Aus den Forschungsarbeiten der Mitglieder des Ungarischen Instituts und des Collegium Hungaricum in Berlin: Dem Andenken Robert Graggers gewidmet [Reprint 2020 ed.] 9783111517285, 9783111149400


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German Pages 275 [276] Year 1927

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Aus den Forschungsarbeiten der Mitglieder des Ungarischen Instituts und des Collegium Hungaricum in Berlin: Dem Andenken Robert Graggers gewidmet [Reprint 2020 ed.]
 9783111517285, 9783111149400

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A U S DEN

FORSCHUNGSARBEITEN DER M I T G L I E D E R DES UNGARISCHEN INSTITUTS UND D E S C O L L E G I U M H U N G A R I C U M IN B E R L I N DEM

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VERLAGSBUCHHANDLUNG

Ungarische Gelehrte ehren das Andenken eines der ihrigen und bedienen sich dabei des Mediums der deutschen Sprache. Erweiterung des Aktionsradius — gewiss; aber zugleich eine Huldigung an die in Robert Gragger's Leben und Leisten Wirklichkeit gewordenen Synthese ungarischen und deutschen Geistes. Zwei stolze alte Kulturvölker trauern gemeinsam um einen Mann, den jedes mit Recht für sich, für seinen Kultur kreis, für sein nationales Wesen beansprucht. „Robert Gragger, der Ungar, der Deutsche." Man muss das Ungartum vorausstellen, aber man wird sein Deutschtum nie vergessen dürfen. Gelehrte trauern um einen Gelehrten, Organisationen um einen Organisator; das ist die andere Spannung in Robert Gragger's Leben. Man muss den Organisator voranstellen, aber man wird seine grosse Gelehrsamkeit, seine tiefe Bildung nie vergessen dürfen. Die letzte lind entscheidendste Spannung seines Lebens aber war die zwischen Sein und Leistung. Wie ein Wasserfall in Gottes herrlicher Natur mehr ist als die Summe der von ihm abgeleiteten Kräfte, so war sein strahlendes Menschentum mehr als die Summe seiner Leistungen. Er selbst wäre am liebsten ganz wirkende Energie gewesen, ja er litt unter dem ablenkenden Reichtum seines Seins, ohne den aber auch seine Leistung undenkbar gewesen wäre. Der Lorbeer der Leistung kann verwelken, aber die Einmaligkeit eines solchen Seins ist wie ein Stern, der niemals untergeht. Menschen trauern um einen Menschen, Freunde um einen Freund. Und wir? Wir haben einen Stern gesehen. Ave pia anima.

C. H. Beck er >

Das ungarländische Deutschtum setzt sich aus vielen kleinen Gruppen zusammen. Jede hat ihren besonderen Charakter, irgend eine kostbare, liebenswürdige Eigenschaft. Alle sind uns teuer, es wäre schwer zu entscheiden, welche uns näher steht. Die populärsten sind zweifellos die Zipser Sachsen und die Deutschen der ungarischen Bergstädte, weil sie sich in schweren, tragischen Zeiten heroisch zu den Idealen des Ungartums bekannt haben und — stets treu an ihrer deutschen Muttersprache und ihrer Stammesart festhaltend — mit dem ungarischen Staatsgedanken völlig verschmolzen sind. Sie lieferten ein ruhmvolles Beispiel dafür, wie man mit unversehrter, hoher deutscher Kultur ein vollkommener ungarischer Staatsbürger sein kann. So kam es, dass sie in der Verwaltung, im Justiz- und Schulwesen und in der Armee zahlreiche hohe Stellungen erreichten. Die ungarische Nation wird es niemals vergessen, dass die Deutschen der Zips und der Bergstädte, als wir 1848/49 für die Ideale der Freiheit gegen die Übermacht zweier Kaiserreiche einen hoffnungslosen, aber heldenhaften Kampf bestanden, in ausserordentlich grosser Zahl in den Reihen der ungarischen Honved vertreten waren. Ein solcher Deutscher aus den Bergstädten, aus Kremnitz, war auch Robert Gragger. Wenn nun ein Mann mit diesen Traditionen und von dieser Schwungkraft an einer deutschen Universität Lehrer der ungarischen Sprache und Literatur wird, so muss er sich naturgemäss in seinem Element fühlen. Beide grosse Gefühle Graggers fanden in seinem Amte vollständige Befriedigung: er stand als ungarischer Gelehrter im Dienste der deutschen Unterrichtsverwaltung und verdolmetschte dem deutschen Publikum ungarische Bildung. Ein Mensch mit einer solchen seelischen Struktur, dem zwei Kulturen gleichermassen teuer sind, ist eine Seltenheit; noch seltener aber versetzt die Vorsehung solch einen Glücklichen in die Lage, in der die zweifachen Ideale sich nicht widerstreiten, sondern im Gegenteil erfordern, dass er beiden zugleich diene und an ihrer Verwirklichung harmonisch arbeite. Nebst Graggers

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edlem Charakter und grosser Begabung erblicke ich in dieser aussergewöhnlichen Gunst des Schicksals das eigentliche Geheimnis seiner ungewöhnlichen Erfolge. Sein Deutschtum brauche ich der preussischen Öffentlichkeit, die seine Tätigkeit aus der Nähe beobachtete, nicht zu deuten. Sein Ungartum war voll ungarischen Verhängnisses, es war: Zusammenbruch unmittelbar vor dem Ziele. Wer seinen Blick prüfend in die Vergangenheit der ungarischen Nation versenkt, dem entschleiert sich sofort die tiefe Tragik, die in unserer Geschichte geheimnisvoll wirkt. Wie oft stand die Gesamtnation hart vor der Verwirklichung hohen Strebens, mitten drin im Frühling, im Sommer kultureller und wirtschaftlicher Blüte, der aber kein fruchtspendender Herbst folgte, und wie oft brachen unsere Grossen vor dem letzten Erfolge zusammen! Gragger, der Professor an der Berliner Universität und Direktor des dortigen ungarischen Instituts war, hielt diese Institution ohne Errichtung eines Collegium Hungaricum durch den ungarischen Staat für einen Torso. Die letzten Jahre seines Lebens waren von dieser Schöpfung ganz erfüllt, aber ihre Vollendung durfte er nicht mehr schauen: Man trug ihn mit hohem Fieber geradeswegs vom Gerüst des Gebäudes auf das Krankenlager, das er lebendig nicht mehr verlassen sollte. Er ruht in preussischer Erde und wir Ungarn wissen: doch nicht in der Fremde. Sein Leben war wie eine Fortsetzung des grossen gemeinsamen Ringens im Weltkriege und sein Grab ist wie ein Symbol des grossen gemeinsamen Sterbens. Im Dienste der kämpf- und blutgeweihten Schicksalsgemeinschaft arbeitete er im Reiche des Geistes, an preussischer Hochschule auf ungarischem Lehrstuhl. Grat K. Klebelsberg.

ROBERT

GRAGGER

ALS

WISSENSCHAFTSPOLITIKER. Von

ZOLTÄN VON

MAGYARY

Chef der Hochechulabteilung im kön. ungarischen

Unterrichtsministerium

An seinem Grabe bekamen wir die allerrührendsten Kundgebungen des Beileides zu hören. Jung und alt, Mann und Frau, reich und arm, einfache Leute und Akademiker nahmen von ihm mit dem gleichen Gefühl eines unersetzbaren Verlustes Abschied. Dies galt dem Manne, der das Leben all derjenigen glücklich beeinflussen konnte, denen es vergönnt war, mit ihm in Berührung zu stehen. An seinem Grabe trafen sich auch die amtlichen Vertreter zweier Nationen, welche ihn als treuen Sohn ihres Vaterlandes für sich beanspruchten, da seine wissenschaftliche Tätigkeit für beide Nationen bedeutungsvoll und ausschlaggebend war. Seine Ruhestätte wird durch ein vom preussischen und vom ungarischen Unterrichts-Minister gemeinschaftlich erhobenes Denkmal bezeichnet, was ein Beweis dafür ist, dass der Dahingeschiedene nicht nur im engbegrenzten Kreise seiner persönlichen Verbindungen, sondern auch im weit allgemeineren Leben der Wissenschaften, wo die Kräfte des Verstandes ihre ewigen Wege bauen, tief- und weitgreifende Wurzeln gefasst hatte. — Den Grund des tiefen Eindruckes, mit welchem Gragger auf die Seelen wirkte, finde ich darin, dass er eine neue, bedeutungsschwere Idee mit apostolischer Begeisterung verkündete und zu ihrer praktischen Verwirklichung selbst das Beispiel gab. Im wissenschaftlichen Leben der ganzen Welt ist das Vordrängen der Arbeitsorganisation eine neue Erscheinung. Was sind die Bedingungen des Fortschrittes der Wissenschaften? Gute Köpfe, begabte Forscher und materielle Mittel, wie Bibliotheken, Laboratorien, Forschungsinstitute, u. s. w. Das ist wohl eine alte und allbekannte Wahrheit. Was aber neu ist und heute noch vielfach der Anerkennung bedarf, das ist das Auftreten der Organisation in den letzten Jahrzehnten als dritter und völlig ebenbürtiger Faktor des wissenschaftlichen Fortschrittes. Wir sehen heute überall die Entwicklung dtes wissenschaftlichen Grossbetriebes. Die wissenschaftliche Arbeit hat sich derart

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differenziert, dass die Fachleute der verschiedenen Wissenschaftszweige ohne enge Zusammenarbeit mit den benachbarten Gebieten unmöglich vorwärts kommen können. Der technische Fortschritt stellt betreffs der wissenschaftlichen Instrumente und Materialien geldliche Anforderungen in einem Ausmasse, wie man sie früher überhaupt nicht gekannt hat. Auch die wissenschaftliche Literatur erreichte eine solche Ausdehnung, dass ihr Überblick ohne entsprechende bibliographische Hilfsmittel bzw. ohne Organisation ganz unmöglich ist. Schliesslich muss auch an die planmässige Sicherstellung des Nachwuchses der Fachleute gedacht werden, damit das Fehlen einzelner Fachleute nicht auch die Lahmlegung anderer Wissenschaften verursache. Es ist von höchstem wissenschaftspolitischen, also auch von höchstem nationalen Interesse, dkss der Verwaltung im Gebiete aller Wissenschaften stets erstklassig ausgebildete und dem internationalen Grade entschprechende Fachleute zur Verfügung stehen. All dies ist nur im Wege der Organisation zu erreichen, da die einzelnen Fachleute, die mit ihren eigenen wissenschaftlichen Arbeiten beschäftigt sind, zur Schaffung dieser planmässigen Zusammenwirkung nicht berufen sind. Diese Leute interessieren sich ja nur gelegentlich und teilweise dafür, und doch darf diiese Arbeit keineswegs dem Zufall überlassen werden. Es war eine der fruchtbarsten Intuitionen Graggers, dass er die Unentbehrlichkeit der Organisation, besonders in Bezug auf Heranbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses, frühzeitig erkannte. Das ist besonders bei kleinen Nationen, die sprachlich abgesondert sind, wie z. B. bei Ungarn mit seinen zehn Millionen Seelen, von ausschlaggebender Bedeutung. Die Selbständigkeit der ungarischen wissenschaftlichen Arbeit kann nur dann gesichert werden, wenn die jeweilige Regierung immer bestrebt ist, alle fähigen Kräfte auszunützen und sie auf allen wissenschaftlichen Gebieten gleichmässig zu verteilen. Das Berliner Collegium Hungaricum ist eine Sammelstelle der besten Kräfte der ungarischen Jugend, wo diese in die internationale wissenschaftliche Arbeit Einsicht bekommen und dadurch auch zur Völlen Entfaltung ihrer besten Kräfte hingerissen werden. Dieses Institut, welches ohne Professor Robert Gragger kaum zustande gekommen wäre, ist auch geeignet, der ungarischen. Wissenschaftspolitik unter Beiziehung der bereits graduierten Stipendiaten zur Heranzüchtung des Nachwuchses wertvolle Stütze zu gewähren. Dieser Gedanke wurde inzwischen im Wege der ungarischen Gesetzgebung durch Aufstellung des Staatlichen Stipendienrates (Gesetzartikel XIII. v. J. 1927) in die Tat umgesetzt. Der Umstand, dass die Zahl der ausländischen Stipendien seit dem Kriege stark vermehrt und dauernd gesichert wurde, stellte die ungarische Unterrichtsver-

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waltung vor die Aufgabe, betreffs Verteilung der Fachleute der Naturund Geisteswissenschaften stets genau unterrichtet zu sein, um jeweilig ein genaus Bild darüber zu haben, wo es an Fachmännern am meisten mangelt oder wo sich besonders begabte junge Kräfte befinden, die der Verleihung von Stipendien würdig sind. Die Stipendien dürfen also zwischen den Fakultäten der ungarischen Universitäten und Hochschulen nicht mechanisch vergeben w erden, da die Verteilung der hiezu Würdigen nicht in jedem Jahre dieselbe ist. Dies war der Grund, warum für die höchste Überprüfung der Unterrichtsminister allein die Verantwortung nicht übernehmen konnte. Diese Arbeit musste unter Mitwirkung der leitenden wissenschaftlichen Fachleute aus umfassendem Gesichtspunkte, also auf eine Weise gelöst werden, welche über die Universitäten hinaus geht. Hiezu ist der Staatliche Stipendienrat berufen, in welchem folgende Institute mit je einem Delegierten vertreten sind: Alle Fakultäten der 4 Universitäten; alle Sektionen der Technischen Hochschule; alle übrigen wissenschaftlichen Hochschulen; die staatliche Hochschule für Bildende Künste; und schliesslich die Hochschule für Tonkunst. Ausserdem nehmen in diesem Rate die Vertreter der Gemeinschaft der grossen öffentlichen Sammlungen, die Vertreter des Staatlichen Naturwissenschaftlichen Rates, die Direktoren der ausländischen ungarischen Institute und) schliesslich die vom Unterrichtsminister eingeladenen Universitätsprofessoren und Professoren der Technischen Hochschule, Wissenschaftspolitiker und Künstler derart Platz, dass die im Rate vertretenen geistigen Wissenschaften und Naturwissenschaften die gleiche Anzahl haben. Dieser Rat unterbreitet seine Vorschläge dem Unterrichtsminister. Im Sinne des Gesetzes steht aber dem Minister nur das Recht dier Zurückweisung zu, da zur Sicherung der Ausschliessung jeder Protektion und zur Hervorhebung der objektiven Verdienste dieses System als einzig geeignet erachtet wurde. Die fortlaufende Entwickelung der von Robert Gragger aufgeworfenen Ideen liegt auf der Hand. Er war einer der ersten Vertreter dieses erfolgreichen Gedankens der ausländischen Bildung, welcher in einigen Jahren im Wege der ungarischen Gesetzgebung verwirklicht wurde. Dies war aber nur eines der I^eitmotive der bahnbrechenden Tätigkeit Graggers. Sein anderer, nicht weniger moderner und aktueller Gedanke war die selten klare Erkenntnis jener bedeutenden Kraft, die in der internationalen wissenschaftlichen Zusammenarbeit liegt. Der Mann, in dessen Seele der Idealismus mit so heller Flamme lodert, wie dies bei Robert Gragger der Fall war, wird die günstigsten Bedingungen zur Förderung der Kultur leidenschaftlich suchen. Die wissenschaftliche Forschung ist kein Vorrecht einzelner Nationen. An dieser selbstlosen,

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schönen Arbeit müssen alle Völker teilnehmen. An dem gemeinschaftlichen Ziele betätigen sich alle Völker mit wechselnden Kräften und wechselnder Arbeitsverteilung, jedoch steht es im Interesse der ganzen Gemeinschaft, dass an dieser Arbeit jedermann seiner Begabtheit, gemäss teilnehme und dass sich diese Einzelarbeiten organisch ergänzen. Sowohl die ganze literarische Tätigkeit Graggers, welche aus der zielbewu6sten Forschung der deutsch-ungarischen geistigen Beziehungen bestand, wie auch all das, was er — dank der grossmütigen Unterstützung der preussischen Regierung — im ungarischen Institut der Berliner Friedrich-Wilhelm Universität erreichen konnte, ist nichts anderes, als eine planmässige Verwirklichung des grossen Gedankens der internationalen geistigen Zusammenarbeit. Dieser Gedanke trat nach dem Kriege mit einer vorher nie gesehenen Intensität auf. Der Völkerbund wünscht im Wege der Commission Internationale de la Cooperation Intellectuelle und des in Paris aufgestellten Institut International de la Coopération Intellectuelle in diese Organisation der internationalen wissenschaftlichen Verbindungen jene Planmässigkeit und Zielbewusstheit einzuführen, welche man in den ähnlichen Bestrebungen bisher sehr vermisste. Die Hauptaufgabe der Organisation sah Robert Gragger nicht in der Arbeit einer aufzustellenden internationalen Sammelstelle (als deren Sitz, nach Auffassung einiger Wissenschaftspolitiker nur die Hauptstadt eines Siegerstaates geeignet erscheint), sondlern er war sich wohl im Klaren darüber, dass die internationale Mitarbeit nur von Volk zu Volk zu verwirklichen ist, wobei jedes Volk geistige Werte auch anderer Völker vermittelt. Auch dies ist ein Beweis dafür, welch praktischen Sinn Robert Gragger besass. Aus dieser Überlegung widmete er sein Leben dem Studium der kulturellen Verbindungen zweier seit jeher in intensiver Beziehung stehenden Nationen, jedoch tat er dies im sicheren Bewusstsein, dass er mit dieser Arbeit einem noch höheren Ziel: der Förderung der allgemeinen menschlichen Kultur diene. Diese Auffassung, welche heute ein integraler Teil unserer wissenschaftlichen öffentlichen Meinung ist, wurde durch denselben Gesetzartikel,welcher auch den Stipendien-Rat aufstellte, durch die Errichtung von Collegia Hungarica in Berlin, Wien und Rom, sowie durch dauernde Bewilligung von über. 100 jährlichen Staatsstipendien für Paris, London, Oxford, Genf, Zürich, Nordamerika u. s. w. zum Ausdruck gebracht, um die unmittelbare und ununterbrochene Fühlungnahme Ungarns mit den wichtigsten ausländischen wissenschaftlichen Zentren zu sichern, ohne aber den Arbeiten der durch den Völkerbund zu diesem Zwecke gestifteten Organe fern zu bleiben. Gragger hat also auch auf diesem Gebiete intuitiv das Prinzip gefunden, welches heute die ungarische Wissenschaftspolitik verfolgt.

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Der dritte Grundgedanke Graggers, welcher heute ebenfalls vollinhaltlich gewürdigt und anerkannt wird, ist schliesslich die Überzeugung, dass eine Nation in der internationalen wissenschaftlichen Zusammenarbeit nur in dem Falle gut zur Geltung kommen kann, wenn sie vorerst die nationale wissenschaftliche Zusammenarbeit in vollem Masse verwirklichen konnte. Er war ein begeisterter Verkünder der harmonischen Zusammenfassung aller nationalen Kräfte. Wer die Bände der Ungarischen Jahrbücher und der Ungarischen Bibliothek aufmerksam durchblättert, wjrd sich darüber einen klaren Begriff bilden können, in welchem Sinne er obigen Gedanken auffasste und! ihn auch bei der Beeinflussung der ungarischen Berliner Stipendiaten zu verwirklichen bestrebt war. Er war stets auf das äusserste bemüht, diese jungen Leute und die übrigen Stipendiaten auch nach ihrer Rückkehr in die Heimat zusammenzuhalten, um die geistige Elite der neuen Generation in einer unerschütterlichen Eintracht zu erhalten. All diese Ideen Graggers rechnen weit besser mit den realen Bedürfnissen seiner Nation als diejenigen der meisten seiner Kollegen. Was aber zu seiner Zeit als eine interessante, doch unverstandene Neuerung galt, ist heute bereits von der ganzen wissenschaftlichen öffentlichen Meinung in Ungarn angenommen. Die Wirksamkeit Robert Graggers war also eben in den Jahren, wo die öffentliche Meinung für die Aufnahme neuer Ideen reif war, in drei wichtigen Richtungen bahnbrechend. Das ungarische Volk ertrug die grossen nationalen Katastrophen stets mit staunenswerter seelischer Kraft und konnte sich bisher, dank dieser Kraft, nach alten Katastrophen wieder erheben. Wenn heute das ungarische geistige Leben auf dem Wege der Blüte steht und wenn im Gebiete der Organisation der wissenschaftlichen Arbeit originelle und moderne Lösungen erreicht wurden, für die ein nicht allein stehendes Beispiel eben der oben erwähnte Stipendüen-Rat ist, so hat ausser der nach der Kriegskatastrophe eingetretenen moralischen und geistigen Wiedergeburt, auch Robert Gragger seinen unstreitbaren Anteil daran.

DIE SCHWIERIGKEITEN DER METAPHYSIK UND DIE RICHTLINIEN ZU EINEM VERSUCH IHRER LÖSUNG. Von Freiherr

BÉLA

VON

BRANDENSTEIN.

Die Wahrheit, dass die Metaphysik der wichtigste Teil, das Zentrum der Philosophie ist, hat man in neuerer Zeit wieder erkannt. Die Sehnsucht, die letzten Fragen über das Wesen der Wirklichkeit, die uns ja naturgemäss am empfindlichsten angeht, zu beantworten, ist wieder stark geworden und führte zur Erkenntnis der eben angeführten Wahrheit; und die Erkenntnis derselben gab dieser Sehnsucht eine logische Grundlage, eine Verstandesunterstützung und damit neue Nahrung. Und so kam es, dass hundert Jahre nach dem Tode Kants eine ganz sonderbare Spätsommerblüte der Metaphysik anbrach: wir geben diesen Namen den ziemlich grotesken und phantastischen, wissenschaftlich ungenügend begründeten und gestützten metaphysischen Spekulationen, die die Argumente der Kritik der reinen Vernunft nicht zu entkräften vermochten und so auch nicht mit vollem wissenschaftlichem Bewusstsein auftraten, sondern sich als die letzten hypothetischen Konsequenzen einer Weltanschauung, als die passendsten Rahmen des Weltbildes, als Alsobwahrheiten über Alsobwirklichkeiten, schliesslich auch als alogische Erkenntnisweisen der Phantasie, des Gefühls usw. vorstellten. Man sieht es den meisten modernen metaphysischen Versuchen tatsächlich an, dass sie die vorkantischen Bahnen als gesperrt betrachten und sie weder fortzusetzen noch neu zu betreten wagen: und da sie derart keine solide Verstandesmetaphysik sein zu können meinen, schweifen sie auf neuen, fremden Wegen, um irgendwo und irgendwie wieder einen Eingang in das Reich des Übersinnlichen zu finden. Diese Erscheinung ist sehr gefährlich, weil vage Spekulationen am meisten geeignet sind, die neuerdings auf Treu und Glauben wieder zu Kredit gekommene Metaphysik vor besonnenen Leuten sogleich in Misskredit zu bringen. Und wenn Peter Wust über die Auferstehung der Metaphysik ein Buch schreiben konnte, wenn ein anderes Buch die auferstandene Metaphysik behandeln konnte, so gilt das doch nur erst den aufflatternden Flugproben der Metaphysik und Spranger hat im Wesen recht, wenn er die Metaphysik unter den vielen metal*

4 physischen Versuchen als ein Desiderat, als einen wichtigen und warmen Wunsch der modernen Philosophie hinstellt. Diese Zeilen haben den Zweck, zum Verständnis der Schwierigkeiten der Metaphysik in der Geschichte derselben und dadurch zur Wegweisung nach einer ernst und wissenschaftlich in Angriff zu nehmenden Metaphysik beizutragen. Gewiss zeigt die Geschichte der Metaphysik auf den ersten Anblick kein tröstliches Bild. Tatsächlich werden in ihr über alle wesentlichen Probleme die Gegensätze behauptet und es scheint so, als habe man bisher nach einer Arbeit von etwa zweieinhalbtausendi Jahren in keinem Punkte zu einer Übereinstimmung gelangen können. Wenn wir aber die Geschichte der metaphysischen Untersuchungen näher und mit einigem Sachverständnis betrachten, wird die verzweiflungsvolle Aussicht doch um ein erhebliches milder. Vor allem muss man sich darüber klar werden, dass an die philosophischen und besonders an die metaphysischen Probleme, die naturgemäss jedem nahegehen, auch jeder heranzugehen sich berufen fühlt. Und zwar vermeint ein jeder die ganze Metaphysik selbst entdecken zu können. Was in den Spezialwissenschaften heute nur mehr als seltenes Kuriosum in den Sekretariaten der Akademien vorkommt, dass ein ambitiöser Dilettant, der weder die Ergebnisse noch die Methoden einer Wissenschaft gehörig kennt, grossartige Theorien über ihre Probleme aufstellt und einreicht, um sie dann kurzweg als undiskutierbar zurückzuerhalten, das kommt in der Philosophie sehr häufig und allen Ernstes vor, mit dem Unterschied, dass hier Leute, die über Mittel und Wege und bereits vorhandene Errungenschaften der philosophischen Forschung vollständig unorientiert sind, ihre grossartigen neuen Systeme herausgeben und sogar häufig ähnlich gesinnte Anhänger finden. Und das war seit dem Beginn der Philosophie so, was ja am Anfang derselben nicht verwunderlich ist, da eine beginnende Wissenschaft immer auf mehr Abenteurer oder auch gutmütige und wagelustige Helfer rechnen kann, weil noch sehr vieles in ihr ungewiss ist und beträchtliche Erfolge durch relativ wenig Mühe zu hoffen sind. Das Sonderbare ist nur, dass im Falle der Philosophie die dilettantischen Freisegler mit der hohen Entwicklung dieser Wissenschaft, und zwar in einer kritischen Periode derselben, ungeheuer zugenommen haben und seitdem gar nicht wieder abnehmen wollen, wo doch, wie gesagt, in den SpezialWissenschaften mit der Entwicklung derselben die Dilettanten sich zu verringern pflegen. Hierin müssen wir einen der wichtigsten Gründe der metaphysischen Wirrnis suchen. Wie wir alsbald näher sehen werden, vereinigten sich die vorsokratischen hellenischen Spekulationen bald im System des Piatonismus und dann des Aristotelismus, die sogar von dem Christentum fast in ihrem ganzen Umfange übernommen und sehr sorgfältig wissenschaftlich weiter-

5 gebildet wurden, sodass eine echte und strenge philosophische, auch metaphysische Tradition von einer Länge von über anderthalbtausend Jahren entstand, während welcher die philosophische und auch metaphysische Untersuchung wie jede andere Wissenschaft auf den Ergebnissen der Vorgänger weiterbauend, bzw. diese, wo es nötig schien, kritisch behandelnd und berichtigend, auf festen Wegen und mit entwickelten Methoden fortging; die gegensätzlichen Ansichten hatten dagegen ungefähr soviel zu sagen, wie heute gewisse zwar beachtete, aber nicht für ganz voll genommene spezialwissenschaftliche Theorien von halboffiziellen Seiten. Die grossartige theologische Summa des heiligen Thomas kann so als das reife Ergebnis einer fünfzehnhundert Jahre und noch länger dauernden philosophischen Gesamtarbeit betrachtet werden: denn schon Piaton und Aristoteles bauten in vielem konsequent auf die Ergebnisse der Vorsokratiker weiter. Nach Thomas kam dann eine Zeit der philosophischen Ebbe: es waren eben keine grossen philosophischen Geister da, die die Tradition der hoch ausgebildeten Wissenschaft würdig weiterführten. Und gerade zu dieser Zeit begann in der christlichen Kultur ein allgemeines grosses Gären, das alles ergriff und die nicht genügend stark emporgehaltene philosophische Wissenschaft mit sich fortriss. In der ideenschwangeren Zeit der Renaissance traten — wie auf allen Gebieten — auch in der Philosophie unzählige Dilettanten auf, die die äusserst fein ausgebildete und gar nicht leicht aneigenbare, ungeheuer stoffreiche philosophische Wissenschaft einfach nicht verstanden und so mit echt neuzeitlicher Selbstherrlichkeit und mit dem Leichtsinn des Dilettanten abschüttelten, verwarfen. Und unglücklicherweise hatte die ausgebildete Wissen 1 schaft keinen grossen, schöpferischen Geist, der die neuen Ideenerfinder überragte, und so wurde sie abgetrumpft und geriet in Misskredit, bald in Vergessenheit und — wieder eine echt neuzeitlich schneidige, aber selbstherrliche Erscheinung — in die Verachtung derer, die sie gar nicht kannten oder nur ganz nebelhafte und schlechte Kenntnisse über sie besassen, sich aber nicht die Mühe nahmen, das Bescboiltene vor dem Weiterschelten doch unmittelbar und eingehend zu prüfen. So ging die neuzeitliche Philosophie fast ganz in die Hände von Dilettanten über und sozusagen die ganze hoch ausgebildete, an wichtigsten und begründeten Erkenntnissen reiche philosophische Wissenschaft war vergessen: eine in der Geschichte der Wissenschaft einzig dastehende kolossale Erscheinung, die die vielen sonderbar klingende Behauptung des Aristoteles, die Menschen hätten die Wahrheit schon oft inne gehabt, dann aber wieder vergessen, grossartig rechtfertigte und die Annahme einer geradlinigen oder nahezu geradlinigen Kulturentwicklung schlagend widerlegte; und diese Annahme wurde trotz dieser

6 Erscheinung, mit ihrem Übersehen, lange nach ihr von der Neuzeit gemacht. Wenn wir beachten, dass eben die Neuzeit in spezifischen Wissenschaftsgebieten, aber auch in dem Tat- und Kunstleben des Geistes masslos viel Neues, ganze neue Seiten, neue Gebiete errang, können wir uns nicht wundern, dass die Philosophie, die ihren ganzen grossen Reichtum sozusagen vollständig verloren hatte und ohne Ergebnisse, ohne Methoden, fast wie bei ihrer Geburt dastand, unter der Hand von bei aller Befähigung schliesslich doch einseitigen, dabei stark selbstherrlichen und dilettantischen Menschen über diesen ganzen grossen Reichtum nicht Herr zu werden vermochte. Descartes wusste nicht sehr viel von den alten Ergebnissen, ungefähr wohl nur soviel, wieviel man davon in der Mittelschule lehrte; die Engländer sind über das, was man vorher Philosophie nannte, fast ganz unorientiert, so auch Spinoza. Nur Leibniz macht da eine Ausnahme, aber Kant wieder nicht, und unter den deutschen Idealisten begann erst wieder Hegel sich mit den Alten eingehender zu beschäftigen; unter den neuen Philosophen wieder beschäftigen sich die mit der Geschichte der Philosophie Vertrauten im allgemeinen nicht mit dem systematischen Erbauen der Philosophie und die wirklich originalen, schöpferkräftigen Systembildner kennen die Geschichte der Philosophie im allgemeinen nicht genügend tief oder achten sie nicht hoch genug. Die neuzeitlichen Philosophen kennen gewöhnlich nur ihre nächsten Vorgänger, die sie gelegentlich bewundern, aber auch oft vollständig ablehnen und das Gegenteil, die gegenteilige Einseitigkeit behaupten. Wenn wir noch hinzunehmen, wie sehr die Metaphysik von allen Interessen des Lebens als dessen totale Anschauung im Geiste des Philosophen beeinflusst wird, ferner dass sie als Metaphysik wesentlich ein allseitiges, ein Totalbild der Wirklichkeit verlangt, dass aber der Forscher gewöhnlich einseitig, der neuzeitliche stark individualistische Forscher auch noch meistens originalitätssüchtig ist, so werden wir uns über die traurigen Erscheinungen in der neuzeitlichen und auch in der modernen Philosophie, besonders in der von allen Seiten gezerrten lebenswichtigen Metaphysik nicht mehr wundern: nach der Katastrophe des Unterganges der gesamten aristotelisch-scholastischen Tradition, der gesamten riesigen Wissenschaft, deren Enzyklopädie die Summa Aquins ist, und nach dem ungeheuren Aufsprühen und der beinahe wuchernden Entwicklung des von der Philosophie zu bewältigenden neuzeitlichen Ideenstoffes, konnte es unter solchen Umständen, wo selbst die grossen Geister der Philosophie fast alle im Wesen philosophisch ungeschulte Dilettanten waren, die ihren einzelnen natürlichen Menschenverstand zur Erkenntnis aller philosophischen Wahrheiten für genügend erachteten, gar nicht anders

kommen. Nicht die Metaphysik ist hier schuldig, sondern der Dilettantismus der neuzeitlichen Philosophie, der entgegen aller wissenschaftlichen Gewohnheit und Vernünftigkeit, eine vorhandene grossartige Tradition vollständig verwarf und1 die Philosophie, besonders aber die Metaphysik im Gegensatze zu den übrigen Wissenschaften als individuale Weltanschauung, als private und gewissermassen willkürlich mögliche Weltdichtung ansah. Nach der Darstellung dieser subjektiven Gründe der metaphysischen Verwirrung wollen wir nun die objektiven Mängel der historischen metaphysischen Forschung darstellen, um dann mit ihrer Beachtung den Weg eines ernsten wissenschaftlichen Aufbaus der Metaphysik zu zeichnen. Von der vorplatonischen Metaphysik haben wir nur sehr ungeniigernde Kenntnisse. Doch ist auch aus diesen soviel mit grosser Wahrscheinlichkeit feststellbar, dass die Metaphysik vor Piaton ungemein reich an Problemen und Antworten war, aber eigentlich erst das von den verschiedensten Seiten und aus den verschiedensten dresichtspunkten erfolgende Zusammentragen des metaphysischen Materials darstellte, ohne dass dieses in ein allumfassendes und allseitiges grosses System verbunden worden wäre. Thaies, Anaximandros, Anaximenes legten die Grundlagen der Naturphilosophie und wiesen auch auf abstraktere Bestimmungen, wie das Endliche und das Unendliche, hin. Die Eleaten betonten das beharrende, substanziale Sein, Herakleitos den Wechsel. Empedokles und Anaxagoras wiesen auf die qualitative Mannigfaltigkeit der Elemente und besonders nachdrücklich auf den Geist, vor allem auf die Gottheit hin, während Leukippos und Demokritos auf die Materie und ihre mechanischen Bestimmungen das Hauptgewicht legten. Wir sehen, es war alles beisammen, ohne dass es systematisch vereinigt und durchgearbeitet gewesen wäre. So waren auch viele Elemente der übrigen Disziplinen der Philosophie entdeckt, aber ungesondert gelassen worden. Das Ganze zeigt ein sehr ähnliches Bild, wie wir es in der neuzeitlichen Philosophie bis auf den deutschen Idealismus sehen: selbstverständlich ist hier von der alten Tradition gar manches gerettet und daher das Gesamtbild bedeutend reicher, im Wesen gleicht aber die fast alles neu suchende und zusammentragende neuzeitliche Philosophie vor dem deutschen Idealismus, in gewissem Sinne auch Kant, den modernen Sokrates mit eingerechnet, der vorplatonischen hellenischen Philosophie. In diese brachten dann die Sophisten undi Sokrates, jene mehr in negativem, dieser mehr im positiven Sinne eine starke Gärung, und an ihre Rolle, an ihr Wirken erinnern die Aufklämngsphilosophen, bzw. Kant wieder überraschend. Erst von Piaton erhielt die hellenische Philosophie ihre erste grosse Vereinigung: im platonischen Gedankenkreise gelangten alle philosophi-

8 sehen Disziplinen sowie insbesondere auch alle Elemente der Metaphysik zur Geltung. Piaton war aber mehr ein intuitiver, halb poetisch, halb seherisch veranlagter Geist, der weniger wissenschaftlich denkend und forschend ausarbeitete, sondern schaute und sah und mit den masslos reichen Ergebnissen seines Sehens die von Sokrates ausgebildeten philosophischen Methoden inhaltlich ungemein füllte. Diese Fülle und die Methoden überkam dann der erste ganz grosse und entwickelte wissenschaftlich philosophische Geist, Aristoteles, der so als der eigentliche Begründer der Philosophie als strenger und differenzierter Wissenschaft, und besonders auch der Metaphysik, anzusehen ist. Die aristotelische Metaphysik ist — wie auch seine Logik, Poetik, Ethik und Politik — die Grundlage zur weiteren streng wissenschaftlichen Arbeit auf disem Gebiete: und wenn später auch oft noch die mit Aristoteles nicht verwandten platonischen, Gedanken und auch der grosse Reichtum christlicher Ideen befruchtend: auf die Philosophie, so auch auf die uns hier zunächst interessierende Metaphysik eingewirkt haben, blieb doch das aristotelische System die Grundlage und der Rahmen der nun bald konsequent weiterentwickelten metaphysischen Wissenschaft. Der Aristotelismus wirkte schwächer auf die Kirchenväter, stärker auf die arabischen Philosophen, bis er dann von der Scholastik als natürliche Grundlage aufgenommen und sorgfältig weiter entfaltet wurde. So ist es das aristotelische System, das einer strengen wissenschaftlichen Kritik zuerst gewachsen und zugänglich ist; der platonische Gedankenkreis kann nur viel freier, mehr als dichterisch verbundene Spruchweisheit und als grossartiges Weltbild kritisiert, aber nicht exakt analysiert werden, weil den platonischen Begriffen, besonders jenen, die auch für seine Metaphysik von zentraler Bedeutung sind, den Begriffen von den Ideen, die Eindeutigkeit und strenge Fassung fehlt. Bei Aristoteles finden wir zunächst in den prinzipiellen Bestimmungen einen grossen Vorteil und einen grossen Mangel. Der grosse Vorteil ist seine Unterscheidung des Potenzialen und des Aktualen, ohne die die Hauptprobleme der Metaphysik, das Verhältnis von Gott und Welt, die Grundbestimmungen Gottes und der Welt, die Entfaltung des Geistes, die Entwicklung überhaupt usw. nicht klärbar sind. Der grosse Mangel hinwieder ist die von Aristoteles offen ausgesprochene Überzeugung, dass von dem Konkreten, von dem Einzelnen keine Wissenschaft möglich sei, nur vom Allgemeinen. Daher bleiben auch die Prinzipien des Konkreten unerforscht, ja sie werden gar nicht als Prinzipien anerkannt und so wird die Wirklichkeit, die ja selbst als Wirklichkeit einzeln, konkret ist, nach dem rein formalen Allgemeinen hin verzerrt; ihr Wesen wird einseitig formalistisch gefasst und

9 die konkreten qualitativen Bestimmungen in ihr werden ungerechtfertigt ins vergängliche Unwesentliche hinabgedrückt. Dieser Mangel hat seine schweren Folgen in der weiteren Entfaltung des Systems in der Scholastik: das nie ganz mit Erfolg gekrönt gewesene Ringen gegen den Formalismus in der Auffassung des reinen Geistes, das Missverhältnis zwischen den Bestimmungen des Geistigen und des Materialen und besonders die Trennung der Wesenheit (Essenz) von der Wirklichkeit, überhaupt von dem Bestehen bei allen wirklichen bzw. bestehenden Dingen mit der Ausnahme Gottes. In den sonstigen Bestimmungen ist die aristotelische Metaphysik sehr vielseitig und reichhaltig, sie gibt vortreffliche Bestimmungen über Gott, über die Welt, über die Materie, über den Geist, über die „Naturform". Hier läuft aber auch der zweite sehr wesentliche Fehler unter, nämlich die Fassung der in den materialen Einzeldingen immanenten Naturformen als aktiver Ursachen. Das Prinzip der Kausalität wird SO' falsch gefasst, s t a t t der ausnahmslosen Annahme der von Aristoteles auch gekannten, aber nur für gewisse Ausnahmefälle angenommenen transzendenten Ursachen werden konsequent in den Körpern immanente Ursachen eingeführt. Dieser Fehler hat ebenfalls, sehr grosse Auswirkung, wogegen die falsche Annahme des Aristoteles von der Unendlichkeit der Welt, der Anfanglosigkeit der Zeit viel leichter zu berichtigen ist. Die Scholastik entwickelte dieses metaphysische System weiter, verfeinerte es bedeutend, präzisierte und klärte die einzelnen Sätze und bereicherte das Ganze sehr wesentlich mit der christlichen und der vor allem durch die Kirchenväter wirkenden platonischen Lehre, auch insofern diese bei Aristoteles nicht verwendet wurde. Die erwähnten zwei Hauptfehler aber konnten nicht ausgemerzt werden, sie erbten sich fort und wurden die Gründe der schwachen Punkte in der scholastischen Lehre. Von ihren Folgen abgesehen war schliesslich bei Sankt Thomas und auch bei Duns Scotus eine grosse, reiche, allseitige, streng methodische und feine wissenschaftliche Metaphysik ausgebildet, die unzählige richtige Sätze besass. Diese ganze Wissenschaft der grossen „Summen" wurde dann von den massgpbendsten und den tonangebenden neuzeitlichen Philosophen „summarisch" verworfen. Und so begann ein sehr primitives, naives, viele neue Gesichtspunkte bringendes, aber viel Altbekanntes und Klargestelltes vollständig ausser acht lassendes philosophisches Suchen, ein Zusammentragen von Steinen, wie es die vorplatonische hellenische Philosophie zeigt. Auf die Behandlung der Einzelheiten, der einzelnen Werte und Mängel dieser vielen suchenden Philosophien können wir uns hier nicht einlassen: sie gehört einer eingehenden geschichtlichen

10 Darstellung an. Wir können nur die Hauptzüge feststellen. Dem Mangel der alten Metaphysik, der Ausserachtlassung des Einzelnen, des konkret Qualitativen half auch diese Philosophie nicht ab; erst im deutschen Idealismus sind ernstere Versuche in dieser Richtung zu finden. Dazu kamen aber sehr grosse neue Mängel. Der neuzeitliche Mensch war subjektivistisch-selbstherrlich vor allem auf sich selbst eingestellt, woraus dann in seiner Philosophie zwei ganz wesentliche Mängel erwuchsen. Der erste war die Dekadenz der Gottkenntnis, des Gottesbegriffs, der Kenntnis von dem Absoluten. Und im Gefolge dieses Mangels schlich sich der Relativismus ein, der von dem aus der stark subjektivist ischen Einstellung des neuzeitlichen Menschen entstammenden zweiten Mangel in seiner Philosophie, von dem sich bald zeigenden Subjektivismus als von seinem natürlichsten Waffengefährten trefflichst unterstützt wurde. So waren alle Grundlagen der Metaphysik schon vor ihrem grossen Neubau untergraben und es musste schliesslich zu der durch einen logisch-methodischen Missgriff unterstützten, die Möglichkeit einer transzendenten Metaphysik prinzipiell verneinenden Stellungnahme Kants kommen. Und auf diesen verzerrten Grundlagen konnte ein solcher notwendig gezwungen aufgeführter metaphysischer Bau, wie der des deutschen Idealismus war, trotz sehr vielen wertvollen Einsichten in ihm, nicht halten: er war eben keine objektiv absolutistische wissenschaftlich metaphysische Erkenntnis, sondern eine subjektiv-absoilutistisch gezwungene Konstruktion. Auf die Nötigkeit der Wiederherstellung des Absolutismus wies aber diese höchst energische und ideenreiche Gedankenrichtung nachdrücklichst hin: der Absolutismus kam dann nach der auf den Sturz des deutschen Idealismus folgenden relativistisch-materialistisch-positivistischen Welle auch wieder zur Geltung und zwar nun besondlers auf den Einfluss des scholastisch geschulten Bolzano mit einer stark objektivistischen Betonung (Brentano, Husserl, Pauler, Scheler, Nicolai Hartmann usf.). Dabei blieb aber die Unkenntnis in bezug auf Gott bestehen: dieser Umstand zog die immer schiefere Bestimmung des wiedergefundenen, aber nicht in seinem tiefsten und wirkliehen Wesen erkannten Absoluten und nun auch die Trennung des als absolutistisch bestimmt erkannten Wertgebietes von dem noch als relativistisch bestimmt gedachten und in seinem absoluten Prinzip nicht wiedererkannten Wirklichkeitsgebiete nach sich. Zur alten Trennung von Essenz und Existenz gesellte sich nun die Trennung der von den Kirchenvätern und der mittelalterlichen Philosophie konsequent ungetrennt ineinsgehaltenen Bestimmungen des Wertes und der Wirklichkeit. Damit war die Dekomposition in den Prinzipien noch um einen Schritt weiter fortgeschritten und die Unkenntnis der so nun schon gar nicht richtig bestimmbaren Gottheit

11 sperrte auch der Metaphysik den Weg. Wie wir gesehen haben, wirken auch die kantischen Argumente selbst uneingestanden und nicht einmal voll bewusst gemacht auch in den Nichtkantianern bis in die neueste Zeit fort und verhindern den wissenschaftlich gediegenen Aufbau der Metaphysik. Und doch ist diese wieder und sogar vollständiger, als sie in der Scholastik war, in allen Grundzügen wissenschaftlich fest herstellbar. Es braucht nur einesteils die alte Tradition wieder aufgenommen und andernteils mit den nötigen metaphysischen Prinzipien der philosophischen und spezialwissenschaftlichen Erkenntnisse, überhaupt der geistigen Errungenschaften der Neuzeit ergänzt und von den erwähnten Mängeln befreit zu werden. Einen Versuch dazu haben wir selbst gemacht. Im ersten Bande unserer Grundlegung der Philosophie (Max Niemeyer, Halle, Saale, 1926.), die eben wegen der hier behandelten geschichtlichen Umstände den Namen Grundlegung erhalten hatte, versuchten wir nach der kurzen Festsetzung der allergrundlegendsten Bestimmungen Ding, Gehalt, Form, Gestaltung die Prinzipien und weiteren philosophischen Kategorien des eigentümlichen Gehaltes, des konkreten, qualitativen, einzelnen Moments in der Wirklichkeit herauszuarbeiten und das Wesen der von ihm handelnden Wissenschaft festzulegen. 1 In der Logik behandelten wir objektiv-absolutistisch die formalen Grundbestimmungen und weiteren logisch-philosophischen Kategorien und suchten sie als eine Seite der Wirklichkeit ergebende Wirklichkeitskomponenten klarzustellen. Im zweiten Bande (noch nicht erschienen) bestimmen wir die philosophischen Kategorien des dritten Komponents der Wirklichkeit, der eigentümlichen Gestaltung, und im dritten Bande (Niemeyer, Oktober, 1927.) versuchten wir das streng wissenschaftliche System der Metaphysik der alten Tradition und den neuen Errungenschaften gemäss, ferner die erwähnten Fehler, so auch die Annahme immanenter oder gar der in der Neuzeit aus einem physikalisch-mechanisch-naturphilosophischen Fehlschluss angenommenen mechanischen Ursachen vermeidend aufzubauen. Den prinzipiellen Grundbau versuchten wir dann mit dten ihm entsprechenden und wahrscheinlichsten Sätzen zu einem allseitig vollständigen metaphysischen Gesamtbild zu vervollkommnen: diese hypothetischen, nicht exakt beweisbaren Sätze — deren hypothetischen Charakter wir eigens betont und von den streng wissenschaftlich beweisbaren Bestimmungen unterschieden haben — dienen eben dazu, allen Seiten der lebendigen Wirk1 Die Prinzipien des Konkreten sucht auch R. Guardini in eeinem wertvollen Buch „Der Gegensatz" herauszuarbeiten, ebenfalls aus der Einsicht heraus, dass die Wirklichkeit rein formalistisch, ohne die Erkenntnis der Prinzipien des Konkreten nicht genügend erfassbar ist.

12 lichkeit gerecht zu werden und sie auch dort, wo sie einer streng und rein wissenschaftlichen Erforschung noch nicht zugänglich ist, mit entsprechenden metaphysischen Bestimmungen erfassen zu helfen. Der eingehenden Kritik unserer Arbeit bleibt es zu beurteilen, ob uns die wissenschaftliche Wiederbegründung und in den früher mangelhaften Prinzipien ausgeführte Richtigstellung der Metaphysik gelungen ist oder nicht.

ZUR T H E O R I E D E S

GEGENSTANDES.

Von LUDWIG

PROHÄSZKA.

