Gesetze verletzten und die Kontrollbefugnisse der Staats- und Selbstverwaltung willkürlich an sich rissen.22 Zusammen mit der Staatsverwaltung förderte die Hlinka-Garde in der Bevölkerung die antijüdischen und antitschechischen Ressentiments. Die Umverteilung der Macht begünstigte ebenfalls die Intoleranz gegenüber anderen ethnisch-nationalen Gruppen sowie die Produktion von Feindbildern. Dass die antijüdischen und allmählich auch antitschechischen Ressentiments nicht nur unter den Mitgliedern und Anhängern der HSĽS, sondern auch unter denjenigen der „Slowakischen Nationalpartei“ (Slovenská národná strana) so rasch Fuß fassen konnten, weist auf ihren festen Platz in der Ideologie beider ­Parteien hin. Jozef Tiso deutete dies ganz unmissverständlich in seiner Rede vom 6. Oktober 1938 in Sillein an. In dieser proklamierte er: „Von nun an wird kein einziger Tscheche gegen den Willen der slowakischen Nation in der Slowakei bleiben dürfen.“23 Tiso spielte hier auf ein langfristiges Problem an, das durch den Mangel an ausgebildeten Slowaken nach dem Ersten Weltkrieg entstanden war. In den 1930er Jahren eskalierte die Situation, als die Zahl gut ausgebildeter Slowaken deutlich zunahm, gleichzeitig aber nicht ausreichend Arbeitsplätze vorhanden waren. Das Problem sollte durch eine Vereinbarung der Autonomie- und der Zentralregierung gelöst werden, die eine Abschiebung von 9000 tschechischen Beamten aus der Slowakei vorsah. Das war nicht nur ein intellektueller Verlust. In der Art und Weise, wie das Problem gelöst wurde, äußerte sich auch eine Undankbarkeit den tschechischen Pädagogen und Wissenschaftlern gegenüber sowie eine Missachtung der Arbeit, die sie in der Slowakei geleistet hatten. Die Vertrei21 Bundesarchiv

(weiter BArch), R 70 Slowakei/356 (Karbus an Kaltenbrunner, 19. Juli 1943). SNA, NS, Tn ľud 17/1947 – F. Karmasin, Mikrofilm II. A 945 (Kraus’ Aufzeichnung vom 12. Januar 1939). 22 Suško, Ladislav: Hlinkova garda od svojho vzniku až po salzburské rokovania [Die HlinkaGarde von ihrer Gründung bis zu den Salzburger Verhandlungen] (1938–1940). In: Tóth, Ján Július (Hg.): Zborník Múzea Slovenského národného povstania [Jahrbuch des Museums des Slowakischen Nationalaufstandes]. Banská Bystrica 1969, S. 169–259, hier S. 185–186. Sokolovič, Peter: Hlinkova garda 1938–1945 [Die Hlinka-Garde 1938–1945]. Bratislava 2009, S. 97 ff. Im letztgenannten Band findet sich jedoch die Tendenz, die Gewalttaten der HlinkaGarde zu verharmlosen. 23 Medrický, Gejza: Minister spomína [Erinnerungen eines Ministers]. Bratislava 1993, S. 26.

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bung der tschechischen Beamten, die wachsenden separatistischen Tendenzen und die von der Hlinka-Garde initiierten Ausschreitungen beeinträchtigten die tschechisch-slowakischen Beziehungen und das gemeinsame Staatsbewusstsein. Der politische Ehrgeiz der HSĽS spiegelte sich zudem im Bestreben wider, die ökonomische und gesellschaftspolitische Position der tschechischen und jüdischen Bevölkerung in der Slowakei einzugrenzen. Diese Tendenzen schlugen sich in einer künstlichen, wenngleich zielgerichteten Förderung antijüdischer Ressentiments nieder. Kampagnen gegen jüdische Händler, der Boykott jüdischer Geschäfte und Gewerbetreibender, Entlassungen, der Ausschluss der Juden von den Hochschulen und überhaupt eine starke antijüdische Agitation und die Verbreitung von Hass wurden zum wichtigen Bestandteil der neuen Politik. Darüber hinaus wurden die Juden der Tätigkeit zugunsten Ungarns beschuldigt. Die ersten antijüdischen – und zwar nicht nur medialen – Aktionen wurden bereits im Oktober 1938 eingeleitet. Sie gipfelten in der vom Regierungsvorsitzenden Jozef Tiso angeordneten Vertreibung (Deportation) besitz- und heimatloser Juden aus der Slowakei in diejenigen Gebiete, die im Wiener Schiedsspruch Anfang November Ungarn zugesprochen wurden. Diese und andere Maßnahmen uferten in Gewalttätigkeiten aus, die die Hlinka-Garde und in manchen Fällen auch reichsdeutsche „Berater“ zu verantworten hatten. Die jüdische Bevölkerung sollte dadurch finanziell erpresst und in ihrem menschlichen Selbstwertgefühl verletzt werden.24 Auch Roma, falls sie keinen Wohnsitz hatten und staatenlos waren, wurden in die abgetretenen Gebiete vertrieben.25 Die staatsrechtlichen Veränderungen und die Umverteilung der Macht in der Slowakei verliefen ohne größere politische Erschütterungen und Konflikte. Die oppositionellen Kräfte, die angesichts einer äußeren Gefährdung die Angst der HSĽS um die territoriale Integrität des Landes beziehungsweise ihre Bemühungen um Begrenzung unumgänglicher territorialer Veränderungen teilten, fanden sich mit der Umverteilung der Macht ab und dämpften ihre Missbilligung und ihren Widerstand gegen die antidemokratischen Maßnahmen der neuen Machthaber. Auch unter den neuen Bedingungen gingen die slowakischen Parteien keineswegs automatisch in die Opposition. Vielmehr bemühten sie sich um die Teilhabe an der Macht beziehungsweise hofften sie, dass sie sich als legale Opposition betätigen könnten. Unter ihren führenden Repräsentanten, vor allem aber in den Reihen ihrer Mitglieder verbreiteten sich Missstimmung, Resignation, mangelndes Selbstbewusstsein, Ausweglosigkeit und Wehmütigkeit angesichts der unerwarteten Wende, die die Ereignisse nach dem Münchener Abkommen nahmen. 24 Kamenec,

Ivan: Po stopách tragédie [Auf den Spuren der Tragödie]. Bratislava 1991, S. 25 ff. Nižňanský, Eduard: Židovská komunita na Slovensku medzi československou parlamentnou demokraciou a  slovenským štátom v  stredoeurópskom kontexte [Die jüdische Kommunität zwischen der tschechoslowakischen parlamentarischen Demokratie und dem slowakischen Staat im mitteleuropäischen Kontext]. Prešov 1999, S. 24–99,198–199. 25 Štátny archív v Banskej Bystrici [Staatsarchiv Banská Bystrica] (im Folgenden: ŠA Banská Bystrica), Zweigstelle Banská Bystrica, Okresný úrad v Brezne [Bezirksamt Brezno] 1923–1945, Karton 111, 1843/1938 prez.

392   Valerián Bystrický/Michal Schvarc Die Parteiführungen und ihre Anhänger waren dabei der Meinung, dass die neue Lage langfristig unhaltbar und die HSĽS nicht imstande sei zu regieren, weil sie dies offenbar erst noch lernen müsse.

Neue außenpolitische Orientierung Die staatsrechtlichen Veränderungen nach dem 6. Oktober 1938 führten zur Auflösung der gesamtstaatlichen Parteien. Infolge dessen verschlechterten sich auch die Kontakte zwischen den tschechischen und slowakischen Politikern. Ihre Zusammenarbeit geriet allmählich ins Stocken. Der Einfluss der Zentralregierung und der ehemaligen Prager Parteizentralen in der Slowakei wurde immer geringer. Die vermeintlichen Benachteiligungen, die durch das alte Regime entstanden waren, wurden künstlich aufgebauscht. Die Medien erörterten das Unverständnis der Prager Regierung in Bezug auf die Slowakei bis zum Überdruss, was die antitschechischen Ressentiments nährte und eine entsprechende Reaktion der tschechischen Seite hervorrief. Die Solidaritätsgefühle wurden schwächer und die Notwendigkeit gegenseitiger Hilfe und Unterstützung bei der Durchsetzung nationaler Interessen angesichts der äußeren Bedrohung leuchtete immer weniger ein. Das Münchener Abkommen hatte die älteren Sicherheitsgarantien entwertet. Unter den neuen Umständen war die Tschecho-Slowakei von der Gnade Deutschlands vollkommen abhängig. Es war offensichtlich, dass die Republik ihren ­Völkern keine Sicherheit mehr garantieren konnte. Die HSĽS versuchte daher auf eigene Faust, Sicherheitsgarantien zu gewinnen, wobei sie freilich auf die im Münchener Abkommen enthaltenen Garantien nicht verzichtete. Teile der slowakischen politischen Elite begannen im nationalsozialistischen Deutschland einen Garanten der jetzigen und künftigen territorialen Integrität ihres Landes zu erblicken, vor allem im Hinblick auf Ungarn. Die Tschechen verorteten dagegen die mögliche Gefährdung ihrer nationalen Existenz und Unabhängigkeit in erster ­Linie im „Dritten Reich“. Die Slowaken erwarteten von Deutschland nicht zuletzt Hilfe und Unterstützung bei der Revision der nach dem Münchener Abkommen oktroyierten Grenzen, während in den böhmischen Ländern Gebietsveränderungen und die Wiederherstellung des ursprünglichen Zustandes von der Niederlage Deutschlands abhängig waren. Diesen Meinungsverschiedenheiten zum Trotz verbanden Teile der Eliten eine gegenseitige Solidarität sowie die Beziehungen, die mehr als zwanzig Jahre – in die Zeit vor der Gründung des gemeinsamen Staates zurückreichten. Von Bedeutung waren auch das allgemeine Bedrohungsgefühl und nicht zuletzt in der Slowakei auch die Überzeugung, dass die slowakische Staatlichkeit im Rahmen der Tschecho-Slowakischen Republik am besten gewährleistet werden könne. Die HSĽS betrachtete die Etablierung des „Slowakischen Landtags“ (Snem Slovenskej krajiny) als wichtige Voraussetzung der slowakischen Staatlichkeit. Bereits dessen Zustandekommen war bezeichnend für das autoritäre Regime. Die HSĽS stellte eine einheitliche Kandidatenliste auf. Die Wahlen vom 18. Dezember 1938

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standen im Zeichen der suggestiven Frage: „Willst Du eine neue Slowakei – ja, nein?“. Der Wahlgang wurde von der Hlinka-Garde überwacht. Es wurden getrennte Wahlräume nicht nur für Juden und Tschechen, sondern sogar für Deutsche eingerichtet. Die Konstituierung des Landtags sollte die Existenz und das Funktionieren der slowakischen Staatlichkeit im Rahmen der Tschecho-Slowakischen Republik vom staatsrechtlichen Standpunkt aus absichern und eine wich­ tige Rolle bei etwaigen staatsrechtlichen Änderungen spielen. Ein Teil der HSĽS, vor allem die Radikalen der Hlinka-Garde, setzte voraus, dass in einer nicht näher bestimmten Zukunft der Landtag die Unabhängigkeit erklären würde, „wenn slowakische Abgeordnete, Repräsentanten der slowakischen Nation, es für richtig erachten“.26 Im Dezember 1938 und Januar 1939 hatte sich die Situation jedoch vorübergehend stabilisiert. Die Übereinkunft in der Wahl Emil Háchas zum Präsidenten des Gesamtstaates, die Verabschiedung des Ermächtigungsgesetzes und der Besuch des Präsidenten in der Slowakei Ende Dezember 1938,27 die Vereinbarung über die Abschiebung der tschechischen Beamten aus der Slowakei, die Teilnahme Rudolf Berans und der Vertreter der Zentralregierung an der Eröffnung des Slowakischen Landtags, die Umgestaltung der Autonomieregierung und die Beseitigung radikaler Kräfte aus ihren Reihen, wie beispielsweise Matúš Černáks, ließen die Reibungsflächen zwischen der Zentral- und der Autonomieregierung verschwinden. Es handelte sich jedoch nur um eine kurze Episode in den tschechisch-slowakischen Beziehungen. Die Annäherung brach in jenem Augenblick ab, als die wahren Absichten der deutschen Nationalsozialisten gegenüber der Tschecho-Slowakischen Republik und die Rolle, die der Slowakei zukommen sollte, konkrete Gestalt annahmen.

Deutsche Slowakei-Pläne Die deutschen Slowakei-Pläne konkretisierten sich im Verlaufe des Jahres 1938 in Abhängigkeit von der sich wandelnden außenpolitischen Lage. Im Spätsommer 1938 hatte Hitler den Anschluss der Slowakei an Ungarn noch für die einzige Möglichkeit gehalten. Nun korrigierte er aufgrund der schwankenden Haltung 26 Sidor, Karol: Ako

došlo k vyhláseniu Slovenskej republiky [Wie es zur Ausrufung der Slowakischen Republik kam]. In: Šprinc, Mikuláš (Hg.): Slovenská republika 1939–1949 [Die Slowakische Republik 1939–1949]. Sranton 1949, S. 42–58, hier S. 46. Zarański: Diariusz i  teki, S. 319–322, Schvarc, Michal/Holák, Martin: Marcová kríza v Československu vo svetle vybraných nemeckých dokumentov [Die März-Krise in der Tschechoslowakei im Licht ausgewählter deutscher Quellen]. In: Vojenská história, 11/1 (2007), S. 86–127, hier S. 90–91. 27 Čaplovič, Miloslav: Návšteva prezidenta Dr. Emila Háchu na Slovensku 26.–31. decembra 1938 [Der Besuch des Präsidenten Dr. Emila Hácha in der Slowakei vom 26. bis 31. Dezember 1938]. In: Vojenská história 3/3 (1999), S. 82–102. Suk, Pavel: Prezident Emil Hácha na Slovensku v prosinci 1938 [Der Präsident Emil Hácha in der Slowakei im Dezember 1938]. In: Šmigeľ, Michal/Mičko, Peter (Hg.): Slovenská republika 1939–1945 očami mladých historikov IV [Die slowakische Republik 1939–1945 in den Augen junger Historiker IV]. Banská Bystrica 2005, S. 20–28.

394   Valerián Bystrický/Michal Schvarc der ungarischen Politiker in der Frage, ob ihr Land am Krieg gegen die Tschechoslowakei teilnehmen solle, seine ursprünglichen Vorstellungen. Der Besuch der ungarischen Delegation kurz vor den Verhandlungen in Bad Godesberg scheint seine Vorahnung bestätigt zu haben. Laut Goebbels’ Tagebucheintrag vom 22. September 1938 sollte Ungarn „bei dem Handel schlecht wegkommen“.28 Da es zu keiner bewaffneten Auseinandersetzung kam, war der „Führer“ – dem Zusatz des Münchener Abkommens über die Lösung des Problems der ungarischen und polnischen Minderheiten in der ČSR entsprechend – bereit, der Grenzrevision auf der Basis ethnischer Kriterien zuzustimmen. Die Ungarn hatten in seinen Augen die „Willensprobe“ nicht bestanden.29 Hitler begnügte sich mit der im Münchener Abkommen vorgeschlagenen ­Lösung keineswegs, denn, wie Joseph Goebbels feststellte, „der große Plan ist im Augenblick, und zwar unter den obwaltenden Umständen noch nicht zu realisieren“30 – d. h. sich der ganzen Tschechoslowakei zu bemächtigen. Die endgültige Zerstörung des Staates blieb auch weiterhin das unmittelbare Ziel der nationalsozialistischen Politik. Die Vorbereitungen, dieses Ziel umzusetzen, wurden gleich nach der Unterzeichnung des Münchener Abkommens eingeleitet.31 Diese streng geheim gehaltene Aggression war ökonomisch motiviert und verfolgte strategische und militärische Zielsetzungen. Von ihrem Gelingen hing die Verwirklichung weiterer Angriffspläne des „Dritten Reiches“ in Europa ab. Allmählich kristallisierte sich die Idee einer innenpolitischen Auflösung der Zweiten Tschecho-Slowakischen Republik heraus, die durch einen schnellen Armeeeinsatz, ohne lange diplomatische, politische oder propagandistische Vorbereitung, kurzfristig provozierte Konflikte, Pressekampagnen oder systematische Zusammenstöße herbeigeführt werden sollte.32 Dieser allmähliche Prozess der „chemischen Auflösung“ der Tschecho-Slowakei setzte ebenso auf die „slowakische Karte“. Die „Sezession“ der Slowakei passte nämlich sehr gut in die deutsche Konzeption. Sie sollte nicht von der Diplomatie, sondern vom SD vorangetrieben werden. Auch die deutsche Minderheit, deren Bedeutung in den nationalsozialistischen Plänen nach dem 6. Oktober 1938 zugenommen hatte, sollte Hilfe leisten. Der SD begann sich schon kurz nach dem „Anschluss“ Österreichs für die ­Slowakei zu interessieren. Dies traf vor allem auf den SD „Donau“ in Wien zu. 28 Die

Tagebücher von Joseph Goebbels. Hrsg. von Elke Fröhlich im Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte und mit Unterstützung des Staatlichen Archivdienstes Rußlands. Teil I, Band 6 (August 1938–Juni 1939). München 1998, S. 105. 29 Bullock, Alan: Hitler a Stalin. Paralelní životopisy [Hitler und Stalin. Parallele Leben]. Praha 2005, S. 562. 30 Fröhlich (Hg.): Die Tagebücher, S. 122. 31 Weinberg, Gerhart, L: The Foreign Policy of Hitler´s Germany. Starting World War II. 1937– 1939. Chicago– London 1996, S. 467. Kordt, Erich: Wahn und Wirklichkeit. Die Außenpolitik des Dritten Reiches. Stuttgart 1948, S. 137. Hoensch, K. Jorg: Slovensko a Hitlerova východná politika [Die Slowakei und Hitlers Ostpolitik]. Bratislava 2001, S. 127–128 (Dt. Originalausgabe: Die Slowakei und Hitlers Ostpolitik. Köln 1965). 32 ADAP, Serie D, Band V, S. 303–304. Hill, Leonidas (Hg.): Die Weizsäcker-Papiere 1933–1950. Frankfurt am Main 1974, S. 150.

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Aus dieser Zeit sind erste sporadische Begegnungen mit Radikalen der HSĽS wie Sidor und Mach überliefert, die versuchten, „mit massgebenden deutschen Stellen in Kontakt zu treten und über eine eventuelle Autonomie der Slovakei unter deutschem Protektorat zu verhandeln“.33 Darüber hinaus machten sich seit Sommer 1938 die Bestrebungen der Mitarbeiter Karmasins bemerkbar, einen Nachrichtenweg zum Wiener SD-Büro zu etablieren.34 Der SD zeigte sich jedoch erst infolge der sich zuspitzenden Sudetenkrise im September 1938 daran interessiert. Auf dem Nürnberger Parteitag erteilte der Chef des SD, Reinhard Heydrich, den ihm unterstehenden Organen den mündlichen Befehl, ihre Tätigkeit in der Slowakei zu intensivieren. Die beiden Organe des SD, SD-Inland und SD-Ausland, beriefen sich später bei ihren unaufhörlichen Kompetenzstreitigkeiten explizit ­darauf.35 Ungeachtet dieser Auseinandersetzungen stimmten sie jedoch in der Förderung der separatistischen Tendenzen innerhalb der HSĽS überein, denn sie verloren keineswegs das wichtigste Ziel der deutschen Politik aus dem Blick: „das Problem der restlichen Tschechei so oder so zu lösen“.36 Diesen Anweisungen entsprechend, entfaltete der SD seine Aktivität in der Slowakei. Bereits kurz nach der Autonomieerklärung vom 6. Oktober 1938 begannen seine Organe, Nachrichtennetzwerke aufzubauen. Während der Wiener SD auf die Radikalen der HSĽS beziehungsweise der Hlinka-Garde setzte, konzentrierte sich die Auslandsabteilung des Sicherheitsdienstes unter Heinz Jost auf die Führungskreise der deutschen Minderheit um Karmasin. Sowohl der SD-Ausland als auch der SD-Inland hatten ihre eigenen Vorstellungen darüber, wie der Nachrichtendienst in der Slowakei aufzubauen sei. Die voneinander abweichenden Meinungen bei der Umsetzung riefen Konflikte auf die Tagesordnung und führten schließlich zu parallelen Aktivitäten. Die vorherrschende Uneinigkeit war für die Aktivitäten beinahe aller deutschen Organe und Büros in der Slowakei bezeichnend. Die Kenner der Situation in der Slowakei unter den reichsdeutschen Beobachtern wie Kurt Otto Rabl oder Karl Kraus machten wiederholt auf die „Desorganisation des Reichseinflusses“ aufmerksam.37 Nichtsdestoweniger hatte Adolf Hitler weiterhin zu „seinem“ SD volles Vertrauen und schrieb ihm die Rolle des Lenkers zu, der die Zerschlagung der ČSR hinter den Kulissen zu steuern hatte.38 Der SD tat sein Bestes, um den „Führer“ nicht zu enttäuschen. Seine Nachrichten- und Sabotagemaschinerie lief auf Hochtouren und bediente sich zur Erreichung seiner Ziele aller ihm zur Verfügung stehenden Mittel. Die Diplomatie wurde bei der Vorbereitung des Entscheidungsschlags ins Abseits gestellt. Die 33 Schriffl,

David: Die Rolle Wiens im Prozess der Staatswerdung der Slowakei 1938/39. Frankfurt am Main 2004, S. 164. 34 Barch, R 70 Slowakei/246, Bl. 265–266 (Vermerk des Wiener SD vom 16. Juli 1938). 35 Ebd., R 70 Slowakei/186, Bl. 6 (Vermerk Stahleckers vom 14. Oktober 1938). 36 Schellenberg, Walter: Memoiren. Köln 1956, S. 58. 37 Kaiser, Johann: Die Politik des Dritten Reiches gegenüber der Slowakei 1939–1945. Ein Beitrag zur Erforschung der nationalsozialistischen Satellitenpolitik in Südosteuropa. Disserta­ tion. Bochum 1969, S. 38. 38 Hoensch: Slovensko a Hitlerova, S. 135.

396   Valerián Bystrický/Michal Schvarc „­ revolutionäre Stimmung“, die nach dem Amtsantritt der Regierung unter Karol Sidor in den Straßen von Pressburg (Bratislava) herrschte, wurde nach dem Drehbuch und in der Regie des Himmlerschen Geheimdienstes in Zusammenarbeit mit Karmasin und seinen Leuten inszeniert.39 Es ist sicher erwähnenswert, dass diese Straßenversammlungen am 13. März 1939, das heißt nach den Verhandlungen von Hitler und Tiso, ihren Höhepunkt erreichten.

Die Rolle der Deutschen Partei Seit Herbst 1938 wurde auch die deutsche Minderheit in der Slowakei unter der Führung des aus Olmütz (Olomouc) stammenden Franz Karmasin in die geplante Zerschlagung der Tschecho-Slowakei einbezogen. Karmasin wurde im Laufe des Jahres 1938 zum Nationalsozialisten. Er begann für den Anschluss der deutschen Sprachinseln an Deutschland zu werben, was jedoch unrealistisch war und Hitlers Plänen nicht entsprach.40 Kurz nach dem Verbot von Henleins Partei am 16. September, mit dem die tschechoslowakische Regierung auf die Unruhen in den Grenzgebieten reagierte, flüchtete Karmasin nach Wien. Hier versuchte er, ein karpatendeutsches Gegenstück zum „Sudetendeutschen Freikorps“ ins Leben zu rufen.41 Den Quellen lässt sich leider nicht entnehmen, wie erfolgreich sein Versuch war. In Anbetracht der Zahl und Zerstreuung der deutschsprachigen Bevölkerung in der Slowakei dürfte er von keinem überwältigenden Erfolg gekrönt gewesen sein. Karmasin reiste zu diesem Zeitpunkt weiter nach Berlin, wo er den „Anschluss“ der slowakischen Hauptstadt Pressburg an Deutschland initiieren wollte. Auch damit hatte er wenig Glück, denn Göring gab ihm klar zu verstehen, dass eine „Zerstückelung der Slowakei“ nicht im Interesse des nationalsozialistischen Deutschlands war.42 Da der „Führer“ jedoch noch keine endgültige Entscheidung über die Zukunft Pressburgs getroffen hatte, gab Karmasin sein Vor­ haben noch nicht auf. Die Veröffentlichung des Münchener Ultimatums rief unter den Pressburger Deutschen große Begeisterung hervor, die von der verbotenen KdP geschürt wurde. Die meisten von ihnen glaubten an eine baldige „Rückkehr ins Reich“.43 Diese

39 Das

slowakische Außenministerium führte in einer Liste unter 36 Personen, die sich „bei der Entstehung der unabhängigen Slowakei besonders auszeichneten“, 25 SD-Mitglieder an. SNA, Ministerstvo zahraničných vecí 1939–1945 [Außenministerium 1939–1945], Karton 180, 7 077/1940. 40 Kováč, Dušan: Nemecko a  nemecká menšina na Slovensku [Deutschland und die deutsche Minderheit in der Slowakei] (1871–1945). Bratislava 1991, S. 129. 41 Novák, Jaroslav: Im Zeichen zweier Kreuze. Franz Karmasins und Ferdinand Ďurčanskýs Glanz und Fall. Praha 1962, S. 26. 42 SNA, F. Karmasin 116-47-3/215 (F. Karmasin an die deutsche Gesandtschaft in Bratislava, 13. August 1940). 43 Hoensch, K. Jörg: Der ungarische Revisionismus und die Zerschlagung der Tschechoslowakei. Tübingen 1967, S. 212.

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wurde wohl am radikalsten von der Jugend gefordert.44 Die ältere proungarisch orientierte Generation neigte eher zum Anschluss an Ungarn.45 Als sich jedoch die Haltlosigkeit solcher Hoffnungen herausstellte, hatte Karmasin große Mühe, sie für die Mission einer „vorgeschobenen deutschen Wacht“ zu gewinnen. Die slowakischen Deutschen hatten nach den Planungen Hitlers eine andere Aufgabe außerhalb des „Reichs“ zu erfüllen. Diese erforderte Geschlossenheit und Solidarität der ganzen Bevölkerungsgruppe, die sich jedoch als unrealistisch erwies. Die „Deutsche Partei“ (im Folgenden DP), die am 10. Oktober 1938 mit der Erlaubnis der Autonomieregierung gegründet wurde und auf dem Führerprinzip und der nationalsozialistischen Ideologie beruhte, setzte sich zwar als einzige politische Organisation der slowakischen Deutschen durch. Sie fand jedoch nicht bei allen Deutschen in der Slowakei Sympathie. Auf den größten Widerstand stieß sie in der Zips, obwohl die ungarnfreundliche „Zipser Deutsche Partei“ (ZDP) kaum noch eine Rolle spielte. Erst die ungarischen Territorialforderungen gegenüber der Slowakei belebten vorübergehend ihre Strukturen und Anhänger. In der Zips wurde ein Zipser ungarisch-deutscher Nationalrat gegründet, der die Volkabstimmung auf der Grundlage des Selbstbestimmungsrechts verlangte. Sein eigentliches Ziel war jedoch der Anschluss der Zips an Ungarn.46 Die tschechoslowakischen Behörden verboten seine Aktivitäten. Die stärkste proungarische Bewegung kam in der südlichen Zips, in den deutschsprachigen Gemeinden der Flusstäler Göllnitz (Hnilec) und Bodwa (Bodva) zustande. Der Wiener Schiedsspruch enttäuschte deren Einwohner, die vergeblich Grenzkorrekturen verlangten. Ihre Wut richtete sich deswegen gegen die Deutsche Partei Karmasins. Als die Denkschriften, die sie an deutsche diplomatische Vertretungen und an die Autonomieregierung sandten, ohne Wirkung blieben, wuchs die Spannung weiter und entlud sich in den Zusammenstößen von Untermetzenseifen (Nižný Medzev) im Dezember 1938, bei denen es zu einem Attentatsversuch auf Franz Karmasin kam.47 Beide Seiten wollten keine Verantwortung für die Ausschreitungen übernehmen: Während der „Volksgruppenführer“ die Ungarnfreundlichen beschuldigte, wollten die Zipser „mit Narren und Mördern wie Karmasin et Comp. nichts gemeinsames“ haben.48 Obwohl sich die Lage allmählich beruhigte, blieb diese Region auch weiterhin ein potentieller Unruheherd. a národně osvobozenecký boj českého a slovenského lidu 1938–1945. Mnichov a březnová tragédie [Der Kampf gegen den Faschismus und für die nationale Befreiung des tschechischen und slowakischen Volkes 1938–1945. München und die März-Tragödie]. Band 3, Heft 1. Praha 1985, S. 104–105. 45 BArch Koblenz, NL 1180/40 (Lagebericht aus Bratislava vom 30. Oktober 1938). 46 SNA, Úrad predsedníctva vlády [Amt des Regierungsvorsitzenden] 1939–1945 (im Folgenden: ÚPV), Karton 1, 389/1938. 47 Vgl. hierzu: Schvarc, Michal: Guľka pre štátneho tajomníka (Pokus o atentát na Franza Karmasina v Nižnom Medzeve 11. decembra 1938) [Eine Kugel für den Staatssekretär (Der Attentatsversuch auf Franz Karmasin in Untermetzenseifen am 11. Dezember 1938)]. In: Pamäť národa 3/4 (2007), S. 42–50. 48 Magyar Országos Levéltár [Ungarisches Staatsarchiv] (weiter MOL), Külügyminisztérium [Außenministerium] (weiter Küm), Küm 7/4, 110/pol/1938 (Bratislava, 24. Dezember 1938). 44 Protifašistický

398   Valerián Bystrický/Michal Schvarc Darüber hinaus hatte die Parteiführung Probleme in Pressburg, deren Ursachen freilich woanders lagen. Die enttäuschten Hoffnungen auf einen „Anschluss“ an Deutschland wogen vor allem unter den Arbeitern schwer, die von der „Rückkehr ins Reich“ eine Verbesserung ihrer schlechten sozialen Lage erwartet hatten. Die Unzufriedenen versammelten sich in der so genannten illegalen NSDAP und forderten die Pressburger Deutschen in Flugblättern auf, auszuharren und sich nicht von den entbehrlichen „Herren Karmasin und Matl“ bestechen zu lassen.49 Der neu installierte „Volksgruppenführer“ konnte den sich abzeichnenden Konflikt nur mit großer Mühe abwenden. Die Arbeiter ordneten sich seiner Führung unter. Die Radikalen, die eine bedingungslose Übernahme des NSDAP-Modells forderten, fanden jedoch Zuflucht in den Gewerkschaften. Die Meinungsverschiedenheiten riefen auch später weitere Auseinandersetzungen hervor. In Berlin bestand dennoch Vertrauen zu Karmasin. Zwar wurde zum Führer der Deutschen in der Tschechoslowakei Ernst Kundt bestimmt, da dieser jedoch Unstimmigkeiten mit Konrad Henlein hatte – der von Hitler unter anderem den Auftrag erhielt, die deutsche Minderheit in den sie betreffenden politischen Fragen zu vertreten – wurde Karmasin, Henleins ehemaliger Stellvertreter, von der „Volksdeutschen Mittelstelle“ (VoMi), dem für die deutschen Minderheiten im Ausland zuständigen SS-Hauptamt, angewiesen, die slowakischen Deutschen zu einer „festen Einheit und Organisation“ zusammenzuschließen.50 Karmasin folgte den Berliner Anweisungen und vermochte mit Hilfe der Autonomieregierung seine Gegner zu verdrängen. Die von ihm angeführte DP wurde als einzige politische Organisation der slowakischen Deutschen, die alle älteren Vereine überdachte, erlaubt. Karmasin wurde bei der Gleichschaltung der deutschen Minderheit auch von der slowakischen Regierung unterstützt: Zum einen erkannte sie die DP als ausschließliche Vertreterin der deutschsprachigen Bevölkerung an, zum anderen bejahte sie deren Anstrengungen, die Parteien der Christlich-Sozialen und der Zipser Deutschen auszuschalten. Was die Zusammenarbeit der Gruppe um Karmasin mit der neuen Autonomieregierung angeht, zeigte sich die slowakische Seite anfangs sehr großzügig. Bereits während der Verhandlungen in Sillein vom 5. und 6. Oktober 1938 erklärten die Radikalen um Mach und Ďurčanský gegenüber Karmasins Stellvertreter, Eduard Matl, das Karlsbader Programm baldmöglichst zu verwirklichen.51 Die weiteren Verhandlungen wurden vom inzwischen zurückgekehrten Karmasin geleitet. Auf die Bereitschaft der slowakischen Regierung, Konzessionen zu machen, reagierte die VoMi mit der Entsendung Kurt Rabls, der als Rechtsberater der DP-Führung 49 The

United States National Archives and Records Administrations, Washington DC (weiter NARA), T-175 Records of the Reich Leader of the SS and Chief the German Police (weiter T-175), Record Group 242, roll 565, 9 441 274 (Flugblatt der illegalen NSDAP in Bratislava vom 29. Oktober 1938). 50 Archiv bezpečnostních složek Praha [Archiv der Sicherheitskräfte in Prag] (weiter ABS), Sbírka písemností „S“ [Schriftensammlung „S“], S-346-5 (Hermann Neuburg. Lebenslauf und Tätigkeitsbericht, S. 458). 51 SNA, F. Karmasin 116-23-6/108-111 (Matls Lebenslauf vom 31. März 1940).

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tätig sein sollte. Die Tschechoslowakei war ihm nicht unbekannt, da er sich schon seit März 1936 in Prag aufhielt. Seit Dezember 1937 wirkte er als Rechtsberater in der Führung der Sudetendeutschen Partei und am 1. Juni 1938 wurde er zum Sekretär der Parteidelegation ernannt, die mit der tschechoslowakischen Regierung und später auch mit dem Stab von Lord Walter Runciman Gespräche führte.52 Er kannte sich auf dem Gebiet des Minderheitenrechts gut aus. Diese Kenntnisse wie auch seine Vertrautheit mit den Verhältnissen in der Tschechoslowakei und seine Sprachkompetenz entschieden darüber, dass er in die Slowakei geschickt wurde. Am 10. Oktober 1938, als Rabl in Pressburg ankam, beschloss die slowakische Regierung die Errichtung eines „deutschen Regierungskommissariats“, dessen künftige Vollmachten jedoch ziemlich unklar waren: „Das deutsche Regierungskommissariat hat die vorläufige Aufgabe, die Interessen des in der Slowakei wohnenden Deutschtums zu wahren und im Rahmen der Selbstverwaltung gesetz­ liche Maßnahmen zu dessen Sicherung vorzubereiten.“53 Den Posten des Staatssekretärs erhielt wie erwartet Karmasin. Dieser rechnete mit einer baldigen Umwandlung seines Sekretariats in ein Ministerium.54 Am selben Tag erlaubte die Regierung auch die Tätigkeit der DP.55 Durch diese beiden Beschlüsse legalisierte sie in der Slowakei die Propaganda der nationalsozialistischen Ideologie mit all den sich daraus ergebenden Konsequenzen. Ende Oktober erlaubte sie zusätzlich den Gebrauch von nationalsozialistischen Symbolen.56 Was bewog die slowakische Autonomieregierung zu diesen Maßnahmen? Sie war eindeutig bestrebt, Deutschlands Wohlwollen bei den Verhandlungen mit Ungarn beziehungsweise beim Schiedsspruch zu gewinnen. Dem Regierungsvorsitzenden Tiso zufolge habe es sich lediglich um eine „Geste dem Deutschen Reich gegenüber“ gehandelt.57 Er bekräftigte dies nach dem Krieg vor dem Volksgericht: „Wir wollten den Deutschen keinen Vorwand für die Behauptung bieten, ihre Minderheit sei in der Slowakei unterdrückt und entrechtet. Es war eine Vorbeugungsmaßnahme.“58 Dies wird dadurch bestätigt, dass sich die Regierung nach dem Wiener Schiedsspruch Karmasins Forderungen gegenüber dilatorisch verhielt.

52 BArch

Berlin, Rasse- und Siedlungshauptamt (weiter RS) (ehem. BDC), E 5  228, Kurt Otto Rabl (Rabls undatierter Lebenslauf); Österreichisches Staatsarchiv (weiter ÖStA)/Archiv der Republik (weiter AdR), Neues Politisches Archiv (weiter NPA) – Gesandtschaft Prag, Karton. 46 (Zl. 17 441/1937). Vgl. auch Kováč: Nemecko a nemecká, S. 144. 53 SNA, ÚPV, Karton 229, Jahr 1939, ohne Nummer (Regierungsbeschluss vom 10. Oktober 1938). 54 Schriffl: Die Rolle, S. 24. 55 Kováč: Nemecko a nemecká, S. 136. 56 ŠA Banská Bystrica, Zweigstelle Kremnica, Okresný úrad v Kremnici [Bezirksamt Kremnica] 1923–1945, Karton 45 (152/1938 prez). 57 SNA, NS, Tn ľud 17/1947 – F. Karmasin, Mikrofilm II. A 945 (Messlers Vermerk vom 27. Oktober 1938). 58 Pred súdom národa I (Začiatok konca). Proces s Dr. J. Tisom, Dr. F. Ďurčanským, A. Machom v dňoch 2. dec. 1946 – 15. apr. 1947 [Vor dem Gericht der Nation I (Der Anfang vom Ende). Der Prozess mit Dr. J. Tiso, Dr. F. Ďurčanský und A. Mach vom 2. Dezember 1946 bis zum 15. April 1947]. Bratislava 1947, S. 28.

