Banalität des Geschlechts. Eine kritisch philosophische Perspektive zur Gender-Theorie von Judith Butler 9783896657671, 9783896657688


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German Pages 206 Year 2019

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Banalität des Geschlechts. Eine kritisch philosophische Perspektive zur Gender-Theorie von Judith Butler
 9783896657671, 9783896657688

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West-östliche Denkwege

Lisa-Marie Lenk

Banalität des Geschlechts Eine kritisch philosophische Perspektive zur Gender-Theorie von Judith Butler

ACADEMIA

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© Titelbild: Professor25 – istockphoto.com

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 978-3-89665-767-1 (Print) ISBN 978-3-89665-768-8 (ePDF)

1. Auflage 2019 © Academia – ein Verlag in der Nomos-Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, BadenBaden 2019. Gedruckt in Deutschland. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Besuchen Sie uns im Internet www.academia-verlag.de

Für Mama und Papa. Ich liebe euch.

Danksagung

Die Philosophisch-Pädagogische Fakultät der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt hat diese Dissertationsschrift im Sommersemester 2018 angenommen. Mein besonderer Dank gilt daher in allererster Linie meinem Doktorvater und hiesigem Lehrstuhlinhaber für Philosophie, Prof. Dr. Walter Schweidler, für die Möglichkeit als Quereinsteigerin promovieren zu können sowie die einzigartige Betreuung meiner Dissertation. Nur durch seine wohlwollende Unterstützung und viele hilfreiche Treffen konnte ich diesen Gipfel erklimmen. Er ist für mich, was meinen persönlichen und akademischen Werdegang betrifft, ein zentraler Meilenstein und Förderer. Auch dem Inhaber der Stiftungs-Juniorprofessur für Didaktik der Ethik an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, Prof. Dr. René Torkler, möchte ich von ganzem Herzen meinen Dank aussprechen für die fruchtbaren und konstruktiven Anregungen und die Erstellung des Zweitgutachtens. In persönlicher Hinsicht gilt mein innigster Dank meinen lieben Eltern, Edith und Peter Lenk, die mir nach meinem schon umfangreichen Studium auch noch die Promotion ermöglicht haben und auf deren volle Unterstützung ich in jeglicher Hinsicht stets zählen konnte. Ohne die bedingungs- und grenzenlose Liebe dieser beiden außerordentlichen Menschen wäre ich heute nicht da wo ich bin. Als Zeichen meiner tiefen Dankbarkeit ist ihnen daher dieses Buch gewidmet. Danke, dass ihr immer an meine Fähigkeiten geglaubt und mir auf dem langen Weg des Promovierens den Rücken freigehalten habt! Ihr seid gemeinsam mit mir auf diese Reise gegangen und euer Zuspruch hat mich vorangetrieben, als es an manchen Stellen steil, steinig und beschwerlich wurde. Das ist wahre Liebe. Danke. Vom Manuskript zur Drucklegung ist es ein langer Weg, der ohne Hilfe aus dem privaten Umfeld nicht bewältigbar ist. Ein besonderer Rückzugsort beim Verfassen der Dissertation war für mich die beschauliche Stadt Landsberg am Lech. Daher möchte ich meiner Schwester Nadine Ischwang mit Familie für die Möglichkeit bedanken, mir ihr Haus über Jahre als Wirkungsstätte so vertrauensvoll zur Verfügung gestellt zu haben.

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Danksagung

Mein Dank gilt an dieser Stelle auch ihren hilfsbereiten Nachbarn, der lieben Gudrun Lutz und Dr. Peter Lutz sowie Ulrike und Johann Hermann für ihre tatkräftige Hilfe, ihre wertvollen Beiträge und ihre emotionale Begleitung der Dissertation. Um stets neue Motivation für das Schreiben zu erhalten, war für mich auch die schöne Bundeshauptstadt Berlin ein Ort des Denkens und Schaffens. Aus diesem Grund möchte ich mich auch bei Dr. Mike Oehmichen bedanken, der längst Teil meiner Familie ist und mich immer herzlich in Berlin aufgenommen hat. Er ist für mich eine der inspirierendsten Persönlichkeiten. Danke, dass es dich gibt! München, Januar 2019

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Lisa-Marie Lenk

Vorwort

„(...) Die Liebe ist so bald keine Liebe mehr, so bald sie ohne Pfeile und Feuer ist. In der Ehe wird die Freygiebigkeit des Frauenzimmers zu verschwenderisch, und machet dadurch die Neigung und die Begierde zu ihnen stumpf. Man sehe, was für Mühe sich Lykurg und Plato in ihren Gesetzen geben, um diesem Fehler abzuhelfen. Das weibliche Geschlecht hat nicht völlig unrecht, wenn es sich nicht nach der eingeführten Lebensregel richten will. Die Mannspersonen haben dieselben ohne ihre Uebereinstimmung verfertiget. Es sind von Natur zwischen uns und ihnen Rotten und Zwistigkeiten. Wenn wir auch noch so vereinigt mit ihnen leben, so geht es doch nicht ohne Sturm und Ungewitter ab. Nach der Meynung unseres Dichters verfahren wir, was die Liebe anlangt, zu unbedachtsam gegen dasselbe (...).“1 „(...) Plato verordnete in den Gesetzen, daß demjenigen, der in dem Kriege eine große und herrliche That verrichtet hatte, während desselben, ohne auf seine Gesichtsbildung oder sein Alter zu sehen, kein Kuß oder sonst eine Gunstbezeugung versagt werden durfte, von welchem Frauenzimmer er sie nur verlangte (...) Damit ich aber diese merkwürdigen Betrachtungen (...) endige (...) so sage ich: daß, wenn die Knaben und Mädgen in einen Haufen geworfen werden, und man den Unterricht und die Lebensart ausnimmt, der Unterscheid unter ihnen eben nicht sehr groß ist. Plato läßt sie beyde ohne Unterschied zu allen Wissenschaften, zu allen Uebungen, zu allen Bedienungen und Aemtern so wohl zu Friedens- als Kriegszeiten in seiner Republik. Der Philosoph Antisthenes hebt so gar unter ihrer und unserer Tugend allen Unterschied auf. Es ist viel leichter das eine Geschlecht zu beschuldigen, als das andere zu entschuldigen. Daher sagt man, ein Esel nennet den andern einen Langohr.“2

1 Montaigne (1580), Essais, III. Buch, V, Hauptstück: Betrachtungen über einige Verse des Virgils: 942. 2 ebd.: 989.

9

Vorwort

Die Auseinandersetzung mit dem omnipräsenten Gender-Begriff und seine kulturellen Konsequenzen sind zur gesellschaftlichen Herausforderung geworden. Doch was ist und meint Gender eigentlich? Welche theoretischen Wurzeln liegen dem gesellschaftspolitischen Konzept des Gender-Mainstreamings zu Grunde? Geht es hier tatsächlich um Geschlechtergerechtigkeit? Eine hiermit einhergehende Frage ist die nach dem Geschlechterverständnis, die die Identität des Subjekts maßgeblich konstituiert. Doch was ist männlich, was weiblich? Oder werden wir zu Männern und Frauen gemacht, indem wir mit gesellschaftlichen Normen, Werten, Verhaltensstandards, Lebensformen und Erwartungen an unsere geschlechtliche Rolle konfrontiert werden? Was ist unserem geschlechtlichen Dasein natürlich gegeben und wovon sind wir kulturell beeinflusst? All diese Fragen beschäftigten mich nach meiner Masterarbeit Diversity-Management im Sozial- und Gesundheitswesen – am Beispiel des Gender-Aspekts und führten mich letztlich auf den geschlechterfokussierten Ansatz des Gender-Mainstreamings. Der Unterschied der beiden gesellschaftspolitischen Konzepte DiversityManagement und Gender-Mainstreaming liegt darin, dass das Gender-Mainstreaming den Genderaspekt in den Mittelpunkt stellt und weitere Kategorien (Alter, Ethnie, sexuelle Orientierung etc.) maßgeblich aus dieser Perspektive berücksichtigt, wohingegen Gender im Diversity-Management nur eine der sechs Kerndimensionen neben Alter, Ethnizität, sexuelle Orientierung, Befähigung und religiöser Glaubensprägung ist. Doch im Gegensatz zu meiner bisherigen Beschäftigung mit den rein praktischen und sozialtheoretischen Ausprägungen des Gender-Themas in Form des Diversity-Managements und des Gender-Mainstreamings geht es in der hiesigen Auseinandersetzung vor allem um die philosophische Fundierung der auf den Gender-Aspekt ausgerichteten politischen Umsetzungsinstrumentarien. Hierbei leitend war für mich die Fragestellung, wo die Annahmen und Forderungen des Gender-Mainstreamings ihren geistigen Nährboden haben und wo genau der Gender-Ansatz in theoretischer Hinsicht zu verorten ist. Denn Anglizismen für Konzepte, wie beispielsweise das Diversity-Management oder das Gender-Mainstreaming, erwecken zunächst den Eindruck, es gehe um moderne Auffassungen oder gar jüngst aufgekommene Entwicklungen. Dabei liegt der Kern in grundlegenderen Fragenstellungen, die keineswegs junger Natur sind: Leben wir in einer geschlechtergerechten Gesellschaft, in der es eine Chancengleichheit für alle gibt und in der das schöpferische Wesen eines Jeden hervorgehoben wird? Und steht dahinter nicht eine andere, eine elementarere Frage, nämlich die nach dem Dasein und dem Zueinander von Mann und Frau – auch im Hinblick auf deren Aufgabe und Wert als Vater und Mutter – und letzten Endes die nach der kleinsten aber zugleich tragenden Einheit unseres Zu-

10

Vorwort

sammenlebens: der Familie? Gerade westliche Nationalstaaten gründen auf familiären Formen des Zusammenlebens, daher ist die Familie die Basis und der Indikator für das Wachstum und den Fortbestand unserer Gesellschaft. Die Familie als der Spiegel unserer Gesellschaft gibt zudem Aufschluss darüber, wohin sich unser Geschlechterverständnis verändert. Um diesen Fragen auf den Grund zu gehen, ist es zur Erfassung des Gesamtkontextes unumgänglich, multikontextual vorzugehen und auch rechtliche, historische und politische Bezugsstränge des Gender-Themenkomplexes miteinzubeziehen – handelt es sich doch im Prinzip um eine theoretische Grundidee, die Einzug in politisches Terrain gefunden hat. Das ergibt sich vor allem aus der Ambiguität des Feminismus heraus und ist damit ein Feld für Theorie und Gesellschaftspolitik. Da sich das Gender-Konzept, wie zu zeigen ist, aus den zweisträngigen Entwicklungen des Feminismus ergeben hat, muss eine wissenschaftliche Auseinandersetzung dazu verschiedene Disziplinen miteinbeziehen. In diesem Buch soll es jedoch nicht vorrangig um die gesellschaftspolitische Komponente in Form des Gender-Mainstreamings gehen, sondern insbesondere um die theoriebildende Ebene der Gender-Thematik. Auch wenn diesbezügliche theoretische und praktische Entwicklungen eine gewisse Reziprozität und Verwobenheit vorweisen, soll hier die Frage nach dem theoretischen Fundament diskutiert werden. Daher muss gleich zu Beginn eine begriffliche Differenzierung vorangestellt werden, die für das Verständnis notwendig ist und Unklarheiten vermeiden soll: In den nachfolgenden Ausführungen wird unterschieden zwischen dem (I) GenderMainstreaming als gesellschaftspolitisches Programm, (II) der feministischen bzw. gendertheoretischen Ebene im Allgemeinen und (III) der performativen Theorie der Geschlechter von Butler, die sich mit ihrer dem Poststrukturalismus zuordenbaren postidentitären Grundposition von Kernparadigmen der Strukturanthropologie ebenso abhebt wie von traditionellen Positionen feministischer Theorien. Insbesondere letztere Begriffsverwendung (III) stellt den zentralen Grundpfeiler dieser Arbeit dar und ist, neben der hier auch durchdiskutierten strukturalen Anthropologie von Claude Lévi-Strauss, als theoretische Entwicklung bzw. Wende in der Kulturanthropologie des 20. Jahrhunderts zu sehen. Welche Konturierung der Gender-Thematik in den jeweiligen Kapiteln gemeint ist, wird aus den Ausführungen deutlich hervorgehen.

11

Inhaltsverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

17

Bemerkungen zur Titelgebung

19

Allgemeine Hinweise

20

Einleitung: Die Gender-Theorie als anthropologische Frage?

21

1

Entwicklungen der Geschlechterkonzeption in der Philosophischen Anthropologie

1.1

Die Wesensfrage von Mann und Frau in der Philosophischen Anthropologie der Antike 1.1.1 Platon und die Geschlechterfrage 1.1.1.1 Die platonische Frauen- und Kindergemeinschaft 1.1.1.2 Der Kugelmenschen-Mythos 1.1.1.3 Antike und Wahrheit – kritische Stimmen zum Kugelmenschen 1.1.2 Das Geschlechterverständnis bei Aristoteles 1.1.2.1 Die Artverschiedenheit der Geschlechter in seiner „Metaphysik“ 1.1.2.2 Wesensunterschiede und Entstehung der Geschlechter in „Über die Zeugung der Geschlechter“ 1.1.2.3 Geschlechterpositionen der polis in der „Politik“ 1.1.3 Das platonische und aristotelische Geschlechtermodell im Vergleich

1.2

Geschlechterwelten im Wandel 1.2.1 Die Französische Revolution und die Folgen für die Geschlechterfrage 1.2.2 Die Erste Deutsche Frauenbewegung und die Entwicklung bis zum Ersten Weltkrieg 1.2.3 Frauenfrage nach dem Zweiten Weltkrieg

25 25 25 26 33 34 38 39 40 42 46 48 50 52 55

13

Inhaltsverzeichnis

1.2.4 1.2.5 1.2.6

Neue Frauenbewegung Ursprünge des Gender-Movements Feministische Grundorientierungen und Entwicklungen Humanistisch-aufklärerisches Konzept (Alte Frauenbewegung) Marxistisch und radikal-sozialistisches Konzept (Proletarische Frauenbewegung) Radikal-feministisches Konzept (Neue Frauenbewegung) Gleichheitspostulat Differenzpostulat/ gynozentrischer Feminismus

57 62 63 64 64 64 65 65

1.3

Genese und Transformation des Gender-Mainstreamings 1.3.1 Gender als grammatikalischer Terminus 1.3.2 Gender in der Intersexualitätsforschung 1.3.3 Feministische Adaption des Gender-Begriffs

70 71 73 77

2

Von der Unität zur Struktur – Die Polarität der Geschlechter in der strukturalen Anthropologie von Lévi-Strauss

83

2.1

Linguistische Bezugspunkte seiner Strukturanthropologie 2.1.1 Sprache, Sprachgebrauch und Sprachsystem 2.1.2 Prinzip der Arbitrarität 2.1.3 Synchronie und Diachronie 2.1.4 Merkmale des Zeichensystems

83 84 85 86 86

2.2

Anthropologische Anknüpfungspunkte des Strukturalismus von Lévi-Strauss 2.2.1 Lévi-Strauss, Durkheim und Mauss 2.2.2 Vom Funktionalismus zum Strukturfunktionalismus bis hin zum Strukturalismus 2.2.3 Besonderheiten des Strukturalismus 2.2.4 Der normative Aspekt im Strukturalismus

91 100 104

3

Butler’s Claim – Einflüsse, Thesen und Auswirkungen ihrer Gender-Theorie

106

3.1

Butler’s ethischer Imperativ – biografische Notizen

106

14

90 90

Inhaltsverzeichnis

3.2

Theoretische Bezugsstränge und feministische Einordnung ihres Performanzmodells Dekonstruktivistischer Feminismus/ Postfeminismus

107 110

3.3

Zentrale Thesen und Kritikpunkte der Gender-Theorie von Judith Butler 3.3.1 Kernpunkte ihrer Gender-Theorie 3.3.2 Butlers Begriff der Performativität 3.3.3 Der Diskursbegriff bei Butler 3.3.4 Foucault – ein Strukturalist? 3.3.5 Das Inzesttabu im butlerschen Denken

113 113 115 117 120 124

3.4

Die Übersteigerung der strukturalistischen Grundidee im Gender-Mainstreaming am Beispiel der Sprache

126

4

Vom Homo ödipus zum Homo mimeticus Erklärungsansätze des universellen Inzestverbots

131

4.1

Die Kulturlehre von Freud 4.1.1 Der Mord am Urvater 4.1.2 Der Ödipuskomplex 4.1.3 Freud und Lévi-Strauss im Vergleich

132 132 134 137

4.2

Die Allianztheorie nach Lévi-Strauss 4.2.1 Das Inzesttabu als Verbindung von Natur und Kultur 4.2.2 Lévi-Strauss und seine Kritik an Freud 4.2.3 Die Elementaren Strukturen der Verwandtschaft – ein Anti-Frauen-Buch?

139 140 142 143

4.3

Girards Mimesistheorie und die unerschöpfliche Quelle der Gewalt

146

5

Butlers Verwandtschaftsverständnis und die Allianztheorie von Lévi-Strauss im Vergleich

155

5.1

Butlers Antigone in Abgrenzung zu bisherigen Interpretationsansätzen 5.1.1 Die beiden höchsten sittlichen Mächte bei Hegel 5.1.2 Lacans Universalimus der symbolischen Ordnung

156 157 159

5.2

Antigone im poststrukturalistischen Verständnis 5.2.1 Antigones inzestuöses Begehren 5.2.2 Antigones Bruch mit den Geschlechternormen 5.2.3 Antigones Widerstand im feministischen Kontext

160 161 166 170

15

Inhaltsverzeichnis

5.3

Butlers Rekurs auf Lévi-Strauss

172

5.4

Die Umkehrung der strukturalistischen Grundidee im der butlerschen Performanzmodell

177

6

Exkurs: Die Rolle der Frau nach islamischem Verständnis

181

6.1

Stellung der Frau

183

6.2

Das Kopftuch als religiöses Statement

187

6.3

Der Umgang mit Sexualität

189

6.4

Ehe, Partnerschaft und Familie

192

Ausblick: Butler als Impuls für eine philosophische Kritik der Macht?

196

Literaturverzeichnis

199

16

Abkürzungsverzeichnis

Abs. ADF ahd. Anm. APO Art. Bd. BDS BRD bspw. BVerfG BvR ca. CDU Chr. CSU d. DiM dt. ebd. EGMR EMRK et.al. etc. e.V. EU f. Fam. ff. FN frz. GG Hervorh. Hg. i. IS Jh. jun. Kap.

Absatz Allgemeiner Deutscher Frauenverein althochdeutsch Anmerkung Außerparlamentarische Opposition Artikel Band Boycott, Divestment and Sanctions Bundesrepublik Deutschland beispielsweise Bundesverfassungsgericht Register-/Aktenzeichen des Bundesverfassungsgerichts circa Christlich Demokratische Union Deutschlands Christus Christlich-Soziale Union in Bayern durch Diversity-Management deutsch ebenda Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Europäische Menschenrechtskonvention und andere et cetera eingetragener Verein Europäische Union folgende Familie fortfolgende Fußnote französisch Grundgesetz Hervorhebung Herausgeber im Islamischer Staat Jahrhundert junior Kapitel

17

Abkürzungsverzeichnis LGBT n. Nr. Orig. Pol. resp. Rn. S. s. SDS sog. SPD SS StGB u. u.a. URL US/USA usw. u.v.m. V. v. v.a. Verf. vgl. vs. Z. z.B. zit.

18

Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender nach Nummer Original Politeia respektive Randnummer Seite siehe Sozialistischer Deutscher Studentenbund sogenannt Sozialdemokratische Partei Deutschlands Schutzstaffel Strafgesetzbuch und unter anderem Einheitlicher Ressourcenanzeiger) Vereinigte Staaten von Amerika und so weiter und viele mehr Vers vor vor allem Verfasser vergleiche versus Zeile zum Beispiel zitiert

Bemerkungen zur Titelgebung

Der Titel Banalität des Geschlechts erinnert an Hannah Arendts bis heute äußerst umstrittenen Bericht über den Eichmann-Prozess mit dem Untertitel Banalität des Bösen, den sie als bewusste Bezugnahme zu Kants radikalem Bösen wählte. Seither gilt Banalität des Bösen in Rekurs auf Arendts Positionierung zu Eichmann als geflügeltes Wort. Die Kontroversen ergaben sich aber auch auf Grund des unterschiedlichen Sprachgebrauchs des Begriffes banal: Wohingegen es im Deutschen meist eine diminutive Konnotation hat – woraus sich die Kritik an Arendt ergeben hat, sie rede die Naziverbrechen klein –, hat banal im Englischen eher die Bedeutung allgemeingültig resp. selbstverständlich. Im hiesigen Kontext der Auseinandersetzung mit dem Gender-Konzept soll mit dem Titel bewusst genau diese etymologische Doppeldeutigkeit markiert werden: Einerseits trifft die Identitätskategorie Geschlecht auf jeden Menschen zu und stellt daher eine Orientierungskonstante in der Subjektbildung dar – diese Allgemeingültigkeit wurde bis zum Gender-Zeitalter in allen Wissenschaften, vor allem aber im Feminismus, vertreten. Andererseits, und auch darauf spielt die Betitelung an, geht aus den Kernthesen der butlerschen Gender-Theorie hervor, dass eben jene Kategorie keine natürliche Entität ist, sondern Geschlecht performativ erzeugt wird. Damit werden in ihrer Gender-Theorie bisherige Lebensweisen, feministische Forschungen, Normen, Verhaltensstandards, Rollenbilder und Verwandtschaftssysteme überwunden und dem Geschlecht eine Bedeutungsvielfalt gegeben. Diesem Spannungsverhältnis, das letztlich ursächlich für die polarisierende Gender-Debatte in Theorie und Praxis ist, soll sich in der vorliegenden Arbeit angenähert werden.

19

Allgemeine Hinweise

Obgleich es sich um einen wissenschaftlichen Beitrag zum Geschlechterdiskurs handelt, wird zur besseren Lesbarkeit auf die Verwendung des generischen Maskulinums zurückgegriffen und damit einhergehend auf die weibliche resp. gendersensible Formulierung verzichtet. Weiterhin werden Eigennamen sowie Wörter, Buchtitel und einzelne Textpassagen, die akzentuiert werden sollen, kursiv hervorgehoben und nicht in „signa citationis“ gesetzt, um sie von den wörtlichen Zitaten ausdrücklich zu unterscheiden.

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Einleitung: Die Gender-Theorie als anthropologische Frage?

Obwohl das Geschlecht seit jeher eine der zentralen subjektkonstituierenden Identifikationskategorien des Menschen ist, bewegte sich ein geschlechterspezifiziertes Themenfeld, das sich unter dem Titel Philosophische Geschlechtertheorien rubrizieren ließe, lange Zeit außerhalb etablierter fachphilosophischer Diskussionslinien. Eine genuin philosophische Frauenforschung etablierte sich erst im Zuge der Zweiten Frauenbewegung in den 1960/70er-Jahren. Aus diesen Ursprüngen ergibt sich auch, dass der Geschlechterdiskurs Eingang in verschiedenste Disziplinen gefunden hat – von der Soziologie über die Politik-, Sprach- und Literaturwissenschaft bis hin zur Theologie, Philosophie, Psychologie oder den Theater- und Medienwissenschaften. In der philosophischen Reflexion zum Geschlechterdiskurs, genauer gesagt in der Anthropologie des 20. Jahrhunderts, war es vor allem Butler, die neue Impulse gesetzt und das Geschlecht jenseits identitärer Fixierungen gedacht hat. Dieses Buch greift diesen Wandel in der Philosophischen Anthropologie auf und setzt die Entwicklungen in Bezug zu bisherigen anthropologischen Grundannahmen der Geschlechterbeziehung. Hierfür werden vor allem zwei konträre anthropologische Denkansätze besprochen, die die theoretischen Implikationen des Mann-Frau-Verhältnisses innerhalb der Philosophischen Anthropologie prägen: (I) Die strukturalistische Allianztheorie von Lévi-Strauss und (II) die performative Theorie des Geschlechts von Butler, die als poststrukturalistische Überwindung der strukturalistischen Grundidee gesehen werden kann. Demnach erfährt die sich in der anthropologischen Philosophie ausdrückende Geschlechterkonzeption zunächst mit der strukturanthropologischen Allianztheorie von Lévi-Strauss eine grundsätzliche Neuakzentuierung. Butler wiederum grenzt sich mit ihrer poststrukturalistischen Performanztheorie von bisherigen anthropologischen Geschlechterbildern ab – was sich u.a. an ihrer Neuformulierung des Geschlechts- sowie des Verwandtschaftsverständnisses zeigt. Beide Theorien werden vergleichend thematisiert und diejenigen Kernthesen herausgearbeitet, die für die leitenden Fragestellungen erkenntnisbringend sind. In den fünf thematischen Hauptkapiteln wird die Leitthese diskutiert, dass es sich bei der Performanztheorie von Judith Butler um eine Umkehrung resp. Übersteigerung der Grundidee des Strukturalismus handelt. Um diese Entwicklung einordnen zu können, steht im ersten Kapitel zunächst die Rolle

21

Einleitung: Die Gender-Theorie als anthropologische Frage?

der Geschlechterfrage in der bisherigen Anthropologie und das sich darin ausdrückende Geschlechterverständnis im Vordergrund. Hierbei ist zentral, wie sich das Geschlechterbild im Vergleich zur traditionellen Auffassung verändert und aus welchen feministischen Bewegungen, theoretischen Bezugspunkten und gesellschaftlichen Umständen sich das als politisches Instrument für Geschlechtergerechtigkeit firmierende Konzept Gender-Mainstreaming entwickelt hat. Es geht in diesem Passus also neben der theoretischen Facette auch um die Genese und Transformation des Gender-Begriffs in Einbettung des gesamtgesellschaftlichen Kontextes. Diese Herangehensweise bietet sich aus zwei Gründen an: Zum einen, um die feministischen Entwicklungen, das Aufkommen und die gesellschaftliche Etablierung der Gender-Theorie im Allgemeinen nachzuzeichnen, zum anderen, um das bisherige anthropologische Geschlechterverständnis zu erfassen. Der erste Abschnitt ist somit eine Etappenreise durch die wichtigsten Momente der Geschlechterhierarchien – von der Antike über die Französische Revolution bis hin zur 1968er-Bewegung und schließlich dem Gender-Zeitalter. Das zweite Kapitel nähert sich der Bedeutung des Strukturalismus für die Anthropologie. Dort wird gezeigt, warum Lévi-Strauss’ strukturalistische Neuakzentuierung tragend für die Geschlechterfrage ist und worin die Besonderheit der sich darin ausdrückenden Verwandtschaftstheorie im Vergleich zur traditionellen Ethnologie liegt. Dieser Abschnitt hebt das Charakteristische des Strukturalismus von Lévi-Strauss hervor und zeigt auf, warum die daraus gewonnenen Thesen tragend für eine Auseinandersetzung mit Butler sind. Neben der Offenlegung strukturalistischer Bezugspunkte werden aber auch Abgrenzungen dieser anthropologischen Strömung nachgezeichnet. Die wichtigsten Thesen Butlers sowie die theoretischen Grundlagen ihrer poststrukturalistischen Performanztheorie und die damit einhergehende Überwindung der strukturalistischen Grundidee werden im dritten Kapitel dargelegt. Butler grenzt sich von den traditionell-anthropologischen und -feministischen Strömungen ab und begreift das Geschlecht als Resultat bestimmter Institutionen, Praktiken und Diskurse von Macht. Damit wird die geschlechtliche Identitätskategorie aus ihrer normativ-naturalistischen Kohärenz herausgelöst und Geschlecht als kontinuierliche Darstellung und Inszenierung gedacht. Ihre performative Theorie des Geschlechtermodells wurde zwar vielfach rezipiert, aber auch kritisiert und regte viele Forschungsgebiete an, wie etwa die Gender-, Queer- und LGBTStudies. Aber auch in der Medizin, den Rechtswissenschaften, der Soziologie sind die Einflüsse ihrer Gender-Theorie mittlerweile richtungs- und handlungsweisend. Demgegenüber wurde jedoch Butlers Kritik am psy-

22

Einleitung: Die Gender-Theorie als anthropologische Frage?

choanalytischen Erklärungsmodell zur Herausbildung der Geschlechtsidentität nicht so breit rezipiert und stellt eine Lücke auf diesem Gebiet dar. Auch ihre Auseinandersetzung mit Lévi-Strauss findet in der Literatur wenig Beachtung. Daher soll der Blick darauf gerichtet und erörtert werden, was die strukturalistische Position Butlers performativer Theorie des Geschlechts entgegenhalten kann und welche neuen Erkenntnisse hieraus für dieses Forschungsfeld gezogen werden können. In diesem Passus werden folglich Butlers heterogene Bezugspunkte, ihre Einordnung innerhalb feministischer Strömungen, ihre Kernthesen sowie die Auswirkungen ihres Denkens, das den traditionellen Feminismus überwindet, dargestellt. Dabei zeigt sich, dass einer ihrer wesentlichen Kritikpunkte hinsichtlich des Geschlechter- und Verwandtschaftsverständnisses das strukturalistische Postulat von Lévi-Strauss ist. Dieser Abschnitt dient also der Freilegung von Butlers argumentativem Fundament: Die Überwindung der strukturalanthropologischen Auffassung des heteronormativen Geschlechter- und Verwandtschaftsverhältnisses mit dem Ziel einer Neuformulierung des Geschlechter- und Verwandtschaftsbegriffs. Im vierten Kapitel wird analysiert, wie Lévi-Strauss das sowohl für seine Allianztheorie als auch für Butlers Kritik tragende Inzesttabu interpretiert und inwiefern er sich von der freudschen Herleitung dieses Gebots abhebt. Außerdem wird nach weiterführenden, auf Freud und Lévi-Strauss rekurrierenden Erklärungsansätzen zur Genese des Inzestverbots gefragt. Dabei geht es im Wesentlichen um die theoretische Ergründung des Inzesttabus. Die drei wesentlichen Theorien zum universellen Phänomen des Inzestverbots liefert dabei die Psychoanalyse von Sigmund Freud und die Anthropologie mit ihren Vertretern Lévi-Strauss und René Girard. Es wird zunächst die Kulturlehre von Freud und die damit verbundene Herleitung des Inzesttabus besprochen, da sich sowohl die strukturalistische (LéviStrauss) als auch die mimetische Theorie (Girard) darauf beziehen. Zudem werden alle drei Ansätze miteinander in Verbindung gesetzt und Gemeinsamkeiten, aber auch grundlegende Unterschiede akzentuiert. Hieran anschließend thematisiert das fünfte Kapitel, wie sich Butlers Kritik an der psychoanalytischen und strukturalistischen Interpretation verwandtschaftlicher Strukturen zeigt und was dies letztlich für das Geschlechter- und Verwandtschaftsverständnis bedeutet. Butlers Position wird hierfür vergleichend zur strukturanthropologischen Rekonstruktion der Natur und Kultur der Geschlechterdifferenz nachvollzogen. Als Grundlage dient in diesem Zusammenhang im Wesentlichen Butlers Interpretation des sophokleschen Antigone-Dramas und Lévi-Strauss’ einschlägige Werke. So formuliert Butler in ihrer Re-Lektüre von Antigone alternative Familienformen, die dem strukturalistischen Familienverständnis gegenüberstehen

23

Einleitung: Die Gender-Theorie als anthropologische Frage?

und deshalb diskutiert werden sollen. Das hegemoniale Geschlechterverständnis baut aus butlerscher Sicht auf Binarität auf, da sich die Geschlechtsidentitäten vor allem in den Verwandtschaftsstrukturen konstituieren, die durch das psychoanalytische resp. strukturalistische Inzesttabu meist heteronormativ sind und auf einer zweigeschlechtlichen Zwangsordnung beruhen. In Kapitel sechs geht es weniger um eine in sich geschlossene Diskussion, als um eine Skizzierung gegenwärtiger gesellschaftlicher Themen und interkultureller Ausprägungen des Gender-Mainstreamings, die zu weiterführenden Überlegungen anregen soll. Dieser Abschluss hat sich deshalb angeboten, weil im Sommer 2017 eine Feuilletondebatte3 zwischen Alice Schwarzer und Butler entfachte, die das spannungsgeladene Verhältnis des okzidentalen und orientalischen Geschlechterverständnisses vergegenwärtigt. Daher hat sich die Frage aufgedrängt, wie der okzidental-orientalische Geschlechterdiskurs vielstimmiger gemacht werden kann und – ganz grundlegend – wie es sich mit der Stellung der Frau im Islam verhält.

3 vgl. Butler/Hark 2017; vgl. Schwarzer 2017.

24

1 Entwicklungen der Geschlechterkonzeption in der Philosophischen Anthropologie

1.1 Die Wesensfrage von Mann und Frau in der Philosophischen Anthropologie der Antike Zu Beginn einer jeden auf die Frage der Geschlechterordnung fokussierten philosophischen Untersuchung steht die Auseinandersetzung mit der Philosophischen Anthropologie der Antike. Hierbei sind vor allem das platonische und aristotelische Geschlechterbild richtungsweisend, da sich darin die frühesten anthropologischen Entwicklungen im abendländischen Denkraum zeigen. 1.1.1 Platon und die Geschlechterfrage Im Folgenden wird daher zunächst Platons Geschlechterverständnis in zeitgenössische Auffassungen eingeordnet. Dies ist hinsichtlich einer Beschäftigung mit der Gender-Theorie insbesondere deshalb von Belang, weil Butler in deutlichem Rekurs auf Hegel in ihrer Interpretation des Antigone-Dramas die Frage des privaten und politischen Raums für Frauen diskutiert. So spricht Antigone genau dort, wo sie als Frau im Sinne der polis eigentlich keinen Zugang haben sollte: in der Öffentlichkeit. Damit hat sie die Grenzen des privaten Raumes überschritten, was für eine Frau im antiken Geschlechterverständnis nahezu skandalös war. Eine eingehende Herausarbeitung der butlerschen Analyse des Antigone-Dramas folgt zwar erst in einem späteren Kapitel – um jedoch einordnen zu können, auf welcher Grundlage Butlers Reformulierung des Verwandtschaftspostulats beruht, das sie in ihrem Text zu Antigone entwirft, ist es notwendig, die von ihr überwundenen anthropologischen Grundpositionen hinsichtlich der Geschlechterfrage zu betrachten. Denn Butler sieht in auf Heterosexualität bezogenen Verwandtschaftsbeziehungen eine Stütze deterministischer Geschlechteridentitäten4, deren Überschreibung letztlich der Kerngedanke ihrer performativen Theorie der Geschlechter ist.

4 vgl. Butler 2013: 19f.

25

1 Entwicklungen der Geschlechterkonzeption in der Philosophischen Anthropologie

1.1.1.1 Die platonische Frauen- und Kindergemeinschaft Platon geht mit seinem vom Gleichheits- und Gemeinschaftsprinzip geleiteten Frauen- und Ehebild in der Politeia weit über die festgefügte Männergesellschaft seiner Zeitgenossen hinaus. Dabei sind aber verschiedene Phasen zur platonischen Ansicht des Wesens der Geschlechterrollen feststellbar. In Platons Menon erkennt man noch die traditionelle Rollenverteilung, wonach die Frau eine gute Hausverwalterin sein muss und dem Mann zu gehorchen hat5. In Politikos legt er noch dar, dass die richtige Aufteilung des menschlichen Geschlechts diejenige in die Arten des Weiblichen und Männlichen ist6. In Kriton wird folgende Alternative formuliert: Entweder soll man der Ehe um einer höheren Berufung willen entsagen und auf Kinder verzichten, oder aber sich mit ganzer Hingabe der Kindererziehung widmen7. In seiner Politeia relativiert er diese Auffassungen und zeigt, dass diese allgemeine Unterscheidung auf den konkreten Aufbau der idealen Polis nicht anwendbar ist8. Hier erkennt man keine faktische Aufund Abwertung eines der beiden Geschlechter mehr9. Das Gesellschaftsbild vor Platon war noch sehr religiös geprägt. Aus dieser göttlich-religiösen Aufladung heraus kannte man zwei Arten von Menschen mit jeweils verschiedenen Bedeutungen. Die Annahme, dass alles göttlich ist, darf jedoch nicht dazu führen, dass alles darauf gründet. Platon resp. Sokrates lösen sich insofern von der rein religiösen Sicht ab, als dass sie alleine die Fähigkeit und nicht das Geschlecht entscheidend für die Vergabe von Aufgaben in einem Staat halten. Eben wegen ihrer geistigen Position, dass die Aufgaben gleich verteilt sein sollten (alle Berufe sind für alle da), die Frau aber zu manchem zu schwach resp. nicht fähig ist, repräsentieren sie eine für diese Zeit besondere Haltung. Im Gegensatz zur vorplatonischen Zeit, in der man dachte, dass die Natur resp. die Götter die Aufgaben der Geschlechter bestimmt, sind Platons Gedanken nahezu avantgardistisch. Er entwirft also eine logische Neueinteilung des Geschlechterverständnisses, indem er das menschliche Geschlecht nicht in zwei nach Eigenschaft und Funktion entgegengesetzte Gruppen einteilt, sondern seine Polis von Individuen bewohnen lässt, die von der Geschlechtszugehörigkeit unabhängige persönliche Fähigkeiten haben10. Im 5 6 7 8 9 10

26

vgl. Weithmann 2003: 155. vgl. Sissa 1997: 78. vgl. Weithmann 2003: 155 f. vgl. Sissa 1997: 78. vgl. Weithmann 2003: 156. vgl. Sissa 1997: 80.

1.1 Mann und Frau in der Philosophischen Anthropologie der Antike

Gegensatz zu unserem immer noch stark verbreiteten Gesellschaftsbild, das die Familie als Urgrund einer funktionierenden Gemeinschaft begreift, misst Platon der Familie keine herausragende Bedeutung bei, ja, er untergräbt das Aufkommen familiärer Strukturen regelrecht. Unter dem Dach seiner Staatsutopie existieren nur Individuen, die geschlechtliche Ungleichheit wird nunmehr als eine individuelle Variante begriffen. Für ihn sind Frauen und Männer ohne Unterschied zu allem befähigt, beide sollen in der Polis dieselben Rollen übernehmen – bis auf den Punkt, dass das männliche Geschlecht das weibliche immer übertrifft. Große Teile des fünften Buchs der Politeia erläutern dabei die Durchführbarkeit und Nützlichkeit der Frauen- und Kindergemeinschaft in Platons Idealstaat. Es geht aber nicht nur um die Bedingungen und Brauchbarkeit der Frauen- und Kindergemeinschaft, sondern auch darum, ob diese überhaupt möglich ist. Erst nach Abschluss der Frage nach der Ungleichheit resp. Gleichheit von Mann und Frau (Woge I) wird der Nutzen der Frauen- und Kindergemeinschaft (Woge II) erörtert und zwar in ganz grundsätzlicher Form, eingebettet in die Frage nach der Möglichkeit des Idealstaats überhaupt, die sich dann bis ans Ende des siebten Buchs zieht. Weil es auch um die zentrale Schwierigkeit geht, ob Gerechtigkeit überhaupt möglich ist, will sich Sokrates zunächst nicht auf diesen Dialog einlassen. Zwar ist anfangs noch nicht ausdrücklich die Rede von der Möglichkeit des Idealstaats, doch steht diese Hauptthese von Anfang an im Fokus, wie auch die Reaktion des Sokrates auf die Aufforderung, die Frauenund Kindergemeinschaft näher zu erläutern, zeigt: Nachdem sich auch Glaukon und Thrasymachos dem Polemarchos und Adeimantos anschließen, fühlt sich Sokrates bedrängt und fürchtet eine zu lange Ausschweifung11. Sein Zögern bei der Beantwortung der Frage nach der Frauen- und Kindergemeinschaft kann dahingehend gedeutet werden, dass Sokrates grundsätzlich Angst vor der Frage nach der Vorstellung des Idealstaates hat, auch wenn es zunächst den Anschein macht, es ginge in jenem fünften Buch nicht primär um diese zentrale Frage. Der Zusammenhang zwischen der Möglichkeit des Idealstaates und der Erörterung der Frauen- und Kindergemeinschaft wird in seiner Reaktion12 sowie in dem Bild von den drei zunehmend gefährlicheren Wogen deutlich, mit dem Sokrates die weitere Diskussion strukturiert. Die beiden ersten Wogen fokussieren dabei die Frauen- und Kinderfrage; die dritte und gefährlichste Woge betrifft die Herrschaft im vollkommenen Staat und der damit verbundenen Problema-

11 vgl. Platon, Pol.: 450a-450b. 12 ebd.: 450a-450b.

27

1 Entwicklungen der Geschlechterkonzeption in der Philosophischen Anthropologie

tik, ob Gerechtigkeit überhaupt möglich ist13. Nachdem sich Sokrates nun doch dazu bringen lässt, die Struktur der Frauen- und Kindergemeinschaft in seinem Idealstaat durchzudenken, ist sein Ziel „nach dem Ende des Männerdramas nunmehr das Weiberdrama zu vollenden“14. Somit steht er sogleich vor der ersten Woge, nämlich der Anlage und Erziehung der Frau. Die Geschlechterunterschiede sind für die Aufgabenverteilung im Idealstaat nicht von Belang. Dementsprechend argumentiert Sokrates, dass Frauen und Männer gleichzustellen sind, es gibt in der gedanklichen Polis keine Auf- oder Abwertung eines der beiden Geschlechter. Die Feststellung der prinzipiellen Gleichheit von Mann und Frau folgert Sokrates aus der Analogie zu Hunden, bei denen Männlein und Weiblein wesensgleich sind. Die Menschen werden demnach organisch nach ihren natürlichen Anlagen als Führer, Wächter oder Bürger unterschieden, nicht jedoch nach dem Geschlecht, d. h. das „Menschsein [ist] nicht gruppenweise in die Geschlechtercharaktere der spezifisch weiblichen oder männlichen Natur differenziert, sondern nur individuell unterschieden“15. Am Staatsleben sollen Frauen und Männern gleichermaßen partizipieren16 und die gleiche Erziehung erfahren. Der einzig graduelle Unterschied zwischen den Geschlechtern besteht darin, dass die Frau von Natur aus schwächer sei als der Mann: „Es gibt also keinen öffentlichen Beruf, der nur für eine Frau oder nur für einen Mann geeignet wäre, sondern die Anlagen sind in beiden Geschlechtern gleich verteilt und die Frau hat, nach ihrer Anlage, an allen Berufen Anteil, ebenso der Mann, überall aber ist die Frau schwächer als der Mann.“17 Sokrates positioniert sich damit gegen die damalig vorherrschende gesellschaftliche Auffassung bezüglich der Geschlechterrollen. Aus der geschlechtlichen Differenz ist demnach keineswegs die im zeitgenössischen Hellas tief verwurzelte Auffassung abzuleiten, dass Männer grundsätzlich andere Tätigkeiten als Frauen zu verrichten haben18. Vielmehr geht aus dem fünften Buch der Politeia hervor, dass die Unterschiede der Geschlechter sich nur an den unterschiedlichen Funktionen bei der Zeugung und Geburt von Kindern zeigen sowie in der größeren und geringeren 13 14 15 16 17 18

28

vgl. Hülser 2005: 69. Platon, Pol.: 451e. Heinz 2010: 69; Anm. d. Verf. vgl. Hülser 2005: 70; vgl. Weithmann 2003: 156. Platon, Pol.: 455d-e. vgl. Weithmann 2003: 156.

1.1 Mann und Frau in der Philosophischen Anthropologie der Antike

physischen Kraft von Männern und Frauen – jede darüber hinausgehende Bedeutung der Geschlechterdifferenz lehnt Sokrates ab19. Seine Positionierung sieht er als naturkonform an, wohingegen die tatsächlichen Verhältnisse zu seiner Zeit widernatürlich sind20. Formal gibt es somit eine Gleichberechtigung auf allen Gebieten, die physische Vormachtstellung der Männer bleibt jedoch bestehen. Nach der ersten Woge sieht Sokrates eine zweite kommen, die weitaus größer als die erste ist21. Hier geht Sokrates umgekehrt vor und will zuerst den Nutzen und anschließend die Durchführbarkeit der Frauen- und Kindergemeinschaft in seinem Idealstaat nachweisen. Die Nützlichkeit ist in Sokrates Augen unbestritten, dennoch wird gefordert, dass er auch dazu Argumente vorbringt. Deshalb schlägt er vor, die Frage der Möglichkeit aufzuschieben und vorerst anzunehmen, dass sie positiv zu beantworten ist22. Der vollkommen gute Staat als großes Individuum verlangt eine konsequente Entindividualisierung seiner Bürger, in dem für ernsthafte zwischenmenschliche Beziehungen kein Platz ist23. Er geht also von einer vollkommenen Güter- und Lebensgemeinschaft der Wächter aus, in der es kein Privateigentum gibt – alles ist Gemeingut24. Somit wird das Zusammenleben ausgeschaltet, die Mutter- und Vaterschaft verschwindet, die Kinder kennen ihre Mütter und Väter nicht. Auch die Erziehung liegt nicht mehr bei den Eltern, Frauen und Kinder gehören allen gemeinsam. Diese Leitlinien für das Zusammenleben der Geschlechter und Generationen im Wächterstand erinnern an die Lykurgischen Reformen im antiken Sparta: „Das Leben von Mann und Frau vollzieht sich nicht im Haus, sondern in der Sphäre des Öffentlichen; die Nachkommen werden in Säugehäusern großgezogen.“25 Diese Forderung nach einer Aufhebung der Familie erscheint im heutigen Denken als streitbar, muss jedoch im Kontext der damaligen Verhältnisse gesehen werden. So fordert Platon dadurch die Aufnahme der Frauen in die Männergemeinschaft, die bisher von der homoerotischen Männerresp. Knabenliebe gekennzeichnet war. Infolge „erotischer Notwendigkei-

19 20 21 22 23 24 25

vgl. Hülser 2005: 70. vgl. Platon, Pol.: 456c. vgl. ebd.: 457c. vgl. ebd.: 457d-458c. vgl. ebd.: 457c-d. vgl. Hülser 2005: 73. Heinz 2010: 71.