Wenn wir in der Welt umherblicken, sehen wir uns allenthalben von Gegenständen umgeben, das Nicht-Ich wird vom Ich stets als ein Gegenüber empfunden. Eine unübersichtbare Menge lebendiger und lebloser Wesen und Dinge, die regungslose und gleichgültige Natur, fremde Ichs, mächtige und überwältigende geistige Gebilde umgürten uns, die unserem Ich gegenüber stets Abstand bewahren, die stets „das Andere" vertreten, aber auch stets in enger Wechselwirkung mit ihm verwoben sind. Ohne das Bestehen dieser gegenständlichen Welt würde das Ich niemals zur Wirklichkeit reifen, ebenso aber müsste auch die objektive Welt ohne irgend ein Seelentum auf die Dauer/der Möglichkeit ihres Erkanntwerdens entsagen. Das Subjekt kann sich nur an der umgebenden objektiven Wirklichkeit entwickeln, aber auch die insichseiende gegenständliche Welt verwandelt und steigert sich nur dann, wenn ihr eine Seele entgegenkommt. Je reifer das Leben der Seele, umso farbiger auch die gegenständliche Welt, je reicher die äussere Welt, umso mehrschichtiger auch das Ich. Das Sein ist also die gemeinsame* Sphäre, in der sich Subjekt und Objekt gegenüberstehen, dies muss aber notwendigerweise zu der Einsicht führen, dass auch ihre gegenseitige Beziehung, ihr gegenseitiges Einanderfordern nicht eine bloss transzendentale, sondern auf irgend eine Weise warhaft „seiende" Relation ist. Ohne diesesmal die erkenntnistheoretische Bedeutung dieser Beziehung eingehender zu behandeln, greifen wir das eine Glied der Relation, das O b j e k t , heraus, betrachten es als ein Gegebenes, als ein Fertigseiendes, um untersuchen zu können, weichte Merkmale vom Standpunkte der reinen Wesensbeschreibung an ihm zu unterscheiden sind. In diesem Falle muss der Gegenstand selbstverständlich in seinem allgemeinsten Sinn genommen werden, bevor er sich noch in die verschiedenen Gruppen seines Bestandes sondert, also kann er ebenso eine ontologische Realität, wie eine Fiktion (z. B. ein in der Vorstellung vorhandenes Werk), oder ein wissenschaftlicher Satz sein. Von diesem Standpunkt kann das erste wesentliche Merkmal des

14 Gegenstandes als ein G e g e n ü b e r - G e s e t z t s e i n von jedweder empfangenden, erkennenden Subjektivität bezeichnet werden. Der Gegenstand ist auf irgend eine Weise eben immer dem Subjekt entgegenstehend, wider-stehend, obji zierend, er ist unabhängig von diesem, insichseiend und geschlossen. Dieses Entgegenstehen und Insichsein, diese Unabhängigkeit und Geschlossenheit besteht und ist unantastbar auch dann noch, wenn der Gegenstand nicht ein raumzeitlich gegebener, sondern ein idealer ist, ja er kann auch ein eigentümlich subjektives Gebilde sein, wie z. B. eine Gesinnung, eine Stimmung oder überhaupt die Totalität unserer eigenen seelischen Erlebnisse. Mit anderen Worten: auf welcher Ebene der kosmischen Bestände auch immer der Gegenstand eingelagert sei, er ist stet6 ein transzendenter Gegenpol des Subjektes. Und damit ergibt sich zugleich das zweite wesentliche Merkmal des Gegenstandes. Was für jedes Subjekt stets als kennzeichnend betrachtet werden kann, ist die Fähigkeit der Intention auf irgend ein Etwas. Jedes Seelentum bezieht sich, intentioniert auf etwas, erfasst etwas, das mit diesem intentionierenden, ergreifenden Seelentum niemals, auch in seinen einzelnen Merkmalen nicht identisch ist. Und dieser intentionierte, ergriffene Gehalt ist eben der Gegenstand. Wenn also der Gegenstand in seiner funktionellen Leistung betrachtet wird, kann sein Wesen so beschrieben werden, dass er niemals der intentionierende Faktor, immer aber der intentionierte Gehalt ist. Der Gegenstand b e g r e i f t n i e , e r w i r d b e g r i f f e n . Sicherlich folgt bloss au6 den Subsistenzweisen des Gegenstandes noch keineswegs gleichzeitig auch die Notwendigkeit seines „Begreifens", seiner Erkenntnis. Für das Bestehen eines Gegenstandes ist es eigentlich vollkommen gleichgültig, ob er für ein Subjekt zum gegenüberstehenden Objekt wird, oder nicht. Die gegenständliche Funktion will im Grunde nichts anderes besagen, als dass das Objekt einem Seelentum erkennbar ist, — eben, weil es nicht selbst Erkenntnis leistet. Diese Einsicht führt dann weiter zum dritten Merkmal des Gegenstandes, das wir so beschreiben möchten: ein Gegenstand kann sich n i e m a l s z u m E r l e b n i s v e r w a n d e l n . Der Gegenstand selbst, als Gegenstand ist eine insichseiende, geschlossene Ordnung, ein Bestand, der zwar Wirkungsquelle eines Erlebnisses werden kann, niemals aber selbst Erlebnis ist. Oder noch näher umschrieben: ein Gegenstand kann wohl Gegenstand eines Erlebnisses sein, aber als reale oder ideale Subsistenz wird er niemals selbst zum Erlebnis. Erlebnis und (gegenständ sind also zwei Gegebenheiten des Seins, die niemals auf einander zurückgeführt werden können. Das Objekt t r i t t niemals aus seinen fertigen Grenzen heraus, damit es zum Erlebnis werde und dadurch, dass es für ein Subjekt zum Objekt wird,

15 hört es noch beiweitem nicht auf insichseiendes Objekt zu sein, es strömt nicht in die Seele über, sondern es besteht auch weiter, ganz unabhängig von der Erkenntnisrelation. Und wir sagten, dass dieses unantastbare Insichsein, diese Transzendenz des Gegenstandes auch bei rein subjektiven Gebilden hervortritt; seine Unableitbarkeit aus dem Erlebnis muss eben darum auch an diesem Orte festgestellt werden. Mein eigenes Denken als subsistentes Objekt steht immer diesem Denken als subjektivem Akt gegenüber, es steht aber als Objekt auch dem Gedankengebilde, das ich über mein eigenes Denken mir schaffe, stets gegenüber, — was auch so umschrieben werden kann, dass mein Denken als Gegenstand ebensowenig mit dem erkannten Gegenstand meines Denkens identisch ist, wie mit dem Akt meines Denkens selbst. Das Gegenstandwerden eines Objektes für ein Seelentum zieht also niemals das Objekt in die Seinsweise des Subjektes hinein, eher liesse sich ein diesem radikal entgegengesetztes Verhalten hier nachweisen. Damit aber sind wir schon beim vierten wesentlichen Merkmal des Gegenstandes angelangt. Das Entgegenstehen, das „Widerstehen" des Gegenstandes bedeutet nämlich in gewissem Sinne immer die B e s c h r ä n k u n g d e s S u b j e k t e s . Die Subsistenz des Gegenstandes bestimmt auf irgend eine Weise immer auch das Sein des Subjektes. Inmitten der überströmenden, grenzenlosen und aus sich stets heraustretenden Strebungen des Seelentums ist die Geschlossenheit des Objektes immerdar die entgegenstehende Erreichbarkeit, der ruhende Pol, der die Aktivität dieser Strebungen aufhält, bindet und begrenzt. Alles Binden, alles Beschränken ist aber ein Leiden. Dadurch, dass wir von allen Seiten und stetig von Gegenständen umgeben sind, die die transzendierenden Bestrebungen unseres Selbstes hemmen, die unseren subjektiven Neigungen gleichsam entgegenwirken und sie determinieren, die Differenzierung unserer ursprünglich undifferenzierten Aktivität verursachen, sind wir alle notwendigerweise und ohne Aufhören dem Leiden preisgegeben. Der Gegenstand ist immer stärker als die Seele, er steht ihr im Wege und es ist unmöglich ihm zu entrinnen. So ist eigentlich unser ganzes Leben ein beständiger Kampf mit dem Gegenstande, wobei aber der Gegenstand uns stets überwältigt, stets den Sieg über uns davonträgt. Er überwältigt auch dann, wenn er seinen Bestand dem Subjekt verdankt, ja sein Widerstand ist vielleicht da am mächtigsten; die Gegenstände, die ihr Sein in uns, durch uns erlangen, beschränken uns eben am meisten. Auf Grund dieser Analyse können wir nun Gegenstand nennen im allgemeinen jedes, irgend auf eine Weise subsistentes Gebilde, das dem Subjekt von seinem Wesen aus, notwendigerweise entgegensteht, für das Subjekt erkennbar ist, jedoch niemals sich selbst zum Subjekt

16 verwandelt, sondern eher auch dessen Seinsform determiniert. Diese prätheoretische Bestimmung erleichtert uns jedenfalls die Aufgabe, wenn wir nun auch die möglichen Gruppen der Gegenstände aufsuchen wollen. Diese Gruppierung kann aus verschiedenen Gesichtspunkten angestellt werden. Der nächstliegende Gesichtspunkt würde sich ergeben, wenn man die Gegenstände der Weise ihres Bestandes gemäss in reale und ideale Gruppen einteilte. Real wäre demnach jeder Gegenstand, der raumzeitlich gegeben ist, ideal aber jeder bedeutungserfüllte Bestand, z. B. ein mathematischer Satz. Nimmt man dagegen die Funktion der Gegenstände als Grund ihrer Einteilung, so können sie in transzendente und immanente Gruppen eingereiht werden. Transzendent wäre in dieser Hinsicht jedes Objekt zu nennen, dessen Erkennbarkeit ausserhalb der ontologischen Gegebenheit des Subjektes fällt; immanent dagegen, bei dem diese Erkennbarkeit innerhalb der subjektiven Grenze auffindbar ist. Vielleicht könnte man auch von einfachen und komplexen Gegenständen reden, indem nämlich ihre teleologische Bestimmung betrachtet wird. Ein einfaches Objekt wäre demnach jeder Gegenstand, dessen Zweck eindeutig bestimmt ist, also z. B. das eines Elementes, das stets die eindeutige Bestimmung hat, Bestandteil zusammengesetzterer gegenständlicher Gebilde zu sein. Ein komplexes Objekt wäre dagegen ein solches, das eine Vielheit der Zweckbestimmungen in sich schliefst, wie z. B. das Theater, das in seiner ästhetischen, sozialen, bildungsvermittelnden, technischen Zweckbeziehung betrachtet werden kann, ja innerhalb dieser auch noch mehrfache, sich gegenseitig kreuzende Teilbeziehungen ermöglicht. In Natur- und Kulturobjekte könnte man dann wieder die Gegenstände scheiden, wenn die Struktur des gegenständlichen Bestandes zum Einteilungsgrund der Gruppierung gewählt wird. Kulturobjekt kann man in diesem Sinne jeden Gegenstand nennen, der die Leistung der bewussten Aktivität eines Subjektes ist, Naturobjekt aber, bei dem diese Bewusstheit nicht nachweisbar ist. Alle diese Einteilungsversuche betrachten aber die Gegenstände eben dadurch, dass sie bei ihrer Auffassung in jedem Falle schon einen gewissen Gesichtspunkt zur Geltung bringen, schon als mögliche Erkenntnisgegenstände, jedoch nicht in ihrem Insichsein; folglich aber reicht im Grunde auch keine von ihnen aus, um alle vorkommenden Klassen der Gegenstände umfassen zu können. Will man dagegen alle möglichen Gruppen der Gegenstände beschreiben, so müssen diese, darüber wird kein Zweifel bestehen, unabhängig von jeder erkenntnistheoretischen Einstellung, auch für diesmal in ihrer reinen Gegebenheit betrachtet werden. In diesem Falle könnte man vielleicht bei stätigem Voraugenhalten der eben voll-

17 zogenen Beschreibung des Gegenstandes, die auf Grund der Analyse seiner Wesenheit gewonnen wurde, die folgenden Gegenstandsgruppen unterscheiden: 1. Dinggegenstände. Alle jene Gegenstände, die durch den Zustand der räumlichen A u s g e d e h n t h e i t gekennzeichnet sind, können im allgemeinen in die Gruppe der Dinggegenstände (Körper) eingereiht werden. Diese Dinggegenstände, in ihrer hic et nunc Gegebenheit weisen in einem gewissen Grade stets den Zug der Beharrlichkeit, der Persistenz auf. Gegenstand in diesem Sinne ist z. B. ein Glas Wasser, ein blühender Kastanienbaum, eine Maschine, oder auch ein tierischer Organismus. Alle diese Gegenstände sind sicherlich einer fortdauernden Veränderung unterworfen: das Wasser verdunstet, der Kastanienbaum lässt sein L a u b fallen, die Maschine entfaltet Bewegung, der tierische Organismus zeigt Entwickelung und Absterben. In dem Moment jedoch, da wir sie als unserem Ich gegenüberstehende Körper feststellen, heben w i r ' s i e gleichzeitig aus dem Flusse der Veränderung heraus und binden ihren I n h a l t an die Persistenz ihrer Ausgedehntheit. Vom Blickpunkt der räumlichen Ausdehnung kann also die ganze uns umgebende, umwebende Wirklichkeit als ruhende Lagerung betrachtet werden. 2. Wesensgegenstände. (Substanzen, Formen.) In diese Gruppe gehören alle jene Gegenstände der seienden Wirklichkeit, die im Gegensatz zu den Gegenständen der vorigen Gruppe eben durch die Fähigkeit der T ä t i g k e i t s e n t f a l t u n g charakterisiert sind. Dies will mit anderen W o r t e n bedeuten, dass im substantiellen Gegenstande die T ä t i g k e i t als Objekt und das Subjekt der T ä t i g k e i t immer identisch sind. F ü r die Erkenntnistheorie ist der substantielle Gegenstand sicherlich der letzte Ausgangspunkt, da er in den möglichen Gruppen der Gegenstände der einzige ist, bei dem die Subjekt-Objekt-Relation in einer unlösbaren Einheit, als Bewusstsein, a u f t r i t t . Vom Standpunkte der reinen gegenständlichen Auffassung jedoch muss diese Einheit des Subjekt-Objektes, als gegenüberstehendes Objekt, auch hier vom Bewusstsein selbst streng gesondert werden, f ü r das sie eben bewusste Einheit ist. Die Tätigkeit, als Gegenstand ihrer selbst (Ich-Subjekt) ist stets gleichzeitig ein geschlossener I n h a l t (Ich-Obj e k t ) , gegenüber dieser auf sich selbst bezogenen T ä t i g k e i t ; sie ist also auch selbst intentionierbar, und folglich ganz unabhängig von der A k t i v i t ä t , die in ihr zur Geltung gelangt, ja eher bestimmt sie diese noch in ihrem eigenen Sein. 3. Eigenschaftsgegenstände. Diese Gruppe der Gegenstände, die ebenfalls im Bereich der seienden Wirklichkeit aufgesucht werden muss, wird durch die raumzeitliche G e b u n d e n h e i t charakterisiert. 2

18 Der Eigenschaftsgegenstand gehört immer zu einem Seienden, er ist A t t r i b u t und insofern das Offenbarwerden der Wesenheit des Seienden; man kann ihn jedoch von dieser Wesenheit auch wegbeziehen und in dieser seiner Herausstellung zeigt er die ebenerwähnten Merkmale des Objektes. Oder mit anderen W o r t e n : die A t t r i b u t e der seienden Gegenstände sind innerhalb dieser Gegenstände selbst wieder als eine selbständige, unabhängige Gegenständlichkeit gegeben. Objekt in diesem Sinne ist z. B. die Grünheit, oder eine Gesinnung, als Grünheit und als Gesinnung. Das Grüne h a f t e t immer an E t w a s , das grün i s t ; der Gegenstand ist aber hier nicht dieses Etwas, das grün ist, sondern das Grüne selbst, das die Offenbarungsweise von diesem E t w a s ist, und das dem begreifenden Subjekt ebenso gegenübersteht und es bestimmt, wie dieses „ E t w a s " selbst. Und ebenso ist eine Gesinnung immer Gesinnung Jemandes, der als Ich-Subjekt dem Ich-Objekt gegenübersteht; der Gegenstand ist aber hier ebenfalls nicht das IchObjekt, sondern bloss dessen gesinnungshafte Offenbarung. 4. Zahlengegenstände. Eine selbständige Gruppe bilden alle jene Gegenstände, deren eigentümlich charakterisierender Zug die i d e a l e A n s c h a u l i c h k e i t der reinen q u a n t i t a t i v e n Identität ist. Damit will gesagt sein, dass der eigentümlich mathematische Gegenstand inhaltlich immer ein gewisses Soviel zum Ausdruck bringt, das sich eben infolge der I d e n t i t ä t seiner Subsistenz von allen anderen quantitativen Gegenständen unterscheidet; diese Subsistenz ist jedoch nicht eine raumzeitlich gegebene, sondern eine „ideale", das dann wiederum die q u a n t i t a t i v e Gleichung und die Reihenbildung ermöglicht. Darum kann jeder mathematische Gegenstand, möge er Einheit, Mehrheit oder Menge sein, immer auch als selbständig und von der Relation unabhängig betrachtet werden. Die 2 ist nicht bloss 1 + 1, sie ist auch nicht bloss ein Glied der arithmetischen Reihe, sondern sie ist auch in sich selbst ein so und so bestimmter, geschlossener Bestand der eben in dem stetigen Identischsein seines eigentümlichen Soviel ideal anschaulich ist. 5. Relationsgegenstände. Alle jene Zusammenhänge, die zwischen den Gegenständen einer oder verschiedener Gruppen bestehen können, bilden als eine eigene Gegenstandsgruppe die Klasse der Relationen. Ihr gemeinsam charakterisierender Zug ist die subsistentielle B e r ü h r u n g . Gegenstand in diesem Sinne ist z. B. die Ähnlichkeit, oder die Verschiedenheit, die E n t f e r n u n g oder die Proportion, ferner die verschiedenen Fälle der religiösen, sittlichen oder rechtlichen Relationen, die alle ein ebenso objektives und von der A k t i v i t ä t des Subjektes ein ebenso unabhängiges Bestehen haben, wie die Gegenstände selbst, von denen diese Relationen ausgesprochen werden. Auch

19 hier ist es also die Berührung der Gegenstände, ihr relationaler Zusammenhang, die den Gegenstand bilden, nicht aber die Gegenstände selbst, zwischen denen diese Berührung stattfindet. 6. Prozessgegenstände. Alles Entstehen und Vergehen, als zusammenhängende Reihen der Veränderung, die dem Subjekt ebenso gegenüberstehen, wie die Gegenstände selbst, in denen sie stattfinden, also deren objektives Sein auch als ein von jenen unabhängiges aufweisbar ist, bilden eine eigene Gruppe der Gegenstände, und ihr charakterisierendes Kennzeichen ist die K o n t i n u i t ä t . So ist bei einem sich bewegenden Körper auch der Ablauf der Bewegung selbst wieder eine objektive Gegebenheit, die man von dem Gegenstand, der sich eben bewegt, unterscheiden muss. Und ebenso ist auch ein seelischer Prozess ein objektives Moment der seienden Wirklichkeit, das wir stets von jener Aktivität, deren Sichoffenbaren dieser seelische Prozess darstellt, auseinanderhalten müssen. In diesem Sinne kann unser eigenes und jedes fremde Seelenleben als Gegenstand betrachtet werden. 7. Bedeutungsgegenstände. In diese Gegenstandsgruppe gehören alle diejenigen verschieden gearteten objektiven Subsistenzweisen, deren gemeinsam charakterisierendes Merkmal die z e i t l o s e S i n n h a f t i gk e i t ist. Die Objektivität eines Gesetzes z. B. besteht immer in dem zeitlosen Sinn seines Inhaltes und auf gleiche Weise kann auch die logische Gültigkeit eines wissenschaftlichen Satzes Gegenstand sein, oder die Liebe als ethischer, das Tragische als ästhetischer Wert. 8. Symbol gegenstände. Diejenigen Gegenstände, deren eigenartige Subsistenz darin besteht, dass sie ausser ihrem unmittelbar zum Ausdruck gebrachten Bedeutungsgehalt gleichzeitig immer auch auf einen anderen gegenständlichen Bestand hinweisen und dessen Bedeutungsgehalt vergegenwärtigen, bilden die Gegenstandsgruppe der Zeichensysteme. Ihr charakterisierendes Merkmal ist das motivierte F ü r e t w a s - a n d e r e s - S t e h e n . Dies soll erstens so gedeutet werden, dass der Zusammenhang zwischen dem Sinngehalt des Zeichen-Gegenstandes und des bezeichneten Gegenstandes kein akzidenteller, sondern ein wesenhafter ist, also die gegenständliche Subsistenz des Zeichens sofort aufhören würde, sobald seine Beziehung auf den bezeichneten Sinngehalt nicht schon ursprünglich in seinem eigenen Sinngehalt läge, so dass dadurch der Bestand des Einen immer gleichzeitig .auch den Bestand des Andern zum Ausdruck bringt. Andererseits aber soll es auch so gedeutet werden, dass der Zeichengegenstand niemals mit dem bezeichneten Gegenstand zusammenfällt, sondern in der Weise seines Bestandes sich immer von diesem unterscheidet. Jedes Zeichen lässt nicht nur Etwas zum Ausdruck kommen, sondern besagt stets

20 etwas auch ü b e r Etwas; der Bestand des Einen dient zur Grundlage des Anderen, löst sich aber niemals darin auf, sondern bietet auch in diesem Zusammenhang die doppelte Gegenständlichkeit ihres Sinngehaltes 'dar. Und in dieser Motivation liegt eben die eigentümliche Objektivität der Zeichensysteme; ohne diese würde sich entweder das Eine, oder das Andere, das Zeichen oder das Bezeichnete als überflüssig erweisen. Aus diesem Grunde kann aber der symbolische Gegenstand auch nicht als ein blosser Fall der Relation betrachtet werden. Die Beziehung der Sprache, der Schrift, des mathematischen Kalküls; die Beziehung der ganzen Symbolik der Religion, von den primitivsten Zauberzeichen bis zur ausgebauten Ordnung der Liturgie; oder auch die Beziehung sämtlicher Symbole des sozialen, politischen und wirtschaftlichen Lebens (z. B. des Geldes) auf das Gedankensystem, auf die Quantität, auf Formen oder auf Prozesse enthält sicherlich mehr als eine blosse Relation. Die Objektivität offenbart sich bei der Relation in der Berührung, die zwischen den aufeinanderbezogenen Gegenständen besteht, beim symbolischen Gegenstande empfinden wir hingegen die Subsistenz stets als Motiv bei seinem Für-ein-anderesStehen. 9. Individuelle Produktgegenstände. Alle Okjektivationen der individuellen Seele, die auch bei ihrem losgelösten, auf sich gestellten und insichseienden Bestehen irgendwie an die Existenz des hervorbringenden Geistes gebunden sind, bilden eine eigene, selbständige Gruppe der Gegenstände und können mit zusammenfassendem Ausdruck individuelle Produkte genannt werden. Ihr gemeinsam charakterisierendes Merkmal ist die logische V e r a n t w o r t u n g ihrer Subsistenz, womit gesagt werden soll, dass zwischen der Tätigkeit der Seele und dem hervorgebrachten Inhalt stets eine intentionale Beziehung vorhanden ist, deren Sinn und Bedeutung niemals in sich selbst seine Heimat hat, sondern in dem Werte, der in dieser intentionalen Beziehung offenbar wird und diese beweisbar macht. Gegenstand in diesem Sinne ist eine Tat, eine Fertigkeit oder eine erlangte Bildung, die alle in ihrer Subsistenz der hervorbringenden Subjektivität gleichmässig gegenüberstehen, sich von ihr unabhängig verhalten, jedoch nur innerhalb ihrer existenziellen Grenze möglich sind. 10. Zwischenmenschliche Produktgegenstände. In diese Gegenstandsgruppe wären, im Gegensatz zu der vorigen, jene überindividuellen Objektivationen des Geistes einzureihen, die in ihrem Bestand nicht an die hervorbringende subjektive Wirklichkeit gebunden, sondern ausserhalb der existenziellen Grenze dieser eingelagert sind, und deren unterscheidendes Merkmal die logische S t r u k t u r der Subsistenz ist. Damit soll einerseits angedeutet sein, dass der Sinngehalt hier nie-

21 mals mit der hervorbringenden Tätigkeit intentional verbunden ist, sondern eine autonome Ordnung mit eigentümlicher Gesetzlichkeit d a r s t e l l t ; andererseits aber auch, dass die Subsistenz dieser Gegenständlichkeit niemals regungslos verharrt, sondern vielmehr eine stetige Wirkungsquelle bildet, da der strukturelle Gegenstand immer eine Assoziierung ins Sein ruft, ein zwischenmenschliches Vermittlungsglied ist, das eben dadurch sich immer wieder in den Bereich des subjektiven Geistes hineinwebt, oder richtiger: durch den subjektiven Geist sich immer aufs neue gestaltet. Daher die ontologische Verwandtschaft des strukturellen Gegenstandes mit dem substantialen Gegenstande. Der S t a a t oder andere soziale Gebilde (Kirche, N a t i o n ) , ein Kunstwerk oder eine Entdeckung, überhaupt die Systeme der Wissenschaften oder der Kunst, als Gegenstände, einen überindividuellen Bedeutungsgehalt darstellend, als Bestände mit geschlossener S t r u k t u r , weisen eine ebensolche immanente Dynamik auf, wie die Formen, nur ist die Gesetzlichkeit, die in dem einen und in dem anderen Falle zur Geltung kommt, eben eine andere. D a r a u s ist zu erklären, dass die Objektivität der strukturellen Gegenstände auch d o r t stets offensichtlich ist, wo ihre Subsistenz in die A k t i v i t ä t des subjektiven Seins hineinbezogen erscheint; ein Bedeutungsgehalt eines Werkes, der in mir lebendig geworden ist, um als latente K r a f t mir zu dem Hervorbringen eines Werkes mit neuem Bedeutungsgehalt zu verhelfen, ist ebenso gegenüberstehend und erlebnisfremd, ebenso bar des Erkenntnisartigen und begrenzt mich auch ebenso, wie in dem Zustande, als er sein Bestehen von meiner A k t i v i t ä t noch unabhängig h a t t e . Und die gegenständliche Subsistenz des S t a a t e s löst sich ebenfalls nicht in uns zum Erlebnis, zur T ä t i g k e i t auf, wenn es als S t r u k t u r in uns wirkt und sich a u f b a u t . 11. liktionsgegenstünde. Eine ganz eigentümliche Gruppe der Gegenstände bilden diejenigen geistigen Produkte, deren Bedeutungsgehalt weder eine logische Verantwortung, noch eine logische S t r u k t u r aufweist, sondern f ü r die vielmehr das Merkmal der freien g e g e n s t ä n d l i c h e n K o m b i n a t i o n charakteristisch ist. Der Bestand des fiktiven Gegenstandes ist s t e t s im blossen Kombiniertsein seines Bedeutungsgehaltes erschöpft. Solche fiktive Gegenstände sind z. B. ein E i s p a l a s t , der Phönix, oder der Kentaur, es kann aber auch ein Kunst werk, soweit seine gegenständliche Subsistenz nur noch in der Vorstellung gegeben ist, als ein solcher betrachtet werden und ebenso auch jede Hypothese. Zur Gruppe der fiktiven Gegenstände gehörig muss auch die Lüge betrachtet werden, deren objektiver Bestand wesentlich ebenfalls in der freien Kombination zu beschreiben ist.

22 12. Possible Gegenstände. Alle diejenigen Gegenstände, deren eigentliches Merkmal die M ö g l i c h k e i t der Verwirklichung ist, bilden die Gegenstandsgruppe der Possibilitäten. Gegenstände in diesem Sinne sind z. B. Ideale, regulative Ideen, sodann aber auch die Freiheit und die Notwendigkeit (indem sie nicht von Seite der Relation, also der gegenständlichen Berührung, sondern von der der Möglichkeit betrachtet werden), die ohne Ausnahme alle dem Subjekte gegenüberstehen, objizieren. Die possiblen Gegenstände unterscheiden sich aber von der Fiktion wesentlich dadurch, dass sie in ihrer Subsistenz nicht von der Phantasie abhängig sind; sie sind nicht freie Kombinationen, sondern eben — Möglichkeiten, die aber zur Wirklichkeit streben. Deshalb ist auch die Möglichkeit kein regungsloser Bestand ; man könnte auch hier von einer immanenten Dynamik sprechen. Gleich der kommenden Generation, die entbunden werden will, ist die Sehnsucht nach dem Sein auch der Subsistenz possibler Gegenstände tiefster Sinn. Und so wäre schliesslich der im Recht, der meinte, dass die Empfängnis f a s t der ganzen gegenständlichen Wirklichkeit sich im Schosse der Possibilitäten vollziehe. Es ist auch aus dieser Beschreibung der Gegenstandsgruppen schon sichtbar: die Aufweisung der objektiven Gegebenheit kann niemals so durchgeführt werden, dass dabei die Ausschliesslichkeit der gegenständlichen Klassenzugehörigkeit bewahrt bleibe, sondern sie setzt immer die Gesamtheit der Gegenstandsgruppen voraus, deren charakteristischen Eigentümlichkeiten in einem gegebenen Gegenstande stets koinzidieren und auch ihrerseits daran mitarbeiten, dass die objektive Beschaffenheit des Gegenstandes hervorgehoben werde. So ist z. B. die vorgestellte Idee eines Kunstwerkes eine Fiktion, seine Idee selbst eine Possibilität, seine Verwirklichung ein Prozess, sein Material ein Körper, sein Sinngehalt ein Wert, sein Bestand aber ein zwischenmenschliches Produkt. Jeder, in eine gewisse Gruppe gehörender Gegenstand kann dadurch, dass er neben seinem gegenständlichen Sein auch einen Bedeutungsgehalt darstellt, wenigstens als noch in die Gruppe der Bedeutungsgegenstände gehörig betrachtet werden. Das Bedeutungsobjekt hingegen kann, da es immer etwas geben muss, was diese Bedeutung vergegenw ä r t i g t und womit das Bedeutungsobjekt in irgendeinem Verhältnis steht, seinerseits wenigstens auch noch in die Gegenstandsgruppe der Relationen eingereiht werden. Jede gegenständliche Gegebenheit enthält also eine Verwobenheit der verschiedenen Subsistenzweisen der Objektivität und folglich gibt es auch eigentlich keinen einfachen und zusammengesetzten Gegenstand, sondern es gibt bloss Gegenstände., die in ihrem Bestand immer gleichzeitig als in mehrere Gegenstandsgruppen gehörig betrachtet werden können. Der Begriff der Zusammen-

23 gesetztheit kann übrigens auch nur dort angewendet werden, wo der Begriff des einfachen Bestandteils, des Elementes vorhanden i s t ; für den Gegenstand ist aber eben charakteristisch, dass er immer nur innerhalb derselben Gruppe als Element dienen, niemals aber Bestandteil einer anderen Gegenstandsgruppe sein kann. Ein Dinggegenstand (Körper) kann immer nur Bestandteil eines anderen Dinggegenstandes sein, nicht aber eines Prozesses; das Element eines Prozesses hingegen kann wieder nur ein Prozess (Ereignis) und nicht etwa eine sich darin bekundende Bedeutung sein. Der gegenständlichen Analyse kommt die Aufgabe zu, die mannigfaltigen Weisen der gegenständlichen Subsistenz festzustellen, oder mit anderen Worten: alle möglichen Fälle, wonach ein Gegenstand in den verschiedenen Gruppen der Gegenstände vom Subjekte gesondert und ihm gegenübergestellt werden kann, zu beschreiben. Und hier beginnt die eigentümliche Aufgabe der Erkenntnistheorie, indem sie die Frage aufwirft, inwiefern dieser, in seiner eigentümlichen Gegebenheit beschriebene Gegenstand als Erkenntnisgegenstand möglich ist. Damit gibt der Gegenstand freilich noch beiweitem nicht seine subsistentielle Gruppenzugehörigkeit auf, taucht aber im Bewusstsein auf und im Gegensatz zu seiner geschlossenen, insichseienden Gegebenheit t r i t t nun die eigentümliche Subjekt-Objekt-Relation in den Vordergrund, die eine ganze Reihe neuer Probleme nach sich zieht. Der Vorwurf eines beliebigen Gegenstandes als möglichen Erkenntnisgegenstandes und der Lösungsversuch der damit zusammenhängenden neuen Probleme kann aber erst dann zu einem Ergebnis führen, wenn vorher die Gegenständlichkeit in ihrer reinen Gegebenheit aufgesucht und beschrieben wird.

DIE „PROJEKTION" IN DER PSYCHOLOGIE KARL BÖHMS. 1 Von D I O N Y S VON

MUZSNAI.

Die philosophischen Lehren Karl Böhms fanden Jahrzehnte lang ausserhalb des Kreises seiner Schüler keinen Nachklang. Da er auch seine psychologischen Ansichten in seinem Hauptwerke (Der Mensch und seine Welt. Bd. II.), sozusagen als einen Abschnitt seines Systems, darlegte, so ist es leicht erklärlich, dass samt seiner philosophischen Lehre auch seine Psychologie unbekannt blieb. Welch' grosse Werte dadurch aber die ungarische psychologische Forschung der Vergessenheit preisgab, gehen auch aus den Worten Äkos von Paulers hervor: „Die psychologische Lehre Böhms ist einer der wertvollsten und originalsten Teile seines Systems, und wir können nur tief bedauern, dass . . . dieselbe ebenso wenig auf unsere Fachkreise gewirkt hatte, wie der vor zehn Jahren 2 erschienene erste Teil." 3 *

In dem Titel dieser Abhandlung bezeichneten wir als die zu lösende Aufgabe die Darstellung des zentralen Problems seiner Psychologie: die Besprechung der „Projektion". — Man könnte gegen uns einwenden, mit welchem Rechte wir von „Psychologie" sprechen, da ja Böhm 1

Karl Böhm (1846—1911) war Professor der Philosophie an der Universität zu Kolozsvär. Er ist der Schöpfer des ersten ungarischen selbständigen philosophischen Systems; seine Lehren sind an mehreren Universitäten und Hochschulen Ungarns verbreitet. Besonders in seinen werttheoretischen und psychologischen Untersuchungen schlug er, seinem Zeitalter voraneilend, neue Bahnen ein. — Sein Hauptwerk „Der Mensch und seine Welt" erschien in vier Bänden: Bd. I. „Dialektik oder Fundamentalphilosophie" 1883; Bd. II. „Das Leben des Geistes" (1893); Bd. I I I . „Axiologie oder Wertlehre" 1906; Bd. IV. (herausgegeben nach seinem Tode vom Prof. Georg v. Bartök) „Die Lehre des logischen Wertes: 1912. Zahlreiche Abhandlungen von ihm erschienen in deutschen Fachzeitschriften. Eine zusammenfassende Darstellung seiner Philosophie von Professor Georg v. B a r t ö k : „Die Philosophie Karl Böhms". (Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik. Bd. 165. [1918] S. 134—173.) 2 3

Der erste Band seines Werkes erschien nämlich 1883. „Da« Andenken Karl Böhms." 1924. S. 5.

25 seine Lehre ausdrücklich mit dem Namen Geisteskunde (Pneumatologie) bezeichnete, 1 um auch durch diese Namengebung den grossen Unterschied auszudrücken, der zwischen seinen Lehren und den Psychologien seiner Zeitgenossen besteht. — In dem „Leben des Geistes" charakterisiert er den Unterschied, der ihn von den psychologischen Bestrebungen seiner Zeit trennte, folgendermassen: „Gerade das Ziel und die Methode unterscheidet (meine Lehre) von der gewöhnlichen physiologischen Psychologie. — Ihr Ziel ist in den psychologischen Einzeltatsachen jenes positive Gesetz klarzulegen, von dem die Erscheinungen aller Bildelemente, somit das ganze Geistesleben abhängt, und durch das jene ihren eigentlichen Sinn gewinnen. — Es ist bei uns auch das Verhältnis der beiden Elemente 2 ein anderes. Das anatomische Äussere dient bei uns nur zum Beweis des wirklichen Daseins; das Gesetz ist durch die innere Selbstbeobachtung gewonnen worden. — Ich bin nirgends von den anatomischen und physiologischen Daten ausgegangen, denn ich halte sie zu einem solchen Ausgang für ungeeignet. Der ganze Standpunkt meines Werkes hat, als auf das einzig bestimmte Fundament auf die vor dem Bewustsein auftretenden Bilder hingewiesen; der Sinn dieser Bilder ist das einzige unmittelbar Bekannte und Verstehbare, zu welchem die Form der anschaulichen Erscheinung nur etwas Äusseres und für das Ganze etwas Sinnloses ist. Die Selbstbeobachtung ist also die Quelle, auf die ebenso mein systematischer Standpunkt, wie auch die einfache Besinnung hingewiesen hatte. Wir können ja selbst auch die Tätigkeit der Sinne nur aus der unmittelbaren Selbstbeobachtung verstehen." 3 Durch diese Auffassung — von der ich darum so viel anführte, damit sie in ihrer ursprünglichen Fassung vor uns stehe — gab Karl Böhm im schärfsten Gegensatze zu der in seiner Zeit allgemeinen physiologischen, atomistischen experimentellen Forschung eine prinzipielle Grundlegung der Psychologie. — Er steckte durch die Untersuchung des Sinnes der seelischen Geschehnisse ein neues Ziel und leitete durch die Erkenntnis der tatsächlichen Bedeutung der Selbstbeobachtung eine neue Methode ein. — Wie richtig er schon damals gesehen hatte, beweist gerade die Entwicklung der Psychologie: seine Forschungsmethode wurde durch Oswald Külpe und dessen Schule allgemein, sein Ziel aber machte sich die heutzutage immer mehr in den Vordergrund rückende neue Tendenz der Seelenkunde die sogenannte „geisteswissenschaftliche Psychologie" 1

„Das Leben des Geistes." S. 18. (Auch Hauptwerkes.) - d. h. die sinnlichen Bewusstseins. J a. a. 0 . S. 19.

(Wahrnehmungs-)

der Nebcntitel des II. Bandes seines

und sinngebenden

(Denk-)

Daten

des

26 zu eigen. — Ohne unbescheiden zu sein kann die ungarische psychologische Forschung behaupten, dass in der Psychologie Karl Böhms schon diejenigen prinzipiellen Grundlagen aufzufinden sind, welche in dem Kreis der Forscher erst in unseren Tagen allmählich eine allgemeine Anerkennung finden. Wir dürfen nicht vergessen, dass Karl Böhm seine Psychologie streng im Rahmen seines Systems dargelegt hatte. — Und nicht nur der Rahmen ist philosophisch, sondern auch die Methode, wie ei es selbst hervorhebt und betont, „ . . . wir haben weder mit den Beobachtungen noch mit der Methode der empirischen Psychologie etwas gemein.1 Unsere Methode war und blieb die philosophische Konstruktion . . . " 2 Auf eine solche Äusserung haben die meisten „experimentellen" Psychologen mit dem Worte „Spekulation!" eine vernichtende Kritik bereit. Böhm kannte diesen Vorwurf, der noch heute von den auf physiologischer Grundlage stehenden Forschern zu hören ist. 3 Demgegenüber fragt er aber seinerseits, wie sie denn die Bedeutung ihrer Experimente erklären, ,sie kratzen doch nicht von ihren Registriermaschinen die Erklärung a b ? ' 4 — Schon bei der einfachsten Farbenempfindung erhält ja die „Farbe" ihr Wesen von dem vom Subjekt stammenden „Sinn". „Dagegen gehört das, dass sie „Schwingung" oder „Nervenbewegung" ist, nicht mehr zu den konstitutiven Elementen der Farbe, sondern ist aus ihren Beziehungen geschöpft, die wir auf Grund des Sinnes der Farbe an ihr als einen erklärenden Zusatz hinzugefügt hatten." 5 •

Wir haben für nötig erachtet das Grundprinzip zu skizzieren, nach welchem die psychologischen Untersuchungen Karl Böhms vor sich gegangen sind, damit, wenn wir zur Untersuchung der „Projektion" übergehen, der Rahmen, dessen innerster Kern gerade der Akt der „Projektion" ist, uns vor Augen stehe. Die Untersuchung der „Projektion" gehört in erster Reihe in den Kreis der Erkenntnistheorie. — Karl Böhm stellt es selbst fest: „Ob die Projektion ein realer Vorgang oder aber nur eine Denkart ist, durch die wir von den Bildern als von etwas Fremdem wissen, das kann 1 Er denkt an die psychologischen Bestrebungen der 80er und 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts. (Wundt, Sergi, Ribot usw.) s Das Leben des Geistes. S. 232. 3 Siehe W. Köhler, Komplextheorio und Gestalttheorie. (Psych. Forsch. Bd. VI. S. 397. Anmerkung.) 1 Das Leben des Geistes. S. 20. 3 Karl Böhm: „Das Verstehen, als das zentrale Moment der Erkenntnis". S. 26.

27 man lediglich mit blossem psychologischen Nachdenken nicht entscheiden. Es ist nämlich ganz offenkundig, dass die psychologische Reflexion, die die Wirklichkeit der Projektion verneint, sich auf der metaphysischen Ansicht aufbaut, dass Leib und Seele voneinander wesentlich verschieden sind; nur dann können wir mit Überweg davon reden, dass ,die Empfindung nicht irgendeine Sache ist, die wir projizieren könnten'". Teilen wir diese materialistische Auffassung nicht, dann verursacht uns der Gedanke der Projektion keine Schwierigkeit. Die Entscheidung darüber kann aber nicht durch psychologische, sondern nur durch metaphysische und erkenntnistheoretische Auseinandersetzungen gewonnen werden. 1 Uns interessieren aber hier nicht die erkenntnistheoretischen Beziehungen der Frage, die Böhm ausführlich zuerst in seiner Dialektik erörtert hatte, sondern die Rolle des Problems, die es in seiner Psychologie spielt. — Denn, wie wir sehen werden löst er in seiner Erkenntnistheorie mit der „Projektion"-s-art nicht nur die Verwicklungen des Nuomen und des Phänomenon dadurch,, dass er das projizierte Bild für den Gegenstand der Erkenntnis hält, sondern auch das Problem des Verhältnisses von Leib und Seele mit dem Akt der Projektion erklärt. Dadurch wird die Projektion das zentrale Moment auch der Psychologie Karl Böhms. Das Verhältnis von Leib und Seele dürfen wir aber in der Psychologie K. Böhms nicht im Sinne des herkömmlichen Dualismus auffassen. — Sein ganzes Bestreben war ja darauf gerichtet, dass „der sinnlose Dualismus des Geistes und der Materie schliesslich und endlich einmal aufgegeben werde, auf Grund der Einsicht, dass für die Philosophie nicht zwei absolut Seiende existieren, sondern zwei Bildreihen als Bewusstseinstatsachen gegeben sind, welche in einer der Wirklichkeit gemässen Gestalt zu konstruieren sind. — Der Grundbegriff also, durch den der Gedanke des Menschen ausgedrückt wird, ist nicht der Leib oder der Geist, sondern die Selbstsetzung als logische Einheit, deren Inhalt die einzelnen Funktionen des Menschen sind . . . Diese gnostische, beziehungsweise erkenntnistheoretische Lösung des Problems von Leib und Seele bildet meines Erachtens den positiven Grund, den wir zu den Details der Lehre vom Geist als logischen Ausgangspunkt wählen können." 2

1 Aus seiner Abhandlung „Die Projektion", die K. Böhm als Universitätsprofessor zu Kolozsvär für ein philosophisches Wörterbuch geschrieben hatte; sie erschien aber nicht. — Die Handschrift verdanke ich dem gütigen Wohlwollen des Herrn Universitätsprofeesors Georg v. Bartök, des Hüters des geistigen Nachlasses Karl Böhms. Es sei mir erlaubt ihm dafür auch hier meinen innigsten Dank auszudrücken.

• Leben des Geistes. S. 10 u. 11.

28 K. Böhm bezeichnet also die Selbstsetzung als den einzigen Grund, auf den eine Psychologie aufgebaut werden kann. Die Selbstsetzung ist eine eigenartige These der Philosophie Karl Böhms, die er ausführlich in seiner Dialektik 1 besprochen hatte. (Von hier aus übernimmt er sie auch in seine Lehre vom Geist: „Der Erkenntnisgegenstand als konkrete Wirklichkeit ist nie einfach, sondern eine ideale Einheit logischer Momente . . ., das haben wir unter Namen Selbstsetzung verstanden." 2 Da aber Selbstsetzung eine fortdauernde Tätigkeit ist, deren Resultat die Selbstverwirklichung ist» so fasst K. Böhm auch den Geist als eine fortwährende Tätigkeit auf, dessen letztes Ziel sich selbst zu verwirklichen und zu erhalten ist. Es fragt sich nur, wie die Selbstverwirklichung und Selbsterhaltung im Geist vor sich geht, wo und wie diese Funktionen der Selbstsetzung ablaufen. Um auf diese Fragen antworten zu können, untersucht er zuerst da6 Ei des menschlichen Organismus und Seins: die befruchtete menschliche Eizelle. Karl Böhm findet, dass die infolge der Befruchtung allmählich eintretende Einfurchung der Eizelle der erste Akt der Selbstsetzung ist. „Infolge der Befruchtung löst sich die gebundene Einheit und es entstehen die beiden Glieder des Ich-Nichtich in wirklicher realer Gestalt. 3 Diese Erklärung der Einfurchung der Eizelle gibt er, indem er von der Auffassung ausgeht, wonach es die Urtatsache des menschlichen Geistes ist, sich selbst ergreifend auch ein Anderes sich gegenüber zu setzen. [In dieser These ist das Sichselbstergreifen des „Ich'1, das Wissen von sich selbst = das Bewusstsein; das Wissen von etwas Anderem ( = das „Nicht-Ich"), wenn er weiss, dass dieses „Andere" nicht er, aber doch das seine ist = Objektbewusstsein. Danach besteht der ganze Inhalt des Bewusstseins darin, dass er sich weiss („Ich" = „Ich") und nichts weiter. — Den Inhalt des „Anderen", des „Nicht-Ich" liefern aber die Gesichts-, Gehörs-, Verdauungs-, Zeugungs- und Denktätigkeiten des Nervensystems.] 4 K. Böhm erklärt also durch die Scheidung des „Ich" und „Nicht-Ich" die auf die Befruchtung folgende Einfurchung in der Eizelle; diesem Vorgang kann man seiner Ansicht nach keinen Sinn geben; er wäre sonst eine vom Zufall abhängende Gruppierung der Zellen. Diese Zweiteilung der Selbstsetzung, die sich in der Einfurchung der menschlichen Zelle nur in einer unklaren Form kundgibt, nimmt eine bestimmtere Gestalt an, indem sich im Organismus allmählich 1

Der Mensch und seine W e l t . Bd. I I . S. 100.

2

Das Leben des Geistes. S. 3.

3

Das Leben des Geistes. S. 32.

4

Das Leben des Geistes. S. 27.