400   Valerián Bystrický/Michal Schvarc Die unklar definierten Befugnisse des Staatssekretariats erlaubten ihm, Gesetzesentwürfe über die rechtliche Stellung der deutschen Minderheit, die Schul­ autonomie, das Genossenschaftswesen (Raiffeisenkassen), das Arbeitsrecht und soziale Fragen vorzulegen. Die Slowakei ermöglichte der VoMi, den wichtigsten Grundsatz des nationalsozialistischen „Volksgruppenrechts“ anzuwenden: die „Volksgruppe“ als eine Rechtspersönlichkeit im betreffenden Staat einzurichten.59 Rabl orientierte sich beim Entwurf der Gesetzesvorlagen ebenfalls an dieser Grundvoraussetzung. Eine solche Gesetzgebung war als Muster für ganz Südosteuropa gedacht, insbesondere auch als Mittel, dieselbe Rechtslage ebenfalls in ­Ungarn zu schaffen, da die ungarischen Deutschen keine vergleichbaren Selbstentfaltungsmöglichkeiten hatten.60 Dadurch sollte Ungarn gezwungen werden, seine bisherige Nationalitätenpolitik zu revidieren. Die slowakischen Deutschen sollten dabei eine Schlüsselrolle spielen. Ungarn begriff das sofort und war zu einem solchen Schritt erst nach „massivem Druck“ des Reiches bereit.61 Der Rechtsberater der DP rechnete damit, dass sein Gesetzesentwurf über die rechtliche Stellung der deutschen Minderheit in der Slowakei auf slowakischer Seite Unwillen hervorrufen und die HSĽS angesichts einer solchen Rechtsnorm Zweifel äußern würde, denn sie hätte dieselben Rechte auch den slowakischen Ungarn zuerkennen müssen. Rabl hatte ein kluges Argument parat: Die slowakische Regierung könnte in einem solchen Fall dieselben Rechte für die slowakische Minderheit in Ungarn verlangen.62 Seine Überlegungen erwiesen sich als überflüssig, denn Tisos Regierung war in dieser Frage zu keinen großen Konzessionen bereit. Sie schrieb dem Staatssekretariat lediglich die Funktion eines „beratenden Organs“ zu. Als Karmasin Rabls Entwurf auf der Festsitzung des Slowakischen Landtags vom 18. Januar 1939 vorstellen wollte, konnte er davon durch den im Auftrag der VoMi handelnden Arthur Seyss-Inquart schließlich abgebracht werden.63 Die VoMi und dadurch auch Karmasin waren mit der Lage letzten Endes zufrieden, denn die unklaren Kompetenzen schränkten den Staatssekretär bei seinen Aktivitäten nicht ein und er brauchte sich an die vorläufigen Vereinbarungen keineswegs gebunden zu fühlen. Die Abkühlung der Beziehungen zwischen der slowakischen Regierung und der Führung der DP nach dem Wiener Schiedsspruch zog weitere Komplikationen nach sich. Der Regierungsvorsitzende Tiso erklärte sich zwar am 26. November 1938 bereit, einen Modus Vivendi mit den Deutschen zu finden. Er lehnte jedoch noch am selben Tag eine deutsche Kandidatenliste für die Landtagswahlen ab. Die 59 Politisches

Archiv des Auswärtigen Amtes (weiter PA AA), R 100  916, 298  314–319 (Denkschrift über „Grundforderungen eines zukünftigen Volksgruppenrechts“). 60 Hoensch: Slovensko a Hitlerova, S. 110; BArch Koblenz, NL 1180/40 (Rabls Brief vom 3. Dezember 1938). – Suško, Ladislav (Hg.): Das Deutsche Reich und die Slowakische Republik 1938–1945. Dokumente. Von München bis Salzburg 1938–1940. Bratislava 2008, S. 152. 61 Spannenberger, Norbert: Der Volksbund der Deutschen in Ungarn 1938–1944 unter Horthy und Hitler. München 2005, S. 173. 62 BArch Koblenz, NL 1180/40 (Rabls Brief vom 3. Dezember 1938). 63 Suško (Hg.): Das Deutsche Reich, S. 158.

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Deutschen durften nur auf der Einheitsliste „HSĽS – Partei der slowakischen nationalen Einheit“ (HSĽS – Strana slovenskej národnej jed­noty) kandidieren. Darüber hinaus gab es in der slowakischen Politik nach wie vor Bestrebungen, die politischen Organisationen der Minderheiten aufzulösen und diese als Fraktionen der Nationalitäten in die HSĽS einzugliedern.64 Karmasin beschwerte sich, dass das Recht, nationalsozialistische Symbole zu tragen, vor allem von der Polizei in Pressburg verletzt werden würde.65 Die gemeinsame Wahlkampagne sollte zwar eine Atmosphäre der Verständigung erzeugen, aber die DP-Führung gab ihren lokalen Parteifunktionären die Anweisung, dass ein Ja bei der Wahl „nicht einem Aktivismus um jeden Preis gilt, sondern einer Zukunft, die wir uns selbst schaffen wollen“.66 Mit anderen Worten: „Wir geben der slowakischen Regierung dadurch einen Vertrauenvorschuss, der nach der Wahl durch die kompromiss­ lose gesetzliche Verankerung unserer Volksgruppenrechte eingelöst werden muss!“67 Ein solches Tauschgeschäft rief jedoch bei Teilen der Deutschen, hauptsächlich unter den Radikalen, Unzufriedenheit mit Karmasins Politik hervor. Sie schlugen vor, die Partei solle in die Opposition gehen und Karmasin auf den Posten des Staatssekretärs verzichten.68 Die Parteiführung verteidigte sich mit dem Argument, dass man in Berlin „die Politik der Deutschen Partei die ausdrückliche Billigung und Unterstützung hat“.69 Diese Umstände rüttelten einerseits an Karmasins Position des unumstrittenen Führers der slowakischen Deutschen, andererseits zeugten sie von der Uneinigkeit der Parteibasis in der Frage, ob man den Weg der politischen Zusammenarbeit oder einer selbstständigen ­Politik wählen sollte. Das Verhältnis zur Autonomieregierung wurde von weiteren Faktoren getrübt. Die gereizte Reaktion des „Volksgruppenführers“ ging auf die Bestrebungen der slowakischen Regierung zurück, Ungarn zu territorialen Kompensationen zu bewegen. Diese sollten gleichfalls die deutschen Gemeinden in der unzufriedenen südlichen Zips umfassen. Als Karmasin von dieser Absicht erfuhr, intervenierte er sofort beim Auswärtigen Amt und forderte es auf, Tiso von diesem Schritt abzubringen. Karmasins Bemühungen hatten schließlich Erfolg.70 Der Schulminister und prodeutsche Radikale Matúš Černák wollte kurz nach den Wahlen die unruhige Lage entspannen und versprach, eine deutsche Abteilung in seinem Ministerium zum 1. Januar 1939 zu errichten. Der Zuständigkeitsbereich der Abteilung sollte dabei nicht nur schulische, sondern auch kulturelle Angelegenheiten umfas-

64 Hoensch:

Slovensko a Hitlerova, S. 112. F. Karmasin 116-16-1 (Messlers Aufzeichnung für Karmasin vom 7. Dezember 1938). 66 Ebenda, Deutsche Partei 125-1-4/111-112 (Weisung des Organisationsamtes der DP Nr. 6 vom 12. Dezember 1938). 67 Ebenda. 68 BArch Koblenz, NL 1180/40 (Rabls Bericht  vom 19. Dezember 1938). PA AA, R 103  778, 442 366–371 (Zwicks Bericht vom 12. Januar 1939). 69 SNA, Deutsche Partei 125-1-4/111-112 (Weisung des Organisationsamtes der DP Nr. 6 vom 12. Dezember 1938). 70 Schvarc: Guľka pre štátneho tajomníka, S. 49. 65 SNA,

402   Valerián Bystrický/Michal Schvarc sen.71 Die Regierung hielt jedoch den von Černák anvisierten Zeitpunkt nicht ein. Das deutsche Referat begann offiziell seine Tätigkeit erst am 1. März 1939 und seine Befugnisse betrafen ausschließlich „den Unterricht und die Schulerziehung an allen deutschen Schulen“.72 Die kulturellen Angelegenheiten wurden in der Verordnung des Ministeriums nicht berücksichtigt. Zu wachsenden Spannungen trugen an der Jahreswende 1938/39 vor allem zwei Ereignisse bei: die nicht angekündigte Volkszählung vom 31. Dezember 1938 sowie die Entlassung deutscher Angestellter aus Unternehmen in Pressburg. Die slowakischen Behörden hielten die Volkszählung geheim, um eine Gegenkampagne der Minderheiten, vor allem seitens der DP, zu vermeiden. Sie sollte als „feste Grundlage des Nationalitätenkatasters der neuen Slowakei“ dienen. Die Bezirksämter erhielten bereits am 23. Dezember 1938 Anweisungen zur Durchführung der Volkszählung. Ihre Schwachstelle bestand darin, dass als Volkszählungskommissare nur „zuverlässige und intelligente Slowaken“ zugelassen wurden.73 Karmasin wusste diese Schwachstelle zu nutzen, indem er sie als einen der grundsätzlichen Mängel der Zählung hinstellte. Tiso hatte vermutlich gehofft, auf diese Art und Weise Komplikationen zu vermeiden. In diesem Fall ging sein Kalkül nicht auf. Als der Führer der slowakischen Deutschen von der laufenden Volkszählung erfuhr, drohte er dem Regierungsvorsitzenden an, bei der ersten Tagung des Parlaments zu fragen, wie die Rechtslage „seiner“ nationalen Minderheit gesetzlich verankert sei. Er lehnte ab, die Volkszählungsergebnisse als verbindlich und als Grundlage des viel diskutierten Nationalitätenkatasters anzuerkennen.74 Zum selben Zeitpunkt traf die Nachricht von der Entlassung deutscher Angestellter aus großen Unternehmen in Pressburg ein, was die DP mit der Volkszählung in Verbindung setzte. Auch die Presse goss Öl ins Feuer und es entstand eine scharfe Polemik zwischen den deutschen und slowakischen Zeitungen. Diese Ereignisse führten der Regierung die Folgen ihres Handelns vor allem in Bezug auf Deutschland vor Augen, so dass sie sich zu Konzessionen durchrang. Sie hob die kommissarische Überwachung der Tageszeitung „Grenzbote“ auf,75 und zeigte sich sogar zu Verhandlungen bereit – wenngleich erst Mitte Januar 1939. Tiso versprach Abhilfe in den Streitfragen.76 Zur Entspannung trug seine Erklärung bei, wonach die Volkszählung „lediglich einen provisorischen Verwaltungsakt darstelle, der als solcher das Nationalitätenrecht der deutschen Volksgruppe nicht berührt“.77 Darüber hinaus erlaubte die Regierung der DP und ihrer 71 Hoensch:

Slovensko a Hitlerova, S. 112. ÚPV, Karton 185 (42/1939). 73 ŠA Banská Bystrica, Zweigstelle Banská Bystrica, Okresný úrad v  Brezne, Karton 720 (18  300/1938 adm). Tiso behauptete in seiner Verteidigungsrede vor dem Volksgericht, er habe 2–3 Tage vor der Zählung den Bezirksämtern Anweisungen erteilt. Vgl. Sekera, John (Hg.): Dr. Jozef Tiso. Die Wahrheit über die Slowakei. [Ohne Ortsangabe] 1948, S. 152–153. 74 SNA, NS Tn ľud 17/1947 – F. Karmasin, Mikrofilm II. A 945 (Karmasins Beschwerde an. Tiso vom 31. Dezember 1938). 75 SNA, ÚPV, Karton 1 (Zuschrift des Regierungsvorsitzenden vom 12. Januar 1939). 76 Hoensch: Slovensko a Hitlerova, S. 112. Kováč: Nemecko a nemecká, S. 146. 77 „Völkischer Beobachter“, Wiener Ausgabe vom 29. Januar 1939, S. 5. 72 SNA,

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paramilitärischen Truppe „Freiwillige Schutzstaffel“ (FS) das Tragen von Uniformen sowie die Gründung einer selbstständigen deutschen Gewerkschaft.78 Alles in allem konnte Karmasin mit der Erfüllung seiner Forderungen zufrieden sein. Unklar blieb nur noch die Stellung des Staatssekretariats. Seine Führung verpflichtete sich bereits kurz nach der Entstehung des unabhängigen Staates, in absehbarer Zeit die Rechte der deutschen Minderheit gesetzlich abzusichern. Auch die zweite Gesetzesvorlage über die rechtliche Stellung der Deutschen in der Slowakei fiel indes durch. Sie war nicht nur für die slowakische Seite unannehmbar. Die deutsche Regierung äußerte ebenfalls Bedenken, denn sie betrachtete die Gesetzesvorlage als einen zu großen Eingriff, der die Souveränität des slowakischen Staates einschränken würde. Zugleich befürchtete sie, dass die Verabschiedung ­eines solchen Gesetzes zur Quelle ständiger Konflikte zwischen Slowaken und Deutschen werden könnte.79 Die Lösung der slowakischen Regierung vom 21. Juni 1939 stellte beide Seiten zufrieden. Das Staatssekretariat, dem die Rolle eines „Vertrauensträgers der ­Na­tionalität“ den staatlichen Organen gegenüber zugedacht wurde,80 blieb ein ­Beratungsorgan und war dem Amt des Regierungsvorsitzenden unterstellt. Die Befugnisse des Staatssekretariats wurden insofern reguliert, dass es in den Vollzug der Staatsmacht nicht willkürlich eingreifen konnte. Dies war auch Deutschland recht, da Hitler mit der Teilhabe der deutschen Minderheiten an der Staatsverwaltung nicht einverstanden war. Die äußerst allgemein gehaltene Regelung der Befugnisse des Staatssekretariats eröffnete jedoch Karmasin ein verhältnismäßig breites Feld an Handlungsmöglichkeiten.81

Die Position Karmasins Kehren wir zum Herbst 1938 zurück: Welche Rolle schrieben die National­ sozialisten dem neuen „Volksgruppenführer“ und der von ihm angeführten „Nationalität“ zu? Die Deutschen in der Slowakei sollten einen der Pfeiler von Hitlers Ostpolitik bilden – ein geeignetes Instrument der Slowakei-Politik.82 Ihre Posi­ tion der „vorgeschobenen deutschen Wacht“ sollte dem entsprechen. Darüber hinaus legten jedoch die Entscheidungsträger in Berlin keine konkreten Entwürfe vor. Rabl schlug vor, dass sich die DP-Führung den Befehlen und Anweisungen der VoMi bedingungslos unterzuordnen habe,83 was von der politischen Praxis im Grunde auch bestätigt wurde. Karmasin fand sich außerdem sehr rasch mit der Rolle eines Vermittlers zwischen den slowakischen Repräsentanten und den 78 „Grenzbote“

vom 17. Januar 1939, S. 1. Rudolf: Erlebte Geschichte. Rückschau auf ein Menschenalter Karpatendeutschtum. Teil 2: Von 1939 bis 1945 und wie es weiter ging. Wien 1996, S. 28. 80 „Úradné noviny“ [Amtszeitung] vom 26. Juni 1939, S. 306. 81 Kaiser: Die Politik, S. 170–171. Kováč: Nemecko a nemecká, S. 156–157. 82 Kováč: Nemecko a nemecká, S. 134. 83 Suško (Hg.): Das Deutsche Reich, S. 153. 79 Melzer,

404   Valerián Bystrický/Michal Schvarc nationalsozialistischen Größen ab, wobei er sich zum Hüter der Reichsinteressen stilisierte. Er pochte auf seine Rolle als „Verbindungsmann“,84 wodurch er in einen Streit mit dem deutschen Konsulat in Pressburg geriet.85 Die Beziehungen zu anderen deutschen Ämtern und Organen waren auch nicht ideal. Als Ausnahme können die Wiener Reichstatthalterei und die Beauftragten des SD-Ausland gelten. Das größte Misstrauen weckte Karmasin beim Wiener SD. Dies hatte zwei Ursachen: zum einen seine politische Vergangenheit – er war ein Anhänger Othmar Spanns, zum anderen seine Zusammenarbeit mit dem Reichsstatthalter in Wien, Arthur Seyss-Inquart, da zwischen dessen Behörde und dem SD-Donau eine große Rivalität herrschte.86 Auch deswegen wurde Karmasin bereits seit ­November 1938 von Himmlers Nachrichtendienst überwacht.87 Eine Folge davon waren persönliche Feindschaften zwischen ihm und den Vertretern des Wiener SD in Bratislava.88 Diesen negativen Erfahrungen zum Trotz förderte die DPFührung den wachsenden deutschen Einfluss in der Slowakei. Dies galt insbesondere für den ökonomischen Einfluss. Die Deutschen in der Slowakei sollten zum „verlängerten Arm“ der wirtschaftlichen Expansion des Deutschen Reiches werden, wodurch sich auch ihre eigenen ökonomischen Positionen verbessern sollten.89 Karmasins Rechtsberater forderte deswegen schon Ende Oktober 1938 eine möglichst schnelle Einbeziehung des Landes in den Vierjahresplan.90 Aus demselben Grund setzte sich die Parteiführung für die Gründung einer deutschen Bank in der Slowakei ein. Diese hatte nicht nur die Funktion eines kommerziellen Geldinstituts, sondern auch eine politische Mission zu erfüllen. Sie sollte sich in entscheidendem Maße an der beschleunigten Loslösung der „slowakisch.[en] Verbindungen von tschechischem u.[nd] jüdischem Kapital“ beteiligen.91 Dafür mussten die Hindernisse, die dem deutschen Kapital im Weg standen, weggeräumt werden. Eine weitere Aufgabe der Bank bestand darin, der deutschen Minderheit die Vormacht im Handel und Gewerbe zu sichern, was den Thesen im ökonomischen Programm der DP völlig entsprach.92 Dies sollte durch die wirtschaftliche Diskriminierung der Juden erreicht werden. 84 BArch

Koblenz, NL 1180/43 (Protokoll der Unterredung zwischen F. Karmasin, E. Matl, F. Ďurčanský a A. Mach vom 7. November 1938). Für die Bereitstellung des Dokuments sei D. Schriffl gedankt. 85 Kováč: Nemecko a nemecká, S. 147. 86 Schriffl: Die Rolle, S. 168–169. 87 SNA, Alexandrijský archív, Mikrofilm II. C 994, 9 415 400-401 (Sicherheitshauptamt des Wiener SD, 14. November 1938). 88 BArch Koblenz, NL 1180/39 (Rabls Bericht vom Ende 1938); BArch Berlin, R 70 Slowakei/186/Bl. 32–34 (Goldbachs Bericht vom 6. Februar 1939; SNA, NS, Tn ľud 17/1947 – Franz Karmasin, mikrofilm II. A 944 (Hauskrechts Aussage vom 27. Juni 1947). 89 SNA, Alexandrijský archív, mikrofilm II. C 932, 1 962 554-556 (Lagebericht vom 19. November 1938). 90 Kaiser: Die Politik, S. 13. 91 BArch Koblenz, NL 1180/43 (Gedächtnisprotokoll über die Besprechung betreffend die Errichtung einer deutschen Bank vom 26. Oktober 1938). 92 PA AA, Gesandschaft Preßburg, Paket 31, B VIII 1 b (Protokoll über die Besprechung betreffend die Errichtung einer Tochtereinrichtung der Wiener Länderbank für die Slowakei und

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Im Unterschied zu den Reichsstellen umriss die DP-Führung ihre Vorstellungen über die Art und Weise, wie dieses „Problem“ zu lösen sei. Hierfür sei vor allem die „Entjudung“ der slowakischen Wirtschaft nach dem Vorbild des besetzten Österreich erforderlich. Die Arbeitsgruppe des Wirtschaftamtes der DP kam zu diesem Schluss nach einem mehrwöchigen Aufenthalt in Wien und dem Studium der dortigen Verhältnisse. Die Führungsriege der slowakischen Deutschen wollte bei der bevorstehenden Aufteilung der „großen Beute“ nicht mit leeren Händen ausgehen. Mit dem Bewusstsein der eigenen wirtschaftlichen Posi­tion und der Schwäche des slowakischen Kapitals unterstützte sie bei der „Arisierung“ die reichsdeutschen Firmen, wobei sie freilich ihre eigenen Interessen nie aus dem Blick verlor. Ihrer Führung zufolge hatte die deutsche Minderheit in der Slowakei die Vorreiterrolle beim schrittweise legalisierten Raub des jüdischen Eigentums zu übernehmen sowie eine vermittelnde Funktion gegenüber den reichsdeutschen Forderungen.93 Die DP-Führung verlangte deswegen immer lauter den vollständigen Ausschluss der Juden aus dem sozialen Leben und forderten in ­vollem Einklang mit den nationalsozialistischen Plänen „eine rigorose und gründ­liche […] Lösung der Judenfrage“.94 Die Aktivitäten Karmasins und seiner engen Um­gebung überschnitten sich mit den Plänen des „Führers“, der Anfang 1939 die Modalitäten der endgültigen Zerstörung der Tschecho-Slowakei erwog.

Die Zerstörung der Tschecho-Slowakei Die Vorbereitungen zur Zerstörung der Tschecho-Slowakei wurden geheim ge­ halten. Zu ihrer Geheimhaltung trug ebenfalls die deutsche Diplomatie bei. Sie lenkte Hitler dahingehend, den Eindruck entstehen zu lassen, dass das national­ sozialistische Deutschland eine friedliche Lösung der Probleme im Geiste des Münchener Abkommens bevorzuge. Zu dieser Taktik gehörte, dass die von den HSĽS-Radikalen im Oktober und November 1938 angekündigten Pläne zur Gründung eines unabhängigen Staates keine Unterstützung durch Deutschland gewinnen konnten. Die Nationalsozialisten sollten nach einer Anweisung Hitlers die Frage der Loslösung der Slowakei „weder im positiven noch im negativen ­Sinne“ berühren.95 Eine neue Lage entstand zwischen Januar und Februar 1939, als Hitler den Geheimdiensten befahl, die Zerschlagung der Tschecho-Slowakei vorzubereiten. In diesem Kontext bekam die Slowakei die Rolle eines „revolutionären Subjekts“, das die innenpolitische Spannung steigern, den Staat von innen auflösen und durch die Unabhängigkeitserklärung die Republik zersetzen sollte.96 Karpaten-Ukraine vom 14. Dezember 1938); SNA, Alexandrijský archív, Mikrofilm II. C 932, 1 962 557-560 (Wirtschaftsprogramm der DP). 93 Ebenda. II. C 974, 9 391 251-253 (Bericht des Wiener SD für den Chef des Sicherheitshauptamtes vom 28. November 1938). 94 „Deutsche Stimmen“ vom 11. Februar 1939, S. 6. 95 ADAP, Serie D, Band IV, S. 134. 96 Lukeš, František: Podivný mír [Ein merkwürdiger Frieden]. Praha 1969, S. 217. Hoensch: ­Slovensko a Hitlerova, S. 105.

406   Valerián Bystrický/Michal Schvarc In der Tschecho-Slowakei beziehungsweise in der Slowakei sollte infolgedessen eine „revolutionäre Situation“ entstehen. Die Nationalsozialisten bedienten sich anderer Argumente, wenn sie die Pläne zur Bildung des unabhängigen Staates durchsetzen wollten, denn dafür mussten sie die Politiker der HSĽS gewinnen. Niemand – weder Hitler in einem Gespräch mit Tuka vom 12. Februar 1939 noch Edmund Veesenmayer bei seinen Kontakten mit Vertretern der slowakischen Radikalen sowie mit Karmasin (auf Anweisung von Ribbentrop) – sprachen über das Selbstbestimmungsrecht der Nationen auf der „völkischen“ Grundlage und die Vorteile der Unabhängigkeit, thematisiert wurde einzig die drohende Aufteilung der Slowakei und ihre Besetzung durch Ungarn. In dieser schwierigen Situation erschien die Entstehung des unabhängigen Staates als Rettung der Nation und der Slowakei.97 In der slowakischen Gesellschaft und Politik verbreiteten sich Zweifel, Zukunftsängste und Furcht vor der Gefährdung der nationalen Existenz; die Ausrufung des unabhängigen Staates versprach den Ausweg aus dieser Situation. Diese Vorstellungen erhielten einen zusätzlichen Antrieb durch den militärischen Eingriff der Zentralregierung in der Slowakei zwischen 9. und 10. März 1939. Die Minister der Zentralregierung, und insbesondere der General Alois Eliáš, hatten bereits Ende 1938, hauptsächlich aber Anfang 1939 Informationen über Kontakte der Radikalen in der HSĽS mit nationalsozialistischen Agenten. Später erfuhren sie von deren Bestrebungen, durch die Bildung eines unabhängigen slowakischen Staates die Republik aufzuteilen und allmählich auch über das Vorhaben der Nationalsozialisten, die böhmischen Länder militärisch zu besetzen.98 Die Zentralregierung versuchte nun, eine solche Entwicklung durch einen militärischen Eingriff in der Slowakei zu verhindern. Dieser wird nach dem Kommandanten des VII. Armeekorps in Banská Bystrica, General Bedřich Homola, „Homolov puč“ (Homola-Putsch) genannt. Präsident Hácha setzte im Einklang mit der Verfassung die Regierung Tiso ab. Die Armee und Polizei nahmen zwischen 220 und 250 Personen fest und internierte sie in Mähren, darunter Minister der Autonomieregierung, hohe Beamte sowie Mitglieder der HSĽS und der HlinkaGarde. Der militärisch gut organisierten Aktion fehlte jedoch die politische Vorbereitung. Die Funktionäre und Mitglieder der Hlinka-Garde schafften es, Widerstand gegen die tschechischen Polizisten zu organisieren. Der militärische Eingriff wurde so schon am Abend des 11. März 1939, noch vor der Ernennung der neuen Autonomieregierung unter Karol Sidor, widerrufen. Hitler kam der militärische Eingriff der Zentralregierung gelegen, denn er konnte ihn als Vorwand nutzen und in der Slowakei eine „revolutionäre Situation“ hervorrufen. Anfang März 1939 konkurrierten somit zwei Krisenlösungen:

97 ADAP,

Serie D, Band IV, S. 183–185. Bystrický, Valerián/Letz, Róbert/Podolec, Ondrej: Vznik Slovenského štátu. 14. marec 1939 [Die Entstehung des Slowakischen Staates. 14. März 1939]. Band 1. Bratislava 2007, S. 77. 98 Feierabend, Ladislav: Ve vládach Druhé republiky [In den Regierungen der Zweiten Republik]. New York 1961, S. 132

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eine revolutionäre, die Deutschland vertrat und eine evolutionäre, die vom gemäßigten Flügel der HSĽS auf legalem Wege angestrebt wurde. Als der neue Regierungsvorsitzende Sidor dem Drängen des Staatsekretärs zbV, Wilhelm Keppler, die Unabhängigkeit zu erklären, nicht nachgab,99 schaltete sich Hitler ein. Während Tisos Besuch in Berlin am 13. März 1939 machte der „Führer“ klar, dass der neue Staat „blitzschnell“, gleich am nächsten Tag, ausgerufen werden müsse. Seine Begründung ließ keine theoretischen Grundsätze erkennen. Vielmehr argumentierte er damit, dass er dadurch eine Aufteilung der Slowakei verhindern würde, die ansonsten drohte. Die Ausrufung der Unabhängigkeit bedeutete somit scheinbar den Sieg einer legalen Krisenlösung, die für alle Seiten annehmbar schien. Der Landtag des „Slowakischen Landes“ als regionale gesetzgebende Körperschaft hatte nicht das Recht, Verfassungsgesetze anzunehmen, welche die staatsrechtliche Stellung einzelner Teile der Republik veränderten. Wenn er die Unabhängigkeit erklärte, war das ein „revolutionärer“ und kein legaler Akt, auch wenn dieser der Öffentlichkeit später immer als legaler Vorgang präsentiert wurde. Die Gespräche zwischen Tiso und Hitler und ihre Folgen leiteten einen politisch-organisatorischen Prozess ein, dessen Ergebnis die Entstehung des unabhängigen slowakischen Staates war. Niemand in der Slowakei rechnete damit, dass dies am 14. März 1939 geschehen würde. Der Antrieb kam aus Berlin, als Tiso zwanzig Minuten nach dem Gespräch mit Hitler über den Vorsitzenden der Autonomieregierung Sidor den Präsidenten Hácha aufforderte, den Slowakischen Landtag einzuberufen. Dies war der entscheidende Schritt auf dem Weg zur Unabhängigkeit. Die slowakische Historiographie streitet freilich bis heute darüber, ob dies auf Druck der Nationalsozialisten geschehen oder Folge eines „nationalemanzipatorischen Prozesses“ gewesen sei.100 Am 14. März 1939 rief der Slowakische Landtag den unabhängigen slowakischen Staat aus. Die große Mehrheit der Abgeordneten sah in dieser Entscheidung die einzige Möglichkeit, das Land vor der Aufteilung und Besetzung durch die Nachbarstaaten zu bewahren, das heißt die Nation zu retten. Hitler, der sich wohl vom 14. März 1939 inspirieren ließ, wollte auch die Besetzung der böhmischen Länder als „legal“ erscheinen lassen, indem er Hácha zwang, die Erklärung zu akzeptieren, dass der Präsident das Schicksal der tschechischen Nation dem „Führer“ des Deutschen Reiches anvertraute. Die Weltöffentlichkeit sollte den Eindruck gewinnen, dass die Republik von innen her aufgelöst worden sei und die Besetzung der böhmischen Länder durch das nationalsozialistische Deutschland   99 Sidor,

Karol: Takto vznikol Slovenský štát [So entstand der Slowakische Staat]. Bratislava 1991, S. 119–121. Teren, Štefan (Hg.): Národohospodár Peter Zaťko spomína [Der Volkswirtschaftler Peter Zaťko erinnert sich]. Liptovský Mikuláš 1994, S. 74–75. 100 Vgl. z. B. Vnuk, František: Mať svoj štát znamená život. Politická biografia Alexandra Macha [Einen eigenen Staat zu haben bedeutet Leben. Politische Biographie von Alexander Mach]. Bratislava 1991 Ďurica, Milan S: Jozef Tiso 1887–1947. Životopisný profil [Jozef Tiso 1887– 1947. Biographisches Profil]. Bratislava 2006. Auf anderer Seite Kamenec, Ivan: Slovenský stát [Der slowakische Staat]. Prag 1992. Lipták, Ľubomír: Slovensko v 20. storočí [Die Slowakei im 20. Jahrhundert]. Bratislava 1998.

408   Valerián Bystrický/Michal Schvarc und der Karpato-Ukraine durch Ungarn unumgänglich für die Stabilisierung und Konsolidierung des mitteleuropäischen Raumes gewesen sei. Sogar Neville Chamberlain argumentierte in diesem Sinn.101 Die Entwicklung in der Slowakei zwischen dem Münchener Abkommen und der Unabhängigkeitserklärung war von widersprüchlichen Tendenzen geprägt. Die grundlegenden staatsrechtlichen Veränderungen befriedigten große Teile der politischen Elite – sowohl innerhalb der ehemaligen Regierungsparteien als auch des gemäßigten Flügels der HSĽS. Der größte Teil der Gesellschaft erachtete die Lage als optimale Lösung. Nur radikale Kreise innerhalb der HSĽS und der Hlinka-Garde wollten die März-Krise für die Unabhängigkeitserklärung nutzen. Sie hatten verlässliche Informationen über die Bereitschaft Deutschlands, diese Alternative zu unterstützen oder gar entschieden durchzusetzen. Obwohl sie über Hitlers wahre Absichten nicht informiert waren, wollten sie ihre Pläne ausschließlich mit der Unterstützung Deutschlands umsetzen. Im März 1939 wollte jedoch noch keiner der zuständigen slowakischen Politiker einen unabhängigen Staat erklären, wenngleich mehrere Repräsentanten der HSĽS eine solche Möglichkeit in der Zukunft erwogen. Ende Februar und Anfang März 1939 verbreitete sich die Vorstellung der Unabhängigkeit auch in der slowakischen Gesellschaft. Ungeachtet der politischen Überzeugungen Einzelner verbreitete sie sich im öffentlichen Bewusstsein. Sie stieß gerade dort auf Sympathien und Unterstützung, wo sie als Rettung vor der Teilung der Nation dargestellt wurde. Gleichzeitig herrschten Befürchtungen, Unsicherheiten und Zukunftsängste vor. Bezeichnenderweise gab es in dieser Situation in der slowakischen Gesellschaft keinerlei politische Stellungnahmen oder Machtdemonstrationen weder für noch gegen die staatsrechtlichen Veränderungen. Der gemäßigte Flügel der HSĽS hielt die evolutionäre Lösung, das heißt die ­legale Unabhängigkeitserklärung, für möglich, ja vorteilhaft und aussichtsreich. Karol Sidor lehnte am 12. März 1939 den Druck der Nationalsozialisten weniger aufgrund staatsmännischer Einsicht, als vielmehr aus Eitelkeit ab. Tiso verhielt sich auf der Sitzung des Slowakischen Landtags vom 14. März 1939 durchaus ähnlich.102 Den Vorschlag zur Ausrufung des Staates musste der Vorsitzende des Landtags, Martin Sokol, unterbreiten. Dieser betrachtete die Unabhängigkeit als notwendige, pragmatische und womöglich vorübergehende Lösung.

101 Ivaničková, Edita:

Zahraničnopolitická orientácia Slovenska v dokumentoch britskej Foreign Office [Die außenpolitische Orientierung der Slowakei in den Dokumenten des britischen Foreign Office] (1939–1941). In: Historický časopis 44/2 (1996), S. 207–220, hier S. 213. Velecká, Hana. Agónie appeasementu. Britská politika a  rozbití Československa 13. 3.– 31. 8. 1939 [Die Agonie des Appeasement. Die britische Politik und die Zerschlagung der Tschechoslowakei zwischen dem 13. März und 31. August 1939]. In Český časopis historický 99/4 (2001), S. 788–822, hier S. 793 und 797. Hoensch: Slovensko a Hitlerova, S. 185–195. 102 Sokol, Martin: Ako došlo k  vyhláseniu Slovenského štátu. (Moje poznámky k  marcovým udalostiam 1939) [Wie der Slowakische Staat ausgerufen wurde. (Meine Anmerkungen zu den März-Ereignissen von 1939)]. In: Historický časopis 39/3 (1991), S. 323–329, hier S. 328.