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1 Entwicklungen der Geschlechterkonzeption in der Philosophischen Anthropologie

ten“26 der Gemeinschaft sieht Sokrates den Gesetzgeber in einer hinreichend günstigen Position, stark regulierend einzugreifen. Daher soll in Platons utopischem Staat die unüberwach- und unüberschaubare Fortpflanzung verhindert werden27. Vielmehr werden die Regenten Hochzeiten organisieren, die „so heilig als nur möglich“28 sein sollen und nach Gesichtspunkten der Eugenik ausgewählt werden29. Das Ziel der Eheschließung ist die kontrollierte Fortpflanzung, welche maßgeblich dadurch motiviert ist, eine möglichst herausragende Nachkommenschaft zu erzeugen: „Nach unseren Ergebnissen müssen die besten Männer mit den besten Frauen möglichst oft zusammenkommen, umgekehrt die schwächsten am wenigsten oft; die Kinder der einen muss man aufziehen, die anderen nicht, wenn die Herde möglichst auf der Höhe bleiben soll. Das alles muß aber geheim bleiben, außer bei den Herrschern, soll die Herde der Wächter möglichst ohne Hader leben.“30 Die richtige Wahl der Ehepartner treffen somit die Herrscher und die Optimierung der Nachkommen kann nur durch strenge Selektion erfolgen. Das bedeutet, dass sich die Staatslenker in eine erzieherische Position erheben, zum Regler der Nachkommenschaft werden und mit ihren Eingriffen darauf abzielen, eine für den Staat möglichst vortreffliche Bevölkerung aufzubauen. Die Wichtigkeit der Selektion wird insbesondere an den ausgeklügelten Strategien der Machthaber, der detaillierten Vorschläge zur Organisation des Beischlafs und der Hochzeitsfeste sowie anhand der Regeln für die erlaubte und unerlaubte Kinderzeugung31 deutlich. Aber auch die Kindergemeinschaft ist detailliert durchgeplant. Niemand soll die Möglichkeit haben, seine eigenen Kinder zu kennen. Als seine eigenen Kinder muss man all diejenigen Kinder sehen, die in bestimmten Zeiträumen geboren werden32: „(...) von dem Tag seiner Bräutigamschaft spricht er alle, die zwischen dem siebten und zehnten Monat geboren sind, als Söhne und Töchter an, und sie wieder ihn als Vater, und die Kinder davon als Enkelkinder und jene ihn als Großvater oder Großmutter (...).“33 26 27 28 29 30 31 32 33

30

Platon, Pol.: 458d. vgl. ebd.: 458d-e. ebd.: 458e. vgl. ebd.: 459c. ebd.: 459d-e. vgl. Hülser 2005: 74 f. vgl. Platon, Pol.: 461c-e; vgl. Hülser 2005: 75 f. Platon, Pol.: 461d.

1.1 Mann und Frau in der Philosophischen Anthropologie der Antike

Die Kinder der Tüchtigen und Besten werden bei der Geburt von den Eltern getrennt, von einer Behörde aufgezogen und jeglichen familiären Strukturen entzogen. Die Kinder der Schwächeren hingegen werden an einen unbekannten Ort gebracht34. Obwohl die Tätigkeit der Erziehung von beiden Geschlechtern ausgeführt werden kann, liegt die Hauptarbeit bei den Frauen. Es ist durch die Natur begründet, dass Frauen die Kinder stillen müssen, aber keineswegs eine Mutter ihr eigenes Kind versorgen darf35. Dass Einheit der höchste politische Wert im Idealstaat ist, zeigt sich vor allem darin, dass das größte Gut einer Stadt ihre Einheit ist, das größte Übel dagegen ihre Vielfalt36. Diese Einheit begründet allen voran die Frauen- und Kindergemeinschaft, die die Gefühle der Bürger vereinheitlicht und dadurch unmittelbar dem höchsten Gut eines Gemeinwesens dient37. In der Polis leben die Bürger glücklich, weil es auf Grund ihrer Gütergemeinschaft keinen Zwist, keine Unannehmlichkeiten oder Neidgebaren gibt38. Insgesamt erscheint die Frauen- und Kindergemeinschaft somit als höchst nützlich, wenn sie denn überhaupt möglich sein sollte. Bevor er die zweite Woge abschließt, wird Sokrates weitschweifig und antwortet auf die Frage nach der Durchführbarkeit der Frauen- und Kindergemeinschaft mit Ausführungen über die außenpolitischen Aufgaben der Wächter resp. die Kriegsführung39. Obwohl er damit den Zusammenhang unterbricht, schließen seine Darlegungen passend an die Frauen- und Kindergemeinschaft an und sollen womöglich nochmals deren Nützlichkeit akzentuieren40. Demnach sollen die Kinder des Wächterstaates so früh wie möglich in den Krieg ziehen und den Kämpfen beiwohnen41. Durch die Ausführung von Helfertätigkeiten wissen die Kinder später einmal wie das Kriegshandwerk funktioniert. Zudem werden die Eltern in Anwesenheit ihrer Kinder besonders tapfer kämpfen, es muss nur zugleich für die Sicherheit der Kinder Sorge getragen werden42. Zusammenfassend wird deutlich, dass die platonische Gleichberechtigung der Frau nur durch einen veränderten Bewertungs- und Auswahl-

34 35 36 37 38 39 40 41 42

vgl. ebd.: 460c. ebd.: 460d-e. ebd.: 462b-c. vgl. Hülser 2005: 77. vgl. Platon, Pol.: 464c-e. vgl. ebd.: 466d-e. vgl. Hülser 2005: 79. vgl. Platon, Pol.: 466e. vgl. ebd.: 467a-d.

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maßstab möglich ist, der sich nicht allein an physischen und traditionellen Werten orientiert, die eine Frau benachteiligen könnten. Vielmehr zählt für Platon die angeborene Fähigkeit des Individuums, die Naturanlage, welche unabhängig vom Geschlecht der alleinige entscheidende Faktor sein soll. Für die Bekleidung von Ämtern oder anderen Berufen soll daher eben nicht das Geschlecht maßgeblich sein, sondern allein die Begabung. Diese wird im fünften Buch der Politeia u. a. nach den Kriterien der schnellen, mühelosen Auffassungsgabe oder der körperlichen Disposition für den jeweiligen Bereich definiert43. Eingeschränkt wird diese Position aber mehrmals durch die Betonung der physischen Unterlegenheit der Frau. Heute zählt in der Diskussion um die Gleichberechtigung der Geschlechter jedoch vielmehr das ethische Bewusstsein. Ausschlaggebend ist dabei, die Frauen als vollkommen gleichberechtigt und gleichwertig zu behandeln und anzuerkennen. Bei Platon ist die Gleichstellung der Frau mit dem Mann aber anderer Natur. Sie ist eingefügt in einen großen Erziehungsplan, der Einheit, Gerechtigkeit und das Engagement eines jeden Bürgers verstärken soll. Somit unterliegt die Gleichstellung der Frau eher einem erzieherischen und staatlichen Kalkül als einer ethisch-moralischen Besorgnis. Dies wird schon zu Beginn des fünften Buches deutlich, als Adeimantos den Wunsch der Gesprächspartner nach der Erläuterung der Frauen- und Kinderfrage damit begründet, dass er dieser für den Staat einen hohen Stellenwert beimisst: „(...) Denn ihre richtige oder unrichtige Durchführung scheint uns viel, ja alles zu bedeuten für den Staat.“44 Auch Heinz sieht darin einen Hinweis, „daß die Ordnung der Geschlechter keineswegs als Privatsache des einzelnen, sondern als Angelegenheit der Politik betrachtet wird“45 – was hinsichtlich des Kritikpunktes Butlers, die Frau wird in der anthropologischen Tradition in den privaten Raum (Haus) gedrängt und aus der öffentlichen Sphäre (Politik) ausgegrenzt, einen wesentlichen Parameter in der Diskussion bildet. Dennoch muss konstatiert werden, dass die Gleichberechtigung zwar faktisch in allen Bereichen des utopischen Staates existiert und die Frau dem Mann gleichgestellt ist – jene Gleichberechtigung besitzt jedoch nicht die Qualität wie sie in der heutigen Diskussion gefordert wird. Vielmehr wird sie mit Rekurs auf das platonische Idiopragieprinzip veranschaulicht. So unterliegt die

43 vgl. ebd.: 455b-c. 44 ebd.: 449d. 45 Heinz 2010: 68.

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von Platon geforderte Gleichberechtigung in der Berufs- resp. Ämterwahl und das damit einhergehende Recht der Frauen die Erziehungspflichten abzugeben einem kollektiven Sinn und nicht einem emanzipatorischen Gedanken. Weiterhin bleibt kritisch und einschränkend zu sehen, dass das platonische Modell der Frauen- und Kindergemeinschaft nur für die Wehrmänner als durch den Seelenteil der Tapferkeit und Tatkraft bestimmter Stand vorgesehen ist und damit offen bleibt, wie es sich im untersten Stand der Erwerbstätigen (Bauern, Handwerker, Händler) und den in der Polis über den Wächtern stehenden Regenten verhält. 1.1.1.2 Der Kugelmenschen-Mythos Das Verhältnis der Geschlechter selbst drückt sich bei Platon insbesondere in seinem Mythos vom Kugelmenschen aus: Für Frau und Mann gilt im Ursprung eine unlösbare Bezogenheit, ein Noch-Nicht-Unterschiedensein. Mann und Frau bilden ein großes Ganzes. Am Anfang steht nach den Ursprungsmythen also ein reines Ein-und-Alles, es gibt kein Gegenüber, nichts Entgegengesetztes. Erst später treten Innen und Außen, Seele und Himmel auseinander46. Der aristophanische Beitrag zur Diskussion über das wahre Wesen körperlicher Nähe (eros) in Form des Kugelmenschen-Mythos im Symposion beschreibt Eros dabei als „die Kraft, die uns zur verlorenen anderen Hälfte zurückführt“47. Heute gilt dieses sog. „Verschmelzungsmodell“48 als eines der drei „Liebesmodelle“49 – neben der „Sorge für den anderen um des anderen willen“, auch „Care-Modell“50 genannt (agape), und dem „dialogischen Modell“51 (philia): „Es ist also seit uralter Zeit der Eros zueinander den Menschen eingepflanzt; zu ihrem ursprünglichen Wesen führt er sie wieder zurück und sucht aus zweien eins zu machen und die menschliche Natur zu heilen (...) das Begehren und der Drang nach dem Ganzen also, das heißt Eros.“ 52

46 47 48 49 50 51 52

vgl. Gerl-Falkovitz 2009: 18. Krebs 2011: 1465. ebd. ebd. ebd.: 1465, 1473. ebd. Xenophon, Symposion: 191c8-d3, 193a.

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1 Entwicklungen der Geschlechterkonzeption in der Philosophischen Anthropologie

Robert C. Solomon denkt das Verschmelzungsmodell in einer zeitgenössischen Variante. So sieht er im Gegensatz zu Platon gerade in der heterosexuellen Liebe das körperliche und seelische Leitbild des Ineinanderpassens und betont damit die Komplementarität beider Geschlechter. Platon hingegen sieht im aus zwei männlichen Hälften bestehenden Kugelwesen die privilegierteste Form unter den Kugelmenschen, was darauf schließen lässt, dass er die homosexuelle Liebe unter Männern als die höchste Form der Liebe versteht53. Solomon aber hebt die Liebe zwischen Mann und Frau als die zwischen „gleichwertige[n] aber verschiedene[n] Partner[n]“54 hervor und stützt sich dabei auf den Kugelmenschen-Mythos. Aus dem Verschmelzungsmodell können hinsichtlich der Geschlechterdebatte offensichtlich viele Einsichten gewonnen werden. Feministinnen weisen jedoch jenes Modell zurück, da es für die Emanzipation der Frau hinderlich ist55. 1.1.1.3 Antike und Wahrheit – kritische Stimmen zum Kugelmenschen Die Problematik einer philosophischen Mythen-Interpretation begann mit der Homer-Interpretation, was vor allem bei Platon ersichtlich wird. Demnach kann man nicht angemessen über Götter sprechen, wenn sie menschliche Gestalt und damit einhergehend auch menschliche Schwächen haben. Deshalb ersetzt Platon diese Mythen durch eine vernunftorientierte Rede über das Göttliche (theo-logia56). Fest steht, dass eine eindeutige Haltung Platons zu den Mythen nicht zu finden ist. Im Symposion beispielsweise ist die Wahrheit des Kugelmenschen mythischen Ursprungs – letztendlich ist es jedoch die Philosophie, genauer gesagt die Rede des Sokrates, die vorherige Beiträge zum Eros überwindet57. Dies zeigt sich vor allem daran, dass Sokrates als vorletzter Redner eine die konkurrierenden Beiträge deutlich überbietende philosophische Darstellung des Eros liefert58 und allen vorherigen Rednern widerspricht. Dabei stellt der Gesprächsbeitrag des Sokrates die „Wiedergabe eines philosophisch-reflektierten Gesprächs mit bzw. eine religiöse Unterweisung durch eine Priesterin aus Mantineia namens Diotima dar“59. Sie lehrt Sokrates, dass der Eros zwischen den 53 54 55 56 57 58 59

34

vgl. Krebs 2011: 1465f.. ebd.; Anm. d. Verf. vgl. ebd.: 1473. vgl. Jamme 2011: 1554. ebd. vgl. Horn 2011: 9; Krebs 2011: 1465. Kruse-Ebeling 2012: 381.

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Sterblichen und den Unsterblichen steht. Eros ist daher ein dämonisches Wesen, das zwischen Menschen und Göttern vermitteln soll60. Bernd Manuwald erkennt in den Äußerungen des Aristophanes ein klares Defizit. Aristophanes liefert seiner Meinung nach keine wirkliche Erklärung, wie und warum Menschen entstanden sind. So erläutert Aristophanes zwar die ursprüngliche Abstammung von den Himmelskörpern, demnach müssten die Kugelmenschen aber reine Götterabkömmlinge sein und es könnte sich gar nicht um Menschen handeln. Im Mythos werden sie jedoch konträr zu den Göttern konzipiert. Manuwald legt weiter dar, dass die ursprüngliche Abstammung des Menschen von Sonne, Erde und Mond keine Erklärung dafür bietet, ob und weshalb die noch ungeteilten Kugelmenschen ein Streben zueinander gehabt haben könnten. So waren diese Wesen zwar mit Geschlechtsteilen ausgestattet, trugen diese aber nach außen und sie hatten keine bestimmte Funktion. Erst nach deren Teilung wird den Schamteilen ein Sinn gegeben. Dass Aristophanes den weiblichen Teil der Urmenschen von der Erde abstammen lässt, lag laut Manuwald an der traditionellen Vorstellung der Erde als Urmutter, die auch Wesen allein aus sich selbst hervorbringen konnte. Manuwald schlussfolgert, dass Platon nicht nur die weiblichen Kugelmenschen aus der Erde hätte entstehen lassen können, sondern auch ihr männliches und androgynes Pendant. Offensichtlich sollten deutlich verschiedene Erzeuger resp. Eltern gefunden werden, die eine klare Trennung der drei sexuellen Orientierungen (Heterosexualität, weibliche und männliche Homosexualität) hervorbringen. Nachdem nun die Frauen aus einem kosmischen Körper hervorgegangen waren, wurde den Männern ein Ursprung von der im Griechischen maskulinen Sonne und dem androgynen Geschlecht dem im Griechischen femininen Mond zugeschrieben61. Ries wiederum sieht in dem Begriff des Ganzen einen der wichtigsten Termini der platonischen Seinslehre. Dass bei Platon ein wesentlicher Zusammenhang zwischen dem Ganzen und dem Eros besteht, ist laut Ries in der Politeia zu finden. Im sechsten Buch schreibt Platon von der Seele des Philosophen, die immer nach dem Ganzen sucht 62, weil es Göttliches wie auch Menschliches in sich fasst und zur Einheit bindet. In dem Streben nach der Erkenntnis dieser Einheit kommt das innerste Wesen des Eros zu sich selbst als Philosophie63.

60 61 62 63

vgl. ebd.: 383. vgl. Manuwald 2012: 93 f. Platon, Pol.: 486a. vgl. Ries 2003: 55.

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1 Entwicklungen der Geschlechterkonzeption in der Philosophischen Anthropologie

Vonholdt aber steht dem auch heute noch modernen griechischen Mythos der ursprünglich zwittrigen, androgynen Kugelgestalten, aus dem auch die eigentliche Bisexualität der Menschen abgeleitet wird, kritisch gegenüber. Sie argumentiert, dass aus der Bibel deutlich hervorgeht, dass der Mensch von Anfang an als Mann und Frau geschaffen wurde und Geschlechtlichkeit keinesfalls eine göttliche Strafe, wie im KugelmenschenMythos beschrieben, darstellt64. Zudem sieht sie das „Wiederfinden der beiden Hälften’“65 als „symbiotisch und spannungslos“66. Gerl-Falkovitz sieht in Platons Kugelmenschen-Mythos einen Hinweis darauf, dass es bei diesem Bild von Frau und Mann nicht um eine anatomische oder historische Aussage geht, sondern um das innerste Empfinden, dass das Geschlecht zweitrangig gegenüber der ursprünglichen Ganzheit ist. Sie verbindet dieses Streben nach Vereinigung mit dem biblisch vertrauten Bild aus dem älteren Schöpfungsbericht, wonach Eva aus der Rippe Adams geschaffen wurde – folglich wäre die Ursprungseinheit Adam vor der Abtrennung Evas gewesen. Diesem älteren Schöpfungsbericht steht Platon gedanklich näher, wenn er von kugelförmigen Urmenschen ausgeht. Im jüngeren Schöpfungsbericht entstehen Adam und Eva zeitgleich, sie sind ein Ebenbild Gottes und zutiefst verwandt. Unzählige Mythen aus sämtlichen Kulturen beziehen sich ebenfalls auf eine fraglose Ureinheit, entweder auf die Abstammung der Menschen von den Göttern oder auf ihren gemeinsamen Ursprung. Im Mythos vollzieht sich Aufwachen zu einem Eigenstand. So enthält fast jeder Mythos eine Erhellung, ein Bewusstwerden der Seele gegenüber der erfahrbaren Welt. In ein Bild gefasst: Zwei Hälften, die – auch wenn sie sich unterscheiden – zueinander gehören. Damit sind nicht nur Seele und Himmel, sondern alle polaren Entsprechungen wie Himmel/Erde, Sonne/Unterwelt, Olymp/Hades oder Mann/Frau angesprochen. Das entsprechende Symbol dieser Struktur ist der Kreis, der alle Erscheinungen ausgleichend und ergänzend ineinander vereint sowie Ende und Anfang ineinander übergehen lässt67. Während im Mythos noch die Polarität zweier gleichwertiger Extreme vorherrschte, die sich in spannungsvoller Ausgeglichenheit gegenüberstanden, wandelte sich dies im Griechenland des 5. Jahrhunderts vor Christi Geburt. Nach Jaspers’ Theorie der Achsenzeit war diese Zeit um 500 v. Chr. im antiken Griechenland geprägt von einer Wende vom rein Mytho-

64 65 66 67

36

vgl. Vonholdt 2015: 69. ebd. ebd. vgl. Gerl-Falkovitz 2009: 18ff.

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logischen und Götter- resp. Naturglauben hin zu einem rationaler geprägten philosophischen Weltbild. Die zentrale Annahme seiner universalgeschichtlichen These der Achsenzeit (800–200 v. Chr.) ist, dass in der Weltgeschichte voneinander unabhängig sowohl in China und Indien als auch dem Abendland strukturell ähnliche kulturelle Umbrüche erfolgt sind. Gerl-Falkovitz belegt diese Entwicklung von der Polarität zur Dualität mit einer Veränderung der Geisteshaltung dahingehend, dass man sich von nun an für einen Weg resp. für einen Pol zu entscheiden habe. Während Ödipus seinem Schicksal nicht entrinnen konnte, egal wie er sich entscheidet68, lässt Prodikos von Keos im fünften Jahrhundert v. Chr. den Herakles am Scheideweg den richtigen, den rechten Weg gehen. Diese antike Welt entwirft nun Gesetz, Richtung, Entschiedenheit und Recht, da es jetzt notwendig erscheint, Gut und Böse eindeutig zu unterscheiden. Lykurg, Solon, Mose und Minos gelten heute noch als Begründer des Rechts. GerlFalkovitz erklärt diese Veränderung der mentalen Struktur mit einer gewollten Befreiung aus dem Seelisch-Unentschiedenen, dem Unpersonalen, dem Kreislauf des Immergleichen. Es war der Durchbruch in eine Welt der Einzigkeit und Unverwechselbarkeit des Wissens gegenüber der bloßen Meinung, der Wahrheit gegenüber dem bloß Stimmigen. Gerl-Falkovitz liest in diesem Zusammenhang einen Text des Pythagoras im Kontext der Geschlechterfrage. Eine derartige Verbindung wurde aber bisher kaum zur Kenntnis genommen. So hat Pythagoras gleichsam als Urstiftung der Philosophie eine Gegensatztafel von zehn Prinzipien aufgestellt, die sich unversöhnlich von ihren zehn Gegensätzen abstoßen. Damit sind Unterscheidungen getroffen, die nicht nur die Weltordnung, sondern zugleich Wert, Einsicht, Beherrschung und ein grundsätzliches Sich-Zurecht-Finden anstelle der bisherigen Richtungslosigkeit des Mythos beinhalten69: „Grenze und Unbegrenztes Ungerades und Gerades Einheit und Vielheit Rechtes und Linkes Männliches und Weibliches Ruhendes und Bewegtes Gerades und Krummes Licht und Finsternis Gutes und Böses

68 vgl. Abenstein 2007: 118 ff. 69 vgl. Gerl-Falkovitz 2009: 35 ff.

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1 Entwicklungen der Geschlechterkonzeption in der Philosophischen Anthropologie

Gleichseitiges und ungleichseitiges Viereck.“70 Im Zusammenhang mit der Geschlechterfrage ist vor allem von Bedeutung, dass das Weibliche ausdrücklich mit negativen Werten konnotiert ist. Im Gegensatz zur symmetrischen Anordnung der Pole im Mythos, ist diese Gegensatztafel asymmetrisch zu lesen, da sich nur die eine, die gute, die männliche Seite der Einsicht zuordnet. Über das Weibliche, so schlussfolgert Gerl-Falkovitz, lässt sich nur noch ausgrenzend und im Unterschied zum Erkennbaren sprechen71. 1.1.2 Das Geschlechterverständnis bei Aristoteles Aber nicht nur Platons Überlieferungen sind wichtige Bestandteile okzidentalen Denkens, welches unsere heutige Gesellschaftsordnung prägt – vor allem in Bezug auf die Geschlechterhierarchie. Auch Aristoteles hat sich mit der Geschlechterfrage auseinandergesetzt. Dabei hat er Platons Geschlechterordnung, die auf einer grundlegenden Gleichstellung von Mann und Frau sowie der Zulassung von Frauen zu den höchsten Ämtern der polis (Staat) und die Ersetzung des oikos (Haus) zu Gunsten der Frauenund Kindergemeinschaft im Wächterstand basiert, verworfen und nahezu konträre Vorstellungen formuliert. Zur aristotelischen Wesensfrage von Mann und Frau finden sich wesentliche Erkenntnisse in seiner Metaphysik. Er fragt dort im Kontext der Reflexion über die verschiedenen Arten von Beziehungen zwischen gegenteiligen Dingen, ob Mann und Frau der Art nach verschieden sind. In Über die Zeugung der Geschöpfe thematisiert er die embryonale Entwicklung von Tieren (einschließlich des Menschen) und die Vererbungslehre. Auch in seiner Politik diskutiert er die für die Ordnung der Geschlechterverhältnisse relevanten Termini Staat (polis) und Haus (oikos). Vor allem aber hier analysiert Aristoteles kritisch Platons Idee der Frauen- und Kindergemeinschaft72 und formuliert seine eigene Geschlechtertheorie.

70 vgl. Gerl-Falkovitz 2009: 40; Hervorh. d. Verf. 71 vgl. Gerl-Falkovitz 2009: 40. 72 vgl. Heinz 2010a: 94.

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1.1.2.1 Die Artverschiedenheit der Geschlechter in seiner „Metaphysik“ Im zehnten Buch seiner Metaphysik fragt Aristoteles nach der Wesenhaftigkeit von Mann und Frau. Er arbeitet das Charakteristische beider Geschlechter und definiert „der Art nach Verschiedensein (...), daß die Dinge (...) über einen Gegensatz verfügen“73. Wohingegen „der Art nach identisch [sein]“74 bedeutet, dass die Dinge „über keinen Gegensatz verfügen“75. Dieser Definition zufolge müssten Mann und Frau also artverschieden sein. So verhält es sich aber beim Geschlechterunterschied nicht, was er im daran anschließenden neunten Kapitel Das Seiende und das Eine des zehnten Buches erläutert76: „Man könnte nun unschlüssig sein, weshalb sich die Frau vom Manne nicht der Art nach unterscheide, wiewohl doch Weiblich und Männlich Gegenteile sind, der Unterschied aber ein Gegensatz ist; und weshalb das weibliche Lebewesen der Art nach nicht vom männlichen Lebewesen verschieden ist, obgleich das ein Unterschied des Lebewesens an sich ist – und nicht wie Weißheit und Schwarzheit –, sondern,weiblich’ und,männlich’ dem Lebewesen zukommt, insofern es Lebewesen ist.“ Zum Vergleich für das Nicht-Verschieden-Sein von Mann und Frau zieht er den Vergleich zwischen hell- und dunkelhäutigen Menschen heran, die für ihn auch nicht verschieden sind, gleichwohl aber beispielsweise „befußte“77 und „beflügelte“78 Wesen durchaus artverschieden sind. Vielmehr sind alle Menschen der Art nach gleich, ob sie nun männlich, weiblich, hell- oder dunkelhäutig sind. Es gibt zwar graduelle resp. spezifische Unterschiede/Gegensätze, die jedoch an der Wesensart nichts bewirken79. Aus diesem sehr kurzen Kapitel über die Art von Mann und Frau geht also hervor, dass Mann und Frau zwar „Gegenteile“80, der Art nach jedoch identisch sind, da der Unterschied letztlich nichts bewirkt: „Das Männliche und das Weibliche sind zwar dem Lebewesen eigentümliche Affektionen, aber nicht dem Wesen nach, sondern Affektio73 74 75 76 77 78 79 80

Aristoteles, Metaphysik: 1058a. ebd. ebd. ebd.: 1058b. ebd. ebd. vgl. ebd. ebd.

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nen am Stoff und am Körper; deshalb wird aus demselben Samen, je nachdem er affiziert wird, etwas Männliches oder etwas Weibliches.“81 Hier ist noch keine hierarchische Geschlechterordnung erkennbar, lediglich ein Satz, der auf die „eigentümlichen Affektionen“82 rekurriert, könnte ein Hinweis auf das inferiore Wesen der Frau sein. Es wird jedoch nicht eindeutig klar, ob hier tatsächlich das Weibliche gemeint ist83: „(...) weil das eine der Gattung eigentümliche Affektion ist, das andere aber weniger.“ Betrachtet man diese knappen Ausführungen zu den Geschlechtern jedoch im Kontext seiner anderen Ausführungen zur Geschlechterfrage, kann daraus geschlossen werden, dass das weibliche Wesen und Gemüt minderwertiger ist als das männliche und sich daraus die Passivität der Frau ergibt. 1.1.2.2 Wesensunterschiede und Entstehung der Geschlechter in „Über die Zeugung der Geschlechter“ In Über die Zeugung der Geschöpfe beschäftigt sich Aristoteles mit den Wesensunterschieden von Mann und Frau sowie der Entstehung der Geschlechter. Die dort gesammelten Thesen sind die Basis für die später folgende Geschlechterordnung im Staat (Politik) nach aristotelischem Verständnis. Nachfolgend werden nun vor allem Stellen aus dem ersten Buch Zeugungswerkzeuge besprochen, das die Geschlechtsorgane, den Samen und die Menstruation behandelt. Im vierten Buch Abschluss der Entwicklung, Kind und Eltern, Geburt geht es hauptsächlich um die Ursachen für das Geschlecht des Embryos, die Vererbung, die Dauer der Trächtigkeit resp. Schwangerschaft, die Geburt sowie etwaig auftretende Geburtsfehler. Schon zu Beginn des ersten Buches hebt Aristoteles das unterschiedliche Wesen von Mann und Frau hervor. Demnach ist der Mann der Formgebende beim Zeugungsvorgang im Vergleich zur Frau, die lediglich den Stoff für die Entstehung neuer Lebewesen beiträgt84. Der Mann ist in der aristotelischen Zeugungs- und Vererbungslehre höherwertig gestellt, da der männliche Samen den Geist transportiert, welcher zum Erzeuger und Primat über die Materie wird. Woraus Aristoteles diese Erkenntnis nun zieht

81 82 83 84

40

ebd. ebd. ebd. vgl. Aristoteles, Über die Zeugung der Geschöpfe: 16a.

1.1 Mann und Frau in der Philosophischen Anthropologie der Antike

und welche Begründung der Annahme zu Grunde liegt, wird vor allem da deutlich wo er das männlich-aktive Gebende und das weibliche-passive Nehmende anhand des Zeugungsvorgangs konkretisiert: „Männchen nennen wir nämlich ein Tier, das den Samen in ein anderes senkt, weiblich eines, das ihn in sich selber senkt. Daher sprechen wir auch im All das Wesen der Erde als weiblich und mütterlich an, Himmel dagegen und Sonne und dergleichen sonst als Erzeuger und Vater. Das Männliche und das Weibliche unterscheidet sich demnach begrifflich eins vom anderen durch die verschiedene Wirkung, sinnlich durch gewisse Körperteile. Begrifflich ist das Männchen dasjenige, das, wie gesagt, den Samen in ein anderes Wesen senkt, das Weibchen das, das ihn in sich selber senkt (...).“85 Das weibliche Geschlecht ist für ihn ein Mängelwesen, und genau aus jenem Prinzip der Natur leitet Aristoteles seine hierarchische Geschlechterordnung ab, in der das Männliche das Bessere und Herrschende ist, das Weibliche hingegen das Geringerwertige und Beherrschte. Zur Begründung der defizitären Stellung der Frauen verweist er ausschließlich auf das biologische Sein86. Weiterhin ist „(...) die Frau eine Art zeugungsunfähiger Mann. Denn Weibchen sein bedeutet eine gewisse Schwäche, weil es nicht imstande ist, aus der letzten Nahrungsstufe Samen ausreifen zu lassen“87. Der Samen wird als Ausscheidung aus dem Blut bestimmt. Von der männlichen Seite kommt über die Samenflüssigkeit nur eine immaterielle formende Kraft, wobei der Samen selbst kein Bestandteil des neuen Lebewesens wird, vielmehr wird dessen Materie ausschließlich von der mütterlichen Seite beigesteuert. So vergleicht Aristoteles das Männchen mit einem Zimmermann, den Samen mit dessen Werkzeug und den Embryo mit dem bearbeiteten Holz88: „Jede Entwicklung, wo immer eine solche sich vollzieht, findet im Weibchen statt und kann nie in das Männchen verlegt werden (...) beide legen das von ihnen stammende zusammen im weiblichen Körper an, weil in ihm der Stoff bereit liegt, aus dem Erzeugnis sein soll (...) Die Zeugung muß also im Weibchen erfolgen, denn der Zimmermann muß beim Holze sein und der Töpfer beim Lehm, und so ist jede schöpferische Tätigkeit und jede letzte Bewegung an den Stoff gebun-

85 86 87 88

ebd. vgl. ebd.: 66a. ebd.: 28a. ebd.: 22, 30b.

41

1 Entwicklungen der Geschlechterkonzeption in der Philosophischen Anthropologie

den, z. B. das Bauen an die Baustoffe (...) so wenig wie vom Zimmermann etwas in das Holz eingeht oder ein Teil seiner Kunst in das werdende Erzeugnis; vielmehr geht nur Gestalt und Art von ihm aus infolge der Bewegung, die im Stoff davon entsteht (...).“ Im vierten Buch heißt es dazu weiter: „Nun ist aber der Begriff des Männlichen und des Weiblichen bestimmt durch Vermögen und Unvermögen, das Männchen als das, was Samen reifen, bilden und absondern kann, der den Lebensquell der Art enthält, Lebensquell nicht als stofflichen Ausgangspunkt eines neuen, den Eltern gleichen Geschöpfes, sondern als Ausgang der Entwicklung, ganz gleich, ob es in dem Geschöpf selber oder in einem andern wirken kann, das Weibchen als das, was diesen Samen zwar aufnimmt, aber keinen selber bilden und absondern kann.“89 „(...) Weibchen sind ihrem Wesen nach schwächer und kälter, und man muß ja Weiblichkeit als einen natürlichen Mangelzustand ansehen.“90 Die im letzten Zitat angesprochene Kälte und Mangelhaftigkeit der Frauen ergibt sich aus ihrer Unfähigkeit ihren menstruellen Ausfluss bis zu jenem Punkt der Läuterung zu bringen, wo er zum Samen würde. Dies ist ihrer natürlichen, nicht vorhandenen Wärme zu verschulden, weswegen ihr einziger Beitrag zum Zeugungsvorgang ist, den Körper zu bieten, in dem der Embryo wachsen kann. 1.1.2.3 Geschlechterpositionen der polis in der „Politik“ Im zweiten Kapitel Genetische Betrachtung des Staates geht es Aristoteles um die Ausgestaltung der polis, für die er als primär erachtet, dass Mann und Frau sich fortpflanzen. Die Frau ist jedoch grundsätzlich vom Staatswesen (polis) ausgeschlossen, da für sie der oikos (Haus) vorgesehen ist. Aristoteles zählt den Menschen zu den animalischen Wesen, dessen maßgeblicher Zweck es ist, für Nachkommenschaft zu sorgen und damit das Menschengeschlecht zu erhalten91. In der Politik beschreibt Aristoteles nun die „Genese der polis als stufenweise Entwicklung von primitiven über komplexere Gemeinschaften bis zur vollendeten Gemeinschaft“92. Zunächst spricht er

89 90 91 92

42

ebd.: 65a. ebd.: 75a. vgl. Aristoteles, Politik, I, 2. Heinz 2010a: 95; Hervorh. i. Orig.

1.1 Mann und Frau in der Philosophischen Anthropologie der Antike

von den beherrschenden und beherrschten Polismitgliedern, die, ihrer Zugehörigkeit entsprechend, ihrem intrinsischen Telos der Erhaltung nachgehen sollen: „(...) und das kraft seiner Natur Gebietende muss sich paaren mit dem kraft seiner Natur Gehorchenden zum Behuf der Erhaltung (...)“93. In einem weiteren Schritt verdeutlicht Aristoteles wen er zum über- resp. untergeordneten Part zählt: „(...) wo nämlich das Vermögen geistiger Voraussicht vorhanden, da ist natürlicher Beruf, Herr und Gebieter zu sein, wo hingegen die Fähigkeit zu bloss körperlicher Verrichtung der empfangenen Befehle, da ist natürlicher Beruf Sclave zu sein; deshalb, weil Herr und Sclave sich nicht entbehren können, besteht auch Gleichheit der Interessen zwischen ihnen (...).“94 Aristoteles betont hier, dass Frau und Sklave von Natur aus „geschiedene Wesen“95 sind – einzig bei den Barbaren stehen Frauen und Sklaven auf einer Ebene, da „bei ihnen das von Natur zum Gebieten bestimmte Element fehlt“96. Im Geschlechterverständnis von Aristoteles drückt sich demnach eine defizitäre Veranlagung der Frau aus, weshalb er diese als gehorchenden Teil der Gemeinschaft sieht. Zunächst könnte man eine Analogie der Beziehung von Mann/Frau und Herr/Sklave unterstellen, wobei Letztere jeweils zu den Gehorchenden gehören würden. Aus diesen beiden dependenten Einheiten (Mann/Frau, Herr/Sklave) ergibt sich schließlich die komplexere Hausgemeinschaft oikos, zu der auch Kinder hinzukommen und in der alltägliche Bedürfnisse gedeckt werden sollen. Aus einer Vielzahl von Hausständen entstehen so Dörfer und aus vielen Dörfern wiederum ein Staat. Da jeder Staat also aus diesen Hausgemeinschaften besteht, beschäftigt sich Aristoteles in seiner Politik nun zunächst mit einer Explizierung dieser97. Demnach besteht der Hausstand aus drei Paaren:

93 94 95 96 97

ebd. ebd., Hervorh. i. Orig. ebd. ebd. vgl. Aristoteles, Politik I, 3.

43

1 Entwicklungen der Geschlechterkonzeption in der Philosophischen Anthropologie

„(...) Herr und Sclave, Ehemann und Eheweib, Vater und Kinder (...), d. h. wir müssen betrachten: das Herrenverhältniss, das eheliche Verhältniss, das elterliche Verhältniss“98. Als vierte dazugehörige Komponente nennt er die Finanzkunde einer jeden Hausgemeinschaft. Aristoteles fährt fort, indem er der Seele das gebietende Element, dem Körper/Leib hingegen das gehorchende Element zuschreibt, wobei eine Gleichstellung oder ein umgekehrtes Verhältnis der beiden verderblich wäre99. Für das Geschlechterverhältnis bedeutet dies eine Analogie der „Verhältnisse im Individuum“100 und der „Verhältnisse zwischen den Individuen“101: „Endlich vergleicht man Mann und Weib, so ist jener von Natur stärker, dieses schwächer, jener gebietend, dieses gehorchend“, d. h. „(...) wie die Seele despotisch über den Körper herrscht, so soll der Herr über den zu deliberativem Denken unfähigen Sklaven herrschen und wie der rationale Seelenteil über den affektiven herrscht, soll der Mann über die Frau herrschen.“102 Die Beziehung des Herrn/Sklaven und Ehemann/Ehefrau verhält sich jedoch nicht, wie zunächst konkludiert werden könnte, analog, sodass die Frau nicht auf einer Ebene mit dem Sklaven zu sehen ist. Vielmehr fehlt dem Sklaven die Fähigkeit zur Überlegung gänzlich, die Frau hat sie zwar, aber ohne Entschiedenheit und beim Kind ist sie noch nicht vollständig entwickelt. Somit ergeben sich verschiedene Arten der Beziehung zwischen Gebietenden und Gehorchenden103. Benhabib und Nicholson fragen aus feministischer Perspektive zu Recht, was genau mit der mangelnden Entschiedenheit der Frau gemeint ist, denn dies geht bei Aristoteles nicht hervor. So besitzen zwar Frauen, im Gegensatz zu den Sklaven, die rationalen Fähigkeiten der Seele, aber es fehlt ihnen an Entscheidungskraft diese durchzusetzen104. Daher bleibt die Frage offen, was jene Entscheidungskraft letztendlich ist105:

98 99 100 101 102 103 104 105

44

ebd. vgl. ebd. Heinz 2010a: 96. ebd. ebd. vgl. Aristoteles, Politik I, 13. vgl. Benhabib/Nicholson 1987: 525. ebd.

1.1 Mann und Frau in der Philosophischen Anthropologie der Antike

„Bezieht sich ‚Entscheidungskraft’ hier auf ein Faktum, auf eine psychologische Konstante hinsichtlich des Charakters der Frau, oder auf einen Anspruch, auf das Recht der Frau, ihre rationalen Fähigkeiten zu beherrschen?“ Benhabib und Nicholson schreiben Aristoteles daher eine zirkuläre Argumentationsweise zu, nach der legitimiert ist, dass der Mann über die Frau herrscht, weil „die Bedingungen dieser Herrschaft in ihnen den Mangel an Tugend schaffen, der ihre Beherrschung rechtfertigt“106. Dem ist insofern zuzustimmen, als dass Aristoteles in seiner Politik für die Inferiorität der Frau im oikos und dem Ausschluss aus der polis tatsächlich keine differenzierten und fundierten Argumentationen vorbringt, außer die oben beschriebene defizitäre biologische Natur der Frau. Er stützt seine Geschlechterverständnis also lediglich auf die mangelnde Tugend der Frau, die kein „vollständig rationales Lebewesen ist“107. Fraglich ist, ob die Thesen seiner Zeugungs- und Vererbungslehre tatsächlich als hinreichend für die inferiore Stellung der Frau in seinem Staat gelten können. So besitzt nach Aristoteles nur der Mann/Hausherr (oikodespotes) die allumfängliche Tugend: „Der Gebietende also muss die sittliche Tugend in ihrer Vollständigkeit besitzen; denn jede Leistung hängt in allen ihren Theilen von dem obersten Meister ab (...) Die Gehorchenden hingegen brauchen jeder nur so viel Tugend, als von der Gesammtleistung auf sein Theil fällt.“ 108 An dieser Stelle rekurriert Aristoteles auf die oben erwähnte Position des Sokrates, der der Meinung ist, Frauen könnten dieselbe Tapferkeit erlernen wie Männer, was Aristoteles verneint: „(...) die Tapferkeit des Mannes ist eine gebietende, die des Weibes eine dienende.“ 109 Heinz sieht in dieser für die „aristotelische Philosophie und (...) die europäische Philosophiegeschichte äußerst folgenreiche[n] Behauptung über die defizitäre Natur der Frau“110 die einzig auffindbare Umschreibung der untergeordneten Stellung der Frau im oikos und ihrem Ausschluss aus der polis, die sich bei Aristoteles finden lässt. Die Verweigerung des Zugangs

106 107 108 109 110

ebd. vgl. ebd. Aristoteles, Politik I, 13. ebd. Heinz 2010a: 96; Anm. d. Verf.

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1 Entwicklungen der Geschlechterkonzeption in der Philosophischen Anthropologie

zur polis für Frauen begründet Aristoteles dahingehend, dass die polis ein Herrschaftsverband freier und gleicher Bürger ist und demzufolge Frauen mit ihrer defizitären weiblichen Seele nicht partizipieren können, da sie ungleich respektive geringwertiger sind111. Im zweiten Buch der Politik weist Aristoteles die von Platon postulierte Frauen- und Kindergemeinschaft zurück. Das zweite Buch beginnt Aristoteles nun also mit der Suche nach der anzustrebendsten Staatsform, wovon es drei Arten geben kann: „(...) entweder Alles ist Allen, oder Nichts ist Allen gemein, oder gewisse Dinge sind Allen gemein, andere aber nicht.“112 Aristoteles schließt von vornherein die zweitgenannte Verfassungsform aus und will die anderen beiden Formen u. a. anhand des im platonischen Staat gemeinschaftlichen Frauen- und Kindertums erörtern, wo er bei Platon einige strukturelle Probleme sieht. 1.1.3 Das platonische und aristotelische Geschlechtermodell im Vergleich Der Vergleich der beiden Grundpfeiler anthropologischer Geschlechtermodelle ist insofern von tragender Relevanz, weil sich vor allem bei Aristoteles erste Grundzüge dessen zeigen, was Butlers Performanzmodell im Kern beinhaltet: Die Infragestellung und Neuformulierung des Geschlechter- und Verwandtschaftsbegriffs. Fassen wir daher nochmals zusammen: Platon, der den Menschen als Geistwesen beschreibt, der bestimmt ist durch die Unterscheidung und Dominanz eines der drei Seelenvermögen, betont die Individualität, Unsterblichkeit und Geistigkeit der Menschennatur bei gleichzeitiger Kontingenz der Körperlichkeit und somit auch des Geschlechtsunterschieds. Daher beruht der Aufbau der polis auf denselben anthropologischen Bedingungen: Vermögenshierarchie ist Standeshierarchie. Die Veranlagung soll auch die arbeitsteilige Aufgabe und Tugend der Geschlechter bestimmen. Erst die harmonische Ganzheit, also die Übereinstimmung der Seelenteile unter der Leitung der Vernunft, ist Gerechtigkeit und erzeugt ein glückliches Leben. Platon argumentiert für die Gleichstellung von Mann und Frau, wobei die Möglichkeit der strikten Gleichstellung der Geschlechter unter Rekurs auf das Gerechtigkeitsprinzip demonstriert wird. So folgt aus diesem staatsbildenden Leitgedanken, dass nur die

111 vgl. ebd.: 97f. 112 Aristoteles, Politik II, 1.