29 das Nervensystem entwickelt. Jetzt gestaltet sich die Lage so, dass die zentrale Stellung das Bewusstsein einnimmt und die Rolle des „Anderen", des „Nicht-Ich" das Nervensystem bekleidet (das K. Böhm auch „peripheren Gegenstand" nennt). Wenn jetzt das Nervensystem durch einen Reiz (äussere oder innere Einwirkung) affiziert wird, verändert es sich . . . „Das Bewusstsein bemerkt aber diese Veränderung, denn die sein Wesen ausmachende Einheit das „Ich" = „Ich" wurde durch so etwas gestört, das nicht zu ihm gehört, sondern ein ausserhalb seiner liegendes fremdes Element ist. — Das Bewusstsein bemerkt und konstatiert also diese Veränderung und wünscht sich zugleich von ihr zu befreien, das kann er aber nur dadurch erreichen, dass es die Ursache der Veränderung ausserhalb seiner setzt und sich dadurch Beruhigung verschafft. — Danach wird also der Gegenstand für das Ich durch diejenige Tätigkeit Gegenstand, durch welche das Ich der Gegenstand seiner selbst geworden ist — nämlich durch das Setzen, = „Projektion". 1 — Wie wir aus dieser Analyse Georg v. Bartöks sehen, ist die „Projektion" derjenige Akt, durch den der Geist sich selbst und die Aussenwelt erkennt, diese sich innerhalb der Einheit der Selbstsetzung aneignet. Wir können also von einem besonderen „Leib" nicht sprechen, wir erfahren ja vom Leben unseres Leibes durch die Vermittlung unseres Nervensystems, das ein Glied der Selbstsetzung ist: sein „Wahrnehmungsausdruck"; und wir können von der substantiellen Seele nicht sprechen, das erkennende Subjekt ist ja auch ein Glied, das zentrale Glied der Selbstsetzung, das so durch das Zusammenfassen der beiden Glieder in eine Einheit mit Hilfe der Projektion tatsächlich „die ideale Einheit der logischen Momente ist". Und da das Nervensystem einer beständigen Reizung ausgesetzt ist, so verteidigt es seine Ruhe gegen die auf diese Weise entstehenden fortwährenden neuen „Nicht-Ich"s, durch das ständige Projizieren des „Ich"; daraus folgt aber, dass das ganze geistige Leben eine fortwährende Projektion ist. *

Der Projektionsakt ist also, wie wir sehen, in der Psychologie K. Böhms von zentraler Bedeutung. Er ist sozusagen der Hauptpfeiler ihrer ganzen Konstruktion, auf welchem — wie auf einem Fundament — das ganze Gebäude ruht. Und wie die durch den Architekten gelegten Fundamente eines Hauses nicht zu sehen sind, ist auch die Projektion ein unsichtbarer, nicht bewusster seelischer Vorgang. — Ihre Existenz kann nur die erkenntnistheoretische Analyse nachweisen. — 1

Dr. Georg v. B a r t ö k : „ D i e

Lehre

des logischen Wertes". (Das Leben und

T ä t i g k e i t Karl Böhms. Bd. II.) S. 170. (In ungarischer Sprache.)

die

30 Böhm betont auch diese Eigenart des Problems, und da für ihn das Hauptziel die philosophische Grundlegung war, widmet er den grössten Teil seiner Psychologie der Auseinandersetzung dieser Frage. — Dadurch wird die Behandlung der bewussten seelischen Vorgänge, die in anderen Seelenkunden einen zentralen Platz einnehmen, in den Hintergrund gedrängt. — Und doch entfaltet sich die Grösse K a r l Böhms als Psychologe am schönsten in jenen Teilen, in denen er sie behandelt: in der Feinheit der Selbstbeobachtung, der Sicherheit der Analyse, der ganz originellen Stilisierung und Lösung der Probleme; das alles sind Werte, die eine ganze Fülle, leider bisher vollständig unausgebeuteter Schätze für die ungarische psychologische Wissenschaft bergen. Besonders die charakterologischen Wissenschaften würden durch die gründliche Bearbeitung seiner Psychologie viel gewinnen. — Ich erwähne die sen jungen Spross derPsychologie, denn durch ihn erhoffte Robert Gragger, dessen Andenken diese Zeilen gewidmet sind, die Seele unserer Nation der Kulturwelt bekanntmachen zu können. In seinen Plänen, die er im Laufe seiner Gespräche auseinandersetzte — denn sein allzu früh eingetretener Tod erlaubte ihm nicht diese schriftlich zu fixieren — hat Robert Gragger nur ein einziges Ziel für die ungarische psychologische Wissenschaft gesehen: das Studium der ungarischen Seele.

DIE HAUPTPERIODEN DER ENTWICKLUNG DER KUNSTFORM. Von JOHANN

GÄL.

Im folgenden Aufsatze versuchen wir ein übersichtliches Bild des Formausdrucks in der Kunst zu entwerfen. Das ästhetische Formgefühl und der Formwille nimmt von Zeit zu Zeit einen besonderen Charakter an und sucht deshalb einen besonderen Weg zur Ausprägung. Dies kommt daher, dass die menschliche Seele in einem gewissen Zeitkreise von einem speziellen Ideenkomplex erfüllt ist und dieser seelische Inhalt sich in einer ihm meist entsprechenden ästhetischen Form auszudrücken strebt. Inhalt und Form sind nur theoretisch voneinander trennbar, in Wirklichkeit erscheinen sie in den Kunstwerken immer vereint. Nur im Kunstschaffen darf man von einer scheinbaren zeitlichen Priorität sprechen, nur hier kann man sagen: den Gedanken, den Inhalt habe ich schon, aber die Form, den Stil, in welchem ich meinen Gedanken auf künstlerische Weise ausdrücken will, habe ich noch nicht. Oder umgekehrt: der Künstler kann sich im Voraus entschliessen, in welcher Form, genauer: in welchem Formtypus er seine Konzeption ausprägen wird. Inhalt ist nämlich in der Tat nichts anderes als ausgesprochener Gedanke. Aber in Kunstwerken ist zwischen Inhalt und Form natürlich keine zeitliche Priorität, hier prägen sich Inhalt ünd Form in völliger Einheit der ästhetischen Kunstwerte und daher auch in einer einheitlichen Wirkung des ganzen Kunstwerkes aus. Deshalb müssen wir im Folgenden, wenn wir über die Perioden der Kunstformentwicklung, also die Formerscheinungen, sprechen werden, „hinter der Form" auch den Inhalt im Auge behalten. Die Frage muss also so gestellt werden: f Wie strebt der Künstler, nachdem er die inhaltliche Konzeption schon in seiner Seele hat, diese in irgendeiner Form auszudrücken? Die Form der Ausführung hängt aber von vielen Faktoren ab, in erster Linie vom Wesen des Inhalts und der Anschauungsweise des Künstlers. Wenn wir die letzten zu systematisieren versuchen, so können wir drei Hauptperioden des künstlerischen Formsehens erwähnen, welche sich in drei nacheinander fol-

32 genden Zeitaltern offenbaren und welche das Bild einer organischen Entwicklung darbieten. Diese organische Entwicklung besteht darin, dass die ursprünglich nur einzigartigen, starren, schematischen Kunstformen sich mit der Zeit verzweigten und vermehrten, biegsamer, vielfarbiger und so auch geeigneter zum Ausdruck der Subjektivität des Künstlers wurden. Die Formentwicklung ist nämlich unserer Meinung nach nichts anderes als die Entwicklung von den schematischen und kollektivischen Formen zu den verschiedenen Formen der Künstlerindividualität, als ein Streben nach verschiedenen Formen der verschiedenen Inhalte. Das Ziel ist, dass die Individualität 6ich in der Form ebenso widerspiegeln könne wie im Inhalt. Diesen Gang der Entwicklung kann man aus der Kunstgeschichte deutlich nachweisen. Die Grundformen der europäischen Künste haben schon die Hellenen ausgebildet; sie haben die Hauptprobleme des künsterischen Schaffens aufgeworfen. Die seitdem entstandene Entwicklung teilen wir in folgende drei Grundstufen ein: die Periode der idealistischen Synthese, der realistischen Analyse und der subjektiven Auflösung.

1. Die idealistische Synthese. Der Mensch stand zuerst in seiner Umgebung als ein organischer Teil der Natur; seine Persönlichkeit t r a t erst später hervor; er trennte sich langsam vom Weltall und wurde ein souveränes Individuum, welches sich der Natur gegenüberstellte. Erst von diesem Augenblick an konnte der Mensch selbstbewusst und künstlerisch tätig sein. Sein künstlerisches Sehen blieb aber noch lange von kollektivischem Charakter. Auf dieser Stufe stellte er nämlich den Inhalt in kollektivischer Form dar, seine Konzeption brachte er in Typen hervor. Er sah nicht das Einzelne, das Sonderbare, die Individualität, die Unterschiede, er sah das Allgemeine, die die Spezies charakterisierenden Schemen, die typischen Linien und so suchte er nicht die einzelnen Formen der unter einen Begriff gehörenden Individuen, sondern wollte überhaupt die Form, das Bild des Begriffes selbst auffinden; deshalb wurde der Erfolg seines Formschaffens ein Abstraktum verschiedener Formelemente. Die Formabstraktion charakterisiert in erster Reihe die älteste und niedrigste Stufe der künstlerischen Ausdrucksweisen. Die Dinge wurden zuerst den gröbsten und auffallendsten Zügen nach gruppiert, so z. B.: dieses ist ein Mensch, jenes ein Vogel und das ein Baum. Dann: dies ist ein Soldat, dies ein Adler und das eine Weide. Und zuletzt: dies ist ein Husar, dies eine Trauerweide und das ein Steinadler. Bisher suchte und sah der Mensch das Bild des Begriffes selbst und nicht die Einzelheiten, demzufolge bemühte er sich dieses

.33 Durchschnittsbild wiederzugeben. Die obigen drei Beispielsgruppen zeigen uns die verschiedenen Stufen des kollektivischen Formsehens. In diesem Kreise konnte das künstlerische Formschaffen ohne ein grösseres Hindernis vordringen, weil der Künstler bisher innerhalb des Kreises des typischen Formsehens blieb. Das eigentliche, ästhetische Wertschaffen beginnt erst mit der dritten Stufe. Die ersten zwei Stufen weisen nur das Stadium der groben, äusseren Orientierung auf. Die Linien der bisherigen Entwicklung zeigen also die folgenden Begriffsreihen: Mensch > Soldat > Husar Vogel > Adler > Steinadler Baum > Weide > Trauerweide.

Den entscheidenden Schritt aus der passiven Formschauung zur A k t i v i t ä t , d. h. zum wahren Kunstschaffen, machte das altgriechische Volk mit einer genialen Leichtigkeit. Es lieferte vollkommene Beispiele davon, wie sich die kollektivische Formschauung in Kunstwerken am schönsten verkörpern kann. Und es ist Zeit, schon hier die Ursache zu erklären: Warum haben wir diese erste Periode des Kunstschaffens idealistisch genannt? Die Motivierung der Benennung ist in Bezug auf die Poesie am schwersten, wo die Formmöglichkeiten f a s t grenzenlos sind, demzufolge der Dichter hier am leichtesten die Grenzlinien der starren Formschemen durchbrechen kann. Doch ist kein Zweifel, dass der Mensch seine dichterischen Gedanken und überhaupt sein ästhetisches Fühlen, seine künstlerische Sehnsucht zuerst in schematischen Formen auf kollektivische Weise, also synthetisch, ausgedrückt hat. Die Gedanken, das Fühlen und die Sehnsucht wurden nämlich als Gedanken, Fühlen und Sehnsucht des ganzen Yolksstammes, der Menschenmenge, zu der der Dichter gehört. Und in der T a t : Wenn wir den Urgehalt der alten Poesien feststellen, finden wir als F a k t o r e n des Inhalts die Verehrung und Anbetung der Götter, die Furcht vor ihnen und überhaupt vor allen Mächten, dann das Lob der Helden. Die Persönlichkeit des Künstlers blieb lange im Hintergrund, die Offenbarungen des subjektiven Lebens wie Liebe und Hass, Lebensfreuden und Lebensschmerzen u. s. w. waren noch nicht reif zur künstlerischen Ausprägung. Die dichterische Form, in welcher dieser Urgehalt dargestellt worden war, erscheint als Träger des dichterischen Willens' der Menschenmassen, als Symbol des kollektivischen Kunstsehens; und weil sich dieser dichterische Urgehalt zugleich auch als Grundgehalt der menschlichen Seele erweist, wurden diese den Grundgehalt ausdrückenden, Formen als Grundformen der künstlerischen Offenbarungen der Menschenseele aufgefasst. Darum sind sie mit ihrem Inhalt so innerlich und stark zusammengewachsen, dass

34 sie gegen

die neuernde

Gewalt der Zeit

und Mode, gegen die Stil-

wechsel der Formentwicklung und Geschmacksveränderungen mit wunderbarem Erfolg kämpfen konnten. Und in der T a t : Die Grundformen, welche den Urgehalt die konservativsten nannte epische und vererben

„in

sich" umfassten, zeigen

Formelemente.

Formelnschatz,

Einige

eine

gewisse

sich von einer Generation

sich bis heute als

Gebetsformeln, der Phraseologie

soge-

vererbten

zur anderen mehrere Jahr-

hunderte, sogar Jahrtausende lang. Diese Formübernahme geschah auf so natürliche Weise, fast unbewusst, dass auch die Verschiedenheiten der Religionen kein Hindernis sein konnten. Der Ägypter hat z. B. zu G o t t der Sonne so gebetet: „ E h r e sei Dir, oh Rah bei A u f g a n g Und Gebet dem A t u m bei U n t e r g a n g ! Oh Rah, Du erwachst und glänzest, W i e der gekrönte K ö n i g der G ö t t e r ! Du bist der Herr des Himmels und der Erde, Und Du bist der Herr der unteren und oberen Mächte, Du bist der einzige G o t t , der von A n f a n g ist, Der die Länder erschaffen hat, Der die Menschen erzeugt hat, Der die W o l k e n des Himmels hervorgebracht hat, Der die W e l l e n des N i l s entquellen, Der die Quellen hat entspringen lassen Und der alles belebt hat, was im Wasser i s t . "

Dieses Gebetschema, diese Phraseologie, die Wiederholung gewisser Satzteile, die charakteristische Umschreibung des erklärenden Begriffes: dies alles kann man auch später in verschiedensten geistlichen Werken, Gebeten und Gesängen, sogar in katholischen Litaneien, auffinden. Ramses I I . hat vor G o t t Amon in seiner Bedrängnis gefleht: „ D i c h rufe ich um H i l f e an, V a t e r ! Ich bin ringsum von den Heeren Der unbekannten Völker bedrängt Und vor D i r bin ich allein. Niemand steht mir bei. Meine Bogenschützen und meine Reiter Verlassen mich, als ich 6ie rief, Keiner von ihnen hörte auf mich, A l s ich sie zu H i l f e r i e f . " u. s. w.

A l s ob wir den betrübten Psalmisten der heiligen Schrift hörten! Inhalt und Form erwecken in uns dieselbe Stimmung. Im Gottesdienst der Protestanten formeln.

ertönen

auch heute ähnliche Gesangs- und Gebets-

35 Von den Babyloniern ist folgendes Gebet erhalten geblieben: „Mein Gott, mein Schöpfer, Fasse meinen Arm, Führe den Hauch meines Mundes, Regiere meine Hand Oh, Herr des Lichtes!"

Es ist zu sehen, dass das religiöse und aufrichtige Vertrauen auf Gott, die innerliche, vollkommene Hingabe zu den Heiligen schon vor Jahrtausenden in einer uns an die heutige erinnernden Form ausgedrückt worden ist. Das letzte Gebet stellt z. B. die Sinn- und Stimmungssituation dar, welche aus der Dichtkunst der tiefreligiösen, sozusagen: kindlich-naiven Gläubigen so ergreifend erklingt (wie auch in der Dichtung unseres Bälint Balassi, XVI. J a h r h . ) . Gehen wir weiter. W a s epischer Gemeinschatz genannt wird, ist eigentlich nichts anderes als ein Vorrat gewisser Dichtungsformen, welcher lange Zeit verwendbar ist, ohne dass sie veraltet oder wirkungslos, also wertlos scheinen könnten. Der epische Stoff, die Komposition, die übermenschlichen Dimensionen der Helden und Taten, die Heldengesinnung, die wunderbaren Charaktere und Vortragsformeln: alle bilden gewisse Schemata, die für alle Epen als Grundgerippe dienen können. Zwischen Achilles und Gottfried Bouillon besteht auf den ersten Blick ein f a s t unüberbrückbarer Gegensatz. Gewiss; was ihren moralischen, d. h. christlich-moralischen Seelengehalt betrifft, finden wir wirklich eine sehr grosse K l u f t zwischen ihnen. Aber was ihr episches Schicksal anbelangt, was die tiefe Idee ihrer Sendung ist, das ist bei beiden dasselbe. Beide sind im tiefsten, menschlichen Sinne siegreich-tragische Träger des Willens, der Nationalideen (oder überh a u p t Mengeideen) ihres Volksstammes (oder ihrer Gemeinschaft). W i r haben hier weder Raum, noch genügenden Grund dieses Thema ausführlich zu erörtern, nur weisen wir darauf hin, dass alles, was die Helden der Epen voneinander trennt, eigentlich von den inhaltlichen A k t u a l i t ä t e n der Ereignisse herrührt. In dem I n h a l t sind die Ursachen der Verschiedenheiten, die Motive der absondernden Züge der Personen verborgen. Wie sie dagegen vor uns zum Riesen wachsen, wie sie uns zur Bewunderung hinreissen und wie sie herabstürzen (weil in tiefmenschlichem Sinne alle richtigen epischen Helden zugleich tragische Helden sind), kurz: die Rahmen und Formen, die A r t und Weise, in der diese Helden ihr Schicksal erleben, sind seit Homer kaum modifiziert worden. Wenn der Epiker von dieser homerischen Formkonstruktion dem Wesen nach abweicht, könnten wir sein Werk schon kein Epos nennen. Diese epische Formkonstruktion bildet also ein starres 3*

36 Formsystem von allgemeinem Werte, welches die epische Konzeption des Dichters zu umfassen immer bereit ist. Mit diesem Formsystem werden Massengedanken und Massengefühle ausgedrückt, es ist nicht geeignet individualistischen Seeleninhalt auszuprägen, es ist die kollektivische und also auch synthetische Sehensform des Dichters. Diese Art des dichterischen Sehens hat aber einen idealistischen Charakter. Wenn ich nämlich die mir entsprechendsten Züge, Faktoren, Einzelheiten u. s. w. zu dem Zwecke auswähle, um damit auszudrücken, wie ich die Menschen und Ereignisse mir am liebsten vorstellen möchte, da verrichte ich eine Idealisierung. Aber die Formentwicklung der altgriechischen Poesie hörte auf dieser ersten Stufe nicht auf, sondern gelangte zu einer Stufe, wo die verschiedenen Ausdruckstypen, die Kunstgattungsformen ausgebildet wurden. Dieses typische Formstadium eröffnet den Übergang zu der zweiten Periode. Die Ausbildung der Kunstgattungen ist eigentlich das grösste und wichtigste Formergebnis der altgriechischen Dichtkunst. Und zwar waren diese Kunstgattungsformen zuerst auch die Ausdrucksformen der in den Vordergrund rückenden Subjektivität und waren das Plus, das die Persönlichkeit des Dichters zur episch-kollektivischen Formwelt hinzugefügt hatte. Sie wurden aber auch mit der Zeit die Ausdrucksmöglichkeiten gewisser Ideengruppen, Gedanken- und Gefühlskreise und so verloren sie ihre individualistisch-charakterisierende Kraft, machten sich von dem Subjekt los und verwandelten sich — obgleich in engerem Sinne — zu Ausdrucksmitteln der Allgemeinheiten. Dies bedeutet natürlich nicht, dass der Dichter sein Inneres, seine Persönlichkeit und künstlerische Eigentümlichkeit in diesem Formstadium nicht ausprägen konnte, es bedeutet nur so viel, dass in dieser Zeit der Träger der Individualität überwiegend der Inhalt war und dass die Kunstgattungsformen weiter keine eigentliche DichterSubjektivität symbolisierten. Die allgemeine Formentwicklung der altgriechischen Poesie hielt auf dieser Typen charakterisierenden Klassenstufe an. Aber in der Plastik gelangen die Griechen weiter. Der Grund dieser Tatsache ist in der Kunstgeschichte schon oft und ausführlich behandelt worden, jetzt machen wir darauf aufmerksam, dass die altgriechische Kunst sich in keinem Kunstzweige so frei und ungehindert entwickeln konnte, wie in der Plastik. In der Dichtkunst, der Musik und der Malerei haben die Griechen vom Osten wenig für ihre A r t Brauchbares bekommen; in der Architektur aber erforderten ihr Kunstgeschmack, ihre eigentümliche Mythologie und ihre Lebens- und Weltauffassung ein neues Bausystem. Aber die östliche Plastik, die ihnen

37 schon die Statue von Per-her-nefret und von Sheikh-el-beled als Muster vorstellen konnte (d. h. Statuen, welche auf dieser Stufe der künstlerischen Vollständigkeit stehen), machte tiefen Eindruck auf das für die plastische Anschauung so empfängliche Volk. Zweifellos haben die Griechen in der Plastik eine Reihe von Statuen, nach denen sie sich ein plastisches Formsystem zurechtlegen konnten. Sie begnügten sich aber nicht mit ererbtem Formschatze, sie bildeten eine neue plastische Formsprache aus, um ihren seelischen Inhalt auf künstlerischer Weise vollständig, mit absoluter Kraft und Schönheit ausdrücken zu können und damit die Grundgesetze der Marmorsprache für alle Zeiten niederzulegen. Der griechische Künstler hat die einsystematische Formkonstruktion des Ostens aufgelöst, als er die Gesetzlichkeit der F r o n t a l i t ä t durchbrochen. E r hat in kurzer Zeit ein neues und reiches Formsystem geschaffen, er drängte sich in einem wunderbaren Tempo nach der Schönheitsrealität durch, sogar bald nach der höchsten Entwicklungsstufe: nach Ausprägung des menschlichen SeelenIndividuums in Kunstwerken. Darum muss die Plastik auch unserer Zeit immer und immer wieder die Schule der Altgriechen besuchen, um etwas zu lernen oder mindestens einzusehen, dass das Neue, das die Plastik seitdem zustande gebracht hat, eigentlich nichts Grundlegendes ist. Sie muss sehen, dass es aus nichts anderem besteht, als aus der Auflösung der altgriechischen Formharmonie, aus Zerstörung des Gleichgewichts und aus der Betonung der naturalistischen und subjektiven Elemente. Die Vertiefung der dreidimensionalen Bildlichkeit, die Auflösung der frontalen Symmetrie, die freie Konzeption und luftige Wiedergabe der Umgebung, der eigentümliche und verschönerte Naturalismus: alle weisen darauf hin, dass die Zeit der Offenbarung des Künstler-Subjekts in Formsprache bevorsteht. Die primitive Starrheit wurde erweicht, die Linienhärte, die Eckigkeit der Pose ist verschwunden. Die Formen bekamen eine weiche Biegsamkeit und damit zugleich Lebendigkeit. Diese Plastik wählte zu ihrem Thema nicht blosse Begriffe, sie hörte mit der Formabstraktion auf, sie suchte nicht die allgemeinen Erscheinungsformen, sondern Individuen mit eigenem Charakter, wenn sie auch noch nicht selbstbewusst Individuen auszudrücken und darzustellen strebte. Anders ist es in der Architektur. Hier weist das altgriechische Volk eine Geschlossenheit auf. Die Zeitdauer zwischen dem Apollo von Tenea und der Aphrodite von Knidos ist nur ca 200 Jahre, aber was ihre künstlerische Formstufe betrifft, ist der Unterschied fast unermesslich. Dagegen trennen das Heraion von Olympia und das Parthenon mindestens 300 Jahre und doch zeigen diese Tempel in der Formstufe keinen so grossen Unterschied. Man kann sogar behaupten, dass das

38 Heraion schon alle charakteristischen Merkmale an sich trägt, welche auch in späteren Zeiten, wenn nicht für immer, als eigentümliche Züge der griechischen Architektur erscheinen. Seit dem Bau des Heraion kann man im Tempelbau von keinem neuen Formsystem sprechen, nur von Formverfeinerungen und Formbereicherungen. In keiner Kunst blieben die Griechen so streng-schematisch und konservativ, wie in der Architektur. Sie verkörperten nämlich ihre Bauideale im Tempelbau und hier war die Möglichkeit der schnellen und fortwährenden Baureformen ausgeschlossen. E s hinderte nicht nur der Glaube daran, auch äussere Umstände kamen dazu, wie z. B. die wirtschaftliche und politische Lage u. s. w. Und endlich wurden die Baureformen (wie dies immer der Fall ist) durch gewisse physikalische Gesetze (Belastung, Gleichgewicht, Haltung, Druck u.s.w.) eingeschränkt. Der altgriechischc Architekt vollbrachte eben dadurch eine grosse Leistung, dass er die konstruktiven Gesetze der Architektur entdeckte und sie mit der Schönheit in Einklang bringen konnte. Der griechische Tempel steht wie das Symbol der griechischen Seele vor uns. Seine stabile Konstruktion, seine heitere Ruhe, mit erhabener Würde gepaart, sein Linien-, Flächenund Proportions-System, alle vereinigen sich zu einer harmonischen Einheit, die als ein wunderbarer Repräsentant der seelischen Gesundheit des griechischen Volkes vor uns erscheint. Ein Versuch, diese Formkonstruktion zu durchbrechen, ist erst im I I I . Jahrhundert n. Chr. mit dem Rundtempel von Heliopolis gemacht worden; dies ist aber schon das Werk des vermischten griechisch-römischen Geistes, welches von einigen Kunsthistorikern als das älteste Beispiel des Barockstils aufgefasst wird. Den schematischen Charakter der ersten Formentwicklungsstufe der Malerei zeigt uns am auffalendsten die ägyptische Malerei. Hier treffen wir überall dieselben Formerscheinungen (die Abweichung von 90° zwischen der Gesichts- und Rumpfrichtung, der auf die Spitze gestellte Rumpf, die unnatürlichen Stellungen der Beine und Hände, die vereinfachten Antlitze u . s . w . ) . Die Persönlichkeit und die Subjektivität der einzelnen Menschen verschwinden noch vollständig im Schematismus der Bildergruppen. Nur in Tierdarstellungen kann man eine Mannigfaltigkeit beobachten (Thebaner Freske. — B r i t . Mus.). Stellen wir die Zeichen der Formerscheinungen dieser ersten Periode zusammen, so zeigt sich der synthetische Charakter des künstlerischen Formschaffens ganz deutlich. Der Künstler fasst auf dieser Stufe das Objekt wie einen kollektivischen Begriff und nicht wie einen Individualitätsinhalt auf und demgemäss stellt er es in einer abstrakten Form, in Allgemeinheit, idealisiert dar. Seine Formtendenz will Formtypen schaffen, sein Ziel ist es das Formbedürfnis, den Formwillen und

39 die Formvorstellungen der Gemeinschaften, der Menschenmengen, Klassen und Gruppen auszudrücken. E r wirkt als Repräsentant der Gedankenund Gefühlswelt seiner Umgebung und seiner Kampfgenossen, zuweilen auch seiner ganzen Nation. Durch ihn und in ihm sucht das Volk seine künstlerische Formerfüllung; Formabweichungen und Formverzweigungen kamen in dieser Periode nur insofern zustande, als einige Formtypen ausgebildet wurden, um die vielartigen inhaltlichen Konzeptionen möglichst verschieden repräsentieren zu können. Und zwar kann man im Anfang diese Formtypen wie die Erscheinungen des subjektiven Formschaffens und Formwillens für die Persönlichkeit des Künstlers charakteristisch finden, doch knüpften sie sich nach und nach an einen gewissen Gehalt und dann strebte dieser Gehalt (oder ähnliche) immer darnach, in derselben Form (oder einer ähnlichen) zu erscheinen. So wurden die Kunstgattungsformen ausgebildet, festgesetzt und dadurch die Formentwicklung gegen die frei-formschaffende Lust des Künstlers bestimmt. Noch in der Plastik, wo aber die Formentwicklung zur Formfreiheit am weitesten gelangt ist, sind die Schönheitsideale des ganzen Volkes, also synthetische Vorstellungen und Massenideen verkörpert worden. Darum können wir in den Statuen von Hermes und Aphrodite (Praxiteles) nicht die Körperschönheit dieses oder jenes Mannes und Weibes betrachten, sondern die Schönheit, die wie ein abstrakter Begriff in der Seele und Phantasie des Volkes lebte. Diese Schönheitsideen existierten in der Volksseele, sind nicht von den Kunstwerken genommen worden, sondern der Künstler hat nur ausgedrückt, was das Volk in seiner Rassenseele schon gehabt, gefühlt und gepflegt hatte. Praxiteles' Genie offenbarte sich dadurch, dass er am vollkommensten diese Gemeinschaftsvorstellungen darstellen konnte. Andere Künstler waren natürlich in anderer Hinsicht die Vermittler der Rassengesinnung. Alle zusammen sind also die wahren Verkünder von alledem, was Schönes, Künstlerisches, Erhabenes und Wertvolles in den Herzen und Seelen des griechischen Volkes zutiefst schlummerte und lebte. Ihr Talent war ein Teil vom Talente des Volkes, sie schöpften ihre Kraft aus ihm und ihr Ziel war (wenn auch unbewusst), die künstlerischen Bedürfnisse ihres Volkes zu befriedigen. Darum ist die griechische Kunst das glänzendste Beispiel für ein nationalistisches Kunstschaffen. Ihr dichterischer Formschatz, ihre Baustile, ihre Götterstatuen bilden eine charakteristische Formharmonie, die eigentlich die Schöpfung eines grossartigen Volkes und nicht dieses oder jenes Künstlers ist. Dieses Volk erscheint in dem Kunstleben (im Gegensatze zum politischen) ganz einheitlich, zusammenwirkend, synthetisch tätig.

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2. Die realistische Analyse. Die altgriechische Kunst war schon auf dem besten Wege eine Formrevolution in realistischer Richtung zu bringen, als das tragische Schicksal des Volkes eintrat und die weitere Entwicklung verhinderte. Was Euripides in der Dichtkunst, der Hellenismus in der Plastik und Malerei, der „Barockstil" des Tempels von Heliopolis in der Architektur begann, lässt schon ein Streben nach Befreiung von der synthetischidealistischen Formauffassung der „klassischen Zeit" ahnen. Eine süsse Sehnsucht nach einer neuen künstlerischen Formwelt ist geboren, die neue Ziele vor sich sah. Der Künstler suchte neue Mittel, eine neue Art und Weise, kurz ein neues Formsystem, um neue Vorstellungen der Menschenseele und neue Gefühle des Menschenherzens künstlerisch darstellen zu können. Dies ging aber nur sehr langsam und mit vielen Schwierigkeiten vor sich. Das ganze römische Kunstwesen zeigt uns den Kampf um eine neue Formwelt, trotzdem erreichte, obwohl mehrere neue Formelemente in den verschiedenen Künsten (meist in Dichtkunst und Architektur) ausgebildet wurden, die weitere Formentwicklung nicht die Stufe, welche uns das Zeugnis von einer neuen Formsprache ablegen könnte. Die Zusammenwirkung der griechisch-hellenistischen Schule, des altrömischen Formerwerbs und der Neugestaltungen des Christentums (was ein Erfolg der neuen Weltanschauung, Moralität, Kunstauffassug u. s. w. ist) hatte eine neue Formgährung zur Folge, doch blieb die Ausbildung einer neuen Formperiode späteren Zeiten vorbehalten. Das Ergebnis der römischen Zeit und des historischen Mittelalters besteht darin, dass in Architektur das eingeholt worden ist, worin die Griechen zurückgeblieben waren (im Vergleich mit Dichtkunst und Plastik) d. h. in dieser Zeit sind die Grundtypen der Baustile ausgebildet worden, welche als Formerscheinungen den Darstellungsweisen der Plastik (Götter-, Heros- und Portraitskulptur) entsprechen. Die im Mittelalter geschaffenen Baustile sind nämlich dieselben Formerscheinungen, die wir in den dichterischen Formtypen der altgriechischon Poesie betrachten müssen. In dieser Zeit ist, wenn der Mensch sich mit einem einzigen, grossen, alles in sich schliessenden Ideen- und Gefühlskreise begnügt, der Weg zu freien Formbildungen fast versperrt. Diese seelische Situation entwickelte sich im Mittelalter. Das ist die Zeit der reinen, blossen Dogmatik, in der das religiöse Leben alle Flächen und alle Schichten der geistigen Welt bestrahlte und den dogmatischen Formalismus in ihre künstlerischen Werke hineinbrachte. Als sich dieses charakteristische Formsystem ausbildete, erstarrte es und blieb lange unverändert. Die Formwirkung dieser eigentümlichen mittelalterlichen

41 Gesinnung offenbart sich darin, dass die Künstler immer grösseren und verschiedenartigeren Gehalt in demselben Formrahmen einzuschliessen suchten. Niemals wurde so vielerlei Gehalt in dieselbe Form gepresst, wie jetzt. Die Formerweiterung und Formerstarrung steigerte sich noch durch die stetige, starke Wirkung des Glaubens. Der Glaube hatte damals eine sehr expansive Natur und zeigte sich als der wahrste Hüter der Formen, wie er sich immer als ein starker Faktor des Konservativismus erwiesen hat. Noch heute geben die geistlichen Künste solche Formmittel her, die der Sprache der künstlerischen Ausdrucksformen der modernen Zeit primitiv und veraltet erscheinen. Sie haben aber den Grund ihrer zauberhaften Wirkung eben in diesem Charakter. Denken wir nur an die Darstellungen der Heiligen, ihre Haltung, ihren Gesichtsausdruck, ihre Kleidung u. s. w. und gleich fällt der konservative Charakter des Formausdrucks auf. Oder erinnern wir uns an geistliche Gebetsformeln, an Gesangsarten, an den Stil frommer Meditationen, an das Erzählungswesen der moralischen Ermahnungen, an heilige Geschichten, belehrende Erzählungen u. s. w., da zeigt sich, dass gewisse Ideen, Vorstellungen und Gefühle auch heute noch in ihrem mittelalterlichen Gewand zu erscheinen pflegen. Solange das Bedürfnis des Begriffausdrucks in der Seele des Künstlers lebte und er die Objekte, Dinge, und Erscheinungen zusammenfassend in synthetischer Form ausprägte, begann keine neue Periode in der Formentwicklung. Als er aber die Dinge in Klassen teilte, als er im Einzelnen nicht das Viele, sondern im Vielen das Einzelne betrachtete, waren die Formrahmen der idealistischen Synthese zerbrochen und der Weg für eine unabsehbare Formbereicherung und auch für eine langsame Formauflösung offen. Diese Entwicklung vom Schematismus und vom synthetisch-idealisierenden Darstellungswesen zur realistischen Analyse offenbart sich in der altgriechischen Plastik am anschaulichsten. Die Umgestaltung des Formausdruckes hatte sich in der Zeit von den archaischen Apollostatuen an über die Stilschule der Götterdarstellungen von Pheidias bis zur realistischen Portraitplastik des IV—III. Jahrhunderts doch noch nicht in vollem Masse durchgesetzt. Die Veränderung des Formsehens bedeutet, dass die Objekte und Erscheinungen zuerst als genus generale, dann als genus proximum und zuletzt als differentia specifica betrachtet wurden. Ersteres ist die Zeit des archaistischen Schematismus, das zweite die der eigentümlichen, idealistischen Synthese und das dritte die der realistischen Analyse. Es ist zu bewundern, dass die kunstgeschichtlichen Überlieferungen der Hellenen bis heute davon zeugen, dass sie schon damals einen ästhetischen Sinn für das realistisch-analysierende Formschaffon und

42 seinen künstlerischen Wert gehabt haben. (S. das Bild des Zeuxisj auf dem die Vögel Weintrauben picken.) Doch mussten f a s t zwei J a h r tausende vergehen, bis sich das realistisch-analysierende Formschaffen auf dem ganzen Gebiete der Künste verbreitete und sein W e r t ästhetisch anerkannt und gewürdigt wurde. Die italienische Renaissance brachte — erschien sie auch als die Auferstehung der antiken Künste — doch mehr oder minder ein neues Formgefühl mit. Dies wird am deutlichsten in der Malerei und Architektur. Man kann es schon bei Kunstwerken Michelangelos bemerken (neue Linienkonstruktion, bewegte Posen, die Auflösung der klassischen Harmonie u . s . w . ) , noch mehr zeigt Caravaggio die neue Formauffassung. Es kam die Zeit, in der die antike Rückständigkeit der Malerei eingeholt wurde, so dass die Formentwicklung seitdem in der Plastik und Malerei parallel vorwärtskommen konnte. Umso mehr eröffnete sich der Weg des F o r t s c h r i t t s für die Architektur. Die teils noch im historischen Mittelalter ausgebildeten verschiedenen Baustile ergaben die Möglichkeit einer weiteren Formbereicherung. Sogar für die Musik war die Zeit gekommen. Ein Versuch, in ihr eine neue mehrstimmige Musik (gegenüber der antiken einstimmigen) zu begründen, wurde schon im X. Jahrhundert gemacht, aber die Blütezeit der polyphonen Tonkunst fällt in das XV. und XVI. Jahrhundert, als die Plastik und Malerei einen ausserordentlichen Aufschwung nahmen. Bald finden wir in Florenz am Hofe des Grafen Giovanni Bardi die Monodie, den instrumental begleiteten Sologesang, woraus sich die heute beliebtesten Musikarten: die Instrumentalmusik, das Kunstlied mit Begleitung und die Oper entwickelten. Demzufolge können wir eigentlich von dieser Zeit an die Epoche der modernen Musik rechnen. All dies bedeutete eine Formvermehrung, es schuf neue Mittel für den Künstler, der seine musikalische Konzeption nunmehr auf einer farbigen, verschiedenartigeren, reicheren und dadurch wirksameren Weis ? darstellen, begreiflich machen und daher ergötzen konnte. Aber auch in der L i t e r a t u r drang eine Neuerung durch. Es zog ein neuer Geist in die Gesinnung der Menschen ein. Neue Ideen wurden geboren, neue Ziele entstanden, neue Gesichtspunkte des gesellschaftlichen und staatlichen Lebens bildeten sich aus, kurz: die neuen Verhältnisse erzeugten und erzogen neue Menschen und umgekehrt: der neue Mensch schuf sich eine neue Welt. Und dieser neue Mensch weckte neue künstlerische Bedürfnisse. Der pompöse Glanz der antiken künstlerischen Welt erblasste, das Interesse dieses neuen Menschen wendete sich einer neuen Formwelt zu. Es ist aber für Menschen nicht leicht, eine neue Welt zu schaffen. Dazu braucht man Zeit. Arbeit, Kampf, sogar Blut. Die Anfänge der

43 neuen künstlerischen Formanschauung sehen wir dort, wo sich der Mensch von dem kollektivischen und soziologisch anerkannten Formenschatze, also auch von der absoluten Autoritätsverehrung loszumachen sucht, wo er mit seinen eigenen Augen zu sehen wagt und den Willen dazu hat, wo ein eigentümlicher Skeptizismus gegen die alten Wahrheiten entsteht. Wir können als Anfänger der neuen Welt in der Philosophie Descartes und Bacon, in dem literarischen Formschaffen den Stilreformer Régnier und in den bildenden Künsten die Väter der neuen Stile erwähnen. Aber alle diese dürfen wir nur als die auffallendsten Wellenschläge der neubewegten Geistesströmungen betrachten. Der Rationalismus des XVII. Jahrhunderts befreite den Menschen von vielen alten Vorurteilen, andererseits aber begünstigte er seine trostlose, traurige Hypochondrie, welche in verschiedener Hinsicht als Gegenpol der Poesie eine Rolle spielte. Gewiss befruchtete sie gerade die Dichtkunst am wenigsten. Der Rationalismus war in erster Linie eine philosophische, naturwissenschaftliche und auch politisch-wirtschaftliche Richtung, die die -schöne Literatur nicht so sehr anging. Seine Bedeutung liegt eigentlich in seiner Rückwirkung: er machte nämlich der Romantik die Tür auf. Er hob die einzelnen Dinge aus dem verwischten Hintergrund, um sie gründlich zu untersuchen und ihre Formerscheinungen bei Sonnenlicht nüchtern in ein strenges System einteilen zu können. Die Romantik erscheint als eine Reaktion dieser spiessbürgerlichen öden Auffassung und Gebundenheit, sie verkündete eine neue Formfreiheit. Sie war auch mit dem Neuklassizismus derselben Zeit nicht zufrieden. Es muss erwähnt werden, dass die Frage, ob der Künstler angesichts der Regeln und Gesetze oder frei von diesen, nur nach seinem eigenen künstlerischen Sinne schaffen solle, schon um die Wende des XVI. und XVII. Jahrhunderts in bestimmter Weise aufgetaucht ist. Dies erhellt auch aus dem Streit Malherbes und Régniers. Malherbe wollte nämlich die französische Sprache reinigen, dégasconner la cour de Henri IV., wie er sagte. Seiner Meinung nach muss der Künstler sich nach den Regeln und Gesetzen richten, muss nach Einfachheit und Bestimmtheit des Ausdrucks streben und darf die Ordnung und Harmonie nicht auflösen; er muss die Reinheit der Sprache nicht nur hüten, sondern vermehren. Dagegen erkennt Régnier nur „natürliche Gesetze" an und betont die Rechte und den Vorrang der subjektiven Stimmung: j'approuve que chacun écrive à sa façon. Die Folge dieser Theorie in der Kunst war aber — wie ja seitdem immer — entweder eine Formübertreibung, oder geradezu eine Formlosigkeit. Das Streben nach einer neuen Formwelt an Stelle der antik-klassischen t r ä g t seit dieser Zeit das Gepräge der dualistischen Entwicklung an sich. Während aber Régniers Auffassung noch lange nicht ange-

44 nommen werden konnte, lebte sich die Richtung Malherbes in mehreren Formbewegungen aus. Auch der Rationalismus des XVII. und XVIII. Jahrhunderts begünstigte sie. Die Anhänglichkeit an die bisherigen Mittel, Formen, Stilarten, Auffassungen und der Glaube an die vorhandenen konnte dem freien Formschaffen der Phantasie nur geringen Wert beilegen. Sogar der Neuklassizismus sicherte die Herrschaft der antiken Regelmässigkeit noch mehr. Die Sonne der altgriechischen Poesie bestrahlte noch einmal durch das Genie Goethes die Fluren der Dichtkunst. Dies war ein glänzendes Produkt der neuzeitlichen Poesie, doch verbarg es in sich etwas der Zeit Widersprechendes, etwas Anachronistisches — was die Form betrifft — und es bedeutete eine Abwendung von den warm pulsierenden Lebensformen. Es lebte deswegen in der Tiefe der Zeit schon damals und immer ein Streben, die neuen Menschenideen, künstlerischen Stimmungen, kurz: den neu aufgefassten Gehalt auch in einer neuen Form auszudrücken. Man musste dazu eine neue Formsprache ausbilden. Das ist in der Literatur am spätesten, erst parallel mit dem Klassizismus, von der Romantik versucht worden. In den anderen Künsten drängt sich die Romantik schon vorher in den Vordergrund. Wir sehen nämlich z. B. in der Barockkunst nichts Anderes als eine romantische Formauflösung der antik-klassischen Formharmonie, Formsymmetrie und Formruhe. Auch in Malerei und Plastik finden wir ähnliche Bestrebungen. Rubens' Kunst ist eine malerische Barockkunst, sein Stil und seine Kompositionen tauchen immer wieder auch in der dekorativen Plastik auf. Es liegt in der Natur der Sache, dass die verschiedenen Künste gewisse Formabweichungen ergeben, doch was das Ausdruckswesen und die künstlerische Deutung der Formen betrifft, finden wir überall dieselbe Richtung. Auch in der Musik dieser Zeit entwickelte sich eine romantische Schule, was die Befreiung von der klassischen Gebundenheit ebenso anzeigt. Diese neue musikalische Formauffassung erklingt zuerst in Mozarts „Zauberflöte" mit künstlerischer Bedeutung. Aber auch Beethovens Musik (Einleitung der B-dur-Symphonie u. s. w.) weist romantische Formelemente auf. Der Geist der musikalischen Romantik verstärkte sich dann durch Weber und Schubert weiter und diese ältere Musikromantik erreichte ihren Höhepunkt in Kompositionen Mendelssohns und Schumanns, also in der Zeit, als die Romantik auch in der Literatur in Blüte stand. Sie eroberte die Seele schnell und fast vollständig und drang in die deutsche, französische, englische und ungarische Literatur gleichmässig ein. Walter Scott, Hölderlin, Schlegel, Victor Hugo und bei den Ungarn Michael Vörösmarty sind die Hauptvertreter dieser literarischen Romantik. Die Romantik war aber mehr eine Begeisterung für eine neue

45 Poesie, als der Wille einer neuen Formwelt ein bestimmtes Programm zu schaffen, mehr Fühlen und Sehnen, als zielbewusster Wille und vollbrachte T a t . Daher barg sie schon von vornherein eine Schwäche in sich. Dazu kamen gewisse Übertreibungen in Handlung und Charakterisierung, die ungenügende und sonderbare Motivierung, endlich äussere Umstände wie die neue rapide Weltveränderung in der Mitte des X I X . Jahrhunderts. Die politische, die wirtschaftliche Lage und damit das ganze Leben wurde in kurzer Zeit(um 1860) umgestaltet. Die Technik hat mit ihren Maschinen den Grund zu neuen Beschäftigungen und Lebensformen gelegt. Bald wuchs ein neuer Menschentyp heran, der auch eine neue Weltanschauung in sich trug. All das hatte seine Wirkung auch auf die ästhetischen Formerscheinungen. Eben diese naturwissenschaftliche Stimmung übte von der Mitte des X I X . Jahrhunderts an immer ^mehr eine eigentümliche Wirkung auf die Literatur aus. Auch die neue positivische Richtung der Philosophie liess sich in der Literatur spüren und umgekehrt: wir können die Spuren der Wirkung der schönen Literatur, ihres Geistes, ihrer Art und Weise (Analyse, Kritik, Skepsis, Ironie u. s. w.) auch in der Philosophie auffinden. Die Zeit der realistischen Analyse setzte sich schliesslich siegreich durch. Der Künstler tastete sein Objekt, sein Thema und seinen Stoff in forschender, wenn nicht gelehrter Weise ab. E r begnügte sich jetzt nicht damit, nur den Umriss der Dinge kennen zu lernen, sondern legte sie sozusagen unter das Mikroskop, damit sein Wissen noch gründlicher und genauer werde. Der Philosoph und Philologe vertiefte sich in Einzeluntersuchungen, die Künstler in eindringlicher Beobachtung der Teile. In Details und Mikrokosmen wollten sie die Wahrheit und das Wesen der Dinge suchen und hofften, dort die lebendigen Formen des künstlerischen Schaffens aufzufinden. Die Ideen, Anschauungen, Gedanken und Gefühle wurden verdinglicht; das Ziel des Künstlers war nicht mehr Allgemeines, Allgemeingültiges, also ewige Symbole und Ideale auszudrücken, sondern Einzelnes, von allem anderen Abweichendes darzustellen, nicht allgemeine Begriffe in Formen verspüren zu lassen, sondern die von Minute zu Minute veränderlichen Erscheinungen der Dinge in einer konkreten Form zu fixieren. Diese ästhetische Auffassung nahm die Welt an, wie sie ist. Jede Auswahl, jede Idealisierung hielt sie für eine Fälschung der Wahrheit. Darum soll der Dichter weder in Stoff, noch in Form wählen. E r wollte die Welt, das Leben schildern, wie sie sind, also mit allen Schönheiten und abstossenden Seiten gleichmässig vor uns stellen und, weil das letzte etwas Neues war und die Neuheit immer anzieht, riss diese Tatsache viele Künstler mit und liess sie in verschiedene Übertreibungen fallen. Aus dem Realismus entstand der Naturalismus.

46 Diese Geistesbewegung bedeutet für die Formenwelt eine Zerstörung. Sie ist ein Leugnen, eine contradictio in re, weil sie den Schein liefert, dass das Endziel des künstlerischen Schaffens in d e r Nachahmung der Natur und „Wahrheit" liege. Kunst und Wahrheit, Kunst und Natur ist aber nicht dasselbe. Die künstlerischen und physischen Formwelten treffen nicht zusammen. Die Kunst ist mehr als Nachahmung der Wahrheit, sie ist Schaffen, sogar Schöpfung. Der. Naturalismus erscheint vor uns als ein — obwohl vielleicht unbewusst — gewollter, barbarischer Angriff gegen die ästhetische Formwelt. Er zerstörte mehr als er schuf. Er verkündigte die Freiheit, beschnitt daneben die Flügel des Genies und zwang den Künstler nur die Wirklichkeit wie ein Sklave zu schildern. Die Herrschaft des Objektes und Stoffes ist dadurch absolut anerkannt worden. Die chemische Analyse des menschlichen Denkens, Fühlens, Verlangens und Willens führte ohne Zweifel zu neuen Kenntnissen, aber dies war mehr eine gelehrte Psychologie als Kunst. Und obgleich der Naturalismus auch in jene tiefsten Falten des seelischen Lebens leuchtete, in die wir bisher keinen Einblick hatten und obgleich er einige neue Formelemente nach oben warf, dürfen wir sie doch von ästhetischem Gesichtspunkt aus nicht allzu hoch einschätzen. Die Bedeutung des Formrealismus sehen wir darin, dass die kosmische Anschauung des Künstlers sich mit ihm aus der Dunkelheit der Allgemeinheiten entfaltete und die Wichtigkeit des Einzelnen die Verschiedenheiten der Dinge entdeckte.: Dann erweiterte er das stoffliche Gebiet und schärfte endlich den künstlerischen Blick, d. h. er eiferte den Künstler zu einer gründlicheren Anschauung an. Was aber die intuitive Formkonzeption, den Formaufbau und die Formschönheit betrifft, brachte er nur Hindernisse, Auflösung, sogar manchmal etwas Unästhetisches mit sich. Der Künstler kam leicht in eine Lage, in welcher nicht das Objekt, der Stoff, von ihm, sondern er von diesem gepackt wurde. Dies war die Herrschaft des Themas über ihn. Freies Auswählen im Stoff, aber Gebundenheit des Objektes im Schaffen: so lautet das Hauptprinzip des Realismus. Als dann die Herrschaft des Stoffes und das Zurückweichen desschaffenden Ich unerträglich zu werden begann, entstand das seelische Bedürfnis eine neue Formenwelt aufzubauen.