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Die an der „Auflösung“ der Tschecho-Slowakei beteiligten Akteure hatten grundlegend unterschiedliche Zukunftserwartungen. Wenngleich die tschechische politische Elite – und noch viel weniger die tschechische Gesellschaft – keine genaue Vorstellung über die eigene Zukunft entwickeln konnte, zog sie aus dem Geschehenen eindeutige Schlussfolgerungen: Die Tschechen büßten ihre nationale Unabhängigkeit und Freiheit ein und das Land wurde besetzt. Teile der tschechischen Gesellschaft versuchten sich den neuen Verhältnissen langfristig anzupassen und durch Kollaboration mit dem neuen Regime von der Lage zu profitieren. Der Widerstand im In- und Ausland ging dagegen von der Notwendigkeit des Kampfes für die Unabhängigkeit, das Recht auf nationale Existenz und die Wiederherstellung der Republik aus, der in der veränderten internationalen Lage vorbereitet und organisiert werden musste. Hingegen gewannen zwischen 1939 und 1942 große Teile der slowakischen Gesellschaft zunehmend die Überzeugung – nicht zuletzt infolge der massiven Propaganda –, dass das Maximalziel ihrer nationalen Bestrebungen, die Bildung des unabhängigen Staates, erreicht worden sei. Auch diejenigen in der slowakischen Gesellschaft, die die Lage eher skeptisch beurteilten, hielten die Unabhängigkeit einer kleinen Nation für die bestmögliche Lösung und schauten unbekümmert der Zukunft entgegen. Im Vergleich mit der Entwicklung in den böhmischen Ländern „musste“ diese Situation tatsächlich als – zumindest vorübergehender – „Erfolg“ der slowakischen Politik erscheinen. Das Vorhandensein des – wie es die Propaganda formulierte – aus „tausendjährigem Ringen“ geborenen Staates nährte unter den Slowaken den Glauben, dass sie trotz gewisser territorialer Verluste dennoch viel erfolgreicher seien als ihre Nachbarn. Dieser Glaube hatte zur Folge, dass die slowakische Öffentlichkeit dem neuen Staat gegenüber zum großen Teil positiv eingestellt war beziehungsweise ihn wenigstens tolerierte. Manche Politiker wollten sich dagegen mit der Lage nicht abfinden. Sie rechneten mit der Wiederherstellung der Tschechoslowakei, weil sie das wirkliche Ausmaß der slowakische „Unabhängigkeit“ realistisch einzuschätzen wussten. Mit der Zeit wurde die Aufrechterhaltung der Slowakischen Repu­ blik nicht mehr von der Unterstützung, sondern von der bloßen Existenz des nationalsozialistischen Deutschlands abhängig. Die Alternative dazu bot der Widerstand, für den die Niederlage des Deutschen Reiches Priorität hatte. Ein Engagement im Widerstand setzte jedoch die Bereitschaft voraus, gemeinsam mit anderen Hitler-Gegnern zur Bezwingung des Faschismus im In- und Ausland beizutragen sowie die demokratische Gesellschaft, den gemeinsamen Staat und dessen territoriale Integrität wiederherzustellen. Aus dem Slowakischen von Miloslav Szabó und Ines Koeltzsch

Emil Vorácˇek

Die Tschecho-Slowakische Republik nach dem Münchener Abkommen 1938 Neue Fragestellungen und For­schungsmöglichkeiten zur Entwicklung im tschechischen Landesteil. Thesen und erste Ergebnisse1 Die Krise, in die das „Münchener Abkommen“ die Tschechoslowakei gestürzt hatte, berührte alle Bereiche und alle denkbaren Dimensionen des gesellschaftlichen Lebens. Sie griff tief in das Leben aller Menschen des Landes ein. Es ist einigermaßen erstaunlich, dass dem Phänomen der Stimmung in der Gesellschaft und den spontanen sozialen Lebensäußerungen in dieser Zeit bisher nur wenig Aufmerksamkeit zukam. Wenn man die Entwicklung der Zweiten Republik nur durch das außen- und innenpolitische Prisma betrachtet, dann kann man ­verständlicherweise auch nur einen bestimmten Bereich der gesellschaftlichen ­Prozesse erfassen. Die Kenntnis der mentalen Bewegungen unter der gesellschaft­ lichen Oberfläche, in den Tiefenschichten der Gesellschaft, aus denen sich die Stimmungen und die öffentliche Meinung schrittweise herauskristallisierten, wird uns dann im Wesentlichen entgehen. Dabei stehen reichhaltige Archivmaterialien zur Verfügung, die eine historiographische Forschung in dieser Richtung ohne Schwierigkeiten ermöglichen. Die neuen geopolitischen Existenzbedingungen der Tschecho-Slowakischen Republik nach dem Münchener Abkommen, das heißt ihre geographische Lage und die Aggressivität der Nachbarländer, gaben diesem Staat für die ­Zukunft keine großen Chancen. Die Tschechoslowakische Republik verlor 36 Prozent der Bevölkerung, die im tschechischen Landesteil gelebt hatte. Hinzu kamen 28 942,66 Quadratkilometer des Territoriums des ehemaligen tschechischen Landesteils. Insgesamt wurden 39,7  Prozent der Großindustrie und 42,8  Prozent ihrer Beschäftigten von anderen Staaten in Besitz genommen. Der mit der Abtrennung einhergehende Verlust an wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit unterband die ökonomischen Möglichkeiten des Reststaates beträchtlich.2 Die verbleibende Tschecho-Slowakei besaß zwar nach wie vor ein dichtes Eisenbahn­netz, allerdings wurden die Haupttrassen durch die in München neu 1

Die vorliegende Studie wurde im Rahmen des Forschungsvorhabens AV0780150510 erarbeitet, dessen Träger das Historische Institut der Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik (Historický ústav AV ČR v.v.i.) ist. Die Studie wurde im Rahmen des Projekts GA AV ČR: IAA 800150603 „Die Komintern und die KSČ 1929–1943“, wissenschaftliche Edition von Dokumenten, erarbeitet. 2 Kárník, Zdeněk: České země v éře první republiky (1918–1938), díl 3 [Die böhmischen Länder in der Ära der Ersten Republik (1918–1938)]. Praha 2004, S. 622–627. Vgl. auch den ­Beitrag von Jaromír Balcar im vorliegenden Band.

412   Emil Voráček festgelegten Grenzen insgesamt acht Mal unterbrochen. Die ursprünglich vier Annexionszonen wurden von Deutschland im Verlaufe der Zeit willkürlich um zwei weitere ausgedehnt. Dutzende tschechische Gemeinden gliederte Deutschland ebenso willkürlich an sein Staatsgebiet an. Die von Deutschland annektierten Gebiete des tschechischen Landesteils der ehemaligen Tschechoslowakei verließen ca. 200 000 Bewohner tschechischer Nationalität, bzw. sie wurden aus ihnen vertrieben. Ihre Aufnahme im Landesinnern bedeutete für den Reststaat ein großes sozialpolitisches Problem. Die Bibliographie der Arbeiten, die dem Thema der unmittelbaren Folgen des Münchener Abkommens für den tschechoslowakischen Staat gewidmet sind, ist nicht allzu umfangreich.3 Nichtsdestoweniger handelt es sich bei der TschechoSlowakischen Republik nach München um ein Thema, das durchaus ein gewisses Interesse hervorgerufen hat. Die Aufmerksamkeit der Historiker konzentrierte sich – wie gewöhnlich ‑ auf die außenpolitischen Aspekte, auf die innenpolitische Entwicklung und teilweise auch auf den sich in dieser Zeit entfaltenden Antisemitismus. Den Reaktionen der Bevölkerung auf das Münchener Abkommen und die Entwicklung in der Zweiten Republik sowie den Stimmungen unter den Menschen widmeten die Historiker weitaus geringere Aufmerksamkeit. Aus dem Blickwinkel der politischen Trends heraus ist an der gegenwärtigen Diskussion in der tschechischen Historiografie interessant, dass sich im Grunde zwei Strömungen der Interpretation beobachten lassen. Ein Repräsentant der einen Richtung, Jan Rataj, vertritt eine kritischere Sicht und findet in der damaligen Tschecho-Slowakei deutliche und einflussreiche konservative bzw. rechte Kräfte, die die Republik in ein autoritatives System führten, wobei deren Wurzeln bis in den vorangegangenen Zeitraum gereicht hätten. Jan Gebhart und Jan Kuklík äußern sich in ihren eigenständigen Studien, in ihrer gemeinsamen Monographie sowie in ihrer großen Arbeit über die Tschechoslowakei in den Jahren von 1938 bis 19454 zurückhaltender und gehen bei ihrer Beurteilung im Unterschied zum Politologen Rataj vorrangig von der Analyse der damaligen politischen Prozesse aus. Die Veränderungen in der damaligen Tschecho-Slowakei werden wir aus der Sicht der Gesellschaft heraus untersuchen, die damals im westlichen Landesteil lebte. Die Entwicklung verlief in den einzelnen Teilen der auseinander gerissenen Tschechoslowakei, das heißt in den von Deutschland annektierten Grenzgebieten, in der Slowakei sowie der Karpato-Ukraine, die nunmehr autonom waren, und 3

Eine Schlüsselstellung nehmen unter den neuesten Publikationen zur Zweiten Republik die Monographie Jan Ratajs sowie die gemeinsame Arbeit Jan Kuklíks und Jan Gebharts ein. Gebhart, Jan/Kuklík, Jan: Druhá republika 1938–1939. Svár demokracie a totality v politickém, společenském a kulturním životě [Die Zweite Republik 1938–1939. Der Streit zwischen ­Demokratie und Totalität im politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Leben]. Praha/ Litomyšl 2004. Rataj, Jan: O autoritativní národní stát. Ideologické proměny české politiky v druhé republice 1938–1939 [Über den autoritären Nationalstaat. Ideologische Wandlungen der tschechischen Politik in der Zweiten Republik]. Praha 1997. 4 Gebhart, Jan/Kuklík, Jan: Velké dějiny zemí koruny české, svazek XV.a 1938–1945 [Große Geschichte der Länder der böhmischen Krone, Band XVa 1938–1945]. Praha/Litomyšl 2006, S. 10–154.

Die Tschecho-Slowakische Republik nach dem Münchener Abkommen   413

im mehrheitlich von Tschechen bevölkerten Staatsgebiet sehr unterschiedlich. Gebhart und Kuklík haben die gesellschaftliche Situation im tschechischen Landesteil im Herbst 1938 folgendermaßen zusammengefasst: „Die Krise, die die Tschechoslowakei nach dem Münchener Abkommen erfasste, berührte alle Bereiche und denkbaren Dimensionen des gesellschaftlichen Lebens. Breite Schichten der Bevölkerung durchlebten intensiv eine Phase der Depression, der Enttäuschung und Verbitterung angesichts des Verrats der Verbündeten, sowie einen Schock darüber, dass nach lediglich zwanzig Jahren die Existenz und Perspektive ihrer Heimat in deren Grundlagen erschüttert worden war. Masaryks Idee des tschechoslowakischen Staates brach in sich zusammen, weil das Münchener Abkommen in seinen Konsequenzen nicht nur eine grundlegende Veränderung der internationalen Stellung und der Grenzen sowie eine einschneidende wirtschaftliche Schwächung bedeutete, sondern auch eine spürbare Erschütterung des inneren Gefüges des demokratischen Staates mit sich brachte. Insbesondere wurde das bisherige System der vorherrschenden ideellen und moralischen Werte in Zweifel gezogen. Dies alles wurde verstärkt durch das Gefühl der existentiellen Verunsicherung und angsterfüllter Sorge um die Zukunft des Volkes und des Staates.“5

Es bietet sich die Frage an, ob man nicht in der historiographischen Forschung Forschungsansätze verwenden sollte, die in anderen Gesellschaftswissenschaften zu den Standardkonzeptionen gehören und die auch für die historiographische Erforschung des Zustands einer Gesellschaft von Nutzen sein könnten. Unserer Meinung nach stellt die Konzeption der „sozialen Anomie“ eines der Forschungskonzepte dar, die man in der Historiographie und auch für die hier zu beschreibende Entwicklung anwenden kann. Eine soziale Veränderung, insbesondere wenn sie schnell, in großem Umfange und mit dauerhafter Gültigkeit verläuft, führt zur Anomie, das heißt zur Zersetzung der Gesellschaft. Diese Grundthese des französischen Soziologen Émile Durkheim, die dieser bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts in seiner Arbeit über die „Arbeitsteilung“ und den „Selbstmord“ aussprach, nutzte man bei der Erforschung der Anomie in der Kriminologie und beim Studium devianten Verhaltens insbesondere im Westdeutschland der 1950er Jahre bei der Untersuchung des nationalsozialistischen Deutschlands sowie des Zeitraums der Erneuerung der Demokratie.6 In der Soziologie wie auch in der Politologie wurde diese Konzeption, trotz der Bemühungen Robert K. Mertons in den USA, kaum genutzt.7 In neueren Forschungsarbeiten deutscher Sozialwissenschaftler findet sie hingegen eine intensive Anwendung gerade bei der Untersuchung der Übergänge von einer Demokratie zu einer Diktatur.8 Dies ist auch im konkreten Beispiel der Zweiten Tschecho-Slowakischen Republik der Fall. 5

Ebenda, S. 34. Vgl.: Durkheim, Émile: Über soziale Arbeitsteilung, Frankfurt/Main 1992 (Orig. 1893). Schoierer, Michael: Demokratisierung und soziale Anomie nach der NS-Diktatur. In: Waldmann, Peter (Hrsg.): Diktatur, Demokratisierung und soziale Anomie. München 2003, S. 337–386. 7 Zur Begriffsentwicklung bei Durkheim beginnend vgl.: Merton, Robert: Social structure and anomie. In: American Sociological Review 3 81938), S. 672–682. Ders.: Social Theory and Social Structure. Glencoe 1957. Dreitzel, Hans Peter: Die gesellschaftlichen Leiden und das Leiden an der Gesellschaft. Stuttgart 1972. 8 Waldmann, Peter (Hg.): Diktatur, Demokratisierung und soziale Anomie. München 2003. Müller, Hans Peter/ Waldmann, Peter: Soziale Anomie. Zur Fruchtbarkeit eines klassischen soziologischen Konzeptes in Bezug auf die Entwicklungsländer. In: Geschichte und Gegenwart 17 (1998), Nr. 3, S. 143–164. 6

414   Emil Voráček Bei der Untersuchung des Zustands einer Gesellschaft, bei der Feststellung anomischer Zustände ist es auf jeden Fall erforderlich, auf polizeiliches Material, im konkreten Fall auf die Materialien des Polizeimuseums der Tschechische Republik zurückzugreifen, insbesondere wegen der kriminologischen Literatur. Nützlich ist es auch, sich in den Periodika „Kriminalistický věstník“ (Kriminalistisches Mitteilungsblatt) und „Věstník ministerstva vnitra“ (Mitteilungsblatt des Innenministeriums) zu orientieren. Im Prager Nationalarchiv befindet sich der Archivbestand der Landeskommandatur der Gendarmerie, allerdings nur der Böhmen betreffende Teil, nicht die Materialien für Mähren oder Schlesien.9 In den ersten Tagen nach dem Münchener Abkommen suchte man nach Erklärungen, wie und wieso es überhaupt zur Münchener Katastrophe hatte kommen können, sowie nach denjenigen, denen die Verantwortung dafür zukommt. Dabei traten rasch die schon früher geäußerten kritischen Meinungen der politischen Rechten zu den führenden Persönlichkeiten des vorangegangenen Regimes in den Vordergrund. Zielte diese Kritik zunächst in einigermaßen verschleierter Form auf die Politik des ersten Staatspräsidenten Tomáš Garrigue Masaryk, so traf sie wenig später umso intensiver die Politik seines Nachfolgers, Edvard Beneš. Zugleich wurde das damalige politische Leben eines Teils der Eliten von dem Gedanken beherrscht, dass es erforderlich sei, im bisherigen politischen System und in der Machtstruktur grundlegende Veränderungen durchzuführen. Es sollte um einen „Umbau“ oder um eine „Vereinfachung“ des politischen Lebens gehen. Dabei zeigten sich verständlicherweise beträchtliche Unterschiede zwischen den Diskussionen der Eliten, den Ansichten der Mittelschichten und den Meinungen der übrigen Bevölkerung „oben und unten“. Die Mängel des Systems sollten durch eine „Revolution“ beseitigt werden, die national-konservative Kräfte in Gang setzen und führen wollten, um bei dieser Gelegenheit die Macht an sich zu reißen. Sie begannen nach der Errichtung eines autoritativen Regimes zu streben, das die Elemente der Demokratie stark einschränken sollte.10 Im Verlaufe einiger weniger Wochen formierten sich die politischen Strömungen, die die politische Entwicklung bis zum 15. März 1939 und später mitbestimmten, wobei sie natürlich auch selbst verschiedenen Modifika­ tionen unterlagen. Die Parteien der Regierungskoalition veröffentlichten unterschiedlich formulierte Standpunkte, die jedoch alle einen gemeinsamen Nenner aufwiesen: Im Hinblick auf den Ernst der Situation sei es erforderlich, alle Kräfte zu vereinen, die Politik der Ersten Tschechoslowakischen Republik ad acta zu legen und eine einzige, starke, regierende politische Kraft ins Leben zu rufen. Um es mit den Worten des Chefredakteurs der Zeitung „Venkov“ (Das Land) und Mitglieds des engeren Vorstands der Agrarpartei, Rudolf Halík zu sagen:   9 Es

sei mir gestattet, an dieser Stelle den Mitarbeitern des Nationalarchivs, Frau PhDr. Helena Nováčková, CSc. sowie Ihrem Kollegen Herrn Bc. David Hubený, die die von mir untersuchte Problematik freundlicherweise konsultierten, meinen aufrichtigen Dank auszusprechen. 10 Gebhart/Kuklík: Velké dějiny zemí koruny české, S. 37.

Die Tschecho-Slowakische Republik nach dem Münchener Abkommen   415 „Auf ewige Zeiten legen wir die Kämpfe zwischen den Parteien und Ideologien beiseite. Rechte und Linke gibt es nicht mehr! (…) Wir revidieren Inhalt und Form des Parteienwesens. Wir vereinfachen das Parteiensystem durch eine grundsätzliche Beschränkung der Anzahl der Parteien. (…) Die Presse, die Kultur, die Körperkultur, den Sport und andere Institutionen führen wir in einem Strom zusammen“.11

Hinsichtlich der „Vereinfachung“ des politischen Lebens vertraten anfangs auch die ehemaligen Koalitionsparteien unterschiedliche Auffassungen. Gleichermaßen verhielt sich in dieser Frage das Oppositionslager. Neben anderen äußerte sich Josef Stivín, Chefredakteur der Zeitung „Právo lidu“ (Volksrecht). Er regte an, aus den bisherigen vier Regierungsparteien (Agrarpartei, Sozialdemokratie, Volkspartei und Nationale Sozialistische Partei) drei Parteien zu bilden. Um die Agrarpartei sollten sich die rechts orientierten Parteien konzentrieren. In der Mitte sollte die Volkspartei wirken. Und auf der Linken war eine „Partei des werktätigen Volkes“ vorgesehen, die durch den Zusammenschluss oder die föderative Annäherung der Sozialdemokraten und der Nationalen Sozialisten entstehen sollte, was Stivíns Ansichten zufolge ein „natürlicher Prozess“ wäre.12

Die Politik und die Reflexion der gesellschaftlichen ­Probleme durch die Politologen und Soziologen Mit seiner Analyse der Situation trat auch der schon damals als Autor bekannte Politiksoziologe und politisch engagierte Staatsrechtler Jan Mertl an die Öffentlichkeit. Seine Kritik der liberalen Demokratie des 19. und der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts, deren Ideale die Basis des politischen Systems des neu entstandenen tschechoslowakischen Staates bildeten, zielte auf die Betonung anderer Modelle des politischen Systems. Mertls Kritik ging von einem Gegensatz zwischen der Grundidee der liberalen Demokratie, das heißt der Idee der Freiheit des Einzelnen, und dem System einer größeren Zahl disziplinierter politischer Parteien aus, da ein solches System seiner Meinung nach wegen der geforderten Parteidisziplin keine wirkliche Freiheit des Einzelnen zuließe. Aus dieser Tatsache folgerte Mertl, dass das bestehende politische System „keinen einheitlichen Willen des Volkes zu bilden“ vermochte. In seiner Kritik der Vergangenheit suchte er nach Lehren für die Zukunft und nach „eine(r) bessere(n) Richtschnur für unser politisches Leben in der Zweiten Republik“. Diese „bessere Richtschnur“ fand er im Übergang zur „autoritativen Demokratie“, in der er eine Symbiose zwischen der „produktiven Leistungsfähigkeit der heutigen Diktaturen“ und der „Evokation eines einheitlichen, starken Volkswillens“ sah.13 Mertl verließ somit das staatsbürgerliche Prinzip und ersetzte es durch ein nationales und autoritäres.

Rudolf: Čeho je potřeba nejdříve? [Was ist ehestens der Bedarf?]. In: Venkov, Nr. 239 vom 11. 10. 1938, S. 1. 12 Gebhart/Kuklík: Velké dějiny zemí koruny české, S. 42–43. 13 Mertl, Jan: Co s politickými stranami [Was ist mit den politischen Parteien]. Praha 1938, S. 11. 11 Halík,

416   Emil Voráček

„Herbst-Revolution“ In den Diskussionen und unter dem Druck der politischen Spitzen kristallisierten sich verhältnismäßig rasch entsprechende politische Vorstellungen heraus. Am 27. Oktober 1938 trafen sich die Vertreter der sechs politischen Parteien, die das Rückgrat der ehemaligen Koalition gebildet hatten, und bezogen Stellung zu einer Initiative der Agrarpartei. Die Vertreter der drei größten politischen Parteien – die Abgeordneten Rudolf Beran, Antonín Hampl und Emil Franke sowie der Vertreter der politischen Organisation „Nationale Vereinigung“ (Národní sjednocení), František Xaver Hodáč ‑ konstatierten auf diesem Treffen, dass sie bereit seien, ihren Parteien die Selbstauflösung und die anschließende Vereinigung zu einer einzigen neuen Partei zu empfehlen, wobei es sich jedoch nicht um einen mechanischen Prozess handeln sollte. Kompliziert gestalteten sich die Diskussionen innerhalb der Volkspartei und der Tschechoslowakischen Nationalen Sozialistischen Partei. Der Gründungsaufruf der „Partei der Nationalen Einheit“ (Strana národní jednoty) wurde am 12. November 1938 veröffentlicht. Der Titel des entsprechenden Aufrufs an das Volk lautete: „Tschechisches Volk! Die Partei der Nationalen Einheit verstand sich selbst als „Bewegung des tätigen Nationalismus […] dessen Aufgabe und Sendung es ist, einen neuen Staat zu errichten, eine Erneuerung des nationalen Lebens vorzunehmen und das Volk einem neuen Aufschwung zuzuführen.“14 Für den Beitritt zur Partei der Nationalen Einheit entschlossen sich allmählich unter dem Einfluss des Doyens ihrer Bewegung, Václav Klofáč, auch die Nationalen Sozialisten. Am 20. November 1938 traten die tschechischen Faschisten, also Radola Gajdas Nationale Faschistische Gemeinde, die damals unter ihrem neuen Namen „Nationales tschechoslowakisches Lager“ auftrat, der Partei der Nationalen Einheit bei. Auch einige weitere faschistoide Gruppierungen (unter anderem eine Reihe von Mitgliedern der ehemaligen Organisation „Vlajka“)15 schlossen sich der Partei der Nationalen Einheit an. Die Opposition, insbesondere die Führung der sozialdemokratischen Partei, verfolgte diesen Prozess verständlicherweise mit Beunruhigung. Sie fühlte, dass sie dem sehr populären Druck in Richtung auf eine „Vereinfachung“ des politischen Lebens nicht würde widerstehen können. Das Lager der demokratischen Opposition bildete eine außerordentlich heterogene Ansammlung antifaschistisch orientierter Kräfte, die deutlich demokratisch ausgerichtete Alternativen der innenpolitischen Entwicklung anboten und zugleich die Keimformen des künftigen antifaschistischen Widerstands verkörperten. In der düsteren Atmosphäre der Wochen nach der Annahme des Münchener Diktats und der raschen Formierung der politischen Rechten, fanden auch in der dějiny zemí koruny české, S. 57. archiv Praha [Im Folgenden: NA]. Fonds: Presidium Ministerstva vnitra [Im Folgenden: PMV], 225, 1286, 1. Vlajka, zprávy o činnosti, zprávy ze schůzí roku 1938–1939 [Die Vlajka, Nachrichten über ihre Tätigkeit, Nachrichten aus den Versammlungen des Jahres 1938–1939].

14 Gebhart/Kuklík: Velké 15 Národní

Die Tschecho-Slowakische Republik nach dem Münchener Abkommen   417

Mitte und auf dem linken Flügel des politischen Spektrums Gespräche und Verhandlungen über die Schaffung einer einheitlichen Partei statt, die die Interessen dieses Teils des politischen Spektrums repräsentieren sollte. Es war unter diesen Umständen nicht überraschend, dass die kommunistischen Parlamentsabgeordneten Rudolf Slánský und Václav Kopecký mit einer entsprechenden Initiative auftraten. Bei einem Zusammentreffen mit dem Sekretär der Tschechoslowakischen Nationalen Sozialistischen Partei, Karel Moudrý, unterbreiteten sie diesem den Vorschlag zur Bildung einer einheitlichen nationalen Partei der Arbeit.16 Die neue Partei sollte aus der Vereinigung der Nationalen Sozialisten, der Sozialdemokraten und der Volkspartei hervorgehen. Die wichtigsten programmatischen Thesen des neuen politischen Subjekts konzentrierten sich auf die Bewahrung der Demokratie, der Republik und der sozialen Errungenschaften. Obwohl die Kommunisten bewusst darauf verzichteten, sich direkt in diesen Prozess einzubringen, verwahrten sich die Sozialdemokraten von vornherein gegen diese Initiative. Der Zentrale Organisationssekretär der Sozialdemokratie, Senator Vojtěch Dundr, vertrat den Standpunkt „prinzipiell gegen jegliche Verbindung mit den Kommunisten, weil dies nur zu einer Konzentrierung der rechten Parteien führt, die dann umso stärker sein werden.“ Anstelle der kommunistischen Initiative empfahl er, intensive Verhandlungen zwischen den beiden staatstragenden linken Parteien aufzunehmen. Allerdings erwartete er, dass in naher Zukunft auf Druck Hitlers ohnehin alle politischen Parteien aufgelöst werden würden.17 Der Gedanke der Bildung einer großen linken Partei basierte in beiden politischen Lagern auf der Vorstellung und auf den praktischen Bemühungen um die Schaffung eines neuen Zweiparteiensystems. Dabei verwiesen die Vertreter dieser Konzeption gern auf das Beispiel der beiden bedeutendsten Demokratien der Welt, das Vereinigte Königreich Großbritannien und die Vereinigten Staaten.18 Der bereits erwähnte Rudolf Halík kleidete diesen Gedanken in die Worte, dass „die staatsbürgerlichen Schichten des Volkes sich in einer großen nationalen Partei konzentrieren müssen.“ Er äußerte sogar: „Mitglied der Partei der Nationalen Einheit zu sein, ist eine bürgerliche und nationale Pflicht.“19 Nunmehr war also die staatstragende Linke an der Reihe. Die Zeitung „Právo lidu“ publizierte am 28. Oktober den Aufruf „Bürger und Bürgerinnen! Arbeitende Menschen in Stadt und Land!“20 Der ursprünglich ­diskutierte Vorschlag der Gründung einer „Nationalen Partei des arbeitenden Praha. Fonds: Archív Československé strany národně socialistické [Archiv der Tschechoslowakischen Nationalen Sozialistischen Partei], k. 62. Zápis o schůzi předsednictva Československé strany národně socialistické, konané dne 14. října 1938 [Protokoll der Vorstandssitzung der Tschechoslowakischen Nationalen Sozialistischen Partei vom 14. Oktober 1938]. 17 Ebenda. 18 Martínek, Josef: Jen dvě strany [Nur zwei Parteien]. In: Právo lidu, Nr. 267 vom 12. 11. 1938, S. 1–2. 19 Venkov, Nr. 1, 1. 1. 1939, S. 1. 20 Hampl, Antonín/Nečas, Jaromír/Macek, Josef: Občané a občanky! Pracující lide měst i venkova! [Bürger und Bürgerinnen. Arbeitende Menschen in Stadt und Land!]. In: Právo lidu Nr. 254 vom 28. 10. 1938, S. 1. 16 NA

418   Emil Voráček Volkes“ (Národní strana pracujícího lidu) wurde nicht realisiert und allmählich durch das Projekt einer „Nationalen Partei der Arbeit“ (Národní strana práce) ersetzt. Die Organisationsstruktur der neuen Partei knüpfte insbesondere an das bisher praktizierte Modell der Tschechoslowakischen Sozialdemokratischen Partei an. Die Nationale Partei der Arbeit neigte in programmatischer Hinsicht ­einem demokratisch und ethisch verstandenen Sozialismus zu, obwohl diese Ausrichtung im Parteiprogramm selbst keine Erwähnung fand. Der Gründungsparteitag der Nationalen Partei der Arbeit wurde für den 11. November 1938 einberufen und fand in Prag auch an diesem Termin statt. Es sei in diesem Zusammenhang daran erinnert, dass von allen Parteien, die in den vergangenen zwei Jahrzehnten miteinander die verschiedensten Regierungskoalitionen gebildet hatten, einzig die Sozialdemokratie ihre politische Tätigkeit durch einen ordnungsgemäßen Auflösungsparteitag beendete, der am 18. Dezember 1938 in Prag stattfand.21 In einer solchen Atmosphäre verlief der Prozess des Abbaus der liberalen und demokratischen politischen Ordnung in der Zweiten Republik verhältnismäßig rasch. Dies zeigte sich bereits bei der Vorbereitung sowie der Art und Weise der Annahme der Gesetze über die Autonomie der Slowakei und der Karpatorusslands. Am deutlichsten traten die neuen politischen Strukturen jedoch bei der Annahme des Ermächtigungsgesetzes und bei der Suspendierung von Rechten des Parlaments (zum Vorteil der Regierung) zutage. Nachdem Emil Hácha am 30. November 1938 zum neuen Präsidenten gewählt worden war, reichten alle Minister der damaligen Regierung ihre Demission ein und wurden erneut mit ihren Ämtern betraut. An die Spitze der tschecho-slowakischen Regierung trat Rudolf Beran. Die am 1. Dezember 1938 vereidigte Regierung war die erste Regierung, die sich auf der Grundlage der Verfassungsgesetze vom 22. November 1938 über die Autonomie der Slowakei sowie über die Autonomie Karpatorusslands konstituiert hatte. Diese Regierung beabsichtigte, jegliche gesellschaftliche Bewegung und alles gesellschaftliche Leben auf dem „höheren Staatsprinzip“ aufzubauen (siehe die programmatische Regierungserklärung Berans im Parlament). Die Autoren der Regierungserklärung hielten es für ein Recht, ja für eine Pflicht des Staates, sich mit den „Verhältnissen in der Presse, im Rundfunk und im Film aus der Sicht seiner höheren Bedürfnisse“ zu befassen und diese zu regeln „sowie in deren Reihen eine strenge sittliche, politische und kulturelle Verantwortung einzuführen“. Berans Regierungserklärung setzte somit die Linie zur Einschränkung der demokratischen Freiheit des Wortes und zur Verstärkung der Zensurpraxis fort, wie sie bereits im Regierungserlass vom 17. September 1938 erkennbar geworden war, Protokol XIX. Mimořádného sjezdu Československé sociálně demokratické strany dělnické, který se konal 18. 12. 1938 ve Steinerově sále Lidového domu v Praze [Protokoll des XIX. Außerordentlichen Parteitags der Tschechoslowakischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, der am 18. 12. 1938 im Steiner-Saal des Volkshauses in Prag stattfand.]. Red. O. E. Berger. Praha 1946.

21 Vgl.:

Die Tschecho-Slowakische Republik nach dem Münchener Abkommen   419

durch den für einen Zeitraum von drei Monaten Sondermaßnahmen auf dem Gebiet des gesamten Staates angeordnet wurden.22 Die Behandlung des Ermächtigungsgesetzes in der Abgeordnetenkammer am 14. Dezember 1938 stieß auf den scharfen Widerspruch der radikalen Linken, das heißt der Kommunisten, für die deren Abgeordneter Antonín Zápotocký das Wort ergriff: „Die Regierung hat eine Vorlage für ein Ermächtigungsgesetz eingebracht, durch das sie in Wirklichkeit die Rechte des Parlaments und der gewählten Volksvertreter suspendiert und jegliche gesetzgeberische Macht auf die Regierung überträgt. Dem Präsidenten wird sogar bei Zustimmung der Regierung das Recht eingeräumt, die Verfassung und die Verfassungsgesetze der Republik zu ändern. Wir erachten diesen Gesetzesentwurf als den weitreichendsten Eingriff in die elementaren demokratischen Rechte unseres Volkes. Die Verfassung der Republik, der zufolge alle Macht vom Volke ausgeht, stellt eine große Errungenschaft unseres Volkes dar; sie ist das Ergebnis jahrelanger Kämpfe gegen die österreichische Unterdrückung, ist der höchste Ausdruck seines Befreiungskampfes, in dem die besten Söhne des Volkes kämpften und bluteten. Dieses Ergebnis der Arbeit und des Kampfes ganzer Generationen soll mit einem Schlage zunichte gemacht werden […].“23

Zápotocký beschloss seine Rede mit den prophetischen Worten: „Ich ende mit den Worten des unvergesslichen Erweckers des tschechischen Volkes, Jan Amos Komenský: ‚Ich glaube fest daran, dass nach dem Vorüberziehen des Sturmes des Zorns die Regierung deiner Dinge zu dir zurückkehren wird, oh tschechisches Volk.‘ (Beifall der kommunistischen Abgeordneten).“ Gegen die Gesetzesvorlage trat eine Reihe weiterer Abgeordneter auf (beispielsweise Františka Plamínková) und am nächsten Tag bei ihrer Behandlung im Senat auch eine Reihe von Senatoren (beispielsweise František Modráček). Dennoch wurde die Vorlage ohne größere Schwierigkeiten in beiden Kammern des Parlaments angenommen. Die Gültigkeit des Ermächtigungsgesetzes wurde auf einen Zeitraum von zwei Jahren beschränkt. Es sollte am Tag der Konstituierung des slowakischen Landesparlaments in Kraft treten. Die Regierung erhielt mit dieser Morgengabe das Recht, zwei Jahre lang ausschließlich mittels eigener Verordnungen und Dekrete zu regieren. Die Tschecho-Slowakei entledigte sich auf diese Weise des Instituts eines ordnungsge­ mäßen demokratischen Gesetzgebungsverfahrens und der Nationalversammlung blieb nunmehr eine Statistenrolle. Der Prozess des Abbaus des demokratischen ­Staates und der Formierung eines autoritativen Staates gewann an Dynamik. Einen weiteren wichtigen Schritt auf dem Wege zur Installierung der autoritativen Demokratie stellt die Verabschiedung der Regierungsverordnung vom 23. Dezember 1938 dar, die die Existenz, die Möglichkeiten und Bedingungen zur Gründung sowie zur Beendigung der Tätigkeit von politischen Parteien neu regelte. 22 Die

Regierung Rudolf Berans verabschiedete am 12. 12. 1938 eine Verordnung, die die Gültigkeit der Verordnung vom 17. 9. 1938 um weitere drei Monate verlängerte. Vgl.: Sbírka zákonů a nařízení státu česko-slovenského, vládní nařízení č. 317, vydáno 12. 12. 1938 [Sammlung der Gesetze und Verordnungen des tschecho-slowakischen Staates, Regierungsverordnung Nr. 317, veröffentlicht am 12. 12. 1938]. 23 Národní shromáždění Republiky Československé 1935–1938, Poslanecká sněmovna, 157. schůze, část 2/9 [Nationalversammlung der Tschechoslowakischen Republik 1935–1938, Abgeordnetenhaus, 157. Sitzung, Teil 2/9].