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1.1 Mann und Frau in der Philosophischen Anthropologie der Antike

individuelle Natur darüber entscheidet, welche Position einem Menschen im Staat zukommt. Bei Platon ist dabei die Familie die Form menschlicher Gemeinschaft, in der in vorbildlicher Weise Gerechtigkeit verwirklicht wird. Da Platon den Idealstaat als eine Art große Familie betrachtet, schlägt er vor, die natürliche Familie aufzulösen und die Kinder, ganz nach dem Vorbild Spartas, in staatliche Obhut zu geben. Gleiche und gerechte Berücksichtigung der Geschlechter bedeutet nach dem platonischen Idiopragieprinzip folglich: Jeder erhält, was ihm zusteht bzw. den Einzelnen angemessen berücksichtigt – unabhängig vom jeweiligen Geschlecht. Das aristotelische Menschenbild hingegen rückt die unterschiedliche Körperlichkeit der Geschlechter in den Vordergrund. Dabei wird die platonische Lehre des Seelenvermögens zwar im Prinzip übernommen, jedoch insofern modifiziert, als dass sie vom Körperlichen her legitimiert wird. Ebenso wird der Geschlechterunterschied belangvoll, was sich in seiner geschlechtsspezifischen Arbeits- und Funktionenteilung zeigt, die sich an der Unterscheidung von oikos und polis, Privatsphäre und öffentlichem Raum, festmacht. Damit verwirft Aristoteles die platonische Geschlechterordnung der Gleichheit der Natur von Mann und Frau und betont die geschlechtliche Wesensunterschiedlichkeit, die sich in der defizitären Natur der Frau und ihrer damit verbundenen untergeordneten Stellung im oikos und dem Ausschluss aus der polis zeigt. Der Ort der Frau ist demnach das Haus; Haus und Staat werden getrennt. Das aristotelische Geschlechterbild setzt die natürliche Familie sozusagen wieder in ihr Recht ein. Die Familie als Ort des Wirtschaftens und der täglichen Lebenserhaltung war bei ihm Ort des Ökonomischen. Da hier Zwang herrscht, trennt Aristoteles die Privatsphäre von der öffentlichen Gemeinschaft, die unter dem Leitbild der Freiheit steht. Es war vor allem die aristotelische Lehre über die biologisch begründete Inferiorität der Frau, die als Grundlage für daran anschließende Geschlechtertheorien diente. Hier ist vor allem die Schöpfungs- und Geschlechterordnung Aquins113 zu nennen, die als Versuch einer Synthese von aristotelischem und christlichem Gedankengut gesehen werden kann. Aber auch Rousseau greift gegen Ende des 18. Jahrhunderts114 die aristotelische Geschlechtertheorie und die damit verbundene Trennung des Privaten vom Politischen entlang des Geschlechterunterschieds auf und entwirft darauf aufbauend seinen androzentrischen Gesellschaftsentwurf, in der die Frau die Funktion hat, dem Mann zu dienen und der Mann wiederum die Bestimmung hat, ein guter Bürger zu werden. Weiterhin basieren Hum-

113 Summa theologica: Bd. 7, Quaestio 92, Art. 1–4; Bd. 35, Quaestio 81, Art. 3. 114 Emile oder Über die Erziehung: 718–819.

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1 Entwicklungen der Geschlechterkonzeption in der Philosophischen Anthropologie

boldts einschlägige Texte115 zu Fragen von Geschlechterbildern und -rollen auf der aristotelischen Annahme vom männlichen Prinzip der bewegenden Kraft und der weiblichen unbewegten Materie, die erst durch die formgebende Kraft lebendig wird. Die aristotelische Maxime hat also für viele hunderte Jahre die einschlägigen Diskurse maßgeblich geprägt. Demzufolge verharrt die Frau aufgrund ihrer endlichen Materialität in der Immanenz, während der Mann als der von der Materie gänzlich unabhängige Geist die Transzendenz verkörpert: „Daher gibt es immer die Gattung der Menschen und der Tiere und Pflanzen, und da hierfür die Grundlagen das Weibliche und das Männliche bilden, so ist also die Zeugung der Zweck des Unterschiedes von Männlich und Weiblich in den Dingen. Da nun die erste Quelle der Bewegung in ihrem Wesen immer höher steht und göttlicher ist, die den Begriff und die Gestalt des Stoffes in sich befaßt, und da es sich empfiehlt, das Höhere von dem Geringeren zu trennen, deswegen ist überall, wo und wie weit es möglich ist, vom Weiblichen das Männliche getrennt. Denn ranghöher und göttlicher ist der Bewegungsursprung, der als männlich in allem Werdenden liegt, während der Stoff das Weibliche ist.“ 116 1.2 Geschlechterwelten im Wandel Nun stellt sich die Frage, wie sich das Geschlechterverständnis im europäischen Kulturraum auf gesellschaftspolitischer Ebene entwickelt hat und wie die aristotelische Konzeption der Geschlechterordnung in der westlichen Sozialordnung weitergeführt wurde. Das aristotelische Frauenbild war bis ins späte 18. Jahrhundert hinein prägend, erst zu Beginn der Französischen Revolution wurde eine öffentliche Diskussion über die Position der Frau in der Gesellschaft virulent. Diesen politisch-sozialen bedeutenden Wendepunkt Europas im Hinblick auf die Frauen- und Geschlechterfrage zu beleuchten, ist an dieser Stelle insbesondere deswegen von enormer Relevanz, weil es als der historische Augenblick117 gilt, in dem ein Umdenken bezüglich der Partizipation der Frau im Gemeinwesen in der westlichen Gesellschaft stattfand. Die bis dahin für Frauen nicht zugelasse115 Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen: 28– 42. 116 Aristoteles, Über die Zeugung der Geschöpfe, II, 1, 32a; Hervorh. d. Verf. 117 vgl. Sledziewski 1997: 46.

48

1.2 Geschlechterwelten im Wandel

nen (politischen) Räume und (staatsbürgerlichen) Rollen öffneten sich im Zusammenhang mit der Französischen Revolution erstmals für diese118 und sind deshalb für eine Thematisierung des Gender-Mainstreamings von Relevanz. Denn hier wurde der Grundstein für das Diktum der Politisierung des Privaten und des damit einhergehenden Erscheinens der Frau im öffentlichen Raum gelegt, was letztlich, auf die theoretische Ebene übertragen, zu einer der Kernfragen Butlers führt: „Ist Verwandtschaft – und damit meine ich hier nicht die ‚Familie’ in irgendeiner bestimmten Form – ohne Unterstützung und Vermittlung durch den Staat und ist der Staat ohne die Unterstützung und Vermittlung der Familie möglich? Und weiter: Wenn Verwandtschaftsbeziehungen zu einer Bedrohung für die staatliche Autorität werden und der Staat sich gewaltsam gegen diese Verwandtschaftsbeziehungen wendet – können diese beiden Begriffe dann überhaupt noch ihre wechselseitige Unabhängigkeit behaupten?“ 119 Dies ist für die nachfolgenden Abschnitte, die sich mit den Frauenbewegungen beschäftigen, die schließlich im Gender-Mainstreaming mündeten ein wichtiger Pfeiler zum Verständnis der politischen und gesellschaftlichen Veränderungen der Frauenfrage. Zwar gab es in der Zeit zwischen der Antike und dem späten 18. Jahrhundert einige Bemühungen und Kämpfe für mehr Frauenrechte und Gleichstellung, diese bringen jedoch im Kontext der vorliegenden Arbeit zum einen keinen entscheidenden Erkenntnisgewinn für die Genderthematik und zum anderen würden sie den hiesigen Rahmen deutlich übersteigen. Aufgrund dessen ist es wichtig, Ursprünge, Aktivitäten und Diskussionen der zentralen Meilensteine dieser großen europäischen Frauenbewegungen zu umreißen – nicht um sie zu historisieren, sondern um mit den Traditionen und Brüchen für die Fragestellungen der vorliegenden Ausführung weiterzuarbeiten – letztlich um Butlers anthropologische Neuakzentuierung und die damit einhergehende Kritik am traditionellen Feminismus auf Theorieebene vollumfänglich zu begreifen. So hebt sich Butler mit ihren durchaus auch politischen Forderungen von bisherigen feministischen Bewegungen insofern ab, als dass sie eine Spaltung in das feministische Subjekt Frau einführt resp. dieses nicht mehr als Voraussetzung feministischer Bemühungen sieht. Ihre Kritik basiert dabei maßgeblich darauf, dass das Kollektivsubjekt Frau, dessen sich feministische Repräsentationspolitiken zur Durchsetzung ihrer Interessen

118 vgl. ebd.: 45 ff. 119 Butler 2013: 18.

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1 Entwicklungen der Geschlechterkonzeption in der Philosophischen Anthropologie

bedienen, letztlich paradoxerweise dadurch genau das patriarchale Machtkonstrukt stützt, das es eigentlich verschieben resp. erschüttern will. 1.2.1 Die Französische Revolution und die Folgen für die Geschlechterfrage „Kein anderes Regime hatte es je vorher gewagt, mit einer politischen Entscheidung die Hierarchie der Geschlechter zu widerrufen.“120 Frauen beteiligten sich an einigen Revolutionen des ausgehenden 18. Jahrhunderts, ihre Partizipation und ihr Kampf in der Französischen Revolution gilt jedoch als die national weitreichendste Bewegung121. Einer der tragenden Momente der Französischen Revolution war die Verkündung der Nationalversammlung der Menschen- und Bürgerrechte, die das Ende des Despotismus verdeutlichen sollte. Die 17 Artikel der bis dato ersten Menschenrechtserklärung Europas, bis heute noch gültiges französisches Verfassungsrecht122, lehnt sich inhaltlich an die vorangegangene Unabhängigkeitserklärung Amerikas an und basiert auf einer naturrechtlichen Ableitung der Menschenrechte. Doch die Menschenrechtserklärung von 1789 leitete nicht nur das Ende des Ancién Regime und den Beginn eines modernen Verfassungsstaates ein, sondern diente auch als Avantgarde ca. 70 weiterer Verfassungen in Europa, die allein zwischen 1795 und 1830 verkündet wurden – ganz nach dem Diktum Goethes „Von hier und heute beginnt eine neue Epoche der Weltgeschichte“123. Die elementarsten und historisch bedeutendsten Kernpunkte der damaligen französischen Menschenrechtserklärung sind die Gleichheit vor dem Gesetz und die Freiheit des Individuums über die Revolution hinaus124. Diese Erklärung stärkte aber vor allem die Rechte der Männer, was u. a. darauf zurückzuführen ist, dass das französische homme Mensch und Mann bedeutet. So war „die neue Bürgerschaft (citoyenneté) sprachlich und konzeptionell als männliche bestimmt worden (auch wenn sie noch nicht für sämtliche Männer galt), vor allem durch die berühmte Unterscheidung von ‚aktiven’ und ‚passiven’ Bürgern. In dieser Situation (sie verschärfte sich in 120 121 122 123 124

50

Sledziewski 1997: 45. vgl. ebd.: 29. vgl. Herrmann 2008. Biersack 1978: 15. vgl. ebd.

1.2 Geschlechterwelten im Wandel

den Folgejahren bis hin zum förmlichen Ausschluss der Frauen aus der politischen Arena) musste eine Grundlegung von Frauenrechten komplexer ausfallen als die der Männerrechte und sowohl deren hochgradiges Abstraktionsniveau aufgreifen als auch konkrete Geschlechterbeziehungen thematisieren.“125 Während im ersten Artikel der Menschenrechtserklärung von 1789 die beiden Rechtsgüter Gleichheit und Freiheit noch gleichrangig nebeneinander stehen, werden sie in den folgenden Artikeln näher präzisiert: Souveränität des Volkes (Artikel 3), freier Zugang zu allen Tätigkeiten und öffentlichen Ämtern (Artikel 6), Meinungsfreiheit (Artikel 11) usw. Was jedoch fehlt, ist die explizite Nennung der Frauen als Inhaber der geforderten Menschenrechte, beispielsweise was die wirtschaftliche Gleichheit beider Geschlechter betrifft126. Eine zentrale Figur, die diesen nur augenscheinlichen Universalismus der Menschenrechte anprangert und den in der Revolution gegen die Gewaltherrschaft kämpfenden Männern unterstellt, dass sie nur vorgeben für alle zu sprechen und tatsächlich nur ihr eigenes Geschlecht meinen, ist Olympe de Gouges127. Sie wies in ihrer im Jahr 1791 verfassten Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin, in der sie sich formal an der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte orientierte, auf dieses Defizit hin128. Heute gilt de Gouges’ Werk nicht nur als ein Schlüsseltext in der Geschichte des Feminismus und der Frauenbewegungen überhaupt, sondern auch als Prequel der Allgemeinen Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen und der UN-Frauenrechtskonventionen129: „Jeder hat Anspruch auf alle (...) Rechte und Freiheiten, ohne irgendeinen Unterschied, etwa nach Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Anschauung, nationaler oder sozialer Herkunft, Vermögen, Geburt oder sonstigem Stand (...).“130 De Gouges konstatiert, dass nicht hingenommen werden kann, dass lediglich die eine Tyrannei (Königsherrschaft) durch eine andere (Unterdrückung der Frauen durch Männer) abgelöst wird131. Durch ihre Feminisierung der ursprünglichen Deklaration appelliert sie an die Frauen, den

125 126 127 128 129 130 131

Bock 2009; Hervorh. i. Orig. vgl. Herrmann 2008. vgl. Sledziewski 1997: 57. vgl. Herrmann 2008. vgl. Bock 2009. Vereinte Nationen 1948. vgl. Sledziewski 1997: 56.

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1 Entwicklungen der Geschlechterkonzeption in der Philosophischen Anthropologie

kämpferischen Geist der Revolution zu nutzen und auf die Formen der Ausgrenzung von Frauen hinzuweisen. Sie postuliert die Gleichstellung der Geschlechter und fordert keineswegs eine Sonderstellung für Frauen132. Im Zusammenhang mit dem thematischen Schwerpunkt der vorliegenden Arbeit ist de Gouges Engagement für die (insbesondere nichteheliche) Mutterschaft zu erwähnen. Ihre Forderungen wenden sich damit gegen die damals hegemoniale Ansicht, Frauen müssten auf Grund ihrer weiblichen Rolle und Pflichten dem politischen Gemeinwesen fernbleiben133. Die Auswirkungen des Kampfes der Frauenemanzipation innerhalb der Französischen Revolution gelten bezüglich der sozialen Gesellschafts- resp. Geschlechtsordnung sowohl bei zeitgenössischen als auch späteren Gegnern des zehnjährigen Aufstandes als immens. Auch wenn die Debatte über mehr Frauenrechte nicht gleichsam bedeutete, Frauen diese Rolle im Gemeinwesen auch zuzugestehen, galt es schon als revolutionär überhaupt darüber öffentlich zu diskutieren. Bis heute gilt sie als Lichtgestalt der Frauenbewegungen, auch wenn ihre Frauenrechtserklärung damals keine umgehende Anwendung fand. Die Französische Revolution unter dem Logos Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit und insbesondere das Traktat von de Gouges realisierten sich zwar nicht unmittelbar sofort, jedoch muss stets das Ambivalente der Französischen Revolution gesehen werden: „Die Kühnheit der Entwürfe ebenso wie das historische Zurückweisen vor deren Realisierung.“ 134 Daher bleibt festzuhalten, dass de Gouges einen „reaktionären Diskurs“135 und eine „revolutionäre Debatte“136 über die Stellung der Frau im Gemeinwesen ausgelöst hat, deren Wellen in der Geschichte der Frauen noch lange zu spüren sind. 1.2.2 Die Erste Deutsche Frauenbewegung und die Entwicklung bis zum Ersten Weltkrieg Rückblickend kann festgestellt werden, dass es seit der Französischen Revolution bis hin zum Ersten Weltkrieg zu immer neuen Vorstößen der 132 133 134 135 136

52

vgl. ebd.: 57. vgl. Bock 2009. Sledziewski 1997: 46. ebd. ebd.

1.2 Geschlechterwelten im Wandel

Frauengleichstellung in ganz Europa kam137. So griff im Jahr 1843 in Deutschland unter anderem Louise Otto-Peters die französische Idee von Freiheit und Gleichheit in Bezug auf die Frauenfrage auf. Sie gehörte neben Alice Schmidt, Henriette Goldschmidt, Auguste Schmidt, Agnes von Zahn-Harnack uvm. zu der ersten Generation der Alten Deutschen Frauenbewegung und gilt darüber hinaus als deren Initiatorin und Gründerin138. Es war vor allem Otto-Peters, die die Erste Deutsche Frauenbewegung, welche weitläufig auch als Alte Frauenbewegung bekannt ist, zwischen 1865 bis 1895 maßgeblich beeinflusste. Die Französische Revolution war für ganz Europa ein tragendes Ereignis, denn sie zog, auch noch eine Epoche später, grundlegende Veränderungen mit sich, die den Revolutionsgeist der Bevölkerung bis nach Deutschland weckten. Ähnlich wie im Nachbarland Frankreich wollte auch das deutsche Bürgertum in der 1848er-Revolution139 für die Freiheit der Staatsbürger einstehen und eine freiheitliche Verfassung durchsetzen. Eine weitere Parallele zu den Aufständen in Frankreich gegen Ende des 18. Jahrhunderts war das letztendliche Scheitern des Kampfes für mehr Freiheit und Gleichheit, doch die Grundidee der Revolution im Jahr 1848 und insbesondere der geforderte Grundrechtskatalog gelten bis heute als entscheidendes Moment der demokratischen Geschichte Deutschlands140, aber vor allem auch als markierender Meilenstein in der Geschichte der Frauenemanzipation. So ist der organisierte Zusammenschluss von Frauen und die damit einhergehende Erste Deutsche Frauenbewegung freilich erst im Jahr 1865 zu datieren, die Ursprünge und Hintergründe dafür sind jedoch bereits in dieser Dekade und damit zwei Jahrzehnte früher zu verzeichnen141. Otto-Peters’ Forderungen haben dabei maßgeblich zwei Kernpunkte: Die Öffnung der Bildungswelt für Frauen und die Verbesserung der Arbeitssituation für Frauen. Für diese Zeit war es nicht möglich, dass Frauen Zugang zu höheren Bildungswegen erhielten, eine Ausnahme bildeten die weiblichen Hilfskräfte für Lehrer. An diesem Punkt setzen OttoPeters und ihre Mitstreiter an, indem sie sich vor allem für das Frauenrecht auf Bildung und gerechte Arbeitsbedingungen einsetzten. Doch die reaktionäre und revolutionäre Zeit in den 1840-er Jahren bremste die feministischen Vorstöße ein, sie erhielten erst wieder Mitte der 1860er-Jahre einen

137 138 139 140 141

vgl. Käppeli 1997: 539. vgl. Nave-Herz 1997: 7. vgl. Biersack 1978: 20ff; vgl. Frischauer 196: 551ff.; vgl. Moschall 1982: 79f. vgl. Wollstein 2006: 5. vgl. Nave-Herz 1997: 7.

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1 Entwicklungen der Geschlechterkonzeption in der Philosophischen Anthropologie

neuen Aufschwung142. Im Oktober 1865 fand schließlich der erste deutsche Frauenkongress statt, der die Gründung des Allgemeinen Deutschen Frauenvereins zur Folge hatte und dessen erste Vorsitzende Otto-Peters wurde. Die vorrangigen Ziele des ADF waren die Einrichtung von weiterführenden Schulen für Mädchen, Arbeiterinnen- und Mutterschutz, Chancenund Lohngleichheit im Beruf, Gewerbefreiheit und die Einführung des Frauenwahlrechts. Dabei war die Gründung des ADF die Initialzündung für andere Gruppierungen, die sich anschließend formierten und dem ADF als Dachorganisation anschlossen143. Im Jahr 1894 formierten sich nach US-amerikanischen Vorbild144 schließlich viele der bestehenden Frauenvereine zum Bund Deutscher Frauenvereine145. Die Forderungen des ADF nach höheren Bildungsmöglichkeiten und Erwerbsarbeit für Frauen waren für diese Zeit revolutionär, da Frauen faktisch aus (gesellschafts-) politischen Belangen ausgeschlossen wurden, vor allem in Bayern und Preußen. So hieß es in der „Verordnung über die Verhütung eines die gesetzliche Freiheit und Ordnung gefährdenden Mißbrauchs des Versammlungs- und Vereinigungsrechts“146 dieser beiden Bundesstaaten: „Politischen Vereinen ist die Aufnahme von Frauenpersonen, Schülern und Lehrlingen verboten. Auch dürfen solche Personen nicht an den Versammlungen und Sitzungen teilnehmen, bei denen politische Gegenstände verhandelt werden.“147 Erst ab 1892 war es zunächst in Preußen und bald im ganzen Deutschen Reich unter Kaiser Wilhelm II. möglich, dass Mädchen eine gymnasiale Reifeprüfung ablegen konnten, eine Studienmöglichkeit für sie bestand jedoch nach wie vor nicht. So wurden in den beiden Folgejahren zwei Petitionen zum Frauenstudium eingereicht, die jedoch scheiterten. Dies zeigt, dass die Erste Deutsche Frauenbewegung großen Wert auf die Verbesserung der Bildungssituation für Mädchen und Frauen legte, nicht zuletzt um über die daraus gewonnenen Pflichten auch neue Rechte zu gewinnen. Der Aspekt der politischen Gleichberechtigung wurde jedoch von der Alten Frauenbewegung in Deutschland nicht vorrangig fokussiert, das Frauenstimmrecht galt vielmehr als ein langfristiges Ziel. Die proletarische 142 143 144 145 146 147

54

vgl. Käppeli 1997: 544ff. vgl. Vahsen 2009. vgl. Nave-Herz 1997: 15. vgl. Nave-Herz 1997: 12ff. ebd.: 11. ebd.: 11.

1.2 Geschlechterwelten im Wandel

Frauenbewegung, die aus der bürgerlichen Frauenbewegung hervorging und in die organisatorisch in die sozialistische Arbeiterbewegung eingebettet war, wirkte jedoch maßgeblich auf Gebiete der Sozialpolitik und des Wahlrechts ein. Wie auch schon Otto-Peters setzte sich auch die Hauptinitiatorin des proletarischen Pendants, Clara Zetkin, für gesamtgesellschaftliche Veränderungen ein und engagierte sich für die politische Auseinandersetzung dieser Zeit. Demnach akzentuierte Zetkin auf dem Parteitag der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands 1896 als wichtigstes Unterscheidungsmerkmal der beiden Strömungen, dass die bürgerliche Frauenbewegung einen Kampf gegen die Männer der eigenen Klasse führe, wohingegen die Proletarierinnen zusammen mit den Männern einen Kampf gegen die kapitalistische Gesellschaftsform als Quelle der Unterdrückung der Menschheit führten, die es unbedingt zu verändern galt. Trotz ihres divergenten Grundverständnisses hatten die beiden Bewegungen mit der Forderung nach gleichem Lohn bei gleicher Arbeit, besseren Arbeitsbedingungen, privatrechtlicher Gleichstellung, gleichen Bildungschancen usw. auch viele gleiche Ziele148. Wie erwähnt, legte die bürgerliche Frauenbewegung den Schwerpunkt ihres politischen Handelns aber auf die Verbesserung der Bildungschancen für Frauen. Aber erst mit der Jahrhundertwende waren erste konkrete Erfolge in der Bildungsfrage zu verzeichnen. So erhielten Frauen das lang erkämpfte Immatrikulationsrecht im Jahr 1900 zunächst in Baden, dann 1903 in Bayern sowie nach und nach in weiteren Gebieten des Deutschen Reichs. Nach dem Ersten Weltkrieg, der auch einen tiefgreifenden Wandel in der Einstellung gegenüber den politischen Rechten der Frauen nach sich zog, erhielten die Frauen am 12. November 1918 schließlich das aktive und passive Wahlrecht. In der Weimarer Republik gewährte man den Frauen im Jahre 1920 letztlich auch das Habilitationsrecht. Die erste deutsche ordentliche Professur an einer deutschen Universität für eine Frau erhielt Margarete von Wrangell149. 1.2.3 Frauenfrage nach dem Zweiten Weltkrieg In Zeiten des Nationalsozialismus war die Situation und gesellschaftliche Stellung der deutschen Frauen geprägt vom Familienideal der traditionellen Rollenverteilung, dessen Prämisse war, dass Frauen ihren Lebensmittel-

148 vgl. ebd.: 15ff. 149 vgl. ebd.: 23ff.

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1 Entwicklungen der Geschlechterkonzeption in der Philosophischen Anthropologie

punkt in der Familie und im Haushalt haben sollten. Diese hegemoniale Einstellung korrespondiert mit der damaligen Familienpolitik, die vor allem auf Kinderreichtum abzielte, um die völkische Bedeutung Deutschlands zu gewährleisten. In der von Männern dominierten nationalsozialistischen Politik waren Frauen zwar als Parteigenossinnen willkommen, eine führende Position in den politischen Ämtern wurde ihnen jedoch nicht eingeräumt. Dagegen engagierten sich die Frauen im Nationalsozialismus im sozialfürsorgerischen Bereich. Frauen waren, wie noch im Deutschen Kaiserreich in dem 1896 von Kaiser Wilhelm II. ausgefertigten und am 1. Januar 1900 in Kraft getretenen Bürgerlichen Gesetzbuch festgelegt, nicht gleichberechtigt. So durfte der Mann bis zur endgültigen Verabschiedung des Gleichberechtigungsgesetztes 1957/1958 in nahezu allen gesellschaftlichen Angelegenheiten allein entscheiden150. Er konnte beispielsweise frei über das von der Frau in die Ehe gebrachte Vermögen verfügen, den Familienwohnsitz bestimmen oder grundlegende Erziehungsfragen der Kinder festlegen151. Nach dem Zusammenfall des nationalsozialistischen Regimes und der deutschen Kapitulation wurden die Deutschland betreffenden Angelegenheiten von den Alliierten übernommen und das Reichsgebiet in Besatzungszonen geteilt. Später wurde die Einberufung eines Parlamentarischen Rates auf Veranlassung der Militärgouverneure der drei Westzonen mit dem Ziel ins Leben gerufen, dem deutschen Volk eine neue Struktur in Form einer provisorischen Verfassung zu geben. Dieser Parlamentarischer Rat unter dem Vorsitz Konrad Adenauers bestand aus 65 von den Volksvertretungen der Länder gewählten Abgeordneten und beriet in der Zeit von September 1948 bis Mai 1949 über den Entwurf eines Grundgesetzes, das am 23. Mai 1949 in Kraft trat152. In den Sitzungen des Parlamentarischen Rates war auch die Formulierung des Artikel 3, Absatz 2 GG, der sich mit dem rechtlichen Status der Frau befasste, Gegenstand der Debatte. So stellte Elisabeth Selbert (SPD), eine der vier weiblichen Abgeordneten, den Antrag auf den neu zu formulierenden Artikel 3, der zunächst im Hauptausschuss des Parlamentarischen Rates mehrheitlich abgelehnt wurde. Aber mit Hilfe der Öffentlichkeit, an die sie sich schließlich wandten, setzten vor allem die vier Mütter des Grundgesetzes Elisabeth Selbert, Helene Wessels (Zentrum), Helene Weber (CDU) und Friederike Nadig (SPD) den

150 vgl. Rohlfes 2002: 96. 151 vgl. Scholz 1970: 228ff. 152 vgl. Moschall 1982: 87f.; vgl. Biersack 1978: 52.

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1.2 Geschlechterwelten im Wandel

Satz Männer und Frauen sind gleichberechtigt durch153. Dass ihr aussichtslos scheinender Kampf schließlich doch noch gewonnen werden konnte, war auch dem außerparlamentarischen Kampf zu verdanken, an dem die überparteilichen Frauenverbände großen Anteil hatten. Die folgenreiche Verankerung des Satzes Männer und Frauen sind gleichberechtigt im Artikel 3, Absatz 2 des deutschen Grundgesetzes gilt als der größte frauenpolitische Erfolg der Nachkriegszeit und hatte zur Konsequenz, dass alle diesem Gleichberechtigungsprinzip entgegenstehenden rechtlichen Regelungen und Gesetze an die Verfassung angepasst werden mussten. Betroffen war in der BRD das Bürgerliche Gesetzbuch und hier vor allem das Ehe- und Familienrecht, das einer grundlegenden Reform unterzogen werden musste154. Das Deutschland der Nachkriegszeit war bestimmt von Frauenschicksalen: Trümmer- und Flüchtlingsfrauen, Soldatenwitwen, alleinstehende Mütter, Schwarzmarkthändlerinnen, die auf ihre vermissten Söhne und Männer warteten oder sie als tot beklagten. Dennoch war die Situation der Frauen in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg noch geprägt von patriarchalen Gesellschaftsstrukturen. Aber aufgrund der weiter bestimmenden männlichen Hegemonialität waren Frauen dem Umstand unterworfen, dass sie mehr arbeiteten, dabei aber weniger verdienten als Männer und neben der Arbeit gleichzeitig noch die Hauptverantwortung für die Versorgung des Haushalts und die Betreuung der Kinder trugen. Der Arbeitsmarkt für Frauen entwickelte sich in den 1950er und 1960er Jahren sehr widersprüchlich. Zunächst werden alle elementaren und Aufbauarbeiten, der Not gehorchend und auf Grund der Abwesenheit vieler Männer, von den Frauen erledigt. Später ziehen sich viele Frauen, oft wegen Stellenmangel, wieder auf die reine Familien- und Hausarbeit zurück. Die erste Wirtschaftskrise Mitte der 1960er Jahre führte wiederum zum Rückgang der weiblichen Beschäftigung. Viele Frauen arbeiten Teilzeit oder in un- und angelernten Tätigkeiten. Die Doppelbelastung mit der Haushaltsführung brachte für die Frauen viele Nachteile im Berufsleben mit sich, einschließlich der geringeren Entlohnung für die gleiche Arbeit. 1.2.4 Neue Frauenbewegung Die Geschichte der Neuen Frauenbewegung ist eng mit den Studentenunruhen Mitte der 1960er-Jahre verknüpft, die zunächst in den USA Anfang der

153 vgl. Nave-Herz 1997: 37. 154 vgl. Schüller 2008.

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1 Entwicklungen der Geschlechterkonzeption in der Philosophischen Anthropologie

1960er-Jahre im Zuge der dortigen Bürgerrechts- und Antikriegsbewegung begannen. Im Gegensatz zu der Ersten resp. Alten Frauenbewegung, die in Deutschland die grundlegenden Weichen für eine rechtliche und politische Gleichstellung der Frau gelegt hat, forderte die zweite Welle der Frauenmobilisierung nach amerikanischem Vorbild eine grundsätzliche Umgestaltung der patriarchalischen Geschlechterordnung155. Als symbolträchtigste Ereignisse dieser Frauenbewegung (auch: Neue oder Autonome Frauenbewegung156) im Westen gelten heute der wohl bekannteste Tomatenwurf der deutschen Geschichte am 13. September 1968157 und das Titelbild des Stern vom 06. Juni 1971 Ich habe abgetrieben. Nachdem sich der Sozialistische Deutsche Studentenbund nach andauernden Differenzen im Jahr 1960 von der SPD abgespalten hatte, war er das Sammelbecken der Neuen Linken und bildete den Kern der damaligen APO, die der großen Koalition von CDU/CSU und SPD politisch entgegentreten wollte, da es an einem wirksamen Gegenpart im politischen Bereich fehlte. Maßgeblich war der SDS mit seinen Zielen als Wortführer an den Studentenprotesten der 1960er-Jahre beteiligt, vor allem dem Abbau sämtlicher autoritärer Strukturen sowie einer liberalen Einstellung zur Sexualität158. Im Jahr 1966 kam es aber innerhalb des SDS zu innerparteilichen Spannungen zwischen den beiden Geschlechtern. Denn aus Sicht der dort politisch engagierten Frauen schrieb auch der SDS die traditionelle Rollenverteilung fort, die er nach außen aus seinem gesellschaftskritischen Selbstverständnis heraus eigentlich kritisierte. Die Frauen des SDS beklagten, dass sie meist nur im Hintergrund agieren durften und nur vereinzelt in Erscheinung traten und somit auch der SDS – widersprüchlicherweise – ein Spiegelbild der patriarchalen Gesellschaftsstruktur sei. Sie sahen sich der Doppelbelastung der Kinderbetreuung und Partei- resp. beruflichen Arbeit ausgesetzt, und das, wo doch gerade der SDS für die gesellschaftliche Partizipation und die individuelle Selbstbestimmung der Frauen einstand. Daher kam es im Jahr 1968 zu der Gründung des Aktionsrates zur Befreiung der Frauen in West-Berlin, der von sieben Frauen des SDS unter der Federführung von Helke Sander ins Leben gerufen wurde. Bekannt wurde die Gruppe vor allem durch den spektakulären Tomatenwurf und das Gründen von sogenannten Kinderläden als alternativ antiautoritäres Gegenmo-

155 156 157 158

58

vgl. Paulus 2011: 1. vgl. ebd.: 1ff. vgl. Hertrampf 2008. vgl. ebd.; vgl. Nave-Herz 1997: 39.

1.2 Geschlechterwelten im Wandel

dell der Kinderbetreuung. Mit ihrer Rede auf der 23. Delegiertenkonferenz des SDS am 13. September 1968 in Frankfurt am Main versuchte Sander eine größere Öffentlichkeit und innerparteiliche Unterstützung für das Engagement der studentischen Frauengruppe im SDS zu gewinnen159, indem sie einen radikalen gesellschaftlichen Wandel forderte: „(...) Wir werden uns nicht mehr damit begnügen, dass den Frauen gestattet wird, auch mal ein Wort zu sagen, das man sich, weil man ein Antiautoritärer ist, anhört, um dann zur Tagesordnung überzugehen. Wir stellen fest, dass der SDS innerhalb seiner Organisation ein Spiegelbild gesamtgesellschaftlicher Verhältnisse ist (...) Wir streben Lebensbedingungen an, die das Konkurrenzverhältnis zwischen Mann und Frau aufheben. Dies geht nur durch Umwandlung (...) der Machtverhältnisse (...) Unser Ziel ist es zunächst, die Frauen zu politisieren (...) Dies ist am besten möglich innerhalb der Universitäten (...) Soll hier eine Gruppe eine NatoKampagne und da eine Gruppe eine Bundeswehrkampagne machen oder sollen wir uns darauf konzentrieren, neue Wohnmodelle zu schaffen, die uns nicht länger architektonisch vergewaltigen und die Besitzverhältnisse und die Machtstrukturen verewigen? Es geht um die Artikulierung der eigenen Konflikte gegen deren Verdrängung (...).“160 Doch die Forderungen Sanders – hier nur ausschnittsweise abgebildet – verhallten ungehört auf der SDS-Konferenz und die männlichen Delegierten weigerten sich, ihren Beitrag zu diskutieren, woraufhin die SDS-Delegierte Sigrid Rüger Tomaten in Richtung des männlich besetzten Vorstandstisches warf. Der Tomatenwurf und seine mediale Verbreitung führte zu einer großen öffentlichen Diskussion und Formierung weiterer Frauengruppen in anderen Städten (z.B. Sozialistische Frauen Frankfurts161), unter Bekundung einer gemeinsamen Interessensidentität jenseits der Vereinzelung, weshalb es im Nachhinein als Ankündigung der Neuen Frauenbewegung gesehen wird162. Durch den Rekurs auf die Theorien u. a. von Wilhelm Reich und Herbert Marcuse im Rahmen der 1968er-Studentenbewegung wurden bürgerliche sexuelle Moralvorstellungen in Frage gestellt und zur sexuellen Revolution resp. Befreiung aufgerufen. Die vorherrschende Geschlechterhierarchie im Alltag und die damit einhergehende Doppelbelastung der Frau wurden als Ausdruck patriarchaler Strukturen 159 vgl. Ergas 1997: 563; vgl. Hertrampf 2008; vgl. Paulus 2011: 1ff.; vgl. Nave-Herz 1997: 39ff. 160 Sander 2006; Hervorh. d. Verf. 161 vgl. Nave-Herz 1997: 40. 162 vgl. Paulus 2011:4; vgl. Rudolph 2015: 23.

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gesehen, die es zu durchbrechen galt, indem das Private politisiert wurde. So forderte die aus der Studentenmobilisierung hervorgegangene Frauenbewegung unter dem Slogan Das Private ist politisch!, dass die bislang von der Privatsphäre verdeckt gehaltenen Probleme öffentlich thematisiert werden163. Mit der Selbstbezichtigungskampagne Wir haben abgetrieben, die sich gegen § 218 StGB, der den Schwangerschaftsabbruch regelt, richtete, erhielt die Neue Frauenbewegung im Jahr 1971, drei Jahre nach dem folgenreichen Tomatenwurf, einen zweiten Mobilisierungsschub. Im Zuge dieser breiten Kampagne formierten sich immer mehr Frauenaktionsgruppen, aber auch Frauen aus allein Parteien (außer der CDU/CSU) sowie aus Gewerkschaften, die ihre vormals punktuellen Initiativen und Proteste schließlich zusehends gebündelt koordinierten, wodurch diese Aktion für die Öffentlichkeit der Beginn der Zweiten Frauenbewegung in der Bundesrepublik wurde164. Eines der wichtigsten Manifeste dieser Frauenbewegung und ein Klassiker des theoretischen Feminismus ist u. a. Kate Milletts Sexual Politics, das großes mediales Aufsehen erregte. Millett wurde später auch eine der wichtigsten Figuren des Gender-Movements. Eine weitere wichtige Person, die zu den Verfechtern der Gender-Theorie gezählt werden kann, ist Shulamith Firestone, die mit ihrem ebenfalls 1970 veröffentlichten, Simone de Beauvoir gewidmetem Werk The Dialectic of Sex: The Case for Feminist Revolution die damalige Frauenbewegung prägte. Firestone führt in ihrem Vorwort ein Zitat von Engels auf, der darin Bezug auf die griechische Philosophie nimmt: „We see (...) at first the picture as a whole, with its individual parts still more or less kept in the background; we observe the movements, transitions, connections, rather than the things that move, combine, and are connected. This primitive, naive, but intrinsically correct conception oft he world ist that of ancient Greek philosophy, and was first clearly formulated by Heraclitus: everything is and is not, for everything is fluid, is constantly changing, constantly coming into being and passing away.“165 Engels formuliert hier gleichzeitig Marx’ späteren Anspruch, Geschichte als dialektischen Prozess der fortwährenden Überwindung herrschender Produktions- und Gesellschaftsverhältnisse und Ablösung des geistigen und überzeitigen Überbaus zu begreifen. Wie Engels an dieser Schlüssel-

163 vgl. Paulus 2011: 3. 164 vgl. Nave-Herz 1997: 44; vgl. Paulus 2011: 4. 165 Engels 1880 zit. n. Firestone 1972, Vorwort; Hervorh. d. Verf.

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1.2 Geschlechterwelten im Wandel

stelle verdeutlicht, ist gemäß Marx die derzeitige Gesellschaft nicht die Vollendung der Geschichte. Vielmehr ist sie eine Abfolge von Etappen, jede mit einem eigenen ideellen/geistigen Überbau, den die Herrschenden dem Proletariat despotisch vorgeben166. Das Ziel von Marx und Engels ist, dass sich die Schwachen gegen die herrschende Klasse in Form der Revolution emanzipieren. Das Paradigma der Einheit als geistiger Überbau war auch schon in der griechischen Philosophie von zentraler Bedeutung. Dieses spielt auch in den Grundgedanken des Heraklit und später bei Platon eine Rolle, die den Kosmos als etwas Ganzheitliches begreifen und versuchen, daraus ableitend, zu erklären, warum es das ständige Werden und Gehen gibt, das sie als die Gerechtigkeit der Natur begreifen. Die ca. 40-seitige Schrift von Engels ist eine kompakte Einführung in den wissenschaftlichen Kommunismus. Nach seiner kurzen Schilderung der Bedeutung der sog. utopischen Sozialisten für die Entwicklung des wissenschaftlichen Kommunismus wird knapp die Entstehung der dialektisch-materialistischen Geschichtsauffassung erläutert, u. a. der Klassenkampf als Kern der geschichtlichen Triebkräfte, den es, gemäß Firestone, in letzter Konsequenz auch in Bezug auf die Geschlechterherrschaft auszutragen gilt: „(...) so the end goal of feminist revolution must be, unlike that of the first feminist movement, not just the elimination of male privilege but of the sex distinction itself: genital differences between human beings would no longer matter culturally.“167 Diese neue Art der Frauenbewegung will nun also nicht mehr nur männliche Privilegien zu Gunsten der Frauen öffnen, sondern der aus ihrer Sicht ungerechten Übertragung körperlicher Unterschiede auf die kulturelle Ebene entgegenwirken. Firestone propagiert die Errichtung einer geschlechtslosen Gesellschaft, die sich durch künstliche Reproduktion fortpflanzen soll, woraus folgt, dass die Familie für den Erhalt der Gesellschaft obsolet wird: „(...) as De Beauvoir points out, this difference of itself did not necessitate the development of a class system -- the domination of one group by another -- the reproductive functions of these differences did. The biological family is an inherently unequal power distribution.“168

166 Platon, Pol.: 336a-340a. 167 Firestone 1972: 11; Hervorh. d. Verf. 168 ebd.: 8; Hervorh. d. Verf.

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1 Entwicklungen der Geschlechterkonzeption in der Philosophischen Anthropologie

Die biologische Familie gilt in diesem Kontext als Ort der Unterdrückung und Normierung von Geschlechteridentitäten169. 1.2.5 Ursprünge des Gender-Movements Spätestens das Jahr 1975, das die Vereinten Nationen zum Internationalen Jahr der Frau ausgerufen haben, verstärkte die Verbreitung der Ziele der Neuen Frauenbewegung und ließ die Zahl der Sympathisanten nochmals ansteigen170. Dass die Neue Frauenbewegung im Vergleich zur Ersten Emanzipationsbewegung eine neue Dimension bekam, wird daran deutlich, dass gerade auf politischer Ebene die Institutionalisierungsformen zur Durchsetzung der Gleichstellung von Mann und Frau in den 1970er-/ 1980er-Jahren zugenommen haben. Im Zuge dieses Prozesses verwischten die Unterschiede zwischen den Aktivistinnen der Neuen Frauenbewegung und den Frauen in Parteien, Verbänden, Gewerkschaften oder Kirchen zusehends. So nahmen Frauen aus anderen institutionellen Kontexten (z. B. Gewerkschaften, Kirchen, Parteien) einerseits Ziele der Neuen Frauenbewegung auf, andererseits gingen die in der Autonomen Frauenbewegung engagierten Frauen auf nationale und internationale Organisationen und Institutionen zu, um dort ihre Ideen konkret umzusetzen. Nur durch ihre weltweite Verbreitung hat die Frauenbewegung erreichen können, dass sich die offiziellen internationalen Organe für die Frauenfrage öffneten und sich ihrer annahmen. Ein erster Schritt in dieser Richtung ist die von den Vereinten Nationen im Jahr 1975 organisierte erste UN-Weltfrauenkonferenz in Mexiko über die Rolle der Frau in der nationalen und internationalen Gesellschaft. Im Jahr 1975 entwickelten sich auch die Gender Studies im amerikanischen Raum. Erstmals tauchte der Begriff Gender in feministischen Theoriekreisen bei Gayle Rubin auf171. Damit war sie die Erste, die Gender in die amerikanische Geschlechterforschung etablierte. Der zweite UN-Weltfrauenkongress in Kopenhagen 1980 überprüfte und bewertete Ergebnisse der ersten fünf Jahre der oben genannten Frauendekade, die schließlich 1985 mit dem dritten UN-Weltfrauenkongress in Nairobi zu Ende ging. Bereits dort wurde Gender-Mainstreaming als neue Strategie für Gleichstellungspolitiken vorgestellt172. Die vierte und letzte UN-

169 170 171 172

62

vgl. ebd.: 12. vgl. Nave-Herz 1997: 44; vgl. Paulus 2011: 4. Rubin 2006: 70. vgl. UN WOMEN 2016.

1.2 Geschlechterwelten im Wandel

Weltfrauenkonferenz fand schließlich 1995 in Peking statt. Was dort geschah, ist im hiesigen Kontext von großer Bedeutung, da dieses Ereignis als endgültiger Durchbruch der Gender-Theorien gesehen werden kann173 und ihr politisches Umsetzungsinstrumentarium in Form des strategischen Gender-Mainstreaming-Ansatzes in der Abschluss-Resolution der vierten Weltfrauenkonferenz offiziell festgehalten wurde. Diese sog. Pekinger Aktionsplattform wurde von allen Vertretern der 189 beteiligten Staaten unterschrieben174 und der programmatische Gender-Ansatz damit allumfassend auf internationaler Ebene eingebettet. Daraus geht hervor, dass GenderTheoretiker ihren politischen Weg über die UN-Weltfrauenkonferenz 1995 im Gender-Mainstreaming gewissermaßen fortsetzten. Mit diesem Instrument der Politikgestaltung bezüglich der Geschlechtergleichstellung sollen demnach alle staatlichen Institutionen, internationale Organisationen und Unternehmen stereotype Geschlechterrollen im privaten wie im öffentlichen Raum im Vorfeld hinterfragen und gendersensibel anpassen. Aus Genderperspektive soll damit der Abbau von Ungleichheit und undemokratischen Verhältnissen zwischen den Geschlechtern eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe werden. Die Frage der Geschlechtergerechtigkeit wird also nicht mehr in speziellen Gremien oder Frauenförderstellen behandelt, sondern allen politisch Verantwortlichen übertragen175. Ab Mitte der 1990er-Jahre bestimmten u. a. Evelyn Fox Keller, Sandra Harding, Nancy Fraser, Anna Fausto-Sterling und Donna Haraway die Gender-Theorie in Deutschland mit. Zu den heutigen deutschen GenderKoryphäen zählen beispielsweise Gisela Bock, Christina von Braun, Ute Gerhard, Karin Hausen, Lann Hornscheidt, Ilse Lenz oder Inge Stephan. Sie alle haben dazu beigetragen, die Gender-Theorie nicht nur auf wissenschaftlicher, sondern auf sämtlichen Ebenen des gesellschaftlichen Lebens zu etablieren und Gender-Mainstreaming damit zur richtungsweisenden, gesamtgesellschaftlichen Grundhaltung zu erheben. 1.2.6 Feministische Grundorientierungen und Entwicklungen Nave-Herz arbeitet vier Grundorientierungen innerhalb der deutschen Frauenbewegung heraus176, die im Folgenden zusammengefasst dargestellt

173 174 175 176

vgl. Hoffmann 2015: 35. vgl. Nave-Herz 1997: 53f.; vgl. Heinrich Böll Stiftung 2005: 1. vgl. Heinrich Böll Stiftung 2005: 1; vgl. Holzleithner 2009: 81f. vgl. Nave-Herz 1997: 76.