3. Die subjektive Auflösung. Den Hauptunterschied zwischen den zwei bisherigen Perioden und der jetzt folgenden sehen wir darin, dass der schaffende Künstler, seine Persönlichkeit, seine Subjektivität, sein Individuum, also sein Ich statt der inhaltlichen Konzeption, des Objektes, des Themas also

47 des Gehaltes in den Vordergrund drängt. Der Mensch ist der Herr des Weltalls geworden, in seiner Seele und in seiner Tat. Er riss sich mit Gewalt von der Natur los, trat als ein neues souveränes Individuum aus dem Hintergrund hervor. Er hatte dann nicht nur die Sehnsucht, sondern auch die Fähigkeit, die Welt in ihren Formen, aber durch seine Subjektivität, auf künstlerische Weise auszudrücken. Das Selbstgefühl, der Rang, die Würde des Menschen wuchs stark und stolz heran, er fühlte sich als der Herr der Welt. Darum dachte er, auch einen Anspruch erheben zu können, diese Welt nach seinem Belieben auffassen und darzustellen. Er suchte nicht mehr die „wahren", wirklich anwesenden und bestehenden Formen der Dinge, wollte sie nicht einfach nachahmen, sondern bildete sie nach seiner Subjektivität. Der Künstler sah auch in den Bildern der Dinge sich selbst, seine eigenen Vorstellungen brachte er in die Naturerscheinungen und deshalb prägte er sie auch mit seiner persönlichen Sprache. Eine allgemeine Personifikation in den Künsten wurde durchgeführt, die Objekte belebt. Sie haben nach der Ansicht des Künstlers einen Sinn, sogar eine Seele, sie fühlen, sie bewegen sich, denken sogar, also: sie leben. Ihre Formen sind keine Abstraktionen, auch keine geometrischen, leblosen Erscheinungen, sie sind die Art und Weise des warm pulsierenden Lebens in den Dingen, ebenso wie in den Menschen. Während der Mensch bisher in die Welt eingeschlossen war, zog er jetzt die Welt zu sich heran, umarmt sie und erfüllt sie mit seiner Individualität, um sie dann als sein geistiges Erzeugnis wiederum ausstrahlen zu können. Die Ästhetiker und Literarhistoriker haben die neuen nachklassizistischen Richtungen mit verschiedenen Namen versehen. Man spricht von Naturalismus, Impressionismus, Futurismus u. s. w. Und obgleich diese Benennungen nicht nach blossen Formerscheinungen gegeben worden sind, ist doch unzweifelhaft, dass ihr Formwesen die neuesten künstlerischen Bestrebungen fast immer in erster Linie charakterisiert. Nicht das Thema, der Stoff und Inhalt trennen in der Regel die verschiedenen Richtungen voneinander, sondern das Formsehen, die Formauffassung und Formausprägung des schaffenden Künstlers. Die Verbindung als ursächliches Nacheinander zwischen den verschiedenen Formarten kann man nur bezüglich der Formqualität erweisen. Man kann aus der Form oft die Zeit feststellen. Wir denken hier mehr an die „innere" Form, als an die äussere. Jene ist der wahre Träger der Subjektivität und der „Geist der Zeit", diese ist ein Gemeingut, manchmal blosse Technik. Vor uns liegt eine Formentwicklung seit dem Naturalismus, welche uns als eine geschichtliche Kausalitätsreihe erscheint: Naturalismus > Impressionismus > Neoimpressionis-

48 mus > Postimpressionismus > Futurismus > Dadaismus. W i r behaupten nicht, dass sich z. B. der Dadaismus gerade aus dem Futurismus entwickelte, sondern nur, dass alle diese Formerscheinungen miteinander in einem Zusammenhange stehen. Von dieser Entwicklungsreihe weichen der Symbolismus, der Expressionismus und der Kubismus in gewisser Hinsicht ab. Alle vorigen Formschulen haben dasselbe P r o . blem: auszudrücken, wie der Mensch die Welt und die Erscheinungen in einem gewissen Augenblick sieht; die letzten aber haben auch spezielle Aufgaben. Die Symbolisten bilden den Übergang von der objektiven zu der subjektiven Formwelt. Zwar wollen sie in erster Reihe in ihren Kunstwerken ihr Ich darbieten, doch tun sie es grösstenteils mit den alten Formmitteln (Abstraktion, Methaphern, typischen Vorstellungen u.s.w.). Das Neue, das sie mitbrachten, liegt eigentlich darin, dass sie der Phantasie eine weitere Möglichkeit zuteilten, die Konzeption des Künstlers nachzuschaffen, nachzudenken, also etwa an Schaffen teilzunehmen. Endlich ist die Zeit gekommen (am Anfang des X X . Jahrhunderts), wo sich das schaffende Ich von der objektiven Welt abwandte und die Formen unmittelbar aus seinem eigenen Innern heraus schaffen wollte. Der Expressionismus bedeutet also die vollkommenste Subjektivität im Ausdruck, verkündet das Recht der willkürlichen Umformung der Welt, lehrt, dass die Formen der Welterscheinungen nur insofern wichtig sind, als sie als Projektionen des Ich aufgefasst werden, und betont, dass die Muster und Direktiven nicht in der objektiven Welt, sondern in unserer eigenen Seele gesucht werden müssen. Der Kubismus gelangte nur dadurch weiter, dass er die dritte Dimension auf grobe Weise in die Darstellung einführte und auf die Gesetzlichkeiten der Natur gar nicht achtete. (Der Umsturz der Stabilität, der Reihe, die Zerstörung der Perspektive u . s . w . ) Wenn wir nun die Entwicklung des künstlerischen Ausdrucks seit dem Naturalismus überblicken, bemerken wir, dass ihr Wesen im Kampf des Ich und des Stoffes (des Objektes, der Materie u . s . w . ) liegt. Und dieser Kampf wird immer zum Besten des Ich entschieden. Ein eigentümlicher, neuzeitlicher Lyrismus drängt die objektiven Dichtungsarten in den Hintergrund. Die Lyrik hat sich die allgemeine Anteilnahme gesichert und fast die leitende Stellung in der Literatur errungen. Es ist kein Zufall, dass eben die Lyrik die neueste L i t e r a t u r (seit den Symbolisten) eingeführt h a t ; sie hat sozusagen die ganze Dichtungsart erneuert, die neue Sprache der Poesie angestimmt. Aber auch in der Malerei und Skulptur fordert das Ich seine Rechte. Die Formübertreibungen, welche unsere Zeit in den bildenden Künsten erzeugt, entstammen grösstenteils der übermässigen Betonung

49 des schaffenden künstlerischen Ich. Die ultramodernen Künstler pflegen zu sagen und damit zu prahlen, dass sie sich weder um die physikalischen Formerscheinungen, noch um das Publikum im geringsten kümmern, sie wollen nur darauf achten, was sie sehen oder zu sehen ermuten und fühlen. Es ist deshalb nicht zu verwundern, wenn sie in die Künste einen formalistischen Anarchismus einführten. Die Musik war immer die innigste und unmittelbarste Vermittlerin der künstlerischen Subjektivität. Sie braucht weder Wörter, noch physikalische Formen, sie besitzt in sich die Mittel des Ausdrucks, sie hat also schon von vornherein einen subjektiven Charakter. Ihre Formentwicklung besteht in dieser Hinsicht darin, dass sie die Abänderungen der musikalischen Sprache der Menschheit mitbegleitete und wie die gewöhnliche Sprache nicht nur als der Ausdruck der Gedanken, sondern auch der Gefühlsqualität betrachtet werden kann, so ist auch die Musik (und zwar viel mehr) eine Repräsentation des seelischen Nervensystems der Zeit und ihrer Komponisten. Es ist schon mehrmals erwähnt, aber unseres Wissens noch nirgends ausführlich behandelt worden, dass der unruhige, aufgeregte und dissonante Charakter der modernsten Musik eine Verbindung mit der seelischen Disposition der heutigen Menschheit zeigt. Auch in der Architektur können wir ähnliche Erscheinungen beobachten. Auch hier erweist sich dieser Stil als eine gewisse Auflösung des klassisch-ruhigen Bausystems. Seine Linienkonstruktion macht den Eindruck einer fast unangenehmen Stabillosigkeit. Wo es möglich war, wich der Architekt von den wagrechten und senkrechten Linien ab, wo er es aber nicht tun konnte, da konstruierte er die verschiedenen Stilelemente, so dass auch diese den Eindruck der vorigen erweckten. Dieser Stil könnte also das Bild und die Ausprägung der seelischen Disposition des modernen, nervösen Menschen sein. Wenn wir nun die Ergebnisse unserer Untersuchungen zusammenfassen wollen, so können wir sie auf der folgenden Tabelle derart darstellen: Zeitalter

des

Die Verfassers

Relation und Stoffes

Formcharakter

Idealistische Synthese

Das Übergewicht des Begriffes

Typisches

Realistische Analyse

Das Übergewicht der einzelnen Objekte

Naturalistisches

Subjektive Auflösung

Das Übergewicht der schaffenden Subjektivität

Subjektivistisches 4

SPRACHENTWICKLUNG UND SOZIALE SCHICHTEN. Von EMIL

ÖHMANN.

Die Frage von der Bedingtheit der Sprachentwicklung durch das soziale Milieu gehört zu denjenigen, in welchen die Meinungen immer noch heutzutage — oder vielleicht sogar besser: gerade heutzutage — recht bedenklich auseinandergehen. Das ausserordentlich komplizierte Problem ißt sicherlich noch lange nicht spruchreif, nicht einmal innerhalb enger Grenzen. Und trotzdem ist der Frage entschieden sogar durch tastende Versuche zu einer Klärung der Begriffe zu gelangen gedient, da gerade hier eine möglichst vielseitige Beleuchtung der prinzipiellen Fragen not tut. „Noch mehr als im 17. Jahrhundert bildet sich [im 18.] eine aristokratische Kunstsprache heraus, die aber Gefahr läuft, den Zusammenhang mit der 'Ausdrucksweise der mittleren und unteren sprachliche Schichten, i n d e n e n a l l e i n d a s w i r k l i c h e L e b e n v o r s i c h g e h t , zu verlieren und dadurch allmählich zu erstarren", sagt Meyer—Lübke in seiner Hist. gr. d. frz. Spr. 2 ~ 3 § 18. Der von mir gesperrte Satz hat neulich Eugen Lerch, einen der rührigsten Vertreter der „idealistischen Philologie" zu einer eingehenden Entgegnung aufgefordert. Lerch betont mit Recht, dass dieser Satz eine durchaus eigenmächtige Definition des „wirklichen sprachlichen Lebens" zur Voraussetzung hat. Er ist seinerseits der Meinung, dass das wirkliche, höhere sprachliche Leben, die sprachliche Entwicklung sich in der Oberschicht abspielt, während in der Unterschicht die Sprache verarmt und speziell durch lautliche Veränderungen zersetzt wird. 1 Sowohl Meyer-Lübke — durch das Wort von dem w i r k l i c h e n sprachlichen Leben — als auch Lerch 2 sprechen ein Werturteil über 1

Vgl. Jahrbuch für Philologie, I (1925), Ss. 70—124 (Uber das sprachliche Verhältnis von Ober- zu Unterschicht mit bes. Berücksichtigung der Lautgesetzfrage). 2 S. 89: „Und es muss . . . gestattet 6ein, sich die Frage vorzulegen, ob denn nun die Veränderungen der Laute der Sprache zum Vorteil oder zum Nachteil gereichen. Und da sehen wir keine andere Antwort als diese: sie gereichen ihr zum Nachteil." — S. 90: „nicht von einer . E n t w i c k l u n g ' der Laute sollte man reden, sondern von ihrer

54 die Sprachveränderung aus, was m. E. nicht angängig ist. Wer traut sich ein endgültiges Urteil darüber zu, was in der Sprache eine Verfallserscheinung und was Entwicklung im positiven Sinne ist? Was aus allzu grosser Nähe gesehen wie eine Verfallserscheinung aussieht, kann, von höherer Warte betrachtet, sich als positive Entwicklung darstellen. Um nicht eine für den Zweck völlig unnützige Diskussion heraufzubeschwören, die unfehlbar ins Metaphysische und damit ins Uferlose hinüberschlägt, wäre es angebracht, zeitig genug hier einen Riegel vorzuschieben und alle Werturteile beiseite zu lassen. Wenn man trotzdem nicht gern das Wort Entwicklung, bzw. Sprachentwicklung aufgeben möchte, wäre es nur nötig das Wort ausschliesslich in der neutralen Bedeutung 'Sprachveränderung' zu gebrauchen, was ja stillschweigend sehr häufig in der Linguistik gemacht wird und was auch in den folgenden Zeilen geschieht. Wenn man vorurteilslos das Problem von Sprachveränderung und Milieu ins Auge fassen will, tut man am besten, wenn man zuerst einen Blick auf den Gesamtkomplex der Sprachveränderungen wirft und dabei nach solchen Veränderungen Umschau hält, die sich genauer in irgend einem sozialen Milieu lokalisieren lassen. Erst nachher ist es ratsam, abstrahierend über die allgemeinen Möglichkeiten der Sprachveränderung in den verschiedenen Schichten nachzudenken. Eine — teilweise, allerdings selbstverständliche — Einschränkung ist vorauszuschicken: im folgenden wird hauptsächlich nur die in neuerer Zeit, als eine Schriftsprache sich schon herausgebildet hatte, stattgefundene Entwicklung der deutschen und französischen Sprache berücksichtigt, weil gerade hier geeignetes Material in grösseren Mengen zutage gefördert worden ist und die Zusammenhänge zwischen Sprachveränderung und Milieu sich besser als in den meisten Sprachen, obgleich auch hier noch lange nicht genügend, überblicken lassen. D e g e n e r a t i o n " . — S. 116: „War nun das Verstummen der Endkonsonanten in der einen Hinsicht ein Nachteil, in der anderen aber ein Gewinn [Lerch denkt hier an den Wohlklang], so ist offenbar die pessimistische Auffassung der Lautwandlungen nicht die einzig mögliche. Gleichwohl aber besteht sie zu Recht." — Wie S. 114 näher ausgeführt, will Lerch seine pessimistische Auffassung „nur auf die durch flüchtiges Sprechen entstehenden Lautveränderungen" bezogen wissen. — Nebenbei bemerkt, ist das von Lerch S. 74 gebrauchte Wort Verarmung nicht einmal in seinem Sinne ganz unbedenklich. Lerch behauptet hier, dass die soziale Unterschicht auf dem Gebiete der Syntax und Stilistik der Oberschicht gegenüber „im wesentlichen nur Verarmung eintreten" lasse. In der Tat handelt es sich hier sehr oft nicht um eine Verarmung, nicht um ein Ärmerwerden, sondern um ein ursprüngliches Ärmersein; in derartigen Fällen kann man wohl von einer Bereicherung der Sprache der Oberschicht sprechen — falls es sich nicht um Erhaltung in der Oberschicht. bereits vorhandenen Sprachgutes handelt —, aber nicht von einer Verarmung derjenigen der Unterschicht.

55 Ohne Stellungnahme zur F r a g e : was wird mit Unterschicht, was mit Oberschicht (und ev. noch Mittelschicht) gemeint? was ist als Sprache der Unterschicht, was als Sprache der Oberschicht zu betrachten? wird die ganze Behandlung des Themas gefährdet. Mangelnde Klarheit gerade in diesem Punkt hat sich bereits oft störend geltend gemacht. Der Einfachheit halber unterscheide ich im folgenden nur zwei soziale Schichten: die ^Oberschicht und die Unterschicht, wobei als Kriterium selbstredend die Bildungsstufe dient. — Die Frage von der Sprachform der verschiedenen Schichten streift Lerch (Ss. 73—74), der die Unterschicht und die Mittelschicht als die Vertreter der Umgangssprache der Oberschicht als Vertreter der Schrift- und Vortragssprache gegenüberstellt, falls ich ihn richtig verstanden habe. Einer solchen Einteilung könnte ich nicht beitreten. Die Oberschicht bedient sich ja keineswegs andauernd oder ausschliesslich der Schrift- oder Vortragssprache. Ein nur Schriftsprache redender Mensch ist eine Seltenheit, um nicht zu sagen: ein Monstrum. Im Gespräch bedient sich die Oberschicht der Umgangssprache. Die Schriftsprache ist nicht d i e Sprache der Oberschicht, sondern e i n e der Sprachen der Oberschicht, die zweisprachig ist: sie beherrscht sowohl die Umgangssprache als auch die Schriftsprache, von denen sie die erste zu mündlichen, die zweite zu schriftlichen Zwecken verwendet. Gerade hier möchte ich, gezwungenerweise schematisierend, die Trennungslinie ziehen: einerseits die Oberschicht als Vertreter der Umgangssprache und der Schriftsprache, andrerseits die Unterschicht — die allerdings auch in Berührung mit der Schriftsprache kommen kann, sie aber nicht beherrschen lernt — als Vertreter der Mundart und Halbmundart. Wenn man die verschiedenen Seiten des Sprachlebens unter die Lupe zu nehmen versucht, stellt es sich sofort heraus, dass eine ausserordentlich wichtige Seite viel zu wenig erforscht ist, um irgendwelche allgemeine Schlüsse zu gestatten: ich meine Akzent, Melodie, Rhythmus. Soviel lässt sich allerdings sagen, dass gewisse in der Oberschicht entstandene Eigentümlichkeiten von der Unterschicht gern nachgeahmt werden, wie ja überhaupt der Nachahmungstrieb der Unterschicht der Oberschicht gegenüber eine altbekannte Tatsache ist. Man denke z. B. nur daran, wie gern der ungebildete (bzw. halbgebildete) Kommis in Norddeutschland den preussischen Offizierston ausserhalb des Ladens anschlägt. Verhältnismässig klar liegen die Verhältnisse dagegen auf dem Gebiete der Syntax. Hier ist es die Oberschicht — und von ihren beiden Sprachen in besonders hohem Masse die Schriftsprache — die eine Fülle von Neuerungen der Unterschicht gegenüber aufweist: bei zuneh-

56 mender Bildung finden wir auch den hypotaktischen Satzbau mit dem ganzen dazu gehörigen Apparat von Konjunktionen immer weiter ausgebildet. Der einfache parataktische Satzbau der Unterschicht beruht natürlich, wie zuletzt von H. Naumann 1 und Lerch* hervorgehoben» auf der Unfähigkeit der untersten Schichten zu verwickeiteren Gedankenzusammenhängen. Von einem etwas anderen Gesichtspunkt aus betrachtet, der für das Verständnis von Ursache und Wirkung hier von wesentlicher Bedeutung ist, lässt sich der Satz aufstellen, dass das in der Oberschicht vorhandene grössere Bedürfnis an Ausdrucksmitteln für verwickeitere Gedankenzusammenhänge zur Entstehung dieser Ausdrucksmittel geführt hat. Die Entlehnung von fremdem Wortgut geschieht zum überwiegenden Teil durch die höheren Schichten. Nur diese Schichten haben in der Regel die nötigen Voraussetzungen, diejenige Kenntnis der fremden Sprache, die für den Entstehungsprozess notwendige Vorbedingung ist. Treffend hat Naumann 3 geschildert, wie dieses Lehngut aus der Ober- in die Unterschicht sinkt, wo es oft noch ein deklassiertes Dasein fristet, nachdem die Oberschicht es schon längst aufgegeben hat. — Das Bild, das die Schriftsprache in dieser Hinsicht darbietet, wäre allerdings geeignet die Rolle der Oberschicht sogar zu übertreiben. Denn z. B . die Grenzmundarten sind gewöhnlich recht reich an Lehn- bzw. Fremdwörtern, nur haben diese selten die K r a f t , ihr Lehngut der Schriftsprache aufzuoktroyieren — dazu gehört ein mehr oder weniger starkes kulturelles Zentrum. Aber auch in diesen Grenzmundarten gehören diejenigen bilinguen Individuen, die den Entlehnungsprozess letzten Endes vollziehen, meistens der örtlichen Oberschicht an, die allerdings durchaus nicht der Oberschicht des ganzen Sprachgebietes anzugehören braucht und die manchmal sogar der Schriftsprache nicht mächtig ist. — W a s für die Lehnwörter überhaupt gilt, trifft in besonderem Masse hinsichtlich der Lehnübersetzungen zu, deren Bedeutung ausserordentlich gross ist und mit dem immer enger werdenden kulturellen Austausch der Völker in beständigem Steigen begriffen ist. Auf dem Gebiete der Veränderungen der Wortbedeutungen sind die Verhältnisse recht verwickelt. Eine Behauptung allgemeinerer A r t lässt sich jedenfalls aufstellen. Ein bedeutender Komplex dieser Veränderungen spielt sich naturgemäss vorwiegend in der Oberschicht ab, und zwar diejenigen, die die Entwicklungslinie vom Konkreten zum Abstrakten aufweisen. Was die Veränderungen betrifft, die auf Ver1

J a h r b u c h für Philologie, I, S. 6 7 .

2

ibid. Se. 7 4 ff.

3

ibid. Ss. 5 6 ff.

57

ändcrungen der materiellen Kultur zurückgehen, so ist es überaus heikel, einen zuverlässigen Überblick über sie zu gewinnen. Einerseits ist ohne weiteres zuzugeben, dass die Oberschicht in einer grossen Anzahl der Fälle einen entschiedenen Yorsprung hat, andrerseits darf man aber auch nicht vergessen, dass eine grosse Anzahl von Fällen z. B. ins Gebiet derjenigen Berufs- und Fachsprachen gehört, die zu einem bedeutenden Teil von verschiedenen Kreisen der Unterschicht gesprochen werden. So ist es denn vorläufig ratsamer, diese Frage lieber offen zu lassen, als gewaltsam und ohne eingehende Vorarbeiten sich eine Meinung zu bilden, die auch im günstigsten Falle als ungenügend fundiert zu bezeichnen wäre. — Etwas mehr Anhaltspunkte, obgleich nicht genügend, um zu einem klaren Bild vorzudringen, bieten diejenigen Bedeutungsverschiebungen, die auf Ursachen wie Spieltrieb, Affekt und dgl. zurückzuführen sind. Diese Ursachen sind selbstverständlich in allen Schichten vorhanden, nur verhalten sich die verschiedenen Kreise ihnen gegenüber sehr verschieden: während die untere Schicht dem Spieltrieb und dem Affekt einen verhältnismässig freien Lauf lässt, verhält sich die Oberschicht ihnen gegenüber in der Öffentlichkeit — und sozial betrachtet gehört ja auch die Sprache in die Öffentlichkeit — viel zurückhaltender. Verschiedene Rücksichten machen sich dabei geltend: die Wahrung der Würde, das Meiden des Anstössigen, Verletzenden usw. In der Unterschicht sind diese Hemmungen viel geringer, hier empfindet man keine Scheu vor Bedeutungsverschiebungen, die bei der Oberschicht als grob und anstössig gelten. In der Sprache der Unterschicht sind die naturalia — und ganz besonders die sexualia — in dem öffentlichen Sprachgebrauch bei weitem nicht dermassen verpönt wie in der Oberschicht und bieten deswegen ein dankbares Feld für die mannigfaltigsten Bedeutungsverschiebungen dar. Man braucht sich nicht lange mit dem Wortschatz der Bauernmundarten oder mit der Sprache der städtischen Unterschicht, von der dies noch in höherem Grade gilt — man denke z. B. an den Pariser Argot •—, zu beschäftigen, um sich von diesem Sachverhalt zu überzeugen. In der Oberschicht sind derartige Bedeutungsverschiebungen nur in denjenigen Kreisen gang und gäbe, die durch soziale Rücksichten am wenigsten gebunden sind. Daher ihre Fülle z. B. gerade in der Burschensprache. Das soziale Optimum dieser Verschiebungen liegt somit einerseits in den intellektuell oder pseudo-intellektuell regeren Kreisen der städtischen Unterschicht, andrerseits in den durch Traditionen und Rücksichten am wenigsten gebundenen Kreisen der Oberschicht. Das Gebiet der Flexion stellt kein ganz einfaches Bild dar, obgleich auch manches hier verhältnismässig klar liegt. Jedenfalls steht fest, dass in gewissen Perioden gerade die Unterschicht eine ausge-

58 prägte Tendenz zeigt, einige grammatische Formkategorien durch Nivellierung und Vereinheitlichung zu vereinfachen, bzw. eingehen zu lassen. Man denke nur an das Schulbeispiel, das die Entwicklung des Vulgärlateins darstellt: Vereinfachung der Deklination durch Zusammenfall alter Deklinationsklassen, Verfall (ohne jedes Werturteil gebraucht!) der alten Substantivflexion, indem von den obliquen Kasus des klass. Lat. nur noch der Akkusativ lebendig blieb, wenn wir vom Rumän. absehen, wo sich auch der Dativ teilweise erhielt. Nur darf man hinsichtlich des Vulgärlateins nicht vergessen, dass in diesem Falle die überwiegende Mehrzahl der Unterschicht in den Provinzen aus Fremdstämmigen bestand, was nicht ohne Einfluss auf den Gang der Entwicklung bleiben konnte, und dass alles dasjenige, das wir mit dem Namen Vulgärlatein benennen, durchaus nicht ausschliesslich von der Unterschicht in der gesprochenen Rede gebraucht wurde, dass es sich nicht nur um Unterschiede zwischen Ober- und Unterschicht handelt, Sondern auch um chronologische. —• Auch im Mittelenglischen können wir verfolgen, wie die Vereinfachung der Deklination in den Mundarten schneller um sich greift als in der westsächsischen Schriftsprache. In diesen beiden Beispielen lässt sich aber die Einteilung in Oberschicht und Unterschicht nicht in demselben Sinne wie für heutige Zustände durchführen: in diesen aus einer ziemlich weit zurückliegenden Vergangenheit stammenden Fällen steht der „Vulgärsprache", bzw. den Mundarten die Schriftsprache gegenüber, die nur von einer dünnen schriftstellernden, an der alten Tradition teilweise sehr konservativ festhaltenden Oberschicht vertreten wurde. Auch im Deutschen lässt sich ein ähnlicher Vorgang bis in die jüngste Zeit schön verfolgen: der Kasusbestand vermindert sich vor unseren Augen andauernd seit dem Ahd. Und was besonders wichtig ist, es lässt sich an der jüngsten Sprachentwicklung feststellen, wie gerade die Mundarten hier in der Entwicklung der Schriftsprache vorauseilen: der Genitiv ist in den heutigen Mundarten im grossen und ganzen bis auf einige Reste untergegangen und der Dativ sowohl im Bayrischen als auch im Neundd. im Rückzug begriffen. — Was die Umgangssprache betrifft, so lässt sich auch hier eine deutliche Abneigung gegenüber dem Genitiv beobachten. 1 1

Eine prinzipielle Frage verdient noch in diesem Zusammenhang gestreift zu werden. Wenn man beim Schwund von gewissen Formen von „Verarmung" spricht, so ist dies — auch wenn man jedes Werturteil ausschliesst — nicht eindeutig. Nur wenn die Sprache die Möglichkeit verloren hätte, eine spezielle Funktion zum Ausdruck zu bringen, könnte man von „Verarmung" überhaupt reden. Dies ist aber in Fällen von der soeben berührten Art durchaus nicht immer der Fall, sondern sehr häufig handelt es sich nur um eine Veränderung des sprachlichen Ausdrucks, indem anstatt der abhan-

59 Hinter diesen Veränderungen steckt als Ursache eine Tendenz nach einfacheren Formengruppen, nach Nivellierung der vorhandenen Vielfältigkeit. Parallel mit dieser inneren Entwicklung und in nahem Zusammenhang mit ihr — teilweise als Ursache, teilweise als Folge —^ geht die Abschwächung, bzw. der Schwund der Flexionssilben. 1 Auf dem Gebiete der Pluralbildung 'im Deutschen zeigt die Umgangssprache der Oberschicht und ganz besonders die Schriftsprache einen ziemlichen Reichtum an Bildungsweisen, während die Mundarten durch Verallgemeinerung einiger Typen nach einfacheren und klareren Linien streben. E s ist ein ähnlicher Drang zur Bildung von dem jeweiligen Sprachgeist entsprechenderen Gruppen, der hinter den Wirkungen der Analogie im weitesten Sinne tätig ist. Diese Tendenz, die somit von ausserordentlich grosser Bedeutung für die sprachlichen Veränderungen ist, macht sich sowohl in der Ober- als auch in der Unterschicht geltend, nur hält die Oberschicht viel zäher und zielbewusster an dem als Norm angesehenen bestehenden Zustand fest als die Unterschicht, die auch in diesem Falle als weniger durch die Tradition gebunden erscheint; und zwar wird diese von der Oberschicht respektierte Norm besonders eindringlich durch die Schriftsprache vertreten. Noch in einem Spezialfälle macht sich dieselbe Tendenz nach einfacheren und weniger zahlreichen Gruppen geltend und auch hier eilt die Unterschicht der Oberschicht voraus: ich meine die sogenannte Volksetymologie. Ein mehr oder weniger isoliert dastehendes W o r t wird vom Sprachbewusstsein in etymologisch unberechtigter Weise zu einer anklingenden Gruppe in Beziehung gebracht, wobei auch die Lautgestalt des betreffenden Wortes oft der Gruppe näher gebracht wird. Wenn nun die auf bewussten Spieltrieb zurückgehenden Fälle von Volksetmologie beiseite gelassen werden, so lässt sich über diesen Vorgang im allgemeinen sagen, dass die konservativere Oberschicht weniger als die Unterschicht dazu neigt, solche isolierte Wörter anzutasten. Ausser dem Gebundensein an die Norm macht sich bei der Oberschicht noch eine andere Ursache geltend: ein W o r t , das für die weniger „gebildete" Unterschicht isoliert dasteht, braucht im Sprachbewusstsein der Oberschicht, die viel zahlreichere etymologische Gruppen und Zusammenhänge (z. B. sogar diejenigen fremder Sprachen) den gekommenen Möglichkeit eine neue geschaffen wird (z. B. : dem Vater sein Haus pro das Hans des Vaters). Und wenn eine Kasusendung vor einer Verbindung des Substantivs mit einer Präposition zurückweicht, so bedeutet dies im Grunde nur, dass die Flexion von hinten durch diejenige von vorne ersetzt wird. 1 Über die prinzipielle Seite der Frage vgl. Meillet, Linguistique historique et linguistique générale 2 (1926) S. 41.

60 kennt, durchaus nicht isoliert dazustehen. Trotzdem setzen sich solche volksetymologischen Umbildungen oft auch in der Oberschicht durch, wobei allerdings sehr oft das Resultat der in der Unterschicht vollzogenen Volksetymologie von der Oberschicht übernommen wird. Im Zusammenhang mit der Vereinfachungstendenz der Unterschicht verlohnt es sich vielleicht kurz einen Fall zu berühren, in dem die Mundart teilweise einen grösseren Formenreichtum aufweist als die Schriftsprache. Bekannterweise hat das Bayr. sehr zähe an dem Dual beim Pronomen bis heutzutage festgehalten, der teilweise die Pluralform verdrängt hat, und auch in der westfälisch-niederfränkischen Grenzgegend haben Dualformen vom Pronomen sich erhalten. In den angeführten Beispielen hat die Mundart teilweise die alten Dualformen in ihrer ursprünglichen Funktion beibehalten, die in der Schriftsprache und bei der Oberschicht nicht mehr besteht; teilweise allerdings verwendet die Mundart den alten Dual in der Funktion des Plurals. Dieser Fall ist insofern in gewissem Sinne irreleitend, als die nhd. Schrift- und Umgangssprache nie den Dual besessen hat. Dieser Fall lässt sich nur im Hinblick auf die Sprache der Oberschichten der betreffenden Mundarten, nicht aber in Hinblick auf die nhd. Schriftsprache anwenden; die Oberschichten der betreffenden Gebiete haben unter dem Einfluss der Schriftsprache seinerzeit diese Dualformen aufgegeben, die aber trotzdem in der Unterschicht lebendig blieben. Ein Vergleich zwischen Mundart und Schriftsprache ist also hier selbstverständlich nicht am Platze. Auf dem Gebiete der Wortbildung erschwert den Vergleich die qualitative Verschiedenheit des Wortvorrates der verschiedenen Schichten: der Bauer hat naturgemäss einen ganz anderen Wortvorrat als ein Kunstkritiker, ein Diplomat einen ganz anderen als ein Fabriksarbeiter, um nur ein paar extreme Fälle zu nennen. Wenn man aber weniger auf diesen qualitativen Unterschied achtet, und sein Augenmerk in der Hauptsache auf den quantitativen richtet, so kann kein Zweifel bestehen: der Wortvorrat der Oberschicht ist derjenigen der Unterschicht zahlenmässig überlegen, je höher wir im sozialen Gebäude steigen, umso umfangreicher wird der Wortschatz. Dies zeigt, da wir nicht mit einem konsequenten Abnehmen eines ursprünglich grösseren Wortschatzes zu rechnen brauchen, dass die Schöpfung von neuem Wortgut in der Oberschicht viel reger ist als in der Unterschicht. Sogar bei einem flüchtigen Vergleich zwischen dem Wortvorrat einer Mundart 1 mit demjenigen der Oberschicht springt der Reichtum an 1

Arbeiten wie diejenige von Gustav Schöner (Spezialidiotikon des Sprachschatzes von Eschenrod (Oberhessen) ZD. Maa. III, Ss. 225 ff. und ;!28 ff., IV, Ss. 46 ff. und V, Ss. 245 ff.) würden derartigen Aufgaben sehr den Weg ebnen

61 Ableitungen bei der Oberschicht sofort in die Augen. Dies gilt nicht nur etwa in Bezug auf die abgeleiteten Abstrakta, sondern hinsichtlich der Ableitungen überhaupt. Auch die Neubildungen durch Komposition sind in der Mundart viel seltener als in der Sprache der Oberschicht. Die Ursache zu diesem Sachverhalt lässt sich auf eine sehr einfache und einleuchtende Formel bringen: in der Sprache der Oberschicht ist das Bedürfnis an Ausdrücken für neue Begriffe weit grösser als in der Mundart und dementsprechend auch die Neuschöpfung viel reger. — In gewissen Fluktuationen auf dem Gebiete des Wortschatzes besteht ein nicht unerheblicher Unterschied zwischen der Bauernmundart einerseits und der Umgangssprache der Oberschicht andrerseits, mit der die städtische Unterschicht teilweise gemeinsam geht. Der konservative Zug der bodenständigen Bauern äussert sich auf sprachlichem Gebiete in der ablehnenden, bzw. nur langsam nachgebenden Haltung den Modeströmungen auf dem Gebiete des Wortvorrates, der Anredeformen und dgl. gegenüber, die in der Oberschicht und in grösseren Städten in weiten Schichten schnellen Anklang finden. — Eine ausgesprochene Aktivität bekundet endlich die Oberschicht oft in der von ihr geleiteten puristischen Bewegung, die neben ihrer negativen Seite — der Ausmerzung von Fremdwörtern — auch eine positive hat: die Schaffung von Ersatz für das ausrangierte Wortgut. Trotz des konservativen Zuges der Bauernmundart scheint gerade hier der Lautwandel ziemlich unbehindert vor sich zu gehen. Auch beim Lautwandel werden wir wohl eine über alle Schichten verbreitete Neigung anzunehmen haben, die eben in der Bauernmundart am leichtesten zu Resultaten führen kann, weil hier der hemmende Einfluss der Schriftsprache am schwächsten ist. Beim Lautwandel handelt es sich, ganz anders als bei der Verdrängung von Wörtern durch andere, um so allmählich stattfindende Verschiebungen, dass der am Schriftbild nicht haftende Bauer sie überhaupt nicht bemerkt. Bei der Ober Schicht wird eine etwas weiter fortgeschrittene Entgleisung immer durch- das normative Schriftbild korrigiert. So kommt es, dass Vorund Nachsilben, die heute in den deutschen Bauernmundarten geschwächt oder vollständig geschwunden sind, sich in der Umgangssprache erhalten haben (z. B. -heit, maa. -het, -hat). Wie besonders Lerch hervorhebt, äussert sich die Aktivität der Oberschicht auf dem Gebiete des Lautwandels darin, dass sie sich einem in der Unterschicht vor sich gehenden Lautwandel entgegenstemmt, bzw. ihn rückgängig macht. — Und was endlich die Schriftsprache betrifft, kann in ihr, in einer geschriebenen Sprache, kein Lautwandel in Frage kommen. Wenn sich trotzdem auch ihre Lautzeichen und Laute — streng genommen eine contradictio in adjecto — verändern, so geschieht dies nicht auf dem

62; Wege der organischen Entwicklung, sondern durch einen revolutionären Umsturz, oft durch die Entstehung einer neuen Oberschicht, indem das Resultat eines in der gesprochenen Sprache vollzogenen Lautwandels als solches akzeptiert wird. Allerdings sind auch Fälle möglich, in denen wir nicht von einer Revolution sprechen können. So hat sich z. B. das Zäpfchen-r in Deutschland allmählich auf Kosten des ursprünglichen Zungenspitzen-r verbreitet, und zwar vorwiegend in den Städten. Auch hier hat es allerdings nicht an Reaktion gefehlt, aber sie ist nicht kräftig genug gewesen, um den Wandel zu verhindern, weil die Verschiebung relativ unbedeutend war, so dass auch der neue Laut durch das alte Schriftzeichen ohne weiteres widergegeben werden konnte. Schon bei einem summarischen Blick auf verschiedene Seiten des sprachlichen Lebens erscheint der Zweifel an der Richtigkeit des Satzes, dass das wirkliche sprachliche Leben in der mittleren und unteren Schicht vor sich gehe, als vollständig berechtigt, wenn auch der diametral entgegengesetzte übers Ziel schiesst. Die Sprache verändert sich in allen Schichten, und einige Veränderungen spielen sich vorwiegend in der Oberschicht, andere wieder vorwiegend in der Unterschicht ab. Diejenigen sprachlichen Veränderungen, die der Sprache neues Material, neue Ausdrucksmöglichkeiten schaffen, gehören vorzugsweise der Oberschicht an. Und die konstant wirksame Ursache dazu ist, dass in der Oberschicht das Bedürfnis an neuem Material und an neuen Ausdrucksmöglichkeiten grösser ist als in der Unterschicht. Diesen sprachlichen Veränderungen gegenüber steht die Gruppe derjenigen, die nicht ein solches Ziel haben, sondern teilweise aus Artikulationsveränderungen, teilweise aus veränderter Gruppenbildung bestehen. Diese scheinen sich vorwiegend in der Unterschicht abzuspielen, nicht etwa unbedingt deswegen, weil nur hier die betreffenden Tendenzen vorhanden waren, sondern weil hier das Gebundensein an die besonders durch die Schriftsprache vertretene Norm viel geringer ist. — Sowohl die Oberschicht als die Unterschicht weist somit konservative Züge auf. Der konservative Zug bei der Oberschicht beruht darauf, dass sie mehr an die Norm der Schriftsprache und Grammatik gebunden ist als die Unterschicht, der konservative Zug der Unterschicht dagegen darauf, dass bei ihr das Bedürfnis Neues zu schaffen geringer ist als bei der Oberschicht. Die Neuschöpfung der Oberschicht geschieht überwiegend sozusagen in den von der Norm vorgeschriebenen Bahnen, die Neuschöpfungen der Unterschicht Verstössen oft gegen diese Norm. Bei der Oberschicht spielt in der Sprachentwicklung das Bewusste, das Logische > das Gewollte eine grössere Rolle als in der Unterschicht, wo das Un-

G3 bewusste viel mehr im Vordergründe steht. — Und wenn man sich vor Augen hält, dass die Junggrammatiker und ihre Nachfolger im engeren Sinne in der Hauptsache auf „Lautgesetze" und „Analogie" acht gaben, versteht man, wie die Auffassung von der Unterschicht als dem wahren Milieu der Sprachentwicklung aufkommen konnte. Mitverantwortlich für ihre Entstehung ist allerdings auch die Gleichsetzung der Sprache der Oberschicht mit der Schriftsprache, zu deren Wesen etwas Starres, dem Prinzip der Veränderung Feindliches, gehört. Selbstverständlich ist eine grobe Schematisierung der Verhältnisse, die sich bei einer summarischen Übersicht verteidigen lässt, bei der Behandlung des konkreten Einzelfalles nicht das Richtige. Hier gilt es, die Erscheinung nicht nur allgemein in der Oberschicht oder Unterschicht zu lokalisieren, sondern das Optimum der zu behandelnden Veränderung möglichst genau zu umgrenzen. Es gilt dabei möglichst umsichtig das Für und Wider abzuwägen: die mehr oder weniger konservativen Züge, das grössere oder geringere Gebundensein durch soziale Rücksichten, die Interessensphären der verschiedenen Kreise, Altersunterschiede, spezielle örtliche und zeitliche Bedingungen usw. Und dabei ist mit einem starren System nicht auszukommen: man denke z. B. nur an die Literaten der Zeit des revolutionären deutschen Sturms und Drangs und vergleiche sie mit denjenigen der Klassikerzeit, die von einer viel strengeren konservativen Zucht beherrscht wurde.

AUS MANIS BRIEFEN. Von WILLY

BANG.

Die Kirchenväter haben früh begonnen, den Gaben, die die Heiligen drei Könige dem Jesuskindlein darbrachten, eine symbolische, oft mystische Deutung zu geben.1 Eine der sonderbarsten dieser Deutungen finde ich in der im Jahre 1514 zu Köln gedruckten Historia gloriosissimorum trium regum integra auf fol. e 1 verso, 1. 30 ss. Leider ist es mir bis jetzt nicht gelungen, die Quelle dieses Stücks, das ich unten abdrucke, aufzufinden, doch ist es nach dem ganzen Tenor der Stelle doch wohl selbstverständlich, dass der Verfasser oder Kompilator unsrer Historia nicht aus Eignem, sondern aus der Überlieferung schöpfte. Er sagt: Legitwr enim in qm'busdam libris. et postquam ipsorum trium regum corpora de Cowstantinopoli in Mediolanum et de Oriente in occidentem fuerunt trawslata. quia tuwc olim hereticorwm et scismaticorwm errores et opiniones quibus Lumbardia Tuscia et Apullia et vniuersa terra fuit infecta per declarationem et expositionem trium munerwm quae ipsi reges domino obtulerunt fuerunt confusi et conuicti ac funditus prout seqwitur annihilati. In auro thure et mirrha per ista trium munerum genera in vno eodemqwe christo diuina maiestas et regia potesias et humana mortalitas intimatwr. | Thus eru'm pertinet ad sacrificium. Aurum ad tributum Et mirrha pertinet ad sepulturam mortuorwm. omwia hec sancta fides christo veraciter offerre non desinit dum vnum euwdemqwe verum deum verum regem verumque homiwem credit. || In oblat/owe thuris cowfusus est Arianus qui soli pairi sacrificium offerre concedebat. | In oblatione mirrhe cowfusus est Manicheus qui christum vere mortuum pro nostra salute non credebat. In auro simul [(?) similiter] vterque confusi sunt, quia Manicheus de semine 1

Vgl. die knappen Zusammenstellungen bei Kehrer, Die „Heiligen drei Könige"

der Legende

und in der Deutschen

bildenden

Kunst

bis Albreeht

Dürer,

S. 32 ff. ( =

Stud- zur Deutschen Kunstgeschichte, Heft 53). Nach Kehrer, Die

drei Könige

in Literatur

von Glossa Ordinaria, unzugänglich.

und Kunst, Basel, 1502,

in

Strassburg, 1904, Heiligen

Leipzig, 1908, Band I, S. 46 soll auch im V. Bd. davon

die Rede sein,

Da6 Buch ist mir vorläufig

65 Dauid secundum carnem natum now credit regem et ArrianM^1 deo vnigenito naturalem nititwr seruitutewi proinde nori experietwr regem a quo per fidem regatwr. sed a quo pro infidelitatis crimine puniatwr. quia ab vno diuinitatiÄ et ab altero veritas carnis denegätwr. Als hereticus et seismaticus — einmal ebenfalls in der Gesellschaft der Arianer, das andremal in derjenigen der Montanisten und Apolinarier — tritt Mani auch in dem grossen griechischen Florilegium von ca 700 auf, das Franz Diekamp unter dem Titel Doctrina Patrum de Incarnatione Verbi (Münster, 1907) vollständig veröffentlicht hat. 2 Es handelt sich um zwei kurze Auszüge aus Briefen Manis, die längst durch Fabricius in seiner Bibliotheca Graeca bekannt gemacht waren (Fabricius-Harles, VII, 1801, 315—16), dort aber ganz aus dem Zusammenhang gerissen und daher so gut wie unverständlich waren. Diekamps Ausgabe gibt sie ausserdem in so verbesserter Textgestalt, dass wir z. B. Kesslers Urteil über diese Briefe (Mani 173 ff.) ruhig ad acta legen dürfen. Das erste Fragment steht im 9. Kapitel 3 des Florilegiums (Diekamp 58ff.), das von den zwei Naturen Christi handelt. Es lautet (l. c. 6 4 ) : Mctvou TOU lauffapoö4 ex Tr^q Trpöq Kövbapov Xapai ung. örhely. 3 Stud. §i doc. V, 17. 1 Uric. XIV, 360. IBN BIBI, ed. Houtsma. Recueil IV, 15. " MUHAMMAD I B R A H I M . Recueil I I .

Arslän

| selc.

osm. cag.

,der L ö w e ' U m nur 6

TIKTIN. einige Arslan

72 Xän | Apacaaii-ona,1 KHH3b IIoAOBeitKifl 1103 | Arslan2 1320, 1323 in Turkestan | ostturk. Ac.ian-6eKt3 ON; bei Jarkend. Azgir. „ÄOHIJII Ä3nipH. BHyua lIypH" 1607 ,Azghir nepoatele lui Ciurea.' 4 Auch der Name Cura ist, wie wir unten sehen werden, wahrscheinlich türkisch. Den Namen Azgir können wir bei den Türken nicht nachweisen, indes machen andere Umstände seinen türkischen Ursprung sehr wahrscheinlich. Es gibt im Türkischen ein Verb, kirg. azyyr- ^ öag. azyir- ,in die Irre führen; schlechten R a t geben, verführen'. Von formalem Gesichtspunkt aus könnte der Name Azgir die 2. Sg. Imperat. dieses Verbs sein. Wir müssen aber wohl eher glauben, dass er eine Ableitung von kirg. cag. OT. ad. kum. osm. kar. az ,klein, unbedeutend, gering, wenig' ^ kipc. az ,wenig' H O U T S M A mit dem Suffix -yyr, -gir, -yur, -gür {-yar, -gär) ist. az hat viele Ableitungen (Deminutiva): alttürk. azia,5 kas. krm. kar. azyyna, alttürk. azkyja,6 kipß. azaöyk H O U T S M A . Auch die Derivativa auf -yyr, -gir sind recht häufig, auch in Eigennamen. Z.B. kirg. Alsayyr.' tob. Alcyyyrs (vgl. possessio Alchy 9 10 11 1324, praed. Alchy 1421, villa Alchi 1230 < al + cy, ,rötlich, 12 | kkirg. Köksägär13 (vgl. Kökcä ON,14 Kökcä eine Unterabteilung der 15 Tekke-Turkmenen < kök + cä ,bläulich' | selc. Karayyr im XIII. Jh. 16 | auch beim Dingwort: kirg. Kemängär17 < kemän ,ein Filzrock'. Das Wort az spielt auch als Eigenname eine selbständige Rolle: Az Dorf in der Krim. In Komposita häufig: Az Otuz Dorf auf der Kertscher Halbinsel; 18 osm. Asöxra 1432,10 cuw. Asaxiian.. 20 1 2 3 I

HOB. jlaBp. CHWOLSON, Syr.-nestorianische Grabinschr. aus Semirjetschie N . F . No. 87, 93 usw. K J A P XX. Uric. XVIII. 255.