420   Emil Voráček Auf der Grundlage dieser Verordnung konnte die Regierung diejenigen politischen Parteien auflösen, deren Existenz und Tätigkeit ihrem Urteil nach den staatlichen Interessen widersprachen oder die öffentliche Ruhe und Ordnung gefährdeten. In der Partei der Nationalen Einheit existierten einflussreiche Kräfte, die sich bemühten, die totalitären Elemente im Regime der Zweiten Republik zu festigen. Der tschechische Historiker Jan Gebhart vertritt dennoch die Ansicht, im Vergleich mit Jan Rataj allerdings in weitaus geringerem Maße, dass sich die Regierung und der Premier selbst diesem Trend nicht verbunden fühlten und ihn nicht akzeptierten.24 Die Kommunisten machten im Verlaufe der vom Münchener Abkommen ­ausgelösten Krise zum ersten Mal die Erfahrung, dass bedeutende Teile der tschechischen Öffentlichkeit ihren Aufruf zur Verteidigung der Republik und der ­Demokratie ernst nahmen. Verständlicherweise traten die Kommunisten auch als einzige politische Partei scharf gegen die Versuche, das politische Leben zu „vereinfachen“, auf. Dabei ging die Kommunistische Partei der Tschechoslowakei (KSČ) als Sektion der Kommunistischen Internationale allerdings von der Linie der Komintern aus, was unter anderem eine bedingungslose Verteidigung der außenpolitischen Ziele der UdSSR einschloss. Die Führungsorgane der KSČ waren sich der Tatsache bewusst, dass ihre Tätigkeit in der Atmosphäre der Zweiten ­Republik von ihren politischen Gegnern weitaus aufmerksamer als bisher beobachtet werden würde und dass das Verbot der kommunistischen Partei unter den neuen Verhältnissen eine reale Möglichkeit darstellte.25 Während die politische Rechte relativ rasch ihre neue programmatische Plattform fand, von der aus sie ihr Programm der „Herbst-Revolution“ oder der „Zweiten nationalen Wiedergeburt“ formulierte, taten sich die Parteien des linken Spektrums weitaus schwerer damit, ein neues Gesicht zu finden. Das ZK der KSČ rief im Verlaufe seiner Sitzung vom 4. Oktober 1938 die Mitglieder der Partei zum „Rückzug auf die zweite Verteidigungslinie“ auf, wobei dieser Rückzug „in höchstem Maße geordnet und diszipliniert“ von statten gehen sollte. Der Beschluss des ZK zur Verteidigung der freien, demokratischen und unabhängigen Tschechoslowakei verwies darauf, dass dies eine „Verteidigung unter schwierigeren Bedingungen als bisher“ sein werde, die „mit allen Mitteln organisiert werden muss; koste es, was es wolle.“26 Am 8. Oktober wandte sich das ZK der KSČ in einem Brief an die Mitglieder der Partei, in dem es die politischen Hauptaufgaben der Kommunisten umriss und sie zugleich aufrief, sich mit voller Verantwortung am Aufbau des Staates in den neuen Grenzen zu beteiligen. Der Brief wies auf den fortschreitenden Prozess der Gleichschaltung des öffentlichen Lebens hin, wodurch „[…] die tschechoslowakische Bourgeoisie in diesem Augenblick die dunkle Seite ihrer Seele offenbart“ und die „reaktionäre Großbourgeoisie“ in ihrem Bemühen, dem deutschen Nationalsozialismus zu dienen, darü24 Gebhart/Kuklík:

Druhá republika 1938–1939. Rataj: O autoritativní národní stát. o celý národ [Es geht um die gesamte Nation]. In. Haló noviny, 14. 10, 1938, Nr. 272, S. 1. 26 Gottwald, Klement: Spisy. Sv. 8, 1937–1938 [Schriften. Bd. 8, 1937–1938]. Praha 1953, S. 258. 25 Jde

Die Tschecho-Slowakische Republik nach dem Münchener Abkommen   421

ber nachdenkt, wie sie „über ihrem eigenen Volk eine Diktatur errichten“ kann.27 Die Taktik der weiteren Tätigkeit der Partei in der Zweiten Republik deutete das ZK programmatisch mit dem Postulat der nationalen Einheitsfront an. Dies war eine Konzeption, die die Kommunisten schon seit längerer Zeit vertraten.28 Allerdings war diese Vision von allem Anfang an zum Scheitern verurteilt, da sowohl die Nationalen Sozialisten, als auch die Sozialdemokraten, die bolschewistische Partei als unaufrichtig und nicht staatstragend einschätzten, eben als eine Filiale der Kommunistischen Internationale in Moskau. Die autonome slowakische Regierung verfügte am 9. Oktober 1938 für die kommunistische Partei ein Tätigkeitsverbot. Die tschecho-slowakische Regierung vollzog diesen Schritt am 20. Oktober 1938. Zugleich verbot sie die kommunistische Presse. Ladislav Feierabend vertrat die Meinung, dass die Regierung den Kommunisten ausreichend Möglichkeiten und Zeit gewährt habe, die Auflösung ihrer Partei organisatorisch zu bewältigen. „Ich erinnere mich sehr genau daran, dass der Innenminister Jan Černý im Ministerrat darüber referierte, dass dieses unser Vorgehen von den Kommunisten mit Dank zur Kenntnis genommen wurde.“29 Kurze Zeit nach der Verabschiedung des Ermächtigungsgesetzes wurde die KSČ am 27. Dezember 1938 per Regierungsverordnung aufgelöst. Wie verhielt sich die KSČ in diesem Zeitraum? Die Aufmerksamkeit des Innenministeriums richtete sich praktisch auf alle existierenden bzw. gerade im Ent­ stehen begriffenen politischen Subjekte. Wie in der Zeit vor dem Münchener ­Abkommen, so auch im Zeitraum danach verfolgte es die Tätigkeit der Kommunisten allerdings mit besonderer Sorgfalt,30 sowohl im Rahmen der Situationsberichte, als auch in den detaillierteren Berichten. Am 15. November 1938, also noch vor der Auflösung der KSČ, wies das Präsidium der Landesbehörde des Innenministeriums seine untergeordneten Dienststellen an, die illegale Tätigkeit der KSČ zu verfolgen und zu unterbinden.31 Bis zur Auflösung der KSČ nahm die offiziela národně osvobozenecký boj českého a slovenského lidu 1938–1945. Edice dokumentů.[Der antifaschistische und nationale Befreiungskampf des tschechischen und ­slowakischen Volkes 1938–1945. Dokumentenedition] (im Weiteren: PNOBČSL). I. díl, 3. svazek, 1. sešit, [1. Teil, 3. Bd., 1. Heft]. Praha 1985, S. 85–87, hier: S. 85. 28 Ebenda. 29 Vgl. Feierabend, Karel Ladislav: Politické vzpomínky I. Ve vládách druhé republiky (srpen 1938–březen 1939) [Politische Erinnerungen I. In den Regierungen der Zweiten Republik (August 1938‑März 1939)]. Brno 1994, S. 25. 30 Bei meinen Recherchen zu diesem Thema konnte ich praktisch keine detaillierte Studie zur Tätigkeit der KSČ nach dem Münchener Abkommen, einschließlich der Umstände ihrer Auflösung, entdecken. Eine Ausnahme bildet die Studie von Gebhart, Jan /Kuklík, Jan: Pomnichovská politika KSČ a její reflexe v Kominterně [Die Politik der KSČ nach dem Münchener Abkommen und ihre Reflexion in der Komintern]. In: Kárník, Zdeněk /Kopeček, Michal (Hg.): Bolševismus, komunismus a radikální socialismus v  Československu [Bolschewismus, Kommunismus und radikaler Sozialismus in der Tschechoslowakei], Bd. IV. Praha 2005, S. 55–76. 31 PNOBČSL, I,3,1, 103–104. Oběžník prezídia zemského úřadu v  Praze přikazující sledovat ­ilegální činnost Komunistické strany Československa a zakročovat proti ní [Rundschreiben des Präsidiums der Landesbehörde, die illegale Tätigkeit der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei zu verfolgen und gegen sie einzuschreiten]. 27 Protifašistický

422   Emil Voráček le Parteiführung ihre Aufgaben in gewohnter Art und Weise wahr, wobei ein Teil ihrer Spitzenfunktionäre jedoch bereits nach und nach die Republik verließ. Zugleich bereitete die Partei ihren Übergang in die Illegalität vor, der allerdings langsam von statten ging und erst während der Okkupation, das heißt im Laufe des Jahres 1939, abgeschlossen werden konnte.32 Die behördliche Auflösung der KSČ bedeutete, dass die Mandate der kommunistischen Parlamentsabgeordneten und Senatoren ihre Gültigkeit verloren. Bei ihnen allen führte die Polizei Hausdurchsuchungen durch. Gleichzeitig wurden schrittweise alle Betriebe, Genossenschaften – einschließlich der Konsumgenossenschaften – sowie alle weiteren von den Kommunisten gegründeten Institutionen aufgelöst. Das Verbot betraf auch all die zahlreichen Organisationen und Vereine, deren Tätigkeit unter dem Einfluss von Kommunisten stand. Verboten wurden demnach neben anderen der Jugendverband, der Verband der Freunde der UdSSR und die Föderation für proletarische Körpererziehung. Die Polizei führte darüber hinaus Ermittlungen durch, ob die Kommunisten nicht irgendwelche andersartigen Tätigkeiten entwickelten. Die Hausdurchsuchungen und Ermittlungen erbrachten in der Regel keinerlei Ergebnis. Einigen Berichten ist anzumerken, dass die mit ihnen befassten Polizisten sie als bloße lästige Dienstpflicht empfanden; in anderen Fällen legten die Polizeibeamten jedoch erstaunliche Aktivität an den Tag. Lange Zeit ermittelte die Polizei gegen den kommunistischen Abgeordneten Otto Synek, der der illegalen politischen Betätigung verdächtigt wurde (Zu Recht: Synek organisierte die Konstituierung der Ersten illegalen Führung der KSČ). Er wurde wenige Tage vor dem 15. März 1939 verhaftet.33 Die präventiven Polizeiaktionen kulminierten im böhmischen Landesteil der Republik am 14. und 15. Februar, in Mähren eine Woche später am 21. Februar 1939. In diesen Tagen führte die Polizei Hausdurchsuchungen bei ungefähr 2000 der bekanntesten Funktionäre der KSČ durch.34 Außer Propagandamaterial, einer Schreibmaschine sowie mehrerer Fahnen wurde jedoch nichts Nennenswertes beschlagnahmt. In einem Fall fand man eine Druckmaschine. Obwohl illegale kom32 Einer

Meldung der Landesbehörde in Prag zufolge beantragten bis zum 26. 10. 1938 ca. 29 Vertreter der KSČ eine Bewilligung zur Ausreise ins Ausland. Am 30. 11. 1938 meldete die Polizeidirektion in Prag, dass am gleichen Tag die Parlamentsabgeordneten Kopecký und Šverma sowie die Familie des Abgeordneten Gottwald vom Flughafen Růzyně aus abgereist seien. Sie flogen über Paris und Stockholm nach Moskau. NA, PMV, 225, 1055, 84, fol. 28–29, 29 Rückseite. 33 PNOBČSL I,3,4. 1939, 24. 2., Praha. Zpráva policejního ředitelství v Praze prezídiu zemského úřadu o zatčení poslance Otty Synka [Bericht der Polizeidirektion in Prag an das Präsidium der Landesbehörde über die Verhaftung des Abgeordneten Otto Synek], 57. 34 PNOBČSL I,3,4. 1939, 9. 2., Praha. Oběžník prezídia zemského úřadu v  Praze rozeslaný podřízeným úřadům o činnosti členů rozpuštěné KSČ, s  pokynem provést 13. 2. 1939 v ranních hodinách domovní prohlídky u všech bývalých komunistických funkcionářů a osob podezřelých z ilegální komunistické činnosti [Rundschreiben des Präsidiums der Landesbehörde in Prag gerichtet an die untergeordneten Behörden die Tätigkeit der Mitglieder der aufgelösten KSČ betreffend mit der Anweisung am 13. 2. 1939 in den frühen Morgenstunden bei allen ehemaligen kommunistischen Funktionären und der illegalen kommunistischen Tätigkeit verdächtigen Personen Hausdurchsuchungen durchzuführen], 3–4.

Die Tschecho-Slowakische Republik nach dem Münchener Abkommen   423

munistische Flugblätter häufig auftauchten, gelang es jedoch nicht, deren Autor zu ermitteln oder die Verwendung der gefundenen Druckmaschine bei deren Herstellung nachzuweisen. Die Polizeiberichte vermeldeten in ihrer Mehrheit, dass die kommunistische Partei im jeweiligen Bezirk sich in einer Krise befinde und ihre ehemaligen Mitglieder keinerlei weitere Tätigkeit entwickelten. Insbesondere die ehemaligen Funktionäre und Aktivisten würden sich völlig passiv verhalten (Nový Bydžov, Königgrätz/Hradec Králové – Hausdurchsuchungen bei 51 Personen, Leitomischl/ Litomyšl, Brandeis an der Elbe/Brandýs nad Labem – Hausdurchsuchungen bei 66 Personen, Kladno – bei 20 Personen usw.).35 Die Schlussfolgerung eines Polizeiberichts nach Hausdurchsuchungen bei 44 ehemaligen kommunistischen Funktionären und der illegalen Tätigkeit in dieser Partei verdächtigen Personen in Prag lautete: „Die Hausdurchsuchungen endeten mit einem überwiegend negativen Ergebnis und nur bei 4 Personen kam es zur Beschlagnahme von im ­Ganzen bedeutungslosem kommunistischen Schriftmaterial älteren Datums.“36 Ein ähnliches Ergebnis zeitigte die Durchsuchung der Räume, in denen vordem der Apparat des Zentralkomitees der KSČ siedelte. Dort fand man lediglich einige Tische, einen Kleiderständer und eine alte Schreibmaschine der Marke Underwood.37 Eine Reihe von Kommunisten trat auf einen entsprechenden Aufruf ihrer Führung hin der Nationalen Partei der Arbeit bei und bemühte sich, in deren Reihe bedeutende Positionen zu erlangen. Die KSČ vollzog in diesem Zeitraum schrittweise und relativ geordnet ihren Übergang in die Illegalität. Sie kam dabei den Anweisungen der Komintern nach, die die Entwicklung in der ehemaligen Tschechoslowakei aufmerksam verfolgte. Gewisse Erfahrungen mit der illegalen Arbeit besaß die Partei noch aus der Zeit ihrer halb-legalen Existenz in den Jahren 1933– 1934. Die Parteiführung suchte nach Möglichkeiten, legale und illegale Tätigkeiten miteinander zu verknüpfen. Im Großen und Ganzen gelang ihr das offenbar mit Erfolg. Den Übergang in die Illegalität organisierte im Rahmen der Anweisungen der Exekutive der Kommunistischen Internationale die neu gebildete erste illegale Führung der KSČ, an deren Spitze in der ersten Phase Emanuel Klíma, Viktor Synek, Jan Zika und Eduard Urx standen. Den Übergang der Partei in die Illegalität begleitete eine Vielzahl von Problemen, die bis zur Okkupation des Rests des tschechischen Teils der ehemaligen Tschechoslowakei am 15. März 1939 fortbestanden.38 35 PNOBČSL

I,3,4. Dok. Nr. 1102–1111. I,3,4. Dok. Nr. 112, 16. 37 NA, PMV, 225, 1055, 26, Fol. 83. 38 Beschluss des Sekretariats des EKKI zur tschechoslowakischen Frage und die Resolution des ZK der KP der Tschechoslowakei von 22. 2. 1939. Rossijskij gosudarstvennyj archiv socialno politiceskoj istorii, f. 495, o. 18, d. 1271. Vgl.: Gebhart/Kuklík: Pomnichovská politika KSČ a její reflexe v Kominterně. Hájková, Alena: Strana v odboji. Z dějin ilegálního boje KSČ v letech 1938–1942 [Die Partei im Widerstand. Aus der Geschichte des illegalen Kampfes der KSČ in den Jahren 1938–1942]. Praha 1975, S. 112–134. 36 PNOBČSL

424   Emil Voráček

Forschungsmöglichkeiten zur Untersuchung der ­öffentlichen Meinung Es ist nicht einfach festzustellen, welche Faktoren die öffentliche Meinung der tschechischen Bevölkerung nach dem Münchener Abkommen bestimmten. Welche Probleme empfand sie als die wichtigsten? Wie entwickelte sich die öffentliche Meinung und wie wirkten sich diese Veränderungen auf das politische Leben aus? Um eine gewisse verallgemeinernde Bewertung vornehmen zu können, müssen entsprechende Materialien aus den Regionen und den Gemeinden vorhanden sein und ausgewertet werden.39 Bei diesen Materialien handelt es sich vorrangig um sekundäre Quellen, das heißt um die Tagespresse und Zeitschriften. In ihnen spricht man vor allem von den Arbeitsaktivitäten und vom Bemühen, die Repu­ blik unter den gegebenen Bedingungen zu erneuern. Die regionale und lokale Presse übernahm die Hauptthesen der zentralen Presse sowie die Nachrichten der Tschechoslowakischen Presseagentur und weiterer Massenkommunikationsmittel (Rundfunk). Für die Aufklärung der Situation sind allerdings die konkreten Nachrichten aus den Regionen interessanter. Dies gilt in gewissem Maße auch für die Veränderungen des Profils und der Auswahl der Nachrichten in dem längeren Zeitraum vom Beginn des Jahres 1938 bis zum Ende des Jahres 1939. Eine möglicherweise wichtigere Quelle stellen die regelmäßigen Situationsberichte dar, die aus den einzelnen Kreisen an das Präsidium des Innenministe­riums geschickt wurden (über die Landespolizeiämter in Böhmen, Mähren und Schle­ sien). Ihr spezifischer Ursprung ist bei der Analyse zu berücksichtigen. Parallel hierzu wurden auch Berichte der Kreispolizeidirektionen an die genannten Landespolizeiämter geschickt.40 Wie wir feststellen mussten, sind die Berichte allerdings leider keineswegs komplett für alle Kreise erhalten geblieben. Es existieren auch keine kompletten Reihen für einzelne Orte. In einigen Fällen stehen dennoch einigermaßen vollständige Reihen für einzelne Orte (u. a. Chrudim und Pardubitz/Pardubice) zur Verfügung. Die entsprechenden Archivfonds der böhmischen Landespolizeidirektion umfassen ca. 800 Berichte für den Zeitraum vom Frühjahr 1938 bis zum Sommer 1939, was eine Datenbasis darstellt, die gewisse Verallgemeinerungen ermöglicht.41 Die Berichte weisen eine bestimmte, verbind39 Bekanntermaßen

führte man in dieser Zeit noch keine soziologischen Untersuchungen der öffentlichen Meinung durch. Die tschechischen Soziologen haben sich allerdings recht intensiv zum Münchener Abkommen geäußert, beispielsweise Inocenc Arnošt Bláha, Emanuel Chalupný und Weitere auf den Seiten der Zeitschrift Sociologická revue (Soziologische Revue). 40 NA, PMV, jednotlivé zprávy [Einzelne Berichte]. Detaillierte Informationen finden sich auch im Sonderfonds PMV 225. Diese Fonds wurden bereits von verschiedenen Forschern genutzt (insbesondere in den Arbeiten von Detlef Brandes), dennoch stellen sie eine bisher wenig beachtete Quelle dar. 41 Es handelt sich hierbei um die vom Autor dokumentierte Anzahl von Berichten. Sie betreffen nur Böhmen und teilweise Mähren. Die Sichtung des Materials ist bisher noch nicht abgeschlossen. Wir legen somit einen vorläufigen Forschungsbericht vor, einschließlich einiger Hypothesen.

Die Tschecho-Slowakische Republik nach dem Münchener Abkommen   425

liche Struktur auf; sie unterscheiden sich jedoch beträchtlich hinsichtlich ihrer Länge und der Sorgfalt, mit der sie verfasst worden sind. Grundsätzlich unterscheiden sich auch die Berichte aus dem „Binnenland“ von den Berichten aus denjenigen Kreisen, die nach dem Münchener Abkommen zum Grenzgebiet ­wurden. Die meisten Berichte spiegeln das Bewusstsein der verzweifelten Situation ­wider, in der sich die Bürger und die ganze Republik plötzlich befanden. Häufige Erwähnung finden die Äußerungen spontanen Widerstands gegen die Deutschen. Passagen über die Stimmungen in der Bevölkerung sowie über die Verbreitung von Gerüchten runden das Bild der gesellschaftlichen Atmosphäre der Zeit ab. Man kann drei spezifische Gebiete unterscheiden: das „neue Grenzgebiet“, das „Binnenland“ und die Hauptstadt Prag.

Berichte aus dem „Neuen Grenzgebiet“, dem ­Binnenland und Prag Beinahe dramatischen Umfang nahmen die Berichte aus den Kreisen an, die sich nunmehr im Grenzgebiet befanden. In einer Reihe von Orten in der Nähe der neuen Grenze fand sich die tschechische Zivilbevölkerung plötzlich ohne polizeilichen Schutz wieder (beispielsweise in Pilsen/Plzeň, Saaz/Žatec, Schlan/Slaný, Straschitz/Nové Strašecí, Melnik/Mělník, Deutschbrod/Německý Brod, Nachod/ Náchod, Iglau/Jihlava, Pilgram/Pelhřimov, Strakonitz/Strakonice und Kralup an der Moldau/Kralupy nad Vltavou). In diesen Ortschaften war die tschechische Bevölkerung oftmals regelmäßigen Provokationen und Angriffen von Seiten einzelner sudetendeutscher Kampfverbände aus dem Reich oder aber den Provoka­ tionen der „eigenen“ Deutschen ausgesetzt, das heißt von Deutschen, die bisher noch tschechoslowakische Staatsbürger waren. Die Stimmung in solchen Gebieten war über den gesamten untersuchten Zeitraum hinweg gedrückt. In vollem Umfange bestätigen die Berichte die bekannte Tatsache, dass die dem National­ sozialismus positiv gegenüber stehenden Deutschen unter diesen Umständen weiterhin als „Fünfte Kolonne“ wirkten. Eine Reihe von Berichten z. B. aus Kralup an der Moldau, spricht über anhaltende Spannungen in der Stadt.42 Die Berichte aus den Kreisen im „Binnenland“, wie beispielsweise aus Pardubitz/Pardubice, Chrudim, Beraun/Beroun, Dobříš, Hořovice, Kolín, Podiebrad/ Poděbrady, Nový Bydžov, Königgrätz, Hohenmauth/Vysoké Mýto, Blatná, Kutten­ berg/Kutná Hora, Milevsko, Tábor, Pelhřimov, Říčany und andere, sind im Geiste einer (möglicherweise nur scheinbaren) raschen Beruhigung der politischen Spannungen verfasst, insbesondere nach der Wahl des neuen Präsidenten. Die Berichte aus der Hauptstadt Prag reflektieren das tiefere Bewusstsein der schweren Situation, in der sich der Staat und die einzelnen Bürger befanden, und 42 NA, PMV, 225, 1010, 4, fol. 120–121. Zpráva

okresního úřadu v Kralupech n. Vltavou [Bericht der Bezirksbehörde in Kralupy an der Moldau]. 4. 1. 1939.

426   Emil Voráček verleihen zugleich den Forderungen nach einer schnellen Lösung der inneren Probleme Ausdruck. Welche Momente tauchen in den Berichten am häufigsten auf? Wie entwickelte sich die öffentliche Meinung? Neben der Betonung der bedrückenden Situation nach der Okkupation der Kreise im ehemaligen Grenzgebiet der Tschechoslowakischen Republik, widmen die Berichte der sich überall manifestierenden Unterstützung bis hin zum Druck der Öffentlichkeit in Richtung auf die Vereinfachung des politischen Systems große Aufmerksamkeit und gehen auf die Reduzierung der Anzahl der politischen Parteien ein. Aus den Polizeiberichten ist mitunter die Tendenz zur Unterstützung der Partei der Nationalen Einheit zu spüren. Den Meldungen nach herrschte im überwiegenden Teil der Kreise die Zustimmung zur Wahl Emil Háchas zum Präsidenten der Republik vor. Die Bevölkerung erwartete von ihm, dass er Ruhe und Ordnung sowie eine gedeihliche Entwicklung des Landes garantiert. Die Polizeiberichte erwähnen die schwierige wirtschaftliche Situation, im Winter insbesondere die Schwierigkeiten mit der Bereitstellung von Brennstoffen. Neben der allgemein schwierigen wirtschaftlichen Situation widmen sich die Berichte den Bemühungen um die Organisation von Hilfsmaßnahmen für die Flüchtlinge aus den Grenzgebieten, von denen in jedem Kreis ­einige Hunderte bis einige Tausende lebten. Die Berichte erfassen die Zahlen der Flüchtlinge und die Maßnahmen, die zu ihrer Unterstützung ergriffen wurden. Aus einer Reihe von Kreisen (etwa einem Drittel) wird jedoch gemeldet, dass sie sich außerstande sehen, weitere Flüchtlinge aufzunehmen.43 Die Polizeiberichte enthalten verbindliche Informationen über die Haltung der Bevölkerung gegenüber den Juden. Beinahe regelmäßig ist in diesem Zusammenhang von Äußerungen des Antisemitismus die Rede.44 Mitunter finden sich auch Beschreibungen von Übergriffen auf jüdische Bürger,45 wobei die nachgeordneten Polizeiorgane ihrer Erwartung Ausdruck verliehen, dass diese Situation einer raschen Lösung zugeführt werden wird. In einem Bericht aus Jungbunzlau/Mladá Boleslav vom November 1938 heißt es: „Die Frage der Emigration wird lebhaft diskutiert, genauso wie die jüdische Frage. Der Antisemitismus nimmt zu. Er verschafft sich zwar bisher lediglich durch Aufkleber mit gemäßigtem Inhalt Luft, 43 Vergleiche

hierzu eine Reihe von Berichten aus dem Kreis Kolín, 27. 11. 1938. NA, PMV, 225, 21, 3, fol. 44. 44 Vgl.: Soukupová, Blanka: Čeští židé mezi Mnichovem a 15. březnem 1939 [Die tschechischen Juden zwischen München und dem 15. März 1939]. In: Židovská menšina za druhé republiky. Sborník přednášek z  cyklu ve Vzdělávacím a kulturním centru Židovského muzea v  Praze v  lednu až červnu 2007 [Die jüdische Minderheit während der Zweiten Republik. Sammelband der Vorlesungen im Rahmen der im Bildungs- und Kulturzentrum des Jüdischen Museums in Prag vom Januar bis Juni 2007 veranstalteten Vorlesungsreihe]. Redaktionelle Bearbeitung: Pojar, Miloš/Soukupová, Blanka/Zahradníková, Marie. Praha 2007, S. 84–98. 45 Zu Angriffen auf jüdische Mitbürger kam es in einer Reihe von kleineren und größeren Orten, u. a. in Polná, Hradec Králové, Chrudim und Mladá Boleslav. Vgl.: Protižidovské akce v Hradci Králové. Prezidium zemského úřadu v Praze prezidiu ministerstva vnitra [Antijüdische Aktion in Hradec Králové. Präsidium der Landesbehörde in Prag an das Präsidium des Innenministeriums], 14. 2. 1939. In: NA, PMV, 225, 1323, 4, Fol. 083–086.

Die Tschecho-Slowakische Republik nach dem Münchener Abkommen   427

aber es besteht die ernstliche Gefahr, dass es – wenn man in der Judenfrage nichts unternimmt – zu Ausschreitungen kommen kann […].“ Die Meinung eines Teils der Öffentlichkeit tendierte zu der Erwartung, dass ein Großteil der Juden aus der Republik ausgesiedelt werde.46 Zu den schwerwiegendsten und wiederholten Angriffen auf jüdische Bürger kam es offenbar in Königgrätz, wobei die Intensität der Übergriffe eine gewisse Entwicklung durchlief. Zunächst handelte es sich um antijüdische Flugblätter, später um das Zerschlagen von Fensterscheiben und Auslagen von Geschäften, um Übergriffe auf die Synagoge (Werfen von Feuerwerkskörpern), aber auch um offene Drohungen und physische Gewalt, insbesondere gegenüber jüdischen Rechtsanwälten. Darüber hinaus wurden auch tschechische Bürger bedroht, sofern sie bei einem jüdischen Händler einkaufen wollten. Den Berichten zufolge nahm die Intensität der Übergriffe am Ende des Jahres 1938 ab, um mit Beginn des Februar 1939 wieder anzuwachsen. Zugleich wurde die Forderung erhoben, die „jüdische Frage“ beschleunigt einer Lösung zu zuführen. Wer stand hinter diesen Übergriffen? Den Polizeiberichten zufolge waren vor allem die Mitglieder des radikalen Flügels der Jungen Nationalen Einheit Urheber dieser Ereignisse (so in Königgrätz). Die Mitglieder dieser radikalen, extrem na­ tionalistisch orientierten Gruppierung rekrutierten sich nicht selten aus den ­Reihen der ehemaligen Organisation „Vlajka“.47 Besondere Beachtung findet in den Berichten die einzige aufgelöste politische Partei, die Kommunistische Partei der Tschechoslowakei. Die erdrückende Mehrheit der polizeilichen Meldungen charakterisiert die Kommunisten als politisch passiv und ohne Einfluss. Eine ganze Reihe lokaler Polizeibeamter bewertet die Situation beinahe übereinstimmend mit dem Kreishauptmann in Pardubitz, der in einem Bericht Anfang 1939 schreibt: „Die Auflösung der kommunistischen Partei wird von der Bevölkerung mit Genugtuung aufgenommen, obwohl die ehemalige kommunistische Partei im Kreis schon beinahe nicht mehr existierte und sich schon früher freiwillig selbst liquidiert hatte. Die ehemaligen Angehörigen der kommunistischen Partei entwickelten daher im Monat Dezember überhaupt keine Tätigkeit.“48 An dieser Stelle bietet sich die Frage an, wie es den Kommunisten in den nachfolgenden sechs schweren Jahren gelingen konnte, einen großen Teil der Bevölkerung auf ihre Seite zu ziehen, wenn sich die öffent­ liche Meinung in den schwierigsten Monaten der Existenz der Republik auf solch eindeutige Art und Weise von ihnen distanzierte. Zu Beginn des Jahres 1939 nehmen die Meldungen über Übergriffe auf die jüdische Bevölkerung ab. Dafür steigt die Anzahl der Meldungen über die Erwartung eines kriegerischen Konflikts im Frühjahr 1939 sprunghaft an. Die wirtschaftliche Entwicklung betrachtet man als 46 18. 11. 1938.

Situace v obvodu odd. Mladá Boleslav [Situation im Bereich der Behörde Jungbunzlau]. NA, PMV, 225, 1010, 4, Fol. 27–29, hier 27. 47 NA, PMV, 225, 1323, 4, Fol. 083–086, 14. 2. 1939. Prezidium zemského úřadu v Praze [Präsi­ dium der Landesbehörde in Prag]. 48 NA, PMV, 225, 1055, 27, Fol. 32, 4. 1. 1939, Okresní úřad v Pardubicích, Situační zpráva [Kreisbehörde in Pardubitz, Situationsbericht].

428   Emil Voráček im Prinzip ruhig, verständlicherweise mit einer Reihe lokaler Ausnahmen (beispielsweise das dramatische Absinken der Produktion in der Firma „Explosia“ und damit das Ansteigen der Arbeitslosigkeit in der Ortschaft Semtín an der Peripherie von Pardubitz). Zugleich mehren sich die Berichte über eine zunehmende Aktivität des organisierten deutschen Separatismus, insbesondere in den Orten nahe der neuen Grenze. Brennpunkte des deutschen Separatismus waren vor allem die großen städtischen Agglomerationen (Pilsen), aber auch eine Reihe kleinerer Ortschaften (Deutschbrod, Iglau u. a.).49 Die Mehrheit der Berichte widmet sich nichtsdestoweniger den Alltagssorgen, der Versorgungslage, der drohenden Arbeitslosigkeit. In einer Zeit ununterbrochener Aufrufe der gesamtstaatlichen, aber auch regionalen Tagespresse zu staatsbürgerlicher Aktivität, scheinen die Informationen der Polizeibehörden eher von wachsendem Desinteresse der Bürger an jeglicher politischer Betätigung Zeugnis abzulegen. Der Bericht des Kreisamtes in Pardubitz (Ostböhmen) stellte am 4. Januar 1939 fest: „Die Mehrheit der Bevölkerung findet sich unter dem Eindruck der Notwendigkeit langsam mit unserem im Ergebnis des Münchener Abkommens eingetretenen nationalen Unglück ab. Allerdings erträgt sie es recht schwer, was sich vor allem im gesellschaftlichen Leben zeigt. Im Übrigen blickt die Bevölkerung mit Vertrauen der Zukunft entgegen und glaubt, dass die Regierung überall eingreifen wird, wo dies zum Nutzen der breitesten Bevölkerungsschichten rasch und gerechterweise erforderlich ist.“50

Es scheint, dass in der Stimmung der Bevölkerung und in der öffentlichen Meinung im Zeitraum kurz vor dem Einfall der Armeen des Dritten Reiches in das restliche Territorium der Tschecho-Slowakei und kurz vor der Ausrufung des eigenständigen slowakischen Staates Mitte März 1939 düstere Töne vorherrschten, aber die Menschen zugleich der Überzeugung waren, dass die Republik diese schweren Zeiten überwinden wird.

49 NA,

PMV, 225, 1055, 27, Fol. 101–112 (einschließlich der Rückseiten, insgesamt 22 Seiten). Zpráva o činnosti politických stran a politické situaci vůbec v obvodu policejního ředitelství v Plzni za měsíc leden 1939 [Bericht über die Tätigkeit der politischen Parteien und die politische Situation überhaupt im Bereich der Polizeidirektion in Pilsen für den Monat Januar 1939]. 2. 2. 1939, Plzeň. 50 NA, PMV, 225, ebenda.

Joachim Tauber

Deutschland, Litauen und das Memelgebiet 1938/39 Am 25. November 1938 hielt der Vortragende Legationsrat Werner von Grundherr, Referent des Auswärtigen Amtes für Skandinavien und die Baltischen Staaten, in einer internen Aufzeichnung fest: „Besonders unter dem Eindruck Zusammenbruchs der Beneschpolitik bei litauischer Regierung wachsende Unsicherheit und Erkenntnis außenpolitischer Isolierung Litauens.“1 In der Tat war die Unruhe in Kaunas nur zu verständlich, ähnelte doch die Ausgangslage im Sudetenland frappierend der eigenen Situation im Memelgebiet: Hier wie dort existierte eine volksdeutsche Minderheit, die sich in hohem Maße auf das Deutsche Reich hin orientierte. Die nationalsozialistische Unterwanderung der Institutionen der beiden Volksgruppen, die für die Memeldeutschen erstmals 1957 von Martin Broszat untersucht wurde,2 schuf die Voraussetzung für eine Instrumentalisierung der Minderheiten. Unter diesen Umständen war es nicht ausgeschlossen, dass es zu einem zweiten „München“ über das Memelgebiet kommen konnte. Das nördlich der Memel gelegene Gebiet (ca. 2565 km2, rund 140 000 Einwohner) war aufgrund des Artikels 99 des Versailler Vertrages vom Deutschen Reich abgetreten worden und wurde 1923 nach einem kurzen Zwischenspiel unter französischer Verwaltung der Souveränität Litauens unterstellt, das sich des Memellandes durch einen Handstreich bemächtigt hatte.3 Da das Gebiet mit dem Memelstatut (garantiert durch die Signatarmächte der Memelkonvention Frankreich, Großbritannien, Italien und Japan) besondere Autonomierechte, darunter eine eigene parlamentarische Repräsentanz, den Memelländischen Landtag, erhielt, wurde der deutsch-litauische Konflikt um das Memelgebiet, der sich spätestens mit Beginn der 1930er Jahre deutlich abzeichnete, zu einer Auseinandersetzung um die Autonomiebestimmungen. Eine zentrale Voraussetzung dabei war, dass bei den demokratischen Wahlen zum Memelländischen Landtag die deutsch orientierten Parteien immer über eine klare Zwei-DrittelMehrheit verfügten. Ohne das deutsche Generalkonsulat in Memel (Klaipėda) wurden daher keine politischen Entscheidungen getroffen – und es kam zu der paradoxen Situation, dass ausgerechnet das nationalsozialistische Deutschland

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Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes (im Folgenden: PA/AA). R 28870 Büro Reichs­ außenminister, Akten betreffend Litauen, Bl. 86. „Die Memelfrage“ vom 25. November 1938. 2 Vgl. Broszat, Martin: Die memeldeutschen Organisationen und der Nationalsozialismus 1933–1939. In: VfZ 5 (1957), S. 273–278. 3 Vgl. zur französischen Phase Schröder, Christian-Alexander: Die Entstehung des „Territoire de Memel“ und die Pläne der französischen Administration (1919–1923). In: Nordost-Archiv Neue Folge X (2001), S. 45–74.

430   Joachim Tauber sich zum Verfechter einer demokratisch legitimierten Ordnung in Memel aufschwang.4 Der Nationalsozialismus hatte auch in Memel seit Anfang der 1930er Jahre relativ rasch Fuß gefasst. Daran änderte auch ein auf dem Kriegsrecht fußendes Verbot der nationalsozialistischen Parteien im Memelgebiet durch den litauischen Gouverneur Ende 1933/Anfang 1934 nichts. Ende der 1930er Jahre war die litauische Position in Memel mehr oder weniger hoffnungslos – und die nationalsozialistischen Umtriebe nahmen immer mehr zu.5 Allein das Kriegsrecht, das in ganz Litauen galt, verhinderte ein offenes Auftreten der Nationalsozialisten. Die deutsche Diplomatie verstärkte im März 1938 den Druck auf Litauen, indem man eine Verbesserung der Beziehungen von der Erfüllung der Forderungen eines elf Punkte umfassenden Beschwerdekatalogs abhängig machte, an dessen erster Stelle die Aufhebung des Kriegsrechts stand.6 Bereits der Zeitpunkt der Übergabe der elf Punkte zeigte, dass die Memelfrage immer deutlicher der weltpolitischen Konjunktur unterlag: Nicht nur der „Anschluss“ Österreichs, sondern vor allem das polnische Ultimatum an Litauen waren die Auslöser zur Verhärtung der deutschen Position. Warschau hatte einen Grenzzwischenfall ausgenutzt, um Litauen am 17. März 1938 zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu zwingen, die Kaunas bislang vermieden hatte, um der eigenen Forderung nach Vilnius, das Litauen im Oktober 1920 manu militari von Polen entrissen worden war, Nachdruck zu verleihen.7 Durch das polnische Vorgehen im März 1938 hatte der litauische Außenminister Stasys Lozoraitis das Scheitern seiner Politik erleben müssen. In einem grundlegenden Memorandum vom April 1935 hatte Lozoraitis festgehalten, dass Li­tauen vom nationalsozialistischen Deutschland weit größere Gefahr als vom autoritären Regime in Polen drohe. Für die Annäherung an Polen hatte der Außenminister die griffige Formel geprägt „Die Unabhängigkeit ist wichtiger als Vilnius“.8 Doch führ4

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Vgl. neben der soliden, aber inzwischen veralteten, ausschließlich auf deutschen Quellen beruhenden Monographie: Plieg, Ernst-Albrecht: Das Memelland 1920–1939. Deutsche Autonomiebestrebungen im litauischen Gesamtstaat. Würzburg 1962. Vor allem das unter dem Titel „Im Wandel der Zeiten: Die Stadt Memel im 20. Jahrhundert“ erschienene Nordost-Archiv Neue Folge X (2001). Die litauische Perspektive bei Žalys, Vytautas: Ringen um Identität. Warum Litauen zwischen 1923 und 1939 im Memelgebiet keinen Erfolg hatte. Kova dėl identiteto. Kodėl Lietuva nesisekė Klaipėdoje tarp 1923–1939 m. Lüneburg 1993 (zweisprachige Ausgabe), passim. Vgl. dazu Tauber, Joachim: Das Dritte Reich und Litauen. In: Pelc, Ortwin/Pickhan, Gertrud (Hg.): Zwischen Lübeck und Nowgorod. Wirtschaft, Politik und Kultur im Ostseeraum vom frühen Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert. Lüneburg 1996, S. 477–496. Vgl. Akten zur deutschen auswärtigen Politik (im Folgenden: ADAP) D:, Bd. V, Nr. 340. Zur Übergabe vgl. ebenda, Nr. 341. Die Deutschen wurden übrigens von der polnischen Regierung während der ganzen Krise umfassend informiert. Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass Außenminister Ribbentrop litauische Anfragen um Unterstützung abschlägig beschied und den Litauern zur Annahme des „gemäßigten“ Ultimatums riet. Vgl. ADAP D:, Bd. V, Nr. 321–339. „Nepriklausomybė svarbiau už Vilnių“. Zit. nach Žalys, Vytautas/Lopata, Raimundas/Laurinavičius, Česlovas (Hg.): Lietuvos Diplomatija XX amžiuje [Die Diplomatie Litauens im 20. Jahrhundert]. Vilnius 1999, S. 20.