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werden und als ein chronologisch an den vorangegangenen Abriss der Entwicklung der Frauenbewegung orientiertes Resümee zu sehen sind. Es ist aber darauf hinzuweisen, dass weitere Positionen in Nave-Herz’ Zusammenstellung feministischer Denktradition nicht genannt werden, daher sind sicherlich noch Ansätze hinzuzufügen. An dieser Stelle wird jedoch zunächst nur der differenztheoretische Ansatz genannt, eine weitere feministische Richtung wird später, in der Auseinandersetzung mit Butler, noch ergänzt. Humanistisch-aufklärerisches Konzept (Alte Frauenbewegung) Ganz im Sinne der Tradition des Idealismus und der Romantik war für die Anhänger (Louise Otto-Peters, Alice Schmidt, Henriette Goldschmidt u.v.m.) der Ersten Frauenbewegung Freiheit und Gleichheit für alle Klassen der Gesellschaft sinnstiftend. Dieses Ziel war für sie im Sinne der Aufklärung nur durch Bildung und der daraus folgenden Mündigkeit für Frauen zu erreichen. Marxistisch und radikal-sozialistisches Konzept (Proletarische Frauenbewegung) Die Verteidigerinnen dieser Position (Clara Zetkin, Emma Ihrer, Lily Braun usw.) sahen die Lage der Frauen mit den gesamtgesellschaftlichen Verhältnissen verknüpft. Ihr primäres Ziel war die Bewusstmachung eines Klassenbewusstseins, das letztlich zu einer gesamtgesellschaftlichen Veränderung drängt. Als Quelle der Unterdrückung steht für sie die kapitalistische Gesellschaftsordnung, somit ist die Befreiung der Frau nur durch eine Veränderung der Wirtschaftsordnung möglich. Dabei sind die (feministischen) Teilziele immer in das übergreifende marxistisch-sozialistische Gesamtkonzept inkludiert. Radikal-feministisches Konzept (Neue Frauenbewegung) Die radikal-feministische Orientierung hat sich aus der Zweiten Frauenbewegung heraus entwickelt. Eine Maxime der Vertreterinnen (Helke Sander, Kate Millett, Shulamith Firestone) dieses Ansatzes ist die Veränderung respektive Umstürzung der bestehenden Gesellschaftsordnung (Das Private

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1.2 Geschlechterwelten im Wandel

ist politisch) und das Postulat des Patriarchats als primäres Feindbild, welches es, in ähnlicher Manier wie die Marxisten den Kapitalismus, zu bekämpfen gilt. Die eigentliche Wurzel der Frauenunterdrückung liegt nach radikal-feministischem Verständnis in der Familie und in der Sexualität. Gleichheitspostulat Vordergründig ist für die Gleichheitsfeministinnen (Simone de Beauvoir, Elisabeth Badinter, Alice Schwarzer usw.) die Gleichbehandlung von Mann und Frau. Das Geschlecht soll dabei keine Rolle spielen, eben weil Frauen alles gleich gut respektive schlecht können wie Männer. Ein solcher gleichheitsfeministischer Ansatz gibt jedoch den männlichen Maßstab nicht auf: Frauen sollen so sein können wie Männer. Die Geschlechtsunterschiede sollen demnach überwunden werden, ohne die biologische Geschlechterdifferenz in Frage zu stellen. Es geht dabei vor allem um gesellschaftliche Gleichberechtigung (Frauenquote, Abtreibungsrecht usw.). Differenzpostulat/ gynozentrischer Feminismus Ganz nach aristotelischem Diktum Gleiches ist gleich, Ungleiches ungleich zu behandeln vertreten die Denkerinnen dieser feministischen Tradition (Luce Irigaray, Hélène Cixous,, Julia Kristeva, Luisa Muraro etc.) die These, dass die biologischen Unterschiede der Geschlechter im Fokus stehen sollten, insbesondere was die Reproduktionsfähigkeit betrifft, die sich u. a. im Rahmen der alleinigen Verantwortung für die Pflege und Erziehung der Kinder sowie der Haushaltsführung auch in sozialer Hinsicht niederschlägt. Daraus werden die spezifischen Bedürfnisse von Frauen und Ungerechtigkeiten im Unterschied zu Männern herausgearbeitet. Aber auch hier werden die individuellen Forderungen für die Frauen größtenteils an den Maßstab setzenden Männern orientiert. Demnach ist über das biologische Geschlecht hinaus eine spezifisch weibliche Wesenhaftigkeit bestimmend. So galt es über das politische Ziel der Gleichberechtigung im Rahmen des Gleichheitsfeminismus, eine weibliche Kultur zu befreien und zu entwickeln. Breger bricht die Historiographie des theoretischen Feminismus sogar nur auf die beiden letztgenannten Strömungen herunter: Gleichheitspostulat und Differenzfeminismus. Beide Theorien haben laut Breger gemeinsam, dass die Frage der Identität im Zentrum steht, auch wenn Gleich-

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1 Entwicklungen der Geschlechterkonzeption in der Philosophischen Anthropologie

heits- und Differenzfeministinnen die Identitätsfrage unterschiedlich weiterentwickeln. Während der Gleichheitsfeminismus im Anschluss an Beauvoir auf Vorstellungen menschlicher Identität bezogen war, richtete der Differenzfeminismus sein Augenmerk auf die spezifisch weibliche Identität. Mit der bereits erwähnten Rede von Sanders war von der Identität der Rede, die Männer durch das Patriarchat gewonnen und bewahrt haben. Unter dem Leitslogan Das Private ist politisch konzentrierte sich die Neue Frauenbewegung von da an auf Fragen der Repräsentation, Rollenverteilung, Sexualität und Reproduktion. Zentrale Bezugspunkte dieser Ausrichtung sieht Breger dabei sowohl bei Beauvoir, aber auch in der Kritischen Theorie (Horkheimer, Adorno, Marcuse, Reich), wobei diese Wendung hin zu marxistischen und psychoanalytischen Theorien wiederum Hegel ins Spiel brachte und der Identitätsbegriff damit zum zentralen aber auch ambivalenten Begriff wurde. Diese Ambiguität ergibt sich aus der Kritik patriarchaler Identitäten einerseits sowie der Entwicklung befreiter Identitäten von Frauen andererseits177. Im französischen Feminismus hingegen verhielt es sich mit der Vorstellung von Weiblichkeit im Zeichen der Differenz zur männlichen Norm ein wenig anders. Bekannte Vertreterinnen sind vor allem Cixous, Irigaray und Kristeva, deren Schriften im anglo-amerikanischen und deutschsprachigen Raum Ende der 1980er-Jahre diskutiert wurden – und dies obwohl die wichtigsten Schriften dieser Denkerinnen schon in den 1970er-Jahren parallel zu den genannten gesellschaftspolitischen, feministischen Entwicklungen entstanden. Der grundlegende Unterschied von Cixous, Irigaray und Kristeva im Gegensatz zu anderen feministischen Theorien besteht nun darin, dass ihre theoretischen Impulse dem Poststrukturalismus zuzuordnen sind und deshalb für die hiesige Arbeit von Relevanz sind. Allen drei genannten feministischen Poststrukturalistinnen ist ihr Bezug zu Derrida, Lacan, Lévi-Strauss und Foucault gemeinsam, der später in Bezug auf Butler nochmals detaillierter durchdiskutiert wird. Nieberle spricht gar von einem „feministisch-poststrukturalistischen Gegenkanon zum männlich dominierten Poststrukturalismus“178. Eine kurze Darstellung der wichtigsten Thesen dieser drei poststrukturalistischen Vordenkerinnen Butlers bietet sich vor allem deshalb an, um das butlersche Performanzmodell innerhalb der feministischen Theorie einordnen, aber auch abgrenzen zu können.

177 vgl. Breger 2013: 55ff. 178 Nieberle 2013: 50.

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1.2 Geschlechterwelten im Wandel

Wie Derrida ist Cixous der Meinung, dass der hierarchische Dualismus das System des Patriarchats erst erzeugt. Sie hebt die weibliche Schreibweise (écriture féminine) hervor, um Eindeutigkeiten bezüglich der Geschlechter zu akzentuieren. Zwar sieht Cixous das Geschlecht als kulturelle Prägung, ihr geht es aber weniger um eine (neue) Definition der weiblichen Geschlechterrolle im biologischen Sinn, sondern um einen Weg, Dichotomien wie Mann/Frau oder Vernunft/Gefühl aufzulösen und somit eine weibliche Subjektposition zu ermöglichen. Bei Cixous ist dabei das Instrument der Sprache zentral, mit Hilfe derer sie die Spezifität des Weiblichen sichtbar machen will, statt nur die männliche Sprache nachzuahmen. Ihrer Meinung nach liegt das verdrängte Weibliche im Unbewussten und kann beim Schreiben hervortreten. Auch Cixous will, ganz ähnlich wie Butler, die Zentrierung auf die Identität auflösen, was sie vor allem mit der weiblichen Schrift erreichen will – was jedoch nicht zu verwechseln ist mit dem Schreiben realer Frauen. So kann die écriture feminine auch von einem Mann stammen, denn auch nicht jeder Text einer Frau ist weiblich179. Cixous will mit der Erhebung der Frau in der Schrift das abendländische Leitparadigma der Binarität (Natur/Kultur, Frau/Mann, Signifikant/Signifikat) aufbrechen. Dabei zweifelt sie, wie alle poststrukturalistischen Feministinnen, Freuds ödipales Drama an, weil es die Geschlechterhierarchisierung zwar scheinbar irritiert, im Grunde aber stabilisiert. Die Sprache ist für sie dabei ein Instrument, das sowohl die Unterdrückung als auch die Befreiung von Frauen ermöglicht180. Auch Irigaray ist von der Dekonstruktion Derridas inspiriert, nimmt aber deutlicher Bezug zu den psychoanalytischen Theorien Lacans als noch Cixous. Auch Butler bespricht im ersten Kapitel von Gender trouble Irigarays These, dass die Sprache als phallogozentrisch zu verstehen ist. Dabei sind es vor allem drei Aspekte, die grundlegend für Irigarays feministischen Poststrukturalismus ist. Zum einen die Herausarbeitung der von ihr unterstellten männlichen Ideologie, die unserem gesamten System der Bedeutungen und damit unserer Sprache zugrunde liegt, zum anderen eine weibliche Gegensprache zu finden, um eine positive sexuelle Identität für Frauen zu ermöglichen und schließlich drittens, die Etablierung einer intersubjektiven Beziehung neuer Art zwischen Männern und Frauen. Einer ihrer Kerngedanken betrifft die Logik desselben oder den Phallogozentrismus – ein Konzept, das ausdrücken soll, wie trotz der üblichen Einteilung in zwei Geschlechter dennoch nur ein einziges, nämlich das männliche, als

179 vgl. ebd.: 64f.; vgl. Karsch 2016: 160f; vgl. Nieberle 2013: 50. 180 Nieberle 2013: 50f.

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universeller Bezugspunkt dient. Diesem Gedanken folgend und mit Lacans Spiegelstadium sowie Derridas Theorie des Logozentrismus im Hintergrund, kritisiert Irigaray die Suche nach der einen Wahrheit in einer patriarchalen Gesellschaft. In ihrer Theorie einer weiblichen Schrift (écriture féminine) bezieht sie sich vor allem auf die prä-ödipale Phase der kindlichen Entwicklung und kritisiert damit einhergehend, dass das Weibliche in der westlichen Kultur nie mitgedacht wurde und somit das Männliche als das Menschliche gegolten hat, die Frau hingegen ein Mängelwesen darstellt (Freud). Irigaray fordert im Zuge der Betonung, dass mit Weiblichkeit die Gleichzeitigkeit vieler (sexueller) Identitäten einhergeht, dass Frauen sich aus den ihnen zugeschriebenen Funktionen lösen und ihr eigenes System entwickeln sollen. Dabei kann und soll Weiblichkeit ganz bewusst unstimmig und bedeutungsoffen sein – ein Aspekt, den auch Butler aufgreift, wie später veranschaulicht wird. Indem sie aber das als Frau sprechen in den Vordergrund rückt, bleibt auch Irigaray trotz ihrer poststrukturalistischen Identitätskritik letztlich in dem von Butler kritisierten Rahmen der Repräsentation. Denn sie zielt letztlich auf eine Umkehrung hegemonialer (patriarchaler) Strukturen, um sie dann zu beseitigen und eine Geschlechtergleichstellung erreichen zu können181. Irigaray wird daher ähnlich wie Cixous dafür kritisiert, männliche Prinzipien schlicht in weibliche verkehrt zu haben. Das charakteristisch Poststrukturalistische zeigt sich bei ihr vor allem daran, dass sie die präsentierte Wahrheit nicht unhinterfragt als solche hinnimmt und Sprache veruneindeutigt, indem sie bspw. verschiedene Pronomina gleichzeitig verwendet, da sie wie Cixous dem weiblichen Schreiben eine zentrale Bedeutung beimisst 182. Kristeva stellt die Existenz einer patriarchalischen symbolischen Ordnung in Frage, da eine moderne Gesellschaft, in der das Gesetz des Vaters (Ödipuskomplex) herrscht und die vom Prinzip des Phallus durchzogen ist, scheint ihr überholt. Sie setzt auf der semiotischen Ebene an, den körperlich-materiellen Eigenschaften der Sprache, die sie als Möglichkeit sieht, vorherrschende Sprachgewohnheiten zu erneuern, womit sie folglich mit Cixous und Irigaray übereinstimmt. Weiterhin fordert sie in Abgrenzung zur beauvoirschen Ablehnung der Mutterschaft eine neue Form dieses Begriffs183. In ihrem dritten Kapitel in Das Unbehagen der Geschlechter diskutiert Butler Kristevas Konstruktion des mütterlichen Körpers, „um die im-

181 vgl. Karsch 2016: 160ff.; vgl. Nieberle 2013: 51f. 182 vgl. Breger 2013: 65; vgl. Karsch 2016: 161f.; vgl. Nieberle 2013: 51f. 183 vgl. Karsch 2016: 165f.

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1.2 Geschlechterwelten im Wandel

pliziten Normen aufzuzeigen, die die kulturelle Intelligibilität des Geschlechts und der Sexualität in ihrem Werk anleiten.“184 Was jedoch Kristeva ganz grundlegend von den anderen beiden feministischen Poststrukturalistinnen (Cixous, Irigaray) unterscheidet ist, dass bei ihr das Weibliche nicht zwangsläufig mit dem Biologischen einhergeht, vielmehr begreift sie das Weibliche als ein für politische Interessen nützliches Konzept, mit dessen Annahme Feministinnen jedoch nur die patriarchale Ordnung rekonstruieren185. Der weiblich biologische Körper wird demnach nur noch auf der Ebene der Sprache zugänglich, die sie mehrstimmiger und polyperspektivisch machen will, weil die binäre Geschlechterordnung ungerechte und unmenschliche Machtverhältnisse legitimiert und affirmiert186. Eine grundlegende Wendung innerhalb des poststrukturalistischen Feminismus stellt nun Butlers performatives Konzept der Geschlechtsidentität dar. Butler konstatiert, dass vor allem die genannten feministische Vorstöße trotz ihrer poststrukturalistischen Identitätskritik am Konzept der Repräsentation und der Identität verhaftet bleiben. Butler kritisiert in diesem Zusammenhang vor allem den Ausschluss weiterer Identitätskategorien neben Gender wie bspw. Schichtzugehörigkeit oder Ethnie in der feministischen Theorie und formuliert in Ablösung der Repräsentationstheorien eine Theorie des Performativen. Butlers Gender-Theorie ist somit zusammenfassend gesagt, als Gegenentwurf zu denjenigen Identitätspolitiken zu lesen, die feste Einheiten voraussetzen. Ihrem Performanzmodell liegt ganz im Gegenteil die Betonung der (produktiven) Inkohärenz und Uneindeutigkeit der geschlechtlichen Zugehörigkeit und Selbstwahrnehmung zu Grunde187. Butler ist somit zwar im Kontext des feministischen Poststrukturalismus zu lesen (Cixous, Irigaray, Kristeva, Haraway), jedoch war vor allem sie es, die mit Gender Trouble Ende der 1990er-Jahre für einen wegweisenden Umbruch in der feministischen Wissenschaft sorgte. Fassen wir nochmals zusammen: Allen Ausprägungen des feministischen Poststrukturalismus ist gemein, dass sie wesentliche Aspekte poststrukturalistischer Auffassungen von Lacan, Foucault und Derrida übernehmen, diese aber auf sehr unterschiedliche Weise weiterentwickeln. Insbesondere Butler grenzt sich nun insofern innerhalb des feministischen Poststrukturalismus ab, als dass die von einem postidentitären Subjektver-

184 185 186 187

Butler 2014: 11. vgl. Karsch 2016: 165f. vgl. Nieberle 2013: 52. vgl. Breger 2013: 66f.; vgl. Nieberle 2013: 60ff.

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1 Entwicklungen der Geschlechterkonzeption in der Philosophischen Anthropologie

ständnis ausgeht. Während also bisherige feministische Theorien grundsätzlich auf der Kategorie Frau aufbauen, lehnt Butler diese kategorische Zuweisung in Form einer Determinierung des Sozialen durch das Biologische ab, bejaht aber gleichzeitig die Kategorie Frau als einen diskursiven Ort beständiger Neuverhandlungen. Hieran zeigt sich nochmals ihre dekonstruktivistische Deutung (Derrida) des Genderbegriffs, da sie die (scheinbar) natürliche Geschlechtsidentität der bisherigen anthropologischen Auffassung diskursiv durch kulturelle Denksysteme und Sprachregeln bestimmt sieht. Bevor jedoch ganz grundlegend auf Butlers Performanzmodell geschlechtlicher Identitäten eingegangen wird, soll zunächst die Genese des Gender-Begriffes und dessen Einzug in die feministische Theorie nachvollzogen werden – letztlich vor allem deshalb, um Butlers Neuorientierung bzw. spezifische Ausprägung innerhalb der Gender-Theorien ganzheitlich zu erfassen. Häufig werden fälschlicherweise gendertheoretische Ansätze innerhalb des Feminismus mit Butler gleichgesetzt oder gar einzig auf se zurückgeführt, was jedoch nicht belegt werden kann. Vielmehr verhält es sich so, dass sich Butler mit ihrem performativen Konzept der Geschlechtsidentität ganz entscheidend von bisherigen feministischen Grundannahmen abhebt, wie in späteren Kapiteln noch eingehend diskutiert wird188. 1.3 Genese und Transformation des Gender-Mainstreamings Nachfolgende Ausführungen orientieren sich demzufolge chronologisch an der Genese und Transformation des Gender-Begriffs, was vorab zur besseren Verständlichkeit wie folgt zusammengefasst werden kann: Zunächst war Gender ein rein grammatikalischer Begriff zur Genusbestimmung eines Wortes, bis er zu einem Fachterminus in der Intersexualitätsforschung (Money, Stoller, Garfinkel) wurde – zur Legitimation von Eingriffen in die Materie und dem Ziel der Überformung derselben. Erst später wurde Gender von der feministischen Theorie (Rubin) adaptiert und als Ziel weiblicher Entmaterialisierung und -biologisierung postuliert.

188 vgl. Nieberle 2013: 60ff.; vgl. Breger 2013: 66ff.

70

1.3 Genese und Transformation des Gender-Mainstreamings

1.3.1 Gender als grammatikalischer Terminus Für Gender gibt es im Deutschen kein entsprechend griffiges Wort – im Deutschen gibt es nur das Wort Geschlecht, was auch erklärt, warum weltweit jener Anglizismus verwendet wird. Der deutsche Terminus Geschlecht kommt vom althochdeutschen Begriff gislahti (ahd. für Geschlecht), welcher wiederum mit dem Wort slahan (ahd. für nacharten) verwandt ist, aus dem sich unser nhd. Wort schlagen entwickelt hat. Daher stammt auch die bekannte Redewendung dem Vater oder der Mutter nachschlagen189. Zudem meint Gender im Englischen das grammatikalische Geschlecht (maskulin/feminin/neutrum), womit schon immer die sprachliche Verfaßtheit der Geschlechtsidentität inbegriffen ist190. Der Terminus Gender-Mainstreaming wurde im Jahr 2006 erstmals in den Deutschen Rechtschreibduden aufgenommen und wird dort mit „Verwirklichung der Gleichstellung von Mann und Frau unter Berücksichtigung der geschlechtsspezifischen Lebensbedingungen und Interessen“191 übersetzt. Gender-Kritiker192 bemängeln jedoch die unpräzise resp. fehlende Definition und Unmöglichkeit einer exakten Übersetzung des Begriffs Gender-Mainstreaming. In der Tat kann es weder in grammatikalischer noch inhaltlicher Hinsicht schlicht mit Geschlechtergerechtigkeit übersetzt werden. Doch was genau ist dann darunter zu verstehen? Wie kann der Begriff gefasst werden? Geht es tatsächlich um die Verwirklichung von Geschlechtergerechtigkeit, wie u. a. der Deutsche Rechtschreibduden den Begriff übersetzt? Bis heute gibt es keine offiziell gültige Begriffsbeschreibung. Diese Definitionsschwierigkeiten führten bereits bei der Aufnahme des Gender-Mainstreamings in die offizielle Abschlussresolution der vierten Weltfrauenkonferenz in Peking im Jahr 1995 zu Unstimmigkeiten zwischen den Gender-Verfechtern und deren Opponenten, der sog. „Familienkoalition“193. Hierauf wird aber in einem späteren Kapitel dieser Arbeit noch eingegangen. Zunächst sollen nun die etymologischen Wurzeln des Gender-Begriffs untersucht werden, um sich der Bedeutung des Begriffs und des dahinterstehenden theoretischen Konzepts schrittweise zu nähern. Unter dem Lateinischen genus versteht man zunächst das grammatikalische Geschlecht eines Wortes. Weiterhin bedeutet es im Lateinischen auch Geburt, Abstammung, Familie, Nachkommenschaft, Stamm, Rasse/ 189 190 191 192 193

vgl. Gutknecht 2003: 183. vgl. Butler 2014: 15. Duden 2015. Zastrow 2006: 9f.; Klenk 2015: 9 et.al. Kuby 2014: 9.

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1 Entwicklungen der Geschlechterkonzeption in der Philosophischen Anthropologie

Gattung, Verfahrensweise, Beschaffenheit/Wesen oder Beziehung und natürliches Geschlecht194. Ein weiteres, dem Genderbegriff verwandtes, Wort ist das französische genre, welches ins Deutsche mit Art, Sorte, Lebensweise, Gattung und dem grammatikalischen Geschlecht übersetzt werden kann. Im französischen Wörterbuch findet sich bereits die Übersetzung Gender für die soziologische Verwendung des Wortes195. Aber auch das griechische génos ist dem Gender-Begriff nahe. Génos war im antiken Griechenland die Bezeichnung für eine meist verwandtschaftlich verstandene Gemeinschaft, deren Angehörige über einen gemeinsamen Génos-Namen miteinander verbunden waren. Sissa versteht unter dem klassifikatorischen Gebrauch von génos „eine Gruppe (...), die in zwei artspezifische Formen aufgeteilt werden kann. So gesehen besteht das menschliche Geschlecht also aus Mann und Frau als zwei entgegengesetzten Formen“196. Im Spanischen heißt género so viel wie Gattung, Weise, Sorte oder Geschlecht und bezeichnet wie im Lateinischen und Französischen zudem das grammatikalische Geschlecht197. Der englische Begriff gender ist somit hinsichtlich des Wortstammes aus den genannten verwandten Termini ableitbar und war ursprünglich ein grammatikalischer Begriff zur Genusbestimmung eines Wortes. In der durch die Gender-Theorien etablierten Bedeutung meint gender nun auch das soziale Geschlecht (sexual identity in a culture/society) in Abgrenzung zum Begriff sex (biologisches Geschlecht)198 und umfasst sowohl Männer als auch Frauen. Das englische Substantiv mainstream bedeutet „Hauptrichtung, vorherrschende Meinung“199, to mainstream demnach etwas zum leitenden Paradigma/Leitprinzip machen, in den Hauptstrom bringen, alles durchdringen. Durch das Addendum -ing, das der infinitiven Form mainstream anhängt, wird das Gerundium mainstreaming gebildet und mit dem Begriff gender zusammengesetzt: Gender-Mainstreaming. Demnach ist bereits aus dem Begriff ableitbar, dass die Gesellschaft vom Gender-Begriff durchdrungen werden und alles durch die Gender-Brille gesehen werden soll.

194 195 196 197 198 199

72

PONS 2015a. PONS 2015b. Sissa 1997: 81. PONS 2015c. PONS 2015d. Langenscheidt 2002: 371.

1.3 Genese und Transformation des Gender-Mainstreamings

1.3.2 Gender in der Intersexualitätsforschung Der Begriff Gender fungierte also lange Zeit nur als Klassifikation für das Wortgeschlecht. Erst in den späten 1960er-Jahren und frühen 1970er-Jahren hat sich die amerikanische Intersexualitätsforschung den bislang grammatikalisch-lexikalischen Terminus zu Eigen gemacht, bevor er seinen Weg in feministisches Terrain fand200. Diese interdisziplinäre Begriffstransformation soll im Folgenden beleuchtet und nachvollzogen werden. John Money beschäftigte sich mit den Fragen nach den Ursachen geschlechtsspezifischer Verhaltensweisen und Entwicklung unterschiedlicher Geschlechtsidentitäten sowie deren Auswirkungen auf den sozialen Bereich im Hinblick auf Intersexualität. Dabei stützte sich Money auf seine eigenen klinischen Forschungen an der Johns Hopkins Gender Identity Clinic. Money, der heute als einer der einflussreichsten Sexualwissenschaftler der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und Lichtgestalten der GenderTheorie gilt, war, bevor er die Johns Hopkins Gender Identity Clinic leitete201, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Kinsey-Institut- heute bekannt als Kinsey Institute for Research in Sex, Gender, and Reproduction. Der Namensgeber Alfred C. Kinsey, ebenfalls ein nicht minder bekannter, wenn auch nicht unumstrittener, Sexualforscher des vergangenen Jahrhunderts, erlangte in den 1940/50er Jahren mit dem nach ihm benannten Kinsey-Report weltweiten Ruhm. Noch heute beziehen sich nahezu alle Sexualerziehungsprogramme in direkter oder indirekter Weise auf Kinsey202. Alice Schwarzer, die die Gender-Theorien v. a. in Deutschland medial-populistisch wirksam vertritt und maßgeblich zum Ausbreitungsprozess der Neuen Frauenbewegung beigetragen hat, beruft sich noch heute auf Kinseys Studien203. Money und Kinsey, der den Diskurs über die Sexualität weit über die Grenzen Amerikas hinaus revolutionierte, waren zwar geistig verbunden, verfolgten jedoch unterschiedliche Ziele. Während Kinsey das Sexualverhalten der amerikanischen Bevölkerung untersuchte, entwickelte Money eine Theorie über die menschliche Sexualentwicklung und die Entstehung der Geschlechterunterschiede unter Einbeziehung der Zusammenwirkung und Interdependenz von sozialen und biologischen Faktoren – was die Gender-Theorie später adaptierte204. Moneys Hauptinteresse galt dabei vor

200 201 202 203 204

vgl. Dietze 2006: 49; vgl. Ullrich 2001; vgl. Zastrow 2006: 11. vgl. Repo 2015: 185. vgl. Vonholdt 2010: 18. vgl. Schwarzer 2016. vgl. Bullough 2003: 230.

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1 Entwicklungen der Geschlechterkonzeption in der Philosophischen Anthropologie

allem Säuglingen und Kindern, die mit geschlechtsambivalenten Genitalien auf die Welt kamen – sogenannte Intersex-Babys: „Altes und neues Wissen sollen in einer Theorie zusammengefasst werden, die die Entstehung der Geschlechtsunterschiede abbildet. Diese Theorie der psychosexuellen Differenzierung wird alle bisher bekannten Determinanten der Geschlechtsunterschiede berücksichtigen (...).“205 Dass sich die amerikanischen Sexualwissenschaftler dieser Zeit gegenseitig in ihren Arbeiten unterstützten, darf mit Hinblick auf den geschichtlichen Kontext nicht verwundern. So begann Kinsey seine Sexualstudien in den späten 1930er Jahren, zu Zeiten des Zweiten Weltkrieges. Der erste Teil des Kinsey-Reports über das sexuelle Verhalten des Mannes erschien nur drei Jahre nach Ende des Großen Krieges. Kinsey brach Tabus und setzte damit eine sexuelle Revolution in Kraft. Nach dem Zweiten Weltkrieg begann sich die Rolle der Frauen zu ändern, sie behielten meist ihre Tätigkeit bei, die sie während der Krieges aufgenommen hatten, forderten Geschlechtergerechtigkeit und emanzipierten sich in politischen, ökonomischen und sexuellen Belangen – was schließlich in den 1960er Jahren zur sexuellen Revolution führte, deren Startschuss das auf den Marktbringen der Antibabypille im Jahr 1961 war. Der Wandel, der sich hinsichtlich der Geschlechterhierarchie und der damit einhergehenden Veränderung der Sexualität vollzog, bildete den Grundstein für Kinseys Studien. Kinsey wollte der bis dato repressiven viktorianischen Sexualmoral ein Ende setzen206. Auch Money postuliert, dass das traditionelle Rollenkonzept von Männlichkeit und Weiblichkeit revidiert werden müsste207. Er trug damit erheblich zur damals vorherrschenden Debatte um die Entstehung der Geschlechtsunterschiede im Rahmen der Frauenbewegung bei, indem er sich sowohl den prä- als auch postnatalen Determinanten in der Geschlechtsentwicklung widmete. Dabei konstatiert er, dass sich Vertreter der traditionellen Geschlechterrollenverteilung zu sehr auf seine Ausführungen über den pränatalen Einfluss geschlechtsspezifischen Verhaltens stützen, wohingegen die Frauenbewegung einseitig mit Moneys Forschungsbeiträgen zur Bedeutung von Umwelteinflüssen auf die Geschlechterdifferenzierung argumen-

205 Money/Ehrhardt 1975: 7. 206 vgl. Reiss 2006: 46f. 207 vgl. Money/Ehrhardt 1975: 10.

74

1.3 Genese und Transformation des Gender-Mainstreamings

tiere und ersteres außer Acht ließen208. Seiner Meinung nach ist es aber ein Zusammenspiel beider Faktoren: „Das Problem kann nur gelöst werden, wenn man die althergebrachte überholte Alternative Anlage vs. Umwelt aufgibt und sie durch ein Konzept der Interaktion von pränatalen und postnatalen Einflüssen in der psychosexuellen Differenzierung ersetzt.“209 Als Beweis für die Gender-Theorie diente ihm der sog. John/Joan-Fall210. Er wird von einigen Gender-Verfechtern (Judith Butler, Heinz-Jürgen Voß, Friedemann Pfäfflin, Fausto-Sterling u.v.m.) herangezogen, um zu zeigen, dass das vordiskursive Geschlecht und damit die biologische Komponente keine deterministische Bedeutung für die Geschlechtsidentität einer Person hat. Tatsache ist jedoch, dass der Versuch von Money nicht gelang und somit zumindest bemerkenswert ist, dass dieser missglückte Beweis immer noch als Geburtsstunde der Gender-Theorie gilt. Auch Harold Garfinkel und Robert Stoller griffen in ihren Studien auf den „Nestor der Intersexualitätsforschung“211 zurück. Das Wort Gender wurde demnach im Verwendungssinn des sozialen Geschlechts von Stoller basierend auf den ethnomethodologischen Grundannahmen von Garfinkel und in Rekurs auf John Money benutzt: „Thus, while sex and gender seem to common sense to be practically synonymous, and in everyday life to be inextricably bound together, one purpose of this study will be to confirm the fact that the two realms (sex and gender) are not at all inevitably bound in anything like a one- to-one relationship, but each may go in its quite independent way (...) Money and the Hampsons have clearly drawn the thesis that sex and gender are not necessarily in a one-to-one relationship.“212 Der ethnomethodologische Ansatz doing gender spielt in der sozialwissenschaftlichen Geschlechterforschung seit den 1970er-Jahren eine Rolle und beschäftigt sich damit, wie sich Menschen performativ als männlich oder weiblich zu erkennen geben und mittels welcher Verfahren das so gestaltete kulturelle Geschlecht im Alltag mit Bedeutung aufgeladen wird. Das heutige Konzept des doing gender fußt dabei maßgeblich auf Garfinkels

208 209 210 211 212

vgl. ebd. ebd.: 10. vgl. Money/Ehrhardt 1975: 117ff.; vgl. Colapinto 2002. Dietze 2006: 48. Stoller 1984: VII; Hervorh. d. Verf.

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1 Entwicklungen der Geschlechterkonzeption in der Philosophischen Anthropologie

Agnes-Studie213 und lehnt sich an Arbeiten von Erving Goffman an. Garfinkel und Goffman zeigen kulturgebundene Methoden der Geschlechterstilisierung. Garfinkel verfolgte beispielsweise wie sich die transsexuelle Agnes nach ihrer Operation zur Frau auf allen Ebenen des Verhaltens in das kulturelle Frau-Sein im Kalifornien der sechziger Jahre einübte. Er verwendete in seinen Untersuchungen aber noch nicht den Begriff gender – gender wurde in der Soziologie vorher oft als Rolle behandelt. Im Unterschied zur Rolle als situativer Identität sei gender aber eine master identity, die sich durch alle Situationen zieht214. Auch Villa sieht in der Ethnomethodologie einen geeigneten theoretischen Zugang, durch die Irritationen der sozialen Wirklichkeit und deren Konstruiertheit entschlüsselt werden können. Alltägliche Handlungen werden durch sog. Krisenexperimente ent-normalisiert, um deren Entstehungsweisen und Vollzüge in jeglichen Praxen des Alltaglebens zu enttarnen. Dabei macht das Phänomen der Transsexualität besonders deutlich, wie Geschlecht und Geschlechtlichkeit sozial produziert und reproduziert werden215, gleiches gilt auch für die Intersexualität. Daher ist die Trans- und Intersexualität für die Soziologie von besonderem Interesse. Stoller hat also lediglich Moneys Begriff der gender role mit Garfinkels ethnomethodologischen Konzept für Femininität als erlerntes Set von für natürlich gehaltenen Regeln verschmolzen und daraus einen elaborierten Genderbegriff geformt, der gender role und gender idendity unterscheidet. Dabei bezieht er keine Überlegungen eines asymmetrischen Geschlechtermachtverhältnisses mit ein, ihm geht es vielmehr um die Soziologisierung der Geschlechterkategorie als eine Abkoppelung von der Biologie als Verhaltensursache. Somit kann gesagt werden, dass die Schöpfer der sozialen Kategorie gender allesamt als psychologische Gutachter für chirurgische und endokrinologische Geschlechtszuschneidung arbeiteten. Bis dato stand gender also nicht im Dienst der Problematisierung von kulturellem Geschlechtsdimorphismus, sondern diente zur Herstellung desselben.

213 vgl. Dietze 2006: 55ff. 214 vgl. Kotthoff: 2003: 125ff. 215 vgl. Villa 2000: 70ff.

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1.3 Genese und Transformation des Gender-Mainstreamings

1.3.3 Feministische Adaption des Gender-Begriffs Auf theoretischer Ebene war im feministischen Kontext „in Ermanglung eines besseren Begriffs“216 bei Rubin erstmals die Rede von Gender, um das biologische Geschlecht (sex) von jener kulturell erworbenen Geschlechtsidentität abzugrenzen. Rubin entwickelte eine Theorie der Unterdrückung von Frauen, die sie maßgeblich auf einer Kritik an der Psychoanalyse (Freud) und der strukturalen Anthropologie (Lévi-Strauss) aufbaut217. Für Rubin ist mit den bisher verwendeten Begriffen Reproduktionsweise und Patriarchat keine differenzierte Analayse der männlichen Herrschaftsverhältnisse möglich218, weshalb sie die Bezeichnung „Sex/Gender-System“219 vorschlägt. So sei das Patriarchat nur „eine bestimmte Form männlicher Dominanz“220. Weiterhin umfasst das „Sex/Gender-System“221 mehr als nur die Fortpflanzungsverhältnisse, die mit dem Terminus Reproduktionsweise gemeint sind, u. a. schon deshalb, weil „die Formierung einer Geschlechtsidentität ein Beispiel für Produktion dar[stellt].“222 Um Rubin aber in den theoretischen Gesamtkontext einbetten zu können, muss an die vorab skizzierten Grundorientierungen feministischer Denkrichtungen erinnert werden, denn Rubins erste Versuche, Gender auf theoretischer Ebene zu etablieren, fielen in die Zeit der Auseinandersetzung zwischen dem feministischen Gleichheits- und Differenzpostulat. Auch wenn Rubin das Patriarchat als unzureichenden Erklärungsansatz für die Schlechterstellung der Frau betrachtet und anstelle dessen die Verwendung des Begriffs Sex/Gender-System vorschlägt, ist sie dem radikalfeministischen Lager zuzuordnen, was in der nachfolgenden Besprechung ihres Essays Der Frauentausch noch deutlich werden wird. Rubin konstatiert dort zu Beginn die Suche der feministischen und antifeministischen Literatur nach der Wurzel der Unterdrückung von Frauen und ihrer inferioren gesellschaftlichen Stellung. Erst wenn analysiert wurde, was die tatsächlichen Ursprünge hierfür sind, kann erarbeitet werden, wie eine Gesellschaft ohne Geschlechterhierarchien auszusehen hätte (Rubins Vision einer androgynen und genderlosen Gesellschaft). Daher stellt sich Rubin die Frage nach den Verhältnissen, unter denen Frauen zu unter-

216 217 218 219 220 221 222

Rubin 2006: 70. vgl. ebd.: 106. vgl. ebd.: 77f. ebd.: 70. ebd.: 78. ebd. ebd.: 77; Anm. d. Verf.

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1 Entwicklungen der Geschlechterkonzeption in der Philosophischen Anthropologie

drückten Frauen werden und rekurriert dabei auf Marx’ Ausführungen in Lohnarbeit und Kapital: „Was ist ein Negersklave? Ein Mensch von der schwarzen Rasse. Die eine Erklärung ist die andere Wert. Ein Neger ist ein Neger. In bestimmten Verhältnissen wird er erst zum Sklaven. Eine Baumwollspinnmaschine ist eine Maschine zum Baumwollspinnen. Nur in bestimmten Verhältnissen wird sie zu Kapital. Aus diesen Verhältnissen herausgerissen, ist sie so wenig Kapital, wie Gold an und für sich Geld oder der Zucker der Zuckerpreis ist.“223 Um also eine umfangreiche Untersuchung der Ursprünge eben jener Verhältnisse durchführen zu können und so zum wahren Kern der Frauenunterdrückung vorzudringen, zieht Rubin die sich aus ihrer Sicht komplementierenden Theorien von Lévi-Strauss und Freud heran. Bei beiden erkennt sie eine ausführliche und tiefgreifende Analyse darüber, wie und warum die Frauen domestiziert werden, ohne dass Lévi-Strauss und Freud selbst ihre Ausführungen in diesem Licht verstehen224. Verwunderlich ist, dass Rubin sich in keiner Weise auf Freuds Totem und Tabu. Über einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker bezieht, indem sich Freud vor allem im ersten der vier darin enthaltenen Aufsätze mit dem Inzesttabu beschäftigt, gleichzeitig auch das Kernthema in Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft von Lévi-Strauss. Dies ist vermutlich darauf zurückzuführen, dass sie sich im zweiten Teil ihres Aufsatzes maßgeblich mit dem psychoanalytischen Zugang zur Entstehung der Geschlechteridentität auseinandersetzt und die Psychoanalyse als „Theorie der Reproduktion von Verwandtschaft“225sieht, wohingegen die Anthropologie die Verwandschaftssysteme nur beschreibt. Zur Vervollständigung und Einordnung der straussschen Verwandtschaftstheorie wären jedoch Freuds Thesen in Totem und Tabu hilf- und kenntnisreich gewesen. Rubins Ziel ist es also, mit Hinzunahme der Lektüre von Lévi-Strauss und Freud, eine differenzierte Definition jenes Sex/Gender-Systems zu erarbeiten, was sich auch im didaktischen Aufbau des Textes widerspiegelt. Im ersten Teil beschäftigt sie sich maßgeblich mit Lévi-Strauss und dessen Verwandtschaftstheorie, im zweiten Abschnitt wendet sie sich mehr der Psychoanalyse zu, da diese, im Gegensatz zur Anthropologie, diejenigen Mechanismen erklären kann, die Kinder die für sie geltenden Sex- und Gen-

223 Marx 1961: 407; zit. n. Rubin 2006: 70. 224 vgl. Rubin 2006: 70. 225 Rubin 2006: 92.

78

1.3 Genese und Transformation des Gender-Mainstreamings

derkonventionen einprägen226. Im Zuge dessen weist sie zu Beginn darauf hin, dass sie von Lacan beeinflusst ist, dessen (poststrukturalistische) Interpretationen von Freud wiederum stark von Lévi-Strauss geprägt sind, was sie in den Anmerkungen ihres Aufsatzes kritisch kommentiert: „In meiner Hin- und Herbewegung zwischen Marxismus, Strukturalismus und Psychoanalyse prallen die Epistemologien zwangsläufig aufeinander. Insbesondere Strukturalismus ist eine Dose, aus der die Würmer in alle epistemologischen Himmelsrichtungen kriechen. Anstatt zu versuchen, mich diesem Problem zu stellen, habe ich mehr oder weniger ignoriert, dass Lacan und Lévi-Strauss die wichtigsten Stammväter der gegenwärtigen französischen intellektuellen Revolution sind.“227 Nachdem Rubin Marx’ Schriften bezüglich der Suche nach dem Ursprung der Unterdrückung von Frauen für unzureichend erklärt, obwohl dessen Analyse des Kapitalismus in feministischen Kreisen oft mit Blick auf die Frauenfrage gelesen wird228, wendet sie sich Engels und insbesondere dessen Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates (1884) zu. Engels darin entwickelte Theorie basiert maßgeblich auf Morgans Darstellungen von Verwandtschaft und Heirat in Die Urgesellschaft (1877), dem Lévi-Strauss auch die stark von Mauss’ Die Gabe (1925) beeinflussten Elementaren Strukturen der Verwandtschaft gewidmet hat. Doch auch Engels, der zwar der Frauenfrage näher kam als Marx, kann laut Rubin nicht zur Aufdeckung der Wurzel der Verhältnisse beitragen, die es in unserer Gesellschaft möglich machen, Frauen zu unterdrücken. Aber Rubin will an Engels These anschließen, dass die Unterordnung der Frauen als eine Entwicklung innerhalb der Produktionsweise zu sehen ist und seine methodische Vorgehensweise für die Untersuchung von Verwandtschaftssystemen übernehmen229. Denn für sie sind letztere „erkennbare und empirische Formen des Sex/Gender-Systems“230. Im Frauentausch des Lévi-Strauss sieht sie beispielsweise ein gewaltiges Konzept, das vor allem seine Besonderheit darin hat, dass die Inferiorität der Frau nicht biologisch begründet, sondern im sozialen Gesellschaftssystem angesiedelt ist und mit dessen Hilfe Geschlechtersysteme beschrieben werden können. Ihre Kritik an Lévi-Strauss stützt sich maßgeblich darauf, dass sie im Frauentausch eine Objektivierung der Frau sieht, die sozusagen wie eine Ware zwischen den 226 227 228 229 230

vgl. ebd. ebd.: 116; Hervorh. d. Verf. vgl. ebd.: 74. vgl. Rubin 2006: 78f. ebd.: 79.

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1 Entwicklungen der Geschlechterkonzeption in der Philosophischen Anthropologie

Männern getauscht und allein dafür benutzt wird, zwischen Männern Allianzen und Solidarität herzustellen. Rubin bricht Lévi-Strauss Thesen auf drei Kernelemente herunter: Inzesttabu, Heterosexualität und asymmetrische Geschlechtertrennung231. Ihre damit einhergehende anti-strukturalistische und radikal-feministische Haltung ist dabei an mehreren Stellen deutlich erkennbar: „Wenn die weltgeschichtliche Niederlage der Frauen sich einem bewaffneten patriarchalen Aufstand verdankt, dann sollten die Amazonen-Guerillas ihr Training besser bald aufnehmen.“232 „Wenn Lévi-Strauss’ Interpretation in ihrer Reinform übernommen wird, muss sich das feministische Programm einer weitaus beschwerlicheren Aufgabe stellen als der Ausrottung der Männer: es muss versuchen, die Kultur abzuschaffen und durch irgendein auf dem Erdboden völlig neues Phänomen zu ersetzen.“233 „Lévi-Strauss und Freud erinnern uns an das Ausmaß und die Widerspenstigkeit dessen, wogegen wir kämpfen; ihre Analysen liefern vorläufige Tabellen der sozialen Maschinerie, die wir neu ordnen müssen.“234 „Kurz gesagt: der Feminismus muss eine Revolution von Verwandtschaft fordern.“235 „Psychoanalyse und strukturale Anthropologie sind auf eine Art die ausgefeiltesten Ideologien von Sexismus, die es gibt.“236 Im zweiten Teil von Rubins Frauentausch geht es um die Entwicklung der Geschlechteridentität aus psychoanalytischer Sicht, genauer gesagt um die Ödipuskrise, die sowohl Jungen (Kastrationsangst) als auch Mädchen (Penisneid) durchlaufen. So legt die Psychoanalyse anschaulich diejenigen Mechanismen dar, die beschreiben, wie aus bisexuellen, androgynen Kindern Mädchen und Jungen werden. Rubin arbeitet dabei eine wesentliche Parallele zu Lévi-Strauss heraus. Denn auch er betont wie Freud, dass die menschliche Sexualität nicht aus der biologischen, sondern aus der psychischen Entwicklung entsteht237. Für Rubin greifen die Thesen von Freud und Lévi-Strauss Theorien kongenial ineinander: Die Ödipusphase nach

231 232 233 234 235 236 237

80

vgl. ebd.: 84ff. ebd.: 69; Hervorh. d. Verf. ebd.: 85; Hervorh. d. Verf. ebd.: 104. ebd.: 105; Hervorh. d. Verf. ebd.: 106; Hervorh. d. Verf. vgl. ebd.: 92ff.