S

THOMSEN, Turcica,

6

THOMSEN,

Inscr.

13.

28.

7

Pr. III, 79, 134. Pr. IV, 202. 9 Anjou Okmt. II, 115. Kom. Szolnok. 10 CSÄNKI, II, 98. Kom. Krassö. II W. I, 281. " Für das Schwanken der Suffixe -cy und -ca vgl. W. BANG, Vom Köktürk. iOsm. I, 17. 13 Pr. V, 220 (Übs.). 14 in Chiwa. WOOD, Journ. of the Roy. Geogr. Soc. 1872. Map. 15 VÄMBkRY, A török faj 477. 8

16

MUH. IBRÄHIM. R e c u e i l

17

Pr. III, 50. Krima III.

18 18 2,1

BOGDAN, Rel. MAGNIZKIJ.

10.

II,

1G2.

73 B a y . Alttürk. osm. cag. bai ^ alt. tel. pai ( > cuv. pujan Paas.) ,reich; der Held, der Anführer.' Als Eigenname — besonders in Komposita — von weiter Verbreitung. Ausser den von G O M B O C Z 1 zitierten Beispielen vgl. noch folgende, die die Rolle eines selbständigen EN zeigen: KaHxaHt;2 cuv. IlyaHi.3 Als petschenegischer oder kumanischer Dorfname ( bulg. ßajaöaHi 1. ,grand, gros; un grand epervier' D U V E R N O I S . 2. HMH coöcTBeHHoe pasßoÄHHKa DUVERNOIS.9

Im

Bulgarischen als

PN

bedeutet es nach W E I G A N D ,Dicksack'. Diese, bzw. die Bedeutung ,large, huge' macht wahrscheinlich, dass der walachische Name eher aus dem Kumanischen oder Tatarischen stammt. Für seinen Gebrauch als türkischer PN vgl. selc. ¿M; ^ Melik Balaban.10 Wir finden ihn auch unter den kirgisischen Kurgannamen, die am meisten ursprüngliche PN sind: Ea-ianam. 11 Auch B O G D A N teilt aus dem Jahre 1432 eine Urkunde mit, 12 wo von einigen „comandanfii turci" die Rede ist: „Ä36tfra ii Kapaia 6 i r h BajiaßaH 6i>r," 1

Ärpädkori Arpaden) 45. 2 3

török

siemelyneveink

(=

Unsere

türk. P N aus

dem

Zeitalter der

BABTHOLD, Typttecrairi. B-L en. itoiir. nainecTßin, 149. Magnizkij.

" CSÄNKI II, 98. 5

CSANKI V , 2 0 8 ,

6

CSÄNKI V ,

7

HOUTSMA, 2 6 , 2 8 ;

151.

70-71. GOMBOCZ,

Ärpädkori

tör. szemelyneveink

5—8.

8

D a m i t verwandte Bedeutungsreihe: kirg. karsyga, CTapuH, j h h n h ; Jicrpefii,, COKO.H. ( = alt, klug; Habicht, Falke) A a u t e b -l, MaTep. no KasaR-Mpr. aanBy, 1 2 8 ' 0

Die bulg. Rufnamen. Jber. d. Inst. Rum. Spr. X X V I - I X ,

10

IBN BIBI, Recueil IV, 12.

11

Südlich von Turgai. KJAI 1 X I .

12

Rel. 40.

167.

74 Unsere walachischen Belege sind: Bäläbänesti sat in jud. Tutova. 1 Ba^aöaH 7141 ( = 1653). 2 Balyk. uig. osm. krm. kum. kirg. balyk ^ alt. tel. leb. sag. palyk ,der Fisch'. 1392 spielt in der Moldau der Bojar Balek eine Rolle.3 Nach J I R E C E K 4 herrschte im XIY. Jh. am Donaudelta eine Dynastie kumanischen Ursprungs; „zuerst wird 1346 der Fürst Balikas [?] (dpxwv MTraXiKaq). . . genannt; sein Name ist ohne Zweifel das türk. balyk." Dass MTraXiKa? dem PN Balyk entspräche, ist nur wahrscheinlich, aber dass der Name ganz der Psychologie der türkischen Namengebung entspricht, zeigt der Umstand, dass Fischnamen recht oft als PN vorkommen, z. B. Cabak," Cortanferner die genauen türkischen Analogien: Balyk uig. PNT | Vpoi. ßaiHK-öaä ON8 < BalykBai PN | Kutluy Balyk (kutluy .glücklich') aus der Zeit Dsingis Khans 9 | KapaöaAyKi-, KHH3& opAbmcKifi 137810 (vgl. kas. kara balyk .die Schleiche'). | Auch bei den Öuvasen kommt er vor, seine Lautform zeigt indes (vgl. öuv. pulä PAAS.), dass er von den Kasantartaren kam: E a j i r a , üajiHKi.11 | Eine Unterabteilung des Stammes Kypcak aus der kirgisischen Horde Orta-güs trägt den Namen Karabalyk.12 Bilik. Bilic locuitor 1490 Suceava. 1 ' Nomen verbale des bei den Türken allgemein verbreiteten Verbs bil- ,wissen, kennen; können, vermögen'.14 Die Bedeutungen des Wortes bilig, bilik selbst sind: ,das Wissen, die Weisheit; die Regierung, das Reich.1'"' W. B A N G hat (Uigurica II. S. 14) auf Grund der sog. Nidäna-Reihe (az bilig = az qylynö) noch die Bedeutung „beabsichtigte Handlung" festgestellt. 16 Den historischen PN ¿U. Bilik kennt auch H O U T S M A . Wahrscheinlich gehört hieher auch der aus dem Namen Haan BiUEOKOBum. I s 3 4 5 6 7 8

BOGDAN, D § M II, 65. GHIB. III, 186. WICSENHAUSER, Molda 1, 171. Überreste 14 N y K X L VI, 126. Siehe unten. RADLOFF, Uig. Schriftstücke. Abh Bayr. Ak. Wies. X X I V . I, 184. KJAP X. In Chiva.

" RASIDEDDIN-BEREZIN III, 52 (Tpyj,n ß o c r . OTjvki. XV.). AiTon. ABpaaMKH. IICP.l. XVI, 106.

10 II

12 15

MAGNIZKIJ. .leBUIHHt, OnHC. Knpi'H3B-Ka3aH!>HXT> III, 10. BOGDAN, D § M I, 4'29.

11

W. BANG folgert aus den l'Ac. Roy. Belg. 1912. 355—56. ,r

Kontexten

auch

' Vgl. aus dem X I . Jh. MK. I, 3 2 3 : • 'KI, = Beglük). — Andere PN-Ableitungen des Verbs bil- sind z. B. uig. Bilir-, kum. Beler2 ( < Bilir) 1292. Aus seinem Reflexivum ( b i l i n - ) kennen wir den P N vom Charakter eines Nomen verbale: BHJHHMI, ltoeii. EepeHAieBT. 6701 ( = 1 1 9 3 ) . 3 Bolsun. „7010 [ = 1 5 0 2 ] . . . AYXOBHHK AHAOHIE ÖOÄCÜH." 4 | BO^CKHB 1502.5 Der P N Bolsun ist die Form der 3. Sg. Imperativi des Verbs alttürk. cag. tar. kir. bol- ^ kaz. bul- ^ cuv. pul- Paas. ^ neueres osm. ol- ,sein werden'. Verschiedene Formen dieses Verbs kommen als P N vor, z. B. Balmaz BaflcLiHi kirg. Kurganname; I.lH^a.m-BaHcyHT. ON; 13 in Ungarn: iniidelem nostrum Boyzen nomine 124914 Boyzim 1251 ;15 poss. Bayzinfalva 1425 1(5 im Kom. Somogy, das heutige Böszenfa | tokta- ,anhalten, halten' > Togdasin Bek kirgishöfding.11 In seinem Aufsatz „Debreczen nevenek eredete"18 ( = Ursprung des Namens Debreczen) führt J. N E M E T H mehrere solche Namen an. Diese, die in die Namenmystik gehören, können ihre Existenz dem Glauben verdanken, wonach „der Name als gutes Omen dazu berufen ist, das zukünftige Schicksal des Kindes zu bestimmen. So entstehen 1

polowzischer Fürst. IIOB. HII.

2

GOMBOCZ, op. cit. S. 33.

3

n . C. P . A . I I , 142. Vgl. sele. Sevin5,

4

Letopise^ul lui Azarie, ed. BOGDAN, 95.

/imnj. (Recueil I I , 201; I, 302 usw.)

BOGDAN, Vechile Cronice Moldovenesci pänä la Urechia 33, 120. S

GOMBOCZ, a. a. S. 28.

7

MAGNIZKIJ.

8

LEVCHINE-PIGNY, Deecription des Hördes et des steppes des Kirghiz-Kazaks, 146.

u

AaeKiopoBi, yKa3aTe.1t... Kuprasoirb, 162.

10 K J A P . X I , 11

XIX.

FEJGR, C. D. V/3, 60.

"

KJAP. XI.

13

^,HBaeBi, AanaMHfflt-BaTHpi., 3.

"

W . V I I , 282.

15

W . V I I , 320.

16

CSÄNKI I I , 588.

17

HEDIN, En färd genom As. I, 172.

18

Klebelsberg-Emlekk. 140—141.

76 die . . . auf die Schicksal Wendung anspielenden Namen",1 z. B. Debresin er möge sich bewegen, leben', Doysun ,er möge zur Welt kommen' (wenn nämlich das Kind schwer zur Welt kommt). Borcul. „naHa Boypiiwa KOMiica" 14422 | n. öopiwia 1448.3 Das Suffix -ul kommt in vielen walachischen Namen vor. Viele wollen es mit dem bestimmten Artikel identifizieren, nach W E I G A N D aber muss dort „wo man -ul findet, . . . Lehngut sein . . . In PN auf -ul finden wir die big. oder srb. Rufnamen wieder, zu denen sich in moderner Zeit rum. Neubildungen als Familiennamen auf -escu gesellen".4 Wir finden weder den PN Borcul, noch ein als Stamm passendes Wort im Walachischen, Big. oder Srb., wohl aber eine türkische Entsprechung. Das türk. - f fällt sehr oft aus. Das -y- des uig. kum. osm. usw. oyul ,der Sohn; der Knabe, Jüngling' fiel in fast allen Dialekten nicht nur aus, sondern der entstandene Diphtong monophtongisierte sich, ja oft wurde dieser lange Vokal auch noch kurz. So leb. tub. sag. koib. kac. osm. o'ul, ö'l, öl ^ alt. tel. bar. ul ^ kas. kirg. ul. Und was das wichtigste ist, wir sehen, dass in PNKomposita nicht nur die dritte Person, Pron. poss. oylu, ölu vorkommt (Patronymikon), z. B. Biberg oylu:' (vergl. osm. biber ,Pfeffer'!), Duman oylu" Tekeoylu,' sondern auch in unflektierter Form, also als Glied einer Adjektivkomposition, z. B. krimtat 8 10 „öaThip äK'äH KoöyK yj.", urj. IIajaH-ö.i," Ka^6aK-öA. Für die selbständige 11 Anwendung s. selc. Oyul Beg. Auch bei den Namen in den Inschriften des Schatzes von Nagyszentmiklös kann „der Name Botaul. . . — wie dies bereits Thomsen auslegte — nichts anderes sein, als ,der Sohn des Bota'; die Endung birgt also das türkische Wort oyul > ul ,Sohn".12 Was nun den Namen Borcul, Burcul betrifft, ist dessen erstes Glied kum. kipc. cag. iure bulg.-türk. *burs > ung. bors) ^ cuv. psrSs PAAS. ,Pfeffer'. 1

PAIS D .

2

HURMUZAKI, 1/2, 878. BOGDAN, Contrib. 638. Das Suffix -ul in den Balkansprachen. Balkan-Archiv II, 162, 164. NyK. X X I I , 119. Ebenda, noch viele Beispiele. GIESE, Anatolische Lieder, 70. Pr. VII, 157. Pr. IX, 40. Pr. IX, 54. IBN BTBT, Eecueil III, 193; IV. 87. NEMETH, Zur Kenntnis der Petschenegen KCsA. 1, 2Ü5.

3 4

» • 7 8

• 10

" 12

MNy.

XVIII,

96.

I I

Hierher gehören die PN cuvv. Ü H n u c T a f l 1 ( - t a i suff. com.), cuv. ( < misär? tatar.?) Eypiueä,2 ferner der bei A N O N Y M U S erwähnte Borsu, Bors (= Borsu, Bors) „dux Cumanorum". 8 Die türkischen Geschlechts- und Stammesnamen kommen als PN und umgekehrt häufig vor. (Vgl. Toksaba, Curtan, Durman, Itaba usw.) Solch ein Name ist wohl auch Burcul. Auch von historischem Gesichtspunkt aus ist dieser Name interessant, da er im Spiegel der Geschichte eines kleineren Stammes sehr auffällig ein sich bei den Türken so oft wiederholende Geschehen — die Auflösung, die Irrfahrt nach Westen und Osten — beweist; in diesem Falle die Zerstreuung des kumanischen Ethnikums. Die Herrschaft der Kumanen wurde von dem an den Nordufern des Schwarzen Meers wohnenden, mit dem Namen Kipöak bezeichneten türkischen Stammkonglomerat abgelöst; auch die dort verbliebenen Teile der Kumanen gehörten gewiss hierher. In der Kosmographie des § A M S A D - D 1 N A D - D I M A S K I 4 lesen wir, die Kipcaken „bestehen aus einer Anzahl von Horden, die sämtlich Türken sind, nämlich: ijCt Bärgü, Toksapa [o: Toksaba], Itapa l^.I, Barat ¿ v ; [nicht Barak '¿'J.?]" Il-äris uo'Vi, B u r g o y I u j y , Mingür-OYlu ijüi jyCi., Jimäk >sk. Diese sind bereits' Chwärizmier geworden (d. h. nach Chwärizm verpflanzt)." Wenn wir jetzt beachten, dass zur Bezeichnung des ihnen fehlenden c die arabischen Geographen 3 anwandten, so handelt es sich hier um den Stamm Burö-oylu. Ein Teil davon kam wahrscheinlich zur Zeit des Mongoleneinfalls nach Ungarn, wo ihn Urkunden von den Jahren 1266 und 1288 erwähnen: „Keyran Dominus de Cumanis de genere Borchol"6 und „Keyran de genere Borchovl".7 Der in Kipöak verbliebene Teil kam später nach Khwärizm, viele aber wurden, wie D I M A S K I schreibt, nach Ägypten und Syrien in die Sklaverei verkauft. In Ägypten wiederholt es sich gleichfalls — charakteristisch für die Türken —, dass die Sklavenminderheiten Herren werden. H A M M E R erwähnt,® Mansar, der Mamelukensultan, der 1279 Ägyptens Herrscher wurde, stamme von den kipöakischen Burö-oylu ab. Zwei viel frühere Belege der russischen Annalen hängen mit demselben Stammnamen zusammen. 1096 erwähnt 1

MAGNIZKIJ.

2

Ebenda.

3

10, 18, 34, 35, 57. §. ed. MEHREN, p. n t = 382 der französ. Übers. Nur nach MARKWART (Über das Volkstum der Romanen S. 157) kann ich zitieren. 4

5

Vgl, EapaK'T, KM3B IIo.ioBenKiH 1185, IIOB. Tlasp. • GYARFÄS, A jäszkünok tört. II, 418. 7 PESTY-ORTVAY. Temesm. tört. IV, 6. 8 Gesch. d. Ilchanen 1, 310.

78 die Chronik TTOB. ./laisp. B y p i e B H M b . einen polowzischen Fürsten. Die Bedeutung dieses Patronymikons ist: Buri-oylu. Der andere Beleg stammt von 1193:1 „no E y p i e B i m a , no Oco^yKa H no H3aa." — „ßypneBHTO..Endlich kommt dieser Stammname als P N auch in der Moldau vor, was auch von dem u. e. Beispiel Toksaba gestützt wird. Bucuk. Nur in Urkunden aus der Moldau: Buciuc Pärcälab de Hotin 15862 | Bocloc vel cea§nic 16073 | dann als Familienname: Stolnicul Miron Bucioc 1647, 16584 < osm. bucuk ^ krm. buluk, ,Halb, die Hälfte' ^ gagauz bucuk ,no.iTopa, e t HOAOBHHOÜ' M O S K O V . 5 Vgl. „ByHiOKt: Bt jfcTO 6985 = [1477] khh3b BejHKH noc.ia TaTapcKoro ByTOKy".6 In Ungarn: Buchuk 122V Ein Name analoger Bedeutung z. B. öuv. %HMKa8 < kas jararn ,halb, die Hälfte'. Buga, Buka. < alttürk. tar. kirg. buka ^ cag. bu^a ^ osm. kom. boya ,der Stier'. Sehr verbreiteter Name. In Ungarn im Kom. Krasso wahrscheinlich walachischer Knes war „Michael dictus Buka in villa Gylelues" 13709 | Etfra 1583 in der Moldau10 | Yasilie Buga 1698 in der Moldau11 | Buga Väsiiü 1743 in Märamarosch.12 Auch sonst finden wir — auch abgesehen von den zusammengesetzten P N — Beispiele dafür: Buga von dem Geschlechte Orocha in Ungarn 123713 | Buka ein Urahne der Türken" | nach R A S I D E D D T N 1 " war im X I I I . Jh. einer im Stamm Dselair, zur Zeit des Dsingis Khan spielte im kirgisischen Krieg ein anderer eine Rolle [ uig, Puga (o : Buga) | selc. fc* Bu^a im X I I I . Jh.17 | Buka 133918 | Asösra 1432.18 Buga impetitor 1222.20 S. noch unten Katlabuka. 1

HOB. HN.

2

Uric. I I , 259.

3

Stud.

4

ROSETTI, Cron. Vascanilor 21, 28.

doc. V , 11.

5

Pr. X . V g l . MAHMUD AL KÄS^-ÄRI (1, 315): . ¿ ^ I k j L i / J x . ' j j r ' — ¿Je'

0

JÜTOII. no Bocicpec. cu. IICP.l. V I I I , 183.

7

Reus. Regestrum Varadinense.

S

MAGNIZKIJ.

» Hurmuzaki 1/2, 165. „

10

Uric. X V I I I , 195.

11

Uric. X I , 218.

12

Stud

13

KARÄCSONYI, A magy. nemzetsegek tört. I, 132.

?i

doc. X V I I , 149.

"

VÄMBßEV, A török f a j 3.

,r '

ed. BEBEZIN I , 40. TpyÄH BOCT. OTAIUI.

16

RADLOFF, Altuig. Sprachpr. (KLEMENTZ, Nacbr. S. 59).

17

IHN BIßT, Recueil I V , 295.

18

CHWOLSON, Syr.-nestor. Grabinschr. N . F. N o . 174.

' » BOGDAN, Rel. 40. 20

Regestrum Varadinense.

( = id.)

79 Buldur. Ein in vvalachischen historischen Quellen häufiger Name. Um nur die wichtigsten Belege zu erwähnen: 1443: iiauî. HBaH[ï>| EcuAopï.1 | 1467: Boldor Schatzmeister in der Moldau 2 | 1479—91: Bo^oypa BHCTApHHKa, Bo-i^yp Be.i. HHCT.s | 1487: IJ^HraHe Ha niai; Eo.1¿opi, 4 | 1493—99: Eo-i^op I Î O P H H K 5 | 1497: rocnoAHH uocvia öoJAoypa AßopHHKa6 | 1497: Boldor vornik 7 | 1497: Boldur vornicul 8 | 1499: Boldor vornic 9 | 1546: Michail Boldur10 | 1617: Boldur diac 11 | in 12 ON der Moldau,1 1803: Boldurestil

138

Ajtony;

"baltyrYan

>

bojtorjän;

saldit 'X-. sajdit

MELICH, E g y f e j e z e t a t ö r t . m a g y . h a n g t a n b ö l N y K . X L I V , 8

.erwerben': Kül

Tägin

är

at

erworben'. A l t t ü r k . Inschr. N . F. 1 3 8 ; erreichen'. 9 10

s. o. u n t e r

Bolsun.

K S z . I I , 118.

11

Pr. I I ,

12

P r . V, 1 1 8 Ü b s .

13

Pr. III,

155. 75.

buldy

,Kül-Tägin

osm. arajyp

bul-

hat

eejdit.

346—347. den

.suchen

N a m e n eines Helden

und

finden;

sein

Ziel

81 Ky^ropi. (= Küldür) Hepnufi K-ioGyict 1183.1 Auch in den ON der kleinasiatischen Türken sind solche Imperative häufig: Caldyr tayy < caldyr,laisser voler- faire sonner' D I R . - K E L . ; Cyldyr bozduryan^>] bozdoyan. Aber nicht nur das Kausativ bozdur-, sondern auch das Nomen actoris des als Stamm dienenden Verbs boz- ^ buz- kommt als Wort und PN vor, und zwar bei den ungarländischen Kumanen. Ung. buzogäny ,Streitkolben' ist sicher aus kum. *buzgan übernommen, wie auch die Namen „Buzknn filio Arbuz" 13334 Büzganzallas (zallas = szälläs, ,descensus') 1423r> kumanischen;Ursprungs sind. Unsere Belege walachischer PN sind folgende: & IIIO$PI>H4HH 6 7 7024 ( = 1516) | EitafliraH 1570. | Petru, nepotul de fiü al lui Buzdugan 1609.8 | Dann aus PN zum Familiennamen entwickelt: Bacu^ie B ciortanicä, wenn er nicht schwerer als 1—5 kg und nicht länger als 30 cm ist.® Als PN: kirg. Sortan Bai4 | Dominicus dictus Chortan 13145 | Geschlechtsname: Kumcheg capitaneus Comanorum generationis Cherthan 1347° | Comanorum nostrorum generationis Chertan 13677 | Vgl. Dionisius filius Chwka de Lopathaka 1406 (ung. csuka ,Hecht') 8 | Paulus dictus Chuka capitaneus Comanorum 1384.9 Meine hierhergehörigen Belege aus rumänischen Urkunden sind: HBANIKO

6956

HOPTAH

( =

1448)10

| IwHa 'LOPTAHA,

CHMH

HOPTAFIA

7037

| Joan, Silion und Bälo§ Ciortan 1 5 4 6 1 2 | Curtan den Once§t[i] 1 6 2 1 1 3 | Nicula Lupul Ciortan 1 7 6 9 . 1 4 Cura. Schon 1442 kommt in der Moldau ^opa 15 vor, dann 1488 „ce.io Ha HM4 ^ope^n]" ; nach B O G D A N 1 ' „sat pe Tutova, azi mo§ie în jud. Tutova". Möglicherweise hängt aber dieser Name mit rum. clora ,Krähe (corvus cornix, corvus frugilegus)' T I K T I N 1 7 zusammen. 1529)

( =

1 2 3 I FI 8

11

N y K . X L V I , 126. Pescäria si pescuitul in Romania, 777. ST. GYÖRFFYB freundliche Mitteilung. Pr. III, 43. PESTY-OHTVAV, Temesm. tört. IV, 70. Zichy Okmt. II, 268—69.

7

GYARFÄS,

8

PESTY, A Bzörenyvm. hajdani olâh kerületek, 54.

• GYARFÄS,

.

III,

503.

III, 507,

10

BOGDAN,

Contrib.

II

GHIB.

230.

1,

508. la ist.

mold.

10-11,

638.

1S

ISTRATI, Biserica si podul din Borzesci, 265. (Anal. Ac. Rom. Ser. II. Tom. XXVI.)

13

BIANU,

14

Urie. XVII, 351.

15

HURMUZAKI

16

DOC. R o m .

1/2,

I,

63.

878.

DÇM. I, 3 6 3 - 6 4 . 17 Über dieses W o r t sagt DENSUSIANU: „Le frioul sore .corneille' ne doit pas être séparé du roum. cioarâ (comp, cuora à Rovigno, Gallesano, cola à Pirano) . . . le frioulan et le roumain vont ensemble avec l'albanais qui donne aussi une forme sem-

85 Es gibt indes einen anderen Namen: „ A O H U H A^nipn. BHVIIII lIypi1 t j ^ Gera und Cera-batyr in kasantat. Heldenliedern6 | krm. Hopa-6aTïjprb7 | kkirg. Djura Bek fursta 8 | ^œypa-ôeKt9 | kirg. IIIypa-fiaTLipT.10 | öuv. tat. Baflqypa, Biflqypa, BifKiypa, Hypaöafl, Kapaiypa, Toiciypa, lypaöaTHpi 11 usw. Jusuf Akëura, Redakteur des Türk Jurdu bis 1918. || In ON turkm'lypa (Kurgan) bei der Bucht Mertvyj Kultuk 12 | Kö^qypa misärisches Dorf im Gouv. Saratov. 13 Ak Cora, zwei Dörfer auf der Krim.14 In Ungarn: Blasius de Chura 1371 ;15 Chyura 1444 gehörte zum walachischen Distrikt von Zsidövar 16 Der Name Cora, Cura ist im Türkischen altes persisches, bzw. in Baskirischen und Öuvasischen neueres tatarisches Lw. Für das persische Wort s. S T E I N G A S S : „ . ^ churra (for jurra .active, quick; moderatesized, neither läge nor small ; a common name for any male bird or beast, but particularly of a male f a l c o n (used metaphorically for a hero or brave man).' Das deckt also ungefähr den im Cod. Cum. blable, sore . . . il nous est bien difficile d'expliquer ce mot; il est cependant évidpnt, que toutes les formes citées doivent remonter à un même prototype." (Hist. de la langue roum. 231). 1 Uric. XVIII. 261. 2 In alttürk. Inschriften am Talas kommen die Namen Kara-öura und Cura vor? Nach NÉMETHS Behauptung kann das -a auch Worttrenner sein. Müssen wir daher iur lesen? (KCsA. II, 137, 140). 3

SMYRNOV, L e s p o p u l a t i o n s

4

dat.

fem. sing, - i ,

HCTOHH. ÄJIH IIAYIEHIFL T a p x a H C T B a 5

finnoises,

daher der 20.

3an.

J13B. 0 6 m .

7

Pr. VII, 124—131. HEDIN, En färd genom As. I, 66. Ü3B. PyccK. Ak. HayKb 1921, 196. A j r e K T o p o B i , 295,

9 10 11

MAGN.

12

KJAP. X.

13

Ü3B.

Apx.

H u r i . Ka3aHCK. J'HHB. X V ,

0 6 m - A p x . IIMII. K a 3 . YIIHB. X I X ,

11

Krima VIII, III. is p E S T Y j Krassô m. tört. III, I I I . l

lypa.

JAH.

IV.

ebd. 15.

6

8

279.

Nom.:

« CSÄNKI,

II,

15.

286.

134.

Be.IBAMHHOBB-3epKOBB,

86 mit mittellatein. terzororius wiedergegebenen Sinn. Terzororius selbst finde ich in mittellateinischen Wörterbüchern nicht. G É Z A K U U N zieht es zu ital. terzuolo (Cod. Cum. 377), worüber T O M M A S E O - B E L L I N I S Lexikon, wie folgt, schreibt: ,Nome del maschio di alcuni uccelli di preda, e ciò, secondo alcuni, per essere il terzo minore della fehimina, ovvero perchè de'tre che per lo più nascono in una nidiata, questo è minore e l'ultimo a nascere'. In der gegebenen Phraseologie bezieht sich das auf astori, falconi und accipitri. Dormán. „/í/ma HeTpa 4PrtMaHa" 14991 | „[cejo] Ha ÍKeaú'u Ha HMt /JpwbHemn" 14992 | Därman capitan 1563 Birlad 2 | Jonasco Därman 1636 in Urkunden aus Jassy. 4 Nomen verbale auf -man (s.u. Kurman und NyK XLVI, 135). Ableitung des Verbs osm. krm. dur- ^ gagauz. dur- MOSKOV ^ in anderen Dialekten tur-, dessen Bedeutungen: ,stehen, aufstehen; stehen bleiben, nicht weiter gehen, anhalten; sich befinden, leben, wohnen, sind. Als Stammname, PN und ON sehen wir ihn in folgenden Belegen: „fideles Transsiluanos unacum Cumanis nostris contra Dormanum et Búlgaros misissemus" 1285.a Dormán war ein dem bulgarischen Zaren Terterij untergebener Wojwode im Gebiete von Barancs=Branitschewo 6 1 Johannis dicti dormán vicecastellani de Crassofew 13647 | „the Jelairs and Dormans were Turkish tribes living among the Mongols" 8 | im XV. Jh. gab es in Ungarn Dormán und Dormánháza, heute noch Dormánd9 | 1477 spielt auch eine Familie Dormánházi Dormán eine Rolle101 Durman aul war von Chiwa 50 Km nördlich11 | Turman ein Dorf in der Nord-Krim.12 Für den Lautwandel -u- > wal. -ä- vgl. T I K T I N , Rum. Elementarbuch, § 77. Karaca. In den Dörfern Ör und Szopor des Kom. Kolozs spielt 1469 mit den Wojwoden Szubasa, Harambasa und Jaurank auch Karacsa eine Rolle." 1

BOGDAN, D § M .

2

ebd. II, 167. Nach BOGDAN gab es zwei Därmänesti Stud. doc. V, 4. Urie. X, 46.

3 1

II,

166.

5

GYARFÁS, I I ,

E

ZLATARSKI, Gesch. d. Bulg. I, 151.

7

HURMUZAKI,

8

HOWORTH, Hist. of Mongols II, 13.

451. 1/2:88.

» CSÁNKI, I, 5 8 ; I, 10 11 12 13

447.

ebd. I, 77. Peterm. Mitt. 1887. Taf. 12. Krima III. CSÁNKI V ,

504.

87

Das ist eins mit osm. karaga ,somewhat black, dark, dusky, swarthy, ^ krm. karaga ,schwärzlich, schwarz' R A D L . , denen Gebrauch als türk. PN oder aus PN entwickelten ON u. a. folgende Beispiele & ir*>J Hermis ihn Karaga* beweisen: selc. boyuk .heiser, dumpf, erstickt') nur in dem ganz entfernten Teleutischen entwickelt und hat auch dort eine ganz isolierte Bedeutung. 18

88 *katlu (vgl- kirg. kum. katty ,hart, steif, rauh; heftig, grausam ; grob, stark') < *kat (,Festigkeit'?) < *ka- « sor. sag. kac. kal .grob')? 1 In ungarischen Urkunden kommt der PN und Besitzname Katlu > Katl bald vokalisch, bald konsonantisch auslautend, auch selbständig vor: Katl Opus' des Györer Kanonikus Bruder 12102 | in predio Katlu 1210 ebd. | ex donacione Catlu 12203 | Ambrosius pater eiusdem Catlu; terram Catlu 12214 | villa de Catl 1226.'1 Alttiirk. tar. kirg. buka ^ cag. buya ^ osm. kum. boya ,der Stier', ist ein sehr häufiger PN. Katlabuka ist daher ein Name wie u_iy Tusbo^a (vgl. tus ,gross, stark') H O U T S M A . Kazan. Erst PN, dann Familienname. Daneben frühes Lehnwort ; Bedeutung ,Koch-, Dampfkessel'. T I K T I N < osm. cag. kum. krm. bar. kazan, ,der Kessel' ^ cuv. Xuran PAAS. id. Früher als türkischer P N sehr verbreitet, auch heute noch, z. B. „Kazan, der Scholasticus", XII—XIV. Jh. 6 | kaz. Ka3aH%, Ka3aH6afi, Ka3aHAaftT | èuv. Xopams.* In walachischen Urkunden: K a 3 a H t CTO.IHJIKŒ. (lui Dan II) 1431° | Ka3aiT6 BiicTHHp 1450" | Ka3aH CaxaKOR 145611 | Ka3aH JLuurcpeT 6976 ( = 1468)12 | Kt3aH[0B] 7018 ( = 1510)13 | Cäzan Postelnicul 1612.14 Korman. War 1516 im walachischen Distrikt von Haczak (Hâtszeg) Knes.15 Früher konnte man auch denken, nach Analogie von kara-man ,très brun', kodga-man,énorme'16 mit dem Suffix -man stamme es von kyr ,gris, grisâtre' ab.17 Wenn wir aber die unten angeführten türkischen Eigennamen betrachten, ist es doch sehr wahrscheinlich, dass es deverbal gebildet ist (s. vorher Dorman) und aus uig. osm. cag. kum. kur- aufstellen, einrichten, herrichten, spannen (einen Bogen)' stammt. 18 Diese Annahme bestätigt auch noch eine Angabe M A H M U D 1

Vgl. *ttja- > ujat ,Scham, Schande', ujat- ,ßich schämen' BANG, Das neg. Verb,

d. T ü r k s p . S B A W . 2 3 I 5 6

1923,

7

MAGN.

8

Ebd.

• BOGDAN, Rel. 1U II

1 2 7 ; BÄLINT,

Kaz.-tatâr

nyt.

26.

W. I, 105 mit mehreren türk. Namen. W. I, 166. W. I, 172. W. I, 216 CHWOLSON, Syr.-nestor. Grabinschr. aus Semirietschie N. F. No. 271.

33.

Ebd. 271, 277, 286. Arch. ist. I, 142.

12

GHIB.

13

Ebd. 323, 324.

11

BIANU,

15

CSÂNKI, V ,

I,

283.

DOC. I ,

17.

244.

"

DENY,

17

GOMBOCZ; Rev. des études liongr. et f. ougr. III, 8. 1925. NyK. XLV1 (1923), 135. .

1S

Gr. turque,

326.

89 AI.-KASTAR!S: 1 JI^I». J • ' U - — ' O U ^ I „kurman — in der Sprache der Ghuzen und Kypcaken ,miqvas"' ( = Bogenfutteral, Köcher, Barriere-Strick beim Wettrennen; Rennbahn W A H R M U N D ) also etwas, was man einrichtet, aufstellt (vgl. Cod. Cum. talasman ,praedo' < talas- ,sich gegenüber fortreissen, zanken, kämpfen'). Auch in anderen ungarischen Urkunden kommt vor: Stephanus filius Kurman 1323.2 Ist er zwar bei den „Jazones fideles nostri" erwähnt, so bekräftigen sein Kumanentum andere türkische in eben dieser Urkunde vorkommende Namen. Denselben Ursprung hat der Name des in Gross-Eumanien, von Karcag (Kom. Szolnok) ein wenig südöstlich liegenden Kormäncsok laponyag (-¿uk dem. Suffix; lapo4 nyag ,kleiner Hügel'). Vgl. noch: kirg. Kurman* | KoyiiaHt noca^H. IlcKOÖcKiü 1342 5 | kirg. Kurmanbai6 | Kurmanbajev7 | Maral Kurmanov8 | Kurman eine Unterabteilung des Stammes Maskar (aus der Horde Kisi-jüs) 9 | Adsu Kurman ein Geschlecht des Busurman-Völkchens in Mongolien10 | Kurmantaj ein kleinerer Kirgisenstamm westlich von der Stadt Turkestan 10 | als Kurganname auch in Sibirien 52° 30' n. B.11 — Eine andere Ableitung des zitierten Verbs ist z. B. Kurmys, der Name einer barabatat. Aul.12 Kuman, Koman und T a t a r . Der Volksname Kuman, Koman als PN kommt in jeder sozialen Schicht des Walachentums, als ON in der Moldau, der Walachei und auf dem ganzen Gebiet der walachischen Siedlung in Ungarn vor. Die Ortsnamen führt L A H O V A R I S Werk 13 an, daher zitiere ich hier nur PN und einige ON sicheren Ursprungs aus PN Ich bemerke noch, dass als PN, ON, sowie als Stamm eines ON Kuman auch in Bulgarien, ja in Mazedonien vorkommt.14 1

I, 3 7 0 .

2

GYAHFÄS, I I I , 4 6 3 .

* Auf Militärkarten. Schon seit 1 7 8 7 . 4

IICP./1, X V I , 77.

* P r . I I I , 77. Bei den neueren P N muss man aber auch an die Gewohnheit denken, die von PRÖHLE angeführt wird: den Namen Q'urmän

Ali gibt man gerne Knaben,

die während des Opferfestes (q'urmän-bajräm) geboren sind. (K. Sz. X , 121.) Vgl. noch karac. Orazäj 5

ebd. 1 2 6 und balkar. Ramazän

AieKTopon,

* AieKTopoBi,

487.

7

Ebd. 4 8 4 .

8

.1 e B m H H

9

RADLOFF, AUS Sibirien, I, 2 2 2 . KJAP.

XI.

» KJAP.

III.

13

(KSz. XV. 2 4 9 ) .

AofmBienie 7.

Onncame I I I , 10.

RADLOFF, A. a. 0 . I, 2 4 3 .

1:1

Marele dicfionar geografic al Jiomäniei, I — V .

14

WEIGAND, Jber. d. Inst. f. Rum. Spr.,

XXVI—XXIX;

JIRECEK, Überreste 14.

90 Auf einmal treten drei KoyMaHf> 1222—1228 im Stiftungsbrief Stephans des serbischen Königs an das Kloster von 2ica auf 1 | KoyM8.HHH 1293—13032 \*Kuman^> Kumanpataka 135831 *Koman^> Comanfalua 13694 | Komdn Knes im wal. Distrikt von Hätszeg 14245 | raast KoMara 14286 | Koman 14347 | Komänyfalva gehörte 1439 zur Stadt Vilâgos (Kom. Arad) T 1 ijnraH KoMaro 1458 8 | *Koman > K O M I H W U H 14599 | Koman Kure („boer pribeag la Braçov") 146010 | non» KoMaHö (popä in §cheii Braçovului între 1482—96) 11 | 4 a 5 n r o j l CHHB KoMaHwB 148712 | KoMama (ipraH) 148713 | KoMaH 1511" | Coman, Cuman 162315 | Coman Grigorie, Coman Mateï usw. im Kom. Mâramaros im XYIII. Jh. ie Später als Kuman, taucht auch der Volksname Tatar als PN 1468 finden wir in Szôrénység die geadelte walachische Knesfamilie Thathar (von Bizere). 17 Paiandur. acsnaH Bacüiie naiAH^yp BejnKii CTWA 7146 ( = 1668) in einer Urkunde von Târgoviçte. 18 Das anlautende p- ist mir unklar.1" Übrigens ist der Name mit dem Stammnamen Bajandur der Kimäken, Ghuzen und heutigen Turkmenen identisch. Nach M A R K W A R T 2 0 spielt vielleicht derselbe Stamm bei den Kimäken und Ghuzen eine Rolle. Zuerst erscheint er bei den Kimäken,21 dann schwindet er von da, wohl infolge des Zuges der I

HURMUZAKI, 1 / 2 .

776-777.

5

Ebd. 802. ® PESTT, Krassô m. tört. III, 32. 4 PESTY-ORTVAY, Ternes M. tört. IV, 110. 5

CSANKI, V ,

6

Arch. Ist. I, 121.

t

CSÄNKI,

7

WICKENHAUSER,

8

BOGDAN, D § M .

0

I.

156. 736. Moldawa,

I,

IS.

I, 14.

Ebd. 3 5 - 3 7 .

10

BOGDAN,

II

Ebd. 364, Indice.

Rel.

12

BÜGDAN, D § M .

13

Ebd. I, 310.

326. I,

312.

14

GHIB. I,

15

BIANU, DOC. R o m .

16

Stud. çi doc. XVII, 137—138.

17

CSÄNKI, I I , 6 , 9 0 ; P E S T Y , S z ô r é n y

18

GHIB. I, 3 5 5 ,

325. I,

108. m. t ö r t . II, 1 9 ; I I I .

82.

357.

19 Vgl. oem. bastyrma, heute vulg. pastyrma ,viande salée et séchée a.u soleil' DIR.KEI.. > wal. pastramä LÜBEL; osm. bodrnm .souterrain, cave, voûte' DIR.-KEL. > wal.

podrum,

LÖBEI..

20

Über das Volkstum der Komanen. 90, 172, 190.

21

I n der GARDËZÏ-HS. v o n C a m b r i d g e :

BAHTHOI.D v e r b e s s e r t

er

in J-V^.1;.

91 Kumanen (XI. Jh.) nach Turkestan, und erscheint bald an der Spitze des Flügels der Üc-ok der Ghuzenstämrae, 1 um später mit dem Stamm Salur weiter westlich nach Kleinasien zu gelangen. Ein Bruchteil ist gegenwärtig eine Horde der Göklen-Turkmenen, und auch in Kleinasien REDET. südöstl. von Smyrna heisst eine Stadt J - ^ I » Bajyndyr In der Aufzählung der Ghuzenstämme finden wir bei R A S Ï D E D D Ï N 2 folgendes: „ E A S H Ä Y P JXÜ.U [ i n manchen Hss. J J ^ ] T. e. T A 3 E M ^ A Bcer^a óy^en-i nciiOAHeHa fuiaro^a™" = ,dieses Land wird immer mit Segen erfüllt sein', also umschrieben (—wie auch die anderen ghuzischen Stammesnamen —) etwas wie das osm. bajyndyr ,rich and prosperous' 8 R E D H . und ôag. S E J X . S U L . (irrtümlich: J^I») * ¿¿J. * . J Í J J ¿ i " = ,glücklich, gesegnet'. Bajandur, bajyndyr ist wahrscheinlich denominale Ableitung mit dem funktionell ungeklärten Suff. ,,-dyr,-dir, -dur, -dür vom mong.-türk. bajan ^ cuv.pujan PAAS. Das h a t an sich schon von dem Namen des awarischen Khagans Bajan an eine sehr grosse Rolle als PN. (Vgl. Bajan, Bajdu's Sohn; Bajan, Kökjü's Sohn; 4 BasH^ai, riyaiTB." Kirg. Ak-Bajan;6 Balan Khan.') Das W o r t bajan stammt von bai ,reich' mit dem Suffix -an, wie oylan < oyul* Zu dem Suffix -dur vgl. noch èavdur < cav, Bat^yp^ MAGN. S u s m a n . Bei der primitiven Namengebung eines jeden Volks sind die eine Korpulenz bezeichnenden Worte von Bedeutung, so auch bei den Türken krm. kum. osm. jayly ,fett', uig. osm. kirg. semiz ,fett' und cag. kutur ,fett, dick' gehören zu unseren Beispielen für PN; 11 hieher auch osm. sisman ,dick, fett, feist, beleibt', das auch das Verbalnomen des Verbs krm. sor. kum. osm. OT. cag. kas. bar. sis- ,anschwellen' RADL., s'enfler; se gonfler; se boursouffler; se tuméfier; être engorgé, devenir gros, devenir gras' D I R . - K E L . sein, oder auch von sor. osm. sis ,angeschwollen, geschwollen' mit -man Suffix weitergebildet sein kann. (Vgl. kara ,noir' > karaman ,très brune'; kutur > Kotorman 1255. 10 ) In den meisten Ableitungen davon sind die Suffixe tieflautig: osm. sisko ,dickbäuchig', cag. sisal ,ein grosses Schaf', cag. sisuy ,die Geschwulst 1 , sart. sisak ,ein zweijähriges Schaf' ^ osm. sisik ,ein zwei1 HOUTSMA, Die Ghuzenstämme. WZKM. II, 224. • Nur Berezins russische Übersetzung kann ich zitieren. Tpyju BOCT. ÜT/rfci. V, 27. 3 Auch in der Ausgabe KUNOS' bajetdir. 4 5

T p y j i . BOCT. OIXÈJI. V ,

173,

174,

196.

MAGN.

« Pr. I I I . 227. 7 „Célébré dans les récits et chants d'amour" LEVCHINE—PIGNY, Description des . Kirghiz-Kazaks 109. 8 BANG, KSZ. XVII, 128. " S. eingehender MNy. XXIII, 279—81. 111 Cod. Dipl. Patr. VII, 49.

92 jähriges Schaf, das fett zu werden beginnt' vgl. osm. Sisik oylu PN. 1 Für den Namen Sisman stammen unsere frühesten Belege aus Bulgarien. Nach W E I G A N D 2 ist „Sisman eine der ältesten Aufnahmen aus dem Türk, ins Big. Schon Ausgangs des 14. Jh. haben wir den Zaren Sisman-, . . . Die Volkstümlichkeit dieses Namens beweisen auch die Abkürzungen Sisa, Siska, ferner die Ortsnamen: Sismanovo, Sisenci, Siskofci." Ausser diesen gibt es aber noch viele Sismans in Bulgariens mittelalterlicher Geschichte. 3 Die walachischen Belege aus der Moldau sind: IUniiiuaH 6939 ( = 1431) 4 | HiyniMaH FFI KTFPTE 6993 ( = 1485) 5 | naHtf Eapctf KOMHCX H 6para ero IlIiiinMaHtf 1470.6 | IIltfiiiMaH 1488.' In Ungarn trugen in Szörenyseg und besonders im walachischen Distrikt von Hatzak viele Knesen diesen Namen, z. B. Stefanus Susman [= Susman; s bezeichnet auch in den anderen Belegen s] de Bozas 1452 8 1 Stefani filij Sysman de Bozijas 1457 9 | Sandrinus Sysman 147010 | die Familie Sismänfi zählt CSÄNKI (II, 6) unter den geadelten Knesfamilien auf. In der Gegend von Haczak (Hätszeg): Susman 1494 11 | 1507 12 I 1511, 1514, 1519.13 Zu beachten ist noch, dass im Komitat Feier bei der ehemaligen kumanischen Siedlung von Elöszälläs das „praedium Sismdny" 170014 gelegen hat, das sicher PN-Ursprung hat. Heute Alsö- und Felsö-Sismdnd, westlich von Hercegfalva. T a m r i t a s . A u s altem moldauischen ON zu abstrahieren. TaMptTa-

6919 (== 1410) 13 | ce.IO TAIVRPTTAINHHUH 1431 16 odäi tätär§ti de la 17 Tämärtasevti > i 1 5 0 0 . Nach H A J D E U bewahrte 77„neamul tätäräsc numit

HIOBU,H

1 2 3

NyK. XX, 119. Die big. Rufnamen. Jber. d. Inst, f. Rum. Spr. XXVI—IX. 168. JIRECEK, Gesch. d. Bulg., W. VI, 29; VIII, 450.

4

GHIB.,

I, 2 8 1 ;

4

GHIB.,

I,

Arch.

Ist.

I,

73.

288.



BOGDAN, D § M .

7

ebd. I, 350. PESTY, A szörenyi bänsäg III, 63. PESTY, A szörenyvm. hajdani oldh kerületek 73. ebd. 81.

8 8 10

"

CSÄNKI, V ,

I,

155.

236.

" ebd. 157. " ebd. 205, 74, 203. 11 KÄROLY, Peher vm. tört. IV, 506—507. 15 Arch. Ist, I./2, 12., GHIB., I, 1: auch mit seiner Deutung befasst er sich. 16

HURMUZAKI,

17

BÜGDAN,

I./2,

D§M.

II,

839. 177.

93 Temirta§" bis zum Ende des XV. Jhs. eine gewisse Unabhängigkeit. 1 Die Lautform des Namens zeigt, dass die Walachen ihn früh kennen lernten. Dieser Name ist eine ausserordentlich häufige PN-Zusammensotzung; beide Teile davon kommen auch selbständig vor.2 Alttürk. kum. tämir ^ uig. tämür ^ OT. timür S H A W . ^ kas. öuv. tirmr PAAS. osm. krm. ad. dämir ,Eisen' trat bei die ins Wal. (Aldomer) Russ. (AjiTaMupt, ToKTOMip-t, TaniTaMHpi») sogar ins Ung. (Bajdamer)* herübergekommenen PN in die velare Lautreihe über. Auch die Metathese tamyr > tamr% verstehen wir, wenn wir solche Fälle beachten, wie: Dorman > Drtman, Hermann > Hr^man. Der 2. Teil der Zusammensetzung ist das gemeintürk. tas ,Stein'. Um nur einige türk. Belege für diese Namen zu geben: selc. j-\sTämir-tas um 1170 in Kleinasien Herr der Stadt Märidin.4 | Dämir-tas5 | der Feldherr TimurtaZ und der subasy (— Polizeivogt) Timurtai [s-.Dämirtas] spielen Ende des XIV. Jhs. unter Murad I. eine Rolle. 6 | Temir-Tab bei ABULGHASI 7 | Timur-Tas, Ende 1926 Minister in Persien. Tivan. „petri filij Tyman de genere Olacali" 1378.8 Tyman ist indessen fälschlich statt Tiuan geschrieben, wie mehrere Stellen derselben Urkunde beweisen. Auch in anderen Urkunden: filijs petri fily Tiuan;9 filios Johannis fily Tiuan.10 *

„ . . . N

OyropcKO . .

iiace T O

covTb

HHa

s noraHHX'B

CTpaHb

H

GOßbp C K O

H

." 4

2. die kirchenslavische Hamartolos, in welcher Stellen, wo darunter 1

np'rua

Übersetzung

der

Chronik

des

Georgios

die Benennung „ToupKoi" nicht nur an jenen

tatsächlich

die Ungarn zu verstehen sind,5 son-

Betreffs der ,lIeTi>H-MHHeH" s. A. N. Pipin:

Hcropiii pyccitoä jmTepaTypu. TOM'B. I I .