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ten die informellen und inoffiziellen litauisch-polnischen Sondierungen nicht zu substantiellen Gesprächen; das polnische Ultimatum, das Litauen zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwang, bedeutete zugleich das Ende des „Neuen Kurses“.9 Auch die im Herbst 1934 vereinbarte Zusammenarbeit der baltischen Staaten war nur höchst mittelbar eine Stärkung der Position Litauens. Nach einigen Vorgesprächen zwischen den drei Vertragspartnern kam es schließlich zu dem Vertrag über „Freundschaft und Zusammenarbeit“, der am 12. September 1934 in Genf beim Völkerbund unterzeichnet wurde. Im Artikel 1 vereinbarten die baltischen Staaten zwar eine Zusammenarbeit in der Außenpolitik und gegenseitige Unterstützung in internationalen Angelegenheiten, aber im Artikel 3 wurde festgehalten, dass Litauens „spezifische Probleme“ nicht unter den Artikel 1 fielen. Mindestens zweimal im Jahr sollten sich die Außenminister zu Gipfelgesprächen treffen, die Auslandsvertretungen eng zusammenarbeiten. Dem Vertrag konnten weitere Staaten beitreten, wenn alle drei(!) baltischen Staaten dem zustimmten.10 Weitgehend unbekannt ist, dass Lettland und Estland in einem vertraulichen Protokoll erklärten, dass unter „spezifischen Problemen“ nur die Vilniusfrage zu verstehen sei.11 Bereits in den lettisch-estnischen Vorgesprächen zum Treffen in Kaunas herrschte Einigkeit, dass die nationalsozialistischen Aktivitäten im ­Memelgebiet auch eine Bedrohung für die eigenen Länder darstellten, weswegen man Litauen unterstützen müsse.12 Dieses Engagement, von dem Riga und ­Tallinn indes bereits ab 1935 wieder Abstand nahmen,13 erleichterte Litauen die Zustimmung zum Vertrag.14 Die Bedeutung der Baltischen Entente wird in der Historiographie übereinstimmend als gering bezeichnet. Sie sei „weak and helpless“15 gewesen, es habe sich um ein „moribund“16 Bündnis gehandelt, das sich nur auf „mutual consul­ tation“17 beschränkt habe. In der Tat ist die Bezeichnung „Entente“ 18 eher propa  9 Ausführlich

zu den polnisch-litauischen Kontakten Žalys/Lopata/ Laurinavičius (Hg.): Diplomatija, S. 35–65. 10 Vgl. Feldmanis, Inesis/Stranga, Aivar: The Destiny of the Baltic Entente 1934–1940. Riga 1994, S. 31. 11 So richtig Feldmanis: Destiny, S. 31. 12 Vgl. Feldmanis: Destiny, S. 30. Der lettische Außenminister Wilhelm Munters schrieb in sein Tagebuch, Memel sei von „vitalem Interesse“ für die Baltischen Staaten. Ebenda. 13 In einem Gespräch im November 1937 entgegnete der estnische Gesandte in Kaunas dem ­litauischen Außenminister Lozoraitis auf dessen Klarstellung, im Falle eines Angriffs auf ­Memel werde Litauen „bis zum Ende kämpfen“, ungerührt, keine Nation werde auch „nur einen Finger heben“, um Litauen zu helfen. Vgl. Feldmanis: Destiny, S. 87. 14 Vgl. Feldmanis: Destiny, S. 30 f. 15 Feldmanis: Destiny: S. 84. 16 Eidintas, Alfonsas/Žalys, Vytautas: Lithuania in European Politics. The Years of the First Republic, 1918–1940. New York 1998, S. 154. 17 Anderson, Edgar: The Baltic Entente 1914–1940 – Its Strength and Weakness. In: Hiden, John/ Loit, Aleksander (Hg.): The Baltic in International Relations between the Two World Wars. Stockholm 1988, S. 93. 18 Der estnische Außenminister Selter schockierte beim 9. Außenministertreffen im Februar 1939 in Kaunas seine Kollegen, als er den Begriff „Baltische Entente“ als „irreführend und

432   Joachim Tauber gandistisch zu werten, denn weder wurde eine wirtschaftliche noch gar eine militärische Zusammenarbeit vereinbart bzw. erreicht, und die regelmäßigen Außenministertreffen sollten sich bald als Pflichtübungen entpuppen, von denen keine neuen Ansätze ausgingen.19 Die entscheidende Schwäche der Baltischen Entente lag in den völlig unterschiedlichen Bedrohungsperzeptionen der baltischen Staaten. Während Estland vor allem in der Sowjetunion eine potentiell aggressive Macht sah, unterhielt Kaunas außergewöhnlich gute Beziehungen zu Moskau. Vice versa galt Estland als der „polnische Freund“ unter den Balten, was dem antipolnischen Grundkonsens der litauischen Politik diametral entgegenstand. Und die Letten fühlten sich sowohl von Moskau als auch Berlin bedroht. Im Herbst 1938 befand sich Litauens Außenpolitik somit in einer prekären Lage. Der zunehmenden Bedeutungslosigkeit des Völkerbundes und der mit ihm verbundenen „Politik der kollektiven Sicherheit“ suchte das Land mit einer Betonung der eigenen Neutralität im Falle eines europäischen Konfliktes zu begegnen. Obwohl sich die Krise des Völkerbundes bereits zu Beginn der 1930er Jahre klar abgezeichnet und spätestens die Abessinienkrise im Jahre 1935 das Ende des Systems der kollektiven Sicherheit bedeutet hatte, war Litauens Politik (wie auch die der anderen beiden baltischen Staaten) noch bis 1938 auf den Völkerbund ausgerichtet. Zwar hatte Außenminister Lozoraitis bereits 1935 über die Alternative einer strikten Neutralität nachgedacht, doch glaubte er noch immer, in der Genfer Staatengesellschaft, deren Reform er vehement vertrat, die litauische Unabhängigkeit am besten gesichert zu sehen.20 Bei den regelmäßigen Treffen der baltischen Außenminister wurde bis 1938 das Vertrauen in den Völkerbund geradezu ostentativ betont. Die Neutralitätspolitik Litauens stand zwangsläufig im Gegensatz zu den Bestimmungen der Völkerbundssatzung, die im Artikel 16 immerhin gegen einen Aggressor Sanktionen der Völkerbundsmitglieder vorsah, die bis zu militärischen Maßnahmen reichen konnten.21 Doch aus Sicht von Kaunas hatte sich spätestens unerwünscht“ bezeichnete. Vgl. Anderson: Baltic Entente, S. 90. Schon zuvor, im Dezember 1938, hatte Selters litauischen Diplomaten die „Meinung aller Esten“ zur Memelfrage verdeutlicht: „Memel sei für Litauens Existenz gefährlich, behindere die ruhige und normale Entwicklung des litauischen Volkes und Staates und verschlinge zahlreiche Gelder. Zudem verstärke die Frage das Unsicherheitsgefühl Estlands und anderer Kleinstaaten und bedrohe auch deren Unabhängigkeit. Selters empfahl der litauischen Regierung nachdrücklich, das Problem mit Deutschland ‚endgültig zu regeln‘.“ Žalys, Vytautas: Das Memelproblem in der litauischen Außenpolitik (1923–1939). In: Nordost-Archiv Neue Folge II (1993), Heft 2, S. 271. 19 Zu den Treffen vgl. vor allem Anderson: Baltic Entente, S. 82 ff. 20 Vgl. Gaigalaitė, Aldona: Stasio Lozoraičio politinė veikla dėl Lietuvos nedalomumo, taikos ir saugumo [Die Politik von Stasys Lozoraitis für die Unteilbarkeit Litauens, für Frieden und Sicherheit]. In: Česonis, Alfonsas, Lietuvos užsieno reikalų Ministrai 1918–1940 [Die Außenminister Litauens 1918–1940]. Kaunas 1999, S. 331 ff. 21 Die entscheidenden Passagen lauten: „Schreitet ein Bundesmitglied… zum Kriege, so wird es ohne weiteres so angesehen, als hätte es eine Kriegshandlung gegen alle anderen Bundesmitglieder begangen. Diese verpflichten sich, unverzüglich alle Handels- und Finanzbeziehungen

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während des polnischen Ultimatums an Litauen, als das Land allein gestanden war, die Nutzlosigkeit der Politik der „Kollektiven Sicherheit“ in aller Deutlichkeit erwiesen. Geradezu folgerichtig war während des Treffens der Staaten der Baltischen Entente vom 10. bis 12. Juni 1938 beschlossen worden, bei der nächsten Sitzung des Völkerbundes Mitte September die Suspendierung des Artikels 16 zu verkünden. Das ostentative Abrücken von den Prinzipien des Völkerbundes und der kollektiven Sicherheit just auf dem Höhepunkt der Sudentenkrise stellt ­sicherlich keinen Meilenstein der baltischen Außenpolitik dar.22 Damit war der Schwenk zu einer Neutralitätsgesetzgebung vollzogen, womit auch die baltischen Staaten offiziell jegliche Hoffnung auf eine internationale Friedenssicherung aufgaben.23 Es ist daher keineswegs zufällig, dass Außenminister Lozoraitis auf dem Höhepunkt der Sudetenkrise, am 29. September 1938, kein Hehl aus der ­Position seines Landes machte. Die Satzung des Völkerbundes interpretierte Lozoraitis in einer öffentlichen Rede dahingehend, dass Kaunas sich jederzeit vorbehalte, inwieweit es im konkreten Fall den Bestimmungen des Artikels 16 nachkommen werde.24 Als wie bedrohlich die litauische Politik die Lage einschätzte, geht aus einem Detail hervor: Nachdem in diplomatischen Kreisen die Reise Chamberlains nach Deutschland bekannt geworden war, erhielt der litauische Gesandte in London den Auftrag, beim Foreign Office zu erwirken, dass der Premierminister zumindest nicht von sich aus auf Memel zu sprechen komme.25 Vor dieser bereits an­ gespannten Atmosphäre waren die Rückwirkungen von München unmittelbar zu spüren: am 15. Oktober 1938 erkundigte sich der litauische Gesandte in Berlin Jurgis Šaulys bei Werner von Grundherr über dessen Meinung zur „Angelegenheit Tschechei“. „Die Frage“, so der deutsche Diplomat, „gab mir erwünschte Gelegenzu ihm abzubrechen, ihren Staatsangehörigen jeden Verkehr mit den Staatsangehörigen des vertragsbrüchigen Staates zu untersagen und alle finanziellen, Handels- und persönlichen Verbindungen zwischen den Staatsangehörigen dieses Staates und jeden anderen Staates, gleichviel ob Bundesmitglied oder nicht, abzuschneiden… In diesem Falle ist der Rat verpflichtet, den verschiedenen beteiligten Regierungen vorzuschlagen, mit welchen Land-, Seeoder Luftstreitkräften jedes Bundesmitglied für sein Teil zu der bewaffneten Macht beizutragen hat, die den Bundesverpflichtungen Achtung zu verschaffen bestimmt ist.“ Die Bundesmitglieder „…veranlassen alles Erforderliche, um den Streitkräften eines jeden Bundesmitglieds, dass an einem gemeinsamen Vorgehen zur Wahrung der Bundesverpflichtungen teilnimmt, den Durchzug durch ihr Gebiet zu ermöglichen.“ Vgl. http://www.documentarchiv.de/wr/ vv01.html. [02. 08. 2012] 22 Vgl. Laurinavičius, Česlovas: The Baltic States between the World Wars: Foreign Policy Options and the Problem of Neutrality In: Goehrke, Carsten/Ungern-Sternberg, Jürgen von (Hg.): Die baltischen Staaten im Schnittpunkt der Entwicklungen. Vergangenheit und Gegenwart. Basel 2002, S. 121–132, hier S. 127. Die Initiative zur Entwertung des Artikels 16 war von Estland ausgegangen. 23 Vgl. Anderson: Baltic Entente, S. 85 ff. Am 10. Januar 1939 verabschiedete Litauen offiziell ein Neutralitätsgesetz. 24 Škirpa, Kazys: Lietuvos nepriklausomybės sutemos (1938–1940). Atsiminimai ir dokumentai [Die Dämmerung der Unabhängigkeit Litauens (1938–1940). Erinnerungen und Dokumente. Chikago und Vilnius 1996, S. 113. 25 Vgl. Gaigalaitė: Lozoraičio, S. 315.

434   Joachim Tauber heit, durch Kritik an der kurzsichtigen tschechischen Politik der letzten Jahre indirekt auch die litauische Politik gegenüber dem Memelland und gegenüber Deutschland zu kritisieren. Ich habe Herrn Saulys gesagt, es sei im Interesse einer Befriedung Europas erfreulich, dass ohne bewaffneten Konflikt das Selbstbestimmungsrecht der Sudetendeutschen seine internationale Anerkennung gefunden habe. Es sei meiner Ansicht nach bedauerlich, dass eine solche Selbstverständlichkeit wie dieses Selbstbestimmungsrecht für 3 ½ Millionen Deutsche sich nicht leichter und früher habe durchsetzen lassen, sondern dass erst unsere nachdrückliche Politik nötig war […] Ich habe der Meinung Ausdruck gegeben, dass nach Bereinigung der sudetendeutschen Frage unser Verhältnis zur Tschechei ein ganz anderes werde, da man dort jetzt wohl einzusehen beginne, dass eine einseitige aussenpolitische Orientierung Prags nach Moskau-Paris-Genf nicht unbedingt glücksbringend sei.“26 Der Druck auf die Litauer wurde von Berlin aus erhöht, indem von Grundherr ein Telefonat mit dem deutschen Gesandten in Kaunas, Erich Zechlin, führte, dessen einziger Grund die Überzeugung war, dass litauische Stellen es abhören würden. In diesem Gespräch betonte von Grundherr, Prag ­ziehe jetzt wohl die Konsequenzen aus den Ereignissen der letzten Monate und orientiere sich nach Deutschland. Die dortige Führung habe offensichtlich den Weitblick und den Mut für einen solchen politischen Wechsel.27 Der deutlichen deutschen Hinweise hätte es sicherlich nicht bedurft, um der litauischen Regierung die bedrohliche Lage vor Augen zu führen. Aus litauischer Sicht musste zudem besonders bedenklich erscheinen, dass Polen im unmittelbaren Anschluss an die Münchener Vereinbarungen die Tschechoslowakei zur Abtretung des Teschener Gebiet gezwungen hatte. Man entschloss sich daher zu dem ungewöhnlichen Schritt, alle diplomatischen Vertreter des Landes in Europa zu einer Besprechung vom 20. bis 22. Oktober nach Kaunas zu bestellen. Derartige Konferenzen hatten bislang nur zweimal, nämlich 1923 und 1935, stattgefunden.28 Ein offizielles Kommuniqué betonte, Gerüchte über irgendeine Bedrohung Litauens seien völlig aus der Luft gegriffen, die Lage des Landes sei stabil und die Neutralitätspolitik, die Litauen zusammen mit Lettland und Estland eingeschlagen habe, sei ein Garant dieser Stabilität.29 Doch eben die Münchener Erschütterungen stellten den gerade erst eingeschlagenen Neutralitätskurs in Frage. Zumindest der litauische Gesandte in Berlin, Kazys Škirpa, vertrat die Meinung, ­Litauen müsse sich jetzt zwischen seinen drei Nachbarn Sowjetunion, Polen und dem Deutschen Reich entscheiden, sonst werde es den Interessen dieser Staaten geopfert werden.30 Da zudem allen klar war, dass die eigene Position im Memelgebiet durch München weiter dramatisch geschwächt worden war, blieb Kaunas wenig Spielraum. 26 PA/AA

R 28870 Bl. 38: Aufzeichnung des Vortragenden Legationsrates von Grundherr vom 15. Oktober 1938. 27 PA/AA R 104631 VI Rd, unpaginiert. Aufzeichnung von Grundherr vom 14. Oktober 1938. 28 Vgl. Škirpa: Sutemos, S. 112. 29 Abgedruckt bei Škirpa: Sutemos, S. 113. 30 Vgl. Škirpa: Sutemos, S. 113 f.

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Folglich gab es bei dem Treffen keinen Widerspruch gegen ein Nachgeben und eine Erfüllung der deutschen Forderungen. Das einzige Essential, das man noch zu bewahren hoffte, war die formale Beibehaltung der litauischen Souveränität im Memelgebiet. Hoffnungen auf Großbritannien, Frankreich und Italien als Signatarmächten der Memelkonvention hegte keiner der Anwesenden mehr – man war sich in Kaunas sehr wohl bewusst, wer in München am Verhandlungstisch ge­ sessen hatte.31 Zugleich klammerte sich die litauische Regierung an die Aussage Hitlers in seiner Rede in Berlin am 26. September 1938, Deutschland habe außer der Sudetenfrage keine weitere territoriale Forderung in Europa. Immer wieder versuchten litauische Diplomaten Vertretern des Auswärtigen Amtes eine Bestätigung dieser Aussage zu entlocken, doch diese hielten sich wohlweislich bedeckt32 oder gaben zu verstehen, dass Hitlers Äußerungen sich keineswegs auf das Memelgebiet bezogen.33 Der Wandel der litauischen Politik wurde überdeutlich, als der Gesandte Šaulys gegenüber dem Gesandten Otto Fürst von Bismarck als Ergebnis der Konferenz in Kaunas feststellte: „Nach dem Zusammenbruch der Völkerbundpolitik und der kollektiven Idee, der der litauische Außenminister […] dadurch Rechnung trug, 31 Vgl. Škirpa:

Sutemos, S. 113 f. Auch die Analyse der litauischen Politik von deutscher Seite, die am Anfang dieses Beitrages zitiert wurde, betonte die Wirkung des Münchener Abkommens. Die Haltung Frankreichs und Englands bedeutete keine Überraschung mehr, denn bereits bei der Übergabe der deutschen Forderungen im März 1938 hatte eine vertrauliche litauische Sondierung in Paris und London wenig Erfreuliches ergeben. Am Quai d’Orsay vertrat man die Meinung, Litauen solle selbst die Initiative ergreifen, um seine Beziehungen mit dem Deutschen Reich in Ordnung zu bringen. Vgl. Žalys: Memelproblem, S. 266. 32 Vgl. z. B. PA/AA R 28870, Bl. 37, Aufzeichnung von Unterstaatssekretär Ernst Woermann vom 5. Oktober 1938: „Der Litauische Gesandte suchte mich heute auf. Nach einer kurzen Unterhaltung über die tschechische Frage fragte er, welche Bedeutung die Erklärung des Führers in der Sportpalastrede habe, wonach Deutschland keine territorialen Ansprüche mehr stelle. Ich sagte, die Rede spreche für sich und es sei überflüssig, sie zu interpretieren. Der Gesandte kam im Laufe des Gesprächs dann nochmals darauf zurück… Ich bin dabei geblieben, dass eine Interpretation der Führerrede nicht in Frage komme.“ 33 PA/AA R 28870, Bl. 40. Aufzeichnung des Vortragenden Legationsrats von Grundherr vom 15. November 1938: „Der Gesandte kam dann […] auf die Erklärung des Führers „keine territorialen Forderungen in Europa mehr“ zu sprechen. Ich sagte ihm, ich könne ihm nicht die Führerrede interpretieren, müsse aber doch angesichts einiger litauischer Pressestimmen der letzten Zeit sagen, dass diese Äußerung des Führers eines jedenfalls nicht bedeute, nämlich ein Desinteressement der Deutschen Regierung an dem Schicksal der Volksdeutschen an unseren Grenzen, wie auch der Führer in seiner Nürnberger Rede deutlich erklärt habe. Wenn litauische Zeitungen heute leider versuchten, mit dieser Äußerung des Führers Wahlpropaganda gegen die Memelländer zu machen, und diese einzuschüchtern, so sei dies zu verurteilen.“ Deutlicher wurde von Grundherr in seinem bereits erwähnten Telefongespräch mit dem deutschen Gesandten in Kaunas Zechlin, das bewusst für litauische Ohren bestimmt war (PA/ AA R 104631 VI Rd, unpaginiert. Aufzeichnung von Grundherr vom 14. Oktober 1938): „Es sei höchst bedauerlich, dass die Stelle der Führerrede „keine territorialen Forderungen in ­Europa mehr“ in jesuitischer Weise von den Litauern zu übler Wahlpropaganda missbraucht würde. Dazu sei die Führerrede zu gut […] Ich müsse den Herren Litauern doch auch die Stelle […] ins Gedächtnis zurückrufen, dass der Führer niemals eine schlechte Behandlung der Volksdeutschen an Deutschlands Grenzen dulden werde.“

436   Joachim Tauber dass er den Artikel 16 […] als fakultativ erklärte, sei es jetzt das vornehmste Ziel der litauischen Politik, die Beziehungen zu den beiden großen Nachbarn Deutschland und Polen möglichst freundschaftlich zu gestalten. Zur Verwirklichung dieser Absichten habe sich die litauische Regierung entschlossen, die dem Gesandten im März d. J. übergebenen 11 Punkte, die die deutschen Beschwerden über das litauische Vorgehen im Memelgebiet enthalten, zu bereinigen.“34 Schon zuvor hatte der deutsche Gesandte in Kaunas, Erich Zechlin, von der Konferenz und seinen Gesprächen mit Außenminister Lozoraitis berichtet und den Politikwechsel angekündigt: „Dass sich hier aber die Erkenntnis grundsätzlich Bahn gebrochen hat, dass es so wie bisher im Verhältnis zu Deutschland nicht weitergeht und dass ein grundsätzlicher Umschwung in der Memelpolitik notwendig ist, ist kaum zu bezweifeln […]. Wie die Dinge hier liegen, ist damit allerdings noch nicht gesagt, dass die Durchführung im einzelnen nun auch schnellstens und ohne Stocken erfolgt, und zweifellos wird von unserer Seite nach wie vor ein starker Druck nötig bleiben.“35 Der Schock von München spiegelte sich auch in einer Rede des autoritär regierenden Staatspräsidenten Litauens, Antanas Smetona, wider, der im Dezember 1938 die litauische Neutralitätspolitik gegen ihre Kritiker mit folgenden Worten verteidigte: „Nach der Tragödie in Mitteleuropa haben diese Kreise vielleicht eingesehen, dass es für kleine Staaten gefährlich ist, die Großmacht spielen zu wollen. Die kleinen Staaten müssen sich den jeweiligen Verhältnissen vorsichtig anpassen. Nachdem nun also die Politik realer geworden ist, muß Litauen mehr denn je aus seiner nächsten Umgebung, aus den Beziehungen zu seinen nächsten Nachbarn, mit denen es die meisten Angelegenheiten hat, Entscheidungen treffen. Deutschland hat die Unabhängigkeit Litauens als erster Staat anerkannt […] Mit Deutschland ist uns ein gutes Zusammenleben beschieden, deshalb ist man nach wie vor bestrebt, in allen beide Parteien interessierenden Fragen eine Übereinkunft mit Deutschland zu erzielen.“36 Die litauische Politik dürfte nicht zuletzt durch die Lage im Memelgebiet während der Sudetenkrise beeinflusst worden sein. Die litauische politische Polizei berichtete in ihrem Monatsrapport vom 20. Oktober 1938, kein Ereignis der letzten Zeit habe die Bevölkerung so in Aufregung versetzt wie das Geschehen um das Sudetenland. Überall habe man ostentativ mit „Heil Hitler“ und „Sieg Heil“ gegrüßt. Vor allem die jungen Memelländer seien überzeugt, dass sich das Schicksal des Sudetenlandes bald in Memel wiederholen werde. Die Litauer dagegen seien deprimiert, aus ihrer Sicht wäre eine bewaffnete Auseinandersetzung mit einer deutschen Niederlage dem diplomatischen Sieg des Deutschen Reiches vorzuziehen gewesen. Verheerend sei vor allem die Auswirkung auf die im Dezember 34 PA/AA

R 28870, Bl. 42. Aufzeichnung des Gesandten Fürst Bismarck vom 31. Oktober 1938. R 104631 VI Rd, unpaginiert. Der deutsche Gesandte in Litauen Zechlin an das Auswärtige Amt vom 24. Oktober 1938. 36 PA/AA R 104631 VI Rd, unpaginiert, Deutsche Gesandtschaft in Kaunas an das Auswärtige Amt vom 13. Dezember 1938, betr.: Auszug aus der Rede des Staatspräsidenten Smetona anlässlich seiner Vereidigung am 12. 12. d. J. 35 PA/AA

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stattfindenden Wahlen zum Memelländischen Landtag; die prolitauischen Parteien hätten faktisch jeden Zuspruch verloren.37 Ein Höhepunkt des litauischen Appeasement38 war zweifellos erreicht, als Anfang Dezember der litauische Gesandte in Berlin seinem Gesprächspartner vom Auswärtigen Amt „den Wunsch der litauischen Regierung“ mitteilte, „zu einer ­allgemeinen Aussprache mit Deutschland zu kommen und zwar über die Memel­ frage“.39 Eine Analyse im Auswärtigen Amt hielt fest, dass die litauische Regierung nach München versuche, das wegen der Vilniusfrage angespannte polnisch-litauische Verhältnis zu entkrampfen, um ein „Gegengewicht gegen deutschen Druck“ zu bekommen, ein Ansatz, dem die deutschen Diplomaten wenig Erfolgsaussichten zubilligten.40 Nach dem überdeutlichen Wahlsieg der (nationalsozialistischen) Memeldeutschen Liste (sie konnte 87% der abgegebenen Stimmen bei einer Wahlbeteiligung von 96,8% auf sich vereinigen) verschoben sich die Gewichte ein letztes Mal weiter zu Ungunsten Litauens. Vor diesem Hintergrund musste die britische und französische Demarche vom 12. Dezember 1938 eher als eine gesichtswahrende Aktion denn als wirkliches Einschreiten zugunsten Litauens verstanden werden, zumal Briten und Franzosen versicherten, man sei bereit, „to consult with the German government for any purpose which would appear useful“.41 Obwohl die Signatarmächte des Memelstatuts damit das Deutsche Reich als Gesprächspartner in Sachen Memel anerkannt hatten, zeigte Ribbentrops Reaktion, wie stark die deutsche Diplomatie sich inzwischen in der Memelfrage glaubte. Der Außenminister ließ den beiden Botschaftern nach Rücksprache bei Hitler kurz mitteilen, „…er halte die Demarche wegen Memel für völlig unangebracht. Es handle sich hier um eine Ostfrage Deutschlands, in welcher Frankreich und England nichts zu suchen haben.“42

37 Vgl.

Lietuvos Centrinis Valstybinis Archyvas (Zentrales Staatsarchiv Litauen, im Folgenden: LCVA). R 923 Ministerkabinett Ap. 1, f. 1021 (unpaginiert), Valstybės Saugumo Policijos Klaipėdos Apygardos Biuletenis Nr. 227 [Bulletin Nr. 227 der Staatssicherheitspolizei des Bezirkes Klaipėda] vom 28. Oktober 1938. 38 Der neue litauische Gesandte Kazys Škirpa ging bei einem Gespräch mit von Grundherr im Januar 1939 noch einen Schritt weiter, indem er im Rückblick auf die Sudetenkrise die französische Diplomatie beschuldigte, Prag über das eigene Desinteressement im unklaren gelassen und damit die Situation verschärft zu haben. PA/AA R 28870 Büro Reichsaußenminister, Akten betreffend Litauen, Bl. 103, Aufzeichnung vom 4. Januar 1939. 39 PA/AA R 28870, Büro Reichsaußenminister, Akten betreffend Litauen, Bl. 80, Aufzeichnung des nachtragen Woermann vom 8. Dezember 1938. 40 PA/AA R 28873, Büro Reichsaußenminister (Aufzeichnung von Grundherrs „Die Memelfrage“ vom 25. November 1938) Bl. 62.; PA/AA R 28879, Büro Reichsaußenminister, Akten betreffend Litauen, Bl. 57: Bericht des deutschen Gesandten in Kaunas Zechlin über die polnisch-litauischen Beziehungen vom 26. November 1938. In der Tat blieb eine litauisch-polnische Annäherung aus. 41 PA/AA R 28870, Büro Reichsaußenminister, Akten betreffend Litauen, Bl. 96 (britische Demarche) und Bl. 97 (französische Demarche) 42 ADAP D:, Bd. V, Nr. 379, Aufzeichnung von Staatssekretär von Weizsäcker vom 15. Dezember 1938.

438   Joachim Tauber Somit waren die Würfel im Memelgebiet mehr oder weniger bereits gefallen, und die deutsche Diplomatie konnte den letzten Akt eröffnen. Auch bei den ­Planungen zur „Heimkehr“ des Memelgebietes spielten die Vereinbarungen von München eine gewisse Rolle. Im Auswärtigen Amt sah man das an der Isar „ausdrücklich allgemein anerkannte“ Selbstbestimmungsrecht der Völker als Fundament an, auf dem man die Angliederung des Memelgebietes begründen konnte.43 Die letzten Monate und Wochen der litauischen Herrschaft im Memelgebiet standen somit unter dem Damokles-Schwert der zu erwartenden deutschen Forderungen, und die Frage war eigentlich nur noch, wann es so weit war. So konnten auch rein formale Begegnungen zu nervenbelastenden Ereignissen werden: Als am 28. Februar 1939 der neue litauische Gesandte Kazys Škirpa bei Adolf ­Hitler sein Beglaubigungsschreiben übergab, herrschte in Kaunas angespannte Aufregung, denn man fürchtete, dass Hitler den Anlass nutzen könnte, um ­Memel zurückzufordern. Škirpa war kaum in die Gesandtschaft zurückgekehrt, als schon Außenminister Juozas Urbšys aus Kaunas anrief, den er allerdings beruhigen konnte, denn Hitler hatte Memel mit keinem Wort erwähnt.44 Die „Lösung“ der Memelfrage im deutschen Sinn erfolgte dann im März 1939, wobei wiederum Polen eine indirekte Rolle spielte. Es spricht alles dafür, dass Hitlers Entscheidung vom Dezember 1938, den Memeler Nationalsozialisten ein vorläufiges Stillhalten zu befehlen, mit den laufenden polnisch-deutschen Verhandlungen in Zusammenhang steht. Nach dem Scheitern der Gespräche brauchte auf Warschau keine Rücksicht mehr genommen zu werden. Während die Weltöffentlichkeit noch durch den Einmarsch deutscher Truppen in die Tschecho-Slowakei abgelenkt war, wurde der litauische Außenminister Urbšys am 20. März 1939 von seinem deutschen Amtskollegen in Berlin empfangen. Ribbentrop stellte Urbšys in nur wenig verhüllter Form ein Ultimatum: Entweder Litauen gebe das Memelgebiet „freiwillig“ zurück und könne dafür auf eine wohlwollende Haltung des Reiches in Bezug auf seine wirtschaftlichen Interessen vertrauen oder die Angelegenheit werde durch die Wehrmacht geregelt werden, dann aber könne niemand wissen, wo die deutschen Truppen haltmachen würden.45 Noch weniger als im März 1938 blieb Kaunas eine Wahl. Kontaktversuche mit den Signatarmächten der Memelkonvention, die bereits Ende 1938 intensiviert worden waren, lieferten ein ernüchterndes Ergebnis: Niemand war „bereit, für Memel zu sterben“.46 Litauen, das seine Entscheidung für oder gegen Widerstand 43 PA/AA

R 28873, Büro Reichsaußenminister (Aufzeichnung von Grundherrs „Die Memelfrage“ vom 25. November 1938) Bl. 63: „Das Selbstbestimmungsrecht der Völker, das bei der Regelung der sudetendeutsche Frage ausdrücklich allgemein anerkannt worden ist, war also bei der Angliederung des Memelgebietes an Litauen völlig außer Acht gelassen worden. Die Rückgliederung des Memelgebietes an das Reich wird daher auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker gegründet werden können.“ 44 Vgl. Škirpa: Sutemos, S. 132 ff. 45 Vgl. die deutsche Zusammenfassung des Gesprächs in ADAP D:, Bd. V, Nr. 399. 46 Formulierung nach Žalys: Memelproblem, S. 265.

Deutschland, Litauen und das Memelgebiet 1938/39   439

auch vom Verhalten der englischen47, französischen und polnischen Regierung abhängig gemacht hatte48, stand alleine und fällte die einzig mögliche Entscheidung: der deutschen ultimativen Forderung wurde entsprochen; der Vertrag über die Abtretung des Memelgebietes am 22. März 1939 in Berlin unterzeichnet. Deutschland gewährte Litauen eine Freihandelszone im Memeler Hafen; zudem erhielt der Vertrag eine, wie sich bald zeigen sollte, wertlose Nichtangriffsverpflichtung. Am 23. März 1939 wurde Adolf Hitler von einer jubelnden Menschenmenge in Memel begrüßt. Die letzte Analyse des deutschen Vorgehens im März möge dem deutschen Gesandten in Kaunas vorbehalten sein. In einer am Ostersonntag, dem 9. April 1939, erstellten internen Aufzeichnung schrieb Erich Zechlin: „Wir waren alle, d. h. meine Herren, die dies miterlebt hatten, tief erschüttert, da wir einen Anschauungsunterricht von den Methoden der deutschen Politik, von ihrer Rücksichtslosigkeit und Kleinlichkeit bekommen hatten, die in den fremden Ländern nur den Hass und die Feindschaft auf Deutschland aufs äusserste steigern können.“49 Doch nur wenig mehr als vier Monate später sollte ein weiteres Beispiel für die Rücksichtslosigkeit der deutschen Politik folgen: im Gefolge des Hitler-StalinPaktes vom 23. August und des deutsch-sowjetischen Grenz- und Freundschaftspaktes vom 28. September 1939 wurde Litauen der sowjetischen „Interessensphäre“ zugeschlagen. Jetzt ging es nicht mehr nur um das Memelgebiet, sondern um die Existenz des litauischen Staatswesens an sich: die Okkupation der Baltenrepublik durch die Sowjetunion im Juni 1940 sollte erst in letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts enden.

47 Zur

britischen Sicht vgl. Nurek, Mieczyslaw: Great Britain and the Baltic in the last months of Peace, March–August 1939. In: Hiden John/Lane Thomas (Hg.): The Baltic and the Outbreak of the Second World War. Cambridge u. a. 1992, S. 21–49.; Crowe, David M. Jr.: Great Britain and the Baltic States 1938–1939. In: Vardys, V. Stanley/Misiunas, Romuald J. (Hg.): The Baltic States in Peace and War 1917–1945. Pennsylvania 1978, S. 111 ff. 48 Vgl. Žalys: Memelproblem, S. 275. 49 PA/AA Nachlaß Zechlin, lfd. Nr. 183, Aufzeichnung „Memel“, S. 3.

Josef Becker

Der „Fall Celovsky“ in der Bundesrepublik 1958/59 Zeitgeschichte im Spannungsfeld von Politik und ­Wissenschaft Im Frühjahr 1958 erschien der dritte Band der „Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte“ des Instituts für Zeitgeschichte (IfZ) in München. Sein lapidarer Titel: „Das Münchener Abkommen 1938“. Verfasser war ein staatenloser Exilant aus der Tschechoslowakei, Boris Celovsky, der 1948 nach der kommunistischen Machtergreifung in Prag aus seinem Heimatland geflohen war1. Unter Wissen­ schaftlern war Celovsky bislang nur den Spezialisten der Geschichte der inter­ nationalen Beziehungen der 1930er Jahre bekannt, und zwar als Autor einer 1

Überarbeitete und erweiterte Fassung eines Beitrags, der unter dem Titel „‚Wissenschaftliche Nebenregierung‘ und ‚Öffentliches Zensoramt‘? Erinnerungen an den ‚Fall Celovsky‘ in der Bundesrepublik Deutschland 1958/59“ zunächst in der Festschrift für Boris Celovsky anläss­ lich seines 80. Geburtstags erschien: Slezský sborník 101/3 (2003), S. 383–395. Er basiert u. a. auf persönlichen Erinnerungen an die gemeinsame Studienzeit in Heidelberg (1952–54) und späteren Korrespondenzen, sonst im Wesentlichen auf den einschlägigen Akten des Archivs des Instituts für Zeitgeschichte München-Berlin (Signaturen: ID 8/11, ID 34/24, ID 102/8, ID 102/24, ID 102/28, ID 102/44, ID 102/45, ID 103/3, ID 103/50 und ID 103/53) sowie des Col­ legium Carolinum, auf die mich Dr. Robert Luft vom Collegium Carolinum hinwies und die er mir freundlicherweise durch Xerokopien zugänglich machte (Akte:  Vorstandssitzungen 1956–1960. Bestand: Vereinsarchiv des Collegium Carolinum, München). Wo die Memoiren von Boris Celovsky „My Lives“ erwähnt (und in Klammern die Seitenzahlen angegeben) sind, beziehe ich mich auf den maschinenschriftlichen „first draft“ von 1993 (von dem ich je ein Exemplar dem Institut für Zeitgeschichte in München und dem Archiv der Universität Heidel­ berg übergeben habe; ein drittes Exemplar wird künftig in dem Universitätsarchiv Augsburg zur Verfügung stehen). Eine tschechische Ausgabe erschien 1996 in Opava/Troppau (Čelovský, Bořivoj: Šel jsem svou cestou). Von der umfangreichen Sammlung an Korrespondenzen, die Celovskys Heidelberger Doktorvater Walther Peter Fuchs angelegt hatte, konnte weder in Er­ langen, noch an seinen anderen akademischen Stationen in Karlsruhe oder Heidelberg etwas ermittelt werden. Möller, Horst/Wengst, Udo (Hg.): 50 Jahre Institut für Zeitgeschichte. Mün­ chen 1999, gehen auf den „Fall Celovsky“ nicht ein. Robert Luft schreibt: „Nachdem die ‚Kom­ mission der Historiker der DDR und der ČSR‘ in Prag eine Tagung zu den ‚Hintergründen des Münchner Abkommens von 1938‘ veranstaltet hatte, ­reagierte das Collegium Carolinum 1959 mit der Tagung ‚Die Sudetenfrage in europäischer Sicht‘ [siehe unten bei Anm. 48]. Ebenso wie die finanzielle Förderung der Göttinger zeitgeschichtlichen Dissertation von Helmut Rönne­ fahrt zur ‚Sudetenkrise‘ des Jahres 1938 war dies auch eine Reaktion“ auf die Celovsky-Disser­ tation, „die in der deutschen Bohemistik allgemein eine erste heftige Debatte über das deutschtschechische Verhältnis auslöste“. Luft, Robert: Deutsche und Tschechen in den böhmischen Ländern. Traditionen und Wandlungen eines Teilgebiets der bundesdeutschen Geschichtswis­ senschaft. In: Brenner, Christiane/Franzen, K. Erik/Haslinger, Peter/ Luft, Robert (Hg.): Ge­ schichtsschreibung zu den böhmischen Ländern im 20. Jahrhundert. München 2006, S. 367– 431, hier S. 411 f. Zu Celovsky vgl. jetzt auch die Würdigung Celovskys, die Ota Filip u. a. auf­ grund persönlicher Bekanntschaft in der Zeitschrift „Proglas“ 5 (November) 2008, veröffentlicht hat: Případ „Bořivoj Čelovský-Boris Celovsky“ po padesáti letech.