1.3 Genese und Transformation des Gender-Mainstreamings

Freud gesteht dem Jungen mehr Rechte zu als dem Mädchen, wofür die (heteronormativen) straussschen Verwandtschaftssysteme mit ihrer Voraussetzung resp. Annahme der Geschlechtertrennung die Grundlage bieten. Demnach findet in der ödipalen Krise die tatsächliche Geschlechtertrennung statt, woraus die Verwandtschaftssysteme sexualitätskontrollierende Regeln ableiten. In der Ödipusphase geht es primär um die Anpassung an diese Regeln, weshalb nach Rubin die „zwanghafte Heterosexualität“238 ein Produkt der Verwandtschaftssysteme ist. Das „heterosexuelle Begehren“239 konstituiert sich in der ödipalen Phase, daher beruhen auch die Verwandtschaftssysteme auf dem Unterschied zwischen den Rechten von Männern und Frauen. Aus dem Studium der Lektüren Freuds und Lévi-Strauss’ leitet Rubin dann ihre radikale Forderung ab, die besagt, dass die Lösung der Frauenfrage in der Abschaffung desjenigen sozialen Systems liegt, dass Sexismus und Gender überhaupt kreiert. Für sie liegt die Wurzel der Problematik, die letztlich zur gesellschaftlichen Geschlechterasymmetrie führt, darin, dass eine soziale Maschinerie existiert, die es neu zu ordnen gilt. In den freudschen und straussschen Prinzipien sieht sie die Offenlegung der sonst kaum wahrnehmbaren Tiefenstruktur der sexuellen Unterdrückung. Rubin formuliert ihr Anliegen der Revolutionierung der Verwandtschaft240 und ihre Konklusion aus den anthropologischen und psychoanalytischen Darlegungen zur Position der Frau wie folgt: „Ich persönlich finde, dass die Frauenbewegung (...) größere Träume haben muss als die Beseitigung der Unterdrückung von Frauen. Sie muss von der Beseitigung der obligatorischen Geschlechtsidentitäten und Geschlechterrollen träumen. Den Traum, den ich am verlockendsten finde, ist der einer androgynen und Gender-losen (aber nicht Sexlosen) Gesellschaft, in der die geschlechtliche Anatomie keinen Einfluss darauf hat, wer man ist, was man tut, und mit wem man ins Bett geht.“241 Doch nicht nur Rubin will in Lévi-Strauss’ Elementaren Strukturen der Verwandtschaft eine frauenverachtende Position erkennen, auch Monique Wittig tituliert die Verwandtschaftstheorie von Lévi-Strauss als sexistisch: „Hat er nicht in der Tat geschrieben, die Macht und der Besitz an Frauen, der Müßiggang und die Lust an Frauen? Er schreibt, dass du Wech-

238 239 240 241

ebd.: 104. ebd. vgl. ebd.: 104ff. ebd.: 109.

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1 Entwicklungen der Geschlechterkonzeption in der Philosophischen Anthropologie

selgeld bist, dass du Merkmal des Tausches bist. Er schreibt Tausch, Besitz, Aneignung von Frauen und Waren. Es ist besser für dich, deine Eingeweide im Licht der Sonne zu betrachten und zu Tode getroffen zu röcheln, als ein Leben zu leben, das jeder beliebige sich aneignen kann. Was gehört dir auf dieser Erde? Einzig der Tod. Keine Macht der Welt kann dich seiner berauben. Und – überlege erkläre dir erzähle dir – wenn Glück das Besitzen von etwas ist, dann strebe nach diesem uneingeschränkten Glück – sterben.“242 Mit Wittigs Thesen setzt sich auch Butler auseinander. Im hiesigen Kontext ist jedoch in Anbetracht der relevanten Fragestellungen vor allem Butlers Beschäftigung mit dem Strukturalismus und der Psychoanalyse von Relevanz. Um also Butlers poststrukturalistische Position bezüglich der Geschlechterfrage nachvollziehen zu können, gilt es, sich zunächst mit dem Strukturalismus zu beschäftigen und herauszuarbeiten, welche Bedeutung jene Strömung in der Anthropologie hat und worin die grundlegenden Neuakzentuierungen liegen auf denen Butler letztlich ihre Kritik aufbaut.

242 Wittig 1980: 119; zit. n. Rubin 2006: 118f.; Hervorh. d. Verf.

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2 Von der Unität zur Struktur – Die Polarität der Geschlechter in der strukturalen Anthropologie von LéviStrauss

Alle großen Werke, die sich im 20. Jahrhundert dem Strukturalismus zuordnen oder sich von ihm abgrenzen wollen, beruhen – bewusst oder unbewusst – auf Ferdinand de Saussures sprachwissenschaftlichen Studien243. Dabei ist anzumerken, dass Saussure den Begriff Strukturalismus selbst gar nicht verwendet hat, er selbst spricht vielmehr von einem System244. Der Strukturalismus konstituiert sich also erst in der Rezeption seines Textes in der Folgezeit. So taucht der Begriff Struktur resp. struktureller Vergleich in der Sprachwissenschaft zum ersten Mal bei Trubetzkoy auf245. Was nun vor allem Saussures Sprachwissenschaft für den hiesigen Kontext so interessant macht, ist die bereits angesprochene Kritik Butlers an Repräsentationstheorien, deren Grundlage vor allem Saussure legte. Es war vor allem – aber nicht nur – Butler, die mit ihrer kritischen Betrachtung des Repräsentationsbegriffs in der feministischen Theorie, eine grundlegende Diskussion der repräsentationsspezifischen Aspekte von Geschlecht anregte, woraus sich einer der größten Forschungsbereiche der Gender-Theorien entwickelt hat. Oder anders gesagt: Der männliche Genus repräsentiert bislang das Weibliche, während der umgekehrte Fall unkonventionell ist246. Butler wiederum hält diese Umkehrung für unzureichend, da der Bezugsrahmen immer noch das (hierarchisierende) Binäre bleibt und formuliert deshalb eine Übersteigerung der strukturalistischen Grundidee, die daher im Folgenden beleuchtet werden soll. 2.1 Linguistische Bezugspunkte seiner Strukturanthropologie Saussures Sprachwissenschaft, aus der die zentralen Begriffe des Strukturalismus stammen, unterscheidet sich insofern von der zu seiner Zeit betriebenen Forschungen auf diesem Fachgebiet, als er sich dem Wesen der Spra243 244 245 246

vgl. Brügger/Vigsø 2008: 11; 12; 26; Gallas 1969: 228. vgl. Brügger/Vigsø 2008: 11f; 97f. vgl. ebd.: 27. vgl. Nieberle 2013: 55.

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2 Von der Unität zur Struktur

che selbst nähern wollte. Anstelle der bis dahin normativen atomistischen und historischen Sprachwissenschaft wollte Saussure eine systematische und beschreibende Perspektive einnehmen und die Sprache an sich zum Gegenstand der Betrachtung machen. Bereits in dieser Abgrenzung zu der bis dato etablierten Sprachforschung lassen sich die Grundzüge dessen erkennen, was später der Strukturalismus wurde247. Für seine deskriptiven Fragen unternimmt Saussure einige Unterscheidungen und Eingrenzungen, die später für den Strukturalismus (Lévi-Strauss) und dessen Kritik daran (Butler) von zentraler Bedeutung sind. Um also die Gender-Theorie als poststrukturalistisch begreifen und insbesondere Butlers kritische Position gegenüber dem strukturalistischen Ansatz von Lévi-Strauss greifbar machen zu können, wird zunächst die sprachwissenschaftliche von Saussure Methodik im Fokus stehen. Anschließend wird anhand von einigen konkreten Beispielen dargestellt, wie sich die Umsetzung des Gender-Mainstreamings auf sprachlicher Ebene nur in Verbindung mit dem strukturalsprachwissenschaftlichem Konzept vollumfänglich begreifen lässt. 2.1.1 Sprache, Sprachgebrauch und Sprachsystem Eine erste grundlegende Unterscheidung, die Saussure vornimmt, ist die zwischen Sprache (langage), Sprachgebrauch (parole) und Sprachsystem (langue). Er differenziert deswegen so gründlich, weil er dem Phänomen Sprache gerecht werden will. Dies führt nun zunächst dazu, dass er zwischen dem Sprachgebrauch einerseits und dem Sprachsystem andererseits unterscheidet. Unter dem Sprachgebrauch versteht Saussure den individuellen Gebrauch von Sprache in einer aktuellen Situation. Damit meint er insbesondere den Sprachbenutzer und dessen sprachliche Handlungen/ Äußerungen. Das Sprachsystem hingegen ist für ihn derjenige Teil der Sprache, der nicht vom Individuum selbst gesteuert ist, sondern vielmehr auf sprachlichen Konventionen beruht, die in einer bestimmten Sprachgemeinschaft gelten und die den Sprachgebrauch überhaupt erst möglich machen. Daraus folgt, dass das einzelne Individuum nicht über die gesamte Sprache verfügt. Der Gegenstand der Sprachforschung ist dabei das Sprachsystem, das den Gebrauch der Sprache, wie schon erwähnt, erst ermöglicht. Und dieses Sprachsystem wiederum wird im sprachwissenschaftlichen Kontext als System von Zeichen aufgefasst248.

247 vgl. ebd.: 12f. 248 vgl. Brügger/Vigsø 2008: 13ff.

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2.1 Linguistische Bezugspunkte seiner Strukturanthropologie

2.1.2 Prinzip der Arbitrarität Gemäß Saussure hat das sprachliche Zeichen, aus dem das Sprachsystem besteht, zwei Kerneigenschaften: Doppeleinheit und Arbitrarität. Das Zeichen besteht demnach sowohl aus einem Signifikat und einem Signifikanten. Aus dieser Bilateralität des Zeichens ergibt sich, dass beide Seiten miteinander verbunden sein müssen um tatsächlich von einem sprachlichen Zeichen im Sinne Saussures sprechen zu können. Dabei ist zu beachten, dass mit dem akustischen Lautbild (Signifikant) nicht etwa der Laut selbst gemeint ist, sondern die Vorstellung, die der Sprecher vom Laut hat, also das innere psychische Bild eines Lautes. Bei der Mehrheit dieser sprachlichen Zeichen ist die Beziehung zwischen dem Bezeichnenden (Signifikant) und dem Bezeichneten (Signifikat) arbiträr oder konventionell in dem Sinne, dass es keinen natürlichen oder kausalen Zusammenhang zwischen der Zeichengestalt und dem Objekt gibt. Arbitrarität bedeutet demzufolge nicht, dass es in die freie Wahl des Sprechers gestellt ist, welche Ausdrücke mit welchen Inhalten assoziiert werden, sondern dass ein Ausdruck nicht durch den Inhalt vorgegeben, sondern zufällig ist. Sie besagt, dass trotz der wechselseitigen Abhängigkeit von Signifikant und Signifikat (Ausdruck und Inhalt), diese Verbindung nichts Naturgegebenens ist. Sie ist vielmehr willkürlich oder arbiträr. Es gibt demnach keinen Grund, warum ein bestimmter Begriff mit einem bestimmten Lautbild verbunden werden muss. Dabei ist willkürlich hier in dem Sinne zu verstehen, dass der Ausdruck in keiner Weise durch den Inhalt bestimmt ist und vice versa auch der Inhalt nicht aus der Form ableitbar ist249. Laut Saussure gibt es in der Arbitrarität aber Abstufungen und daher können Zeichen relativ motiviert sein. Dabei hat es gemäß Saussure durchaus Sinn, dass nicht alle Zeichen willkürlich sind, sondern einige Teile der Sprache die Rolle des relativ Motivierten tragen. Diese bestimmten Teile bringen in die Masse der Zeichen ein Prinzip der Ordnung und Regelmäßigkeit. Die Sprache bewegt sich dabei vom Willkürlichen zum Motivierten, d. h. wir legen uns willkürlich fest und die Begriffe werden zunehmend motivierter. Der Begriff Tisch ist beispielsweise willkürlich gewählt, es hätte auch ein anderer Begriff für diesen Gegenstand gewählt werden können. Das Tischbein jedoch ist motiviert, da dieser Begriff nicht mehr willkürlich gewählt, sondern eindeutig Bezug auf das Wort Tisch nimmt. Oder, um ein Beispiel aus Dem wilden Denken von Lévi-Strauss zu nehmen:

249 vgl. Brügger/Vigsø 2008: 15f.

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2 Von der Unität zur Struktur

„Das lateinische inimicus ist stärker motiviert als das französische ennemi (wo das Gegenteil von ami nicht so leicht zu erkennen ist); und in jeder Sprache sind die Zeichen ungleich motiviert: das französische dix-neuf ist motiviert, das französische vingt ist es nicht. Denn das Wort dix-neuf erinnert an die Ausdrücke, aus denen es zusammengesetzt ist, und andere, die mit ihm verbunden sind.“ 250 2.1.3 Synchronie und Diachronie Auch der Zeitfaktor spielt in den Überlegungen Saussures’ eine wichtige Rolle. Die Sprachwissenschaft kann in zwei unvereinbare Teile aufgespalten werden: Die synchrone Sprachwissenschaft, die sich ausschließlich mit einem Sprachsystem zu einem bestimmten Zeitpunkt befasst und die diachrone Sprachwissenschaft, welche die Entwicklung und Veränderung der Sprache in der Geschichte zurückverfolgt. Das Sprachsystem, das den Sprachgebrauch strukturiert, wird von Saussure also auf zweierlei sich ausschließende Weisen betrachtet. Laut Saussure kann demnach entweder die sprachliche Änderung (Diachronie) oder das, was sich aus eben jener Veränderung ergibt (Synchronie) betrachtet werden, wobei er Letztere als bedeutungstragendere und für seine Untersuchungen vorrangige Achse verstand. Dennoch war Saussure der Meinung, dass beide Zugänge von der Sprachwissenschaft untersucht werden sollten251. 2.1.4 Merkmale des Zeichensystems Eine weitere Differenzierung liegt nun in eben jenem synchronen Sprachzustand und meint die Relation eines einzelnen Zeichens zu allen anderen Zeichen. Die Zeichen werden nicht als einzelne Elemente betrachtet, sondern als Zeichensystem. Für Saussure spielen hier insbesondere drei Merkmale eine wesentliche Rolle: Zum einen der Wert eines Zeichens, zum anderen Unterschiede resp. Gegensätze der Zeichen sowie die syntagmatischen und paradigmatischen Beziehungen der Zeichen zueinander. Der Wert eines Zeichens ergibt sich in der Sprachwissenschaft von Saussure nicht aus dem Zeichen selbst, sondern vielmehr aus seiner Eigenschaft als Teil des Zeichensystems. Nur aus seiner Funktion im Gesamtsystem ge-

250 2013: 183; Hervorh. i. Orig. 251 vgl. Brügger/Vigsø 2008: 16ff.

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2.1 Linguistische Bezugspunkte seiner Strukturanthropologie

winnt das Zeichen an Wert. Dies erläutert Saussure anhand des Schachspiels. Eine Schachfigur hat ihren Wert nicht im Material, denn man könnte statt einer Holzfigur beispielsweise auch eine Figur aus Plastik nutzen. Weiterhin hat eine Schachfigur ihre Bedeutung nur innerhalb dieses strategischen Brettspiels. So ist beispielsweise die Dame außerhalb des Schachspiels, also ohne das Spielbrett, die Schachregeln und die anderen Figuren (Bauern, Läufer etc.), wertlos252. Daraus ergibt sich für den Wert eines sprachlichen Zeichens, dass es „das Ergebnis des gleichzeitigen Vorhandenseins der anderen sprachlichen Zeichen und ihrer Platzierung im System [ist]“253. Somit ergibt sich die Bedeutung oder der Wert des Zeichens nur in seiner Differenz zu den anderen gleichzeitig existierenden Zeichen, da ein Zeichen A das ist, was Zeichen B nicht ist. Hierbei nennt Saussure Unterschiede, wenn jeweils zwei Signifikaten oder zwei Signifikanten miteinander verglichen werden. Von Gegensätzen hingegen spricht er, wenn wir ein Zeichen X als Ganzes in Relation zu einem anderen Zeichen Y betrachten. Das Sprachsystem wiederum besteht aus einem System von Binaritäten254. Die Werte der Zeichen kommen durch zwei Dimensionen zustande: Jedes Zeichensystem wird durch die Bezugnahme auf zwei Achsen definiert – eine horizontale und eine vertikale. Die syntagmatische Struktur meint die lineare, horizontale Verkettung von Einzelelementen zu einer komplexen, sinnvollen Einheit, die einen bestimmten Sinn vermittelt, also die in linearer Abfolge stehenden Elemente. Im Syntagma entsteht der Wert eines Zeichens also aus dem Verhältnis zu den anderen Zeichen, die vorher oder hinterher stehen, wie die Perlen einer Schnur (in praesentia). Die paradigmatische Achse hingegen bezeichnet die vertikale Achse und somit die ersetzbaren Möglichkeiten, sozusagen die Zeichen in Kontrast zu anderen Zeichen. Beim Paradigmatischen (oder Assoziativen) ist vor allem die Dimension des Möglichen resp. Virtuellen im Bewusstsein des Sprechers (in absentia) gemeint255. Somit bilden Syntagmen und Paradigmen das Strukturmuster einer Sprache: In Syntagmen werden Elemente kombiniert, in Paradigmen einander gegenübergestellt. Der Wert des Zeichens ergibt sich dabei aus dem stetigen Zusammenspiel beider Achsen. Bei der Betrachtung der syntagmatischen und paradigmatischen Dimensionen der sprachlichen Zeichen kann bei den Zeichen der paradigmati-

252 253 254 255

vgl. ebd.: 19. ebd.: 19. vgl. ebd.: 19f. vgl. ebd.: 20f.

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2 Von der Unität zur Struktur

schen Achse auch von Metaphern gesprochen werden, also von Ähnlichkeitsbeziehungen. Hierbei wird ein Ausdruck durch einen anderen aus dem Vorstellungsbereich ersetzt, wobei trotzdem eine semantische Ähnlichkeit vorhanden ist. Wohingegen bei der syntagmatischen Achse das Prinzip der Metonymie oder auch Kontiguität greift, also eine symbolische (räumliche und zeitliche) Verbindung, aber keine Ähnlichkeit suggeriert wird. Das Faktum, dass wir heute nicht mehr so sprechen wie vor 500 Jahren, ergibt sich aus der Unveränderlichkeit und Veränderlichkeit des Sprachsystems. So muss das Sprachsystem sowohl eine gewisse Stabilität als auch einen dynamischen Charakter aufweisen. Eine einseitige Entwicklung in eine der beiden Extreme würde dazu führen, dass entweder gar keine Veränderung stattfindet und die Sprache statisch bleibt oder eben dass die Sprache sich ständig ändert und wir einander nicht mehr verstehen könnten. Daher ist das sprachliche System unveränderlich und veränderlich zugleich, was laut Saussure maßgeblich auf drei Faktoren beruht: Arbitrarität, Zeit und sozialer Faktor. Wie bereits erläutert wurde, ist das Verhältnis zwischen Signifikat und Signifikant arbiträr, wobei es auch einige, die Ordnung des Sprachsystems stützende, (relativ) motivierte Verbindungen gibt, die auf vorherrschenden Konventionen im jeweiligen Sprachsystem beruhen. Andererseits gefährdet gerade die Arbitrarität auch die Stabilität des Sprachsystems und lässt eine gewisse Dynamik zu. Dieser ambivalente Charakter der Arbitrarität des Zeichens sichert folglich einerseits die Beständigkeit des Sprachsystems, sorgt aber andererseits auch für Verschiebungen innerhalb der Binarität des Zeichens. Daraus lässt sich erklären, warum wir uns an die sprachlichen Konventionen halten und beispielsweise Frau oder Mann sagen, obwohl es keinen Grund gibt, nicht auch einen anderen Begriff dafür zu verwenden256. Saussure will mit dieser zweiten Komponente, die die Unveränderlichkeit und Veränderlichkeit des Systems beeinflusst, erklären, dass die Zeichen eines Sprachsystems von einer gegenwärtigen Sprachgemeinschaft verwendet und von einer vergangenen Generation übernommen werden. Die zeitliche Facette wirkt sich dahingehend stabilisierend auf das Sprachsystem aus, weil die Sprachbenutzer an das ihnen gegebene Sprachsystem gebunden sind. Auf der anderen Seite jedoch hat der Faktor Zeit auch eine verändernde Wirkung auf das System, wobei bereits bestehende sprachliche Grundlagen erhalten bleiben. Sonach ist das Sprachsystem sowohl der

256 vgl. ebd.: 22.

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2.1 Linguistische Bezugspunkte seiner Strukturanthropologie

Hintergrund als auch die Möglichkeit für sprachliche Erneuerungen. Hierfür wählt Saussure zur Veranschaulichung das Beispiel eines Flickenkleides, welches bedeckt ist von Flicken aus demselben Material, d.h. es wird altes sprachliches Material verwendet, um Neues aufkommen zu lassen257. Auch das Soziale hat einen ambivalenten Einfluss auf das Sprachsystem. Demnach hat das Soziale insofern eine widerstandsfähige und damit sichernde Komponente, da Veränderungen im Sprachsystem zunächst vom Kollektiv akzeptiert und im Sprachgebrauch angewendet werden müssen. Will also ein einzelner Sprachbenutzer oder eine kleine Gruppe eine sprachliche Veränderung im vorherrschenden System bewirken, muss die Sprachgemeinschaft erst überzeugt werden, was freilich nicht immer erfolgreich ist258. Saussure nennt das die „kollektive Trägheit gegenüber jedweder sprachlichen Neuerung“259. Gleichwohl wirkt die Tatsache, dass das Sprachsystem nichts Naturgegebenes, sondern ein soziales Produkt ist, auch mobilisierend auf das Sprachsystem. Gerade aufgrund der individuellen Verwendung der Sprache, die stets neue Beziehungen zwischen Signifikat und Signifikant herstellt, wird das sprachliche System beeinflusst. So liegt zwischen dem Sprachgebrauch und dem Sprachsystem ein reziprokes Verhältnis vor. Dass nun auf Grundlage der strukturellen Sprachwissenschaft der Strukturalismus als geistige Strömung aufkeimt, konnte Saussure nicht wissen. Dennoch deutet er bereits im Cours de linguistique générale den Modellcharakter seiner entwickelten Theorie für andere wissenschaftliche Fachgebiete an: „Man kann sich also vorstellen eine Wissenschaft, welche das Leben der Zeichen im Rahmen des sozialen Lebens untersucht (...); Wir werden sie Semeologie (...) nennen. Sie würde uns lehren, worin die Zeichen bestehen und welche Gesetze sie regieren. Da sie noch nicht existiert, kann man nicht sagen, was sie sein wird.“260

257 258 259 260

ebd. vgl. ebd. ebd. Saussure 1916; 1967: 18; zit. n. ebd.: 26.

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2 Von der Unität zur Struktur

2.2 Anthropologische Anknüpfungspunkte des Strukturalismus von Lévi-Strauss 2.2.1 Lévi-Strauss, Durkheim und Mauss Als 1968 die studentischen Revolten auch auf Frankreichs Straßen begannen, zeigte sich auch die gesellschaftspolitische Wirkung des vor allem durch Lévi-Strauss geprägten französischen Strukturalismus, der der damaligen studentischen Ideologie des Existenzialismus gegenüberstand. Der Kreis um Satre hatte sich von Lévi-Strauss entfernt durch den Schnitt, den er zwischen Mensch und Natur macht. Wie umfassend der Strukturalimus vor allem die französische Gesellschaft polarisierte, zeigt u. a. die Parole der Studenten des Pariser Mais 1968 Strukturen laufen nicht auf der Straße herum261. Zunächst werden einige grundlegende und wegweisende Bezugsstränge der Anthropologie des 19. Jahrhunderts skizziert, um die anthropologische Neuakzentuierung durch Lévi-Strauss besser in den Gesamtkontext einordnen zu können. So stehen Lévi-Strauss und Mauss neben Halbwachs in einer je spezifischen Verbindung zur französischen Schule von Durkheim. Lévi-Strauss führt jedoch auf eine sehr eigenständige Weise das Erbe von Mauss und Durkheim fort – bei aller Distanz, die ihn von Durkheim trennen mag. Während nun Halbwachs vor allem für den Begriff und die Erforschung des kollektiven Gedächtnisses (Das kollektive Gedächtnis, 1939) bekannt war, galt Mauss’ Interesse seiner Theorie der Gabe und der Beobachtung der kulturell verschiedenen Körpertechniken (Die Techniken des Körpers, 1935.). Lévi-Strauss hingegen interessiert sich maßgeblich für die soziale Funktion der Verwandtschaftsstrukturen, ihrer Klassifikationen und Mythen. Er steht damit wie kein anderer in der Anthropologie für den Strukturalismus und bereitete damit zugleich auch das Feld dessen vor, was unter dem Begriff Poststrukturalismus bekannt ist. Um Lévi-Strauss’ Position in der anthropologischen Strömung richtig einordnen zu können, bietet es sich an, vorweg die wichtigsten anthropologischen Etappen nachzuzeichnen, aus denen sich seine Thesen letztlich entwickelt haben. Durkheim leitet anhand seines positivistischen Ansatzes mit den Analysen quantitativer Daten soziale Kategorien und Gesetze ab, was sich beispielsweise an seiner Selbstmord-Studie (Der Selbstmord, 1897) zeigt. Das Soziale bildet für ihn dabei eine eigene Sphäre, daher geht Durkheim von einer spezifischen Sozialphysik für jede Gesellschaft aus und beschreibt da-

261 Assheuer 2008; vgl. Ritter 2008.

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2.2 Anthropologische Anknüpfungspunkte des Strukturalismus von Lévi-Strauss

mit komplexe Gesellschaftsstrukturen, die er in den Mittelpunkt seiner Betrachtung stellt. Mauss wiederum verfolgt Durkheims Programm weiter, in dem er die soziale Sphäre auch in Kategorien einteilt. Durkheim befasst sich jedoch hauptsächlich mit den Kategorien Religion und soziale Arbeitsteilung, während Mauss seinen Fokus auf die Begriffe Gabe, Körper, Technologie und Opfer legt. Im Gegensatz zu Durkheim verzichtet Mauss aber auf eine Definition des Religiösen und auch evolutionistische und essentialistische Bezugspunkte spielen bei ihm keine Rolle mehr. Die Theorie der Gabe von Mauss lässt sich vor allem an drei Aspekten festmachen: Die Verpflichtung zu geben, die Verpflichtung die Gabe anzunehmen und die Verpflichtung der Erwiderung einer Gabe. Jene Reziprozität ist bei Mauss fundamental für den Zusammenhalt einer Gesellschaft. Damit erhebt auch er den Anspruch, universelle Gesetzmäßigkeiten menschlicher Gesellschaften zu beschreiben. Er begründete damit eine Öffnung – weg von der Religionsethnologie Durkheims, hin zu einer breiteren Fundierung gesellschaftlicher Phänomene in allen Lebensbereichen. Mauss versuchte soziale Phänomene in ihrer Totalität zu sehen und zu verstehen. Der Tausch in archaischen Gesellschaften ist nach Mauss eine umfassende gesellschaftliche Tätigkeit, die ein soziales Totalphänomen darstellt und gleichzeitig ökonomische, juristische, moralische, ästhetische, religiöse, mythologische und sozio-morphologische Dimensionen umfasst. 2.2.2 Vom Funktionalismus zum Strukturfunktionalismus bis hin zum Strukturalismus Mauss war wesentlich von Malinowski beeinflusst, v. a. durch Argonauten des westlichen Pazifik (1922). Hierin beschreibt Malinowski einen rituellen Gabentausch mit verzögerter Reziprozität. Die Funktion des Rituals liegt bei ihm darin, die sozialen Beziehungen der von ihm untersuchten Inseln aufzubauen und zu verstärken. Genau jenes Phänomen greift Mauss in seiner Theorie der Gabe letztlich auf, was im Laufe der Entwicklung innerhalb anthropologischer Strömungen kritisch aufgegriffen und weiterentwickelt wurde, u.a. von Lévi-Straus. Dieser verband in Anlehnung an Mauss’ Reziprozitätsthese die Verwandtschaftsforschung mit der Theorie des Tauschs, was er insbesondere am Austauschverhältnis von Frauen zwischen Geber- und Nehmergruppen untersuchte. Lévi-Strauss begreift die von Mauss beschriebene Zirkulation von Frauen, Gütern und Dienstleistungen als Zeichen innerhalb eines umfassenden Tauschsystems, in dem die unbewusste Struktur des menschlichen Geistes zum Ausdruck kommt. Aufgabe

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2 Von der Unität zur Struktur

der von Lévi-Strauss aus der Sprachwissenschaft adaptierten Methode der strukturalen Analyse ist es, dieses kollektive Unbewußte (Durkheim) in einer nicht-utilitaristischen und nicht-naturalistischen Weise zu beschreiben, wie es bspw. bei Malinowski der Fall ist262– was eine schärfere Interpretation des den Menschen gemeinsamen Unbewusstseins ist. Für ihn ist das gesellschaftliche Unbewußte wie eine Sprache strukturiert, die zu entziffern Mauss nicht gelungen ist, weil er noch nicht über die an der modernen Linguistik orientierte Methode des Strukturalismus verfügt hat. Immerhin stimmt Lévi-Strauss Mauss’ Auffassung zu, „daß sich der Austausch (...) weniger in Form von Transaktionen als in der von gegenseitigen Gaben darstellt; zum anderen, daß diese gegenseitigen Gaben in diesen Gesellschaften einen sehr viel wichtigeren Platz einnehmen als in den unseren; und schließlich, daß diese primitive Form des Tauschs (...) nicht in erster Linie einen wirtschaftlichen Charakter trägt, sondern uns mit etwas konfrontiert, das er treffend ein fait social total nennt, eine totale gesellschaftliche Tatsache, d.h. eine Tatsache, die eine sowohl gesellschaftliche wie religiöse, magische wie ökonomische, utilitäre wie sentimentale, juristische wie moralische Bedeutung hat.“263 Doch Lévi-Strauss’ Strukturalismus überwindet die Gabentheorie von Mauss, was vor allem anhand seiner Bezugspunkte, auf die Lévi-Strauss letztlich rekurriert, deutlich wird. In Traurige Tropen (1955) schildert LéviStrauss, welche drei Begegnungen für ihn inspirierend waren264. Zum einen war Marx’ Versuch die unter der gesellschaftlichen Oberfläche bestimmende Basis aufzudecken und dessen Trennung von Erscheinung und Wesen inspirierend265. Zum anderen wurde Lévi-Strauss stark von Freuds Theorie des Unbewusstseins266 und dessen Theorie zum Inzesttabu beeinflusst, auf welche er sich gleichzeitig bezieht und sie überwindet. Zum dritten war für ihn die Geologie prägend, die die Zufälligkeiten einer Landschaft auf ihre Grundstruktur hin untersucht267. Wie in der Geologie enthüllt sich also im Strukturalismus die Realität eines Objekts nicht im Sichtbaren und Bewussten, sondern in Aufdeckung der darunter liegenden, unsichtbaren Schichten, die es ans Licht zu bringen und zu enthüllen 262 263 264 265 266 267

92

vgl. Lévi-Strauss 1965: 75. Lévi-Strauss 1993: 107; Hervorh. i. Orig. vgl. Schiwy 1969: 37. vgl. Amborn 1992: 346; vgl. Lévi-Strauss 2008. vgl. Lévi-Strauss 1977: 222; Lévi-Strauss 1993: 655ff. vgl. Schiwy 1969: 37.

2.2 Anthropologische Anknüpfungspunkte des Strukturalismus von Lévi-Strauss

gilt. Die Realität erscheint somit auch im Strukturalismus als eine unordentliche Landschaft: Felsen, zerklüftete Berge und Gestrüpp. Diese geistige Verbindung zwischen dem Strukturalismus und der Geologie erinnert an die Etymologie des Strukturbegriffs. So leitet sich der Begriff Struktur vom Lateinischen ab: Das Verb struere bedeutet aufbauen, aneinanderfügen, dessen zweites Partizip lautet structum. Der structor bezeichnet den Maurer. Das Substantiv structura meint Zusammenfügung, Ordnung oder Bau. Der Begriff Struktur ist also im Wesentlichen in Bezug auf das Mauerwerk benutzt worden und bezeichnet bis heute in der Architektur das tektonische Gefüge eines Bauwerkes. Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts findet der Begriff in deutschen Lexika dort Verwendung, wo die innere Zusammensetzung eines Systems, etwa in der Gesteinskunde, der Physik oder Chemie, gemeint ist. Alle drei theoretischen Ansätze zeigten Lévi-Strauss somit, dass wirkliches Verstehen darin besteht, einen Realitätstypus auf einen anderen zurückzuführen, da die wahre Realität nicht die offensichtliche ist. Sowohl bei Marx und Freud als auch in der Geologie ergibt sich das bereits erwähnte Problem des Verhältnisses des sinnlich Wahrnehm- (sensible) und des rational Erfassbaren (rationnel), wobei sein Ziel die Integrierung des Ersteren ins Letztere war – ohne dabei etwas der charakteristischen Eigenschaften des Sinnlichen zu opfern268. Somit ist der zentrale Gegenstand der Lehre von Lévi-Strauss die den sozialen Phänomenen zugrundeliegende Ordnung, die strukturierend die äußeren Prozesse bestimmt. Was den Ansatz von Lévi-Strauss nun so interessant macht und sich von den bisherigen anthropologischen Erkenntnissen abhebt, ist seine Verbindung mit der strukturalistischen Methode der Linguistik, mit dessen Hilfe er das Unbewusste und Unerkannte sozialer Erscheinungen sichtbar machen will. Durch Roman Jakobson wurde Lévi-Strauss dahingehend in seinen methodologischen Reflexionen beeinflusst, den linguistischen Ansatz in die Ethnologie zu übertragen269. Denn Lévi-Strauss’ Ziel war die Entdeckung der „Existenz einer unbekannten Größe, die dem Bekannten seine Ordnung gibt, eines Unbewußten, das allem Bewußten Struktur verleiht“270. Für ihn lag die Zukunft der Sozialwissenschaften also in einer Modellanalyse menschlichen Verhaltens271.

268 269 270 271

vgl. ebd. vgl. von Barloewen 2009; Lepenies 2009; vgl. Brügger/Vigsø 2008: 46. Schiwy 1969: 37. vgl. Brügger/Vigsø 2008: 46.

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2 Von der Unität zur Struktur

In der Phonologie, die die Sprache als eine Struktur von Gegensätzen analysiert, gewinnen die einzelnen Teile nur durch das Verhältnis zu anderen Teilen ihre Bedeutung. Diese Methode lässt sich mathematisieren, und aus eben jener Exaktheit erklärt sich die Attraktivität für Lévi-Strauss und seine ethnologische Tätigkeit272. In Die Strukturanalyse in der Sprachwissenschaft und in der Anthropologie zeigt er erstmals exemplarisch anhand verschiedener Verwandtschaftssysteme, worin für ihn die Übertragbarkeit der sprachwissenschaftlichen Methode auf soziale Phänomene gründet. Bereits hier wurde ihm bewusst, dass der Wiederholung bestimmter Verwandtschaftstypen in weit auseinanderliegenden Gebieten eine universelle, unbewusste Struktur zu Grunde liegen muss, die es sichtbar zu machen gilt273. Zwar beziehen sich alle Strukturalisten auf de Saussures sprachwissenschaftliche Lehren, es handelt sich beim Strukturalismus jedoch nicht um eine homogene Denktradition. Vielmehr zählen zum Strukturalismus sowohl eine intellektuelle Modeströmung (Bildende Kunst, Architektur) als auch verschiedene wissenschaftstheoretische Richtungen (Philosophie, Linguistik, Literaturwissenschaft)274. Daher böte es sich eher an, von Strukturalismen zu sprechen. Lévi-Strauss hebt sich nun insofern von den bisherigen strukturalistischen Theorien ab, als er die Bedeutung des methodischen Vorgehens des sprachwissenschaftlichen Strukturalismus für die Anthropologie erkannte und durchgehend zu seiner Leitthese erhob. In der Strukturalanthropologie werden also Strukturen auf der Ebene des Unbewussten gesucht, nicht des unmittelbar Beobachtbaren wie es im (Struktur-)Funktionalimus (Radcliffe-Brown, Malinowski) der Fall ist. Lévi-Strauss trennt somit Form und Inhalt, wohingegen für Funktionalisten das Wesen eines Phänomens auch dessen äußerliche Erscheinung ist. Seine Strukturanthropologie steht auf den zentralen Thesen des Funktionalismus (Malinowski) und Strukturfunktionalismus (Radcliffe-Brown) also methodisch nahe, er überwindet jedoch die funktionalistische Auffassung. Während es im Funktionalismus um die kontextgebundene Betrachtung kultureller Einzelelemente geht und Werte sowie geistige Überzeugungen Funktionen im Dienst des Überlebens der Gesellschaft darstellen, sucht Lévi-Strauss mit seiner nach den kleinsten klassifizierbaren Systemeinheiten, bspw. dem Verwandtschaftsatom, das aus der Kernfamilie besteht, zu der er die Mutter, den Vater, das Kind und den Mutterbruder

272 vgl. Lepenies 2009. 273 vgl. Schiwy 1969: 37, 115. 274 vgl. ebd.; vgl. Amborn 1992: 337.

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2.2 Anthropologische Anknüpfungspunkte des Strukturalismus von Lévi-Strauss

zählt275. Auch im Funktionalismus spielt das Avunkulatproblem eine wichtige Rolle, wenn man etwa an das Gegensatzschema von Radcliffe-Brown denkt. Es meint das Vorrecht des Bruders der Mutter eines Kindes ggü. dessen Vater, v. a. in mutterrechtlichen Kulturen, vom lateinischen avunculus (Mutterbruder). Die Autorität in der Familie wird entweder vom Mutterbruder (Onkel) oder umgekehrt vom Schwestersohn, also seinem Neffen, verkörpert und ausgeübt276. Lévi-Strauss betrachtet in An- und Abgrenzung zu der funktionalitischen Auffassung über die Rolle des Mutterbruders dieses Problem durch Anwendung der phonologischen Methode neu. Er hält das Gegensatzschema von Radcliffe-Brown für eine zu enge und atomistische Auffassung, weil dadurch bestimmte Elemente – in diesem Fall das Avunkulat – aus einer zusammenhängenden Struktur gelöst werden. Zwar behält Lévi-Strauss das Schema von Radcliffe-Brown grundsätzlich bei, er erweitert es jedoch gleichzeitig, indem alle vier für diese Fragestellung relevanten Familienbeziehungen miteinbezieht, die miteinander verbunden und somit ganzheitlich betrachtet werden müssen: Verhältnis zwischen Bruder (Mutterbruder) und Schwester (Mutter des Kindes), zwischen Mann und Frau (Eltern des Kindes), Vater und Sohn sowie dem Onkel (Mutterbruder) und seinem Neffen (Sohn seiner Schwester). LéviStrauss erkennt in diesen Beziehungen eine Struktur aus vier Gliedern (Bruder, Schwester, Vater, Sohn), die untereinander durch jeweils zwei aufeinander bezogene Gegensatzpaare (Bruder/Schwester, Mann/Frau, Vater/ Sohn, Onkel/Neffe) zusammengehalten werden277. Diese Methode entnimmt er der strukturalen Linguistik, die ähnlich wie die Computertechnik mit binären Oppositionspaaren arbeitet und davon ausgehend Strukturmodelle erarbeitete (Saussure, Trubetzkoy, Jakobson) 278. So besteht etwa bei Saussure ein System aus auf Gegensätzlichkeit beruhenden Beziehungen, die (sprachliche) Zeichen miteinander verknüpfen. Die Analyse des Avunkulatproblems führte Lévi-Strauss letztlich dazu, das Verwandtschaftselement (Kernfamilie u. Mutterbruder) zu postulieren279, das einen „urspüngliche[n] und unreduzierbare[n] Charakter“280 aufweist und letztlich eine unmittelbare Konsequenz aus dem universell geltenden Inzestverbot ist281.

275 276 277 278 279 280 281

vgl. Lévi-Strauss 1977: 61; vgl. Amborn 1992: 340. vgl. Lévi-Strauss 1977: 55; vgl. Brügger/Vigsø 2008: 48f. vgl. Lévi-Strauss 1977: 57ff.; vgl. Brügger/Vigsø 2008: 48f. vgl. Amborn 1992: 339ff. vgl. Brügger/Vigsø 2008: 48f.; vgl. Amborn 1992: 341. Lévi-Strauss 1977: 61. vgl. ebd.

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2 Von der Unität zur Struktur

Bei Radcliffe-Brown und Malinowski waren demnach die biologischen Bindungen, also letztlich die Blutsfamilie, der Ursprung und das Modell aller Familientypen282. Lévi-Strauss aber sieht im Verwandtschaftsatom, bestehend aus der blutsverwandten Kernfamilie und dem Mutterbruder, die kleinste gesellschaftliche Einheit, weil sie zwei nicht konsanguine Verwandtschaftsgruppen miteinander verbindet: die Geber- und Nehmergruppe. Die eine Gruppe gibt die Frau, repräsentiert durch den Onkel (Schwesterbruder), die andere Gruppe empfängt die Frau und wird vom Mann resp. Schwager des Schwesterbruders dargestellt. Eben durch jenes reziproke Verhältnis wird bei Lévi-Strauss Gesellschaft konstituiert und deren Erhalt gesichert283. Er sieht im Inzestverbot und dem damit einhergehenden Exogamiegebot folglich ausschließlich soziale Gründe, was sich im Prinzip des Tauschs, das soziale Bindungen festigt, zeigt. Am deutlichsten wird der Unterschied zwischen der funktionalistischen und strukturalistischen Methode und die Überwindung desselben durch Lévi-Strauss aber an den spezifischen Herangehensweisen. Bei Lévi-Strauss stellt das Verwandtschaftselement nur ein Modell und damit lediglich ein Mittel dar, die verborgenen Strukturen sichtbar zu machen. Die Struktur liegt schon vor, sie muss nur noch erkannt werden. Für Lévi-Strauss ist also die Struktur tatsächlich vorhanden, das Modell jedoch ist nur ein erdachtes Konstrukt284. Bei Radcliffe-Brown wiederum ist die Sozialstruktur die direkt beobachtbare tatsächliche, gegenwärtig existierende Beziehung zwischen Angehörigen eines Systems, was durch Abstraktion direkt aus der Empirie fassund ableitbar ist. Lévi-Strauss distanziert sich damit erkennbar von der funktionalistischen Auffassung und der von Radcliffe-Brown nicht vorgenommenen Unterscheidung zwischen sozialer Struktur und sozialen Beziehungen, da Radcliffe-Brown die soziale Struktur auf die Gesamtheit sozialer Bindungen reduziert285. Für ihn sind diese gesellschaftlichen Ordnungssysteme keine faktischen, äußerlich abfragbaren Gesellschaftsstrukturen, sondern die zugrunde liegende verborgene Wirklichkeit: „Das Grundprinzip ist, daß der Begriff der sozialen Struktur sich nicht auf die empirische Wirklichkeit, sondern auf die nach jener Wirklichkeit konstruierten Modelle bezieht.“286

282 283 284 285 286

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vgl. ebd.: 330. vgl. Amborn 1992: 342. vgl. Lévi-Strauss 1977: 301. vgl. ebd.: 330. ebd.: 301; Hervorh. d. Verf.