H s j . 2-e. S.-Peterburg, 1902. S. 179 ff. 2

wird

Bei einigen Denkmälern der ältesten altkirchenslavischen Literatur aus Russland

nämlich

auch noch

zur

Zeit

darüber

gestritten, ob jene auf bulgarischem oder

russischem Boden aus dem griechischen übersetzt wurden. 3

V. Istrin:

OncpoBeHie Me4>oji« üaTapcfcaro H AiioKpmjmiecKifl BAJ-HHIA A&NIIUA TI

Hy3aHTiiicKoii H cjiaBfliio-pyccKofi jiHTepaTypaxb. Moskva, 1897. I I . , T e i t c m . S. 26. 4

Ibid. S. 92. Vgl. dazu P .A. Lavrot

: AnoKpn([imecKie Teitcm. CßopHHKi. OTjukiema

PyccKaro Jl3afta H CIOBECHOCTH H>in. AicajeMin Haj'KI>. T O M I . L X V I I . N O 3. S. X I I I . u. 15. 5

In der Fortsetzung

ApeciieMi

c-iaBanopyccKOMi.

der

Chronik. V. M. Istrin:

iiepeBOA'H. TOJII I : TeKcxt.

XpoHnka

Teopria AMapioJia BB

Petrograd, 1920.

S. 529, 530,

101 dern auch dort, wo darunter die Chasaren gemeint werden, 1 mit „Oyrpij" wiedergegeben wird. Beide genannten Übersetzungen gehören in das XI—XII. Jahrhundert. 2 Setzen wir nun auch bei dem Prolog der nMaKapei!CKaH-MHuea" die Entstehung6zeit der Übertragung in dasselbe Zeitalter, — welcher Datierung nichts zu widersprechen scheint — so können die anachronistischen Angaben dieser drei Texte in Bezug auf die Ungarn genügend erklärt werden. Der Irrtum, den die Übersetzer damit begangen haben, dass sie die im griechischen Texte mit dem Namen „ T o ü p K o i " bezeichneten Chasaren mit den Ungarn (Oyrpn) und folglich auch „ T o u p K i a " ( = Chasarenland) mit dem Lande der Ungarn identifizierten, ist in dem XI—XII. Jahrhundert, zu welcher Zeit man die Ungarn in Byzanz „ T O U P K O I " nannte, leicht zu verstehen. Nach dem XII. Jahrhundert kam in dem byzantinischen Reiche die Benennung ,,ToüpKoi" als Bezeichnung der Ungarn endgültig aus dem Gebrauch. Von dem XI. Jahrhundert angefangen werden darunter anfangs allmählig, dann aber ausschliesslich die Seldschuken und nachher die Osmanlitürken verstanden. Wäre also die Übertragung unseres Prologs später als im XI—XII. Jahrhundert entstanden, so hätte schon der Übersetzer das Chasarenland „ T o u p K i a " des griechischen Originals nicht mit den Ungarn, sondern höchstwahrscheinlich mit jenen türkischen Stämmen (Typnn) in Beziehung gebracht, wie dies bei einer späteren Übertragung der schon erwähnten Revelationen des Methodios von Patara tatsächlich der Fall ist. 3 560, 566, 568. S. dazu den griechischen Text aus der Handschrift Vatic. gr. Nr. 153. Towb II: a) 1'peiecKift r e K c n „IIpoÄOMeHÜi AiuapTo.ia". Petrograd, 192J. S. 27 f., 55, 60, 62. 1 In jenem Textteiie nämlich, wo von den Chasaren ( = ToOpKoi) als Bundesgenossen des Kaisers Herakleios Erwähnung geschieht. S. in der vorigen N o t i z angeführte Quellenausgabe von Istrin, Bd. I. S. 434 und vgl. damit Georgii Monachi Chronicon ed. C. de Boor. Leipzig, 1904. Vol. II. S. 670.

Jener Umstand, dass in der Chronik diesmal die Chasaren unter dem Namen „ToüpKoi" angeführt werden, führte auch in den ältesten russischen Annalen zu einem anachronistischen Irrtum. Der Verfasser der s. g. „IIoBliCTB BpeMeHimxt jiirb" bezeichnet nämlich die aus dem VII. Jahrhundert erwähnten „ToüpKoi" bei Georgios Hamartolos — ohne dessen bewusst zu sein, dass in diesem Falle darunter nicht die Ungarn, sondern die Chasaren gemeint werden — an einer Stelle als „Oyrpe BtiHB." IIoMoe CoSpaHne PyccHHX jleToimceö. TOM I. Ü3Ä. 2-e. AaBpeHTieBCKaa üeionHct. BHII. 1. Leningrad, 1926. Spalte 1 1 , Es sei hier noch kurz bemerkt — ohne die Frage diesmal eingehender zu erörtern —, dass die allgemein verbreitete Ansicht, nach welcher die Russen irgend einmal die Chasaren „Oyipa Ii'Lira" und die Ungarn »Oyrpa l Iepunu" genannt hätten, jeder Begründung entbehrt. P. A. Lavrov op. cit. a. a. O. S. III. und V. M. Istrin: TO.ia otc. Tojrt II: 6) HscJt.jiOBaiiie. S. 271 ff. 3

V. Istrin:

XpoHHKa l'eoprin Ainap-

Oncponenie Mei[)Oj(i.H IlarapcKaro etc. II. 'I'eKcrii. S. 108.

PERMISCH-IRANISCHE

GLEICHUNGEN.

Von ERNST

LEWY.

In wie hohem Masse iranische Stämme auf die permischen gewirkt haben, das hat schon vor Jahrzehnten (im Jahre 1893) R. v. STACKELBERG in einem reichhaltigen Aufsatze (Drevnosti vostocnyja I 283—298) dargelegt. Wenn auch die Feststellung der Wege der einzelnen Wortentlehnungen noch mancher Arbeit bedürfen mag, sind doch die Wortgleichungen, die v. STACKELBERG gesammelt hat, z. gr. T. evident. Das auffallendste bei ihnen ist wohl, dass auch mehrere Yerba Lehnworte sind: Nr. 11 syrj. gorz- 'schreien, heulen': awest. ganz- 'klagen', osset. yärzun und 29 syrj. leds- 'lassen, entlassen' (wotj. leg-): osset, ledzun 'laufen' usw. (vgl. auch M I L L E R - S T A C K E L BERG, Fünf ossetische Erzählungen 60a) scheinen doch recht beachtenswert, während nr. 20 syrj. zarlak-, zaryk- 'schreien': osset. zäryn 'singen' und 49 syrj. soi-'brennen, verbrennen': kurd. sotin 'trülen' usw. mir zweifelhafter sind (nr. 23 syrj. kor-: osset. korun deutet v. ST. als finnisch-ugrisches Lehnwort). Offenbar kommt noch dazu das allgemeine Wort für 'machen' (syrj.-wotj. kar-), das iran. kar- ( B A R T H O LOMAE 444) entstammt und in seiner häufigen Verbindung mit Nomina (s. MUNKÄCSI 129 u. f.) deutlich den iranischen Gebrauch wiederholt. Vielleicht dürfen wir nun auch eine gewisse Wahrscheinlichkeit für die folgenden Zusammenstellungen beanspruchen, indem wir uns freilich bewusst sind, dass abzuwarten bleibt, ob sie sich bewähren. Syrj. ystyny, west. ist- 'schicken': awest. asta-, astay- 'Bote' B A R T H O LOMAE 260, 261. Allerdings vergleicht W I C H M A N N , Wotj. Chrest. nr. 248 finn. juosta. — Syrj. körtny, körtalny 'binden': aind. krt- 'spinnen'; die Bedeutungen decken sich freilich nicht ganz. — Syrj. kasalny 'merken, bemerken, einsehen, gewahr werden, aufmerken, sehen, erblicken', kaztyny 'erinnern, in Erinnerung bringen, aufmerksam machen' . . .: awest. ä-kas- 'gewahr werden, erblicken' B A R T H O L O M A E 459-,1 wobei besonders das osset. käsun 'sehen' ohne Präfix hervorzuheben ist. 1

BAKTHOLOMAK

vgl. vielleicht mit Hecht slav. kazati

s.

BERNEKER,

497.

103 Ein Mittel, diese Gleichungen zur Evidenz zu bringen, kenne ich noch nicht, da das oft so hilfreiche der Bedeutungsgruppen hier versagt. Wenigstens sei hierfür aber noch ein Beispiel angeführt. Das finn. lusikka, M I K K O L A 1 3 7 , und das syrj. dar J A C O B S O H N 2 0 9 , lassen auch für andere finnisch-ugrische Wörter, die 'Löffel' bedeuten, fremde Herkunft vermuten. Für syrj. pan, wotj. puni, tscherem. pane, PAASONEN, K S Z . 14, 6 5 — 6 6 scheint sich also als Ursprung ein den ahd. spän 'Holzspan', ags. spon 'Löffel', gr. Pqpriv 'Keil', die Mikkola a. a. 0 . z. T. anführt, entsprechendes iranisches Wort gradezu darzubieten, wenn es auch m. W. noch nicht belegt ist. Hier macht die Bedeutungs- oder Sachgruppe die Entlehnung warscheinlich trotz der an und für sich möglichen Verknüpfungen W I C H M A N N ' S , die P A A S O N E N a. a. 0. 66 Anm. 1 zitiert, und trotz des samojedischen Anklanges (a. a. 0 . S. 65). den wir wohl als Spur einer Entlehnung, wie dort angedeutet, aufzufassen haben.

DIE DEUTSCHEN FREMDWORTE DES UNGARISCHEN SCHUSTERHAND WERKES. Von WALTER

STOLL.

Gesundes Sprachempfinden und bewusste Sprachreinigung (nyelvtisztitas) haben die einst mit fremden Bestandteilen stark durchsetzte ungarische Sprache so gründlich und erfolgreich gereinigt, dass heute in der gepflegten Rede der Gebildeten — sagen wir in Debrecen, da Pest und das Dunänttil (Ungarn rechts der Donau) stärkeren deutschen Einfluss zeigen — die Fremdworte durchaus zurücktreten. Soweit die Ausmerzung die jungen, deutschen Fremdworte betraf, die vielfach durchaus un-ungarische Konsonantengruppen und der Vokalharmonie widersprechende Vokale enthielten, war das ein wichtiger, notwendiger Selbstverteidigungsakt des ungarischen Sprachgeistes. Ob man nicht besser die internationalen Fremdworte griechischen und lateinischen Ursprungs beibehalten hätte, um die Isolation der ungarischen Sprache nicht unnütz zu vergrössern, soll dahin gestellt bleiben. Die bewusste Sprachreinigung konnte sich naturgemäss am leichtesten bei den Gebildeten (besonders in gepflegter Rede) durchsetzen. Die Mundarten haben das fremde Sprachgut besser bewahrt, ebenso wie bei uns in Deutschland, wo der Bauer z. B. sein Kanapee renovieren 'Sofa reinigen'(!) lässt und darüber simuliert ('nachsinnt'), wie er sich vor Gericht verdefendiert (Westthüringen). Der stärkste Hort der deutschen Fremdworte in Ungarn ist unstreitig die Berufssprache der Handwerker. Doch auch hier zeigen sich nun allmählich von den Gebildeten herabsinkend, Sprachreinigungsbestrebungen. Mein Gewährsmann für das Honigkuchenbäckergewerbe, Herr Dezsö Kisfalussy in Debrecen, bringt z. B. seinen Lehrjungen die fremden Ausdrücke nicht mehr bei, mit denen er in seinen Beruf eingeführt worden ist, sondern ersetzt sie, soweit irgend möglich, durch ungarische. Und so zeigt sich fast in allen Gewerben bei dem Nachwuchs eine Abnahme des fremden Elements. Falls man es noch erfassen will, muss man bald an die Arbeit gehen. Ich habe darum schon seit längerer Zeit Handwerkerfachauedrücke gesammelt und will davon heute die Fremdworte des Schusters mit-

105 teilen — als ein Stück der deutsch-ungarischen Beziehungen, denen mein verehrter Lehrer, Herr Prof. Gragger auf anderen Gebieten seine Lebensarbeit gewidmet hat. Soviel ich sehe, sind gerade die deutschen Fremdworte noch nicht gesammelt. Jänos Freeskay scheint sie in seinem: Mestersegek Szötara, Budapest, 1912, Hornyänszky, 'Handwerkswörterbuch' geflissentlich zu vermeiden und gibt mehr eine Richtschnur, wie man sich ungarisch ausdrücken könnte,' als eine Beschreibung des damaligen Tatbestandes. Einige seiner Worte, wie z. B. öltesböko 'Stichstupfer' waren allen meinen Gewährsleuten unbekannt. Die Lehnwörtersammlungen : LumtzerMelich, Deutsche Ortsnamen und Lehnwörter des Ung. Sprachschatzes, Innsbruck, 1900, und Thienemann, Die deutschen Lehnwörter der ung. Sprache, Ungarische Bibliothek, beschäftigen sich natürlich in erster Linie mit der Gemeinsprache und wollen mehr die Lehnwörter als die Fremdwörter erfassen. Zur Erleichterung der Auffindung der einzelnen Worte führe ich sie in der alphabetischen Reihenfolge ihrer deutschen Vorbilder an und verweise für die genauere Beschreibung der Anwendung der einzelnen Werkzeuge und der Zusammensetzung des Schuhs aus seinen einzelnen Teilen auf Freeskay und die Fachliteratur des Schuhmacherhandwerks. Unterscheiden müssen wir die Ausdrücke des Schusters (suszter, eipesz) von denen des Stiefelmachers (esizmadia, abgekürzt es.) die in mancher Hinsicht abweichen, was Freeskay nur bei dikics s. unter Zuschneider beobachtet zu haben scheint. Ich schreibe die Worte nach der ungarischen Orthographie, die phonetisch eindeutig ist (bis auf ly 1 ). Meine Gewährsleute, denen ich auch auf diesem Wege herzlich danke, sind die Herren Ignäc Koväcs und Szilvässy (es.) in Debrecen, Herr Josef Vancsora infird, die Herren PälHorvath, Mihäly Greger (es.), Ädäm György (es.) in Pest und Pal Holicza, sowie Lajos Filai (es.) in Kaposvär. Ich füge jedem Belege den Anfangsbuchstaben des Ortes bei, in dem ich ihn gehört habe: D . = Debrecen, fi.= Erd, P . = Pest, K . = Kaposvär. Abnehmer [fehlt in diesem Sinne in Gr(imms) W ( ö r t e r ) b ( u c h ) ] : abnemer D., fi., P., K., es.; szelvagö D.,'Randbeschneider'. Hinten am Absatz leistet denselben Dienst der virslivägö P., K., 'Würstelschneider', 1

Anm. Für den deutschen Leser sei bemerkt, dass s = sch, sz = stimmloses s, z = stimmhaftes s, zs == stimmhaftes sch, es = tsch, c = z, v — w. gy, ty, ny, ly lassen sich für unsere Zwecke durch dj, tj, nj, j umschreiben, ä, e, tsch in pucsing, falls die Ableitung richtig ist, das unorganische h in reihpan und das falsche g in cügsneider neben cüsneider, cüsnäider. ö für au in srövenciger, sröfciger, sröfkulcs ist eine Eigentümlichkeit der ungarischen Volkssprache (vgl. otö und ötü, volkstümlich für autö 'Automobil'). Dem aufmerksamen Leser wird nicht entgangen sein, dass der csizmadia viel weniger deutsche Fremdworte gebraucht als der Schuster, wenn auch der Schuster neuerdings um Fremdworte zu vermeiden gern nach den Fachausdrücken des es. greift. Der deutsche Einfluss auf das Schuhmacherhandwerk war demnach viel grösser als der auf das Stiefelmacherhandwerk, das streng getrennt eine besondere Innung besass. Der Stiefel ist noch heute ein unentbehrlicher Bestandteil der bäurischen Tracht, den auch die Frauen 8

114 nicht verschmähen. Im Volkslied wird gern von roten oder gelben Stiefeln gesungen, von Schuhen habe ich noch nichts gehört. Umgekehrt ist bei uns in Deutschland der hohe Stiefel nicht so verbreitet. In Volkslied und Volkstanz hören wir, soviel ich weiss, fast nur von Schuhen.1 Nach alledem scheint das jetzt bittere Not leidende, sterbende cs.-Gewerbe in Ungarn weit eher geblüht zu haben als das Schusterhandwerk undzwar jedenfalls, wie der Ursprung des Wortes csizma 'Stiefel' verrät, unter türkischem Einflüsse. Dem widerspricht nicht,, dass schon 1376 die erste Schustergilde erwähnt wird — in Pressburg (Pozsony), da diese Stadt ja von Deutschen bewohnt war. (Szädeczky,. Iparfejlödes es a czehek törtenete Magyarorszägon. 1913. Budapest,. Ranschburg, S. 34.) Die eigentlichen ungarischen Schusterinnungen gehen meist auf die Regierungszeit Maria Theresias zurück. Ganz unabhängig von deutschem Einflüsse ist der Riemenschuster, bei dem ich kein deutsches Lehnwort gefunden habe. Darum musste dies altehrwürdige Gewerbe hier aus dem Kreise unserer Betrachtung bleiben. Dieser einstweilen nur angedeutete Vergleich dreier verschiedener Fussbekleidungsgewerbe eröffnet so weite kulturgeschichtliche Perspektiven schon nach Sammlung und Bearbeitung einiger weniger Fachausdrücke.

1

Stiefel kenne ich nur in einem nd. Volkstanze: So tanzt Hahnemann.

SEBASTIAN TINÖDI UND DER DEUTSCHE ZEITUNGSGESANG. Von BELA

PÜKÄNSZKY.

Dieser bescheidene Aufsatz will nicht etwa ein unmittelbares Abhängigkeitsverhältnis zwischen den Werken des ungarischen Zeitungssängers Sebastian Tinödi und dem deutschen Zeitungsgesang nachweisen, sondern eine bisher als spezifisch ungarisch gegoltene literarische Gattung in eine Entwicklungsreihe einstellen, aus der manche Erscheinungen der ungarischen Epik im XVI. Jahrhundert deutlicher, für die weitere Forschung leichter zugänglich hervortreten. Tinödi behandelt in seinen selbstvertonten, zunächst für den mündlichen Vortrag bestimmten Liedern grösstenteils die Ereignisse der Türkenkriege seiner Zeit. In seiner Stoffwahl ist er unmittelbar durch die Ereignisse selbst bedingt, auch seine historische Sachlichkeit und Zuverlässigkeit steht nach den quellenkritischen Untersuchungen der ungarischen Historiographie ausser Zweifel. Es ist demnach wohl kaum daran zu denken, dass er von den deutschen Zeitungsliedern und Newen Zeitungen auch stoffliche Anregungen empfangen habe. Allerdings befassen sich deutsche Dichter und Zeitungssänger bereits von dem XIV. Jahrhundert an mit den Kämpfen der Ungarn gegen die Türken, nicht nur jene — Peter Suchenwirt, Oswald von Wolkenstein und Michael Beheim1 —, die eine Zeit im Dienste der ungarischen Könige standen, sondern auch unbekannte Verfasser zahlreicher historischer Lieder und Newer Zeitungen.2 Die anfangs mit Geringschät1

Vgl. Bleyer Jakab: Magyar vonatkozäsok Suchenwirt Peter kültemenyeiben. Szäzadok 1899. — Motz Atanäz: Oswald von Wolkenstein elete es költeszete különös tekintettel magyar vonatkozäsaira Budapest, 1915. — Bleyer Jakab: Beheim Mihäly elete es költeszete a magyar törtenelem szempontjäböl. Szäzadok, 1902. — Ein Gedicht Michael Beheims über Wladislaw IV. Woiwoden von der Walachei. Archiv des Vereins für siebenbürgische Landeskunde N. F. X X X I I . 1903. — Th. v, Karajan: Zehn Gedichte Michael Beheims zur Geschichte Österreichs und Ungarns. Quellen und Forschungen zur vaterländischen Geschichte. Wien, 1849. 2 Bleyer Jakab: Magyar vonatkozäsü nemet törteneti nepenekek 1551-ig. E. Ph. K. 1897. — Derselbe: Magyar vonatkozäsü nemet ujsäglapok a Magyar Nemzeti Müzeum könyvtäräban. Magyar Könyvszemle 1900.

8*

116 zung, ja Verachtung behandelten Ungarn erwecken durch ihre tapferen Verteidigungskämpfe für das Christentum allmählich auch in der deutschen Öffentlichkeit Bewunderung, später — nach der verhängnisvollen Schlacht von Mohács — allgemeine Teilnahme.1 Doch ist das Bild über Ungarn in diesen Liedern und Neuen Zeitungen immerhin unklar und mit Phantastik überladen, so, dass ein Dichter-Chronist, der den Tatsachen mit so peinlicher Gewissenhaftigkeit gegenüberstand, in ihnen kaum etwas entlehnbares finden konnte. Nicht in den Stoffen zunächst, sondern in der Geschichtsauffassung, Darstellungsart und Arbeitstechnik Tinódis zeigen sich die Anregungen, die er von den deutschen Zeitungssängern und Neuen Zeitungen empfing. Die Möglichkeit einer solchen Anregung nimmt auch die bisherige Forschung über Tinódi an, indem es heisst, der erste historische Gesang in der ungarischen Literatur. -— als dessen Hauptpfleger Tinódi zu betrachten ist — das Lied Über die Einnahme von Szabács (Szabács viadala) „in der Bearbeitung dee Stoffes und in der Darstellungsart an die deutschen Reimchroniken erinnert".® Tinódi aber bedient sich genau derselben Darstellungsmittel, wie der unbekannte Verfasser dieses Liedes. Auch die äusseren Lebensverhältnisse Tinódis waren für die Aufnahme von Anregungen aus der deutschen bezw. österreichischen Literatur förderlich. Tinódi verlebte den grössten Teil seines Lebens auf dem Gebiete jenseits der Donau, wo deutsche Kultureinflüsse von jeher am stärksten zur Geltung kamen. Seine beiden Schutzherrn, Valentin von Török und Thomas von Nádasdy, in deren Dienst er mehrere Jahre gestanden war, unterhielten Beziehungen mit dem deutschen Geistesleben ihrer Zeit. Valentin Török, in dessen Hause Tinódi bis 1541 lebte, zunächst durch seine Gattin, Katharina Pemflinger, die einem bedeutenden, siebenbürgisch-sächsischen Geschlechte entstammte; in einem Hause, wo deutsche Kultur nur einigermassen heimisch war, durften fliegende Blätter über Zeitereignisse, Neue Zeitungen wohl kaum fehlen. Sie gehören zu den beliebtesten „Bildungsmitteln" des XVI. Jahrhunderts, nehmen in den Büchereien einen bedeutenden Platz ein 3 und werden in der zweiten Hälfte des XVI. Jahrhunderts auch von den findigen Druckern der deutschen Städte Ungarns in beträcht1 S. meinen Aufsatz: Moháes és az egykorú német kozvélemény. Mohácsi Emlékkönyv 1926. S. 277—295. 2 Vgl. Miszöly Gedeon: Tinódi Sebestyén. Nagykörös, 1916. S. 136. 3 Vgl. die Verzeichnisse: Kemény Lajos: Egy kassai harangozó konyvtára 1580-ból. Magyar Könyvszemle 1888. — Iványi Béla: A könyvek és az irás Eperjesen a XV. és XVI. században. Magyar Könyvszemle 1911. — Derselbe: Az eperjesi egyház konyvtára 16,06-ban. Magyar Könyvszemle 1918. — Gulyás Pài: Haunold János konyvtára 1595-böl. Magyar Könyvszemle. 1922.

117 licher Anzahl herausgegeben.1 Thomas von Nädasdy, Tinôdis zweiter Schutzherr (bis 1548), ein eifriger Förderer des Protestantismus in Ungarn, unterhielt auf seinem Gute in Sârvârujsziget eine Druckerei und gründete eine Schule, deren vorzügliche Lehrer Johann Sylvester und Mathias Birö von Déva ihm unmittelbar von Melanchton empfohlen wurden. Durch seine Vermittlung gewann Tinödi in amtliche Urkunden und Berichte Einblick, deren Angaben der Zuverlässigkeit seiner Zeitungslieder zugute kamen, durch Nâdasdys Vermittlung gelàng es ihm auch mit Wien Beziehungen anzuknüpfen, wo Neue Zeitungen und Zeitungsgesänge angesichts der neuen Türkengefahr besonders fruchtbare Pfleger fanden.3 In der Gefolgschaft seines Schutzherrn nahm Tinödi an dem Reichstag in Tyrnau (November ¡1544) Teil, wo er den mit Nädasdy innig befreundeten kaiserlichen Gesandten Gerhard Weltwick kennen lernte ; vermutlich begleitete er Nädasdy auch nach Wien und auch die Widmung von Tinôdis Chronik (Cronica 1554) an Ferdinand ist wohl auf die Anregung Nâdasdys zurückzuführen. Schliesslich liess sich Tinödi dauernd in Kaschau nieder, wo die Kultur um 1550 teils gleichfalls deutsches Gepräge hatte. Das protestantische Schulwesen wurde von deutschen oder in Deutschland studierten Lehrern geleitet, auf die Anregung des Bartfelder Reformators Leonhard Stockei finden hier Aufführungen von Schuldramen in deutscher Sprache statt und auch das Inventar des 1583 verstorbenen Buchhändlers Johann Gallen zeigt, dass überwiegend deutsche Druckwerke, Kalender; Praktiken, Neue Zeitungen einen guten Absatz fanden.3 Nach diesen äusseren Voraussetzungen werden wohl die zahlreichen Übereinstimmungen, die sich in den deutschen Zeitungsliedern, und den Gesängen Tinödis4 zeigen, wenigstens auf mittelbare Anregungen zurückzuführen sein. Sie sind zunächst formeller Natur. Gewisse stilistische Wendungen, besonders in der Einleitung und im Abschluss der Lieder, erstarrte Formeln in der Anrede des Publikums, die beiderseits reichlich zu finden sind, können aber auf älteren Traditionen beruhen, da sie bereits von den Spielleuten gebraucht wurden.5 Auffallender sind diese formellen Ähnlichkeiten in Tinödis Bearbeitungen biblischer Stoffe: Dâvid kirâly, Judit asszon histôriâja. Biblische 1

Vgl. das Verzeichnis dieser Druckschriften in dem Werke

Szabô

Kâroly:

Régi

Magyar Könyvtär II. Budapest, Nr. 2., 197., 245., 249. 2

Vgl. Nagl-Zeidler:

3

Kemény

LajosEgy

Deutsch-österreichische Literaturgeschichte Wien, 1 . 1 8 9 9 . S. 544. X V I . szâzadi könyvkereskedö raktära. Magyar Kônyvszémle.

1895. * Herausgegeben von Aron Szilddy in der Sammlung Régi Magyar Költök T a r a I I I . Budapest, 1881. 5

Petz

Gedeon:

Magyar es német hegedösök. Irodalomtörteneti Közlemenyek. 1 8 9 1 .

118 Stoffe wurden unter dem Einfluss der Reformationsbewegung auch in der deutschen Literatur in strophischer Form volkstümlich bearbeitet. Bereits aus der ersten Hälfte des XVI. Jahrhunderts ist nebst den Historien von Johannes Geschwindt (1527), Joachim Greff (1538). Joachim Oberlin (1534) und Paul Olinger (1555) eine ganze Reihe ähnlicher Werke von unbekannten Verfassern erhalten.1 Auch von einer deutsch-ungarischen Schriftstellerin besitzen wir eine biblische Verserzählung. Magdalene Heymair, die um 1575 als Erzieherin in das Haus des Militärkommandanten von Oberungarn, Johannes Rueber kam, gab 1580 das Buch Tobie, In Christliche Reimen vnnd Gesangweise gefast in Bartfeld heraus, nachdem sie schon in ihren Jugendjahren das Buch Jesu Sirach, sowie die Geschichte der Apostel in Versen bearbeitete, die aber nicht erhalten 6ind. Sowohl die deutschen biblischen Verserzähler, als auch Tinödi bevorzugen alttestamentliche Stoffe und betonen nebst der reinen Freude an dem Naiv-Epischen das didaktisch-moralische Element. Dabei aber bedient sich Tinödi auch in seinen biblischen Verserzählungen derselben Darstellungsart, wie sie seinen historischen Gesängen über die Türkenkriege und der deutschen Türkenliteratur, sowie den Neuen Zeitungen eigen ist.2 Mit sichtlichem Behagen verweilt er bei den Schilderungen persönlicher Tapferkeit, er sucht aus der Bibel gleichsam ermutigende Analogien für die kampferregte Gegenwart. Ausser diesen biblischen Verserzählungen gibt es nur ein einziges Lied von Tinödi, das stoffliche Übereinstimmungen mit deutschen Gesängen zeigt: Kärol csäszdr hada Saxoniäba; es behandelt die Teilnahme der ungarischen Husaren an dem Schmalkaldischen Krieg und die Gefangennahme Johann Friedrichs, Kurfürsten von Sachsen. Auch eine Reihe deutscher Gesänge berichtet über diese Gefangennahme,3 sie sind aber mehr historische Volkslieder in engerem Sinne, tragen einen überwiegend lyrischen Charakter, so da6s sie mit dem rein sachlichen Bericht Tinödis ausser dem gemeinsamen Stoff wohl kaum in Beziehung gebracht werden können. Naturgemäss sind auch die verwandten Züge, die sich zwischen den Gesängen Tinödis über die Türkenkämpfe 1540—1552 und der deutschen Türkenliteratur zeigen, überwiegend formeller Natur. Hier wie dort kommt in der Betrachtung der Ereignisse der Einfluss der Bibel zur Geltung. Vgl. Goedeke: Grundriss II 2 § 125. Vgl. R. Ebermann: Die Türkenfurcht. Ein Beitrag zur Geschichte der öffentlichen Meinung während der Reformationszeit. Halle, 1904. — Paul Roth: Die neuen Zeitungen in Deutschland im XV. und XVI. Jahrhundert Leipzig, 1914. — Weiler: Die ersten deutschen Zeitungen. Tübingen, 1872. — E. Büchner: Das Neueste von Gestern. Kulturgeschichtlich interessante Dokumente aus alten deutschen Zeitungen. München, 1912. I. 1

2

* Liliencron:

Historische Volkslieder der Deutschen. IV. Nr. 553—563.

119 Nicht nur in stofflichen Analogien tritt dieser Einfluss hervor, indem Gegenwartsereignisse als Wiederholungen biblischer Geschichten betrachtet werden, sondern auch an der Bewertung von Persönlichkeiten und Geschehnissen. Diese biblische Einstellung der Betrachtung erhält durch spärliche Reminiszenzen an die antike Dichtung beiderseits eine eigentümliche Färbung. Sowohl die deutschen Zeitungsgedichte als auch Tinödi bewahren den bedeutendsten Zeit- und Streitfragen gegenüber eine kühl sachliche Haltung. Der Protestant Tinödi berührt in seinen Gesängen äusserst selten konfessionelle Fragen, wie er auch seine politische Parteistellung niemals betont. Diese Zurückhaltung, die bisher seiner Persönlichkeit zugeschrieben wurde — es hiess, Tinödi wollte zunächst guter Ungar und Christ sein — charakterisiert auch die deutschen Zeitungsgesänge. Der berufsmässige Sänger trachtet sich die Gunst eines möglichst grossen Publikums zu erwerben, will überall „annehmbar" erscheinen und meidet jede Stellungnahme, von der er annehmen musste, das6 sie von seinem Publikum nicht mit einheitlicher Zustimmung aufgenommen wird. Ein gemeinsamer Zug Tinödis und der deutschen Zeitungssänger ist auch die rasche Arbeit, um die Aktualität des dargestellten Ereignisses möglichst zu bewahren. Die erste gedruckte Neue Zeitung über die verhängnisvolle Schlacht bei Mohäcs erschien bereits an dem dritten Tag nach dem Ereignis; 1 auch Tinödis Gesang über die Einnahme von Temesvär war in wenigen Tagen fertig. Charakteristische, verwandte Züge zeigen sich auch in der Verbreitungsart der Gesänge Tinödis und in den deutschen Zeitungsliedern. Beide waren zunächst für den mündlichen Vortrag bestimmt; Tinödi vertonte sie selbst, während die deutschen Zeitungslieder meist nach einer bekannten Melodie gesungen wurden. Die Verbreitung durch den Druck konnte für Tinödi bei dem niedrigen Entwicklungsstand der ungarischen Buchdruckerkunst kaum in Betracht kommen. Doch auch er übergab seine Gesänge, wie die deutschen Zeitungsdichter, anderen Berufssängern, die selbst keine Lieder verfassten, um sie auch durch den mündlichen Vortrag anderer bekannt zu machen. Hierauf weist auch die Bemerkung in den Anfangsbuchstaben der Verse des Liedes über die Einnahme von Temesvär: Canendum in lucem Cassoviae edidit. Tinödis Gesänge über die Türkenkriege beruhen stofflich auf persönlichen Erlebnissen, selbst gesammelten Angaben und persönlichen Aussagen ; nur ein einziges Werk war vermutlich auch von der literarischen Mode seiner Zeit bedingt: die verschollene Türkenchronik, auf die sich Tinödi in seinen Gesängen wiederholt beruft. Die Türkenchroniken 1 Vgl. Fraknöi Vilmos: A mohäcei csatäröl szölö egykorü ujsäglapok Müzeum könyvtäräban. Magyar Könyvszemle 1876.

a M. N.

120 gehören zu den beliebtesten und meistverbreiteten Büchern des XVI. Jahrhunderts. Ihr Urtypus ist einerseits das Reisetagebuch von Hans Schiitberger,1 anderseits die Chronika und Beschreibung der Türkey eines unbekannten Studenten aus Mühlbach (Siebenbürgen), das 1530 mit dem Vorworte .Luthers erschien2 und auf dessen Bedeutung in seinem 1534 erschienenen Weltbuch auch Sebastian Franck hinweist. Das aus 32 Kapiteln bestehende Büchlein des unbekannten Studenten, das sich besonders eingehend mit den Sitten und dem religiösen Leben der Türken befasst, verbreitete sich rasch in einer grossen Anzahl von Ausgaben und rief eine Reihe ähnlicher Werke (Türkenbüchlein, Warhaff tige Berichte und Weissagungen) ins Leben. Von diesem Büchlein dürften auch die ungarischen Türkenchroniken, u. a. auch die von Tinödi angeregt worden sein, da noch eine anonyme Türkenchronik aus 1597, sowie die Ungarische Chronik, in welcher der türkischen Nation Ursprung beschrieben wird (Magyar Chronika, melyben leirattatik a török nemzetnek eredete) aus 1684 auffallende Ähnlichkeiten mit demselben zeigen.3 Während Übereinstimmungen in den Gesängen Tinödis und den deutschen Zeitungsgesängen vorläufig nur in der Form nachzuweisen sind und somit auch die Anregungen, die Tinödi vermutlich deutscherseits empfing, nur unklar formuliert werden können, lassen sich wechselseitige Beziehungen zwischen der deutschen und ungarischen Türkenliteratur an anderen Beispielen mit grösster Genauigkeit feststellen. Die in Wien bei Leonhard Nattinger 1593 erschienenen Zwo warhaffte Newe Zeitungen4 sind, wie ihr umständlicher Titel angibt, ausz Vngerischer Zungen in die hochteutsche sprach verdolmetschet worden; ebenso stimmt auch die Newe Zeitung aus Vngern:> von Erhard Pöckhl (1587 in Eberau von Hans Manuel herausgegeben, in demselben Jahre auch in Augsburg und Nürnberg erschienen)6 beinahe wörtlich mit der lateinisch betitelten, jedoch ungarisch abgefassten Historia cladis Turcicae ad Nâdudvar von Georg Salânki überein und noch gegen Ende des XVII. Jahrhunderts gab der unbekannte Verfasser des in Bruchstücken erhaltenen prosaischen ungarischen Dialogs Über die Erwür1 Vgl. V. Langmantel: Hans Schiltbergers Reisebuch. Bibl. der Lit. Vereins in Stuttgart CLXXII. Tübingen, 1885. 2 Vgl. die einzelnen Ausgaben dieses Buches bei Szabô Kâroly: Régi Magyar Könyvtär Bd. III. Nr. 283., 285., 28fi., 288., 290., 873. 3 Vgl. Dr. Lukinieh Imre: Egy histôriâe énektôredék a XVI. szâzadbôl. Kalazantinum IV. und Figyelö IV. 1882. 4 Vgl. Szabô Kâroly: RMK. III. Nr. 833. 5 Vgl. ebda II. Nr. 197. 6 Ebda Bd. III. Nr. 758. u. 761.

121 guiig des Kara Mustafa die Übersetzung des Titelbildtextes einer Neuen Zeitung als zweiten Teil seines Werkes heraus. 1 Von höchster Bedeutung für die richtige literarhistorische Einstellung Tinödis wäre die eingehende quellenkritische Untersuchung seiner Tonsetzertätigkeit. Die Forschungen, welche diesbezüglich von der ungarischen Musikwissenschaft in neuester Zeit eingeleitet wurden," zeigen ihn im Besitz einer anerkennenswerten musikalischen Kultur. Dies trifft auch für den Text seiner Werke zu. Wohl fehlte ihm echtes poetisches Talent, wohl ist seine Tätigkeit durch mannigfache Strömungen der Zeit, sowie mittelbar auch durch literarische Anregungen bedingt, aber er besass die Fähigkeit sich von der übertriebenen Phantastik der Neuen Zeitungen fernzuhalten und vermochte seinen Gesängen in Stoff und Gesinnung ein kernungarisches Gepräge zu geben. Er bringt die Grundtendenz der gesamten christlich-europäischen Türkenliteratur am bewusstesten zur Geltung: die Bedeutung einheitlichen Vorgehen& zur Verteidigung des bedrohten Christentums. In der bewussten Hervorkehrung dieser Grundtendenz schliesst sich Tinödis Werk auch dejdeutschen Türkenliteratur organisch an.

1

Vgl. R. Gragger: A Kara Mueztafa. Egyetemes Philologiai Közlöny 1922. Vgl. Benedikt Szabolcsi: Probleme der alten ungarischen Musikgeschichte. Sonderabdruck aus der Zeitschrift für Musikwissenschaft. Jg. VII. H. 11/12. Jg. VIII. H. 3.. 6., 8. 2

GEORG MICHAELIS CASSAI UND SEINE

BIBLIOTHEK.

Von JOSEPH FITZ.

1. Der ungarische Dichter Michael Babits spricht in einem kleinen Essay 1 über einen „Morbus Hungaricus", eine Manie zwecklosen Lernens, das mit eisernem Fleiss und unbrechbarer Begeisterung, aber ohne praktischen Zweck und scheinbar ohne Ziel die Energien der ungarischen Intelligenz lebenslang gefangen hält. Dieser Morbus Hungaricus entspringt wohl aus den ungarischen Verhältnissen. Ungarn hat seit dem X V I . Jahrhundert immer einen Überschuss an Intelligenz — ein geistiges Proletariat — gehabt, das in dem Kampf der religiösen und politischen Parteien sich nicht den Platz — den Platz an der Sonne — erobern konnte, welchen ihm sein Wissen und seine Befähigung anwies. Und so suchten die, die man nicht brauchen wollte, ihren Trost im Lernen. Ihr wissenschaftlicher Zeitvertreib liess sie vergessen, was ihnen nicht vergönnt war und spiegelte ihrem ziellosen Leben einen hehren Selbstzweck vor. Wenn ich die lange Liste des Bartholomaeides in seinen Memoriae Ungarorum2 über die an der Universität Wittenberg im X V I I . und X V I I I . Jahrhundert studierten Ungarn übersiehe, fallen mir eine Menge Namen auf, deren Träger bis in ein stattliches Mannesalter von Universität zu Universität zogen, sich immer weiter bildeten, die wegen ihres Wissens geachtet waren und die, wenn man in ihren gelegentlich erschienenen Schriften blättert, eine unheimliche Fülle von Gelehrsamkeit verraten. Die meisten gelangen recht spät zu Amt und Würden. Sie zeigen sich dann tüchtig und gedrillt und manche haben Grosses geleistet. Wie viele sind aber einem unbilligen Schicksal erlegen! Wohl zeigte sich der stille Kampf der beiseitegeschobenen Intelligenz in seiner Massenhaftigkeit vor dem Friedensvertrage von Trianon nie so tragisch, 1

Babits Mihäly: Gondolat es iras. Budapest, 1922. S. 187 ff.

- Joannes Ladislaus Bartholomaeides: Memoriae Vngarorum qui in alma condam Vniversitate Vitebergensi a tribus proxime concludensis seculis ptudia in ludis patriis coepta eonfirmarunt. Peetini, 1817, Typis Joannis Thomae Trattner, 8 ° (24 + )

310 S.

123 wie in der zweiten Hälfte des XVII. Jahrhunderts. Hunderte von studierenden Ungarn trieben sich an deutschen Universitäten herum, ohne die geringste Hoffnung zu haben, je in ihrer Heimat eine ihren Studien entsprechende Beschäftigung zu erhalten. Sie waren Emigranten, Opfer der schwankenden Machtverhältnisse in ihrem Yaterlande. Als die Regierung Leopolds I. den von ihr besetzten ungarischen Gebieten ungeheure Steuerlasten auferlegte, begünstigten die Türken, die den grössten Teil Ungarns in ihrer Macht hatten, sowie auch der Fürst von Siebenbürgen, die darob entstandene Unzufriedenheit, versprachen den Aufständischen Hilfe, versorgten sie mit Waffen und so vergingen die Jahre 1672—1674 in wüstem Kriegslärm. Auch religiöse Gegensätze spielten dabei eine Rolle, die Katholiken hielten es mit den Kaiserlichen, die Aufständischen waren grösserenteils Protestanten. Die protestantischen Geistlichen liessen ihre Gemeinden für den Sieg der türkischen Waffen beten, da sie hofften, dass dann Oberungam, ähnlich wie Siebenbürgen, ein selbständiges Fürstentum unter türkischem Protektorat würde. Und so kam es, dass, als die kaiserlichen Truppen siegten, die Regierung alle Schuld den Protestanten zuschob. Vor allem trachtete man sich ihrer Führer zu entledigen um nachher mit einem gewaltsamen Katholisieren einsetzen zu können. In den Jahren 1673 und 1674 wurde gegen 730 Geistliche und Lehrer der Prozess wegen Majestätsverrat angestrengt. Habhaft konnte man ja allerdings kaum der Hälfte von ihnen werden. Von den Gefangenen wurden 93 zu Tode verurteilt, dann aber zu Zwangsarbeit begnadigt und nach Neapel und Bunari auf die Galeeren geschickt. Sie haben in ihren späteren Berichten von unsäglichen Leiden erzählt, obwohl sie kaum ein Jahr lang Galeerensträflinge waren und auf Einschreiten der protestantischen Mächte dem holländischen Admiral Ruyter ausgeliefert und auf freiem Fuss gesetzt wurden. Die meisten gingen dann nach Deutschland, wohin auch schon die anderen, die man aus dem Lande wies, und jene, deren die Häscher der kaiserlichen Gerichte nicht habhaft werden konnten, geflüchtet waren. Die Mehrzahl dieser gewesenen Lehrer und Prediger besuchte nun die Universitäten Jenas, Altdorfs, Leipzigs, Breslaus und vor allem Wittenbergs. Obwohl sie in Deutschland viele Gönner und wohl auch bescheidene Mittel zum Leben fanden, mussten sie doch viel darben. Ihre Gelegenheitsdichtungen spiegeln dennoch ein flottes und fröhliches Studentenleben wider. Man nannte sie Exulanten. Auch Georg Michaelis Cassai, der Begründer der Ungarischen Bibliothek, die sich nun teilweise in der Universitätsbibliothek zu Halle und teilweise im Ungarischen Institut in Berlin befindet, war gewissermassen einer von ihnen. Er war auch einer der endlos Lernen-

124 den. Wenn man die kurzen Daten seines Lebens bei Bartholomaeides1 liest, sieht man ihn von Schule zu Schule wandern. Er begann als 6—7jähriger Knabe in seinem Heimateort Alsökö (Stein) im Komitate Bars Oberungarns, studierte dann in reiferen Jahren in Bartfeld und Käsmark, am Gymnasium in Kaschau, dann Theologie in Eperjes, wo er nach der üblichen öffentlichen Disputation und Herausgabe einer Dissertation, 1671 das Diplom erhielt. Er zählte damals 31 Jahre. Nun zog er zu weiteren Studien nach Deutschland und war seit 1671 an der Universität Breslau immatrikuliert. Und da er wegen der Verfolgung seiner heimatlichen Glaubensgenossen nicht zurückkehren mochte und eine Prediger- oder Lehreranstellung für ihn in seiner Heimat unter den obwaltenden Umständen aussichtslos war, ging er nach Wittenberg, wo er am 5. Mai 1675 immatrikuliert wurde. Dort fand er eine grosse Anzahl ungarischer Flüchtlinge, darunter seine einstigen Lehrer, Johann Melczelius aus Käsmark, Elias Ladiver, Samuel Pomarius aus Eperjes, dann die vielköpfige PredigerfamiMe Pilarik, die nach Szinnyei dem Vaterlande 11 Schriftsteller und Gelehrte schenkte, die Brüder Klesch und! eine Menge mehr. Er studierte nun unter Entbehrungen 6 Jahre lang an der Universität Wittenberg, erhielt 1681 dortselbst das Absolutorium und den Grad eines Magisters (er war jetzt 41 Jahre alt), blieb aber auch späterhin im Dienste der Universität, wurde Adjunkt und 1712 Dekan der Philosophischen Fakultät und als er in 1725 starb, war er über 50 Jahre lang Mitglied der wittenberger Universität gewesen. 2.

Ganz fälschlich nennt ihn Szinnyei (Magyar Irok, Bd. V. Sp. 1142) Kassai György Mihaly. Szinnyei folgt hier Horanyi (Nova Memoria Hvngarorvm I. Pesthini 1792, S. 633—634), der ihn Cassai Georgivs Michael nennt. Ebenso auch Jöchers Allgemeines Gelehrten-Lexicon. Sein Familienname war aber Michaelis und der Taufname Georg. Der Vater, der laut den Überlieferungen Richter in Stein war, hiess Stephan Michalow (oder nach Bartholomaeides: Michalowje), der Grossvater Kaspar Michalow. Cassai gebrauchte die lateinische Form dieses Namens: Michaelis, manchmal auch Michaelides. Die Familie scheint dem ursprünglichen Namen nach slavischer, namentlich slowakischer Abstammung gewesen zu sein, doch Cassai fühlte sich Ungar. Dass er in der Matrikel der Universität Wittenberg von 1675 „Georgius Michaelides Steinensis Hung." eingetragen ist und dass seine früheren Publikationen unter dem Namen „Georgius Michaelis Steinensis Hung." erschienen sind, will noch nicht viel heissen, da hier Hun1

Memoriae Vngarorum... S. 178—181.