442   Josef Becker scharfsinnigen Untersuchung über Piłsudskis Politik gegenüber dem national­ sozialistischen Deutschland im Jahr 1933.2 Die Publikation seiner Heidelberger Dissertation von 1954 genau zwanzig Jahre nach der Münchener Konferenz machte Boris Celovsky mit einem Schlag in der historisch-politisch interessierten Öffentlichkeit in Deutschland bekannt. In dem Gedenkjahr der Münchener ­Konferenz veröffentlichten alle großen deutschen Tageszeitungen und viele Re­ gionalblätter Rezensionen des Buches. Sein Autor war inzwischen in Kanada ­naturalisiert worden. In den Chor der positiven bis überschwänglichen Besprechungen in der Presse der Bundesrepublik mischten sich lediglich schrille Misstöne aus dem ultrarech­ ten Lager vor allem der Sudetendeutschen und überraschenderweise auch die sehr kritische Resonanz des früheren Vorsitzenden der Exil-Führung der sudeten­ deutschen Sozialdemokraten nach 1938, Wenzel Jaksch, der in den 1950er Jahren prominenter Bundestagsabgeordneter der SPD war. Die öffentlichen Auseinan­ dersetzungen, die folgten, und das Ringen hinter den Kulissen, das hier teilweise (unter Rückgriff auf das Archiv des Instituts für Zeitgeschichte wie des Collegium Carolinum) dargestellt werden kann, ist noch heute von Interesse als ein Exempel für die Pressionen, denen zeitgeschichtliche Forschung da ausgesetzt ist, wo sie sich mit sensiblen „geschichtspolitischen“ Themen befasst. * Boris Celovsky war 1952 mit einem kanadischen Stipendium nach Heidelberg ge­ kommen.3 An der ältesten Universität in der Bundesrepublik schloss sich Celovs­ ky zunächst dem Ordinarius für Neue Geschichte, Johannes Kühn, an, trennte sich aber nach kurzer Zeit von ihm als Betreuer seiner Doktorarbeit, als er einige Äußerungen Kühns aus den 1930er Jahren mit einer allzu großen Nähe zum Na­ tionalsozialismus kennen lernte.4 In seiner Autobiografie „My Lives“ berichtet 2

Die kritische Analyse erschien 1954 unter dem Titel „Pilsudskis Präventivkrieg gegen das na­ tionalsozialistische Deutschland (Entstehung, Verbreitung und Widerlegung einer Legende)“ in der Zeitschrift „Die Welt als Geschichte“, 14 (1954), S. 53–70, die von dem Heidelberger Ordinarius für mittelalterliche Geschichte Fritz Ernst gemeinsam mit Hans Erich Stier/Müns­ ter herausgegeben wurde. Während der in Heidelberg an sich für die Neueste Geschichte zu­ ständige Ordinarius Johannes Kühn sich auf die Geschichte der Frühen Neuzeit konzentrier­ te, bot Fritz Ernst in den 1950er Jahren immer wieder Veranstaltungen zu Themen der mo­ dernen Geschichte vor allem der britischen Geschichte an. Zeitgeschichtlichen Problemen war auch ein wesentlicher Teil seiner privaten Colloquien gewidmet. Boris Celovsky war Mit­ glied dieses kleinen Kreises. Teilnehmer an diesem Colloquium waren auch die beiden Assis­ tenten von Fritz Ernst und späteren Lehrstuhlinhaber in Mannheim Fritz Trautz und Karl Ferdinand Werner, die sich zum „Fall Celovsky“ in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ (21. Mai 1958) mit einem scharfen Leserbrief gegen die politisch motivierte Polemik gegen Celovsky zu Wort meldeten. 3 Die Wahl dieses Studienortes wurde von der Möglichkeit bestimmt, dass die junge Frau von Celovsky, eine geflüchtete Litauerin, an der Ruperto-Carola ihr Psychologiestudium fortset­ zen und mit einer Promotion abschließen konnte. Sie wurde nach der Rückkehr nach Kanada Professorin für Psychologie an einer Universität in Ottawa. 4 Vermutlich war Kühns Broschüre von 1940 „Über den Sinn des gegenwärtigen Krieges“ ge­ meint. Hier hatte Kühn (im Zeichen des Hitler-Stalin-Paktes von 1939) gemeinsame Züge der

Der „Fall Celovsky“ in der Bundesrepublik 1958/59   443

Celovsky auch von der Fairness, mit der Kühn das Ende des Betreuungsverhält­ nisses zur Kenntnis nahm und schreibt über die Mitwirkung von Kühn bei der Promotion: „I never found out what he had thought of my thesis, but during the oral examination, he was very fair and even friendly“ (S. 75). Nach der Trennung von Kühn fand Celovsky mit Walther Peter Fuchs einen wesentlich jüngeren Historiker als neuen Doktorvater. Fuchs vertrat das Fach Ge­ schichte an der Technischen Hochschule Fridericiana in Karlsruhe und war – als ehemaliger Privatdozent der Universität Heidelberg ­– am Neckar als Honorarpro­ fessor tätig. Er hatte Celovsky durch eine Vorlesung über die Weimarer Republik und ihren Untergang und vor allem durch ein Seminar über Jacob Burckhardt beeindruckt. Für die Betreuung der Dissertation und für die spätere Frage einer Publikation der Dissertation von Celovsky wurde Fuchs zu einer Schlüsselfigur, was – zusammen mit der (auch finanzielle Opfer nicht scheuenden) menschli­ chen Zuwendung des akademischen Lehrers für den staatenlosen Exilanten – die lebenslange Verbundenheit verständlich macht, die Celovsky seinem Heidelberger Mentor gegenüber bewies.5 „völkisch-sozialistischen“ und der „klassenkämpferisch-proletarischen“ Revolution angedeu­ tet (so: Wolgast, Eike: Die neuzeitliche Geschichte im 20. Jahrhundert. In: Miethke, Jürgen (Hg.): Geschichte in Heidelberg, 100 Jahre Historisches Seminar, 50 Jahre Institut für Frän­ kisch-Pfälzische Geschichte und Landeskunde. Berlin u. a. 1992, S. 148, Anm. 119). Generell zur Haltung deutscher Historiker zum Nationalsozialismus vgl.: Schulze, Winfried/Oexle, Otto Gerhard (Hg.): Deutsche Historiker im Nationalsozialismus. Frankfurt am Main 1999. Hohls, Rüdiger/ Jarausch, Konrad H. (Hg.): Deutsche Historiker im Schatten des National­ sozialismus. Stuttgart, München 2000. 5 In „My Lives“ schreibt er über Fuchs: „Professor Fuchs was an incredible teacher. He was kind but also bitingly harsh whenever he thought it necessary. He read my numerous drafts over and over, annotating them (his acid ‘Ha! Ha!’ was especially cutting) and making detailed suggestions. His involvement with my dissertation during the two years was very intense. In the following five years, he allowed himself to be entangled in the controversy which engulfed me with an unexpected fury. Acting as if it were his own fight, he did not spare time, money or his considerable prestige. His numerous letters always started with ‚Lieber Herr Celovsky‘ and, when he thought my cockiness had to be tamed, he would switch to the sarcasm of ‚Lie­ ber junger Meister!‘. His interest in my strange ways never disappeared. When, in 1988, I published in Germany the biography of Stephanie Hohenlohe, Professor Fuchs, by then close to 80 years of age [genau: 83], found me through my publisher. He signed his last letter ‚Ihr alter Fuchs‘, which could also be read as ‘Your old fox’. He belongs most certainly in my gal­ lery of men who shaped my life […]“ (Das hier erwähnte, gemeinsam mit Rudolf Stoiber verfasste Buch: Stephanie von Hohenlohe. Sie liebte die Mächtigen der Welt. München, Berlin 1988). Im Frühjahr 1996 kam es zum letzten Treffen mit W. P. Fuchs anlässlich eines Besuchs in Erlangen, über den mir B. Celovsky am 25. Mai 1996 schrieb, „erst jetzt“ sei er in der Lage, zu ermessen, wie viel ihm diese Begegnung mit seinem Heidelberger Doktorvater an dessen jahrelanger (seit 1962) akademischer Wirkungsstätte bedeute. Fuchs starb im biblischen Alter von 92 Jahren im Herbst 1997. Die hohe Einschätzung von Fuchs durch Boris Celovsky teilte Helmut Kohl. Als jüngster Landtagsabgeordneter und Fraktionsvorsitzender der CDU in Rheinland-Pfalz (seit 1959) wurde er 1958 mit einer bei W. P. Fuchs entstandenen Arbeit über die Entstehungsgeschichte der Christlich-Demokratischen Union in Rheinland-Pfalz promo­ viert. Seine sehr persönliche Bindung an Fuchs dokumentierte er durch seine Mitwirkung an einem Erlanger Colloquium anlässlich des 75. Geburtstags von Fuchs und als Bundeskanzler durch seine Teilnahme an dem akademischen Festakt der Universität Erlangen-Nürnberg zu Ehren von W. P. Fuchs an dessen 90. Geburtstag im Frühjahr 1995. In der „Frankfurter Allge­

444   Josef Becker Die im Druck dann über 500 Seiten umfassende Dissertation, die Celovsky der Philosophischen Fakultät der Universität Heidelberg gegen Ende seines rund zweijährigen Stipendiums 1954 vorlegte, war ein diplomatiegeschichtliches Meis­ terwerk. Die Arbeit war umso bewundernswerter, wenn man berücksichtigt, dass sie ein Thema der jüngsten Zeitgeschichte, kaum 20 Jahre zurückliegend, mit all ihren Quellenproblemen behandelte. Beide Gutachter (der externe Honorarpro­ fessor Fuchs als „Erstgutachter“, als „Hauptgutachter“ der Ordinarius vor Ort, Jo­ hannes Kühn) bewerteten die Dissertation mit „magna cum laude“ – eine für den damaligen akademischen Usus in Heidelberg eher seltene Bewertung, die aber doch der Annahme Raum lässt, dass bei dem Notenvorschlag des Erstgutachters die Rücksichtnahme auf das hierarchische Gefälle innerhalb der Fakultät eine Rolle spielte. Jedenfalls stellte Fuchs in seinem Gutachten fest, dies sei die beste Arbeit, die er „während seiner bisherigen Lehrtätigkeit vorlegen konnte“ – sie blieb dies auch bis zum Abschluss seiner Tätigkeit als Lehrstuhlinhaber an der Universität Erlangen-Nürnberg (1973). Später erfuhr Celovsky von Fuchs, dass er ein Veto von Kühn erwartet habe, wenn er die München-Dissertation mit der an sich adäquaten Note „summa cum laude“ bewertet hätte.6 Als Boris Celovsky Ende 1954 nach Kanada zurückkehrte, war über den Ort der Publikation seiner Dissertation noch nicht entschieden. Parallele Kontakte im Hinblick auf eine Veröffentlichung knüpfte Fuchs mit dem Institut für Zeitge­ schichte und dem Johann Gottfried Herder-Institut in Marburg. Das Münchener Institut befand sich nach schwierigen Anfangsjahren, die durch erhebliche Kon­ troversen zwischen den – grosso modo – großdeutsch(-katholischen) und den kleindeutsch(-protestantischen) Traditionen gekennzeichneten waren, unter Paul Kluke Mitte der 1950er Jahre in einer Phase der Konsolidierung.7 Das Marburger Institut war nach 1950 zur Förderung „wissenschaftlicher Arbeiten über die Län­ der, Völker und Staaten Ostmitteleuropas in Vergangenheit und Gegenwart“ mit Historikern aus der „Ostforschung“ vor 1945 aufgebaut worden und stand Mitte der 1950er Jahre unter der Leitung von Erich Keyser. Celovsky hat in einem ­Colloquium in Marburg über seine Arbeit referiert und sowohl als Persönlichkeit wie mit seinen wissenschaftlichen Forschungen einen sehr positiven Eindruck ­gemacht. Das Herder-Institut hatte sich bereits Ende 1954 entschlossen, das „München“-Manuskript in seine „Marburger Ostforschungen“ aufzunehmen. Die Publikation verzögerte sich allerdings nicht nur, weil Celovsky für die Druckfassung noch Materialien aus Washington einarbeiten wollte. Finanzie­ meinen Zeitung“ würdigte er damals in einer eindrucksvollen Weise den akademischen Leh­ rer Fuchs. Vgl. auch den Nekrolog eines anderen Fuchs-Schülers: Müller, Leonhard: Das Le­ benswerk von Walther Peter Fuchs. Zu seinem Tode am 4. November 1998. In: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 148 (NF 109, 2000), S. 385. 6 Sie wurde nach der Heidelberger Praxis nur vergeben, wenn beide Gutachter für die höchste Note votierten. 7 Vgl. dazu Möller, Horst: Das Institut für Zeitgeschichte und die Entwicklung der Zeitge­ schichtsschreibung in Deutschland. In: Möller/Wengst (Hg.): 50 Jahre Institut für Zeitge­ schichte, S. 1–68.

Der „Fall Celovsky“ in der Bundesrepublik 1958/59   445

rungsprobleme waren in Marburg offensichtlich der Hauptgrund für die Ver­ schiebung des Druckbeginns. Ernst Birke teilte Fuchs am 14. Februar 1956 aus Marburg mit, das Institut wolle „alles tun“, um das Manuskript „noch in diesem Jahr für den Druck fertig zu machen“. Am 4. April 1956 eröffnete Keyser dem Direktor des Instituts für Zeitgeschichte, das Marburger Institut halte sich „nach allen Verhandlungen mit Herrn Fuchs und Herrn Celovsky […] in vollem Um­ fang für berechtigt und nach getroffenen Abreden auch für verpflichtet […] den Druck der Arbeit durchzuführen.“ Aus Ludwigshafen erfuhr W. P. Fuchs gleich­ zeitig von dem sudetendeutschen Vorsitzenden der „Historischen Kommission der Sudetenländer“, Dr. Kurt Oberdorffer, dem sich Boris Celovsky in einer „res­ pectful friendship“ verbunden fühlte,8 dass sich sowohl in Marburg wie für die von ihm selbst präsidierte Kommission die finanzielle Lage gebessert habe und in dieser sudetendeutschen Kommission die Drucklegung „konkret besprochen“ worden sei.9 Was weder Fuchs noch Celovsky zunächst bekannt war: Erich Keyser sandte zuvor das Manuskript „zur Prüfung“ an das Auswärtige Amt;10 aus dem Bonner Ministerium teilte man Keyser mit, das Amt habe „gegen eine Veröffentlichung in der vorliegenden Form Bedenken“. Autor dieses Briefes war Kurt von Maydell; er hatte vor 1945 dem Diplomatischen Dienst nicht angehört und seinen Dienst in Bonn als Spezialist für Osteuropa und den Balkan Ende 1950 angetreten.11 Vor 1945 war er Mitarbeiter der „Publikationsstelle Berlin-Dahlem“ („Puste“) gewe­ sen, einer 1931 gegründeten Abteilung des Preußischen Geheimen Staatsarchivs   8 Celovsky:

My Lives, S. 84. Oberdorffer war nach 1938 in die SS eingetreten (was Celovsky ver­ mutlich wusste), zählte aber unter den vertriebenen Sudetendeutschen nicht zur Gruppe der „Nationalen Rechten“. Zu Oberdorffer, der in Westdeutschland zu einem der aktivsten sude­ tendeutschen Wissenschaftsorganisatoren wurde, vgl. ausführlich Luft, Deutsche und Tsche­ chen in den böhmischen Ländern, passim, sowie neuerdings das Biogramm Oberdorffers in: Die „sudetendeutsche Geschichtsschreibung“ 1918–1960. Zur Vorgeschichte und Gründung der Historischen Kommission der Sudetenländer. Vorträge der Tagung der Historischen Kom­ mission für die böhmischen Länder (vormals: der Sudetenländer) in Brünn vom 1. bis 2. Ok­ tober 2004. Im Auftrag der Historischen Kommission für die böhmischen Länder hg. von Albrecht, Stefan/ Malíř, Jiří/ Melville, Ralph. München 2008, S. 250 ff. Die erwähnte „Histori­ sche Kommission der Sudetenländer“ hat sich im Jahr 2000 in „Historische Kommission für die böhmischen Länder“ umbenannt.   9 Brief von Fuchs an Kluke vom 26. Juli 1958. Nach dem Vorstandsprotokoll der „Historischen Kommission der Sudetenländer“ vom 18. Februar 1956 wurde Oberdorffer damals beauftragt, mit Celovsky wegen einer Publikation seiner Dissertation Kontakt aufzunehmen. 10 Wahrscheinlich direkt an Kurt von Maydell (s. Anm. 12), der dann die (oder: seine) Bedenken aus dem Auswärtigen Amt Keyser mitteilte. 11 Freundliche Mitteilung von Herrn Dr. Gerhard Keiper (Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes). Die Tatsache, dass Maydell erst nach 1945 in den Diplomatischen Dienst trat, erklärt, warum er in dem (auch unter dem Gesichtspunkt einer amtsinternen kritischen Auseinan­ dersetzung mit dem AA in der NS-Zeit) höchst verdienstvollen „Biographischen Handbuch des deutsche Auswärtigen Dienstes“, hg. von Maria Keipert und Peter Grupp (bis jetzt 3 Bde., Paderborn 2000–2008) nicht erwähnt ist. Maydells Einstellung in Bonn erfolgte offenbar im Zusammenhang mit der Gründung einer „Dienststelle für Auswärtige Angelegenheiten“ (1. April 1950), die dem Bundeskanzleramt in Bonn direkt unterstellt wurde und zur Vorläu­ ferbehörde des neuen „Auswärtigen Amtes“ (15. März 1951) wurde.

446   Josef Becker unter Albert Brackmann, dem nach 1933 wohl einflussreichsten nationalsozialis­ tischen Historiker.12 Die „Puste“ Berlin-Dahlem entwickelte sich nach 1933 zu einem „think tank“ der nationalsozialistischen Ostforschung und spielte (zu­ nächst in Zusammenarbeit mit dem „Bund Deutscher Osten“) „eine ausgespro­ chen negative Rolle […] bei der Frage von wissenschaftlichen Veröffentlichungen [zur ‚Ostforschung‘], die nicht nur behindert, sondern mehrfach auch verhindert wurden“.13 Dass ein ehemaliger Mitarbeiter der Dahlemer NS-Zensurinstanz 1956 in seiner neuen Funktion als Mitglied des Diplomatischen Dienstes der Bundesre­ publik gegen die Publikation von Celovskys Dissertation intervenierte, macht das eigentliche Skandalon dieses Votums aus dem Auswärtigen Amt in Bonn aus. Offensichtlich unter dem Eindruck von Maydells Einspruch erklärte sich Key­ ser wenige Wochen nach seinem dezidierten Festhalten an einer Veröffentlichung durch Marburg (17. Mai 1956) „gerne bereit“, die Veröffentlichung dem Münche­ ner Institut zu überlassen – allerdings nicht ohne hinzuzufügen: „In jedem Fall darf ich wohl erwarten, dass die von meinen Mitarbeitern, Herrn Prof. Dr. Birke und Dr. Urban, an Herrn Dr. Celovsky mitgeteilten Vorschläge auf Ergänzung und Abänderung einiger Stellen berücksichtigt werden“.14 Offenbar hatte Keyser dafür Sorge getragen, dass die Änderungswünsche aus dem Auswärtigen Amt Ce­ lovsky als Modifikationsvorschläge des Marburger Instituts (vermutlich mit wei­ teren Änderungswünschen aus Marburg) mitgeteilt wurden. Für Fuchs stand es außer Frage, dass eine politische Zensur inakzeptabel war, auch wenn mit der Hinnahme der Änderungswünsche aus Bonn Subsidien für das Marburger Insti­ tut verbunden seien.15 Nicht weniger kategorisch war der Standpunkt des „Insti­ tuts für Zeitgeschichte“, dass nämlich – so Kluke an Fuchs – eine „amtliche Auf­ sicht über Publikationen zur jüngsten diplomatischen Geschichte“ nicht in Frage komme, „auch wenn sie bei uns erschienen“.16 Mit dem Marburger Verzicht war der Weg frei, um nach einem längeren Vor­ lauf eine formelle Entscheidung innerhalb des Münchener Instituts über die Pub­ 12 Anlässlich

von Brackmanns 70. Geburtstags 1941 (wenige Wochen vor dem Überfall auf die Sowjetunion) suchte Hitler gemeinsam mit Göring, Frick und Ribbentrop die „Graue Emi­ nenz der deutschen Ostforschung“ auf und überreichte Brackmann die höchste Wissen­ schaftsauszeichnung des „Dritten Reiches“, den „Adlerschild des Deutschen Reiches“. 13 Schaller, Helmut Wilhelm: Die „Publikationsstelle Berlin-Dahlem“ und die deutsche Osteuro­ paforschung in der Zeit von 1933 bis 1945, in: Historische Mitteilungen 20, 2007, S. 193–216, hier S. 209. Zur Arbeit Maydells in Dahlem vgl. hier auch S. 205. Ob Keyser das Manuskript Celovskys formell an das Auswärtige Amt oder direkt an Kurt von Maydell im AA sandte, konnte nicht ermittelt werden. Kontakte Keysers mit Maydell könnten vor 1945 im Rahmen der Arbeiten der „Puste“ oder im Zusammenhang mit der Übergabe eines Teils der Bibliothek der „Puste“ an das Herder-Institut in Marburg nach 1945 zustande gekommen sein. 14 Keysers Brief an Kluke trägt mehrere Randvermerke und Unterstreichungen Klukes (oder des Generalsekretärs des Instituts, Helmut Krausnick?), die u. a. die „Prüfung“ durch das Auswär­ tige Amt (zwei Ausrufezeichen) und die (beinahe ultimative) Erwartung Keysers (zwei Frage­ zeichen) betreffen, dass die Änderungsvorschläge v. Maydells aus dem Auswärtigen Amtes respektive des Herder-Instituts vom Münchener Institut berücksichtigt werden. 15 Nach dem in Celovskys „My Lives“ (S. 81) zitierten Brief von W. P. Fuchs an E. Keyser. 16 Brief Klukes an Fuchs vom 3. Oktober 1956.

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likation in die Wege zu leiten. Bereits in der ersten Jahreshälfte 1955 hatte der Tübinger Osteuropahistoriker Werner Markert, der als Kenner der deutsch-slawi­ schen Beziehungen um seine Meinung gebeten worden war, dem Institut die An­ nahme der Studie empfohlen, deren Erscheinen er wegen der „Urteilsfähigkeit“ des Autors „besonders begrüßen werde“.12 Sollte München Bedenken tragen, wer­ de sich sicher das Institut für Europäische Geschichte in Mainz (gegründet 1950) darum bemühen, die Untersuchung zu veröffentlichen. Kurze Zeit später (1./2. Juli 1955) erklärte dann aber das Institut für Zeitgeschichte in einer gemeinsamen Sitzung von Kuratorium und Beirat seine „grundsätzliche Bereitschaft“, die Dis­ sertation von Celovsky zu publizieren. Dem Beschluss zu Grunde lag eine „eingehende Würdigung des Autors“ durch den Marburger Historiker Ludwig Dehio. Der erste Herausgeber der „Histori­ schen Zeitschrift“ nach 1945 war in der Auseinandersetzung mit dem Jahrzwölft der nationalsozialistischen Ära einer der scharfsinnigsten Interpreten der Rolle von „Gleichgewicht oder Hegemonie“ in der europäischen Moderne und erwies sich in den ersten Nachkriegsjahren als einer der klügsten und herausragenden Kritiker des Weges der preußisch-deutschen Großmacht seit dem 19. Jahrhun­ dert. Dehio gab als Hauptreferent für die Arbeit ein „sehr positives Urteil“ über Celovskys Dissertation ab, deren „umfassende Quellenverwertung“ und „objek­ tive Haltung“ er besonders hervorhob. Mit dem Datum des 23. November 1955 erreichten das Institut zusätzlich „Bemerkungen“ des Tübinger Osteuropahistori­ kers Hans Roos über Celovskys Dissertation; sie resümierten sich in der Feststel­ lung, dass das Manuskript „ein außerordentlich feines Verständnis des Verfassers für Nationalitätenfragen [beweise], ein Verständnis, das wohl seiner Herkunft aus dem national gemischten Gebiet von Mährisch-Ostrau und einer national ge­ mischten Familie zuzuschreiben ist“. Schließlich traf in München ein enthusiasti­ sches Gutachten aus den USA ein; sein Verfasser war Gerhard L. Weinberg, ein Schüler von Hans Rothfels in Chicago, der damals an dem Thema „Secret HitlerBeneš Negotiations, 1936–37“ arbeitete, über das er 1959 einen Aufsatz veröffent­ lichte.17 Er charakterisierte die Dissertation Celovskys als die „zweifellos […] bei weitem beste Arbeit [über das Münchener Abkommen], die zur Zeit zur Verfü­ gung steht“, und schloss sein Gutachten mit der Prognose: „Es ist für eine lange Zeit unwahrscheinlich, dass sie überholt werden wird“. * Die politische Aktualität, ja Brisanz des Zeitpunkts, zu dem Celovskys Disserta­ tion schließlich im Frühjahr 1958 auf den Büchermarkt kam, sicherte ihr von vornherein öffentliche Aufmerksamkeit. Die Presse der Bundesrepublik – vom so­ zialdemokratischen „Vorwärts“ über die linksliberale „Süddeutsche Zeitung“/ München, die rechtsliberale „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ und den katho­ lisch-konservativen „Rheinischen Merkur“ bis hin zu Axels Springers „Welt“ – 17 Weinberg,

Gerhard L.: Secret Hitler – Beneš negotiations in 1936–37. In: Journal of Central European affairs 19 (1959/60), S. 366–374.

448   Josef Becker war sich einig, dass dem tschechischen Historiker ein großer Wurf gelungen sei. Es seien hier nur einige Stimmen zitiert: Ernst Deuerlein, der spätere Münchener Zeithistoriker (der der bayerischen Staatskanzlei nicht fernstand), beglückwünschte das Institut für Zeitgeschichte in der Augsburger „Schwäbischen Landeszeitung“ zur Publikation dieser „großen zeitgeschichtlichen Forschung“ – was zum Zeitpunkt der Publikation seiner Re­ zension (29. August 1958) eine offene Absage an die Kritik von ultrarechter Seite an Celovsky und dem Münchener Institut darstellte. Die gleiche Stoßrichtung hatte die Besprechung der in der Schweiz geborenen Beate Ruhm von Oppen in der „Süddeutschen Zeitung“ (13. September 1958); die Dozentin am „Royal Insti­ tute of International Affairs“ in London – und spätere Herausgeberin der Briefe des Leiters der Anti-Hitler-Fronde im Kreisauer Kreis, Helmuth James v. Moltke, an seine Frau Freya (1988) – bescheinigte Celovsky, dass die „Nüchternheit seiner Darstellung“ mehr „erschüttere“ als die „Emphase“, mit der Wenzel Jaksch sein Buch „Europas Weg nach Potsdam“ (1958) geschrieben habe. Der Berliner „Mit­ tag“ bezeichnete Celovskys Buch als das „wichtigste Werk“ über das Münchener Abkommen und wünschte ihm „weiteste Verbreitung“ (27./28. September 1958). In Springers „Welt“ schrieb der die nationalen Bismarck-Traditionen verfechten­ de Paul Sethe: „Die Darstellung ist klar, von wissenschaftlichem Ernst getragen, ohne falsches Pathos, aber überschattet von Traurigkeit“ (2. August 1958).18 Ein prominenter Vertreter der „Schlesischen Landsmannschaft“, Herbert Hupka, fand es in der der Hamburger „Zeit“ „recht verwunderlich, dass einige sudetendeut­ sche Politiker und Publizisten, darunter auch Wenzel Jaksch, Celovsky einseitige Berichterstattung vorwarfen“ (10. Oktober 1958). Schon unmittelbar nach der Verlagsauslieferung hatte der „Rheinische Merkur“ geurteilt, der „gesamteuropäi­ sche Aspekt“ in der Darstellung von Celovsky verdiene „vorbildlich genannt zu werden“ (28. März 1958). Das evangelische Pendant zum „Rheinischen Merkur“, die Wochenzeitung „Christ und Welt“, zog Anfang Oktober 1958 das Fazit der öffentlichen Diskussionen der vergangenen Monate: „fast die gesamte deutsche Presse“ betrachte das Buch von Celovsky „als das Standardwerk über die Krise des Jahres 1938“. Die „Bayerische Staatszeitung“ vom 18. November 1960 urteilte schließlich lapidar, die zeitgeschichtliche Forschung werde dem Kapitel München 1938 „nicht mehr viel Neues hinzufügen müssen“.19 Das hätte für den seit nahezu vier Jahren wieder in Kanada lebenden Boris Celovsky eine höchst befriedigende Bilanz sein können, wenn nicht eine Polemik von radikaler sudetendeutscher Seite ausgegangen wäre, die noch im März un­ mittelbar nach der Veröffentlichung einsetzte. Zur historisch-politischen Einord­

18 Sethe

war zuvor Mitherausgeber der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, aus der er wegen seiner Kritik an Adenauers Politik der Westintegration ausgeschieden war. 19 Vermerkt sei auch, dass die „Zeitschrift Bücherei und Bildung“ (Reutlingen), die vor allem als Ratgeber in Beschaffungsfragen für kommunale Bibliothekare als Multiplikator wirkte, Ende des Jahres 1958 schrieb, Celovskys Buch gehöre in den „Zeitgeschichte-Bestand jeder großen Stadtbücherei“ (H. 12, 1958).

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nung dieser Attacken gegen Celovsky und das Institut für Zeitgeschichte sei hier auf drei Zitate aus dem „München“-Buch verwiesen: 1. „Die Tschechoslowakei wurde im Namen des demokratischen Selbstbestim­ mungsrechts errichtet; a limine aber wurde dieses Recht in grober Weise ver­ letzt“ (S. 99). 2. „Der Gründer des Staates, T. G. Masaryk, definierte die Demokratie als Diskus­ sion. In der Tschechoslowakei wurde diskutiert; das Resultat blieb jedoch im­ mer wieder dasselbe: die Regierungsmehrheit behielt recht. Ihre Ablösung durch die Opposition, die zu den Wesenszügen der parlamentarischen Demo­ kratie gehört, war unmöglich“ (S. 104). 3. „Der einzige […] Weg [die Sudetendeutschen zu gewinnen] war die Erfüllung der Versprechen aus den tschechoslowakischen Denkschriften von Versailles. Eine vollkommene Autonomie für alle Minderheiten – vielleicht in der Form des Schweizer Regimes – hätte vielleicht die Integrität der Republik trotz aller außenpolitischen Umwälzungen wahren können“ (S. 105). Am 22. März 1958 eröffnete im CSU-Organ „Bayern-Kurier“ ein Artikel unter dem Titel „Der verkannte Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte“ die Kontrover­ sen um die Heidelberger Dissertation von Celovsky. Autor war Dr. Hans Neu­ wirth, ein früheres prominentes Mitglied der Sudetendeutschen Partei Konrad Henleins.20 Er hatte schon am 10. März auf einer außerordentlichen Mitglieder­ versammlung des Münchener Collegium Carolinum auf den „Vorfall Celovsky“ hingewiesen, „bei dem es letztlich darauf hinauslaufe, dass ausgerechnet ein tsche­ chischer Emigrant im Jahre der zwanzigsten Wiederkehr des Münchner Abkom­ 20 Neuwirth

war zwei Jahre zuvor aus tschechoslowakischer Gefängnishaft vorzeitig entlassen und in die Bundesrepublik ausgewiesen worden. Von 1935–1938 hatte er als Abgeordneter der Sudetendeutschen Partei (SdP) im tschechoslowakischen Parlament und Rechtsexperte der SdP fungiert. Im Mai 1937 trat er mit einer Denkschrift „Südosten“ hervor, die mit ihren Vorschlägen zur Neuorganisation der deutschen Minderheitenpolitik sowohl innerhalb der SdP wie auch im Verhältnis zu reichsdeutschen Stellen zu erheblichen Kontroversen führte. Offensichtlich infolge dieser Auseinandersetzungen hat sich Neuwirth nach der Errichtung des Sudetengaus aus der Politik im Sudetengebiet zurückgezogen. Im Oktober 1938 reichte er dem Auswärtigen Amt eine Denkschrift „Bemerkungen zur tschecho-slowakischen Frage“ ein. Sie liefen nicht auf die „physische Vernichtung des Gegners“, auf „die gewaltmässige Lö­ sung mit dem Ziel der Ausrottung des Gegners“ hinaus; denn „selbst für den Fall der Vernich­ tung eines Drittels der [tschechischen] Bevölkerung [würden] noch immer an 4 Millionen bleiben“; und aus einer solchen Politik erwachse „eine schwere moralisch-politische Belas­ tung der Nation und ihrer militärischen Ueberlieferung“; außerdem dürfte auch eine „schwe­ re Chokwirkung auf die kleinen Völker, insbesondere des Südostens“, ausgehen. Instrument der Lösung der tschechoslowakischen Frage sollte vielmehr die „schärfste Anwendung poli­ zeilicher Pressionsmittel mit dem Ziel persekutiver Verdrängung“ der tschechischen Restbe­ völkerung aus dem Sudetengebiet sein. Das „Restdeutschtum“ in der verbleibenden Tsche­ choslowakei (z. B. um Iglau und Znaim) solle „umgesiedelt“ werden, „um eine verbesserte Volkstumsgrenze“ zu erreichen. (Hoffmann, Roland/Harasko, J. Alois (Hg.): ODSUN. Die Vertreibung der Sudetendeutschen. Vyhnání sudetských Němců. Dokumentation zu Ursa­ chen, Planung und Realisierung einer „ethnischen Säuberung“ in der Mitte Europas 1848/49– 1945/46. Bd. I München 2000, S. 829–833.

450   Josef Becker mens mit deutscher Unterstützung, in deutscher Sprache, gewissermaßen wissen­ schaftlich von deutscher Seite akkreditiert, zu veröffentlichen in die Lage kommt und dabei die Auffassung des Beneschianismus vertrete“.21 Damit war der cantus firmus für die radikale Gruppe innerhalb der Sudetendeutschen vorgegeben. Eine Polemik „Beneschs Nachwuchs“ in der Zeitschrift „Der Sudetendeutsche“ und ein Artikel „Geschichtswissenschaft im Zwielicht“ von einem pseudonymen Autor in dem sudetendeutschen „Volksboten“ folgten. Eine Woche später erschien im „Su­ detendeutschen Artikeldienst“ ein Artikel „Antideutsche Geschichtsklitterung in Ost und West“; in ihm wurde Celovsky als der „neue Star des Münchener Insti­ tuts für Zeitgeschichte“ bezeichnet (Nachdruck im „Volksboten“ vom 10. Mai 1958). Im Mai 1958 brachte das „Sudeten Bulletin“ einen Artikel „Munich Agree­ ment 1938“, der Boris Celovsky „a number of conscious falsifications“ vorwarf. Nach weiteren Angriffen auf Celovsky und das Institut für Zeitgeschichte von ra­ dikaler sudetendeutscher Seite erschien in der Münchener Zeitschrift „Politische Studien“ im November 1958 eine neue polemische Breitseite von dem sudeten­ deutschen Justitiar der Hochschule für Politik in München, Jüttner, mit dem Vor­ wurf an Celovsky, er sei ein „Geschichtsklitterer“. Dieser Angriff Jüttners löste eine scharfe Leserzuschrift von Erwin Viefhaus aus. Der früh verstorbene Viefhaus war damals Assistent bei W. P. Fuchs in Karls­ ruhe. Zuvor war er als Mitarbeiter Theodor Schieders in Köln bei der Herausgabe der „Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa“ tätig gewesen und von dieser Arbeit her vertraut mit den Problemen von Interessen­ gruppen und „pressure groups“ in der Zeitgeschichtsforschung. Viefhaus hatte über das europäische Problem des Minderheitenschutzes nach dem Ersten Welt­ krieg promoviert;22 er war daher als erstklassiger Kenner der nationalen Minder­ heitenprobleme in Mitteleuropa fachlich prädestiniert zu seiner kritischen Stel­ lungnahme. Er betonte zunächst, dass „das Werk sicherlich eine Fülle von Ansatz­ flächen für mancherlei Kritik bietet […]“. Auf diesem Hintergrund ist seine Kritik an Jüttners „Pseudo-Besprechung“ umso vernichtender. Als Beispiel für Jüttners tendenziöse Arbeitsweise zitiert er u. a. dessen Behauptung, dass Celovsky Lord Runciman nur „ein einziges Mal“ erwähne; in Wirklichkeit ist dessen Mission nach Prag vom August 1938 ein eigenes umfangreiches Kapitel gewidmet. Vief­ haus’ Kritik gipfelte in dem „schärfsten Widerspruch“ gegen die „unseriöse Dar­ stellung“ Jüttners mit ihren „Entstellung[en], Verfälschung[en] und zweckbe­ stimmten Auslassungen“. 21 Protokoll

der Versammlung am 10. März 1958. Oberdorffer hat es in der gleichen Sitzung als ein Verdienst von Celovskys Buch bezeichnet, „dass immerhin die Diskussion aufgerissen sei“. Als Oberdorffer 1961 eine Besprechung der Heidelberger Dissertation veröffentlichte, attes­ tierte er der Darstellung der Ausgangslage der Sudetendeutschen „verdienstvolle Sachlichkeit“, monierte aber gleichzeitig, dass der Titel des Buches wegen der Vernachlässigung der Ent­ wicklung der „inneren Struktur der politischen Körper beider Nationen“ das „begrenzte The­ ma der Arbeit irreführend erweitert“ habe (Das Historisch-Politische Buch 9, 1961, S. 22 f.). 22 Die Minderheitenfrage und die Entstehung der Minderheitenschutzverträge auf der Pariser Friedenskonferenz 1919. Würzburg 1960. Viefhaus’ Leserzuschrift erschien im März-Heft 1959 der „Politischen Studien“ (S. 204 ff.).