2.2 Anthropologische Anknüpfungspunkte des Strukturalismus von Lévi-Strauss

Was jedoch beiden anthropologischen Strömungen gemein ist, ist der ihnen entgegengebrachte Vorwurf, ahistorisch vorzugehen – wenn auch mit unterschiedlichen Begründungen. Bei den Funktionalisten gilt die Grundannahme, dass keine Rekonstruktion der untersuchten Gesellschaften möglich ist, da es sich dabei um schriftlose Völker handelt, was eine historische Analyse unmöglich macht. Bei Lévi-Strauss verhält es sich jedoch mit dem Problem des Einbezugs der Geschichte ein wenig anders. Als Lévi-Strauss Mitte der 1930-er Jahre in Brasilien bei den Bororo, einem indigenen Volk im Süden Mato Grossos, mit seinen ersten Feldforschungen begann, fand er eine Gesellschaft vor, die die Zeit abgeschafft zu haben schien. Unsere westliche Welt hingegen betrachtet die Geschichte als Motor des Wandels und Fortschritts. Die mündlichen Überlieferungen über die Welt (Mythen), die charakteristisch für diejenigen Stämme waren, die er während seiner Expeditionen kennenlernte, unterscheiden sich in ihrer Logik zwar von denen der (modernen) Wissenschaft, haben aber dieselbe Wirkung. Der Mythos ist demnach eine ganzheitliche Form der Verständlichkeit, der gleichzeitig all die Fragen beantwortet, die in unserer Gesellschaft zwischen Religion, Wissenschaft, Geschichte und Kunst aufgeteilt sind. Während also in unserer westlichen Zivilisation die Wissenschaft die Vorherrschaft übernommen hat, existiert eine Parallelwelt: die des wilden oder primitiven Denkens. Das wilde Denken besteht aus fühlbaren Materialien (Farben, Gerüche etc.) und versucht in allen sozialen Phänomenen eine Ordnung zu finden, die wiederum aus dem Vorrat an Zeichen in der Natur übernommen wird. Dieses primitive Denken steht bei Lévi-Strauss dem wissenschaftlichen Ansatz in nichts nach – als primitiv deutet er es höchstens in der Hinsicht, dass die Urvölker den Zustand bewahren möchten, den sie als ihren Ursprung betrachten. Lévi-Strauss sieht im Mythos also einen Apparat zur Aufhebung der Zeit, anders gesagt: einen logischen Apparat mit dynamischem Charakter. In den Mythen hebt sich demnach im Kontext der Stammeskulturen die Geschichte selbst auf. Das bedeutet, dass sie zwar Geschichten erzählen, diese aber nur ein zeitloses Muster und die unanfechtbare Begründung für die sozio-kulturellen Verhältnisse des Stammes sind. Indem sie die Ereignisse – durch die der Mensch entstanden ist, der Stamm begründet wurde, die sozialen Institutionen eingerichtet und die Kulturgüter entdeckt wurden – in illo tempore, in die abgeschlossene mythische Vergangenheit verlegen, wird die Zeit gleichsam eingefroren. Diese Gesellschaften definieren sich demnach nicht durch ihre Geschichte, das darf aber nach Lévi-Strauss nicht zwingend dazu führen, dass man sie als geschichtslose Völker beschreibt – wie es die klassische Ethnologie tat. Auch in diesen Gesellschaften vollzogen sich kulturelle Wandlungen, bspw. variiert jeder Erzähler etwas an der Stammesgeschichte, Lebensbe-

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2 Von der Unität zur Struktur

dingungen verändern sich, Stämme beeinflussen sich gegenseitig etc. Entscheidend ist aber das Selbstverständnis einer Gesellschaft, also ob sie sich durch Geschichte definiert oder diese aufzuheben versucht, was LéviStrauss mit den Begriffen heiße und kalte Gesellschaften umschreibt. Mit kalten Gesellschaften werden diejenigen Völker beschrieben, die wenig Unordnung erzeugen und die Tendenz haben, endlos in ihrem Ausgangszustand zu verharren. Das erklärt, dass sie von außen gesehen keine Geschichte und damit scheinbar keinen Fortschritt kennen. Es handelt sich also um Systeme mit geringer Entropie, die nahe am absoluten Nullpunkt der historischen Temperatur funktionieren. Heiße Gesellschaften funktionieren hingegen mit einer Art Potentialdifferenz: der sozialen Hierarchie, die im Laufe der Geschichte den Namen Sklaverei, Leibeigenschaft, Klassenteilung usw. angenommen hat. Sie kennen demnach größere Abstände zwischen ihren historischen Innentemperaturen – Abstände, die den ökonomischen und sozialen Ungleichheiten geschuldet sind287. In den Stammeskulturen besteht demnach die Tendenz, Ereignisse so in die Mythen zu integrieren, dass sie nicht als Wegmarken eines erwünschten Wandels erscheinen, sondern zu einem seit der mythischen Urzeit bestehenden Zustand umgedeutet werden, der zur Norm der sozialen Verhältnisse wird. Auch die von Erzählern erzeugten individuellen Varianten führen nicht zu eigentlichen Neuschöpfungen. Denn gerade weil Mythen mündlich tradiert und somit im Gedächtnis behalten werden müssen, greifen die Erzähler auf ein standardisiertes Inventar zurück, auf kombinatorische Bausteine verbaler Formeln und rhetorischer Muster (Bastelei). Insgesamt geht es also in den sog. kalten Gesellschaften um eine Bewahrung der Struktur, nicht um eine Verweigerung der Geschichte. Ziel muss es nach Lévi-Strauss sein, die Geschichte zu Gunsten einer strukturellen Korrellierung aufzulösen und sie aus der ereigniszentrierten Denkweise herauszulösen, da die Geschichte nur ein Abbild darstellt, in dem es jedoch gilt, aus Strukturen heraus zu denken. Es geht dem Bastler infolgedessen nicht um eine beliebige Neuanordnung von Elementen, also um die ordnende Tätigkeit an sich, sondern seine Bastelei ist vielmehr um die Verwirklichung eines Projektes organisiert, welches zur Lösung eines Problems beiträgt, das wiederum in einem spezifischen kulturellen Kontext auftaucht. Die Bastelei kommt also als Problemlösungsverfahren in den Blick, durch das die Tätigkeit motiviert ist oder durch das sie zumindest rückblickend einen Sinn erhält, der ihre oft bizarren Ergebnisse erklärt, und durch das ihr Produkt Bestand hat und in einer Kultur in Umlauf gebracht werden kann.

287 vgl. Lévi-Strauss 2012: 86ff.

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2.2 Anthropologische Anknüpfungspunkte des Strukturalismus von Lévi-Strauss

Lévi-Strauss veranschaulicht den mythopoetischen Charakter der Bastelei in Das wilde Denken am Beispiel des seltsamen Vorstadtschlosses des Mr. Wemmick aus Charles Dickens Große Erwartungen. Mr. Wemmick hat demnach als Bastler die syntagmatischen Gesamtheiten Burg und Villa, die aus Elementen syntagmatischer Ketten bestehen, deren Glieder in einer Kontiguitätsbeziehung stehen, einer Beziehung die durch räumliches und zeitliches Nebeneinander hergestellt wird und die er auch als metonymische Beziehung (Wirklichkeitserfassung) bezeichnet, zerschlagen resp. demontiert und die so erhaltenen Elemente der syntagmatischen Ketten Villa und Burg in eine paradigmatische Beziehung gesetzt, die Lévi-Strauss auch als eine metaphorische Beziehung (Ähnlichkeitserfassung) bezeichnet. Die Elemente werden hier durch Analogiebeziehungen miteinander verbunden, während die syntagmatischen Ketten durch metonymische Beziehungen zusammengehalten werden. Mr. Wemmicks Bastelei bringt nun Reste syntagmatischer Ketten für die Burg (Wassergraben, Zugbrücke, Lebensmittelreservoir) und für die Villa (Bassin, Freitreppe, Salatbepflanzung) in eine metaphorische Beziehung, mit dem Ergebnis, dass er sein Haus sowohl als Villa wie als Burg bezeichnen kann, und dass Bassin und Wassergraben, Freitreppe, Lebensmittelreservoir etc. zu austauschbaren Bezeichnungen werden: Das eine kann für das andere stehen. Diese neuen Verbindungen führen nun dazu, dass das entstandene Gebilde weder Burg oder Schloss noch Villa ist. Es müssen also Übergänge und Vermittlungsformen gefunden werden, um den Widerspruch aufzulösen, der entstünde, wenn in einer üblichen Vorstadtvilla eine Kanone abgefeuert würde. Denn das Kanonenfeuer ist an die Idee einer wehrhaften Burg gebunden und erschiene im Kontext einer Vorstadtidylle unpassend und widersinnig. Die Möglichkeit des Kanonenfeuers ergibt sich erst aus der Lösung eines intellektuellen Problems, die durch eine Organisation von Sinn erfolgt, die der Bastler mittels der Reorganisation der Beziehungen bedeutungstragender Elemente erreicht. Um die Bastelei nun als Tätigkeit einer kulturellen Vernunft zu verstehen, wird dieser Bezug der Bastelei auf ein Problemlösungsverfahren relevant, in welchem die Möglichkeit neuer kultureller Praktiken unlösbar mit ihrer Denkbarkeit, ihrer intellektuellen Vorbereitung, verbunden ist, die Lévi-Strauss immer wieder in den Vordergrund stellt. Anders gesagt: Das Kanonenfeuer wird erst dann möglich, wenn es nicht als unpassend erscheint, sondern einer gewissen Logik folgt, die der Bastler durch eine Veränderung der Rahmenbedingungen herstellt. Die Ergebnisse der Bastelei, die als intellektuelle Operation Mythen ebenso erzeugt wie magische Praktiken oder Rituale, also kulturelle Institutionen oder Praktiken (Exogamie, Speiseverbote etc.), haben demnach kulturbedingte und kulturbedingenden Charakter. Das heißt, sie sind als Antworten auf Probleme

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2 Von der Unität zur Struktur

lesbar, die kulturellen Ursprungs sind und die mit kulturellen Mitteln gelöst werden. Es geht also nicht um eine bloße Ordnung, sondern um eine Erzeugung von Sinn in allgemeiner Hinsicht, nicht aus moralischer Perspektive288. 2.2.3 Besonderheiten des Strukturalismus „Das Verfahren ist nämlich im allgemeinen nicht nur vor der Öffentlichkeit geheim, sondern auch vor den Angeklagten (...) Die Rangordnung und Steigerung des Gerichtes sei unendlich und selbst für den Eingeweihten nicht absehbar (...) Das einzig Richtige sei es, sich mit den vorhandenen Verhältnissen abzufinden (...) Einzusehen versuchen, daß dieser große Geschichtsorganismus gewissermaßen ewig in der Schwebe bleibt und daß man zwar, wenn man auf seinem Platz selbständig etwas ändert, den Boden unter den Füßen sich wegnimmt und selbst abstürzen kann, während der große Organismus sich selbst für die kleine Störung leicht an einer anderen Stelle – alles ist doch in Verbindung – Ersatz schafft und unverändert bleibt (...).“289 Diese Stelle aus Kafkas Prozess könnte man als eine literarische Versinnbildlichung von Lévi-Strauss’ Strukturalismus ansehen: Hinter dem Rücken und unterhalb des Bewusstseins der Akteure liegt die Struktur, die ihr Verhalten bestimmt. Die Struktur ist ein unabsehbares Ganzes von Bezügen, das auf von außen kommende Ereignisse so reagiert, dass sie diese ihrer Organisation anpasst und selbst unverändert bleibt. Man kann sich begrenzte Ausschnitte ihres Wirkens bewusst machen, sie verweisen aber wieder nur auf neue, sich entziehende Elemente und Relationen, die potentiell unendlich sind. Lévi-Strauss kämpfte zeitlebens für Kulturen im Bewusstsein ihrer unaufhebbaren Verschiedenheit. Das strukturalistische Grundparadigma in seinem Sinne liegt zusammenfassend im Aufdecken und Beweisen der „Allgemeingültigkeit mentaler Strukturen und die Gemeinsamkeit menschlichen Denkens auf der Strukturebene“290. Diese glaubt LéviStrauss nicht nur in der Sprache zu erkennen. Vielmehr richtet er den Fokus erstmals auch auf andere kulturelle Phänomene, wie etwa Verwandtschaftssysteme, die seiner Ansicht nach auch Zeichensysteme darstellen

288 vgl. Lévi-Strauss 2013: 30; 175ff. 289 Kafka 2006, Kap. 7, 201. 290 Amborn 1992: 353.

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2.2 Anthropologische Anknüpfungspunkte des Strukturalismus von Lévi-Strauss

und nach deren zugrunde liegenden Strukturen er forscht. Lévi-Strauss’ leitende Fragestellung lautet demnach: Wie funktioniert soziales und geistiges Leben und welchen Ordnungsprinzipien gehorcht es291? Hierbei ist die Kernthese seines Strukturalismus, dass die Form, in der wir uns bewegen, nur aus Differenzen der Glieder dieses Systems resultiert. Das System fängt zunächst damit an, eine Trennlinie zwischen binäre Oppositionspaare zu ziehen (heiß/kalt, Mann/Frau, Geburt/Tod, kollektiv/individuell usw.). Demnach folgen wir einem System, das sich aus der gemeinsamen korrelierten Bezugnahme aus seinen Gliedern ergibt. Dem liegt jedoch keine natürlichkausale Ursache zu Grunde, die uns dieses System vorgibt – es ist nichts anderes als das Geflecht der Differenzen, das uns dieses System nahelegt. Das Identitätsprinzip einer Gruppe kann man also nur feststellen, in dem man die Gruppe resp. ihr System als Parallele und Korrespondenz zu anderen Gruppen resp. Systemen auffasst. Nur die Differenz erklärt den Unterschied zwischen der einen und der anderen Gruppe. Was die Position von Lévi-Strauss so besonders macht, ist, dass er die bisherigen Thesen der klassischen Ethnologie kritisiert. Er sieht deren Fehleinschätzung darin, dass sie die Form in metaphorischem Sinn an einen bestimmten Inhalt knüpfen wollen. So versucht die traditionelle Ethnologie bestimmte Transformationen, bspw. die Existenz von Speise- oder Fortpflanzungsverboten, aus einer Verknüpfung heraus zu erklären, die zwischen den verbotenen Gegenständen und bestimmten Lebenswirklichkeiten dieser Menschen besteht. Diese Assoziation ist hergestellt worden durch die Vorstellung, dass man die Natur durch die Einhaltung bestimmter Verbote bannen könnte. Jene Phantasie setzt die klassische Ethnologie (Frazer) in Verbindung mit ihrer eigenen Lebenswirklichkeit, was dem Versuch gleichkommt, die Eingeborenen totemistischer Gesellschaften als Träger eines kindlich-naiven Naturverständnisses zu betrachten. Somit ist die Auffassung dieser Ethnologen, dass ein unmittelbares natürliches Bedürfnis in bestimmten, durch Phantasie vermittelten, Formen in einen kulturellen Mechanismus übersetzt werden kann. Die klassischen Ethnologen haben folglich – nach LéviStrauss fälschlicherweise – geglaubt, dass sie im Verhältnis eines Stammes zu der symbolischen Größe, zu der er sich definiert, eine Erklärung für das Verhalten und die Daseinsweise dieses Stammes herleiten können. Lévi-Strauss hält nun der totemistischen Auffassung der traditionellen Ethnologie entgegen, dass nur wichtig ist, dass man diese Strukturen, die diese Wesen miteinander verbinden, auf die Gesellschaft anwenden und auch wieder zurück anwenden kann. Die klassische Ethnologie blendet,

291 vgl. ebd.: 337.

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2 Von der Unität zur Struktur

gemäß Lévi-Strauss, das kulturelle Bedürfnis der primitiven Gesellschaften aus, indem man es zu einem Vergleich der kulturellen Praktiken gar nicht erst kommen lässt, sondern sofort das natürliche Bedürfnis an die Erklärungsstelle setzt. Frazer schließt beispielsweise aus den Gelüsten schwangerer Frauen, die er aus seiner Umgebung kennt, auf eine universale Bedürfnisstruktur der ganzen Menschheit. Hierfür erbringt Lévi-Strauss ein halb empirisches, halb hypothetisches Gegenargument292 und stellt in Frage, warum man unbedingt eine natürliche Basis zur Erklärung eines Verbotes sucht, das auf der kulturellen Ebene bereits eine deutliche Erklärung hat. Vielmehr verhält es sich nach Lévi-Strauss so, dass es zum einen die Wirklichkeitsstruktur gibt, die durch ein Totem-Tier gebildet wird, zum anderen eine Verhaltensstruktur, die durch die Verehrung und Pflege des Tieres hergestellt wird. Der dahinter liegende Intentionszusammenhang ist der Wiedergeburtswunsch und das Einflussnehmen auf die Natur. Diese Verbindung zwischen diesen Größen leistet im Totemismus das Symbol (Tierart). Somit kann zusammenfassend gesagt werden, dass Lévi-Strauss die für den Übergang von der Natur zur Kultur entscheidende Leistung des Menschen in der Ablösung und Transformation natürlicher Strukturen durch ihre symbolische Verwendung für soziokulturelle Zusammenhänge sieht. Im dritten Kapitel seines Wilden Denkens293 geht es vor allem um eben jenen Transformationsprozess. Hier akzentuiert Lévi-Strauss nochmals den Kernpunkt, der von Anfang an markiert wurde, nämlich, dass die Transformation die spontane, freie, wenn auch kollektive, Leistung des Menschen ist, die man nicht aussparen darf, wenn man nicht sozialdeterministisch argumentieren will. Im Gegenteil, es ist gerade umgekehrt: Das Weltbild wird ausgewertet und transformiert, um die Sozialordnung zum Gegenstand der Verständigung und auch der Beschreibung (Codierung) machen zu können. Die Transformation verbindet also zum einen die Ansicht, dass die Natur ein Strukturalisierungspotenzial enthält und zum anderen, dass eine Gesellschaft die hierfür grundlegende Strukturierungsleistung in ihren Institutionen schafft und diese reflektiert. Dabei ist vor allem der erste Absatz zu Beginn des dritten Kapitels des Wilden Denkens nochmals eine systematisierende Zusammenfassung der zentralen Inhalte aus dem zweiten Kapitel, in dem es vor allem darum geht, was geschieht, wenn man die natürlichen, menschlichen Klassen auf das soziale Material anwendet. Die Antwort auf diese Frage zeigt sich exemplifiziert an einer vorangehenden

292 vgl. Lévi-Strauss 2013: 96. 293 vgl. ebd.: 92ff.

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2.2 Anthropologische Anknüpfungspunkte des Strukturalismus von Lévi-Strauss

Abbildung294, aus der ersichtlich wird, dass die Toten eines Stammes in einer ganz bestimmten Richtung begraben werden. Jenes Schema, das die Ausrichtung der Bettung der Toten darstellt, zeigt, dass man die Stammesmitglieder bestimmten Teilen des Stammes zuordnet. Man systematisiert die eigene Gesellschaft und bringt so eine Gliederung hinein. Die eigentliche Transformationsleistung ist demnach, zu strukturieren, wer welchem Teil des Stammes angehört, wer mit wem verwandt ist und dadurch indirekt, wer in Austausch mit wem zu treten hat. Es handelt sich bei der Transformationsleistung folglich um einen Code, mit dem es gelingt, die unübersichtliche Gruppe, die einen einzelnen Menschen umgibt, zu ordnen. Jeder Mensch ist in zahllosen Ordnungsbeziehungen mit anderen Menschen in Verbindung und jeder, der uns begegnet, ist in einer ganz bestimmten Funktion tätig. Wir bringen all die Menschen mit ihren verschiedenen Beziehungen zusammen, in denen wir zu ihnen stehen, die ihr Verhalten für uns erkennbar und ordenbar machen. Das Pendant in der Soziologie ist im weiteren Sinn die Rollenverteilung. Eine entscheidende Vorraussetzung ist, dass man die Rolle eines Jeden zur Kenntnis nimmt und in Beziehung zu anderen setzt. Lévi-Strauss betont von Anfang an, dass die Abstände wichtig sind, die Unterscheidung zwischen den Rollen, und weniger die inhaltlichen Gemeinsamkeiten. Die Menschen suchen nach Systemen. Sie brauchen Klassifikationssysteme, um soziale Systeme zu markieren und mitteilen zu können. Und der Weg von einem zum anderen, genau das ist die Transformation, die Lévi-Strauss als eine Art Raster denkt und beschreibt, ähnlich wie eine Drehscheibe mit Löchern, die auf die ungeordnete Vielfalt von Wesen auflegt wird, welche geordnet werden und in ein verhaltenssteuerndes Sozialsystem gebracht werden muss, sodass wir durch unsere Funktionen wissen, was wir zu tun und wie wir unser Leben zu organisieren haben. Die Pointe der konkreten Logik ist dabei, dass das Raster als solches selbst etwas Konkretes ist (Tag/Nachtwechsel, Schmerz/Lust, roh/gekocht, warm/kalt). Das System der Rollen in der konkreten Logik bildet also nicht eine zu Grunde liegende oder gegenüberstehende Objektgröße ab. Zentral im strukturalistischen Denken ist demnach, nicht nach Dependenzen und Kausalitäten zu suchen, sondern nach Entsprechungen und Mustern295. Die Argumentation der Strukturalisten ist demnach, dass das Nebeneinander von zwei Systemen die wichtigere Verständnisquelle als eine kausale Ableitung ist.

294 vgl. ebd.: 74. 295 vgl. ebd.: 97.

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2 Von der Unität zur Struktur

Das Credo von Lévi-Strauss ist, dass sich im Vergleich der Kulturen die Unterschiede ähneln, nicht die Ähnlichkeiten. Er verstand seine strukturale Anthropologie in diesem Zusammenhang stets als Kritik an der modernen Denkweise und hatte die Absicht, alternative, primitive Welten und Lebensformen sichtbar zu machen. Seine zentrale Frage, die sich durch sein gesamtes Werk zieht, ist: Kann die Anthropologie, da sie alternative Gesellschaftsmodelle und einen anderen Umgang mit der Natur untersucht, neue Erkenntnisse bringen? Für seine anthropologische Aufklärung zieht LéviStrauss beispielsweise das Familienleben heran. Lévi-Strauss hat damit einen großen Teil zur Bildung des Humanismus beigetragen. Die Strukturanthropologie kann daher als ein Höhepunkt der Kulturanthropologie des späten 19. und des frühen 20. Jahrhunderts gesehen werden, da die strukturanthropologische Denkweise zu einer Neuausrichtung der Ethnologie führte. 2.2.4 Der normative Aspekt im Strukturalismus Bevor nun im Folgenden auf Butler eingegangen wird und sich spätestens dort die Frage des normativen Anspruches philosophischer Kritik zu gesellschaftlichen Entwicklungen stellt, soll diese Problematik an dieser Stelle zumindest angedeutet werden – letztlich um auch Butlers Kritik am Strukturalismus besser einordnen zu können. Grundsätzlich muss man den Strukturalismus aus seiner Entstehungszeit heraus verstehen. Nur mit Beachtung dieses Kontextes wird klar, dass Lévi-Strauss sozusagen als eine Gegenantwort zum späten, marxistischen Satre zu lesen ist und Lévi-Strauss nicht den Anspruch erhebt, aus der Geschichte Normen abzuleiten. Als eine Art indirekte Positionierung zu dem ihm auch von Butler unterstellten naturalistischen Fehlschluss kann insbesondere das letzte Kapitel des Wilden Denkens dienen296. Hier wird hinsichtlich der Frage der Normativität nochmals erkennbar, dass er die Grundstruktur der Anthropologie in den archaischen Gesellschaften zu finden glaubt und er daher dezidiert diese Völker beschreibt. Lévi-Strauss ignoriert dabei aber keinesfalls die historische Komponente – was schon seine Einteilung in warme und kalte Gesellschaften zeigt – vielmehr leitet er aus der Geschichte Handlungsorientierungen ab. Das heißt, wir können von den primitiven Gesellschaftsformen etwas lernen indem wir sie studieren und wir in der Sprache als Zeichensystem den Grundtyp jeder ganz296 vgl. Lévi-Strauss 2013: 282ff.

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2.2 Anthropologische Anknüpfungspunkte des Strukturalismus von Lévi-Strauss

heitlichen Organisation der Wirklichkeit betrachten. Dabei hat sein strukturalistischer Ansatz aber keinen normativen Charakter, da Lévi-Strauss nicht vom Sein auf Sollen schließt. Dies wirft ihm unter anderem Butler etwas zu voreilig vor und man könnte gar sagen, dass beide, Lévi-Strauss und Butler, aneinander vorbeireden. Im vorliegenden Rahmen kann dieses konfliktträchtige Spannungsverhältnis jedoch nicht aufgelöst werden. Diese beiden Positionen miteinander zu versöhnen, würde eine eigenständige Untersuchung erfordern.

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3 Butler’s Claim – Einflüsse, Thesen und Auswirkungen ihrer Gender-Theorie

Die Formulierung dieser Kapitelüberschrift spielt auf Butlers Werk Antigones Verlangen: Verwandtschaft zwischen Leben und Tod (2001) an, das in der englischen Version weitläufig unter Antigone’s Claim: Kinship Between Life and Death bekannt ist. Der Originaltitel lautet jedoch Politics and Kinship. Antigone for the Present. Mit dieser Assoziierung soll ihre Forderung/Klage nach einer neuen Ausrichtung des traditionellen Feminismus sowie ihre Impulsgebung das Geschlecht jenseits identitärer Fixierungen zu denken, aufgegriffen werden. Das englische Wort claim kann mit Forderung, Behauptung, Anspruch, Klage oder Verlangen übersetzt werden. Die Vielschichtigkeit des Wortes claim ist in diesem Kontext bewusst gewählt, weshalb sich nicht auf eine Übersetzung festgelegt werden soll. 3.1 Butler’s ethischer Imperativ – biografische Notizen Butler sieht vor allem aufgrund ihres biografischen Hintergrundes als Jüdin und Homosexuelle im Scheitern einer Assimilation und des damit verbundenen Wunsches, einer vorherrschenden Norm zu entsprechen, einen interessanteren Ansatzpunkt als in einer gelungenen Anpassung. Daher geht es ihr in Das Unbehagen der Geschlechter (1990) maßgeblich darum, das Streben von Minderheiten hegemonialen Werten, Verhaltensstandards und Normen zu entsprechen, in gewisser Weise nachzuvollziehen. Bereits in jungen Jahren kam Butler mit der Philosophie, insbesondere mit Spinoza, in Berührung. Über Spinozas conatus sagt sie, dass sie darin die Vorstellung fand, dass „ein bewusstes und ausdauerndes Wesen auf Reflexionen seiner selbst emotional reagiert, je nachdem ob diese Reflexion eine Verringerung oder Steigerung der eigenen Möglichkeiten zukünftigen Beharrens und Leben bedeutet“297. Doch das Wesen hat nicht nur das Begehren in seinem eigenen Sein zu beharren, sondern es begehrt auch in einer Welt zu leben, die dieses Beharren reflektiert und möglich macht298. Erst in späteren Jahren erkennt Butler, dass die Lehre Spinozas für sie prägend sein sollte, vor 297 ebd.: 372. 298 vgl. ebd.

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3.2 Performative Theorie des Geschlechts

allem als sie sich mit Hegels Begehren und Anerkennung in seiner Phänomenologie des Geistes beschäftigt. In Spinozas conatus erkennt sie einen „frühmodernen Vorläufer von Hegels Behauptung, dass Begehren stets das Begehren nach Anerkennung ist und dass Anerkennung die Bedingung für ein Leben ist, welches fortgesetzt und bewältigt werden kann“299. Und genau um diese Anerkennung geht es durchweg in Butlers Schriften. Dieser „ethische Imperativ“300 durchzieht ihr Œuvre und Leben, und besteht darin, gegen jedweden (gesellschaftlichen) Zwang einzutreten. Dies wird vor allem sichtbar an ihrem Einsatz gegen Gewaltverhältnisse jeglicher Art, die bei Butler aus der Einteilung in bestimmte Identitäten (Frau/Mann, homosexuell/heterosexuell, Jude, Palästinenser, Türke etc.) folgen. Zweifelsohne gilt ihr – theoretisches und politisches – Interesse der Kritik an Identitätspolitiken, die Butler mit einem starken Unbehagen an deterministischen Zuschreibungen in Verbindung bringt, das sich vor allem auf ihre persönlichen Erfahrungen bezieht. Insbesondere nach ihrer Foucault-Lektüre widmete sie sich in den 1980er-Jahren dem Verhältnis von Philosophie und Politik301. Butler fragte sich, „ob sich aus feministischer Philosophie etwas Interessantes und Wichtiges machen ließe, vor allem ein philosophischer Ansatz zur Genderfrage“302. Aus diesem Vorhaben entstand schließlich Das Unbehagen der Geschlechter, in dem sie erstmals ihre performative Theorie des Geschlechts formulierte – deren Umsetzung sie nachdrücklich auch auf politischer Ebene fordert303. Sie bezieht dabei den ethischen Imperativ auf die Kritik an der Gewaltförmigkeit von geschlechtlichen Identitäten und trägt somit maßgeblich dazu bei, Geschlechtlichkeit und Subjekt-Sein neu zu denken und politisieren. 3.2 Theoretische Bezugsstränge und feministische Einordnung ihres Performanzmodells In ihrer Argumentation zu Geschlecht und geschlechtlichen Identitäten als machtvolle Konstruktionen bedient sich Butler mehrerer multidisziplinärer Theorieansätze: Feministische Theorien (de Beauvoir, Kristeva, Rubin, Rich, Wittig, Irigaray), Sprachtheorie (Austin, Derrida), Psychoanalyse (Freud, Lacan) sowie der Macht- und Diskursanalyse (Foucault, Hegel). In299 300 301 302 303

ebd.: 372. Ludwig 2012: 18. vgl. Butler 2015: 372ff.. ebd. vgl. Butler 2014: 21.

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3 Butler’s Claim – Einflüsse, Thesen und Auswirkungen ihrer Gender-Theorie

dem sie all diese Theoriestränge verbindet, gelingt es ihr, ein Instrumentarium bereitzustellen, um Körper, Geschlecht und Subjekte als innerhalb eines Machtgefüges hervorgebracht zu denken, das Butler als heterosexuelle Matrix bezeichnet. Im Zuge der feministischen Kritik an Gesellschaft und Machtverhältnissen ist es zu einer von den Aktivisten gewollten Trennung von biologischem Geschlecht und sozial konstruierten Geschlechterrollen gekommen. Durch diese Differenzierung soll die Normierung der Rollenzuschreibung, insbesondere für Frauen, sichtbar gemacht und aufgezeigt werden, dass Frau-Sein kein biologisches Schicksal ist. Seit der Zweiten Frauenbewegung gilt es für Feministen als gegeben, dass man nicht als Frau geboren wird, sondern vielmehr im Laufe des Lebens zu einer gemacht wird (de Beauvoir). Die normativen Geschlechterrollen stellen also Konstruktionen dar, die der Aufrechterhaltung patriarchaler Machtverhältnisse dienen. Es war aber stillschweigende Voraussetzung, dass die Gesellschaft auf der Zweigeschlechtlichkeit von Frauen und Männern basiert. Butler hat die Diskussion zu sex und gender neu eröffnet, indem sie das vordiskursive biologische Geschlecht in Frage stellt. Sie geht einen Schritt weiter als der traditionelle Feminismus, indem sie den Unterschied zwischen sex und gender unterläuft. So gilt bei Butler auch der anatomische Geschlechtskörper als gesellschaftliche Konstruktion, die Geschlechtskörpermaterialität ist demnach das Ergebnis eines diskursiven Prozesses304. Ihre Leitfrage lautet: Was, wenn auch das biologische Geschlecht konstruiert ist und es tatsächlich kein Original gibt? „Ja, möglicherweise ist das Geschlecht (sex) immer schon Geschlechtsidentität (gender) gewesen, so daß sich herausstellt, daß die Unterscheidung zwischen Geschlecht und Geschlechtsidentität letztlich gar keine Unterscheidung ist.“305 Butler analysiert die Reproduktion der Geschlechterverhältnisse in einer Weise, die nicht an der Reifizierung zweigeschlechtlicher Deutungsmuster scheitert, indem die fortwährende Ausdifferenzierung und Re-Formulierung der Hierarchien zwischen den beiden Geschlechtern im Analyseprozess selbst mitreflektiert wird. Butler grenzt sich damit in entscheidenden Punkten vom traditionellen Denken der Geschlechterverhältnisse der Differenz- respektive Gleichheits- und radikalfeministischen Ansätze ab. Gleichheitstheorien, die sich auf eine humanistische, aufklärerische, im

304 vgl. Kuster 2010: 478. 305 Butler 2014: 24; Hervorh. i. Orig.

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3.2 Performative Theorie des Geschlechts

weitesten Sinn liberale Tradition berufen, insistieren auf eine prinzipielle Gleichheit der beiden Geschlechter auf Grundlage der gemeinsamen Zugehörigkeit zu einer menschlichen Natur. Die Geschlechterdifferenz wird primär als Resultat gesellschaftlicher Unterdrückung und Benachteiligung von Frauen interpretiert. Allerdings basiert die Idealvorstellung von sich in ihrer Differenz gleichwertig gegenüberstehenden Geschlechtern auf einer klaren Ausrichtung am männlichen Subjektideal und dessen historisch und kulturell gefestigten Fähigkeiten und Verfügungsgewalten. An dieser universalisierten Persönlichkeitsnorm orientieren sich die liberalen Individuen. In den differenzfeministischen Ansätzen wiederum wird eine grundsätzliche Aufwertung der Andersartigkeit des weiblichen Prinzips gegenüber dem männlichen angenommen. Die essentielle Weiblichkeit stellt hierbei einen selbstevidenten Erfahrungswert dar, der besonders für die Subjektund Identitätskonstituierung eine fundierende Funktion hat. Butler kritisiert daran, dass der Ausgangspunkt einer so idealisierten Weiblichkeit weiterhin die asymmetrisch angeordnete Opposition männlich/weiblich ist und somit auch der Differenzfeminismus einem androzentrischen Dominanzmuster folgt. Die Gender-Theorie hebt sich aber von allen feministischen Ansätzen ab, da der traditionelle Feminismus von einer realen, unproblematischen Existenz weiblicher und männlicher Körper und einer diese Körper tragenden und bestimmenden geschlechtlichen Identität ausgeht, wobei es nur zwei geschlechtlich bestimmte Identitäten geben kann. Die damit verbundene Heterosexualität als zwanghaftes Prinzip der gesellschaftlichen Ordnung wird gemäß Butler nicht in Frage gestellt. Butler legt das Hauptaugenmerk ihrer Untersuchungen daher auf die Bedeutung und Konstruktion von Geschlecht vor dem Hintergrund jeweiliger Diskursbedingungen sowie im Kontext unterschiedlicher Machtverhältnisse und normativer Idealisierungen, wie bspw. der Zwangsheterosexualität. Dabei arbeitet sich Butler mit ihrer dekonstruktivistischen Kritik am traditionellen Feminismus vor allem an den Thesen Wittigs, Kristevas und Irigarays ab: Mit ihrer Aussage Lesben sind keine Frauen ist Wittig in die feministische Geschichte eingegangen. Indem sie Heterosexualität als politisches System kritisiert, eines Systems, dem Lesben sich verweigern (müssten), hat sie den Mythos Frau verworfen. Denn eine Frau, so erklärt sie, ergebe lediglich in heterosexuellen Denk- und Ökonomiestrukturen einen Sinn. Gleichzeitig wandte sie sich gegen die Feminisierung der Sprache, weil Geschlechterkategorien auch hier aufzuheben seien. Butler diskutiert im ersten Kapitel in Das Unbehagen der Geschlechter v.a. die These Wittigs, dass „,das Weibliche’ das einzige Geschlecht [ist], das in einer Sprache, die das Weibliche

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3 Butler’s Claim – Einflüsse, Thesen und Auswirkungen ihrer Gender-Theorie

und das Sexuelle verschmilzt, repräsentiert wird“306. Im dritten Kapitel widmet sich Butler der „,Desintegration’ der kulturell konstituierten Körper“307, da Wittig der Ansicht war, dass auch die Frau nur als eine „Folgeerscheinung des hegemonialen Begriffsschemas zu verstehen ist“308. Bevor aber nun tiefer auf Butlers Gender-Theorie eingegangen wird, ist zunächst zu erläutern, was genau unter dem Dekonstruktivistischen Feminismus respektive Postfeminismus zu verstehen ist, der die feministischen Grundorientierungen von Nave-Herz komplementiert. Dekonstruktivistischer Feminismus/ Postfeminismus Gemeinsam ist allen postmodernen Positionen, die von diskurs- und sprachtheoretischen bis hin zu konstruktivistischen Ansätzen reichen, die Überzeugung, dass die gegenwärtigen westlichen Gesellschaften einen Transformationsprozess durchlaufen, der einschneidende Auswirkungen auf die Form der Sozialintegration, auf Subjektivität, auf Wissensproduktion und auf die politische Verfassung einer Gesellschaft hat respektive haben kann. Nach Villa lassen sich drei zentrale Grundgedanken postmodernen Denkens festmachen: Kritik an einer Universaldeutung der Geschichts- und Gesellschaftsordnung, Subjekt als prozesshafte und instabile Größe, Ablehnung normativer Letztbegründungen, v.a. im politischen Kontext 309. Postmoderne Perspektiven bevorzugen also eine situierte, kontextgebundene, relative und historisch kontingente Verortung des Denkens. Somit wirkt sich postmodernes Denken auch unmittelbar auf den Stellenwert und den Wahrheitsgehalt von Wissenschaften aus: Nicht Erkenntnis und Wahrheit sind verbündet, sondern Wissen und Macht. Jede wissenschaftliche Erkenntnis ist eine Konstruktion, die prinzipiell mit Macht und nicht mit Wahrheit verbunden ist. Alle Wissensansprüche sind lokal und perspektivisch beschränkt, kontingent und instabil, ambivalent und bestreitbar. Karsch sieht in der Postmoderne eine „intellektuelle Strömung, die klassische Begriffe von Wirklichkeit, Vernunft, Objektivität, Identität, Fortschritt, Emanzipation infrage stellt“310.

306 307 308 309 310

110

Butler 2014: 10. ebd.: 11. ebd. vgl. Villa 2004: 235. Karsch 2016: 327.

3.2 Performative Theorie des Geschlechts

Der postmoderne Ansatz im Bereich des Feminismus ist weitläufig als Dekonstruktivistischer Feminismus respektive Postfeminismus bekannt und könnte gar als Dritte Welle der Frauenbewegung gedeutet werden. Diese feministische Grundorientierung radikalisiert mittels des Dekonstruktivismus und des Poststrukturalismus den traditionellen Feminismus. Im Postfeminismus werden das biologische und das soziale Geschlecht als gesellschaftliche Konstrukte angesehen und deshalb als Klassifikations- und Trennungseinheiten abgelehnt. Nicht mehr das Kollektiv-Subjekt Frau steht im Mittelpunkt, sondern dessen Subjektivierung. Ins Zentrum dieser Theorie tritt die Differenz unter Menschen, das heisst angenommene Gemeinsamkeiten/Geschlechtsidentitäten werden dekonstruiert. Stattdessen wird davon ausgegangen, dass es so viele Identitäten gibt wie es Menschen gibt. Auch die in den vorherigen Ansätzen angenommene resp. vorausgesetzte Zweigeschlechtlichkeit wird aus dekonstruktivistischer Sicht bestritten und durch die Anerkennung von Vielgeschlechtlichkeit ersetzt. Einer von Butlers bedeutendsten Beiträgen ist ein performatives Modell von Gender, in welchem die Kategorien männlich und weiblich als Wiederholung von Handlungen verstanden werden, und nicht als natürliche oder unausweichliche Absolutheiten. Dekonstruktion bezeichnet im Anschluss an Derrida Argumentationen, die sich vor allem in der Sprach- und Literaturwissenschaft gegenüber hermeneutischen Verfahren abgrenzen. Es sind spezielle Lektüreverfahren, die nach textimmanenten Differenzen und deren produktiver Kraft für die Schaffung von Sinn suchen. Konstitutiv für den formulierten Sinn ist demnach auch das was nicht gesagt wird311. Aber das dekonstruktivistische Verfahren bleibt nicht auf den literarischen Kontext beschränkt. Für eine feministische Leseart bedeutet die Dekonstruktion der Identität nicht, dass alles was bisher gegolten hat, ad absurdum geführt wird. Es bedeutet vielmehr, dass der Rahmen, in dem feministische Politik stattfindet, neu definiert werden soll und gesellschaftliche Strukturen, deren Elemente und Bedeutungen hinterfragt werden, um dahinterstehende Machtinteressen aufzudecken. Bisher wurde das feministische wir über die Identität Frau konstruiert, nach Butlers Analyse ist es jetzt an der Zeit, diese Kollektiv-Identität in Frage zu stellen und andere Handlungsstrategien zu entwickeln. Denn ihre These besagt auch, dass nicht zuerst eine Identität existieren muss, um politisch handeln zu können. Butler sieht die Handlungsmöglichkeiten in der subversiven Wiederholung und betrachtet die Konstruktion als Bühne, auf der feministisches, politisches Handeln möglich wird. Der Anspruch an den Feminismus be-

311 vgl. Breger 2013: 55ff.

111

3 Butler’s Claim – Einflüsse, Thesen und Auswirkungen ihrer Gender-Theorie

steht also darin, diese Bühne zu nutzen und von ihr aus zu agieren sowie Verschiebungen zu initiieren, die die Binarität der Geschlechter stören, aufbrechen und immer wieder ihre Unnatürlichkeit aufzeigen312. Der Dreh- und Angelpunkt in Butlers Theorie ist der Zusammenhang von Sexualität und Geschlechtszugehörigkeit, denn die diskursive Normierung von Geschlechtsidentität entsteht nicht allein durch die Unterscheidung von Frau/Mann. Für sie ist diese Unterscheidung unlösbar verknüpft mit der heterosexuellen Normierung von Begehren. Dies stellt eine Machtformation dar, ein Bündnis zwischen dem System der Zwangsheterosexualität und den diskursiven Kategorien, die die Identitätskonzepte von Frau/ Mann begründen. Ihr Augenmerk gilt denen, die außerhalb dieser Normen angesiedelt sind: Menschen, die geschlechtlich nicht klar einzuordnen sind, deren Begehren nicht in heterosexuellen Bahnen verläuft, die nicht mit dem Geschlecht, das ihnen körperlich zugeschrieben wird, leben wollen. Das bedeutet, dass sich auch der Fokus von Macht und Herrschaft von Männern über Frauen verschiebt auf all jene, die durch die Normierung von Geschlecht ausgeschlossen werden. Butler führt ihre Analyse bis zu Punkten, wo der Zusammenhang von sex, gender, sexueller Praxis und Begehren aufgelöst wird. Damit betont sie den grundsätzlich performativen und phantasmatischen Charakter von gender und gender identity. Die Wirklichkeit von Geschlecht wird im Zuge der performativen Wiederholung, im Zitieren dieser Normen erzeugt. Zu beachten gilt es bei der Performativität noch, dass das Geschlecht zwar performativ ist, dieser Zustand aber nicht frei gewählt werden kann. Vielmehr entsteht der performative Charakter durch den Zwang regulierender Normen. Diese Normen stellen ein Ideal dar, das nie erreicht werden kann, daher gehören Variationen dieser Normen zum modus vivendi der Geschlechtsidentität. Der phantasmatische Charakter des Geschlechts kommt gerade durch die subversiven Wiederholungen und Verschiebungen der Konnotation von Weiblichkeit und Männlichkeit zum Vorschein. Dabei meint Butler Formen von Geschlechterparodie, Praktiken der Travestie, des Cross-Dressings und die Stilisierung sexueller Identitäten, wie sie in der schwul-lesbischen, queeren und transgender Kultur entstehen. Es geht aber nicht um die Imitation echter Männer und Frauen, sondern um die Parodie des Begriffs des Originals als solches. Das bedeutet, die Parodie braucht kein Original, die Imitation existiert ohne Original und durch die fortwährende Verschiebung wird der Mythos der Ursprünglichkeit aufgedeckt. So zeigt sich auch, dass Geschlechtsidentität eine Konstruktion ist, die ihren Ursprung immer wieder verschleiert.

312 vgl. ebd.; vgl. Nieberle 2013: 49ff.

112

3.3 Zentrale Thesen und Kritikpunkte der Gender-Theorie von Judith Butler

Dadurch, dass Abweichungen von den Normen bestraft werden, kann die Konstruktion aufrechterhalten werden. Wenn Geschlechtsidentität performativ ist und nicht expressiv, dann gibt es keine vordiskursive Identität. Geschlechtsidentitäten sind also weder wahr noch falsch, aber durch ihre Träger können sie unglaubwürdig gemacht werden313. Butler artikuliert also eine Sichtweise, in der das Konzept der Identität als eine Zumutung oder Zwang interpretiert wird. Die Geschlechtsidentität ist vielmehr Teil eines Subjektivierungsprozesses, der Subjekte innerhalb eines kulturellen Rahmens und durch regelgeleitete Diskurse erst hervorbringt. Es gibt kein Subjekt vor seiner geschlechtlichen Zuordnung, keinen Zugriff eines vorgängigen und handelnden Subjekts auf das kulturelle Feld. Butler problematisiert in diesem Zusammenhang also ganz grundsätzlich den Begriff der Identität. Identität ist nichts Essentielles und Statisches, sondern eine Bezeichnungspraxis, die ein substantivisches Ich immer wieder herstellt. An Nietzsche anlehnend gibt es für Butler keinen Täter hinter der Tat, der Täter wird in unbeständiger und veränderlicher Form erst in und durch die Tat hervorgebracht: Es gibt keine Geschlechtsidentität hinter dem Ausdruck Geschlecht. 3.3 Zentrale Thesen und Kritikpunkte der Gender-Theorie von Judith Butler 3.3.1 Kernpunkte ihrer Gender-Theorie Ihre Performanztheorie geht davon aus, dass man kein Geschlecht ist, sondern dass das geschlechtliche Dasein ein stetiges Werden des Subjekts ist. Ihre gendertheoretischen Thesen lassen sich zur ersten Orientierung anhand von zwei Punkten umreißen: 1. Butler kritisiert vor allem den (politischen und theoretischen) traditionellen Feminismus. So sieht sie das Defizit bisheriger feministischer Bemühungen darin, dass von einer „vorgegebenen Identität“314 ausgegangen wird, „die durch die Kategorie ‚Frauen’ bezeichnet wird“315. Der von ihr kritisierte traditionelle Feminismus macht sich der „unreflektierten Essentialisierung schuldig“316, da das weibliche Kollektivsubjekt Frau als Grundlage herangezogen wird. Zudem unterstützen feministische Strömungen

313 314 315 316

vgl. Butler 2014: 49; 190–207f.; vgl. Nieberle 2013: 60ff; vgl. Breger 2013; 66ff. Butler 2014: 15. ebd. Kuster 2010: 475.