125 garus bloss die Staatsangehörigkeit bezeichnet, jedoch seit 1687 unterschreibt er seine gedruckten Schriftchen: „Georgius Michaelis Cassai Hung.", ja einmal sogar mit K : Kassai.1 So hat er, obzwar er niemals ungarisch, sondern nur lateinisch und deutsch geschrieben, seine Zugehörigkeit zur ungarischen Nation durch Magyarisierung seines Namens bekräftigt. Er nahm hiezu die ungarische Form des Namens der Stadt Kaschau, an dessen Gymnasium er anderthalb glückliche Jahre verbracht hatte. Er tat dies, als er sich endgültig entschloss nicht mehr in die Heimat zurückzukehren, sondern in Wittenberg ein Heim und eine Familie zu gründen. Er sprach mit seiner Frau, der Tochter eines ungarischen Exulanten, deutsch und auch die Muttersprache seiner Kinder war die Deutsche. Er wollte aber die Treue zu seiner Nation in irgendeiner Form wahren und so magvarisierte er seinen Namen. Dieser kommt also in mehreren Variationen vor. Als Knabe ist ei Michalow; in 1675 ist er als Michaelides immatrikuliert und im selben Jahre ist er ebenso unter einem Gedichte unterschrieben.2 Von 1676 bis 1686 i s t er als Respondens, Defendens, Praeses und Dichter Michaelis. Und nachher Michaelis Cassai. Er schrieb den Namen Michaelides gelegentlich auch später als Eigentumsbezeugung auf seine Bücher. 3 Sein Testament unterschrieb er wiederum nur als Georgius Michaelis und sein Sohn, der sich nicht mehr als Ungar fühlte, gebrauchte die Namensform Cassai nicht, sondern schrieb sich „.Johannes Fridericus Michaelis Wittenbergensis Saxo". Zur Identifizierung der verschiedenen Schriften muss man sich diese Namensvariatiotnen merken. Szabö und Hellebrant führen ihn ganz richtig unter Michaelis an. Übrigens hatte er zu Wittenberg zwei Namensverwandte. Der eine, Ludovicus Caschai aus Pressburg, war ehemaliger Augustinermönch, der in Wittenberg 1678 zur lutherischen Kirche übertrat. 4 Der andere, Paul Michaelis, wurde im selben Jahre wie Cassai immatrikuliert und mag ein Verwandter von ihm gewesen sein. Er war früher Professor der Poetik und Rethorik in Eperjes, in derselben Schule, wo Cassai studierte, und musste von dort, als die grosse Verfolgung begann, flüchten. Er ging nach Breslau, wo ja gerade unser Georg Michaelis weilte und beide verliessen gemeinsam Breslau, um nach Wittenberg zu ziehen. Paul schrieb sich dort in die Matrikel folgendermassen ein: „Paulus Michaelis, Divo-Andreensis, hactenus in ill. Statuum Evangeliooirum, quod in Hungaria superiori est, Collegio Poeseos, deinde Orat. et Hist. P. P. nunc exul." Er war ein talentierter 1 2 3 4

S. Szabö-Hellebrant III. No. S. Szabö-Hellebrant III. No. So in Sammelband Hung. VI. S. Szabö-Hellebrant III. No

* 4256. 2718. 6. auf die Nummern 39 a, 41, 62. * 2943.

126 Mann, ein geschickter Musiker und Poet, der in Jena sogar zum „kaiserlichen Poeten" geweiht wurde und von dem man in Torgau eine Schulkomödie aufführte. Man gab ihm den Beinamen „Exul Apollo" und er unterrichtete eine Zeitlang mit flammender Beredsamkeit an der Universität Leipzig, seine Trunksucht bereitete ihm aber bald ein trauriges Ende.1 3. Das Gerüst der Lebensdaten Cassai's überlieferte -Johann von Berger, der 1725, in seinem Todesjahre, Rektor der Universität Wittenberg war und die Gedächtnisrede über ihn gehalten hatte und Johannes Ladislaus Bartholomaeides in den Memoriae Vngarorum. Aber weit mehr als sie, beleuchten dias Leben seiner Wittenberger Jahre seine eigenen Schriften, sowie auch die Gelegenheitsgedichte, die seine Freunde und1 Verehrer an ihn gerichtet hatten. Seine eigenen Werke sind belanglos.2 Er schrieb ausser einigen theologischen Dissertationen fast nur schwülstige Gelegenheitsgedichte, eine Spielerei von Höflichkeitsbezeugungen, wie sie zu jener Zeit der Barocke allgemeine Sitte war. Es werden hier Exulanten begrüsst oder betrauert, 3 Kameraden zur glücklich bestandenen Prüfung gratuliert, Abschiede gefeiert, Hochzeiten und Taufen verherrlicht, ein glückliches neues Jahr oder ein frohes Namensfest gewünscht, Verstorbene beweint und dergleichen. Sie erzählen aber sein Leben. De sehen wir ihn nicht nur als fleissigien Respondenten und Defendenten, sondern auch als fröhlichen Studenten, der es sich nicht nehmen liess an Begrüssungsabenden seine Freunde, Gönner und Professoren in mit dem barocken Geschnörkel seiner Zeit verzierten Versen zu feiern, sie mit den Helden Israels und den Göttern Griechenlands zu verglei1 Er schrieb (1674—1678) die bei Szabo-Hellebrant III. verzeichneten Nummern * 2656, 2718, * 2725, * 2831, * 2895, * 2923 und * 2924. — Mehrmals wurde er in Versen begrüsst, so in No. 2900 u. * 2946. Im letzteren, das den Titel „Exul Apollo" führt, hat ihn auch Georg Michaelis gefeiert. 2 Sie sind bibliographisch beschrieben bei Szabö-Hellebrant III. No. * 2787, * 2865, 2953 (Respondens), — 3220 (Defendens), »3221, 4432 (Praeses), — * 3148, * 3222, * 3320, »3468, 3475, * 4065, * 4372, * 4607, * 4746, * 4256, weiters: 2718, 2711, 2724, 2781, 2848, 2849, 2880, 2946, 3210, 3211, 3262, 3263, 3265, 3368, 3477, 3584, 3585, 3595, 3657, 3707, 3772, 3832, 3839, 3852, 3912, 4066, 4155 , 4216, 4318 , 4367 , 4562, 4611, 4613, 4614, 4658, 4709 (lauter Gratulationsgedichte), — 3319, 4656, 4609, 4705, 4794, 3022, 3079, 3648 (Condolationsverse). — Szinnyei führt ausserdem an (Magyar lrök, Bd. V. Sp. 1142.) No. 3., 5., 6. u. 7. (die beiden letzteren auch bei Petrik I. S. 397.). Einige bibliographisch noch nicht beschriebenen Drucke seiner ähnlichen Schriften findet man in den Sammelbänden seiner Bibliothek, so in Bd. Hung. VI. 6. No. 81 a, Hung. VI. 179, No. 33., 98., 111. 5 Szabö-Hellebrant III. 2718, 2711, 2724, 2946, 3079.

127 chen und dann die metrischen Grüsse in Druck gelegt dem Geehrten zum ewigen Andenken und als Huldigung zu überreichen. So begrüsst er in lateinischen und deutschen Versen seinen Gönner, den reichen Syndicus Georg Heber, der zwar „den süssen Duft des Goldes nur verlacht",1 aber doch weiss, wie viel eine materielle Unterstützung für einen armen heimatslosen Studenten bedeutet. Auch Professor und Universitätsrektor Quenstedt war ihm ein wohlwollender Freund. Quenstedt wandte den ungarischen Flüchtlingen ein besonders warmes Interesse zu und half ihnen, wo er konnte. Mehrere Ungarn lebten bei ihm in Kost und Quartier und in seinem Heim fanden öfters Zusammenkünfte statt. Auch an Cassai selbst wurden viele Begiiissungsgedichte geschrieben. 1681 feierten ihn die in Wittenberg studierenden siebenbürger Sachsen in ungarischen, deutschen und lateinischen Versen bei Gelegenheit seiner Promovation zum Magister.2 Als er 1687 heiratete, bekam er eine ganze Flut von Begrüssungsdrucken.3 Da gratulierten der Wittenberger Professorenkörper mit dem Rekton* Joh. Andr. Quenstedt an der Spitze, die in Sachsen lebenden Exulanten und eine grosse Schar ungarischer und deutscher Freunde. Die Braut, Esther Drechsler, stammte aus Korpona in Ungarn und war Tochter eines Exulanten. Es folgten noch viele bedichtete Namensfeste (Cassai leistete sich noch mit 78 Jahren eine „Mensa Platonica nuper festa Georgi" 1718),4 doch finden sich leider die dichterischen Beileidsbezeugungen bald in der Mehrheit. 1706 starb im siebzehnten Lebensjahre seine Tochter Dorothea, beweint durch 32 Trauergedichte..'' Drei Geschwister gingen ihr noch als kleine Kinder im Tode voraus. Cassais Frau starb Anfang Juni 1723. Auch anlässlich ihres Todes erschienen mehrere Drucke. So die Trauerrede Joh. Christ. Ludwigs: Der letzte Gang als der beste Gang, die Beileidsgedichte der wittenberger Professoren und das Trauergedicht ihres Sohnes Johann Friedrich.6 Nun war von der Familie nur mehr dieser bei dem alten Vater. Es war ein äusserst liebenswürdiger Jüngling, wie das aus sehr zahl1

Szabö-Hcllebrant III. »3468. Szabö-Hellebrant III. 3153. — Aus demselben Anlass auch No. 3156. 3 Szalbö-Hellebrant III. * 3482. und aus der Cassaischen Bibliothek in den Sammelbänden im Ung. Inet, zu Berlin, Bd. Hung. VI. 6. No. 81., Hung. VI. 77. No. 34., Hung. VI. 184 a, No. 1., 2., 3. « Sammelband Hung. VI. 184 a, No. 11. 5 Szabö-Hellebrant III. »4609. 6 Sammelband Hung. VI. 184 a, No. 14., 15., 16. — Dieser Sammelband (derzeit in Berlin) wurde 1914 in Halle von Herrn Dr. Heinrich Reinhold unter dem Titel „Personalia Hungarorum imprimis Cassaiana" zusammengesetzt. 2

128 reichen Gelegenheitsdichtungen hervorgeht. Als er am 29. April 1719 zum Magister promoviert wird, gratulieren ihm „die allhier studierende gebohrne Wittenberger". 1 Im selben Jahre, „als er Das Elb- mit dem Sal-Athen verwechselte", das heisst, als er nach Halle zog, bekommt er Abschiedsverse vom Freytags-Prediger-Collegium.2 Bei dem Tode seiner Mutter ist er wieder in Wittenberg, aber im März 1724 stirbt er selbst. Er erlag -— wie wahrscheinlich auch seine Schwester Dorothea — der Lungenschwindsucht. Nicht weniger als 7 Drucke betrauern seinen Tod.:! Es beklagen ihn die in Wittenberg studierenden Ungarn, die deutschen Kameraden, seine zwei Privatschüler, die Freunde des Vaters, „Die Keilische Tisch-Compagnie", Dr. Krausens Tisch-Compagnie und D. Chladenis Tisch-Compagnie. Und so blieb Cassai zu seinem Lebensende einsam und allein. 4. , Die Gelegenheitsdichtung war sicherlich ein minderwertiges Kunstprodukt. Voll mit Schmeicheleien, umtändelte sie in liebenswürdiger Weise ¡die menschliche Eitelkeit. Nein, man kann ihr keinen künstlerischen Wert zusprechen und auch ihre Aufrichtigkeit, ihre Glaubwürdigkeit mag fraglich sein. Ihr grösster Teil ist in der Bücherflut der vergangenen zwei Jahrhunderte untergegangen und obwohl eine ungeheure Menge solcher Gelegenheitsdrucke seinerzeit produziert wurde, wurden sie doch nur in einigen wenigen Exemplaren gedruckt und sind demzufolge heute ziemlich rar. Es nimmt einem Wunder, wenn man sieht, dass die Bibliothek Cassais in drei viertel Teilen ihrer Stückzahl solche „Ehrenschalle" umfasste. Ein beträchtlicher Teil davon gilt ihm, ist an ihn geschrieben, und der grösste Teil seiner eigenen literarischen Tätigkeit bestand in dem Gekritzel solcher Komplimente. Er hat sie alle in ,seiner Bibliothek schön sorgfältig aufbewahrt. Welch eine Eitelkeit, nicht wahr, eine ganze Bibliothek von Gratulationsversen, Tausende solcher Drucke, teils von ihm, teils an ihn, teils an seine Bekannten oder von ihnen an Fremde geschrieben. Und dennoch, diese Sammlung bietet mehr, als das Bild des fidelen Ungarn, der den weissgedeckten Tisch liebt und eine Gelegenheit zu einer kleinen Diktion nicht gerne verpasst. Für ihren Kreis abgeschlossen, fast vollständig, durchaus systematisch angelegt, hat sie nicht bloss den bibliographischen Wert einer Curiosasammlung, die eine Menge anderswo unbekannter Drucke enthält, sondern sie besitzt auch -

1

a

Ebenda No. 12. Ebenda No. 13. Ebenda No. 17—23.

129 vom historischen Standpunkte aus betrachtet ein recht beachtenswertes Material. Der Umstand, dass die Verfasser, wie auch die Begrüssten dieser Gelegenheitsschriften in Deutschland damals so zahlreich lebende Ungarn waren, verleiht ihr einen historischen Quellenwert. Wenn man aus der Sammlung die Namensliste der vorkommenden Ungarn aufstellt und aus den Emblemen der Verse die auf ihre Person bezüglichen Daten herausschält, so enthüllt sich vor uns eine in fremdem Lande lebende ungarische Gesellschaft, das Leben und Wirken vieler Hunderter tüchtiger Ungarn, die in Wittenberg, in Dresden, Breslau, Thorn, Zwittau, Berlin, Leipzig, Jena und Altdorf ein ehrenvolles und durchaus ungarisch gefühltes Leben verbrachten. Man könnte eine Geschichte der zu Cassais Zeit an den deutschen Universitäten studierenden ungarischen Jugend schreiben. Man kann ihrem Zusammenhang mit dem Vaterlande folgen, einem Zusammenhang, den jedes Gedicht betont, der sie in ihrem teuer bewahrten Ungartume bestärkt und ihre Eintracht so achtenswert macht. Bei der Zusammenfassung dieser Poesie fühlen wir den Vorwurf, den wir soeben Cassais Eitelkeit gemacht, entkräftet. Nein, den Grund zur Sammlung gab nicht die blosse Eitelkeit und auch nicht allein ein sentimentales freundschaftliches Gefühl für die Verherrlichten und Verherrlicher. Da herrscht ein System, Cassai sammelte da nicht die Gelegenheitsschriften aus oberflächlichen Gesichtspunkten, sondern die Dokumente, die sie enthalten. Denn sie sind Dokumente einer innig ausgebauten Eintracht. Cassai hat die persönlichen Beziehungen selbstbewusst, mit politischem Denken gepflogen. Da gab es eine Heiratspolitik, die zwischen Ungarn und Deutschen feste Bande knüpfte. Es waltete ein Protektionssystem, das die Flüchtlinge zu Lehrer- und Predigerstellen und dergleichen verhalf, das ihnen Anstellungen verschaffte, die ihren geistigen und gesellschaftlichen Ansprüchen würdig waren. Dies war die richtige Heilmethode gegen den Morbus Hungaricus. Einige wurden in den Lehrkörpern der Universitäten angestellt, wie Cassai, Joh. Bapt. Roschelius und Georg Chladenius in Wittenberg. Paul Michaelis und Georg Lani in Leipzig, der zu seiner Zeit meistbereiste Ungar, ansonsten durch seine Vielschreiberei bekannte Daniel Moller in Altdorf. Andere waren Schullehrer, wie Paul Fekno in Torgau, manche Geistliche, wie der ehrwürdige Samuel Pomarius, oder der friedrichsthaler Pfarrer Jeremias Pilarik und etliche fanden Anstellung beim Magistrat irgend einer Stadt als Stadtschreiber und dergleichen. Ja, die Gevatterschaften, die Tauf- und Namenstagfeierlichkeiten zeitigten seinen Landsleuten materielle Vorteile, verhalf sie zu Protektion und Stellen. Und die glückliche Schicksalswendung der Einzelnen führte zu Deutsch-Ungarischen Sympathien für die Übrigen. Und diese Sym9

130 pathie war umso aufrichtiger, da sich darin dieselben Gesellschaftsklassen trafen, lauter Mittelstand, lauter studierte Leute, alle desselben Glaubens, alle von derselben liberalen Denkungsart beseelt. Cassais Heim wurde ihnen, wie einstens in kleinerem Masse jenes Quenstedts, ein geistiger Mittelpunkt. Cassais Sammlung, sowie die 791 Briefe und 3 Stammbücher seiner hinterlassenen Handschriften, liefern eine Menge 'Material zu einem Kapitel der Geschichte der Deutsch-Ungarischen Verständigung und Freundschaft. Besonders die Briefe bieten ein noch unerforschtes Quellenmaterial, dessen Veröffentlichung sich sicherlich lohnen würde. 5. Cassai besass aber auch andere Bücher. Da war vor allem die Literatur über den Prozess und den Leidensweg der Exulanten, die vielleicht in keiner anderen Bibliothek so vollständig erhalten ist, wie in der seinigen. Man sieht auch hier ein systematisches Sammeln. Waren doch viele der Schiffbrüchigen der grossen Protestantenverfolgung Freunde, Lehrer und Verwandte von ihm, war doch ihm selbst der Weg zur Heimat versperrt. Die Memoiren und Flugschriften der gewesenen Sträflinge sind fasst alle in seiner Bibliothek zu finden, so jene des Christoph Klesch, des zu Tode verurteilten, seinen Häschern aber entflohenen halberblindeten Georg Lani, der nach seiner Flucht in Italien von Bettelei leben musste, die drei Bücher Anton Reisers, einst Geistlicher Pressburgs, die grosse polemische Schrift des Pseudonymen Job Krestianszky, von der er eine dritte Variante besass (Szabo— Hellebrant kennen zwei), die Bücher des Reinmundus Rimandlus alias Daniel Moller und so weiter. Auch unter den Gelegenheitsdichtungen enthalten viele Andeutungen und Klagen über die Unduldsamkeit jener Zeit. Alle diese gelehrten Leute hatten ein höchts interessantes Leben geführt, voll Gefahren und Mühsal, sie sind weit in Europa herumgewamdert, bis sie endlich in Deutschland Ruhe und Achtung fandlen. Eine andere, ebenso bedacht angelegte Sammlung war die der Vitebergensia. Auch sie enthielt vor allem Hungarica: Dissertationen und Disputationsthemen der wittenberger ungarischen Studenten, aber dieser Kreis erweitert sich dann, er nimmt die Antrittsreden der Rektore und Dekane auf und breitet sich auf alle Drucke aus, die sich auf die Universität Wittenberg beziehen. Diese Sammlung, die sich nun grösserenteils in der Universitätsbibliothek Halle befindet, wurde auch nach Cassais Tode weiter ausgebaut. In Halle schätzt man sie wegen ihres einzig dastehenden Materials bezüglich der Universität Wittenberg. Für Ungarn liegt ihre Bedeutung darin, dass Wittenberg einst die von

131 Ungarn meistbesuchte ausländische Universität war. Bartholomaeides zählt aus den Jahren 1522—1812 insgesammt 2078 ungarische Studenten auf, die dort studiert haben. Erst waren es nur einzelne, dann kamen immer mehr, in 1555 immatrikulierten sich schon 25 und es wurde im selben Jahre dort eine „Natio Hungarica" gegründet, die dann, durch Cassai wiederbelebt,, bis zur Übersiedelung der Universität nach Halle, im Leben blieb. Bartholomaeides zählt aus dem XVI. Jahrhundert allein 871 Wittenberger ungarische Studenten auf. In der ersten Hälfte des XVII. Jahrhunderts flaute ihre Zahl ab, nahm aber in der zweiten Hälfte wieder zu und Cassai ist 1675 in der chronologischen Listé dés Bartholomaeides der 1356-ste. In seinem Jahrgange wurden 16 Ungarn immatrikuliert und zu diesen kamen bis zu seinem Tode (1725) noch 262 hinzu. Aber viel wichtiger als diese Zahlen war der Einfluss den Wittenberg durch seine ungarischen Studenten auf Ungarn ausübte. Bartholomaeides nennt eine Menge Wittenberger Studenten, die dann als Schriftsteller und Vorkämpfer des Protestantismus in Ungarn gewirkt haben. Wie die Katholiken auf Rom, so blickten die Protestanten auf Wittenberg. Und auch in die Defensive gedrängt, als die Gegenreformation einsetzte und siegreich durchdrang, war es der Wittenberger Geist, der der evangelischen Gemeinde in Ungarn Verhaltungsmassregeln wies. Neben den drei zielbewussten Sammlungen hatte aber Cassai noch andere Bücher, die vielleicht nicht systematisch, sondern gelegentlich in seine Bibliothek kamen, die aber doch in das besondere Gebiet seines geistigen Interesses gehören. Es sind meist theologische und religionsgeschichtliche Werke. Wenn auch nicht zahlenmässig, doch aber der Bedeutung halber, nehmen auch hier die Hungarica die erste Stelle ein. Ich möchte nur eine Gruppe hervorheben, den Bestand der in ungarischer Sprache geschriebenen Werke, welcher jetzt den Stolz des Ungarischen Instituts der Universität Berlin bildet. Letzteres verwahrt aus der Cassaischen Bibliothek 52 altungarische Drucke1 darunter 5 solche, die anderswo nicht zu finden sind2 und auch in der Universitätsbibliothek von Halle befinden sich 4 Unica/ 1 Diese Bücher waren nicht 1

Szabó Károly:

Régi Magyar

Konyvtár

(Altungarische Bibliothek,

I.

Band),

No. 38, 55, 98, 299, 313, 398, 410, 534, 573, 642, 678, 687, 754, 764 , 786 , 826 , 8 3 1 , 833, 876, 886, 925, 927, 941, 969, 1065, 1067, 1133, 1179, 1207, 1234,

1256;

1297,

1383,

1404,

1650,

1757,

1771,

1772,

1421, 1782.

1434, —

1474,

Sztripszky

1458,

1529,

1547,

Hiador: Adalékok

1601,

1628,

(Zusätze

1633,

zu der

Altungaräschen

Bibüiothek) I. No. 2138. — und drei in der Bibliographie bisher noch Unbeschriebene. 2

Szaibió I. 1067, Sztripszky I. 2 1 3 8 und die Unbeschriebenen.

3

Sztripszky I. 1839, 2128 a, 2142 und 2180. —

L a u t einem Artikel von Kolo-

man Révész (in Magyar Könvvszemle, 1886. S. 2 5 4 — 2 6 8 . ) sollen sich in Halle noch die Nummern Szabó I. 249 und 1591 befunden haben.

9*

132 alle im Besitze Cassais; eine gehörte 1725 einem Georg Sartorius,1 vier stammen aus der Hinterlassenschaft des Michael Rotarides,2 drei wurden 1925 in Berlin aus dem Einbandsdeckel zweier altungarischen Bücher Cassais gelöst,3 die übrigen 48 aber mögen bereits in seiner ursprünglichen Bibliothek eingereiht gewesen sein. Cassai pflegte das Eigentumsrecht seiner Bücher nicht durch seinen Namenszug zu bezeichnen — ich fand nur einige Gelegenheitsschriften damit versehen — und da auch der von ihm angelegte Katalog seiner Bibliothek verlorengegangen ist, kann man die Provenienz der einzelnen Bücher des jetzigen Bestandes nicht mit Sicherheit feststellen. Die Gelegenheitsschriften, die Exulantenliteratur und die Vitebergensia kamen auf dem natürlichen Wege der Freiexemplare zu ihm. Die Verfasser, oder die Adressaten waren Bekannte von ihm, die wussten, dass er diese Sorte von Drucken sammelte. Die anderen Bücher hingegen waren zu seiner Zeit schon antiquarisch. Fast alle tragen eine, oder mehrere datierte Besitzervermerkungen. Ich habe nun angenommen, dass alle jene Bücher, deren letztes fremdes Besitzervermerk vor 1710 datiert ist, noch aus dem Besitze Cassais stammen. Dazu gehören auch die vorhin erwähnten 48 altungarischen Drucke. Die Liste der früheren Besitzer ist recht lehrreich. Drei Bücher erhielten ihr letztes Vermerk vor Cassais Geburt; drei sind datiert aus dem ersten Jahrzehnt seines Wittenberger Aufenthalts; die übrigen alle aus dem ersten Jahrzehnt des XVIII. Jahrhunderts. Von diesen tragen 13, unter anderen als letzten, den Namenszug Matthias Motuz de Also-Räsztok, dessen Besitzervermerke die Jahreszahlen 1705, 1706, 1707, 1708, 1709 und 1710 zeigen.4 Über Matthias Motuz wissen wir nur soviel, als Michael Aachs, Rektor des Bartfelder Gymnasiums in seiner Widmung des Buches Balthasar Zolyomi: Szentseges elmelkedes (Bartfeld, 1710. — Szabö I. 1771.) an ihn schrieb: „Tudös es Tiszteletes Motuz Matyäs Uramnak. A' kegyes es Istent ditserö Eperjesi Evangelica Magyar Ecclesianak hüseges Lelki Pasztoränak. fis az ß kegyelme kedves Häzas tärsänak A' nemes es Nemzetes Szekely Erzsebet asszonynak." (Dem Gelehrten und Hochwürdigen Herrn Matthias Motuz, getreuen Seelenhirten der frommen und Gott lobenden Evangelisch Ungarischen Gemeinde zu Eperjes. und seiner lieben Ehe-Gattin, der edlen Frau Elisabeth von 1

Szabö I. 1529. Szabö I. 1434 und Sztripszky I. 2128 a, 2142, 2180. 3 Szabö I. 833, 1067 und ein bisher Unbekanntes mit noch einigen anderen Fragmenten. 4 Die Nummern Szabö I. 1256 (aus dem Jahre 1705), 410 (aus 1706), 573 (aus 1707), 299, 642, 826, 1133, 1628, 1650 (aus 1708), 925, 1234, 1383 (aus 1709) und 1771 (aus 1710). 2

133 Szekely.) Motuz hat übrigens selbst ein gereimtes Gedicht von 14 Strophen zu diesem ihm gewidmeten Druckwerk als Beitrag geliefert. Wann diese Bücher zu Cassai gelangten, konnte ich nicht bestimmen. Wir wissen aber aus den Gelegenheitsdichtungen und Briefen, dass Cassai seine Beziehungen zu seinen Glaubensbrüdern in Eperjes stets wach gehalten hatte. 6. Cassai hat nach dem Tode seines Sohnes sein Testament dreimal niedergeschrieben. Das erste Konzept war deutsch und obwohl es in der endgültigen lateinischen Abfassung nicht wesentliche Abänderungen erfuhr, ist es doch die getreue und spontane Widergabe seines letzten Willens. Da es der Literatur über die Bibliothek unbekannt geblieben und erst 1925 von Herrn Prof. Christ, Direktor der Universitätsbibliothek in Halle, wiederaufgefunden und der Bibliothek einverleibt wurde, möge es hier folgen: 1 „Im Nahmen der hochgelobten Drey-Einigkeit, Gott des Vaters, Sohnes und des Heiligen Geistes Amen. „Da es dem allweisen Gott gefallen, meinen eintzigen Sohn M. Iiohann Friedlich Michaelis, den 14. Martij Ao 1724 noch vor meinem Tode, in meinem hohen Alter von dieser Welt abzufordern, also ist es meine Schuldigkeit, und höchst nothwendig, allsobald Richtigkeit mit meinen Sachen zu machen. Da mein Sohn dahin ist, so habe ich eben keinen necessairen Erben, obgleich von meiner seeT. Liebste ettliche in dern Brandeburgischen und weiter übrig sind; doch weil Sie der Höchste biszher nach ihrem Stande versorget, dasz sie nach meiner Hülffe nicht fragen dürffen, so habe ich nach reifer Überlegung, vor besser zu seyn erachtet, wenn ich das meinige zu Gottes-Ehren auf dieser löblichen Academie anwendete. So setze ich demnach bey göttlicher Berufung, guten Verstände und reifen Überlegen, weil ich ohne das stets im Sinne gehabt ein Beneficium vor die allhier studierende Hr. Ungarn zu stiften, benannten Hr. Ungarn, welche successive auf dieser Academie studiren werden, zu heredibus ex asse ein, dasz Ihnen mein Haupt-Vermögen an 5000 Meiszensche Gülden, welches bey Tit. Hr. Iohann Böttichern in Leipzig und theils noch in der grossen Land Lotterie stehet, wie solches meine Consignationes, die mir Hr. Iohannes Bötticher des Raths Vertrauter und Vornehmer Handelsmann in Leipzig als ein gültiges Document gegeben, und bey mir befindlich sind, wie auch meine übrigen Lotterie Scheine die Hr. Bötticher bey sich hat, ausweisen, als ein Fundamentum und Capital zu einem gros1

Michaelis, Deutsches Testament, Halle, Ü B . Ung. Bibl. VII. 28 g, (Ms.) 4 ° .

m semt Stipendio, nebst meiner gantzen Bibliotheqve und meines Sohnes hinterlassene Büchern, an gebundenen und ungebundenen, wie auch an MSSptis zu theile werden! Nun habe ich zwar noch andere kleine Capit a t a aus stehen, als 100 Rthl Capital und 18 Rthl Zinsen bey des seel. Consistorial-Rats Sthurzfleisches Erbin gevollmächtigten Hr. M. Christian Friedemann Martini, Diacono in Budstädt; demach über 100 Rthl bey Tit. Ihro Hoch-Ehrwürden H. Probst und Superintendenten in Clöden aus. Ihro wohl-Ehrwürden dessen Hr. Söhne Pastore in Wittenbärge, wie auch etwas bey Hr. Augusto Christiano Commercien-Rath Einken auf Wechsel, doch diese , sollen zu meinen Begängnisse, meinen Kupfer-Stuhle, Druckung meiner Leichen-Predigt, und Verfertigung dreyer Epitaphiorum, yor mich und meiner seel. Liebste auf das Grab und vor meinen Sohn auf das Grab und vor uns drey in der Wand, in der Fuge des Schwibbogens bey des seel. Sanders Epitaphio verwendet werden, sie mögen noch aussen stehen bey meinem Tode, oder allbereit bey mir eingekommen seyn. Meine Moeblen und Hausgerath kan auch zu Gelde gemacht werden, davon die nöthigen Unkosten zu Verfertigung des Repositorii und Einbindung der ungebundenen Sachen können genommen, doch will ich mir auch vorbehalten, von diesen Sachen einem oder dem anderen der mir in meinem grossen Elende bey gestanden, zur Dankbahrkeit zuerzeigen. Mein Wille ist demnach dasz mein Capital auf Zinsen ausgegeben werde, und aus diesen Zinsen, so weit es reichet, ettlichen all hier studierenden Ungarn auf 3 Jahr, jährlich 25 M. fl. zu Faoilitirung ihrer studiorum sollen ausgezahlet werden, da sie dann eben nicht gehalten seyn sollen in das Convictorium zu gehen, weil die Speisen daselbst nicht ein ieder Magen vertragen kan. Die jenigen nun, welche zur perception dieses Stipendii gelangen, sollen durch einen Revers sich verbinden, dasz sie vor allen Dingen Gott vor Augen halten und fromm und fleissig leben wollen, dabey sollen sie gehalten seyn lebens lang die wahre Lehre, ivelche sie auf dieser Löblichen Academie eingesogen zu bekennen, lehren und vertheidigen. Ihre Vorgesetzen Hr. Ephoros wollten sie ferner in Ehren halten und ihren ivohlgemeinten Vermahnungen ernstlich nachkommen. Endlich so sollen sie sich verbinden, wenn sie dereinst in patriam würden zurück gekommen seyn, und ein Ampt erhalten haben, dasz sie proportionaliter nach ihrem Vermögen zu Erhaltung und Wachstum, dieses Stipendii etwas einsenden wollten. Doch ist nicht meine Meinung, als wenn allein mein Geldes alles ausmachen sollte, sondern da verlange ich, werzu die percipienten dieses Stipendii selber Hand anlegen sollen, dasz mein Testament in Ungarn bekannt gemacht, und iederman, die Vornehmen und reichen Herren sonderlich, hernach auch die geringeren zu einer erklecklichen Beysteuer ermuntert werden, da denn auch ein

135 Duckat nicht soll verachtet werden, wenn er ein gesendet wird. Sollte nun der Höchste seinen Seegen geben, dasz dieses Stipendium um zu merckliches wachsen sollte, so kan der Numerus der Stipendiaten bisz auf 25 vermehret auch endlich das Kvantum von 2500 fl. vergrösert werden. Ephori, Collatores und Curatores sollen, da mein Sohn tod ist, seyn der Hr. Rector oder Pro-Rector Magnificus und alle 4 Membra der hochlöblichen Theologischen Facultät, welche denn, wenn das Stipendium wachsen sollte 50 M. fl. und allso ein ieder 10 M. il. zu ihrer Recreation jährlich be kommen sollen. Was die Bibliotheque an betrifft, so kan ich keinen Locum determiniren wo sie stehn sollte, doch meinte ich es wäre am besten, wenn ein grosz Repositorium gemacht würde, wo alle meine Bücher darinn Raum hätten und würde in die Bibliothecam publicam, und über das Repositorium unser beyde Büldnisse gesetzt. Sollte aber dieses geschehen, so musz dennoch kein eintzig Buch von denen meinigen, wenn es gleich unter denen andern Büchern der Academischen Bibliotheque vorhanden wäre, verkauft werden, weil dieses nicht nur die löbl. Academie, sondern in specie die allhier studierenden Hr. Ungarn angehen. Diesen müsste auch ein freyer Zutritt erlaubt werden, dasz sie nicht nur im Atrio verblieben, sondern hinein zu ihren Büchern gehen, dieselben durchsehen, aus denen selben excerpiren, auch bey gegebenen Schedul das Buch das sie verlangen höchstens auf 4 Wochen nach Hause nehmen können. In den Thesaurum dieser kleinen Bibliotheqve hat auch mein Sohn ein Schau stücke worauf des Fürstens von Gotha Bildnisz, und eine Säule worinn ein WeinStock gewunden a 8 Rth welches er von dem Hertzog von Gotha Friderico I I I mit Versicherung seiner Gnade bekommen, weil er Ihm im Iubileo Reformationis seine Disputation De Iudice juste non injuste judicante dediciret, nebst seinen Pitschir Ring legiret, wor zu ich einen raren Thaler von Bethlehem [sie!] Gabor, und meinen, und meiner seel. Liebste Thrau-Ringe lege. Endlich ist dieses noch zu erinnern dasz auf unsere Epitaphia alle Jahre soll Achtung gegeben werden, damit dieselbigen nicht verfallen. Der Herr aber der Allmächtige Gott segne diesen guten Ent zweck, lasse diese löbliche Academie wachsen, mir aber schenke er die Ewige Seeligkeit, Amen. M. Georg Michaelis Adjunctiis." Es folgt noch ein kurzes Nachwort mit Verfügungen über das Begräbnis. Am 10. August 1724 überreichte er dieses Testament in lateinischer Abfassung einer Deputation, die der damalige Rektor auf seine B i t t e zu ihm sandte. Und genau ein Jahr später, am 10. August 1725

136 bat er die Deputation nochmale zu sich und übergab ihr, als endgültiges, ein in einigen Punkten abgeändertes Testament vom 6. August 1725. Dies ist bekannt und wurdie wiederholt zitiert. 1 Einige Monate darauf, am 13. Oktober 1725 erlag er im 86. Lebensjahre einem Schlaganfall. i. Das weitere Schicksal der Bibliothek schildert Karl Gerhard auf Grund der Wittenberger und Hallischen Universitätsakten." Sie umfasste, laut alten Aufzeichnungen und einstimmiger Annahme der Literatur, etwa 2000 Bände. Das mag ja sein, doch zwischen Bandzahl und Stückzahl muss schon damals ein beträchtlicher Unterschied gewesen sein, denn schon Cassai hatte Bündeln und Sammelbände, die je eine grössere Anzahl kleiner Gelegenheits- und Universitätsdrucke vereinigten. Zu den Druckbänden gesellte sich noch eine Sammlung von Handschriften aus dem XVII. und dem beginnenden XVIII. Jahrhundert, darunter seine auch heute noch erhaltenen 21 Bände eigener Handschriften, die ausser seiner Correspondenz und den bereits erwähnten 3 Stammbüchern, Entwürfe und Fragmente, Nachschriften nach den Vorträgen seiner ungarischen Lehrer aus den Jahren 1661—1671, wittenberger Kollegnachschriften aus 1675—1682 und Predigtnachschriften aus der Zeit von 1702—1708 enthalten. Die Bibliothek blieb in ihrer alten Lokalität, das heisst in der möblierten Wohnung Cassais, welche auch als Wohnung der Bibliothekare diente. Es wurden ihrer immer zwei aus den Reihen der ungarischen Studenten gewählt und da dieses Amt begehrlich war, gab es darob Wahlkämpfe, Eifersüchteleien und Intriguen. Es kam nicht alles so, wie es Cassai von seiner Fundation hoffte, die Bibliothek erfüllte aber dennoch eine Mission. Sie gab der fast schon zweihundertjährigen „Natio Hungarica" eine feste Grundlage. Das Bibliothekszimmer wurde, wie Bartholomaeides erzählt, ihr Versammlungsort: „Hic oonveniebant ciues Pannones, hic de commodis suis deliberabant et in commune c o n s u l t a b a n t . . . hic ducebatur a praefectis bibliothecae protocollum in quod notatu digna inferebantur." 3 DieBücher wurden fleissig benützt, ihr Bestand vermehrt, die Bibliothek förderte nicht nur das Studium, sondern auch das nationale Empfinden 1

In den hier im folgenden angeführten Beiträgen Karl Gerhards und Alexander

Raffays. 2

Beiträge zur Bücherkunde und Philologie August Wilmanns zum 25. März 1903 gewidmet. Leipzig, Otto Harrassowitz, 1903, 8° auf S. 138—158: Die ungarischeNationalbibliothek der Universität Halle-Wittenberg. Von Karl Gerhard. ® In der Vorrede zu den Memoriae Vngarorum.

137 der Wittenbeiger ungarischen Studenten, und so hat Cassai, ein Robert Gragger des angehenden XVIII. Jahrhunderts, in ihr gewissermassen ein Ungarisches Institut an der Universität Wittenberg geschaffen. Die Bibliothek erlebte aber ein überaus wechselvolles Schicksal das ihren Gebrauch wiederholt auf lange Jahre verhinderte. Während des Siebenjährigen Krieges, in 1760, als Wittenberg unter einem verheerenden Bombardement stand, schleppte sie der Bibliothekar Peter Madäcs aus dem schon brennenden Gebäude in einen Keller, welchen nachher, nach dem Falle Wittenbergs, die österreichischen Sieger als Magazin gebrauchten und die Bücher, die ihnen in dem Wege standen, in einer Ecke aufhäuften. Madäcs harrte treulich aus, brachte die Bibliothek wieder in Stand, besserte Einbände aus und liess Bündeln von Gelegenheitsdrucken einbinden.1 Während den Napoleonischen Kriegen wurde das Bibliothekslokal als Quartier französischer Soldaten requiriert, die Bibliothek musste von Zimmer zu Zimmer ziehen und ihre gelegentliche Unterkunft oft binnen 24 Stunden räumen. In 1813 wurde versucht sie in Säcken und Kisten über Hals und Kopf nach Dresden zu retten, gelangte aber unterwegs mitten in ein Gefecht zwischen Franzosen und Kosaken. Der Wittenberger akademische Bibliothekskustos M. Gerlach flüchtete nun mit dem Transporte auf ein Rittergut in der Nähe Meissens und da blieben die Säcke und Kisten drei Jahre lang liegen. Auf Elbkähnen nach Wittenberg zurückgebracht, musste sie 1823 die Reise nach Halle antreten, da die Universität Wittenbergs mit derjenigen Halles vereinigt wurde. In Halle, wo sie erst 1829 — also nachdem sie 16 Jahre lang für die Benützer verschlossen lag — den ungarischen Studenten übergeben wurde, sollte sie noch sechsmal ihr Lokal wechseln, denn sie war in baufälligen Häusern untergebracht. Endlich fand sie in dem neuen Gebäude der Universitätsbibliothek ein Heim. Es war ein Wunder, dass sie überhaupt noch existierte. Dazu kamen noch die fortwährenden Klagen wegen Büchelveruntreuungen. Schon 1729 meldet der Bibliothekar, dass mehrere Bücher abhandengekommen und durch den Dieb verpfändet worden seien. In 1779 wird sogar ein Bibliothekar, der in der Bibliothek 4 Jahre lang gehaust hatte, angezeigt, dass er beim Einheizen und Pfeifeanzünden als Fidibus Druck- und Manuscriptenblätter der Bibliothek verwende. Und so geht dies weiter, bald zeigen die Bibliothekare die Benützer an, bald die Benützer die Bibliothekare, die Universitätsbehörde musste öfter einschreiten, consilia abeundi erteilen und stets strengere Bibliio1

S. dio Eintragung zu dem Sammolband Hung. VI. 6. (Occasionalia Hungarorum 4 ° ) ; „Compingendum curauit fisci sumptibus Petrus Madäcs Ao 1762 Bibliothecarius, & quidem, vt tum erant tempora, mgenti pretio."

138 theksregulative erlassen. Die endlosen Klagen hatten zur Folge, dass die Verwaltung der Bibliothek, unter Verlust ihres konfessionellen Charakters, 1890 ganz der Universitätsbibliothek Halle übergeben wurde. Es ist ja wahr, die Kleinodien, Ringe und Münzen, hatte man gestohlen, von den Manuskripten sind seit 1813 nicht weniger als 90 Bände verschwunden — gerade die wertvollsten aus der Sammlung des Michael Rotarides 1 — von denen dann eins in der Bibliothek des evang. Lvceums zu Pressburg, ein anderes in der Bibliothek des Domkapitels zu Nyitra wieder aufgetaucht ist. (Beide befinden sich auch jetzt noch im Besitze dieser Bibliotheken.) Dennoch glaube ich, dass der ursprüngliche Bestand der Bücher Cassais noch so ziemlich beisammen ist und dass die Verluste mehr die modernen, später erworbenen Werke betreffen. Wenn man sieht, wie gut erhalten die alten Bücher sind, wie sich die auf schlechtes Papier gedruckten und nur einige Blätter umfassenden Gelegenheitsdrucke ohne Schimmelflecke und in so reicher Fülle erhalten haben, kann man nicht umhin anzuerkennen, dass sie die Bibliothekare tüchtig verwahrt hatten. Die Bibliothek besteht heute aus weit mehr über 4000 Bänden — und dies ist bemerkenswert, da ja ihre Mittel überaus bescheiden waren. Schon seit Cassais Tode zahlten die neuangekommenen ungarischen Studenten je 12 Groschen in die Bibliothekskasse und später wurde den Stipendiaten 1—2 Thaler zur Vermehrung der Bibliothek abgezogen. Es war ein glücklicher Gedanke, dass man in 1747 die Bibliothek des in Wittenberg verstorbenen Literarhistorikers Michael Rotarides ankaufte. Dieser hatte mehrere seltene ungarische und sich auf Ungarn beziehende Bücher 2 und besonders wertvoll waren seine Handschriften,3 von denen aber leider ein grosser Teil noch vor 1829 verschollen ist. Später vermehrte sich die Bibliothek fast nur durch Geschenke; die ungarischen Studenten hinterliessen ihr bei ihrer Rückkehr in die Heimat ihre eigenen Bücher und seit 1860 bekam sie die Publikationen der Ung. Akademie d. W. gratis. Wenn auch meist nur durch Bitten und Geschenke bereichert, war der Zuwachs doch umsichtig in dem engeren Rahmen der Hungarica gehalten und jene Bücher, die die Ungarn am notwendigsten brauchten, besass die Bibliothek immerhin.

1

Heinr.

Reinhold:

Die Handschriftensammlung

der Ungarischen

Nationalbiblio-

thek zu Halle. (Zentralblatt für Bibliothekswesen, 1913, S. 4 9 0 — 4 9 9 . ) 2

Sza.bö I. 1434, Sztripszky I. 2128 a, 2142, 2180, Szabö I I I . 1628, 2190, 2391,

3

In Berlin sind noch vorhanden Mss. No. 2 9 — 4 2 a Rotaride collocta.

139 Es ist nicht leicht ihre Verluste festzustellen, besonders heute, wo sie entzweigeteilt sich teils in Halle, teile in Berlin befindet. Auch eine parallele Untersuchung der älteren und neueren Kataloge verspricht nicht viel, da die Titelangaben nicht immer genau sind. Den ältesten Katalog verfertigte Cassai selbst, wie dies aus dem endgültigen lateinischen Testament ersichtlich ist (er schrieb ihn wohl nach Abfassung des deutschen Testaments, also in seinem letzten Lebensjahre) , dieser Katalog existiert aber nicht mehr. An ihm anschliessend führte man seit 1726 ein Zuwachsverzeichnis,1 das bis zum heutigen Tage fortläuft. Auch der Zweitälteste, von dien Bibliothekaren Georg Gregusch und Theodor Meridrovszky 1740 verfertigte und auf ihre eigenen Kosten zu Druck gegebene und bis zum dritten Bogen bereits gedruckte Katalog ist infolge der Intriguen ihrer Studienkollegen verboten und bis auf das gedruckte Titelblatt verloren gegangen. Und ebenfalls verschollen ist der Katalog des Martin Bobor aus 1780. Die Kataloge des Adam Latschny (1755)2 und Matthias Schroeck (1786) widmen sich dem Nachlasse des Rotarides, so dass der auf uns gebliebene älteste Katalog der ganzen Bibliothek jener des Kaspar Schuleck aus dem Jahre 1813 ist. Er umfasst in sauberer Schrift zwei dicke Foliobände, deren weitschweifige, doch temperamentvoll und fast amüsant geschriebene Einleitung (er schrieb deutsch, da er sich „mit keinem Hussarenlatein behelfen mochte") seine Methode klar darlegt. Sein Zweck war „die Bibliothek in Einheit zu bringen" und zu dessen Durchführung nahm er acht „Operationen" vor, deren erste die Zerstörung des bisherigen Systems war. Dann verfertigte er einen Realkatalog, stellte die Bücher in den Repositorien auf und nachdem alles rein und hübsch abgestaubt war, machte er einen alphabetischen Index, schrieb den Manuskriptenkatalog, versah die Bücher mit den Eigentumssignaturen (einer gedruckten Vignette mit Namen dler Bibliothek und dem Datum Wittenberg 1813) sowie mit Localsignaturen und schloss die Operationen mit einem numerischen Index ab. Es war dies ein vortrefflicher Katalog, an dem er inmitten der Napoleonischen Kriegsunruhen arbeitete, als das Gebäude, in dem die Bibliothek untergebracht war, zum Kriegslazarett verwandelt wurde. Und, oh Ironie des Schicksals, kaum war der Katalog fertig, als die Bibliothek ihre verunglückte Flucht nach Dresden antreten musste, der schöne Katalog 1

S. den Ilandschriftenkatalog im zitierten Artikel Heinr. Reinholds. Dessen I. Abteilung: Catalogi veteres Bibliothecae Hungarieae, zählt die noch vorhandenen 7 Kataloge aus der Zeit von 1726 bis 1882 auf. 2 Kovdts Lâszlô: A hallei régi magyar könyvtär katalôgusa. (Magyar Köny.vszemle, 1905,, S. 89—90.) Das Original des Lateehny'schen Katalogs befindet sich in der Bibliothek des Ungarischen Nationalmuscums in Budapest.