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Gemeinsamer Nenner der Attacken der lautstarken sudetendeutschen Minder­ heit war, dass sie sich in der Regel sowohl gegen Celovsky wie gegen das Münche­ ner Institut richteten.23 Offensichtlich reichte es schon, dass die Leitung des Insti­ tuts für Zeitgeschichte keinerlei Bedenken hatte, das Buch eines tschechischen Exilanten24 über das Krisenjahr 1938 zu veröffentlichen, um den Stab über seinen Autor zu brechen und dem „Institut“ politische Blindheit und Geschichtsklitte­ rung vorzuwerfen. In die politische Arena des Münchener Landtags getragen wurde dieses „Kes­ sel­treiben“25 einer Minorität unter den Sudetendeutschen gegen das Buch von Celovsky und gegen das Münchener Institut Anfang Mai 1958 durch den Vor­ sitzenden der bayerischen Landtagsfraktion des „Bundes der Heimatvertriebenen und Entrechteten“ (BHE), Walter Becher.26 Seine Hauptstoßrichtung zielte auf das Institut für Zeitgeschichte, von dem er annahm, dass das Bayerische Kultus­ ministerium seine Forschungen den Schulbehörden für den zeitgeschichtlichen Unterricht empfehlen werde. In der Tat war kurz vorher eine Initiative der baye­ rischen SPD im Landtag zur stärkeren Berücksichtigung der neuesten Geschichte in den Schulen erfolgt.27 Unbeeindruckt von der Polemik Bechers und von den politischen Attacken gegen das Institut erließ das bayerische Kultusministerium noch 1958 die Anweisung an die Schulbehörden, „die Forschungsergebnisse des Instituts für Zeitgeschichte für den Geschichtsunterricht nutzbar zu machen“. Der Erlass, der auch entsprechenden Bemühungen des Instituts entsprach, und das Datum seiner Publikation waren eine politische Demonstration.28 23 Schon

am 15. Juli 1958 schrieb Walther Peter Fuchs an Paul Kluke: „Ich bin einigermaßen erschüttert über soviel Haß und Unredlichkeit, die ich nicht für möglich gehalten hätte“. 24 Ein Grundsatzbeschluss des Kuratoriums des Münchener Instituts stellte im Frühjahr 1955 fest, dass die deutsche Staatsangehörigkeit eines Autors nicht Voraussetzung für die Aufnah­ me einer Veröffentlichung in die Münchener Schriftenreihe sei. 25 „Deutsche Zeitung und Wirtschaftszeitung“ vom 25. Juni 1958. 26 In seinen Erinnerungen geht Becher auf diese Kontroversen nicht ein. Dagegen berichtet er von einer „Informationstagung“ des „Sudetendeutschen Rats“ in Herrenchiemsee im Mai 1956, bei der angeblich nach einem Referat des „tschechischen Historikers“ Boris Celovsky das deutsch-tschechische Verhältnis „freimütig behandelt wurde“ (Zeitzeuge, Ein Lebensbe­ richt. München 1990, S. 201; in einer Fußnote wird hier Celovskys „München“-Buch zitiert – die falsche Angabe über Celovskys Teilnahme lässt immerhin die Annahme zu, dass im Vorfeld über eine Einladung gesprochen worden war). Becher war seit 1933 Mitglied der Vor­ gängerorganisation der Sudetendeutschen Partei Henleins, seit 1938 der NSDAP, Landtagsab­ geordneter in Bayern 1950–1962, im „Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten“ (BHE) seit 1954, Fraktionsvorsitzender des Gesamtdeutschem Blocks/BHE 1954–1962, seit 1961 in der Gesamtdeutschen Partei (die aus der Fusion von BHE und Deutscher Partei hervorging), 1965–1980 MdB auf der CSU-Landesliste, bis 1968 stellv. Vorsitzender der Sudetendeutschen Landsmannschaft, danach bis 1982 deren Vorsitzender. 27 In diesem Zusammenhang waren der Institutsdirektor Kluke und der damalige wissenschaft­ liche Mitarbeiter Hans Buchheim (später Ordinarius in Mainz) zu einer Anhörung im kul­ turpolitischen Ausschuss des Landtags eingeladen (Brief Klukes an Ministerialrat Hagelberg im Bundesinnenministerium vom 16. Mai 1958). 28 Das Zitat nach: Röder, Werner/Weiß, Hermann/Lankheit, Klaus A.: Das Archiv des Instituts für Zeitgeschichte. In: Möller/Wengst (Hg.): 50 Jahre Institut für Zeitgeschichte, S. 105–126, hier S. 110. Der für diese Entscheidung letztlich verantwortliche Kultusminister war seit 1957

452   Josef Becker Zu diesem Zeitpunkt hatte die Kampagne gegen Celovsky durch eine Interven­ tion des prominenten sozialdemokratischen Politikers Wenzel Jaksch bereits eine neue Dimension erreicht. Er hielt auf der Jahresversammlung der sudetendeut­ schen Landsmannschaft Oberbayern eine Rede, in der er nach dem Bericht der „Sudetendeutschen Zeitung“ vom 3. Mai 1958 Celovskys „Münchener Abkommen von 1938“ als ein „Pamphlet gegen die Sudetendeutschen“ abqualifizierte und in diesem Zusammenhang sich zu der Feststellung hinreißen ließ, das Institut für Zeitgeschichte müsse eigentlich „Institut für einseitige Zeitgeschichte“ ­heißen. Die Hintergründe dieses Angriffs waren möglicherweise zunächst in den Machtkämpfen innerhalb der Sudetendeutschen Landsmannschaft zu suchen. Eine tiefere historische Dimension wurde spätestens im Frühjahr 1959 deutlich, als Jaksch einen Artikel „Der 4. März [1919] und das Elend der deutschen Ge­ schichtsschreibung“ veröffentlichte.29 Er wiederholte in dem Schlussteil dieses Aufsatzes seine Kritik an der Publikation der „pseudowissenschaftlichen Arbeit“ Celovskys; dieser (so wörtlich) „Skandal“ habe jetzt durch eine öffentliche Erklä­ rung des wissenschaftlichen Beirats des Instituts für Zeitgeschichte von Ende Ja­ nuar 1959 über die „Autonomie der historischen Forschung“ ihren Höhepunkt gefunden. Die „Reichsdeutschen“ – so Wenzel Jakschs Argumentation – wollten sich nicht identifizieren lassen mit den Alldeutschen oder mit Tirpitz, Hugenberg und Papen; genauso wenig würden es die Sudetendeutschen akzeptieren, dass ihre Geschichte mit dem „alldeutschen Häuflein Schönerers“ beginne und mit Konrad Henlein ende. Verbunden damit war eine scharfe Attacke gegen das „preußischdeutsche Geschichtsbild“, das der Erklärung des Instituts-Beirats zugrunde liege. Wenzel Jaksch erinnerte an ein abschätzig-arrogantes Urteil des Herolds der bo­ russischen Geschichtsschreibung in der Ära Bismarcks, Heinrich von Treitschke, über die deutschen Politiker aus Böhmen und Mähren im Habsburgerreich des 19. Jahrhunderts,30 um dann auf die Sozialdemokraten Kudlich, Schuselka, Ren­ ner und Seliger als „Vorläufer des europäischen Föderalismus“ hinzuweisen, was der „Selbstgerechtigkeit binnendeutscher Historiker nicht in den Kram passe“. In der Tat führte dieser Verweis zu dem Erbe der preußisch-kleindeutschen und föderalistisch-großdeutschen Traditionen der deutschen Geschichte des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts. In seinem 1958 erschienenen Buch „Europas Weg nach Potsdam“ hatte Jaksch einen Aufruf „An die Einwohner des glorreichen Königreiches Böhmen“ zitiert, den Bismarck 1866 vor Königgrätz veröffentlichen Theodor Maunz, der aus der Zeit vor 1945 durch seine Verwicklungen in den Nationalsozia­ lismus als Öffentlichrechtler belastet war; nach seinem Ausscheiden aus dem Amt wirkte er seit circa 1970 in einer Art Doppelexistenz unter einem Pseudonym als Rechtsberater für den Spiritus rector der rechtsextremistischen „Deutschen Volksunion“, Gerhard Frey. Vgl. Stolleis, Michael: Recht im Unrecht. Studien zur Rechtsgeschichte im Nationalsozialismus. Mit einem neuen Nachwort Frankfurt am Main 2006, S. 209. 29 In: Die Brücke. Wochenblatt für Wiedervereinigung – Heimatrecht – sozialen Fortschritt (München) vom 7. März 1959. 30 Luft spricht generell (für die Bundesrepublik wie die DDR) von dem Fortwirken „preußischer Forschungstraditionen mit ihrer kontinuierlichen Geringschätzung habsburgischer Territo­ rien“. Luft: Deutsche und Tschechen, S. 416.

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ließ. Hier hieß es: „Sollte unsere gerechte Sache obsiegen, dann dürfte sich viel­ leicht auch den Böhmen und Mährern der Augenblick darbieten, in dem sie ihre nationalen Wünsche gleich den Ungarn verwirklichen können“.31 Dieses Ausspie­ len der national-tschechischen Karte durch Bismarck zu Beginn des Bruderkriegs innerhalb des Deutschen Bundes 1866 geschah ohne Erwähnung oder Berück­ sichtigung der Existenz einer beachtlichen deutschen Minderheit in Böhmen und Mähren. Für dieses Ignorieren sudetendeutscher Interessen im Zuge der klein­ deutschen Reichseinigung Bismarcks und für das fortwirkende 1866er Trauma der Sudetendeutschen konnte allerdings die aktuelle Kontroverse um Celovsky kaum einen geeigneten Anlass zu sachlichen Diskussionen bieten. „Der Fall ist selten in Deutschland, dass ein Buch die Gemüter in Wallung bringt.“32 So charakterisierte eine bundesrepublikanische Zeitung im Sommer 1958 die öffentliche Diskussion um Celovskys Dissertation. Unter dem Eindruck dieser Auseinandersetzungen hatte man im Institut für Zeitgeschichte Überlegun­ gen über eine adäquate Reaktion auf die Polemik aus dem rechten Flügel der sudeten­deutschen Landsmannschaft angestellt. Sie schienen sich im Mai 1958 in dem Plan eines Colloquiums zu konkretisieren. An ihm sollten sechs bis acht su­ detendeutsche Wissenschaftler aus den drei Lagern der Landsmannschaft – dem sozialistischen, dem katholischen und der Gruppe der „Nationalen Rechten“ – teilnehmen. Kluke dachte – außer an die Mitwirkung des Doktorvaters Fuchs – an die Teilnahme des (vor wie nach 1945 einflussreichen) Leiters der „Histori­ schen Kommission der Sudetenländer“, Dr. Kurt Oberdorffer, sowie an die Mit­ wirkung von zwei bis drei Herren des IfZ und von einem Mitarbeiter aus dem Team, das unter der Leitung von Theodor Schieder die offiziöse „Dokumentation zur Vertreibung der Deutschen“ bearbeitete. Anfang Mai 1958 hatte der promi­ nente Sudetendeutsche Dr. Kurt Rabl33 in einem Gespräch mit Kluke ebenfalls den Plan eines Gesprächs im „Institut für Zeitgeschichte“ angeregt, zu dem auch Boris Celovsky aus Kanada nach München eingeladen werden sollte. 31 Jaksch

zitiert (S. 54) nach der Wiedergabe dieser Proklamation in den Memoiren des groß­ deutschen Mitgründers der Sozialdemokratie August Bebel. Die Proklamation ist nicht ent­ halten in: Bismarck, Otto von: Werke in Auswahl, Jahrhundertausgabe zum 23. September 1862, Bd. III, unter beratender Mitwirkung von Wilhelm Schüßler und Rudolf Buchner hg. von Eberhard Scheler, 1965. Ebenso nicht in der großen „Friedrichsruher Ausgabe“ aus der Zeit der Weimarer Republik und des „Dritten Reiches“. Zu Bismarcks Argument der „gerech­ ten Sache“ Preußens vgl. neuerdings Winfried Baumgarts Feststellung (die alte Ergebnisse der Bismarck-Forschung eindrucksvoll bestätigt), dass aus dem von ihm edierten 7. Band der „Auswärtigen Politik Preußens“ die „alles überragende Einsicht“ hervorgehe, „dass Bismarck den Deutschen Krieg von 1866 nicht nur gewollt, sondern systematisch und mit unbeugsa­ men Willen vorbereitete, ja geradezu entfesselt hat. Es gibt nur wenige Momente in der neue­ ren Geschichte, für die ein solches Urteil mit dieser Klarheit gefällt werden kann; der Aus­ bruch – die Entfesselung – des ersten Schlesischen Krieges 1740 und des Zweiten Weltkrieges 1939 gehören dazu“. Vgl. Baumgart, Winfried: Bismarck und der Deutsche Krieg 1866. Im Lichte der Edition von Band 7 der „Auswärtigen Politik Preußens“. In: Historische Mitteilun­ gen 20 (2007), S. 93–115, hier S. 95). 32 Wie Anm. 26. 33 Er war nach 1939/40 Leiter der Rechtsabteilung in der damaligen Slowakei bzw. im Reichs­ kommissariat der besetzten Niederlande.

454   Josef Becker Der Plan zerschlug sich. Ende Juni 1958 teilte Fuchs dem Institut mit, dass Dr. Oberdorffer seine Teilnahme abgesagt habe wegen seiner Befürchtung, dass die Zusammensetzung des Diskussionskreises „den tages- und parteipolitischen Fra­ gestellungen mehr [als wissenschaftlichen Gesichtspunkten] entsprechen wird“.34 Im Übrigen hatte Kluke die Realisierung des Colloquium-Plans abhängig gemacht von der Mitwirkung des prominentesten Celovsky-Kritikers Wenzel Jaksch. Am 8. Juli 1958 teilte der Direktor des Münchener Instituts Fuchs in Heidelberg mit, dass Jaksch dem Institut eine Absage erteilt hatte. Dahinter vermutete Kluke in seinem Brief vor allem taktische Rücksichten im Kampf um die Führung der su­ detendeutschen Landsmannschaft. Das Colloquium fand daher nicht statt. Parallel damit liefen Bemühungen des Instituts, vor allem im Hinblick auf Wenzel Jaksch und nach der Landtagsattacke von Becher die Presse für dezidierte Stellungnahmen gegen die nationalistischen Heißsporne unter den Heimatver­ triebenen zu gewinnen. Der Generalsekretär der Instituts Helmut Krausnick setz­ te sich im Mai 1958 mit Theo Sommer von der „Zeit“ in Verbindung. Sommer hatte in Tübingen bei Hans Rothfels promoviert, wurde später Herausgeber die­ ser Wochenzeitung und arbeitete eng mit Gräfin Marion Dönhoff zusammen, die 1945 ihre ostpreußische Heimat verloren hatte. Ihr Eintreten zugunsten einer Aussöhnung mit den östlichen Nachbarn Deutschlands war daher besonders glaubwürdig.35 Im Hinblick auf Jaksch meinte Krausnick: es werde sich „vielleicht aus taktischen Gründen empfehlen, Jaksch nicht gänzlich mit den Extremisten der Sudetendeutschen Landsmannschaft zu identifizieren, sondern vielmehr iro­ nisch seine neuerliche Solidarität mit Leuten jener Art zu kommentieren, für die Jaksch einst ein Verräter war und denen er heute dennoch als Mitstreiter willkom­ men ist“. Die erwünschte publizistische Resonanz in der „ZEIT“ haben diese Kon­ takte offensichtlich nicht erzielt. Angesichts der fortdauernden Polemik der „Nationalen Rechten“ in der Lands­ mannschaft gegen das Buch von Celovsky verdichtete sich auch in der Presse der Eindruck, dass es um mehr gehe als nur um eine einzelne Publikation wie die von Celovsky. In der „Welt“ vom 2. September 1958 veröffentlichte Volker von Hagen einen Artikel unter der Überschrift „So kommen wir nicht zu einem neuen Mit­ 34 Noch

am 2. Mai 1958 hatte Oberdorffer Celovskys Doktorvater mitgeteilt, er sei „überzeugt, dass trotz mancher Kritik […] die sachliche Leistung, die wissenschaftliche Sorgfalt und das redliche Bemühen, der anderen Nation gerecht zu werden, bei Dr. Celovsky anerkannt wer­ den muss“. 35 Mit Gräfin Dönhoff war Krausnick in telefonischen Kontakt getreten (Brief Krausnicks an Gräfin Dönhoff vom 5. Juli). Von ihren preußischen Familientraditionen her war die spätere Chefredakteurin und Herausgeberin der „ZEIT“ auf Polen und Rußland hin orientiert, nicht auf ehemalige Territorien der Habsburger-Monarchie und deren Nachfolgestaaten (vgl. dazu das Urteil der Grünen-Politikerin und Bundestagsvizepräsidentin 1994–2005 Antje Vollmer, die mit Gräfin Dönhoff gut bekannt war und sich in den Bemühungen um eine Aussöhnung mit der Tschechoslowakei/Tschechien besonders engagierte. In: Vollmer, Antje: Meisterin der sparsamen Mittel. In: Buhl, Dieter: Marion Gräfin Dönhoff. Wie Freunde und Weggenossen sie sahen, Berlin 2008, S. 356. Vollmer erklärt hier die „Sonderrolle“ der Sudetendeutschen in der Bundesrepublik hauptsächlich mit der Tatsache, dass sie ein Teil von Deutsch-Österreich und bereits in der Zwischenkriegs-Tschechoslowakei eine „organisierte Minderheit“ waren).

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teleuropa. Das Kesseltreiben unter den Vertriebenen“. Er sah die Auseinanderset­ zungen um die Publikation der Dissertation von Celovsky durch das Institut für Zeitgeschichte vor dem Hintergrund der „Diffamierung von Politikern und Pub­ lizisten“, die zu „Gesprächen mit den Ostblockländern rieten. Jetzt soll“, so der Journalist in dem Springer-Blatt, „die Welle des Rufmordes auch auf Wissen­ schaftler übergreifen. Wir meinen, die Wissenschaft sollte in einem vorauszuse­ henden Kampf um die Freiheit der Forschung nicht allein gelassen werden.“ Um die „Autonomie der historischen Forschung“ ging es auch auf der gemein­ samen Sitzung von Beirat und Kuratorium des „Instituts für Zeitgeschichte“ am 13. Januar 1959.36 Paul Kluke referierte zunächst über die öffentliche Resonanz auf die umstrittene Publikation der Autobiografie des KZ-Kommandanten Ru­ dolf Höß37 durch den späteren Direktor des Instituts Martin Broszat und umriss dann die Reaktionen auf die Dissertation von Celovsky. Während die führenden Organe der deutschen Presse Celovskys München-Monografie „positiv“ bewertet hätten, werfe ihm eine Gruppe aus der Sudetendeutschen Landsmannschaft „Tschechoslowakismus“ vor. In der Diskussion hob der Berliner Historiker Hans Herzfeld (dessen akademi­ sche Karriere nach nationalkonservativen Anfängen in der Weimarer Republik das nationalsozialistische Regime aus „rassischen“ Gründen unterbrochen hatte), „dass es gerade die Aufgabe des Instituts sei, durch Arbeiten wie die von Celovsky wissenschaftliche Diskussionen über zentrale zeitgeschichtliche Themen auszulö­ sen“. Hans Rothfels stellte die Kritik an Celovsky in Zusammenhang mit der Pole­ mik von Teilen der Vertriebenenverbände gegen die „Dokumentation der Vertrei­ bung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa“ und sprach sich für eine prinzipielle und allgemeine Darstellung der Versuche von bestimmten Verbänden aus, auf zeitgeschichtliche Forschungsprojekte Einfluss zu gewinnen.38 Rothfels brachte die zentrale Problematik auf den Punkt, als er erklärte, hinter der Presse-Polemik stünde als Ziel solcher Verbände, „eine Art wissenschaftlicher Nebenregierung zu etablieren und ein öffentliches Zensoramt auszuüben“, um damit die (wie man heute sagen würde) „geschichtspolitische“ Deutungshoheit in umstrittenen Fra­ gen der Zeitgeschichte zu gewinnen. 36 Das

Folgende nach dem Entwurf des Ergebnisprotokolls (ID 8/11). Rudolf: Kommandant in Auschwitz. Autobiographische Aufzeichnungen, eingeleitet und kommentiert von Martin Broszat. Stuttgart 1958 (das Buch erschien als Band 5 der Insti­ tuts-Reihe „Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte“ und erreichte bis 1963 drei Aufla­ gen). 38 Diese Aufgabe übernahm Theodor Schieder: Die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten als wissenschaftliches Problem. In: VfZ 8 (1960), S. 1–16. Fuchs hatte (nach einem Brief an Krausnick vom 16. Februar 1959) Schieder seine Unterlagen über die Polemik gegen Celovsky angeboten, wovon Schieder aber keinen Gebrauch machte. In seiner „Vorbemerkung“ zu Schieders Aufsatz unterstrich H. Rothfels (und spielte damit offensichtlich – auch – auf die Kontroversen um Celovsky an): „Es besteht aller Anlass, auf gewisse Gefährdungen der unab­ hängigen Wissenschaft durch den Versuch politischer Einflußnahme vonseiten der ‚Verbände‘ hinzuweisen. Bei aller Bereitschaft des Historikers, von ,Zeugenberichten‘ zu lernen, kann ein Zensurrecht der Beteiligten oder Nächstbetroffenen nicht wohl anerkannt werden“, ebenda S. 1. 37 Höss,

456   Josef Becker Die gemeinsame Erklärung von Beirat und Kuratorium des Instituts wurde pu­ blik gemacht und von Krausnick (wohl im Hinblick auf die Mitgliedschaft von Wenzel Jaksch im Bonner Parlament) Bundestagspräsident Gerstenmaier über­ mittelt.39 Sie wirkte aber auf die radikalen Protagonisten der Kampagne gegen Celovsky und gegen das Münchener Institut nicht dämpfend. Selbst Wenzel Jaksch verschärfte noch seine Attacke auf das „Institut für Zeitgeschichte“ mit der Feststellung, dass der „Skandal“, den bereits die Instituts-Veröffentlichung der Dissertation Celovskys dargestellt habe, übertroffen werde durch den „noch grö­ ßeren Skandal“ der Verteidigung dieser Publikation durch die öffentliche Erklä­ rung von Beirat und Kuratorium. Das „Institut“ suchte danach über den Landesvorsitzenden der bayerischen SPD Waldemar von Knoeringen mäßigend auf Wenzel Jaksch einzuwirken. „Im Endeffekt“, so Generalsekretär Helmut Krausnick, „läuft die Argumentierweise von Herrn Jaksch darauf hinaus, die seinerzeitigen demokratischen Kräfte der Su­ detendeutschen heute als Schutzschild vor die dringend erforderliche Kritik an der Politik Hitlers und seiner Instrumente Henlein und K. H. Frank zu schieben. […] Auf die Mühle welcher aktuellen politischen ,Kräfte‘ eine Polemik wie die von Herrn Jaksch Wasser treibt, unterliegt jedenfalls für uns ,weltfremde Histori­ ker‘ keinem Zweifel“. Ob es dem bayerischen SPD-Vorsitzenden Waldemar von Knoeringen tatsächlich gelungen ist, zum damaligen Zeitpunkt den Zorn seines Parteifreundes Jaksch auf die deutsche Zeitgeschichtsforschung zu beschwichti­ gen, darf bezweifelt werden. Dennoch wurden die Auseinandersetzungen um Celovskys „München 1938“ allmählich in ruhigere Bahnen gelenkt. Noch im Oktober 1958 erfuhr Celovsky, dass sich gegenüber dem damaligen Landesvorstandsmitglied der rheinland-pfäl­ zischen CDU Helmut Kohl ein maßgeblicher Bundestagsabgeordneter der Sude­ tendeutschen von der Kampagne ausdrücklich distanziert und erklärt habe, das Echo bei den Sudetendeutschen auf die Heidelberger Dissertation sei keineswegs einhellig negativ.40 In seiner Autobiografie „My Lives“ erwähnt Celovsky, dass das „Mitteilungsblatt“ der katholischen Ackermann-Gemeinde der Sudetendeutschen eine abgewogene Besprechung seines Buches brachte und sich der Journalist und historische Publizist Emil Franzel (der gewiss nicht in dem Verdacht des „Tsche­ choslowakismus“ stand) sowie Kurt Oberdorffer und der spätere Grazer Jurist und Politologe Helmut Slapnicka darum bemühten, „to introduce some civility in the discussion“ (S. 86). Das traf auch für das Collegium Carolinum zu. Es war 1956 in der bayerischen Landeshauptstadt gegründet worden41 – nach dem Willen Wilhelm Hoegners 39 Empfangsbestätigung

von dessen Referenten Dr. K. Lohmann für Krausnick vom 16. Februar 1959; eine persönliche Reaktion Gerstenmaiers war in den gesichteten Münchener Akten nicht zu ermitteln. 40 Mein Brief an Celovsky vom 25. Oktober 1958. Kohl wurde 1958 bei Fuchs promoviert. Vgl. Fußnote 6. 41 Die Gründung wurde von der „Historischen Kommission der Sudetenländer“ betrieben, konnte aber erst nach der Bildung der bayerischen „Viererkoalition“ und mit einer Startför­

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(SPD), des Ministerpräsidenten der „Viererkoalition“ in München (SPD, Bayern­ partei, FDP und GB/BHE 1954–1957), im Sinne einer Verbesserung des deutschtschechischen Verhältnisses u. a. durch „wissenschaftliche Zusammenarbeit“ mit slawischen Gelehrten. Es stand unter der formellen Leitung des renommierten Mediävisten Theodor Mayer42 (Konstanz), während die laufenden Geschäfte des Instituts im wesentlichen von dem aus der Oberpfalz stammenden agilen Würz­ burger, später Münchener Landeshistoriker Karl Bosl betrieben wurden. Es war für den Start wie für die weitere Entwicklung des „Collegium Carolinum“ we­ sentlich, dass an seiner Spitze ein Oberösterreicher und ein Oberpfälzer standen, die von ihrer Herkunft her nicht direkt in die unterschiedlichen Parteiungen bei den vertriebenen Sudetendeutschen verwickelt waren. Dem Gründungsvorstand des „Collegium Carolinum“ gehörte auch der aus Oberösterreich stammende frühere Prager Völkerrechtler (1940–45) Hermann Raschhofer (Würzburg) an, der vor 1945 nationalsozialistischer Kronjurist für ethnische Minderheitenfragen war. Als stellvertretender Vorsitzender hatte er schon kurze Zeit nach dem Erscheinen von Celovskys Buch darauf gedrängt, dass sich das Institut von dieser Heidelberger Dissertation „distanziere“, war mit dieser Forderung allerdings auf strikte Ablehnung bei Theodor Mayer gestoßen. Rasch­ hofer hatte sich darüber hinaus ein Anti-Celovsky-Manuskript von Dr. Neuwirth ausarbeiten lassen – wie Theodor Mayer drastisch formulierte: „nun will er sich mit diesen Federn schmücken“.43 Vor allem auf Betreiben von Raschhofer plante das „Collegium Carolinum“ für Ende Januar 1959 eine „Arbeitstagung“44, auf der das „Celovsky-Buch“ ein zent­ rales Thema sein sollte. Raschhofers Ziel war es dabei offensichtlich auch, Ober­ derung durch das Bundesministerium für Gesamtdeutsche Fragen erfolgen. Zur früheren Gründung (1949) eines informellen sudetendeutschen Akademikerkreises Collegium Caroli­ num (Leitung: der spätere Bundesminister Theodor Oberländer) und zu ihrem ersten Her­ vortreten bei Augsburger Hochschultagen 1950 vgl. zusammenfassend jetzt Luft: Deutsche und Tschechen, S. 392 bzw. 397 ff. 42 Der aus Oberösterreich stammende Theodor Mayer war 1927–1930 o. Prof. für mittelalterli­ che Geschichte und historische Hilfswissenschaften an der Deutschen Universität in Prag, trat 1937 (damals in Freiburg/Breisgau) in die NSDAP ein und wurde nach dem Verlust einer Vielzahl akademischer Ämter 1945 im Jahr 1956 Gründungsvorsitzender, 1958 erster Vorsit­ zender des Collegium Carolinum, bei seinem Ausscheiden aus diesem Amt 1970 dessen Eh­ renvorsitzender. Schon seit den 1960er Jahren hat Karl Bosl unter dem Vorsitz von Theodor Mayer die Entwicklung des Collegium Carolinum im Wesentlichen im Sinne einer vorwie­ gend historisch arbeitenden wissenschaftlichen Institution vorangetrieben. Vgl. Luft: Deut­ sche und Tschechen, S. 400. 43 Brief Th. Mayers an E. Schwarz/Erlangen, K. Oberdorffer/Ludwigshafen und Dr. H. Sturm/ Amberg vom 6. August 1958. Mayer warf Raschhofer „Sabotage“ bei der Zusammenarbeit im Collegium Carolinum und mit der Historischen Kommission der Sudetenländer vor und schloss, Raschhofer könne gehen, wenn er wolle, „aber dass er als CC auftritt und die Histori­ sche Kommission an die Wand gedrückt wird, ist m. E. untragbar“. Raschhofer schied aus dem Collegium Carolinum 1961 aus. 44 Vorausgegangen war ein (offenbar an internen Spannungen) gescheiterter Versuch Rasch­ hofers, für Ende September 1958 – also das Datum der Münchener Konferenz – eine Arbeits­ tagung mit Referaten von ihm selbst, Emil Franzel, Ďurčanský, Neuwirth und Jaksch zu ­planen (Vorlage für die Vorstandssitzung des Collegium Carolinum am 2. August 1958).

458   Josef Becker dorffer zu einem Dementi einer ihm unterstellten Äußerung zu bewegen, dass Henlein bei seinen drei Englandreisen zwischen 1935 und 1938 ein Doppelspiel im Dienste Hitlers getrieben habe. Dazu kam es dann offenbar nicht, was wohl nicht zuletzt der Regie Bosls zu verdanken war.45 Bei mündlichen Vorgesprächen war Paul Kluke ebenfalls eingeladen worden – schriftlich allerdings erst vier Tage vor Beginn der „Arbeitstagung“. Kluke bekundete sein grundsätzliches Interesse an der Tagung, sagte aber mit dem ostensiblen Grund ab, dass er für den fragli­ chen Termin bereits seine Zusage für eine deutsch-englische Tagung an der Evan­ gelischen Akademie in Loccum/Niedersachsen gegeben habe. Einer Anregung Klukes, die Arbeitstagung zu verschieben, entsprach das „Collegium Carolinum“ nicht. Für das Einleitungsreferat bei der Tagung war Raschhofer nominiert worden. Die Befürchtungen, die sich damit verbanden, fanden in der Presseerklärung über die Tagung des „Collegium Carolinum“ keine volle Bestätigung. Bosl, sichtlich bemüht, Brücken zum Institut für Zeitgeschichte zu schlagen, teilte nach der Ta­ gung Paul Kluke mit (5. Februar 1959), Raschhofer wie die anderen Referenten hätten sich um eine objektive Darstellung bemüht. Die offizielle Verlautbarung über die Tagung beruhte auf einer Vorlage Raschhofers, der darauf gedrängt hat­ te, dass die „Gemeinsame Erklärung von Beirat und Kuratorium des Instituts für Zeitgeschichte“ eine öffentliche Antwort erhalte. In der dann veröffentlichten Kompromissfassung hieß es, dass Celovskys Buch zwar „keineswegs“ als „abschlie­ ßendes objektives Bild“ der Münchener Konferenz betrachtet werden könne. Das Communiqué bescheinigte jedoch der Heidelberger Dissertation, dass sie „auf Teilbereichen wertvolle Beiträge“ leiste.46 Das konnte in der damaligen Situation als ein gemäßigtes Urteil von einer Ins­ titution gelten, die den vertriebenen Sudetendeutschen besonders nahestand, ohne von deren Interessenvertretung dominiert zu werden, und zugleich auch als ein Signal zu sachlichen Gesprächen. Krausnick teilte den im Bonner Innenminis­ terium zuständigen Prof. Dr. Hübinger mit, dieses Resultat sei vor allem den Ein­ wirkungen des Vorsitzenden des „Collegium Carolinum“, Theodor Mayer, und Karl Bosl zu verdanken. Kluke nahm dann auch an der auf der „Arbeitstagung“ vorbereiteten „Wissenschaftlichen Fachtagung“ des „Collegium Carolinum“ (Juni 1959) teil, mit deren weiterer Planung Bosl beauftragt war. Auf dieser „Fachta­ gung“ hielt nicht Raschhofer den grundlegenden Einleitungsvortrag; über „Das 45 Auf

der Vorstandssitzung des Collegium Carolinum am 19. Oktober 1959 schnitt Raschhofer dieses Thema erneut an – hier unter Bezugnahme auf die Rezension des Celovsky-Buches durch Otakar Odložilík in dem „Journal of Central European Affairs“ (1959). 46 Bosl übernahm es, diese Erklärung dem Institut für Zeitgeschichte zur Kenntnis zu bringen (Protokoll der Sitzung des Vorstandes des Collegium Carolinum vom 31. Januar 1959). In dem Geschäftsbericht des CC vom 3. Juni 1959 heißt es, dass der bei der Arbeitstagung anwe­ sende Vertreter des Kultusministeriums v. Elmenau besonders von der „wissenschaftlich ge­ botenen Zurückhaltung sämtlicher Teilnehmer außerordentlich beeindruckt“ gewesen sei. Aus einem Gespräch von Th. Mayer, Bosl und Neuwirth mit Kluke und dem neuen General­ sekretär H. Krausnick leite das Collegium Carolinum die Hoffnung auf eine „gedeihliche Zu­ sammenarbeit“ mit dem Institut für Zeitgeschichte ab.

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Münchner Abkommen und der Zweite Weltkrieg“ sprach der wenige Wochen zu­ vor aus der Leitung des „Instituts für Zeitgeschichte“ ausgeschiedene und nach Frankfurt berufene Paul Kluke, der bislang in einem der Zentren von Attacken radikaler Sudetendeutscher gestanden hatte.47 Raschhofers Beitrag zu dieser ­Tagung („Das Münchner Abkommen und die sowjetische Note vom 10. Januar 1959“) blieb die einzige seiner Publikationen, die vom „Collegium Carolinum“ veröffentlicht wurde. Ungefähr zur gleichen Zeit zog Celovsky eine Art von Schlussstrich unter die publizistischen Kontroversen des vergangenen Jahres. Er hatte im Frühjahr 1959 Wenzel Jaksch einen Artikel in der „Tribuna“ (Leyden), dem Organ des „Czecho­ slovak Foreign Institute in Exile“, angeboten – eine Einladung, die sein Kontra­ hent aus dem Vorjahr auch akzeptierte. In einem Brief Celovskys vom Frühjahr 1959 heißt es:48 „Herr Jaksch wirkt sehr maessigend – schlechtes Gewissen? Ja, sind wir doch in einer ,mess‘. Alle wollen wir dasselbe, und doch klappt es nicht“. Im übrigen notierte Celovsky in diesem Brief sarkastisch: „Jetzt [nach Angriffen der kommunistischen Presse der CSSR wegen seiner ‚Bourgeois-Auffassung und Deutschfreundlichkeit‘] bin ich also alles: Beneschs Nachwuchs, Kommunist, Na­ tionaltscheche, Deutscher.“ Er hätte noch „Sudeten-Faschist“ hinzufügen können, wie ihn die offizielle sowjetische Geschichte des Zweiten Weltkriegs stigmatisier­ te.49 Celovsky schloss: „No ja, das geht ja noch alles. Noch niemand hat mir meine kanadische Staatsbürgerschaft vorgeworfen, so ist es gar nicht so schlimm.“ Drei Jahrzehnte später, anlässlich des 50. Gedenktags des Münchener Abkommens und ein Jahr vor dem Zusammenbruch der sowjetischen Hegemonie in Ostmitteleu­ ropa, hatte Boris Celovsky die Genugtuung, dass er einer von zwei Historikern tschechischer Herkunft war, die das „Collegium Carolinum“ zu einer wissen­ schaftlichen Konferenz einlud. Celovsky musste aus Gründen, die offensichtlich nicht mit den früheren Kontroversen zusammenhingen, ablehnen. * Für Boris Celovsky ist die glanzvolle Promotion in Heidelberg nicht zum erhoff­ ten Entreebillet bei den (damals primär national und regional orientierten) His­ torikern in Kanada geworden. Zwar wurde er 1956 zu einer Podiumsdiskussion „Canadian historiography – three views“ auf der Jahresversammlung der kanadi­ schen Historiker in Montréal eingeladen. Der Vorschlag kam von Guy Frégault, 47 Vgl.:

Die Sudetenfrage in europäischer Sicht. Berichte über die Vorträge und Aussprachen der wissenschaftlichen Fachtagung des Collegium Carolinum in München-Grünwald am 1.– 3. Juni 1959. München 1962 (Klukes Vortrag bezog sich mehrfach auf Celovsky. An der Aus­ sprache beteiligten sich Ernst Birke, Hermann Raschhofer, Hans Neuwirth, Rudolf Wierer, Ankenbrank, Kurt Rabl, Berger, Helmut Krausnick und Böhmert. Vgl. dazu auch Luft: Deut­ sche und Tschechen, S. 411). Bosl hatte ursprünglich versucht, G. Barraclough oder M. Freund für den Einleitungsvortrag zu gewinnen, aber Absagen erhalten. 48 Brief an mich vom 10. Mai 1959. 49 Vgl. Wandycz, Piotr: Munich in Polish Historiography. In: Taubert, Fritz (Hg.): Mythos Mün­ chen. Le Mythe de Munich. The Myth of Munich. München 2002, S. 338. Zu Celovsky vgl. hier auch Seibt, Ferdinand: Mythos München, S. XV–XXV, hier S. XIX.