113

3 Butler’s Claim – Einflüsse, Thesen und Auswirkungen ihrer Gender-Theorie

die von Butler als „Zwangsheterosexualität“317 bezeichnete Geschlechterdichotomie. Solange sich also der Feminismus den Terminologien des hegemonialen Rechtsdiskurses bedient und mit Begriffen wie Unterdrückung oder Emanzipation argumentiert, stabilisiert er indirekt das heterosexuelle Zwangssystem318. Das Vorgehen der zeitgenössischen feministischen Debatten ruft in Butler ein Unbehagen hervor, „als ob die Unbestimmtheit dieses Begriffs [Geschlechteridentität] im Scheitern des Feminismus kulminieren könnte.“319 2. Der Begriff Zwangsheterosexualität bei Butler ist zweideutig. Zunächst kann darunter verstanden werden, dass Abweichungen von der heterosexuellen Norm für die betroffenen Personen gesellschaftliche Konsequenzen haben, etwa in Form von Marginalisierung, Tabuisierung oder Diskriminierung. Andererseits interpretiert Butler die eindeutige binäre Geschlechtsidentität als eine aufgezwungene soziale Norm, bei der unreflektiert davon ausgegangen wird, dass es Männer und Frauen gibt, ohne zu bedenken, dass es sich dabei „um die Ergebnisse einer gesellschaftlichen Disziplinierungspraxis [handelt]“320. Butler arbeitet ferner drei Bezugsgrößen heraus, die für die Geschlechtsidentität in der heterosexuellen Geschlechterordnung von Relevanz sind: Das anatomisch-biologische Geschlecht (sex), die Geschlechtsidentität (gender) und die sexuelle Praxis resp. das Begehren (desire) – in Letzterem drücken sich sex und gender gewissermaßen aus 321. Im Rahmen des herkömmlichen Verständnisses von Heterosexualität besteht eine kohärente, kontinuierliche Verbindung dieser drei Elemente der Geschlechtsidentität, d. h. ein Mann zu sein (gender) bedeutet einen männlichen Körper (sex) zu haben und eine Frau zu begehren (desire), vice versa gilt dies auch für Frauen. Butler nennt diese Formen der Geschlechtsidentität intelligibel, da auch abweichende Formen nur auf Grundlage dieser Normvorstellungen denkbar werden. Mit Intelligibilität ist in diesem Zusammenhang bei Butler das Vorstell-, Verstehbare, Lebensfähige und (sozial) Anerkennungswürdige gemeint. Die Zwangsheterosexualität verhindert, dass etwas anderes als männlich und weiblich intelligibel ist, weil es nicht dem hegemonialen (Geschlechter-) Diskurs entspricht322. Man denke beispielsweise an eine Person, die biologisch ein Mann ist (sex), sich aber als Frau fühlt (gender) und Männer begehrt (desi317 318 319 320 321 322

114

Butler 2014: 8, 39. ebd.: 475ff. Butler 2014: 7; Anm. d. Verf. Kuster 2010: 476. vgl. Butler 2014: 38; Kuster 2010: 476. vgl. Butler 2014: 38.

3.3 Zentrale Thesen und Kritikpunkte der Gender-Theorie von Judith Butler

re), was auch unter transgender geläufig ist. Ein anderes Beispiel für eine nicht-intelligible Geschlechtsidentität wäre eine biologisch gesehene Frau (sex), die sich mit ihrem biologischen identifiziert (gender), aber Frauen, und nicht das gegengeschlechtliche Geschlecht, sexuell begehrt (desire) – ad infinitum. Sie beschreibt das Auftreten dieser, von der heterosexuellen Norm abweichenden, Formen der Geschlechtsidentität (sex, gender, desire) folgendermaßen: „Die Gespenster der Diskontinuität und Inkohärenz, die ihrerseits nur auf dem Hintergrund von existierenden Normen der Kohärenz und Kontinuität denkbar sind, werden ständig von jenen Gesetzen gebannt und zugleich produziert, die versuchen, ursächliche oder expressive Verbindungslinien zwischen dem biologischen Geschlecht, den kulturell konstruierten Geschlechtsidentitäten und dem ‚Ausdruck’ oder ‚Effekt’ beider in der Darstellung des sexuellen Begehrens in der Sexualpraxis zu errichten.“323 Butler kehrt nun also die Betrachtungsweise der geschlechtlichen resp. sexuellen Identität insofern um, als dass sie sie als „stete Wiederholung sozial präformierter Akte“324 begreift, „wodurch der Anschein einer festen sexuellen Identität erzeugt wird“325. 3.3.2 Butlers Begriff der Performativität Was sie nun mit deutlichem Bezug auf Foucaults Thesen zum Phänomen der Heterosexualität entwickelt, ist ein „Modell der Performanz“326 der Geschlechts- und Sexualidentität. Dies bedeutet konkret, dass wir durch die stetige Zuschreibung der Gesellschaft schon im Moment unserer Geburt, oder gar schon vorher, als Männer oder Frauen geprägt werden. So ist doch die erste Frage, die einer schwangeren Frau gestellt wird, die nach dem Geschlecht des Embryos. Später geht es dann weiter, indem wir entsprechende Spielzeuge, Kleidungsstücke, Farben etc. als geschlechtsspezifisch ausweisen. Die Gesellschaft, die Normen, die Sprache und auch wir selbst wiederholen und vertiefen somit täglich durch unsere Handlungen was als weiblich und was als männlich zu gelten hat. So grenzt sich Butler von der

323 324 325 326

ebd. Kuster 2010: 477. ebd. ebd.

115

3 Butler’s Claim – Einflüsse, Thesen und Auswirkungen ihrer Gender-Theorie

bisherigen feministischen Repräsentationspolitik ab und läutet das feministische Zeitalter der Performanz ein. Während also die tendenziell starre, repräsentative Perspektive auf Problemstellungen wie Mimesis, Abbildung und Stellvertretung verweist, verlagert sich der Fokus perfomativer Sichtweisen auf Vielgestaltigkeit, Veränderbarkeit und permanente Inszenierung327. Den Terminus performativ respektive Performativität entnimmt Butler der Sprechakttheorie Austins (1962) und meint in diesem Kontext jene Akte, „die das, was sie äußern, auch erzeugen, und zwar indem die Äußerung getätigt wird“328. Der Begriff der Performanz wird auch in der Linguistik und in den Theaterwissenschaften verwendet. Hier wird jedoch ausschließlich Austins Interpretation besprochen. Ein Beispiel für einen performativen Sprechakt ist die Ernennung eines Brautpaares zu Ehemann und -frau durch einen Priester oder die Dankes- resp. Entschuldigungsworte an einen anderen Menschen. Im Augenblick des Sprechens werden die performativen Sprechakte Wirklichkeit, sie erzeugen also das was sie äußern. Laut Butler schafft die Sprache Wirklichkeit und bildet sie ab. Aber es sind nicht nur die sprachlichen Äußerungen, die unsere soziale Wirklichkeit formen und aufrechterhalten. Butler verweist auf sämtliche tägliche Praktiken und Handlungsweisen, in denen Menschen die kulturelle und soziale Wirklichkeit herstellen. Butler nimmt in diesem Zusammenhang explizit Bezug auf Althussers Begriff der Anrufung. Denn dadurch, dass ein Mensch auf seine Geschlechtlichkeit von Geburt an angesprochen wird, wird er erst zu dem, was er ist: „Der Anruf als,Frau’ oder (...),Schwuler’ lässt sich je nach Kontext der Bekräftigung oder als Beleidigung hören oder auffassen (...) Wird dieser Name gerufen, wird überwiegend gezögert, ob man antworten soll und wie, denn es geht hier darum, ob die durch den Namen performierte zeitweise Totalisierung politisch Kraft verleiht oder aber lähmt, ob der Ausschluss, ja die Gewalt der durch diesen bestimmten Anruf performierten totalisierenden Identitätsreduktion eine politische Strategie oder aber eine Regression ist (...).“329

327 vgl. ebd.: 275ff. 328 Villa 2012: 173. 329 Butler 2001: 92.

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3.3 Zentrale Thesen und Kritikpunkte der Gender-Theorie von Judith Butler

3.3.3 Der Diskursbegriff bei Butler Letztlich rührt ihr Interesse an sprachtheoretischen Bezügen und der Adaption in ihre Gender-Theorie daher, dass sie hinter der Entwicklung von Geschlechtsidentitäten gesellschaftliche Machtkonstrukte erkennt und diese in performativen Diskursen ausmacht. Sowohl der von ihr in diesem Zusammenhang verwendete Diskurs-Begriff als auch der dahinterstehende Heteronormativität und Zwangsheterosexualität erzeugende Machtapparat erinnert an Foucaults Diskursanalyse. „Ich setze voraus, daß in jeder Gesellschaft die Produktion des Diskurses zugleich kontrolliert, selektiert und kanalisiert wird – und zwar durch gewisse Prozeduren, deren Aufgabe es ist, die Kräfte und die Gefahren des Diskurses zu bändigen, sein unberechenbar Ereignishaftes zu bannen, seine schwere und bedrohliche Materialität zu umgehen.“330 Bezüglich der diskursiven Machtverhältnisse macht er insgesamt drei Gruppen an kontrollierenden Mechanismen aus: Die diskursexternen Ausschließungssysteme (verbotenes Wort, Ausgrenzung des Wahnsinns, Wille zur Wahrheit), diskursimmanente Prozeduren der Kontrolle (Ereignis und Zufall) und schließlich die Verknappung von Diskursberechtigten (Ritual, Diskursgesellschaften und Doktrin). Was man allerdings vergeblich in seinen Schriften sucht, ist eine eingrenzbare und einheitliche Definition seines Diskursbegriffs. Es lassen sich lediglich Annäherungen ausmachen, die das, was er unter einem Diskurs versteht, umreißen. „Der Diskurs mag dem Anschein nach fast ein Nichts sein – die Verbote, die ihn treffen, offenbaren nur allzubald seine Verbindung mit dem Begehren und der Macht. Und das ist nicht erstaunlich. Denn der Diskurs – die Psychoanalyse hat es uns gezeigt – ist nicht einfach das, was das Begehren offenbart (oder verbirgt): er ist auch Gegenstand des Begehrens; und der Diskurs – dies lehrt uns immer wieder die Geschichte – ist auch nicht bloß das, was die Kämpfe oder die Systeme der Beherrschung in Sprache übersetzt: er ist dasjenige, worum und womit man kämpft; er ist die Macht, derer man sich zu bemächtigen sucht.“331 Im Jahr 1973 beispielsweise hat Foucault Vorträge an der Katholischen Universität in Rio de Janeiro gehalten, die 1994 unter dem Titel Die Wahr-

330 Foucault 2014: 11. 331 ebd.: 11.

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3 Butler’s Claim – Einflüsse, Thesen und Auswirkungen ihrer Gender-Theorie

heit und die juristischen Formen erschienen sind. Dort fasst er den Diskursbegriff folgendermaßen zusammen: „Der Diskurs ist jenes regelmäßige Ensemble, das auf einer Ebene aus sprachlichen Phänomenen und auf einer anderen aus Polemik und Strategien besteht.“332 Er erklärt die von ihm bewusst gesetzte Flexibilität des Diskursbegriffs so: „Hinsichtlich des Terminus Diskurs, den wir hier mit verschiedenen Bedeutungen benutzt und abgenutzt haben, kann man jetzt den Grund seiner Uneindeutigkeit verstehen: auf die allgemeinste und unterschiedenste Weise bezeichnete er eine Menge von sprachlichen Performanzen.“333 Das bedeutet, dass die Nicht-Eingrenzbarkeit des Terminus auf dessen performativen Charakter zurückzuführen ist. Somit „wird der Diskurs durch eine Mengen von Zeichenfolgen konstituiert, insoweit sie Aussagen sind, das heißt, insoweit man ihnen besondere Existenzmodaliäten zuweisen kann“334. Das heißt, dass der Diskurs „eine Menge von Aussagen [meint], die einem gleichen Formationssystem zugehören. Und so werde ich von dem klinischen Diskurs, von dem ökonomischen Diskurs, von dem Diskurs der Naturgeschichte (...) sprechen können“335. Gleichwohl der Diskurs-Begriff nicht eindeutig benannt werden kann, wird deutlich, was damit im foucaultschen Sinne gemeint ist. Für Foucault stellte sich im Laufe seiner Forschungen stets die Frage wie und unter welchen Voraussetzungen Diskurse im Komplex von Macht und Wissen produziert werden, was er „Genealogie“336 nannte: „(...) es soll untersucht werden, wie sich durch diese Zwangssysteme hindurch (...) Diskursserien gebildet haben; welche spezifischen Normen und welche Erscheinungs-, Wachstums- und Veränderungsbedingungen eine Rolle gespielt haben.“337 Butler übernimmt zentrale Aspekte des foucaultschen Diskursanalyse und der austinschen Sprechakttheorie, indem sie die Geschlechtsidentität als eine entnaturalisierte Kategorie begreift und das Geschlecht als performati332 333 334 335 336 337

118

2003: 11. Foucault 2013a: 588; Hervorh. i. Orig. ebd. ebd.: 589; Anm. d. Verf. Foucault 2014: 39. ebd.

3.3 Zentrale Thesen und Kritikpunkte der Gender-Theorie von Judith Butler

ve Konstruktion innerhalb von Diskursen verortet, das ebenso so vielfältig wie widersprüchlich sein kann. Die Heteronormativität, die nur in einem binären Zwangsrahmen denkt, macht jedoch diese Geschlechtsidentitäten unintelligibel und so gilt es, deren im Hintergrund ablaufenden Machtapparat aufzudecken und zu subvertieren. Ihre These, Geschlecht als performativen Effekt einer diskursiven Praxis zu interpretieren, nennt sie, in deutlicher Anlehnung an Foucault, „Genealogie der Geschlechter-Ontologie“338. Die Geschlechtsidentität wird durch Äußerungen performativ produziert, es gibt sozusagen keine dahinterstehende, natürliche geschlechtliche Identität. Für Butler ist jedoch diese performative Praxis kein einzelner Akt, sondern vielmehr eine reiterative Praxis eines Systems. Der Begriff der Iterabilität geht auf Derrida und dessen Auseinandersetzung mit Austins Sprechakttheorie zurück und meint die Zitierhaftig- und Wiederholbarkeit eines (sprachlichen) Zeichens, wobei jede Wiederholung notwendig mit einem Moment der Veränderung verbunden ist, die für Umdeutungen offen ist und damit sozusagen eine Veränderlichkeit in der Wiederholbarkeit meint. Diese Auffassung der Modalität eines Zeichens steht der strukturalistischen Position diametral gegenüber und kann somit zu Recht als poststrukturalistisch bezeichnet werden, da die Grundprinzipien der Reiteration die Vieldeutigkeit der Sprache und die Unmöglichkeit der Festlegung auf eine Bedeutung sind339. Villa fasst Butlers These wie folgt zusammen: „Diskursive Performativität hängt also ebenso ab von vorgängigen Reden, vorgängigen Bedeutungen, historisch gewordenen sozialen Ritualen und Autoritäten von Sprechenden wie von der Offenheit all dieser Dimensionen im Hinblick auf die Zukunft. Kurzum: Diskurse bergen einen (produktiven!) Mangel an Finalität.“340 Ein Beispiel, dass die Iterabilität des Zeichens plastischer macht, ist etwa folgende Situation: Wenn eine Person A zu einer Person B Ich liebe dich sagt, ist es unumgänglich, die vorherigen Gebrauchsweisen von Ich liebe dich zu zitieren, wie man sie etwa aus Spielfilmen, Romanen oder der Werbung kennt – unbewusst oder bewusst.

338 Butler 2014: 60. 339 vgl. Villa 2012: 31f. 340 ebd.: 33; Hervorh. i Orig.

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3 Butler’s Claim – Einflüsse, Thesen und Auswirkungen ihrer Gender-Theorie

3.3.4 Foucault – ein Strukturalist? Butlers Gender-Theorie wird also vor allem auf Grund ihres Bezugs zu Foucault als poststrukturalistisch begriffen. Dabei kann keineswegs behauptet werden, dass Foucaults Denken rein poststrukturalistischen Charakter hat. In Die Ordnung der Dinge, genauer gesagt im vierten Abschnitt des fünften Kapitels Das unterscheidende Merkmal341, findet sich beispielsweise eine eindeutige Anwendung des Strukturalismus auf die Paradigmen der Naturgeschichte im 17. Jahrhundert. Demnach zieht Foucault zwar keine Schlussfolgerungen strukturalistischer Natur, sein begriffliches Instrumentarium ist jedoch stark strukturalistisch geprägt und weist erkennbare Parallelen zu Lévi-Strauss auf, was vor allem im ersten Teil seiner Ordnung der Dinge erkennbar ist. In den hiesigen Hauptkapiteln vier bis sechs geht es Foucault dabei im Wesentlichen darum, den sprachlichen, naturgeschichtlichen und ökonomischen Wissensraum in der klassischen Epoche nachzuvollziehen und die epochenspezifischen Voraussetzungen und Brüche herauszuarbeiten, aus denen heraus Wissen möglich wurde. Im vierten Kapitel der Ordnung der Dinge, bei dem er den Übergang von der Episteme der Ähnlichkeit (Renaissance) zu der der Repräsentation (Klassik) beschreibt, steht die Sprache im Mittelpunkt. Mit Epistemen sind bei Foucault die „epochenspezifische[n| Totalität[en] wissenschaftsimmanenter Beziehungen“342 gemeint. Demnach veränderte sich in der klassischen Epoche das bisher in der Renaissance vorherrschende Paradigma Zeichen=Ding und Ding=Zeichen dahingehend, dass die Zeichen nun zu Repräsentationsweisen der Dinge wurden. Die Sprache zeigt sich zwar noch in der Wirklichkeit, aber nicht mehr als Zeichen, vielmehr hat sie die Funktion die Repräsentation sich erheben zu lassen. Die Sprache verbindet sich gewissermaßen mit den Dingen, die sie bezeichnet und substituiert durch ein Zeichen das, was ihr durch die Natur gegeben wird. In der Klassik entdeckte man also eine Gliederung in der Natur und wendete die Zeichen darauf an. Erst durch diese Gliederung der Natur wird es dem Beobachter möglich, die Zeichen auf die Dinge anzuwenden. Die Sprache wird damit zum Code, ja zum Nachvollzug dieser Strukturen der Natur. Die Gliederung ist also das, was der Naturgeschichte in der klassischen Epoche erlaubt, den Dingen Zeichen zuzuweisen. Damit hebt die Repräsentation aus der Natur etwas heraus. Das Zeichen zeigt sich schließlich in der Wirklichkeit, aber nicht als Zeichen, sondern als eine Weise, in der der Beob-

341 vgl. Foucault 2013: 184–193. 342 Tschuggnall 1996: 251.

120

3.3 Zentrale Thesen und Kritikpunkte der Gender-Theorie von Judith Butler

achter das Geflecht schon voraussetzt. Diese Auffassung, dass die Sprache zu einem Code und damit zu einem Nachvollzug von Strukturen wird, erinnert an Lévi-Strauss. In der Renaissance verhielt es sich so, dass die Beschreibung einer Pflanze oder eines Tiers bedeutete, dass man gewissermaßen eine Geschichte darüber erzählte – ähnlich, wie heute einem Kind etwas erklärt wird. In dieser Epoche wurden alle Eindrücke (Elemente; Organe; Ähnlichkeiten; angebliche Kräfte; Legenden; Nahrungsmittel, die sie bieten; Medikamente, die aus der Substanz gewonnen werden können etc.)343 also zu einer Geschichte über das Lebewesen vermischt, die dann das Lebewesen selbst darstellte344. Die heute notwendige Trennung zwischen Beobachtung, Dokument und Fabel existierte in der Renaissance nicht, da die Zeichen im 15. und 16. Jahrhundert noch Teile der Dinge waren und keine Repräsentationsweisen wie in der Klassik345. Doch in der klassischen Epoche war es nicht, wie fälschlicherweise zunächst angenommen werden könnte, so, dass man mehr über die Lebewesen der Natur gewusst hätte. Im Gegenteil, die Kunst des 17. Jahrhunderts bestand vielmehr darin, von vielem abzusehen. Die oben beschriebene Gliederung bedarf also eines gewaltigen Abstraktionsprozesses. So vergleicht Foucault die Betrachtungsweisen von Jonston (Klassik) und Aldrovandi (Renaissance) und hebt deutlich hervor, dass Jonston nicht mehr wusste als Aldrovandi ein halbes Jahrhundert vor ihm. Wohingegen es bei Jonstons Untersuchung des Pferdes zwölf Kategorien gab, kamen bei Aldrovandi noch mehr vor. Zu beobachten heißt in der Naturgeschichte der Klassik vielmehr „sich damit bescheiden zu sehen; systematisch wenige Dinge zu sehen. Zu sehen, was im etwas konfusen Reichtum der Repräsentation sich analysieren läßt, von allen erkannt werden und so einen Namen erhalten, den jeder verstehen wird.“346 Diese Reduzierung auf das wirklich Sichtbare in den Dingen im 17. Jahrhundert zeigt sich beispielsweise an der Periodentafel der Elemente oder Linnés strengem Ablauf der Analyse eines Tieres nach „Name, Theorie, Gattung, Art, Eigenschaft, Gebrauch“ 347. Das reine Sehen der Unterschiede und Gattungszugehörigkeiten der Lebewesen wird damit zum Strukturprinzip der Natur. Diese notwendigen Abstraktionen für die Systematik 343 344 345 346 347

Foucault 2013: 173. vgl. ebd. ebd.: 174. ebd.: 179. ebd.: 175.

121

3 Butler’s Claim – Einflüsse, Thesen und Auswirkungen ihrer Gender-Theorie

der Natur in diesem Klassifikationssystem sind vor allem zwei Dinge: „Exklusives Privileg der Sehkraft“348 und vier Variablen (Form, Quantität, Beziehung und relative Größe der Elemente)349. Hier wird das Auge als ontologisches Entdeckungsorgan also erstmals thematisiert und der erste Schritt zum Empirismus, der Erfassung des sinnlich Wahrnehmbaren, markiert. Zu Beginn des fünften Abschnitts des Kapitels fünf thematisiert Foucault die Möglichkeit, dass die strukturalistische Methode nicht funktionieren hätte können: „Im Zentrum dieser wohlgestalteten Sprache, zu der die Naturgeschichte geworden ist, verbleibt ein Problem. Es wäre immer noch möglich, daß die Transformation der Struktur in ein Merkmal nie möglich wäre und daß der Gattungsname niemals aus dem Eigennamen entstehen kann.“350 Damit also das „einfachste Merkmal erscheinen kann“351 muss sich zumindest „ein Element der zunächst betrachteten Struktur (...) in einer anderen wiederholen. Die Gliederung der Unterschiede bedarf also eines „Spiel[s] von Ähnlichkeiten“352. Das Prinzip der Arbitrarität (Saussure) findet sich demnach auch in der Naturgeschichte. So findet ein nachträgliches Entsprechen, wenn die Zuordnung erfolgt ist, statt. Im System können zwar Änderungen vorgenommen werden, aber dann ändert sich das gesamte System. Die Tatsache, dass sich Ähnlichkeiten herausbilden ist demnach unumgänglich damit die Systematik funktionieren kann (bspw. ordnet man verschiedene Tiger zu der Art Tiger). In der Naturgeschichte verhält es sich wie bei der Sprache: Zunächst sind die Zeichen arbiträr, dann motiviert. Die willkürlichen Zeichen schaffen die Möglichkeit, das Notwendige in den Dingen zu markieren und es schließlich in Sprache zu übersetzen. Diese motivierten Zeichen erlauben es der Natur in sich eine Ordnungstendenz zu haben. Es lässt sich also sagen, dass Foucault zwar im Ergebnis seiner Arbeiten kein Strukturalist ist, er sich jedoch zur Erläuterung der Ordnungsform, die das Wissen der Klassik ermöglicht, eindeutig des Instrumentariums strukturalistischer Begrifflichkeiten (Struktur, System, Ordnung, Variable, Elemente) bedient. Die Beziehungskraft der Zeichen kommt also aus der 348 349 350 351 352

122

ebd.: 178. vgl. ebd.: 179f. ebd.: 193. ebd. ebd.

3.3 Zentrale Thesen und Kritikpunkte der Gender-Theorie von Judith Butler

Struktur, die das Zeichen zum Zeichen macht. Somit macht die Differenz zu anderen Zeichen das Zeichen aus (Strukturalismus). Laut Foucault funktioniert die linnésche Artenbezeichnung gerade deshalb. Foucault ist aber trotz seiner Anwendung strukturalistischer Termini auf das klassische Zeitalter kein Strukturalist im eigentlichen Sinn. Denn wäre er ein Strukturalist gewesen, hätte er diese Sichtweise auf alle Epochen angewandt. Für ihn ist jedoch die strukturalistische Denkweise nur hilfreich, die Repräsentation im klassischen Zeitalter zu verstehen. Vor allem in den letzten Passagen des vierten Abschnitts des fünften Kapitels fasst Foucault seine Erkenntnisse in rein strukturalistischer Argumentationsweise zusammen, bevor er einen Ausblick auf das nächste Zeitalter (Zeitalter des Menschen) gibt. Dort findet der Strukturalismus keine Anwendung mehr353. Foucault unterscheidet also diese drei Epochen (Renaissance, Klassik, Moderne) dezidiert voneinander und bringt eine eigene geschichtliche Struktur hinein, indem er die Differenz der Etappen und v.a. die Erklärung herausarbeitet, warum diese Etappen möglich wurden. Mit dieser Vielschichtigkeit wendet er sich entschieden gegen jeden Versuch, die Geschichte in Struktur aufzulösen. Gerade deshalb grenzt er den Strukturalismus auf eine Epoche (Klassik) ein und macht ihn lediglich zu einem Abschnitt seiner Ideengeschichte – was den Strukturalismus damit gleichzeitig vom Anspruch auf Absolutheit beraubt. Die diachronisierende, d.h. den Verlauf untersuchende, Denkweise Foucaults, für den insbesondere in Die Ordnung der Dinge beispielhaft ist, impliziert dabei eine Kritik am ahistorischen, strukturalistischen Gedanken. Foucault bezieht also die Diachronie von Saussure auf die Struktur selbst, während das Markante am Strukturalismus ist, dass er sich auf den synchronen Zustand beschränkt. Der wesentliche Unterschied zwischen Foucault und Lévi-Strauss besteht also darin, dass Foucault mit seinen Epistemen, den denkgeschichtlichen Bedingungen und Umrissen unter denen Wissen möglich wurde, eben nicht zeigen will, dass die eine Episteme mittels entsprechender Transformationsprozesse aus der anderen hervorging. Vielmehr beschreibt er diesen Übergang als notwendigen Bruch oder Diskontinuität, wohingegen Lévi-Strauss auf eine universale Struktur des Geistes verweist354.

353 ebd. 354 vgl. Münker/Roesler 2012: 24.

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3 Butler’s Claim – Einflüsse, Thesen und Auswirkungen ihrer Gender-Theorie

3.3.5 Das Inzesttabu im butlerschen Denken Ein weiterer Bezugspunkt Butlers ist der zu Freud und Lacan. Zwar waren weder Freud noch Lacan an feministischen Problemstellungen interessiert, gleichwohl regten sie aber viele Fragestellungen in diesem Kontext an. Bereits in einem vorherigen Kapitel der vorliegenden Arbeit wurde bspw. Rubins Rekurs auf Freud kurz skizziert, und auch Lacans Einfluss wurde bereits erwähnt. So nimmt auch Butler auf deren psychoanalytische Werke Bezug. Sie sieht vor allem in den Themen des Inzests und der Verwandtschaft diejenigen Felder, die die meisten Differenzen in der Psychoanalyse hervorgerufen haben. Die deutlichste Verbindung zwischen dem Inzest und der Verwandtschaft macht Butler dabei im Inzesttabu fest355. Dabei fordert sie eine erneute Zuwendung der Psychoanalyse „zu den Fragen des Inzests und der Verwandtschaft ebenso wie deren Zusammenhang“356 und setzt sich mit der Frage auseinander, ob Verwandtschaft tatsächlich ursprünglich heterosexuell ist. Butler zieht jedoch auch philosophische und feministische Thesen heran, um das Inzesttabu zu analysieren. Dabei basiert ihre kritische Betrachtung auf den Schriften Lacans, Rivieres und Freuds sowie auf der Repressions-Hypothese Foucaults. Diese Perspektiven sind jedoch nicht der Schwerpunkt der vorliegenden Arbeit, vielmehr soll der Blick auf Butlers diesbezügliche Kritik am Strukturalimus gerichtet werden. Denn dort macht sie den Ursprung und die Konstituierung heteronormativer Geschlechtsidentitäten aus. Daher ist eine von Butlers zentralen Thesen die Notwendigkeit einer Re-Formulierung des Inzesttabus. Das Inzesttabu stellt bei Butler die Grundlage für die Besetzung der sexuellen Positionen in der strukturalistischen Linguistik dar, anhand derer schließlich männlich und weiblich unterschieden werden und die Heterosexualität gesichert wird357. Sie stellt zur Debatte, warum Inzest „im Allgemeinen als eine strafbare Phantasie beschrieben [wird]“358. Dabei kritisiert sie die strukturalistischen Psychoanalytiker, die sich auf Lévi-Strauss’ Analysen stützen und somit laut Butler eine heterosexuell normative Verwandtschaft erschaffen und „aus der Sphäre der Liebe und des Begehrens jene Formen der Liebe [verwerfen], die diese Gruppe von Verwandtschaftsbeziehungen durch-

355 356 357 358

124

vgl. Butler 2015: 247. ebd. vgl. Butler 2015: 247f. ebd.: 248; Anm. d. Verf.

3.3 Zentrale Thesen und Kritikpunkte der Gender-Theorie von Judith Butler

kreuzen und durcheinanderbringen“359. Bei Butler drückt sich das wie folgt aus: „Es ist dann vielleicht nötig, das Inzestverbot neu zu überdenken als das, was manchmal vor einer Verletzung schützt und manchmal genau das Werkzeug einer Verletzung ist.“360 Genau eine solche Verletzung formuliert sie als Einschränkung der Aufhebung des Inzestverbots. So gibt es ihrer Meinung nach Formen des Inzest, die nicht traumatisch sind oder eine Verletzung darstellen. Eng mit dieser kritischen Auseinandersetzung mit dem Inzestverbot steht auch Butlers Infragestellung der Notwendigkeit einer heterosexuellen Verwandtschaft, auf der bislang unsere Normen und Gesetze beruhen. Das Inzestverbot und Butlers damit verbundene poststrukturalistische Kritik361 sieht sie insofern als diskussionswürdig an, als „die symbolischen Positionen der Mutter und des Vaters nur durch das [Inzest-]Verbot abgesichert [werden], so dass das [Inzest-]Verbot sowohl die Position der Mutter als auch des Vaters im Sinne einer Reihe vorgeschriebener endogamer sexueller Beziehungen herstellt“362. Bei Butler „gibt es keine symbolische Position der Mutter oder des Vaters, die nicht eine Idealisierung und Verknöcherung von kontigenten kulturellen Normen bedeute“363. Demnach geht es ihr auch hier darum, mit den Normen zu brechen, um andere Formen von Verwandtschaft intelligibel zu machen. Da Verwandtschaft jedoch ausschließlich auf dem Inzestverbot beruht, muss der Verwandtschaftsbegriff reformuliert werden. Diese Forderung findet laut Butler nicht nur deshalb so viel Ablehnung, „weil es oft die Ausbeutung derer mit sich bringt, deren Zustimmungsfähigkeit in Frage steht“364, sondern weil es auch eine Abweichung der normativen Verwandtschaft, sprich der traditionellen Familie, darstellt. Diese normabweichenden Formen könnten aber besser genutzt werden, indem deren mobilisierende Revolutionskraft gegen den Zwang der traditionellen Verwandtschaftsform eingesetzt wird, was letztlich zu einer „Änderung und Ausdehnung“365 des normativen Verwandtschaftspostulats führen könnte und eine Auflösung der klassischen Familie mit sich brächte. Weiterhin sieht sie im Inzesttabu von Lévi-Strauss ein Bündnis „mit

359 360 361 362 363 364 365

ebd.: 258; Anm. d. Verf. ebd. vgl. Butler 2015: 333. ebd.: 255; Anm. d. Verf. ebd. ebd.: 259. ebd.

125

3 Butler’s Claim – Einflüsse, Thesen und Auswirkungen ihrer Gender-Theorie

einem rassistischen Projekt zur Reproduktion der Kultur“366. So dient die These von Lévi-Strauss für Butler nicht nur der Gewährung exogamer Zeugung von Kindern, sondern der Erhaltung der Einheit und Reinheit der Kultur durch den Frauentausch. „Die Frau von außerhalb stellt sicher, dass die Männer von hier ihresgleichen reproduzieren. Sie sichert auf diese Weise die kulturelle Identität.“367 Die insbesondere in Europa vorherrschende Meinung, dass die biologische Elternschaft mit der sozialen zusammenfällt und es möglichst beide Geschlechter als Bezugspersonen für das Kind geben sollte, sieht sie in einer Reihe von Annahmen begründet, die sich auf Lévi-Strauss’ Position stützen, welche im Kern besagt, dass die Kultur auf dem Inzesttabu beruht und den Übergang von der Natur zur Kultur darstellt. In diesem Zusammenhang muss demnach das theoretische Bezugsquintett Butlers368 um den Strukturalismus (de Saussure, Lévi-Strauss), auf den der Poststrukturalismus im Wesentlichen aufbaut und ihn gleichzeitig überwindet, komplettiert werden. 3.4 Die Übersteigerung der strukturalistischen Grundidee im GenderMainstreaming am Beispiel der Sprache Der Strukturalismus sieht hinter den Erscheinungen der Welt eine in sich logische Struktur, die dem Menschen über die Sprache zugänglich gemacht werden kann. Der Poststrukturalismus hingegen betont, dass die logische Struktur nur eine kontingente Hypothese ist, die abhängig von der Wiedergabe individueller Sichtweisen ist. Damit wird die Zuschreibung von Sinn als individueller Akt des jeweiligen Diskursteilnehmers dekonstruiert. Die materielle Welt wird als rein durch die Sprache strukturiert gedeutet -also von Zeichen, Bedeutungen und Zuschreibungen konstituiert und reproduziert. Statt erkennender Subjekte fungieren besagte Diskursteilnehmer zwar wie Knotenpunkte in der Wieder- und Weitergabe dieser Zuschreibungen – materielle Strukturen außerhalb davon, wie sie noch für den Strukturalismus namensgebend waren, finden sich allerdings nicht mehr. Auch ontologische Qualitäten jeglicher Art müssen so zurückgewie-

366 ebd.: 199. 367 ebd. 368 vgl. Ludwig 2012: 21.

126

3.4 Die Übersteigerung der strukturalistischen Grundidee im Gender

sen werden: Wahrheit und Sinn kann es nicht mehr geben. Im Wesentlichen zielt der Poststrukturalismus damit ab auf eine Auseinandersetzung mit der sprachlichen Bedingtheit gesellschaftlicher Zustände und folgerichtig auf eine Intervention in den Diskurs als Ort der Produktion von Geschlechterhierarchien. Damit ist die Sprache als ausschließlicher Ort für Praxis und Wirklichkeit bestimmt. Dieser Paradigmenwechsel (linguistic turn) hat zur Folge, dass kulturelle Phänomene als allgemein sprachlich konstruiert gelten. Der Strukturalismus behauptet hingegen, daß die Signifikate und die Signifikanten eine klar abgegrenzte Struktur haben und einander symmetrisch zugeordnet sind. Bei den Poststrukturalisten ist die Sprache jedoch ein grenzenloses, sich ausdehnendes Netz, in dem ein ständiger Austausch und ein Zirkulieren zwischen den Elementen herrscht. Kein einzelnes Element ist also vollständig definierbar, es existiert kein Ursprung. So verabschiedet sich der Poststrukturalismus vom cartesianischen Denken und spricht vom Tod des Subjekts oder vom Tod des Menschen. Jeder Mensch ist ein sprachliches Konstrukt (Barthes, Derrida) oder ein Konstrukt diskursiver und nicht-diskursiver Machtpraktiken (Foucault). Weil jeder Mensch auf die Sprache zurückgreifen muss und literarischen Texten nichts Ursprüngliches anhaftet, spricht man auch vom Tod des Autors. Nietzsche folgend behaupten Butler und Foucault, dass es keinen Täter hinter der Tat gibt. Niemand ist für sein Handeln vollkommen verantwortlich. Die Subjekte sind nur Effekte einer diskursiven Macht. Der Glaube an ein unhintergehbares Original von Männlichkeit oder Weiblichkeit schwindet unter diesem Gesichtspunkt ebenso wie der Allgemeingültigkeitsanspruch der heterosexuellen Norm. Seine Tendenz, unter die Oberfläche vermeintlich stabiler, monolithischer Strukturen zu schauen, qualifiziert den Poststrukturalismus für eine Anwendung auf genderwissenschaftliche Kategorien wie Weiblichkeit und Männlichkeit, deren Bedeutung im Sinne Butlers nicht aus sich selbst erwächst, sondern als Signifikate innerhalb eines phallokratischen Systems zu denken sind. Damit wird die Geschlechterdifferenz als Effekt der Signifikationspraxis lesbar, der die Grenzen des Natürlichen permanent zu überspielen sucht. Die Bedeutungssuche muss nach Butlers poststrukturalistischem Verständnis unabschließbar bleiben. Nun gestalten also Diskurse und sprachliche Mittel die Welt und es gibt keine natürlichen Fakten. Und auch der biologische Geschlechtskörper ist nur ein Effekt machtvoller biologischer Diskurse auf sprachlicher Ebene. Es gibt mittlerweile auch auf praktischer Ebene gendersensible Sprachempfehlungen für sämtliche staatliche und kirchliche Institutionen. Ein anschauliches Beispiel für die gesellschaftliche Präsenz des Gender-Mainstreamings ist Die Bibel in gerechter Sprache. Dabei handelt es sich um eine

127

3 Butler’s Claim – Einflüsse, Thesen und Auswirkungen ihrer Gender-Theorie

Übersetzung der biblischen Schriften aus den ursprünglichen Sprachen ins Deutsche, die von zahlreichen Bibelwissenschaftlern aus deutschsprachigen Ländern (u.a. Dorothea Erbele-Küster369) erarbeitet wurde und das Ziel verfolgt, Geschlechtergerechtigkeit in der Bibel herzustellen sowie unnötige Anti-Judaismen, vor allem im Neuen Testament, zu vermeiden. Die gendergerechte Übersetzung sieht beispielsweise im Buch Sirach, Kapitel 46, Vers 13 vor, von „Richterinnen und Richter[n]“370 statt nur von den „Richter[n]“371 sowie „von dem Ewigen“372 und nicht „vom Herrn“373 zu sprechen. Ein weiteres Exempel ist der Vorschlag der AG Feministisch Sprachhandeln der Humboldt-Universität zu Berlin. Diese schlägt in ihrem Leitfaden zu antidiskriminierenden Sprachhandlungen unter der Federführung der/des medial bekannten Lann Hornscheidt u.a. vor, bei sämtlichen Wörtern und Phrasen die Endungsform -a zu verwenden, denn „diese Form greift ebenfalls die Idee von einer herausfordernden, stärkeren ‚Frauisierung’ von Sprache auf, um mit männlich geprägten Assoziationen zu brechen“374. Konkret bedeutet dies, dass alle -er-Endungen im Singular durch die Endung -a und im Plural durch das Suffix -as ersetzt werden, „wie z.B. (...) Türöffna, Computa oder Drucka“375. Wahlweise wird zudem vorgeschlagen, das @-Zeichen entweder als Endung einzusetzen oder in ein Wort einzufügen, wie beispielsweise „hum@n oder m@n“376. Eine weitere Alternative bietet die Wortendung in x-Form, „in der (...) im Singular ‚x‘, im Plural ‚xs‘ an den Wortstamm des dazugehörigen [Substantivs] angehängt [wird], z.B. Studierx, Studierxs und Lehrx, Lehrxs (...) Angestelltx, Angestelltxs und Doktox, Doktoxs“377. Selbiges gilt für die dazugehörigen Personal- und Possessivpronomen: „Dix Studierx hat in xs Vortrag darauf aufmerksam gemacht, dass es unglaublich ist, wie die Universität strukturiert ist, dass es nur so wenig Schwarze/PoC Professxs gibt.“378

369 370 371 372 373 374 375 376 377 378

128

vgl. Zastrow 2006: 18. Bibel in gerechter Sprache 2006, Buch Jesus Sirach, Kap. 46, Vers 11; Anm. d. Verf. Lutherbibel 1984, Buch Jesus Sirach, Kap. 46, Vers 13; Anm. d. Verf. Bibel in gerechter Sprache 2006, Buch Jesus Sirach, Kap. 46, Vers 11. Lutherbibel 1984, Buch Jesus Sirach, Kap. 46, Vers 13. AG Feministisches Sprachhandeln 2014: 22. ebd. ebd. ebd.: 17. ebd.

3.4 Die Übersteigerung der strukturalistischen Grundidee im Gender

Weiterhin wird u.a. der dynamische Unterstrich als mögliche Form antidiskriminierender Sprachhandlungen offeriert. Dieser Unterstrich hat keinen festen Platz, sondern kann an verschiedenen Stellen im Wort eingefügt werden und soll kritisch auf die Verwendung zweigegenderter Sprachformen hinweisen sowie die starre, binäre Verwendung in Bewegung bringen: „We_lche Mita_rbeiterin will denn i_hre nächste Fortbildung zu antidiskrimi- nierender Lehre machen? Sie_r soll sich melden. Der Kurs ist bald voll.“ 379 Ferner wird auf das Generische Femininum resp. auf die umfassende Frauisierung hingewiesen380. Dies soll dazu dienen, die männliche genutzte Norm „sprachlich [zu] irritieren“381. Demnach soll diese „Frauisierung“382 der Sprache in „Kontexten aufrüttelnd [wirken], in denen männliche Normalvorstellungen wenig hinterfragt sind. Die Berufsgruppe der ‚Professoren der Humboldt-Universität‘ wird beispielsweise prototypisch (und oft unbewusst) als ausschließlich männlich assoziiert (...)“383: Um noch einmal an einer früheren Stelle anzusetzen und wieder auf die theoretische Ebene zurückzukommen, liegt genau hierin der Grund dafür, dass Butler die Solidargemeinschaft des Kollektiv-Subjektes Frau im traditionellen Feminismus kritisiert und damit eine tiefe Spaltung in das feministische Subjektkonzept Wir Frauen einführt. Denn wer oder was eine Frau ist, das liegt nicht mehr im normativ-naturalisierten Bereich, sondern ist Produkt stetiger und wandelbarer Bezeichnungspraktiken. Letztere sollen mit Hilfe eines durchgängig gendersensiblen Sprachgebrauchs dahingehend geöffnet werden, dass keine eindeutige Zuordnung in die Subjektkategorien Mann und Frau mehr erfolgt. Butler geht hierbei vor allem darum, zu ergründen, welche heteronormativen Machtverhältnisse in dazu führen, dass diejenigen Geschlechtsidentitäten, die nicht eindeutig männlich oder weiblich sind, als nicht intelligibel gelten. Die Ursache sieht Butler vor allem im Inzestverbot begründet, worauf sie im Wesentlichen auch ihre Kritik an der Verwandtschaftstheorie von Lévi-Strauss aufbaut: „Läßt sich das Inzestverbot, das die hierarchischen und binären Positionen der Geschlechtsidentität (..) ächtet und sanktioniert, neu be-

379 380 381 382 383

vgl. ebd.: 18. vgl. ebd.: 21. ebd.; Anm. d. Verf. ebd. ebd.; Anm. d. Verf.

129

3 Butler’s Claim – Einflüsse, Thesen und Auswirkungen ihrer Gender-Theorie

greifen, nämlich als eine produktive Macht, die ungewollt verschiedene Konfigurationen der Geschlechtsidentität erzeugt?“384 Butler folgert letztlich, dass das Inzesttabu in strukturalistischen, psychonanalytischen und feministischen Darstellungen zu sehen ist „als Mechanismus, der versucht, innerhalb eines heterosexuellen Rahmens diskrete und innerlich kohärente [sex, gender, desire], geschlechtlich bestimmte Identitäten zu erzwingen“385. Daher wird es im nachfolgenden Passus um die Ergründung und Offenlegung eben jenes Phänomens gehen – vor allem im Hinblick auf die Erörterung der butlerschen Kritik an der strukturalistischen Position.

384 ebd.: 113. 385 ebd.: 11; Anm. d. Verf.

130

4 Vom Homo ödipus zum Homo mimeticus Erklärungsansätze des universellen Inzestverbots

Das Inzesttabu spielt in der poststrukturalistischen Gender-Theorie Butlers also insofern eine tragende Rolle, als dass darin die Wurzel der Zwangsheterosexualität und Konstituierung der binären geschlechtlichen Identität gesehen wird: „Wir haben bereits das Inzesttabu und das vorgängige Tabu gegen die Homosexualität als generative Momente der Geschlechtsidentität betrachtet, d.h. als Verbote, die die Identität gemäß den kulturell intelligiblen Rastern einer idealisierten Zwangsheterosexualität hervorbringen. Diese Disziplinarproduktion der Geschlechtsidentität bewirkt eine falsche Stabilisierung der Geschlechtsidentität im Interesse der heterosexuellen Konstruktion und Regulierung der Sexualität innerhalb des Gebiets der Fortpflanzung.“386 Um Butlers Position aber vollständig nachvollziehen und im hieran anschließenden Kapitel diskutieren zu können, sollen zuvor sowohl die Ursprünge als auch die weiterführenden Erklärungsansätze des von Butler kritisierten Inzestverbots von Lévi-Strauss herausgearbeitet werden. Ein wesentlicher Bezugsstrang der strukturalistischen Haltung ist hierbei die Hypothese des Urmordes von Freud als Geburtsstunde der Kultur. Girard wiederum hält beide Erklärungsansätze (Freud, Lévi-Strauss) des Inzesttabus für unzureichend und entwickelt darauf aufbauend seinen eigenen anthropologischen Standpunkt. Bevor jedoch die Kernthesen von Freud, Lévi-Strauss und Girard zum Inzesttabu besprochen und miteinander in Verbindung gesetzt werden, muss eine wesentliche begriffliche Differenzierung hinsichtlich der zweifachen Funktion des Totemismus vorangestellt werden, die in den folgenden Ausführungen im Zusammenhang mit dem Inzesttabu von Relevanz sein wird. So gibt es zum einen die Bedeutung des Terminus, die sich auf das bezieht, was totemistische Gesellschaften tatsächlich praktizieren, also eine bestimmte menschliche Verhaltensweise in einer Phase der Gesellschaft, wie eben der Totemismus oder auch der Kannibalismus. Die zweite, deutlich zu unterscheidende, Funktion des Begriffs ist dessen theoretische Ver386 Butler 2014: 199; Hervorh. d. Verf.