140 war ausser Gebrauch gesetzt und diente, nachdem man 1829 die Bibliothek wieder der Benützung übergab, fast nur zur Feststellung von Verlusten. In den späteren oberflächlichen Katalogen von 1861 und 1882, die zahlreiche Flüchtigkeiten und nicht selten lächerliche Irrtümer enthalten, sind die Lokalsignaturen schon verändert. Man kann aber aus dieser Veränderung, die eben durch das Streichen der Verluste entstanden, dennoch Schlüsse ziehen. Ich habe mich bloss mit den alten Büchern, aus der Zeit Cassais befasst und bemerkte, dass sie dreimal, in drei verschiedenen Zeitaltem signiert wurden. Die älteste Signatur war durch die „Zerstörung" Schulecks ausser Gültigkeit gesetzt; die zweite ist jene Schulecks und die dritte jene, welche nach der Revision und Streichung der Verluste gültig blieb. Nun sieht man in der Abteilung der ungarischen Bücher, die auch die zur bibliographischen Gruppe des ersten Bandes Karl Szabös gehörenden und der ungarischen Bibliographie teuersten altungarischen Drucke enthält, dass die Nummern Schulecks von 1 bis 78 mit denen der später revidierten übereinstimmen. Schulecks Nummer 83 aber entspricht der neueren Nummer 79 und die Numerierung setzt sich dann mit diesem Unterschiede von 4 Einheiten bis zu Ende fort. Daraus ist ersichtlich, dass von den alten ungarischen Büchern höchstens 4 abhanden gekommen sind.1 Die Verluste sind also nicht so gross, wie man aus den Klagen2 schliessen könnte. Auch Cassais Sammlung der Gelegenheitsschriften und Vitebergensia mag ohne nennenswerte Verluste auf uns geblieben sein. Diese Sorte von Druckwerken pflegt man nicht zu stehlen und da sie in grossen Bündeln und Sammelbänden aufbeVahrt waren, sind sie auch bei Transporten nicht so gefährdet, wie die kleineren Bücher. Der fidibusschnitzende Bibliothekar, der vielleicht ein kritischer Geist war und nach seiner Meinung belanglose, oder unvollständige Blätter ausmerzen wollte, ist zwar verdächtig, doch die Sammlungen machen nicht den Eindruck, als ob mit ihnen schlecht verfahren worden wäre.

1 Darunter soll sich nach Matthias Szlävik (A halle-wittenbergi „Bibliotheca Hungarica" rövid ismertetese, Protestäns Egyhäzi es Iskolai Lap, 1882, Sp. 526—529.) auch die erste Ausgabe von Sylvesters Üj Testamentom befinden. Die zweite Ausgabe (Szabö I. 98.) besitzt die Bibliothek auch heute noch, diese war aber in den Katalog von 1861 nicht unter dem Namen des Verfassers, sondern unter jenem des Druckers aufgenommen. Es ist möglicherweise dasselbe Buch, das Szlävik für die erste und verschwundene Ausgabe hielt. Die Jahreszahlen der beiden Ausgaben: 1541 und 1571, sind leicht zu verwechseln. 5 Revesz Kaiman, Stromp Läszlö, dr. Szlävik Mätyäs: A hallei magyar könyvtar. (Prot, Egyhäzi es Iskolai Lap, 1886. Sp.: 1301—1305, 1402—1404 und 1432—1435.)

141 8. Halle war für die ungarischen Studenten nicht das, was einst Wittenberg gewesen. Es kamen ihrer immer weniger, denn sie besuchten lieber die Universitäten der grossen Metropolen. Die Bibliothek wurde seltener benützt und so verlor sie ihre frühere Bedeutung. In Ungarn warf man die Frage auf, ob es nicht nützlicher wäre, sie den ungarischen Forschern anderswo zugänglich zu machen? Béla v. Majläth wollte sie der ihm unterstehenden Bibliothek des Ungarischen Natiomalmuseums in Budapest erwerben1 und der Evangelische Konvent Ungarns beschloss im Oktober 1882 auf Antrag Ludwig Haans die Universität Halle zu ersuchen, ihr die B-ibliotheca Hungarica zu überlassen. Von alldem konnte wegen den Bestimmungen der Fundation natürlich nicht die Redie sein. Im Dezember 1900 wurde die Bibliothek dem Halleischen Bibliothekar Dr. Heinrich Reinhold unterstellt, der die Nachlässigkeiten der früheren Bibliothekare wieder gutmachte, die Bibliothek in Ordnung brachte und bis 1913 zwei Zettelkataloge verfertigte: einen alphabetischen und einen Standortskatalog. Um die Bibliothek dien Forscherkreisen zugänglicher zu machen, trachtete er den Katalog in Druck herauszugeben. Die Evangelische Gemeinde Ungarns versprach hiezu die Mittel herbeizuschaffen. Reinhold entbehrte auch die Hilfe ungarischer Sachverständiger nicht und Bischoff Alexander Raffay legte in ungarischen Fachzeitschriften ein durchaus richtiges Programm der Drucklegung des Katalogs dar.2 Einen kurzen Katalog der Handschriften hat Reinhold im Zentralblatt für Bibliothekswesen (1913, S. 490—499.) herausgegeben. Wäre der Krieg nicht dazwischen gekommen, so wären die Bemühungen Reinholdls erfolgreich gewesen. Prof. Robert Gragger gab 1920 dem Schicksale dier Bibliothek eine neue Wendung. In der Erwägung, dass die Bibliothek nun schon jahrzehntelang in Halle unbeniitzt gestanden habe und dass die von Ungarn meistbesuchte deutsche Universität die Berliner sei, die ja auch einen mit einem Ungarischen Institut verbundenen Lehrstuhl für ungarische Sprache und Literatur hat, regte er den Plan an, die Bibliothek in das Ungarische Institut zu versetzen, dia sie ja unter den obwaltenden Umständen dort am natürlichsten ihrem Zwecke dienen kann. Durch die 1 Magyar Könyvszemle, 1881, S. 240—242. — Auch Koloman Révész befürwortete in seinem bereits zitierten Artikel (Ebenda, 1886, S. 254—266.) ihre Überführung in die Bibliothek des Nationalmuseume. s Raffay Sändor: A hallei egyetemi könyvtärral kapcsolatos magyar könyvtär. (Mùzeumi és IJönvvtäri ÉrtesitS, 1914, S. 54—59 und Theológiai Szaklap, 1913, S. 244—261.)

142 Möglichkeit einer intensiven Benützung und Ausbeutung ihrer »Schätze, würde sie auch ihre alte Bedeutung wiedererlangen, aber auch den ungarischen nationalen Interessen von grösserem Nutzen sein. Der preuss. Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, Prof. Dr. C. H. Becker, schloßs sich seiner Argumentation an und so wurde die Transferierung der Bibliothek nach Berlin angeordnet. Die ungarländische Evangelische Gemeinde protestierte dagegen, da sie sich für den Rechtsnachfolger Cassais hielt und als solcher auch früher eine Kontrolle über die Bibliothek ausübte. 1 Auch das Collegium der Wittenberger Professoren hatte Bedenken, da die Bibliothek nach Halle stiftungsgemäss kam, willigte aber schliesslich unter Annahme einer Ausleiheformel ein.2 Gragger hatte im Ungarischen Institut leider nicht Raum genug um die ganze Bibliothek aufzunehmen, auch hätte er diabei viel Ballast mitbekommen, da ja das Ungarische Institut einen Teil der modernen Werke schon selber besass, für viele andere hingegen, wie z. B. für ausländische theologische Bücher, keine Verwendung fand!, und soi wurde die Bibliothek entzweigeteilt. Dies ist ein bedauerlicher Umstand, doch die historische Einheit der Bibliothek wird durch die Ausleiheformel gewahrt und der Zweckmässigkeit nach den obwaltenden Möglichkeiten genug getan. Nach Berlin kamen die Handschriften, dlie sich auf ungarische Sprache, Literatur, Geschichte und Geographie beziehenden Drucke — etwa ein Viertel des Ganzen, jedoch der wertvollste Teil — das übrige blieb in Halle. 9.

In den Briefen und Handtechliften, in den Sammlungen der Gelegenheitsschriften und der Vitebergensia, findet der Forscher ein reiches Material zu dter ungarischen Biographie, der Religions- und Geistesgeschichte des XVII. und XVIII. Jahrhunderts. Aber auch für den Bibliographen ist die Bibliothek eine wahre Fundgrube unbekannter Hungarica. Über ihre Seltenheiten wurde mehrmals berichtet 3 und einige Unica sind auch facsimiliert herausgegeben.4 Ärpäd Hellebrant hat, als 1

No. 244—245/1921. des Generalschriftführere des Ung. Evangelischen Konvents. Unterbreitung des Ephorus Robert an den preuss. Minister f. W. K. u. VB., datiert aus Halle, den 17. 7. 1921. ' In den bereits zitierten Artikeln Matthias Szläviks (Prot. Egyhäzi es Iskolai Lap, 1882, Sp. 526—529.) und Koloman Révész'. (Magyar Könyvszemle, 1886, S. 254—266.). 4 Dr. Béla Obäl: Hungarica Vitebergensia. Libri unici ex Bibliotheca Nationis Hungaricae Universitatis Halensis cum Vitebergensi consociatae. — Halis Saxonum. 1909, Typis Wischani et Burekhardti, 8°, 43 unn. Bl. (Enthält die b«i Sztripszky L beschriebenen No. 1839, 2180, 2128 a und 2142.) 2

143 er mit Karl Szabó den dritten Teil der „Altungarischen Bibliothek" (Régi Magyar Könyvtar I I I . ) bearbeitete, die Bibliothek in Halle besucht und eine grosse Menge Beiträge zu dieser Bibliographie gesammelt. Er hatte aber scheinbar nur kurze Zeit zur Verfügung, denn viele andere Drucke, die er hätte aufnehmen sollen, liess er unbeachtet.1 Auf die Titelblätter der einzelnen Drucke im Quartsammeiband Hung. VI. 6. schrieb er „kell" (nötig), wenn er sie brauchte, oder „nem kell" (nicht nötig), wenn sie nicht in sein Sammelgebiet gehörten. Trotzdem hat er mehrere ausgelassen. Man findet auch etliche Stücke ungarländischer Drucke in nichtungarischer Sprache, die in den zweiten Band der „Altungarischen Bibliothek" gehörten, die aber weder Szabó, noch Sztripszky kennt.2 Ich lasse nun zum Schluss drei Beschreibungen ungarischer Drucke folgen. Der erste, eine polemische Schrift zu einem verrufenen theologischen Streit der Antireformation,11 wurde 1925 in Berlin aus einem Kaschauer Ledereinbande4 des X V I I . Jahrhunderts herausgelöst und ist leidier unvollständig. In demselben Einbanddeckel befandl sich mocli edn Fragment des unbekannten Druckes und unbekannten Textes einer Schönen Historie über Jason und Medea, ein Thema, welches im X V I . Jahrhundert in der ungarischen Literatur mehrfach bearbeitet wurde. — Der zweite ist eine Ausgiabe eines oft gedruckten Katechismus. Der dritte ist das Erstlingswerk des eminenten ungarischen Gelehrten des X V I I I . Jahrhunderts, Matthias Bèi, und' mag seinem Bibliographen willkommen sein. Die beiden letzteren Drucke stammen augenscheinlich aus dem Nachlasse Cassais.

1

So in Sammelband Hung. V I . 4. die Nummern 31, 38, 61, 69 . 90. 98, 104, 106r

107, 122, 123, 125, 127, 130, 145, 150, 156, 181, 182, 186, 202, 203; in Sammelband Hung. V I . 6. No. 2, 9, 18, 57, 64, 78, 81, 82, 85; in Sammelbd. Hung. V I . 7. No. 1, 3 a, 4; in Sammelbd. Hung. V I . 179. No. 33 u. s. w. 2

In Sammelbd. Hung. V I . 4. die

Nummern 3, 65, 68, 83, 84, 91 (alle aus der

Offizin Brewer in Leutschau), 115 (Solna 1691), 116 (Räkocziana 1707) und 120. — In Sammelbd. Hung. VI. 6. No. 20 (Kasehau 1660), 33 a (Kaschau 1668), 35 (Leutschau) und 93 (o. O.). 3

Auch als Beitrag zu dem Artikel Eugen

Zovanyis: Sämbar Maty as es Kis Irare

hitvitai s az ezekkel egyidejü hitvitäzö müvek. (Theologiai Szemle, 1925, I. No. 3.) * des Werkes Czegledi Istvän: A z orszägok romlasarvl irot konyvnok Elso Kaschau, 1659, Druck des Marcus Severinus, 8°. (Szabo I. 941.)

Resze,

144 a) Kiss Imre (Kaschau? 1667.) VEGSÖ-KEPPEN | SYCCVMBALA | ACTORSAGABAN | POSAHAZI. || 1667. Efztendöben. | 8 o Titeibl. + Sign. A8—D8 = 32 Bl. Am SchlusB des Textes Unterschrift und Datum: „Pater Kyss Imre. | Irtam Munkács Yárában, Szent Jakab havának | szent Jakab napján. 1667. Efztendöben." b)

János (Bartfeld 1701.) Kisded Gyermekeknek | való | CATECHISMUS, | Az Az: | Róvid Kérdéfek és Feie-1 letek által való | TANITAS. | A' Kerefztyéni Hitnek fö- | Agazatiról. | Melly irattatott | SIDERIUS JANOS | által. | Moít pedig újobban é fzép for-1 mában ki-bossattatott. || Bartfan, 1701. Eíztend. | 12° Sign. A12—B12 = 24 Bl. mit Blattkustoden.

SIDERIUS

c) BÉL Mátyás (o. O. 1704?) Zúv TÚJ Oew! | Tekintetes, Nemes, Nemzetes és Mindennémü j Nagy Betsületre méltó Patronus Urainak, 's a' t. | Tekintetes, Nemes és Nemzetes, Idósb | VEISZ GY¿RGY URAMNAK, | Szabad és Királyi Befztercze Bánya Yá- | rosának p. n. Erdemes Bírájának, 's"; a' t. | Tekintetes, Nemes és Nemzetes | FISCHER MIHALY URAMNAK, | Méltóságos Fejedelem, Felsó Vadáfzi RAKOCZI F E - | RENCZ, Kegyelmes Urunk ö Nagysága Beíztercze Bányai | Ertz-Mühelyeinek Fo Infpectorának 's egyfzer 's mind | azon Városnak egyik Erdemes Belsó Tanátsos Urának. | Tekintetes, Nemes és Nemzetes | KLEMENT MARTON URAMNAK, | azon Varos Belsó Tanátsának egyik érdemes URANAK, | 's egyfzer 's mind ditsiretes Fo Notáriusának, 's a' t. | Nemes és Nemzetes | DAVIDIS GASPAR URAMNAK, | azon Város Belsö Tanátsának egyik érdemes | URANAK, 's a' t. | Nemes és Nemzetes | MERVALT ISTVAN URAMNAK, | azon Város Bels6 Tanátsának egyik érdemes | URANAK, 'S a' t. | Nemes és Nagy Betsületre méltó | KMETOVINI JANOS URAMN: | azon Város Belso Tanátsának egyik érdemes | URANAK. | Nemes, Nemzetes és Tudós | MOLLER CAROLUS UR: | Nemes Zólyom Vármegyének 's egyfzer 's mind | azon Befztercze Bánya Város érdemes P h y f i c u s - | fának és Orvos Doktorának, 's a' t. || Nemes és nagy betsületre méltó, | ZACHARIDES JANOS URAMNAK, | azon fzabad és Királyi Befztercze Bánya Városának ér- | demes Orátorának, és a' külsö Tanátsnak | egyik Affefforának. | Nemes és Nemzetes | BOHUS ADAM | Uramnak, Zólyom Vármegyé- | nek

145

hites Aífefforának, 's egyfzer 's mind azon Varos külsö | Tanátsának érdemes Tagjának. | Nemes és Nemzetes [ SEXTIUS DANIEL Uramnak, Nemes Zólyom | Vármegyének hites Aífefforának, 's a' t. | Nemes és Betsületes | NIGRINI JANOS Uramnak, azon Város | dítséretes Számtartojának. | Nemes és Nemzetes | KLEMENT SAMUEL Uramnak, azon Város | érdemes Notárius Adjuctusának. I LANC IST VAN Uramnak, azon Város |külso Tanátsának érdemes UramTagjának. | Nemes és Betsületre méltó. | BENEDICTIJANOS nak, azon külsS | Tanátsnak érdemes Tagjának. | Nemes és Nemzetes | KRAU DI JANOS Uramnak, azon külso | Tanátsnak érdemes Tagjának. | Nemzetes és Betsületre méltó | BREWER JANOS Uramnak, azon külsö | Tanátsnak érdemes Tagjának. | Nemes és Nemzetes | HENZELI JANOS, Uramnak, azon külsó Tanátsnak érdemes Tagján | Nemes és Nemzetes | VINT MIHALY Uramnak, azon külsS Tanátsnak érdemes Tagjának | Nemes és Nemzetes | KRAUDI ADAM Uramnak, azon külso Tanátsnak érdemes Tagján: | Nemes és Nemzetes, | GABON ILLYES Uramnak, azon külsó Tanátsnak érdemes Tagján. | Nemes és Nemzetes | KRAMER BALINT, Uramnak, azon külsó Tanátsnak érdemesTagj | Nemes és Nemzetes | SEXTIUS PETER Uramnak, azon Város Lakosának 's a' t. | És az egéfz Magyar Haza Igaz és Kerefztyén Fiainak, békeséget minden lelki teíti jókkal | kivánván a' JESÚS Krifztusban, ezen munkátskájának sengéit ajánlja | Otsovaj BÉL MÁTYÁS, azon Befztercze Város A. | Oskolájának egyik tanuól Tagja. | 2 o Das Exemplar, enthalten im Foliosammeiband Hung. VI, 4, als No 22, ist leider unvollständig, denn es besteht nur aus zwei unnumerierten Blättern.

10

UNGARISCHE ROMANTIK. Von JOHANNES

KOSZÖ.

Die Romantik-Forschung hat nicht nur in Deutschland einen mächtigen Aufschwung genommen, sondern auch in anderen Ländern interessante Arbeiten gezeitigt. Bei uns hat in den letzten Jahren vor allem die neuerwachte Abneigung der Franzosen der Romantik gegenüber Schule gemacht und ein namhafter Vertreter der älteren Forschungsrichtung A . Zlinszky verglich Klassizismus und Romantizismus sehr zum Nachteil des letzteren (Klasszicizmus es romanticizmus. Budapest, 1924), wogegen ich im Napkelet ( N o v . 1924) und im Egyetemes Philologiai Közlöny ( X L I X . Jahrg. 1—6. H., 1925) meine Stimme erhob. Eigentlich hatte inzwischen schon für so manches Problem, das Zlinszky, der von der französischen Einstellung zu sehr beeinflusst die deutsche Romantik fast übersah, in seiner Arbeit beschäftigte, Strich in der Wölfflin-Festschrift die Lösung gegeben Strichs Aufsatz war uns aber zur Zeit unseres Meinungsaustausches noch nicht zugänglich; jedenfalls bestärkte er mich in meiner eigenen Auffassung bedeutend. Die Franzosen und auch Zlinszky wollten in der Romantik eine sozusagen destruktive Richtung sehen, die nicht nur zur Zersetzung der Kunst, sondern auch zur Untergrabung der ethischen Einstellung des europäischen Menschen und zur sozialen Revolution beitrug. Zlinszky brachte vorzüglich aus der französischen und englischen Literatur massenhaft Beispiele, die allenfalls zu denken geben. Ich nahm zwar einerseits französische und englische romantizistische Werke in Schutz, wies aber andererseits darauf hin, dass zwischen französisch-englischer und deutscher Romantik ein bedeutender Unterschied sei. Strichs Aufsatz wies dasselbe viel klarer nach und zeigte, wie deutsche Romantik in Frankreich umgemodelt wurde, dann nach Deutschland in der gewandelten Form zurückkehrend, hier als „Jungdeutschland" der Totengräber seiner eigenen Zeugerin werdend dieselbe politisch verwendbare Richtung vertrat, die revolutionären Ideen tatsächlich nahe stand. Ich möchte behaupten, dass die Franzosen überhaupt geneigt sind auch aus der Kunst eine politische W a f f e zu schmieden und dass diese Umstellung der deutschen Romantik in Frank-

147 reich eigentlich in Anlehnung an die alten französischen Aufklärungstraditionen so leicht zustande kam. Die französische Literatur des XVIII. Jahrhunderts hatte übrigens nicht nur rationalistische Aufklärungspropaganda besorgt, sondern auch die romantizistische Rousseau-Schwärmerei erzeugt, worauf sich die Franzosen immer berufen, wenn der Prioritätsstreit aufgeworfen wird, wo es uns allen doch ganz klar ist, dass die deutsche Romantik eine eigene — ich möchte fast sagen ureigene, echt germanisch-deutsche — Bewegung war. Unwillkürlich fragt man sich hier, warum wurde eben in der ungarischen Literaturgeschichte diese Frage (die eine auffallende Ähnlichkeit mit der Schuldfrage des Weltkrieges h a t : auch hier wird der Sündenbock für den g e i s t i g e n „Untergang des Abendlandes" gesucht) nach einer absoluten Wertung des Klassizismus und Verurteilung des Romantizismus gestellt? Die ungarische Romantik muss dabei doch eine gewisse Rolle gespielt haben. Wie wäre sonst ein Ästhetiker und Literarhistoriker wie Zlinszky, der sich vorwiegend mit der ungarischen Literatur befasst-e, darauf verfallen! Von dieser Seite müssen wir das Problem untersuchen, um einerseits uns Ungarn Klarheit darüber zu verschaffen, ob wir denn nicht dem deutschen romantischen Geist gegenüber ungerecht waren und sind, wenn wir alles durcheinander werfend von Romantik sprechen, andererseits auch der deutschen Forschung die Augen öffnen über ungarische Romantik, die man dort gern ohne weiteres als etwas der deutschen Verwandtes, ja womöglich von der deutschen Bewegung direkt Hervorgerufenes betrachten möchte. Es ist nicht uninteressant zu beobachten, wie in ungarischen literaturgeschichtlichen Werken seit langem ein unsicheres Schwanken sich zeigt, wenn von Romantik die Rede ist. Auch viele fremdsprachige (deutsche, französische, englische) ungarische Literaturgeschichten verraten dies dem Kundigen auf den ersten Blick. Ich nehme nur die von dem im Ausland auch bekannten, bei uns hochgeschätzten geistreichen gewesenen Budapester Universitätsprofessor Friedrich Riedl (A History of Hungarian Literature. London, 1906. Auch deutsch in der Kultur der Gegenwart: Berlin—Leipzig, 1908). Da ist der Romantizismus mit den beiden Kisfaludys im Zusammenhang als neue Richtung eingeführt und kurz besprochen. Noch dazu wird an Chateaubriand und Walter Scott erinnert. Das letztere mag noch hingehen, wenn man eigenst an ein englisches Lesepublikum denkt und gleichzeitig auf die Ritterburgruinen in Transdanubien (die Heimat der Kisfaludys) zu sprechen kommt. Bemerken können wir freilich gleich, dass diese vier Schriftsteller sonst nicht viel mit einander zu tun haben. Selbst der jüngere Kisfaludy, Karl K. (1788—1830), der auch in den neuesten ungarischen Literaturgeschichten noch als Anreger der 10*

148 vaterländischen Romantiker genannt wird, hat seine mit Recht gelobten Lustspiele, die die damalige ungarische Adelsgesellschaft der Provinz glänzend schildern, von Kotzebue beeinflusst geschrieben, was genug sagen mag. Unsere Fachwissenschaft hat dies längst festgestellt, es ist allgemein bekannt und dennoch rechnet man ihn zu den Romantikern, weil man über gewisse Tatsachen nicht hinweg kann; dass sich nämlich viele romantische Züge bei ihm zeigen. Man scheidet eben nicht reinlich Romantik von allgemein Romantischem, was hier besonders nottäte. Freilich rückte man doch merklich in letzter Zeit von den Kisfaludys ab und liess entschiedener die romantische Periode erst mit dem Jahre 1825 und mit Vörösmarty beginnen (so Pinter in seinen grundlegenden neueren Zusammenfassungen — Pinter Jentf, A magyar irodalom törtenetenek kezikönyve. Tudomänyos rendszerezes ket kötetben. Budapest, 1921; Magyar irodalomtörtenet. Bp., 1926"; A magyar irod. törtenete a közepiskoläk szamära. Bp., 1926—27 5 — hingegen hat Beöthy die romantische Bewegung von Kisfaludy ab gerechnet). Die Jahre von 1772 bis 1825 werden als Zeit des Neuerwachens und des Klassizismus bezeichnet, wogegen von 1825 bis 1849 die Epoche des Romantizismus und der Volkstümlichkeit angesetzt ist. Freilich kommt man auch hiermit nicht gut aus, wie es sich alsbald zeigen wird. Charakteristisch ist übrigens noch, dass Eugen Vertesy sein in der Ausgabe der Ung. Akademie der Wissenschaften erschienenes Buch üher das ung. romant. Drama eigens mit dem Untertitel versah: 1837—1850 (Vörtesy Jenö: A magyar romantikus dräma. 1837—1850. Budapest, 1913). Aber auch da wird wiederholt ausgesprochen, dass die älteren Werke Züge der „deutschen Romantik" zeigen, wogegen das eigentliche romantische Drama bei uns im Zeichen der französischen Romantik einsetzt. Freilich gab es tatsächlich eine Zeit, wo ein Kritiker wie Erdelyi in einem eigenen Aufsatz über Romantik handelnd darauf aufmerksam machen musste, dass nicht nur die Franzosen romantische Dichter aufzuweisen haben, sondern auch Shakespeare (!) und Walter Scott Romantiker sind (zitiert bei Vertesy, S. 56). Überhaupt macht eben Vertesys Buch selbst den Eindruck, als ob der Verfasser über Romantik und Romantisch nicht weiter nachgedacht hätte. Schon die Einleitung beginnt mit Victor Hugo und Byron ohne ahnen zu lassen, dass es auch so was wie deutsche Romantik gab, von der dann später dennoch die Rede ist, aber nur wo sie aus irgendwelcher Verlegenheit helfen soll; nicht einmal der Versuch einer Umschreibung des Romantischen, geschweige denn einer Definition wird unternommen. Allerlei „romantische" Elemente, Züge, Motive sind wahllos nebeneinander gestellt oder chaotisch durcheinander gewirbelt. So kennt man sich in dieser

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Stoffmasse des übrigens mit vielem Fleiss geschriebenen Buches selbst dann nicht recht aus, wenn man alle nötigen Gesichtspunkte mitbringt, die der Verfasser anzuwenden versäumte. Eins leuchtet aber ein: Vertesy ist der Überzeugung, dass man von einem ungarischen romantischen Drama nur reden kann, wo französischer Einfluss überwiegt. Er wurde jedenfalls von Bajzas kritischen Schriften und Polemien im Interesse der Franzosen, wie auch von Vörösmartys fragmentarischen Äusserungen über das Drama, wo sich viele Übereinstimmungen mit Y.Hugos Ansichten zeigen, irregeleitet; denn in Wirklichkeit zeigt sich das Französische nicht so unverkennbar in den tatsächlichen Leistungen, wie man das nach der Theorie meinen sollte. Wichtiger ist noch festzustellen, dass Vertesy, wie dies viele Stellen seines Buches offen zeigen, nur eine Abart des deutschen romantischen Dramas, die Schicksalstragödie und die Wiener Märchenstücke und Zauberpossen als deutsche Romantik zusammenzufassen scheint, wo er dann leicht wegwerfend von diesem Einfluss schreiben und darin eine Wohltat der französischen Richtung sehen kann, dass diese Stücke von ihr verdrängt worden sind. Das merkt er aber nicht, dass eben in den von ihm gerühmten französisch-romantischen Dramen Vörösmartys dieselben Elemente dominieren, die die Schicksalstragödie so verwerflich machten. Hier sind wir eben an dem springenden Punkt angekommen. Man braucht nur nachzusehen, welche Stücke das damalige ungarische Publikum am meisten liebte, so wird man eben die „Ahnfrau" darunter linden, wogegen andere Grillparzer-Stücke (wie die „Sappho") unglaublich schnell der Vergessenheit anheimfielen. Houwald, Raupach, Charlotte Birch-Pfeiffer, Haim spielen eine grosse Rolle neben Raimund, Nestroy und dem unverwüstlichen Kotzebue. der selbst in den 40er Jahren nur sehr allmählich an Boden verliert. Bezeichnend ist noch, dass der Franzosenfreund Bajza den Jungdeutschen Gutzkow, der also ebenfalls von Frankreich her kommt, ablehnt. Bleiben wir aber nicht beim Theater stehen. Was verraten Roman und Novelle des anhebenden XIX. Jahrhunderts? Unglaublich viele (für die damaligen ungarischen Verhältnisse zu viele) Übersetzungen oder vielmehr Überarbeitungen verschiedener deutscher Ritter-, Räuber- und Schauerromane, grösstenteils unter Verschweigung des eigentlichen Verfassers als selbständige Werke veröffentlicht, erscheinen noch im dritten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts ( v g S z i n n y e i Ferenc: Novellaes regenyirodalmunk a szabadsagharcig. Budapest, 1925, 2 Bände) Es ist inzwischen schon nachgewiesen, dass Korn, Gleich, Spiess, Vulpius usw., sowie deren Nachahmer ausgeschrieben worden sind. Ja selbst der Roman des deutschen XVII. Jahrhunderts wirkt noch nach

1-50 im XIX.: die Vollpfropfung einzelner erzählender Werke mit allerlei „wissenschaftlichem" Kram, wie dies bei Lohenstein und Genossen Mode war, lebt hier wieder auf. Überhaupt sind alle die Elemente rege, die ja auch in Deutschland gewissermassen als Wegbereiter einer niederen Romantik- wirkten. Es ist deshalb garnicht erstaunlich, dass ein Autodidakt wie der jüngere Kisfaludy in seinen eigenen Novellen von diesen lernend ebenfalls mit den grellsten Farben dieser sogenannten „Romantik" arbeitet. „Blutbecher", „Wiedersehen", „Nächtliche Hochzeit", „Dobozi", „Alexander und Gunda" verraten teilweise schon im Titel, wes Geistes Kinder sie sind. Giftbecher, Dolch, tyrannische Väter, unglückliche Liebe, Gespenster, allerlei Grausiges verweisen direkt auf die Ritter- und Räuberromane der Zeit. Zum Überfluss weiss man noch, dass Karl Kisfaludy nicht nur Kotzebues Stücke nicht verschmähte, sondern auch ein Liebhaber der Stürmer war. Mit Vorliebe bemächtigte er sich auch Ideen und Motive des deutschen Sturmes und Dranges. (Vgl. auch P4csi Jenö: A nemet Sturm es Drang dramaturgiai hatäsa Kisfaludy Kärolyra. Kolozsvär, 1907.) Alldies ist eben ihm garnieht zum Nachteil anzurechnen, im Gegenteil ist es erstaunlich, wie geschickt er in seinen besseren Werken das Übernommene unseren Verhältnissen anpasste und aus deutschen Stücken, sie mit geradezu genialem Verständnis magyarisierend, echterechte ungarische machte. Eben da zeigt sich wieder auffallend, wie wenig Motiv, Stoff, Fabel und alles übrige zu sagen haben, wenn sie im Schmelztiegel eines Künstlers zu neuer Einheit zusammenrinnen müssen. Uns ist aber nur das wichtig, woher dieser „Romantiker" den romantischen Anstrich hat und wir sind eben durch einseitiges Hervorheben dieser seiner Eigenschaften schon auf die Spur gekommen. In seiner von allen Literarhistorikern als „echt" romantische Novelle anerkannten Erzählung „Tihamer" zeigen sich Ossian-Töne. Szinnyei meint zwar, es könnte von Walter Scott-Einfluss (1825) die Rede sein, setzt aber hinzu, dass auch deutsche Wirkung denkbar sei. Eben er betont wieder an anderen Stellen seines grossen Werkes, dass nur ganz unbedeutende erzählende Werke der deutschen Literatur die unsrigen dieser Zeit beeinflussten, namhaftere Vertreter dieser Gattung, wie Chamisso, Arnim, Hauff, Eichendorff sind so gut wie unbekannt. J a sogar die Novelle wird von Kotzebues Theaterstücken und von noch minderwertigeren dramatischen Machwerken gespeist! Alles in allem steht es wohl ziemlich fest, dass man bei uns mit einer starken Wirkung des Trivialromans (dessen Verwandtschaft mit dem romantischen Roman ja auch für Deutschland von M. Thalmann nachgewiesen wurde — Geheimbundmystik, Mystik überhaupt, interessierte unser

151 Publikum aber minder) und mit der Ritter- und Räuberromantik des Sturm und Dranges zu rechnen hat. (Ich selbst habe in deutschen Gegenden Ungarns am Ende des XIX. Jahrhunderts vielbändige Kolportage-Romane, in denen Schillers „Räuber" romantisch ausgeschmückt zu fast unendlichem epischen Machwerk angeschwellt ein Auferstehen im Volke erlebten, als ungemein beliebte Lektüre feststellen können.) Es ist also ungerecht von deutsch-romantischen Einflüssen schlankweg zu reden und diese mit französischen zu vergleichen. Auf eine andere wichtige Tatsache hat mich die Beschäftigung mit dem deutsch-ungarischen Romanschriftsteller und Historiker Fessler schon früher geführt. Es ist geradezu erstaunlich, wie langlebig eine ausgesprochene barocke Welt- und Lebensanschauung, ja Lebensführung besonders in Westungarn, Transdanubien nicht nur im XVIII., sondern selbst ins XIX. Jahrhundert hineinragend herrschte. Inzwischen hat mich die Geschichte der bildenden Kunst in denselben Gegenden nur noch mehr davon überzeugt, dass hier eine lebendige Barock-Tradition alles beeinflussen musste. Vollends katholische Schriftsteller, wie dies eben die Kisfaludys (die zum Überfluss auch Österreich, vor allem Wien aus eigenster Erfahrung gründlich kennen lernten), Josef Katona und Vörösmarty waren. Hier ist wieder eine Bemerkung einzuflechten: in unserer Literaturgeschichte (und dies hängt nicht zuletzt mit dem Geist ihrer .Entstehungszeit sowie mit dem Umstand zusammen, dass sie auch in neuerer Zeit von einigen hervorragenden protestantischen Gelehrten gepflegt wurde, die hierauf kein Gewicht legten) hat man die Konfession der verschiedenen Schriftsteller, Dichter einfach unerwähnt gelassen. Es war geradezu schwierig bei manchen genau festzustellen, welcher Kirche sie denn angehörten. Pinters Verdienst ist es, dies vor kurzem zugänglicher gemacht zu haben. Dies soll natürlich kein Vorwurf sein, aber eben in einer moderneren geistesgeschichtlich angehauchten Forschung können solche Daten und Anhaltspunkte ausserordentlich wichtig werden. Ich habe nunmehr auch die Beobachtung gemacht, dass aus barock-geistiger Umgebung heraus kommende Männer, selbst wenn sie zeitweilig zur Aufklärung übergingen (wie z. B. Fessler), die Romantik alsbald als etwas Wesensverwandtes erkannten; ja Barockelemente ihres früheren Denkens und Empfindens einfach als romantisch ausspielend ein überraschendes Amalgam beider als „romantische" Kunstleistung zutage förderten (vgl. besonders Fesslers mystische Romane; auch sein Einfluss und dann der Wiener auf Zacharias Werner ist in dieser Richtung nicht gering anzuschlagen!) 1 Über1 Nicht uninteressant ist auch die Tatsache, dass der klassizisierende Kazinczy, der (obschon Freimaurer) die Mystik immer schroff ablehnte, Ealvinist war.

152 haupt ist meiner Überzeugung nach auch in der deutschen Romantik viel Barockreminiszenz, was erst allmählich nach dem jetzigen Aufblühen der Barockforschung ganz klargelegt werden wird. Die österreichische Literaturforschung hat für ihre Länder ein enges Zusammengehen von Barock und Romantik längst erkannt. Ich halte eben mit manchem Obenerwähntem im Zusammenhang (besonders Ossian bei Karl Kisfaludy, stürmerische Einflüsse usw.) folgende Bemerkungen der Nagl—Zeidler—Castleschen Deutsch-Österreichischen Literaturgeschichte (2. Bd., S. 87) für lehrreich: „Es fand gewissermassen eine Verschiebung des chronologischen Ganges der Entwicklung statt : ein Sprung von Klopstock zur Romantik. Bardische Vorzeitneigung und romantische Geschichtsdichtung gingen hier ineinander ü b e r . . „ W i r könnten noch deutlicher das Ineinanderweben Klopstockischer, bardischer und romantischer Elemente im Geistesleben Österreichs im Zeitalter der Befreiungskriege verfolgen ! ! . . ." (Es) „bildete sich . . . eine ganz eigenartige deutsch-österreichische Literatur, die man in ihrer Kunstdichtung vielleicht als romantischen Klassizismus, in ihrer volkstümlichen Dichtung als barocke Romantik bezeichnen könnte"! Ohne Kenntnis der Barockforschung und eingehendes Studium der österreichischen Literatur- und Kulturgeschichte wird man meines Erachtens das Problem der ungarischen Romantik nie lösen können; besonders was sozusagen gewisse romantische „Anfänge" anbetrifft, wird man im Dunkel bleiben. Es genügt nämlich garnicht nachzuweisen, dass das Werk dieses oder"; jenes deutschen Schriftstellers (etwa Kotzebues) auf einen oder mehrere der unsrigen wirkte, man muss auch die seelische Einstellung „ableiten" können, aus der heraus das vielleicht ganz andersartige, hier die „romantische" Form bekam. Auch scheinen eben die antinapoleonischen Befreiungskriege, eine gewisse antirationalistische Strömung in Österreich nach den josefinistischen Versuchen, eine österreichische katholisch-barock-romantische Renaissance des Patriotismus ihren Eindruck auf Ungarn nicht verfehlt zu haben, ebenso wie andererseits die ungarische Begeisterung, sogar ungarische Stoffe aus der Sage und Geschichte usw. auf österreichische Schriftsteller einwirkten. Ein gewisses Zusammengehen beider Völker ist umso leichter gewesen, da viele Mittler da waren: Schriftsteller, die beide Sprachen nicht nur verstanden, sondern geschickt gehandhabt haben. Auffallend genug ist ja auch, dass nicht nur die beiden Kisfaludys und Vörösmarty, sondern eine Reihe anderer Dichter grösstenteils die deutsch geschriebene grosse „Geschichte der Ungarn" Fesslers zu Rate gezogen haben, wo sie vaterländischen Stoff brauchten. Hoffentlich wird die neue, grossangelegte Zusammenfassung von Béla Pukänszky, die die Geschichte der ungarländischen deutschen

153 Literatur bis zum Jahre 1848 gibt (A magyarorszägi nemet irodalom törtenete. A legregibb idöktol 1848-ig. Budapest, 1 9 2 6 ) , hier helfend eingreifen.1 Ich betone wiederholt: nicht an rein philologischer Quellenforschung mangelt es uns, aber es fehlt die Zusammenschau, die diese Quellenforschungsergebnisse verwertend und gleichzeitig die ungarländische sowie die österreichische deutsche Literatur berücksichtigend gewißsermassen die Entwicklungsgeschichte der ungarischen Romantik gebe. Ich verweise nur noch darauf, wie es garnicht richtig ausgenützt wurde bei uns, dass die Kisfaludys Offiziere des gegen Napoleon kämpfenden Heeres waren und sie so manche „gemeinschaftlich-patriotische" Anregung schon da gewinnen mussten. E s ist ja auch kein Zufall, dass sie die Ballade, Romanze, Sage mit Vorliebe kultivierten und gleichzeitig die deutschen Dichter der Monarchie geradezu mit patriotischer Tendenz dieselben Gattungen betonten und pflegten (österreichische Balladendichtung — bei uns der deutsch schreibende Sammler Mednyänszky, dessen Verbindung mit Hormayr — der ungarische Themata in deutschen Balladen besingende Vogel usw.). U n willkürlich stellt sich hier auch die Frage: wie wirkte die Umstellung der österreichischen Regierung in Beurteilung der patriotischen Verwertbarkeit der Literatur in den napoleonischen Zeiten auf unsere eigene Dichtung ? Liegt nicht auch da ein Grund dessen, dass man mit erhöhtem Eifer an solche Werke ging? Ist es nicht auffallend, dass auch der ältere Kisfaludy (Alexander K. 1 7 7 2 — 1 8 4 4 ) so zäh an seinen erzählenden Gedichten „Sagen aus der ungarischen Vorzeit'" festhaltend sie noch immer erscheinen liess, wo sie längst überholt waren, wobei er selbst erwähnte, dass er gelegentlich seines Aufenthalts in Wien mit seinen Freunden Veit Webers Sagen der Vorzeit gelesen h a t t e ? Waren eben solche Wiener Erlebnisse also nicht richtunggebend für ein ganzes Leben, besonders wo es sich um einen solch feurigen Parteigänger der Adelsprärogative handelte wie Alexander Kisfaludy, für den die Menschen überhaupt erst beim ungarischen Adligen begonnen haben? Kein Wunder, dass er von einem Vorläufer und Wegbereiter der Romantik —• als welcher Veit Weber (Leonhard Wächter) gelten kann — genug der Liebe zum Mittelalter entnehmen konnte, sodass er die bedeutenderen Vertreter der Richtung dazu nicht mehr brauchte. Die Beobachtung stimmt übrigens, die bei Vertesy uns entgegentritt, dass die ungarischen Schriftsteller schon aus dem Grund kein näheres Verhältnis zu den grossen deutschen Romantikern eingingen, weil diese ihnen zu philosophisch und zu mystisch waren.

1

Von ihm wird die ungarländieche deutsche Romantik

1 8 1 2 — 1 8 4 8 verlegt.

auf

die vier Jahrzehnte-

154 Wir sehen aber: romantische Tendenzen strömen ihnen von anderen Seiten zu und eben diese deutschen auch österreichischen barockromantischen Einflüsse führen sie in der Richtung der patriotischen Dichtung, ja oft geradezu (wie dies ja auch bei den Deutschen der Fall war) auf konservative Bahnen. Selbst die verlachten und von der späteren Kritik viel geschmähten Ritterstücke haben zur Inaugurierung einer ungarisch-historischen Richtung geführt. Wie steht es dagegen mit den französischen Einflüssen? Die führen die sich ihrer Leitung Anvertrauenden gefährlichere Wege. Da stecken schon überall revolutionäre Ideen und Ideale. Es ist ja leicht heutzutage über gewisse Übertreibungen etwa Petofis die Achsel zu zucken, besonders da bei ihm eine glühende Vaterlandsliebe geradezu naiv mit wahrhaft umstürzlerischen Gedanken Hand in Hand geht, aber es ist doch ein sehr bedenkliches Zeichen, wohin die französische Orientierung führen konnte und sollte. Bei uns hat übrigens die französische Romantik (in Frankreich La jeune France genannt und daher die deutsche Namengebung der ihr entsprechenden Richtung „Jungdeutschland", wie dies Strich in seiner oben angeführten Abhandlung zeigt) der also unter deutschem, österreichischem halbbarockem Einfluss keimenden älteren Romantik der Kisfaludys, des jungen Vörösmarty ebenso den Garaus gemacht, wie in Deutschland der deutschen Romantik (unter der Maske und dem Namen der „jungdeutschen" Bewegung). Was heisst dies mit anderen Worten? Die deutsche Romantik, war napoleonfeindlich. Napoleon bedeutete aber den Geist der grossen französischen Revolution, also einen aufkläristisch-materialistischen Geist, der den Kapitalismus und gleichzeitig (da ja jede Sünde gleich ihre Strafe mit sich zur Welt bringt) den Gegner dessen, den Sozialismus zeugte. Die deutsche Romantik hatte gute Gründe dazu auf das Mittelalter mit seiner ständischen Gliederung zu verweisen dem alles gleichmachenden Rationalismus gegenüber (wie schön sagt es Dilthey: im Mittelalter war eine Dienstbarkeit der lebenden, fühlenden Person, Menschen gegenüber vorhanden; heute — und morgen wahrscheinlich noch mehr — der fühllosen Bestie mit tausend Fangarmen, dem toten Kapital gegenüber! Was ist geblieben von den grossen Schlagwörtern „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" ? fragt ein französischer Gelehrter heute und gibt selber resigniert die Antwort: nur das alles zu Tode nivellierende Gleichmachen, die Gleichheit in der schlimmsten Form). Die französische Romantik hielt hieran nicht lange fest, sondern überging eben unter V. Hugos Leitung mit fliegenden Fahnen in das Lager der grossen Revolution; der Kampf, ganz wie einst im XVIII. Jahrhundert, wurde wieder Losungswort in der Literatur. In Österreich wie in Ungarn wirkten die Ideen

155 der Franzosen aus naheliegenden Gründen mächtiger als die der deutschen Romantik: man zog hier eben auch in den Krieg gegen die allzugrosse Bevormundung der Völker. Die Ungarn hatten dabei noch eigene Gründe: ihrem Temperament sagten die wuchtigeren Worte mehr zu; die französischen literarischen Taten waren lauter. Aber auch der Umstand ist wichtig, dass man immer entschiedener Front machte gegen das Deutsche, worunter nur die immer ernster werdenden Nationalitätenstreitigkeiten und die deshalb umso höher gehaltene ungarische Sprache und ungarische Eigenart, besser gesagt deren zur Geltungbringung zu verstehen ist. Übrigens in Deutschland selbst siegte ja die antiromantische französische Romantik, ganz Europa ging eben unaufhaltsam den einmal in der grossen Revolution eingeschlagenen Weg weiter. Ob zum Besten der europäischen Menschheit? Wer weiss es! Das eine ist sicher, dass in der Monarchie die besseren Geister zwar reif waren, aber die grossen Yolksmassen wieder sprunghaft hineingerissen worden sind in westliche Kulturverhältnisse, die ihnen nicht organisch zugewachsen waren. Daran war aber beileibe nicht die Romantik als solche schuld, sondern eher der rationalistischaufkläristische Einschlag der europäischen Gesamtbewegung.

REVICZKYS DEUTSCHE

DICHTUNGEN.

Von G Y U L A VON

FARKAS.

Als die ungarische Literatur nach einem nahezu ein Jahrhundert lang währendein Verfall in der zweiten Hälfte des XVIII. Jahrhunderts einer nicht geahnten Blütezeit entgegenging, geriet sie bald unter den ausschliesslichen Einfluss des grossen ungarischen literarischen Reformators, Franz von Kazinczy. In den Reformplänen Kazinczys können wir zwei Haupttendenzqn beobachten. Vor allem wollte er den grossen westeuropäischen literarischen Strömungen in Ungarn einen Zugang eröffnen. Dies Ziel gedachte er in erster Reihe durch Übersetzungen zu erreichen, denn er schätzte eine gute Übersetzung viel höher, als ein minderwertiges Originalwerk. Wenn er auch in allen Literaturen, ganz besonders in den klassischen, bewandert war, stand er doch ganz unter dem Bann der deutschen Literatur. Goethe und) Schiller waren für ihn die grössten Dichter der Weltliteratur, er liebte aber auch Gessner, mit dem er in Briefwechsel stand, Lessing, dessen aesthetische Werturteile auch für ihn massgebend waren, Klopstock, dessen Messias er übersetzte. Mit Kazinczy hielt der deutsche Geist seinen Einzug in die ungarische Literatur. Kazinczy begnügte sich aber nicht damit, dass er seinen Landsleuten die Kenntnis der deutschen Literatur erschloss, er strebte überdies auch danach, die Werke des aufblühenden ungarischen geistigen Lebens dem Auslande vorzustellen. Zu diesem Zwecke bediente er sich wieder der deutschen Sprache, die er von seiner Kindheit an ausgezeichnet beherrschte, und dter deutschen literarischen Zeitschriften, die ihre Spalten ihm gerne zur Verfügung stellten. Er schrieb gelegentlich auch deutsche Gedichte oder übersetzte ungarische ins Deutsche, noch viel lieber schrieb er aber Rezensionen, in denen er unverblümt seine Meinung über die ungarische Literatur aussprach. (Einer solchen Rezension verdankte er die Feindschaft des älteren Kisfaludy.) Deutsch verfasste er auch die erste zusammenfassende ungarische Literaturgeschichte: die Tübinger Preisschrift. Alle ungarländischen Deutschen, die um die Jahrhundertwende und in der ersten Hälfte des XIX.Jahrhunderts bemüht waren, Ungarn durch ungarische Märchensammlungen und Anthologien (Georg Gaal, Graf Ma-jläth, Baron

157 MecLnyanszky, Karl Georg Rumy) der deutschen Lesewelt nahe zu bringen, standen unter seinem Einfluss, und auch Franz Toldy, der „Vater dler ungarischen Literaturwissenschaft" holte sich von ihm Rat, als er sein grundlegendes „Handbuch der ungrischen Poesie" verfasste, das auch Goethe — vom Verfasser persönlich überreicht — in die Hände bekam. Kazinczys fruchtbringende Vermittlerrolle war beendet, als das erstrebte Ziel —• die Synthese des ungarischen Gedankens und des westeuropäischen Geistes — durch die ungarische Romantik verwirklicht wurdie. Kazinczy musste sonach