460   Josef Becker einem der führenden frankophonen Historiker Kanadas und notorischen Oppo­ nenten gegen das dominante anglophone Establishment in der Canadian Histori­ cal Association. Wenig geneigt zu „diplomatischen“ Kompromissen, wie Celovsky war, vor dem Hintergrund seiner europäischen Erfahrungen mit der internatio­ nalen Forschungsentwicklung zur Zwischenkriegszeit und versehen mit internen Informationen einiger wissenschaftlicher „Jungtürken“ aus dem kanadischen Ar­ chivdienst wurde der Beitrag auf der Podiumsdiskussion zu einer sehr kritischen Bilanz der Zeitgeschichte in Kanada. Damit war der Zugang zu einer akademi­ schen Karriere in seinem neuen Heimatland definitiv versperrt.50 Von Celovskys Studienaufenthalt am Neckar geblieben ist sein frühes historio­ grafisches Meisterwerk. Für die Geschichtsschreibung im ersten Jahrzehnt der jungen Bundesrepublik haften im Gedächtnis die Erinnerungen an die „ge­ schichtspolitischen“ Auseinandersetzungen der Jahre 1958/59, an die Standfestig­ keit von Celovskys Doktorvaters Fuchs wie an die Unbeirrbarkeit der Historiker des Münchener „Instituts für Zeitgeschichte“ bei den Versuchen, historische Bei­ träge zur jüngsten deutschen und europäischen Geschichte im Spannungsfeld von Politik und Wissenschaft der Zensur durch eine „wissenschaftliche Nebenre­ gierung“ zu unterwerfen.51 30 Jahre nach den bundesrepublikanischen Kontroversen um seine Heidelber­ ger Dissertation hatte Boris Celovsky das Glück, den Zusammenbruch des Sow­ jet-Imperiums erleben und in seine tschechische Heimat zurückkehren zu kön­ nen. Er starb zu Beginn des Jahres 2008.52 Die Stadt Ostrau (Ostrava), wo er mehr 50 Vgl.

dazu die einschlägigen Abschnitte in „My Lives“, S. 77 f. 16. Juli 2003 berichtete die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ unter der Überschrift „Ver­ frühte Europäisierung. Die Auseinandersetzung um ein Zentrum gegen Vertreibungen geht weiter“ über eine Konferenz an der Europa-Universität Viadrina (Frankfurt/Oder) über die konkurrierenden Pläne in der Bundesrepublik Deutsch­land, ein nationales oder ein internati­ onales Zentrum über Vertreibungen einzurichten. Hauptgesprächspartner waren unter polni­ scher Beteiligung (Włodimierz Borodziej) deutsche Historiker (darunter Hans Lemberg und Karl Schlögel) und Vertreter des „Bundes der Vertriebenen“. In den Debatten spielte auch eine Rolle eine den Plan des Vertriebenenbundes ablehnende Stellungnahme des Friedenspreisträ­ gers des deutschen Buchhandels (1986) und zeitweiligen polnischen Außenministers in der Zeit der Wende 1989/90 Władysław Bartoszewski (der in den 1980er Jahren lange Semester Gastprofessor für Politische Wissenschaften an den Universitäten Eichstätt und Augsburg war). Die Ablehnung der Historiker hinsichtlich des bestimmenden Einfluss der Vertriebe­ nenverbände auf die Gestaltung des geplanten Zentrums war nach dem FAZ-Bericht einhel­ lig. Im Rückblick auf den „Fall“ Celovsky 1958/59 gilt offenbar immer noch: „nil novi sub sole“. – Nicht mehr berücksichtigen konnte ich die Monographie: Salzborn, Samuel, Geteilte Erinnerung, Die deutsch-tschechischen Beziehungen und die sudetendeutsche Vergangenheit, mit einem Nachwort von Jan Křen. Frankfurt am Main u. a. 2008 (mit zwei Kapiteln über Raschhofer und die Problematik des „Zentrums gegen Vertreibungen“). 52 Vgl. den Nachruf, der im „Ottawa Citizen“ am 13. Februar 2008 erschien und vor allem auf Aspekte seiner Tätigkeit in Kanada abhob (für die freundliche Übermittlung dieses Artikels danke ich Jürgen Zarusky). Die deutsche Ausgabe von Celovskys letztem Buch (mit seinen auch dem Autor selbst bekannten Schwächen) war bereits einer langen Krankheit abgerungen (Germanisierung und Genozid. Hitlers Endlösung der tschechischen Frage. Deutsche Doku­ mente 1933–1945. Dresden o. J. [2005]). In den Schlusssätzen meines „Vorworts“ heißt es: „In der Retrospektive auf die Arbeit an seiner Dissertation über das Münchener Abkommen 51 Am

Der „Fall Celovsky“ in der Bundesrepublik 1958/59   461

als achtzig Jahre zuvor geboren worden war, ehrte im Jahre 2003 seine wissen­ schaftlichen und publizistischen Leistungen im Exil und dann in seiner Heimat mit dem Preis der Stadt. Es war dies eine verdiente Auszeichnung für einen Histo­ riker, dessen Heidelberger Dissertation noch rund fünfzig Jahre nach ihrer Veröf­ fentlichung international als die beste monografische Darstellung und diploma­ tiegeschichtliche Analyse des „Münchener Abkommens“ von 1938 gilt.

schrieb Boris Celovsky, er habe sich bei ihrer Niederschrift ‚mit Vergangenheit und Gegen­ wart ausgesöhnt‘. In diesem Sinne sollte auch dieser Rückblick auf die nationalsozialistische Politik gegenüber der Tschechoslowakei ein Beitrag sein zu einem besseren Verständnis zwi­ schen Deutschen und Tschechen“ (S. 10).

Verzeichnis der Abkürzungen AA ABS AČNB ADAP ADÖ AdR AMV AMZV AN ATUS BArch BdL BHE CC CDU CPDN ČSR ČSSR CSU ČSSD DAG DAWG DBFP DCSVP DČSZP DDF DDFP DDP DDR DGB DHI DITEX DM DP

Auswärtiges Amt Archiv bezpečnostních složek [Archiv der Sicherheitskräfte] Archív České národní banky [Archiv der Tschechischen Nationalbank] Akten zur Deutschen Auswärtigen Politik Außenpolitische Dokumente der Republik Österreich Archiv der Republik Archiv Ministerstva vnitra [Archiv des Innenministeriums] Archiv Ministerstva zahraničních věcí [Archiv des Außenministeriums] Archives Nationales Arbeiter- Turn- und Sportverband Bundesarchiv Bund der Landwirte Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten Collegium Carolinum Christlich Demokratische Union Deutschlands Comité permanent de la défense nationale Československá Republika [Tschechoslowakische Republik] Československá Socialistická Republika [Tschechoslowakische Sozialistische Republik] Christlich-Soziale Union Česká strana sociálně demokratická [Tschechische Sozialdemokratische Partei] Deutsche Arbeitergewerkschaft Deutsche Arbeits- und Wirtschaftsgemeinschaft Documents on British Foreign Policy Deutsche Christlich-Soziale Volkspartei Dokumenty československé zahraniční politiky [Dokumente zur tschechoslowakischen Außenpolitik] Documents diplomatiques français Deutsche Demokratische Freiheitspartei Dokumente der Deutschen Politik Deutsche Demokratische Republik Deutscher Gewerkschaftsbund Deutscher Hauptverband der Industrie Département de l’innovation technologique et des entrées par voie extraordinaire Dokumente und Materialien aus der Vorgeschichte des Zweiten Weltkriegs Deutsche Partei

464   Verzeichnis der Abkürzungen DRA DRC DSAP DTJS DWV

Deutsches Rundfunkarchiv Defence of the Realm Committee Deutsche Sozialdemokratische Arbeiterpartei Tagebuch und Akten Jan Szembeks Deutsche Wirtschaftsverband der Tschechoslowakischen Republik EKKI Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale FBI Federal Bureau of Investigation FDP Freie Demokratische Partei FSB Federal’naja služba bezopasnosti Rossijskoj Federacii [Föderaler Sicherheitsdienst der Russischen Föderation] GB Gesamtdeutscher Block HSĽS Hlinkova slovenská l’udová strana [Hlinkas Slowakische Volkspartei] ChS Chemischer Verein IfZ Institut für Zeitgeschichte IMG Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg KdF Kraft durch Freude KdP Karpatendeutsche Partei KP Kommunistische Partei KPD Kommunistische Partei Deutschlands KSČ Komunistická strana Československa [Kommunistische Partei der Tschechoslowakei] Küm Külügyminisztérium [Außenministerium Ungarns] LCVA Lietuvos Centrinis Valstybinis Archyvas [Zentrales Staatsarchiv Litauen] MLS Mimořádný lidový soud [Außerordentliches Volksgericht] MNO-HŠ Ministerstvo národní obrany – Hlavni štáb [Ministerium der Nationalen Verteidigung – Generalstab] MOL Magyar Országos Levéltár [Ungarisches Staatsarchiv] NA Národní archiv [Nationalarchiv] NARA The United States National Archives and Records Administrations, Washington DC Narkomindel siehe NKID NC Nachlass Chamberlain NKID Narodnyj komissariat inostrannych del [Volkskommissariat für Auswärtige Angelegenheiten] NKVD Narodnyj komissariat vnutrennych del [Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten NPA Neues Politisches Archiv NS Národný súd [Nationales Gericht] NSDAP Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei NSM Německé státní ministerstvo [Deutsches Staatsministerium]

Verzeichnis der Abkürzungen   465

NSV OKH ÖStA PA AA PDD PMR PMV PNOBČSL

RGVA RM RMWi RS RW SA SAP SD SdP SHAT SHD SHF SJ SNA SOA Sopade SPD SS Stiko SVH ŠA UdSSR ÚPV ÚŘP-ST USA ÚVP VfZ VoMi VÚA-VHA WHV

Nationalsozialistische Volkswohlfahrt Oberkommando des Heeres Österreichisches Staatsarchiv Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes Polnische diplomatische Dokumente des Jahres 1938 Prezídium ministerskej rady [Präsidium des Ministerialrates] Prezidium Ministerstva vnitra [Präsidium des Innenministeriums] Protifašistický a národně osvobozenecký boj českého a slovenského lidu 1938–1945 [Antifaschistischer und nationaler Befreiungskampf des tschechischen und slowakischen Volkes 1938–1945] Rossijskij Gosudarstvennyj Voennyj Archiv [Russländisches Staatliches Militärarchiv] Reichsmark Reichswirtschaftsministerium Rasse- und Siedlungshauptamt Republikanische Wehr Sturmabteilung Sozialistische Arbeiterpartei Sicherheitsdienst Sudetendeutsche Partei Service historique de l’Armée de Terre Service historique de la défense Sudetendeutsche Heimatfront Sozialistische Jugend Slovenský národný archív [Slowakisches Nationalarchiv] Státní oblastní archiv [Staatliches Gebietsarchiv] Sozialdemokratische Partei Deutschlands im Exil Sozialdemokratische Partei Deutschlands Schutzstaffel Stillhaltekommissar für Organisationen Sudetendeutsche Volkshilfe Štátny archív [Staatsarchiv] Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken Úrad predsedníctva vlády [Amt des Regierungsvorsitzenden] Úřad říšského protektora- Státní tajemník [Amt des Reichsprotektors-Staatssekretär] United States of America Úřad vládního prezidenta [Amt des Regierungspräsidenten] Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte Volksdeutsche Mittelstelle Vojenský ústřední archiv/Vojenský historický archiv Praha [Militärisches Zentralarchiv/Militärhistorisches Archiv] Winterhilfswerk

466   Verzeichnis der Abkürzungen ZDP ZK ZS ŽB ŽV

Zipser Deutsche Partei Zentralkomitee Zeugenschrifttum Živnostenská banka [Gewerbebank] Župní vedení [Gauleitung]

Personenregister

Adam, Wilhelm  237 f. Adamthwaite, Anthony  101 Addison, Joseph  102, 105 Adenauer, Konrad  448 Adolf, Frank Bernhard  311 f., 318, 320 Alain (Émile Chartier)  173 Albrechtová, Gertruda  223 Aleksandrovskij, Sergej  110, 112–114, 183, 187, 189–191, 193–199, 205–207 Amstätter, Andreas  266 Anfuso, Filippo  156 Ankenbrank, Kurt  459 Ashton-Gwatkin, Frank  149 Attolico, Bernardo  63, 156 Bachmann, Friedrich  311 Badoglio, Pietro  12 Baldwin, Stanley  24, 46, 50 Barraclough, Geoffrey  459 Barthélemy, Joseph  166 Barthou, Louis  43, 58, 353 Bartoszewski, Władysław  460 Basdevant, Jules  169 Batowski, Henryk  379 Bebel, August  453 Becher, Walter  451, 454 Beck, Józef  202, 349–351, 353, 355–360, 362– 375, 377 f., 380–382 Beck, Ludwig  192, 233–236, 238 Beckmann, Käthe  267 Beckmann, Rudolf  267 Beer, Fritz  123 Beneš, Edvard  39, 65, 92, 97, 103–106, 111– 114, 138, 155, 166 f., 170, 183 f., 190, 195– 197, 199, 205, 220, 224, 229, 370 f., 384 f., 414, 429, 447, 450, 459 Beran, Rudolf  393, 416, 418 f. Berger  459 Berndt, Alfred-Ingemar  149 Berthelot, Philippe  166 Bertram, Adolf  328, 336 Bertsch, Walter  311, 318–320 Beuer, Gustav  267, 270 Bidault, Georges  164 Birke, Ernst  445 f., 459 Bismarck, Otto von  435, 448, 452 f. Bláha, Inocenc Arnošt  424 Blomberg, Werner von  18, 26 f., 233 f. Blum, Léon  97, 106, 162, 167, 230 Böhmert, Viktor  459

Bonnet, Georges  99–101, 106, 110, 112, 153, 160, 164–171, 173–176, 178, 190–192, 195, 201, 362 f., 369, 373 Borodziej, Włodzimierz  460 Bortnowski, Władysław  366 Bose, Herbert von  218 Bosl, Karl  457–459 Botz, Gerhard  286 Brackmann, Albert  446 Brauchitsch, Walther von  234 f., 242 Brockdorff-Ahlefeldt, Walter von  237 Broszat, Martin  308, 429, 455 Brüning, Heinrich  20 Buchheim, Hans  451 Budzislawski, Hermann  225 Buisson, Wilhelm  223 Bülow, Bernhard Wilhelm von  17 f. Bürckel, Josef  287 Burckhardt, Jacob  443 Caillaux, Joseph  169 Canaris, Wilhelm  234, 236, 376 Carley, Michael Jabara  114 Celovsky, Boris  1, 9, 148, 150, 441–460 Černák, Matúš  393, 401 f. Černý, Jan  421 Chalupný, Emanuel  424 Chamberlain, Neville  6, 12, 26, 46–51, 64, 67, 99–101, 103 f., 107, 111 f., 114, 152–157, 165, 169–175, 183, 198, 201, 214, 224, 231 f., 238 f., 242–244, 262 f., 366, 370, 408, 433 Champetier de Ribes, Auguste  100 Chartier, Émile  173 Churchill, Herriot  100 Churchill, Winston  11–13, 51, 98–100, 102, 104, 108, 111, 239 Ciano, Galeazzo  2, 25, 28, 58, 60, 62–66 Colvin, Jan  239 Cooper, Alfred Duff  98, 243 Corbin, Charles  170, 176 Coulondre, Robert  11, 164, 168, 181, 190, 192–194 Czech, Ludwig  92, 251 f. Daladier, Édouard  49, 97, 99–101, 106, 111, 153, 156 f., 159–175, 177 f., 185, 230, 243, 264 De Lacroix, Léopold Victor  106 Dehio, Ludwig  447 Dejmek, Jindřich  106

468   Personenregister Delbos, Yvon  161 Denk, Andreas  266 Dérer, Ivan  222, 389 Deuerlein, Ernst  448 Dimitroff, Georgi  108, 113 f. Dirksen, Herbert von  17, 377 Dodd, William  222 Dönhoff, Marion von  454 Drückhammer, Kathrin  307 Dundr, Vojtěch  417 Ďurčanský, Ferdinand  386 f., 398, 457 Durkheim, Émile  413 Duroselle, Jean-Baptiste  99, 106 Eden, Anthony  12, 46 Eduard VIII.  47 Ehrhard, Ludwig  13 Eilers, Gerhard  312 Eimannsberger, Ludwig von  118 Eisenlohr, Ernst  224 Eliáš, Alois  406 Elser, Johann Georg  7, 245–247 Ernst, Fritz  442 Faber, David  101 Fabre-Luce, Alfred  166 Faucher, Louis-Eugène  167 Faulhaber, Michael von  328 Feierabend, Ladislav Karel  111, 121 Fest, Joachim  232, 239, 242 Fiala, Bohuslav  254 Fierlinger, Zdeněk  114, 189–191, 195, 200, 204 Fischer, Franz  266 Flick, Friedrich  315 Flögel, Gustav  278 Foch, Ferdinand  138 Formis, Rudolf  222 Franco, Francisco  24 f., 60, 63, 246 François-Poncet, André  171–173, 176 Frank, Hans  355 Frank, Karl Hermann  12, 85, 150 f., 280, 294, 296, 300, 311 f., 456 Franke, Emil  416 Franzel, Emil  456 f. Frégault, Guy  459 Freund, Michael  459 Frick, Wilhelm  446 Fritsch, Werner von  27, 233 f. Fritze, Lothar  245–247 Fuchs, Walther Peter  441, 443–446, 450 f., 453–456, 460 Gajda, Radola  134, 416 Gamelin, Maurice  140, 160, 162 f., 167, 169, 171, 177 f.

Gauché, Maurice-Henri  160 Gaulle, Charles de  12, 118 Gebhart, Jan  412 f., 420 George, Lloyd  46 Gerstenmaier, Eugen  456 Giono, Jean  173 Girault, René  4 Gisevius, Hans Bernd  232, 234, 236–238, 242 Gladstone, William  50 Goebbels, Joseph  23, 45, 145–149, 151 f., 154, 156 f., 214, 279, 285, 355, 394 Goerdeler, Carl Friedrich  232, 239 f. Goldstein, Erik  4 Gömbös, Gyula  343 Göring, Hermann  27, 45, 48, 71, 104, 147, 153, 156 f., 189, 227, 309, 315–317, 355–357, 359 f., 364 f., 367, 374, 377, 386, 396, 446 Gottwald, Klement  422 Granzow, Sven  338 Groscurth, Helmuth  147,241 Grossmann, Kurt  226 Gruchmann, Lothar  245 Grundherr, Werner von  429, 433–435, 437 Grünwald, Leopold  267 Gruschka, Theodor  269 Gurgeit, Hildegart  228 f. Hácha, Emil  157, 393, 406 f., 418, 426 Hacker, Gustav  93, 261 Hadow, Robert  102 Hagelberg  451 Hagen, Volker von  454 Halas, František  337 Halder, Franz  234–238, 240–242, 246 Halifax, Edward  26, 46, 48, 51, 101, 103 f., 174, 197, 232, 239 f., 362 f., 366, 369 Halík, Rudolf  414, 417 Hampl, Antonín  416 Hanák, Rudolf  133 Hankey, Maurice  46 Hartmann, Christian  236, 239, 246 Hartmann, Karl  320 Hase, Paul von  237 Hauner, Milan  109 Heinz, Friedrich Wilhelm  234, 236, 238 Helldorff, Wolf-Heinrich Graf von  237 Heller, Karl  267 Hencke, Andor  151, 154 Henderson, Sir Nevile  46–48, 103, 106, 232 Henlein, Konrad  6, 90–92, 94, 103 f., 145, 149 f., 152, 214, 219, 241, 249–251, 257, 259– 261, 273, 277, 280, 282 f., 297 f., 299–301, 333, 386, 396, 398, 449, 451 f., 456, 458 Herben, Ivan  111 Herkner, Johann  330

Personenregister   469 Herriot, Edouard  97, 100 Herzfeld, Hans  455 Heß, Rudolf  279 Hessen, Philipp Prinz von  66, 214 Heumos, Peter  219 Heydrich, Reinhard  222, 296, 395 Hilgenreiner, Karl  259, 333 f. Himmler, Heinrich  236, 298, 404 Hirsch, Helmut  222, 224 Hitler, Adolf  2 f., 6–8, 11, 13, 17–28, 36, 39 f., 43–54, 59, 62, 64, 66, 68, 70 f., 75, 90–94, 98, 100–102, 108, 113, 115, 145–157, 160 f., 164 f., 170–173, 175–177, 179, 181, 183, 185, 189, 192, 197, 201 f., 207 f., 211–214, 219 f., 222, 225–227, 229–247, 249, 257, 260 f., 264, 270, 276, 279 f., 284, 292 f., 310–312, 328, 330 f., 343–347, 351–355, 357, 361, 365–371, 373 f., 376–378, 381, 387, 393–398, 403, 405– 409, 417, 435–439, 442, 446–448, 456, 458, 460 Hlinka, Andrej  383, 387, 389–391, 393, 395, 406 Hoare, Samuel  51, 112, 212 Hoch, Anton  245 Hodáč, František Xaver  416 Hodža, Milan  79, 92, 106 Hoegner, Wilhelm  456 Hoensch, Jörg Konrad  341 f. Hohenlohe, Stephanie  443 Homola, Bedřich  406 Horthy, Miklós  147, 153, 343, 361 , 378 Höß, Rudolf  455 Hubený, David  414 Hübinger, Paul Egon  458 Hugenberg, Alfred  452 Hupka, Herbert  448 Hus, Johannes  98 Imrédy, Béla von  148, 153, 343 Innitzer, Theodor  329 Inskip, Thomas  51 f., 102 Jackson, Peter  160 Jahn, Justus  140 Jaksch, Wenzel  92, 222, 225, 251–253, 261, 263, 267 f., 442, 448, 452–454, 456 f., 459 Jansa, Alfred  135, 140 Jehlička, František  386 Jodl, Alfred  147 Jost, Heinz  395 Judex, Oskar  336 Jung, Edgar Julius  218 Jüttner, Alfred  450 Kálmán, Darányi  346, 378 Kánya, Kálmán von  148, 343 f.

Kapp, Wolfgang  239 Karlický, Václav  129 Karmasin, Franz  386, 395–406 Kašpar, Karel  330, 336 f. Katz, Franz  266 Kehrl, Hans  309 Keiper, Gerhard  445 Keitel, Wilhelm  49 Kérillis, Henri de  164 Kern, Karl Richard  266 Kessler, Fritz  266 Keyser, Erich  444–446 Kindermann, Adolf  334 King, Francis (John) Herbert  109 Kirkpatrick, Ivone  48 Kirpal, Irene  266 Klapálek, Karel  124 Klausener, Erich  218 Klecanda, Vojtěch Vladimír  126 Kleist-Schmenzin, Ewald von  239 Klemperer, Klemens von  240 Klíma, Emanuel  423 Klofáč, Václav  416 Kluke, Paul  1, 444, 446, 451, 453–455, 458 f. Kneschke, Karl  267 Knoeringen, Waldemar von  221, 223, 225 f., 456 Köchling, Friedrich  150 Kocholaty, Norbert  338 Kögler, Franz  267 Kohl, Helmut  443, 456 Köhler, Bruno  266 Köhler, Toni  263 Komenský, Jan Amos  419 Kopecký, Václav  417, 422 Kopper, Christopher  237 Korb, Robert  267 Kordt, Erich  238, 240, 380 Kordt, Theo  240 Korn, Rudolf  269 Kostka, Carl  263 Kraus, Karl  395 Krausnick, Helmut  446, 454–456, 458 f. Krebs, Hans  297, 300, 335 Kreibich, Karl  258, 267 Krejči, Franz  199, 267 Krejčí, Ludvík  196 Krofta, Kamil  189, 198, 205, 385 Kudlich, Hans  452 Kühn, Johannes  442–444 Kuhn-Weiß, Friedrich  320 Kuklík, Jan  412 f. Kundt, Ernst  296 Kuusinen, Otto  113 Kwiatkowski, Eugeniusz  373–375

470   Personenregister Ladig, Josef  266 Landfried, Friedrich  309 Laval, Pierre  58, 104, 211 Lebrun, Albert François  100 Léger, Alexis  165, 171, 175 f. Lemberg, Hans  10 f., 31, 460 Lessing, Theodor  223 Lipski, Józef  147 f., 153, 358, 360, 364 f., 367 f., 371–374, 377–380 Litvinov, Maksim Maksimovič  110, 113, 168, 181–183, 186 f., 189–195, 197–202, 207, 353, 369 Lloyd George, David  239 Lohmann, Karl  456 Longin, Alfred  136 Lozoraitis, Stasys  430–433, 436 Łubieński, Michał  359 Luft, Robert  441, 452 Łukasiewicz, Jules  185, 369 Luža, Vojtěch  133, 138

Moudrý, Karel  417 Mühlig, Josef Max  80 Müller, Heinrich  266 Müller-Sidibé, Bettina  338 Mussolini, Benito  6 f., 12, 19, 21–23, 39, 53, 55–58, 60–68, 146, 155 f., 212–215, 232, 264, 344 f., 352

Mach, Alexander  387, 395, 398 Mandel, Georges  100, 164 Mann, Heinrich  7, 219, 229 Mann, Thomas  7, 219, 222, 230, 242, 244 Manuilskij, Dmitrij  113 Maritain, Jacques  173 Markert, Werner  447 Martínek, Karel  320 Masařík, Hubert  156 Masaryk, Jan  12, 98 f., 107, 155 Masaryk, Tomáš Garrigue  98, 120, 219 f., 413 f., 449 Mason-Macfarlane, Noel  106 Massigli, René  164,168 Mastný, Vojtěch  189, 224 Matl, Eduard  398, 404 Maunz, Theodor  452 Mauriac, François  173 Maydell, Kurt von  445 f. Mayer, Theodor  457 f. Mertl, Jan  415 Merton, Robert King  413 Messersmith, George Strausser  103 Miklas, Wilhelm  28 Mittelhauser, Eugène  118 Mixa, Vojtěch  79 Modráček, František  419 Moltke, Freya von  448 Moltke, Hans-Adolf von  359, 363 f., 372, 374, 377 Moltke, Helmuth James von  448 Monzie, Anatole de  100 Moravec, Emanuel  118 Mościcki, Ignacy  357, 370 f., 381 Moskvin (Meer Trilisser)  113

Oberdorffer, Kurt  445, 450, 453 f., 456 Oberländer, Theodor  457 Odložilík, Otakar  458 Ollenhauer, Erich  253 f. Oster, Hans  232, 234, 236, 238, 240 Osuský, Štefan  97, 99, 106, 164

Nečas, Jaromír  97, 106 Němeček, Jan  113 Neuburg, Hermann  283 Neurath, Alois  267 Neurath, Konstantin Freiherr von  2, 17, 26 f., 47, 156, 233 Neuwirth, Hans  449, 457–459 Neville, Peter  6 Newton, Basil  106,154 Noël, Léon  176, 359 Nováčková, Helena  414 Novy, Wilhelm  266

Papée, Kazimierz  363, 387 Papen, Franz von  218, 244, 452 Párkányj, Ivan  344 Paul, Else  266 Paul, Ernst  269 Pavel, Jan  132 Payart, Jean  164, 168 Pellé, Maurice  118, 137 f. Peres, Alfred  267 Phipps, Eric  168 Piłsudski, Józef  350, 352–354, 357, 359, 442 Plamínková, Františka  419 Pomaret, Charles  100 Popper, Rudolf  267 Potemkin, Vladimir Petrovič  113 f., 181, 185, 191 f., 197 f., 200, 202, 204–207 Preiss, Jaroslav  80 Pustejovsky, Otfrid  340 Rabl, Kurt Otto  395, 398–400, 403, 453, 459 Rácz, Jenö von  147 Raczyński, Edward  366 Ragsdale, Hugh  110 Rambauske, Ernst Otto  256, 266 Raschhofer, Hermann  12, 457–460 Rašín, Ladislav  111 Rataj, Jan  412, 420 Rataj, Maciej  352

Personenregister   471 Rath, Ernst von  154 Rehwald, Franz  267 f. Reichenberger, Emanuel  260, 263, 266, 268 Reimann, Paul  267 Reitzner, Richard  266 Renner, Karl  452 Reynaud, Paul  100, 164, 172, 178 Ribbentrop, Joachim von  2, 27, 45, 47–49, 60, 63, 147, 165, 175 f., 233, 236, 238, 346 f., 355 f., 360, 371–374, 376–381, 387, 406, 430, 437 f., 446 Riehl, Wilhelm  330 Rönnefahrt, Helmut  441 Roos, Hans  447 Roosevelt, Franklin  26 Rose, Norman  104 Rothfels, Hans  447, 454, 455 Rothschild, Hans  267 Ruhm von Oppen, Beate  448 Rumbold, Horace  45 Runciman, Walter  64 f., 100, 108, 149 f., 198, 262, 399, 450 Rydz-Śmigły, Edward  357 f., 366, 373, 381 Sabbath, Wolfgang  265 Sallai, Gergely  241 Šaulys, Jurgis  433–435 Saupert, Hans  278 Schacht, Hjalmar  18, 27, 71, 237 f. Schicketanz, Rudolf  318 Schieder, Theodor  450, 453, 455 Schmidt, Paul  22 Schönfelder, Richard  268 Schuschnigg, Kurt  27 f., 183, 225 Schuselka, Franz  452 Schwarz, Xaver Franz  278 Schwarzenberg, Karl  3 Seebohm, Hans-Christoph  12 f. Seliger, Josef  452 Selter, Karl  431 f. Sethe, Paul  448 Seyß-Inquart, Arthur  28 Sforza, Carlo  12 Sidor, Karol  387, 390, 395 f., 406–408 Siegmann, Paul  285 Simml, Andrea  338 Simon, John  101 f., 104, 112 Sinclair, Archibald  104 Sitte, Kurt  263 Škirpa, Kazys  434, 437 f. Skrzyński, Aleksander  352 Slánský, Rudolf  417 Slapnicka, Helmut  456 Slim, William  118 Smetona, Antanas  436 Smutný, Jaromír  111

Sokol, Martin  408 Sosnkowski, Kazimierz  357 Spina, Franz  262 f. Springer, Axel  447 f., 455 Sproll, Johannes Baptista  328 Srba, Antonín  320 Stalin, Iosif  27, 104, 108 f., 113 f., 167 f., 179– 183, 187, 189, 192, 194, 201 f., 202, 204 f., 208 f., 228 f., 244, 369, 439, 442 Stampfer, Friedrich  220, 224, 227 Stark, Adolf  269 Steiner, Rudolf  418 Steiner, Zara  113 Stempowski, Jerzy  375 Stern, Viktor  267 Stier, Hans Erich  442 Stingl, Josef  336 Stivín, Josef  415 Stoiber, Rudolf  443 Šťovíček, Ivan  109 Strasser, Otto  222, 225 Stresemann, Gustav  70, 380 Šverma, Jan  422 Synek, Otto  422 Synek, Viktor  423 Syrový, Jan  107, 384 Szembek, Jan  357–359 Sztójay, Döme  153 Táborský, Eduard  111 Taub, Siegfried  224 f., 267 Taylor, Alan John Percival  50 Teichová, Alice  317 Thalheim, Werner  242 Tichak, Josef  255 Tilkovszky, Lóránt  341 Tirpitz, Alfred von  452 Tiso, Jozef  344 f., 386 f., 390 f., 396, 399, 400– 402, 406–408 Todt, Fritz  279 Trautz, Fritz  442 Treitschke, Heinrich von  452 Trilisser, Meer (Moskvin)  113 Tuka, Vojtech  387, 406 Turnovsky, Friedrich  267 Ulbricht, Walter  221 Ullmann, Alois  256, 267, 269 Urban, Rudolf  446 Urbšys, Juozas  438 Urx, Eduard  423 Vansittart, Robert  45, 104 f., 239 Veesenmayer, Edmund  406 Vuillemin, Joseph  163, 167

472   Personenregister Wallner, Sebastian  229 Walter, Norbert  262 Wanka, Willi  268 Watt, Donald Cameron  103 Weber, Anton Alois  329–331, 333 f., 336–339 Wehrenfennig, Erich  337 Weinberg, Gerhard Ludwig  52, 152, 447 Weizsäcker, Ernst von  11, 49, 146, 156, 234– 236, 240 f., 376 Wels, Otto  220, 223 Werner, Karl Ferdinand  442 Werner, Willibald  267 Wiedemann, Fritz  148 Wiener, Robert  267 Wilhelm, Prinz von Preußen  238 Wilson, Henry Hughes 48 Wilson, Sir Horace  101, 155

Wilson, Woodrow  10, 33, 35, 170 Witte, Eugen de  264, 267 Wixforth, Harald  317 Wnorowski, Mieczysław  372 Wöhl, Ida  264 Young, Arthur  240 Zajiček, Erwin  259 Zangen, Wilhelm  318 Zápotocký, Antonín  419 Ždanov, Andrej  108 f. Zechlin, Erich  434–436, 439 Zika, Jan  423 Zinner, Josef  267 Zischka, Rudolf  268 Žižka, Jan  107

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren PD Dr. Jaromír Balcar, Institut für Geschichtswissenschaft, Universität Bremen Prof. Dr. Dr. h.c. Josef Becker, Professor emeritus, Rektor der Universität Augsburg 1983–1991 Univ. Prof. Dr. Christoph Boyer, Professor für Europäische Zeitgeschichte, Universität Salzburg Prof. Dr. Dr. h.c. Detlef Brandes, Professor für osteuropäische Geschichte, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf PhDr. Valerián Bystrický, DrSc., Historisches Institut der Slowakischen Akademie der Wissenschaften, Bratislava Prof. Dr. Patrizia Dogliani, Professorin für Zeitgeschichte, Universität Bologna Dr. Angela Hermann, NS-Dokumentationszentrum München Peter Krüger (†),Professor emeritus, Philipps-Universität Marburg Mgr. Mgr. Zděnko Maršálek, Institut für Zeitgeschichte der Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik, Prag Dr. Peter Neville, Research Fellow in History, Kingston University London Thomas Oellermann M.A., Collegium Bohemicum, Ústí nad Labem Dr. Jörg Osterloh, Fritz Bauer Institut, Frankfurt am Main Prof. Dr. Ignác Romsics, Professor für neuere und neueste ungarische Geschichte an der Eötvös-Loránd-Universität Budapest PhDr. Michal Schvarc, Historisches Institut der Slowakischen Akademie der Wissenschaften, Bratislava PhDr. Vít Smetana, PhD., Institut für Zeitgeschichte der Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik, Prag Dr. Sergej Slutsch, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Slawenkunde und Balkanistik der Russischen Akademie der Wissenschaften Prof. Dr. Georges-Henri Soutou, Professor für Zeitgeschichte, Universität ParisSorbonne (Paris-IV) Dr. Christoph Studt, Institut für Geschichtswissenschaft, Rheinische FriedrichWilhelms-Universität Bonn Dr. Joachim Tauber, Direktor des Instituts für Geschichte und Kultur der Deutschen in Nordosteuropa, Lüneburg PhDr. Emil Voráček, DrSc., Historisches Institut der Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik, Prag Dr. Hans Woller, Institut für Zeitgeschichte, München-Berlin Dr. Jürgen Zarusky, Institut für Zeitgeschichte, München-Berlin Prof. Dr. Stanisław Żerko, Professor für Zeitgeschichte und wissenschaftlicher Mitarbeiter des Westinsituts in Poznań PD Dr. Volker Zimmermann, Collegium Carolinum, München Dr. Martin Zückert, Collegium Carolinum, München