131

4 Vom Homo ödipus zum Homo mimeticus

wendung als eine philosophische Theorie innerhalb der Kulturanthropologie. In dieser zweiten Verwendung ist der Totemismus als eine bestimmte Erklärungslinie resp. Interpretationshypothese (Funktion 2) zu sehen, mit der (totemistische) Praxen bestimmter Gesellschaft (Funktion 1) interpretiert werden. Nur wenn der Begriff des Totemismus seine theoretische Berechtigung (Funktion 2) hat, ist es folgerichtig auf totemistische Institutionen, Verwandschaftsbeschreibungen oder Tabuvorschriften, wie etwa das des Inzestverbots, zu schließen (Funktion 1). Lévi-Strauss bezieht sich, ähnlich wie Freud, Girard oder auch Malinowski, auf die zweite Funktion des Totemismus. 4.1 Die Kulturlehre von Freud „Im Anfang war die Tat.“387 Mit diesem Zitat aus Goethes Faust388 schließt Freud Totem und Tabu ab. Er will damit damit zum Ausdruck bringen, dass alle sozialen Systeme, auch die Familie, mit einem Akt der Gewalt beginnen – ähnlich wie Faust, der in seiner kontemplativen Arbeit über die Ursprünge des Daseins nachdenkt und nicht das Wort389, sondern die Tat an den Anfang allen Seins stellt. In den vier in Totem und Tabu enthaltenen Abhandlungen versucht Freud zentrale Fundamente der Kultur aus Prozessen der menschlichen Psyche herzuleiten, indem er, wie der Untertitel Über einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker bereits suggeriert, psychopathologische und ethnologische Kategorien in Analogie setzt. Seine Intention liegt dabei in der Übertragung individual-psychoanalytischer Erkenntnisse auf völkerrechtliche Fragestellungen und ungeklärte ethnologische Phänomene390, unter anderem das universelle Inzesttabu, um dessen Ergründung es in der vorliegenden Arbeit im Wesentlichen geht. 4.1.1 Der Mord am Urvater Freud lässt die menschliche Kulturgeschichte und die damit einhergehende Entstehung des Inzestverbots mit einem Verbrechen in der Urhorde be387 388 389 390

132

Freud 2014: 757. vgl. Goethe 1993: Z. 1235–1237. vgl. Lutherbibel 1984, Johannes I, Kap. 1, Vers 1. vgl. Freud 2014: 611.

4.1 Die Kulturlehre von Freud

ginnen: Dem Gründungsmord am Hordenführer. Er knüpft dabei an seinerzeit be- und anerkannte Vermutungen über die Genese des sittlich-kulturellen Menschen an (Darwinsche Urhorde), um sie psychoanalytisch neu zu interpretieren. Von Darwin übernimmt Freud die These von der Urgesellschaft, die in hordenartigen Gemeinschaften zusammengelebt habe. Diese Urhorde wird von einem Patriarchen beherrscht, der darüberhinaus das sexuelle Vorrecht über die Frauen in der Horde hat. Damit werden die anderen männlichen Hordenmitglieder zur sexuellen Abstinenz gezwungen, was bei diesen die Eifersucht gegenüber dem Herdenführer hervorruft. Sie schließen sich deswegen selbst zu einer Horde zusammen und töten den Urvater. Am Anfang der Kultur steht bei Freud also der Mord der Söhne am Urvater, der ihnen den Zugang zu den Frauen untersagt hat. Durch den Mord kommt es anschließend zu einem Wechsel der gespaltenen Beziehung zum einstigen Hordenführer, die er mit der Ambivalenz des psychoanalytischen Vater- resp. Ödipuskomplexes gleichsetzt. Aus Hass wird also schließlich Bewunderung und so gewinnt nach dem Mord die zärtliche Strömung die Oberhand gegenüber der aggressiven. Dies bringt die Söhne dazu, in einem Akt des nachträglichen Gehorsams den Totemismus zu begründen: Sie verehren im Totemtier den Vater, überwinden hierdurch ihre Rivalität und erlassen zur Vermeidung einer Wiederholung des Geschehens die beiden grundlegenden Verbote der Kultur: das Mordverbot am Totemtier und das Inzestverbot mit den Totemgenossen. Diese beiden Verbote, die diejeingen Tätigkeiten betreffen, zu denen eine starke unbewusste Neigung besteht, sind für Freud die ältesten und wichtigsten Tabugebote des Menschen und stellen die Grundgesetze des Totemismus dar. Das totemistische System hat sich nach Freud demnach aus den Bedingungen des Ödipus-Komplexes ergeben391. Hierbei ist anzumerken, dass bereits in der Etymologie des Wortes Tabu eine Ambivalenz steckt. Das schwerlich exakt ins Deutsche zu übersetzende Wort Tabu kommt aus dem Polynesischen und beinhaltet einerseits etwas Ehrfürchtiges, andererseits ist damit jedoch auch eine gewisse Abscheu verbunden. Daher verwendet Freud den Ausdruck „heilige Scheu“392 um das Spannungsverhältnis zwischen Verbot und Begehren im Tabu-Begriff zu akzentuieren: „‚Tabu’ heißt (...) alles, sowohl die Personen als auch die Örtlichkeiten, Gegenstände und die vorübergehenden Zustände, welche Träger oder Quelle dieser geheimnisvollen Eigenschaft sind. Tabu heißt auch das Verbot, welches sich aus dieser Eigenschaft herleitet, und Tabu heißt 391 vgl. ebd.: 725ff. 392 ebd.: 629.

133

4 Vom Homo ödipus zum Homo mimeticus

endlich seinem Wortsinn nach etwas, was zugleich heilig (...), wie auch gefährlich, unrein, unheimlich umfaßt.“393 Mit den beiden fundamentalen Tabus des Mordes und des Inzests innerhalb der Totemgemeinschaft will die solidarische Brüderhorde ausschließen, dass einer von ihnen jemals wieder so behandelt wird wie es der Ur-Vater ihnen tat. Das daraus entstandene, gesellschaftsgründende Inzesttabu ist also als Reflex des Übergangs von der Horde zur kulturellen Ordnung zu sehen und zeigt, dass die Inzestscheu als „Wurzel der Exogamie“394, eigentlich die Verdrängung unbewusster Inzestwünsche ist. Freud hebt sich mit seiner „historischen Ableitung“395 des Inzesttabus u.a. von Frazer ab, der die Ursprünge des ethnologischen Phänomens des Inzestverbots ungelöst lässt.396 Indem Freud das gleichzeitige Auftreten von Exogamie und Totemismus proklamiert, stellt er sich gegen Darwin und Durkheim. Ersterer behauptet, der Totemismus sei aus der Exogamie hervorgegangen und letzterer vertritt die Auffassung, die Exogamie ist eine Konsequenz aus den Totemgesetzen397. 4.1.2 Der Ödipuskomplex Das hypothetische Ur-Ereignis am Anfang jeglicher Gesellschaftsform verbindet Freud schließlich mit dem Ödipuskonflikt resp. zieht letzteren als Erklärung und wichtigen Entwicklungsschritt der heteronormativen Geschlechtsidentität heran. Der Ödipuskomplex resp. -konflikt beruht dabei als psychoanalytischer Fachterminus auf der Gestalt des Ödipus aus dem gleichnamigen griechischen Mythos. Vom Familienfluch der Labdakiden belastet, erschlägt Ödipus unwissentlich seinen Vater Laios und ehelicht später seine Mutter Iokaste, von der er ebenfalls nicht wusste, dass sie seine leibliche Mutter war, und bekommt aus dieser inzestuösen Verbindung mit ihr vier Kinder (Eteokles, Polyneikes, Antigone, Ismene). Im Gegensatz zu den Mitgliedern der Ur-Horde handelt Ödipus aber unwissentlich (unbewusst). Doch Eines wusste auch die Brüderhorde nicht, nämlich dass sie den Vater nach dem Mord an ihm idealisierend einsetzen und damit

393 394 395 396 397

134

ebd.: 633. ebd.: 723. ebd.: 725. vgl. ebd. vgl. Freud 2014: 726f.

4.1 Die Kulturlehre von Freud

sein Gesetz erneut aufrichten müssen. So gilt weiterhin das Verbot des Besitzes der zur Gruppe gehörenden Frauen (Inzesttabu), um das Kompetitive innerhalb Brüderhorde zu vermeiden und damit einen erneuten Mord zu verhindern. Im Ödipuskomplex drückt sich damit letztlich das aus, was einst stattfand und unbewusst noch immer begehrt wird. Freud führt also den Ödipuskonflikt als Erklärung für das Verhalten der Brüderhorde nach dem Vatermord ein. Der Tote wurde nun kraft der ihm zugesprochenen Symbolik mächtiger und bedeutender, als es der Lebende je gewesen war. Daraus entwickelt sich das Gesetz des Vaters, auf dem das Patriarchat gründet. Dem Ödipuskomplex kommt bei Freud demnach deswegen ein so zentraler Stellenwert zu, weil es sich bei diesem um mehr als nur eine kindliche Entwicklungsstufe und potenzielle Konfliktquelle mit Vater und Mutter handelt. Der Ödipuskonflikt hat bei Freud den Stellenwert einer Sozialisationstheorie, die den unterschiedlichen Weg der beiden Geschlechter hinein ins Patriarchat zur Darstellung bringt. Freuds Schriften über die frühkindliche Sexualentwicklung geben uns somit einen Einblick in den Verlauf und die Schwierigkeiten bei der Gestaltung der Geschlechterdifferenz. Bei Freud steht der Ödipuskomplex für die Gesamtheit der ambivalenten Gefühlsregungen (zugleich zärtliche als auch feindselige Wünsche), die das vier- bis fünfjährige Kind in einem bestimmten Stadium während seiner psychosexuellen Entwicklung seinen Eltern gegenüber empfindet. Bis zum Ende der sog. phallischen Phase soll die Geschlechterdifferenz keinen Einfluss auf die Sexualbetätigung haben und entsprechend ist sie noch nicht in die kindliche Theorie der eigenen Herkunft integriert: Freuds Modell der Entwicklung der Sexualfunktion umfasst fünf Phasen, die sog. phallische oder ödipale Phase meint das vierte bis fünfte Lebensjahr. Die anderen Entwicklungsstufen sind die orale Phase bis zum ersten Lebensjahr, die anale Phase vom zweiten bis dum dritten Lebensjahr, die Latenzphase vom sechsten bis zwölften Lebensjahr sowie die Genitalphase im Stadium der Adoleszenz von 13 bis 18 Jahren398. Im hiesigen Kontext ist jedoch nur die phallische Phase von Relevanz, da sich hier die sexuellen Wünsche des Kindes unbewusst auf den gegengeschlechtlichen Elternteil richten, wohingegen der gleichgeschlechtliche Elternteil aufgrund dessen als Rivale gilt und folglich Eifersucht und Hass bei dem Kind auslöst. Dieses Hindernis muss nach Freud jeder Junge in seiner psychosexuellen Entwicklung überwinden.

398 vgl. Zimbardo/Gerrig 2004: 616.

135

4 Vom Homo ödipus zum Homo mimeticus

Das Wort Phallus kommt ursprünglich aus dem Griechischen (phallós) und meint das männlich errigierte Glied, insbesondere aber seine Nachbildung als Symbol für Fruchtbarkeit und Zeugungskraft. Als Phallussymbol bezeichnet man in der Psychoanalyse all jene Gegenstände, die als Sinnbild des männlichen Genitals interpretiert werden können. Im günstigsten Fall sieht das Kind seinen Vater nicht mehr als Konkurrenten und gibt seine Inzestwünsche gegenüber der eigenen Mutter auf. Der Junge soll den Vater als Vorbild betrachten und sich mit diesem identifizieren. Mit der Wahrnehmung der Geschlechterdifferenz tritt das Kind ein in das ödipale Dreieck resp. trianguläre Begehren, bestehend aus Vater, Mutter und Kind. Freuds diesbezügliche theoretische Ausführungen für weibliche Kinder waren nicht eindeutig. Erst Carl Gustav Jung führte als Beschreibung des weiblichen Pendants den Begriff des Elektrakomplexes ein. Er steht für eine überstarke Bindung eines Mädchens an den Vater bei gleichzeitiger Feindseligkeit gegenüber der Mutter. Der Name leitet sich, ähnlich wie bei Freud, aus der griechischen Mythologie ab. Dazu bedient er sich des Mythos über die Familie der Atriden, auf denen, angefangen mit dem Frevel des Tantalos, ein Fluch liegt, der sich bis zu seinem Urenkel Agamemnon, dessen Frau Klytämnestra, seinen Töchtern Iphigenie und Elektra sowie seinen Sohn Orestes fortsetzt. Die Konfliktsituation besteht darin, dass das Kind die Mutter begehrt und ihm der Vater dabei im Weg ist. Unter der Kastrationsdrohung und dem Inzestverbot muss das Kind einen Kompromiss finden, indem es sich mit der Autorität, Kraft und anderen Eigenschaften des Vaters identifiziert. Das heißt, es nimmt die Gesetze, denen es sich unterwirft, in sich auf und wird zu dessen Träger. Er hat sich auf diese Weise der Geschlechterspannung patriarchalisch entledigt. Wird die phallische resp. ödipale Phase jedoch nicht überwunden und das Kind bleibt auf diese Phase fixiert, sieht Freud darin eine Ursache für das Entstehen von Neurosen oder Perversionen. Unter Fixierung versteht Freud den „Zustand, in dem eine Person weiterhin an Objekte oder Aktivitäten gebunden bleibt, die für vorhergehende Phasen der psychosexuellen Entwicklung angemessener sind“ 399. Aus dieser Nachbildung der einstigen Urhorde ist demnach die Familie entstanden, in der noch immer die innersten Triebe spürbar sind: Tötung des Vaters und Besitz der Mutter.

399 ebd.: 615.

136

4.1 Die Kulturlehre von Freud

4.1.3 Freud und Lévi-Strauss im Vergleich Gemeinsam ist beiden, dass sie von einer grundsätzlich heterosexuellen Grundnatur des Menschen im Laufe seiner psychosozialen Entwicklung ausgehen. Dies ist auch der Grund, weshalb Butler in Lévi-Strauss den Erben des freudschen Postulats des Patriarchats sieht: „Von Freud ausgehend steht für Lévi-Strauss die Ödipus-Sage im Dienst der Verwurzelung verwandtschaftlicher Strukturen im Inzest-Tabu und der Heterosexualität.“400 Obwohl Lévi-Strauss also nach Butler grundsätzlich auf Freud aufbaut, finden sich bei beiden auch divergente Auffassungen. So gibt es für Freud in der Geschichte der Hominisation drei wesentliche Entwicklungsstufen resp. Weltanschauungen, die chronologisch aufeinander folgen: Animismus, Religion und Wissenschaft. Er setzt diese drei menschlichen Denksysteme in Analogie zur libidonösen Entwicklung, die sich vom Narzissmus über die Objektfindung schließlich zur Fokussierung auf ein Objekt in der Außenwelt in verschiedenen Phasen vollzieht. Freud schlussfolgert, dass die sog. Wilden auf der Stufe des Animismus stehengeblieben sind401, würdigt jedoch im gleichen Zug die Kulturhöhe der Primitiven, da es auch im animistischen System Fortschritte und Entwicklungen gegeben hat, „die man mit Unrecht ihrer abergläubischen Motivierung wegen gering schätzt“402. Damit unterscheidet er sich von der Position von Lévi-Strauss, der im wilden und zivilisierten Denken eben keine stufenartige Entwicklung oder verschiedene (kognitive) Stadien sieht, sondern lediglich zwei verschiedene, aber qualitativ gleichwertige Modi intellektueller Operationen. Es handelt sich bei Lévi-Strauss folglich um zwei gleich ursprüngliche, wenn auch unterschiedliche, Arten des menschlichen Geistes, die in ihren Ergebnissen ungleich sind, nicht jedoch in ihren geistigen Prozessen. Für Lévi-Strauss ist das die Antwort auf das neolithische Paradox, welches die Frage aufwirft, warum zwischen den Errungenschaften des Neolithikums und der Entstehung der neuzeitlichen Wissenschaft eine mehrere Jahrtausende währende Stagnation vorherrscht. Ein weiterer und zwar fundamentaler Unterschied zu Lévi-Strauss ist die Annahme Freuds, dass die Mitglieder des Totemstammes an eine geistige Abstammung vom Totemtier glauben und sich deswegen nach ihm benen-

400 Butler 2013: 2. 401 vgl. Freud 2014: 699f. 402 ebd.

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4 Vom Homo ödipus zum Homo mimeticus

nen (bspw. Bär oder Adler). Damit folgt Freud dem Standpunkt der klassischen Ethnologie (Frazer, Reinach) und glaubt an eine Identifizierung der Totemgenossen mit dem Totemtier403. Lévi-Strauss aber sieht im Benennungsgebaren totemistischer Gesellschaften vielmehr eine Art Codierung ihrer Sozialstruktur mittels der Gegebenheiten der Natur. So wirft er in Das wilde Denken die Frage nach dem „letzten Rest der Spekulationen über den Totemismus“404 auf und setzt damit an Franz Boas’ Problemstellung an, der zu dem Schluss kam, dass das wesentliche Problem des Totemismus darin liegt, zu erklären, warum sich in sog. primitiven Gesellschaften jene Affinität zum Tier- und Pflanzenreich findet. Es geht also darum, zu untersuchen, was es an der „Art und Weise, wie der Mensch die Pflanzen und Tiere wahrnimmt und sie begreift, an Originellem gibt“405. Warum entlehnen totemistische Gesellschaften also ihre Benennungssysteme aus dem Naturreich? Will man ein Tier beschreiben, so schaut man sich die Gattung an, zu der es gehört – somit verflüchtigt sich die Individualität des Tieres in einen Gattungsbegriff. Wohingegen einen Menschen zu erkennen bedeutet, ihn von anderen Menschen zu unterscheiden. Jene Wahrnehmung des Gattungsbegriffs hinter den Individuen charakterisiert die Beziehung zwischen dem Mensch und dem Tier oder der Pflanze und hilft so, auch den Totemismus an sich zu begreifen. Denn für den Erkenntnisprozess, wer wir sind und wofür wir da sind, ist es wichtig, dass sich jede Gesellschaft selbst versteht. Und so kommt es, dass zwei Clans innerhalb eines Stammes notwendigerweise zwei verschiedene Tiere sein müssen. Betrachtet man die Clans nun isoliert, ist das wenig erkenntnisreich. Jeder Clanname wäre für sich genommen nur eine Benennung. Zusammen genommen erkennt man jedoch, dass beide Clans verschiedenen Blutes sind und folglich zwei Gattungen im biologischen Sinn des Wortes darstellen406. Wenn der Totemismus auf biologischen Tendenzen und auf natürlichen Gefühlen beruhen würde, käme man zu dem Ergebnis, dass jeder Clan endogam wie eine biologische Gattung wäre und die Clans blieben einander fremd und könnten bspw. keine Frauen untereinander austauschen. Es verhält sich bei Lévi-Strauss vielmehr so, dass ein System mittels eines Tieres gebildet wird. Dieses an das Naturreich angelehnte Benennungssystem liefert so das begriffliche Werkzeug. Das so gewonnene „apriorische Gitter“407 wird nun auf alle Situationen angewandt und er403 404 405 406 407

138

vgl. Freud 2014: 703ff. Lévi-Strauss 2013: 159. Lévi-Strauss 1965: 121. vgl. ebd.: 122. Lévi-Strauss 2013: 174.

4.2 Die Allianztheorie nach Lévi-Strauss

laubt es, von einer Ebene zur anderen überzuwechseln und jede Ebene mit Hilfe eines einer anderen Ebene entlehnten Codes begrifflich zu fassen – von der abstrakten zur konkreten und von der kulturellen zur natürlichen Ebene. Die Gesellschaften, die wir primitiv nennen, glauben nicht, dass zwischen den verschiedenen Klassifizierungsbereichen eine Kluft besteht, vielmehr begreifen sie die Abstände als Etappen oder Momente eines Übergangs. Somit haben alle Klassifizierungsbereiche das gemeinsame Merkmal, dass sie den Rückgriff auf andere Bereiche gestatten und implizieren müssen und sich somit nur durch ihre relative Stellung innerhalb eines umfassenden Bezugssystems unterscheiden, das mit Hilfe von Gegensatzpaaren arbeitet. Statt also Beziehungen zwischen Ideen herzustellen, setzt es Himmel/ Erde, Erde/Wasser, roh/ gekocht usw. einander entgegen. Auf diese Weise enthält bei Lévi-Strauss das totemistische Denken eine Logik sinnlicher Eigenschaften, bspw. Farben, Gerüche oder Töne. Das totemistische Denken wählt demnach Elemente aus, kombiniert sie oder setzt sie einander entgegen, um eine codierte Botschaft zu übermitteln. Der Fehler der klassischen Ethnologen und auch Freuds liegt für Lévi-Strauss nun darin, dass sie einen Klassifizierungsbereich willkürlich herausschnitten (den, der durch die Bezugnahme auf die natürlichen Arten gebildet wurde) und ihm den Wert einer Institution beilegten408. Er ist jedoch wie alle anderen Bereiche, einer unter vielen – ein Klassifizierungsbereich, der mit Hilfe abstrakter Kategorien arbeitet oder den der Namensklassen verwendet. 4.2 Die Allianztheorie nach Lévi-Strauss Für Lévi-Strauss ist der Totemismus folglich von besonderem Interesse, weil es sich bei ihm um ein Klassifikationssystem handelt, das den Zusammenhang zwischen Natur und Kultur herstellt. Die Klassifizierungsweise des wilden Denkens unterscheidet sich vom zivilisierten, wie angedeutet, dadurch, dass es mit den vorhandenen und verfügbaren Bausteinen arbeitet. Lévi-Strauss vergleicht dieses Prozedere deshalb auch mit dem Basteln (bricolage), das ein gegebenes Material neu zusammenstellt resp. es zu diesem Zweck vorher zerlegt.

408 vgl. ebd.: 159f.

139

4 Vom Homo ödipus zum Homo mimeticus

4.2.1 Das Inzesttabu als Verbindung von Natur und Kultur Im Fall des Totemismus bedient sich Lévi-Strauss zweier Reihen, einer natürlichen und einer sozialen, die neu kombiniert werden. In der Reihe der Tier- resp. Pflanzenwelt (Natur) finden sich Kategorien und Individuen und dementsprechend in der Gesellschaft (Kultur) Gruppen und Einzelpersonen. Die vier totemistischen Korrelationen sind: NATUR

Kategorie

Kategorie

Individuum

Individuum

KULTUR

Person

Gruppe

Person

Gruppe

Einzelne Personen können in Bezug zum Naturreich treten (bspw. nordamerikanische Initiationsriten)

Gruppen können sich nach Tier- und Pflanzenarten benennen (bspw. australischer Clantotemismus)

Ein Kind kann als Verkörperung eines bestimmten Tieres betrachtet werden, dass der Mutter während der Schwangerschaft auffällig wird (bspw. Mota auf den Bank-Islands)

Einzelne Tiere können schließlich Schutzgeister von Gruppen sein (bspw. Neuseeland)

Tab. 1: Die vier totemistischen Korrelationen n. Lévi-Strauss (zit. n. Lévi-Strauss 1965: 27f.). Das totemistische System verwendet also diese vier logisch möglichen Kombinationen, um differentielle Abstände, die die Natur bereithält, in den sozialen Bereich zu übertragen (Transformation). Somit erzeugt es symbolische Bedeutung, die sich praktisch z. B. in der Differenzierung von gesellschaftlichen Funktionen, im Hinblick auf rituelle Aufgaben, Heiratsgebote oder Tabuvorschriften niederschlägt. Für das Verhältnis zwischen Natur und Kultur ist bei Lévi-Strauss das Inzestverbot der elementare Aspekt. Denn das „(...) Inzestverbot [ist] gleichzeitig an der Schwelle der Kultur, in der Kultur und, in gewissem Sinne (...), die Kultur selbst“409. Es hebt sich insofern von anderen ethnologischen Phänomenen ab, als dem Inzesttabu sowohl Universalität (Natur) als auch der Charakter einer Regel (Kultur) zukommt. Das universell geltende Inzesttabu ist also die Grundlage der Kultur und das Ende der uneingeschränkten Macht der Natur über den Menschen und gilt bei allen noch so unterschiedlichen und geografisch weit auseinander liegenden Gemeinschaften -lediglich die Verwandtschaftsgrade, die es einschließt, unterliegen

409 Lévi-Strauss 1993: 57; Anm. d. Verf.

140

4.2 Die Allianztheorie nach Lévi-Strauss

soziokulturellen Unterschieden. Der Grund für die weltweite Verbreitung ist aber weder eine gemeinsame Moral noch eine instinktive Ahnung gesundheitlicher Risiken. Vielmehr ist das Inzesttabu Gesellschaftsbildung par excellence. Lévi-Strauss schreibt seiner strukturalen Anthropologie und der Suche nach kulturellen Universalien dem Inzesttabu die Funktion eines Grundgesetzes des Menschseins zu und verleiht dem Phänomen damit d e n Garanten für Gesellschaft und Zivilisation. Seine Allianztheorie besagt, dass das Inzesttabu Menschen dazu animiert, Partner außerhalb ihrer Gruppe zu suchen, um den Einfluss ihrer Gruppe zu stärken. Wenn bspw. eine junge Frau in einen anderen Clan einheiratet, verbindet sie beide Familien miteinander und schafft eine für beide Seiten vorteilhafte Solidargemeinschaft. Indem man also auf konsanguine Verbindungen verzichtet, die langfristig zum Zerfall der Gesellschaft in kleinste Einheiten führen würde, erhält man Tauschobjekte in Form von Töchtern oder Schwestern. So entsteht eine soziale Struktur, die sich mehr und mehr erweitert. Hinter den Heiratsregeln verbirgt sich damit ein interfamiliäres Tauschsystem, dessen Objekte Frauen sind. Der Frauentausch hat einen Wert an sich: Er bringt Menschen miteinander in Verbindung, die sich in einer rein natürlichen Ordnung fernstehen würden. Durch die fortgesetzten Heiraten entstehen stetig neue Allianzen, die unter anderem für die Verbreitung neuer Kulturtechniken und anderer Innovationen sorgen. Erklärlich wird das Phänomen des Inzesttabus, wenn man annimmt, dass ihm die entscheidende Vorbedingung menschlicher Gesellschaften innewohnt. Für Lévi-Strauss ist dies das Gesetz der Gegenseitigkeit und des Tausches. Er nimmt damit die Idee von Mauss wieder auf: Tausch ist die Grundlage allen sozialen Lebens (fait social total). Der Frauentausch, und die damit einhergehende Erhebung der Frau zum wertvollsten Gut der Gruppe, findet seinen Ausdruck in den Heiratsregeln. Das Inzesttabu impliziert die Pflicht zur Gegenseitigkeit, eine der höchsten Gebote der Gabe und bei Lévi-Strauss tatsächlich eher als ein Heiratsge- als denn ein -verbot zu sehen. Aus diesem Komplex sind auch die nahezu drakonischen Strafen erklärbar, welche der Übertretung des Inzestverbots folgen. So geht es bei inzestuösem Verhalten nicht nur um ein schändliches Vergehen, das stittlichen Anstoß erregt. Wer die Regel aller Regeln bricht, betrügt die anderen um einen Teil des Tausches und setzt die kulturelle Ordnung aufs Spiel, ermöglicht doch das Inzestverbot ist die Überordnung der Kultur über die Natur, des Sozialen über das Natürliche. Zerfällt es, steht die Existenz der Gesellschaft auf dem Spiel.

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4 Vom Homo ödipus zum Homo mimeticus

4.2.2 Lévi-Strauss und seine Kritik an Freud Wie Freud geht es Lévi-Strauss um die Ergründung des Unbewussten, jedoch steht bei Letzerem nicht ein Analyseobjekt im Vordergrund, es ist vielmehr die in allem verborgene, zu Grunde liegende Struktur, von der alle Sinnhaftigkeit abhängt und die es offenzulegen gilt. So ist der Strukturalismus, wie auch die Psychoanalyse, auf der Suche nach verborgenen Tiefenstrukturen und Konstanten, die universellen Charakter haben und die Kultur durchdringen. Beiden gemeinsam ist, dass sie im Inzest eine Regel erkennen, die existenziell für das Leben und Überleben der Gesellschaft ist. Und obwohl Lévi-Strauss auf die Kulturtheorie von Freud rekurriert und sie als „vorbildlich und lehrreich“410 für seine Analysen bezeichnet, konstatiert er, dass Freud seine These nicht konsequent zu Ende gedacht hat und stellt dabei vor allem in Frage, dass es tatsächlich plötzlich ein Ereignis, den Mord in der Urhorde, gegeben hat, aus dem heraus die menschliche Kultur entstanden sein soll. Lévi-Strauss sieht Argumentation von Freud einen Zirkelschluss, da er „den Gesellschaftszustand von den Ereignissen ableitet, die ihn voraussetzen“411. Freuds psychoanalytische Thesen können nach Lévi-Strauss demnach zwar wesentliche Erkenntnisse dafür bringen, warum der Inzest im Unbewussten begehrt wird, nicht aber für dessen bewusste Tabuisierung412. Damit ist für Lévi-Strauss die Kulturlehre von Freud gesellschaftsbeschreibend, nicht aber gesellschaftserklärend. Die Regelung des Inzestes ist der Gesellschaftszustand selbst, der all das ordnet und in Struktur bringt, was die Natur ungeordnet lässt. Für Lévi-Strauss sind die symbolischen Ersatzhandlungen zur Vermeidung des Inzestes also keine Erinnerung an d a s vergangene Ereignis, sondern der Versuch aus diesem geordneten, kulturellen Zustand auszubrechen. Das Inzestverbot stellt also den „Eingriff schlechthin“413 in die Natur dar. Lévi-Strauss sieht die Bedeutung des Inzsttabus damit in der Markierung der Grenze zwischen Natur und Kultur, zwischen Spontaneität und Norm414. Beim Inzestverbot handelt sich nicht um eine Logik moralischer Werte oder biologischer Befürchtungen, sondern um ein Gebot, ja sogar Zwang, zur Kommunikation und zum Tausch. Das Inzesttabu ist also ein elementares Moment der Gemeinschaftsbildung – es stiftet Strukturen, die beliebig nebeneinander her existierender Menschen (Natur) in sinnvoller und notwendiger Weise mit410 411 412 413 414

142

ebd.: 655. ebd.: 656. vgl. ebd. ebd.: 81. vgl. ebd.: 52.

4.2 Die Allianztheorie nach Lévi-Strauss

einander verbindet. Damit schließt sich Lévi-Strauss letztlich Tylors Begründung des Inzestverbots an, das dieser mit either marrying-out or being killed out zusammenfasste. Lévi-Strauss enthebt also die Frau vom Objekt der Triebbefriedigung bei Freud zum Tauschobjekt. Bei Lévi-Strauss wird die Frau zum Zeichen desjenigen Systems, das wir Gesellschaft nennen. Genau das ist der wesentliche Kritikpunkt von feministischer Seite (Rubin, Wittig). Der maßgebliche Unterschied zwischen Freud und Lévi-Strauss besteht also darin, dass Ersterer allgemeine Prinzipien des menschlichen Individuums im persönlichen Unbewusstsein lokalisiert, Letzterer hingegen allgemeine Prinzipien der gesamten Menschheit in ihrem kollektiven Unbewusstsein verortet. Denn hinter den auf den ersten Blick willkürlichen, binnenkulturellen Regelungen der Verwandtschaftsverhältnisse verbirgt sich bei Lévi-Strauss eine gemeinsame strukturelle Ordnung, die allen Menschen immer schon unbewusst zugrunde liegt. 4.2.3 Die Elementaren Strukturen der Verwandtschaft – ein Anti-FrauenBuch? Am Ende der Elementaren Strukturen der Verwandtschaft415, in seinem zwei Jahre später erschienenen Artikel Sprache und Gesellschaft (1951)416 sowie in seinem Aufsatz Die Familie (1956)417 geht Lévi-Strauss explizit auf den Status der Frau in seiner Allianztheorie und die damit einhergehende feministische Kritik (Rubin, Wittig, Butler) ein. Dabei erkennt er in der Sprache und der Exogamie eine Homologie. Der Begriff Homologie ist entschieden von der Analogie abzugrenzen. Wohingegen es im ersten Fall um unterschiedliche Erscheinungen geht, die aus einer Ursache hervorgehen, liegen in der Analogie verschiedene Ursachen für eine Erscheinung vor. Was also zwei homologe Glieder zueinander in Beziehung setzt, ist nicht eine kausale Verbindung, sondern deren strukturelle Entsprechung. In diesem Zusammenhang ist die formelle Übereinstimmung zwischen der Sprachstruktur und der Struktur des Verwandtschaftssystems gemeint. Wie die Wörter werden auch die Frauen in der Gruppe ausgetauscht. Es handelt sich also bei beiden Zeichen um ein Mittel resp. das Gebot zur Kommunikation. Wenn also bspw. im Kommunikationsbereich der Verwandtschaftssysteme die

415 vgl. ebd.: 662f. 416 vgl. Lévi-Strauss 1977: 68–79. 417 vgl. Lévi-Strauss 1971: 333ff.

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4 Vom Homo ödipus zum Homo mimeticus

Frauen nicht zwischen Familien, Klans oder Sippen ausgetauscht werden, werden sie ihrer Wertigkeit beraubt: „Was bedeutet das anderes, als daß die Frauen selbst als Zeichen behandelt werden, die man mißbraucht, wenn man nicht den Gebrauch von ihnen macht, der den Zeichen zukommt und der darin besteht, kommuniziert zu werden?“418 Somit fungieren sowohl die Sprache als auch die exogamen Heiratsregeln, die sich notwendig aus dem Inzesttabu ergeben, als zwei Lösungen für eine Ausgangssituation (Homologie). Es ist jedoch wichtig zu betonen, dass bei ihm Frauen dabei nicht als Zeichen, sondern wie Zeichen gesehen werden. Nur durch die Offenlegung der unbewussten, universalen Prinzipien der Verwandtschaftsregelung gelingt es, objektive Gesetze sichtbar zu machen. Die Wörter stellen dabei die Zeichen im Kommunikationsbereich der Sprache dar, die Frauen die der Verwandtschafts- und Heiratsregulierung. Während aber die einfache Funktion des Zeichens bei den Wörtern eindeutig ist, verhält es sich mit dem Zeichencharakter der Frauen diffiziler. Wohingegen nämlich die Wörter einst tatsächlich Werte und die wertvollsten Güter einer Gruppe waren, die durch das Auftauchen des symbolischen und schematischen Denkens aber auf ihre Funktion als Zeichen reduziert wurden, ist diese Abwertung bei den Frauen nicht möglich. Die Frau konnte und kann niemals ein Zeichen in dem Maße werden, wie es die Wörter heute sind. Der Grund hierfür liegt in der Doppelfunktion der Frau in einer Gruppe: Sie ist sowohl Zeichen als auch Erzeugerin des Zeichens. Somit ist die Frau nur insofern ein Zeichen, als dass sie als ein solches definiert ist – sie kann ihren Wert aber niemals verlieren. Anders als den Wörtern gelang es der Frau somit ihren Zauber zu bewahren, weil sie eben kein reines Symbol resp. Objekt ist, wie es die feministische Kritik dem Frauentauschprinzip von Lévi-Strauss vorwirft: „(...),ein Anti-Frauen-Buch’ hat man gesagt, weil die Frauen darin wie Objekte behandelt worden sind (...) Die Wörter sprechen nicht, im Gegensatz zu den Frauen. Diese sind gleichzeitig Zeichen und Erzeuger von Zeichen, als solche lassen sie sich nicht auf Symbole oder Spielmarken reduzieren.“419 Auch Arnold Gehlen, der die erste bedeutende Rezension zu den Elementaren Strukturen der Verwandtschaft verfasste, sieht die wesentliche kultur-

418 Lévi-Strauss 1993: 662; Hervorh. i Orig. 419 Lévi-Strauss 1977: 74f.

144

4.2 Die Allianztheorie nach Lévi-Strauss

schöpferische Leistung von Lévi-Strauss in der Überformung konsanguiner Beziehungen durch ein soziologisches System von Tauschbeziehungen, nicht aber in der Regelung oder Hierarchisierung der Geschlechtsbeziehungen. Gehlen geht mit Lévi-Strauss insofern d’accord, als dass er im Inzestverbot die Rückseite der positiven Regelung der Exogamie erkennt, deren einzige Möglichkeit im gegenseitigen Frauentausch liegt, um zwei oder mehr Gruppen langfristig und verbindlich zu vereinen. Diese elementare Integration ist daher weder politisch noch ökonomisch zu verstehen, sondern vielmehr ein durch reziprokes Handeln hergestelltes gegenseitiges Einverständnis – ähnlich wie die Sprache420. Zudem betont Lévi-Strauss, dass sich die Tauschregeln nicht ändern würden, wenn statt der Frauen die Männer die Tauschobjekte wären – wie es einige wenige matrilineare Gesellschaften praktizieren421. Lévi-Strauss stellt auf dieser Grundlage eine noch umfassendere These auf, die in diesem Rahmen jedoch nur erwähnt, nicht aber abschließend diskutiert werden soll: Indem man die Doppelfunktion der Frau innerhalb der Verwandtschaftssysteme und vor allem die Bewahrung ihrer Werthaftigkeit untersucht, die bei den Wörtern nicht gelang, kann dadurch auf den ursprünglichen Zustand der Sprache geschlossen werden. Somit geht er der Frage nach, ob es gelingt, den wahren Kern der Sprache zu rekonstruieren und darauf aufbauend eine universelle Kommunikationstheorie aufzustellen: „Wenn diese (...) Ableitung einmal durchgeführt ist, können sich der Sprachwissenschaftler und der Anthropologe fragen, ob verschiedene Modalitäten der Kommunikation – Verwandtschafts- und Heiratsregeln einerseits, die Sprache andererseits –, wie sie in der gleichen Gesellschaft zu beobachten sind, mit ähnlichen unbewußten Strukturen in Verbindung gebracht werden können oder nicht. Wenn das der Fall wäre, hätte man auf dem Weg zur Kenntnis der grundlegenden Aspekte des sozialen Lebens einen großen Schritt vorwärts getan.“422 Butlers poststrukturalistische Kritik am Objektstatus der Frau im Frauentausch bei Lévi-Strauss schließt sich der feministischen Haltung (Rubin, Wittig) an, geht jedoch noch einen Schritt weiter. Inwiefern sich ihre Gender-Theorie aber von den bisherigen Einwänden der feministischen Seite unterscheidet, aber auch worin die Gemeinsamkeiten liegen, wird später

420 vgl. Gehlen 1995: 13ff. 421 vgl. Lévi-Strauss 1993: 102. 422 Lévi-Strauss 1977: 76, 79.

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4 Vom Homo ödipus zum Homo mimeticus

noch ausführlich dargelegt. Vorher soll aber im Anschluss zu der psychoanalytischen und strukturalistischen Auffassung zum Wesen des Inzests die mimetische Theorie von Girard skizzenhaft dargestellt werden, da sie einen wesentlichen, weiterführenden Beitrag sowohl zu Freuds als auch Lévi-Strauss’ Interpretation des Inzestverbots liefert. Bemerkenswert ist an dieser Stelle, dass sich in der ersten autorisierten deutschen Übersetzung von Das Ende der Gewalt (1978) aus dem Jahr 1983 nur die Gesprächsbeiträge von ihm selbst finden, obwohl es eigentlich die Dokumentation eines Gesprächs zwischen Girard, Jean-Michel Oughourlian und Guy Lefort beinhaltet. Zudem wurden in dieser Ausgabe lediglich die ersten beiden Bücher (Fundamentalanthropologie, Die jüdisch-christliche Schrift) veröffentlicht. Das dritte Buch Interdividuelle Psychologie wurde wohl auf Grund der als kritisch gesehenen Haltung gegenüber der Psychoanalyse nicht aufgenommen423 (vgl. Girard 2009: 11f.). Girards Revision der großen Themen der Psychoanalyse erfolgt dabei mittels seiner mimetischen Generalthese eines objektlosen Begehrens, ist aber weniger eine grundlegende Ablehnung von Freuds Thesen – vielmehr formuliert Girard seine mimetische Theorie im Dialog mit den Überzeugungen Freuds424. 4.3 Girards Mimesistheorie und die unerschöpfliche Quelle der Gewalt „Über der Menschen weitverbreitete Stämme herrschte vor Zeiten ein eisernes Schicksal mit stummer Gewalt. Eine dunkle, schwere Binde lag um ihre bange Seele – Unendlich war die Erde – der Götter Aufenthalt, und ihre Heymath. Seit Ewigkeiten stand ihr geheimnißvoller Bau. Ueber des Morgens rothen Bergen, in des Meeres heiligem Schoo wohnte die Sonne, das allzündende, lebendige Licht.“425 Für Girard gründet der Ursprung der menschlichen Gesellschaft wie bei Freud auf realen Gewaltverhängnissen. Während Lévi-Strauss eine Theorie zur Erhaltung der Gesellschaft formuliert, entwickelt Girard, wie auch Freud, eine Entstehungstheorie zu den Ursprüngen der Gesellschaft, deren wahrer Kern für ihn in der Gründungsgewalt und im diesen zerstörerischen Zustand beendenden, versöhnenden Opfer (sacrifice) liegt. Die drei zentralen Säulen seiner darauf aufbauenden Mimesistheorie sind das mimetische Begehren als tragendes anthropologisches Moment, der Sündenbock423 vgl. Girard 2009: 11f. 424 vgl. Miggelbrink 2009: 15, 18. 425 Novalis, Hymnen an die Nacht, Die 5. Hymne.

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4.3 Girards Mimesistheorie und die unerschöpfliche Quelle der Gewalt

mechanismus als Herzstück seiner Kulturlehre und schließlich seine religionsphilosophische Unterscheidung zwischen archaischen Mythen und der jüdisch-christlichen Offenbarung. Deutlich vom stellvertretenden Opfer (sacrifice) zu differenzieren ist das ursprüngliche Todesopfer (victim). Eigentlich müsste noch eine dritte Form ergänzt werden: das Lebensopfer. Dieses bewusst und freiwillig erbrachte Todesopfer kann jedoch von den Menschen nach Jesus Christus nicht mehr erzeugt oder verlangt werden, da er dieses Opfer bereits erbracht und die Menschheit damit befreit hat. Jesus Christus hat also den mit dem Sündenbockmechanismus einhergehenden Gewaltzyklus durchschaut und nur so sind Frieden und Versöhnung möglich geworden. Das Haupterbe der christlich-jüdischen Religion drückt sich für Girard also im Erkennen und Überwinden der Gewalt aus. Am Anfang der menschlichen Kulturgeschichte gibt es im Zuge des Gründungslynchmordes bei Girard eine Opferung, bei der das ursprüngliche Todesopfer (victim) im Nachhinein zum versöhnenden Opfer (sacrifice) wird. Durch dieses stellvertretende Opfer (sacrifice) wird die Gewalt sakralisiert, ohne die die Gesellschaft nicht existieren könnte426. Bei Girard setzt sich die Denkfigur des versöhnenden resp. stellvertretenden Opfers (sacrifice) aus der mimetischen Krise als Gründungstopos (literarische Texte) und seiner Sündenbocktheorie (historische Texte) zusammen. Der Sündenbock ist das Todesopfer der mimetisch konstituierten Gesellschaft und so kann der Sündenbockmechanismus als verschleierte Realität ungerechter Gewalt gegen Minderheiten und Außenseiter betrachtet werden – wie es auch schon bei den Tieren zu beobachten ist. Denn auch dort wird die Gewalt gewissermaßen ab- resp. umgelenkt auf einen Außenstehenden. Für Girard gibt es in der menschlichen Kultur nichts, was sich nicht auf den Mechanismus dieses stellvertretenden Opfers und die darauf begründeten Opferriten zurückführen ließe. Der gemeinsame Ursprung sämtlicher kultureller Institutionen (u.a. Sexual-, Essens- oder Funeralaktivitäten) liegt also in der Wiederholung der Gründungsgewalt. Diese Gewalt wurde im Laufe des Hominisationsprozesses kanalisiert, wodurch der Sündenbockmechanismus zu einer Etappe in der Überwindung des mimetischen UrKrieges alle gegen alle erhoben wird. Girard baut damit augenscheinlich auf die Kulturlehre Freuds auf und nimmt dessen Überlegungen zum Ausgangspunkt seiner mimetischen Theorie über die Hominisation. Wie Freud und Lévi-Strauss sieht auch Girard im Inzesttabu dasjenige kulturstiftende Moment, welches Mensch

426 vgl. Miggelbrink 2009: 15.

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4 Vom Homo ödipus zum Homo mimeticus

und Tier grundlegend voneinander unterscheidet. So verzichten Tiere niemals darauf, innerhalb der Gruppe ihre Sexual- oder Futterbedürfnisse zu stillen: Die rangniederen Tiere müssen sich mit den von den ranghöheren Tieren überlassenen Weibchen begnügen oder abstinent sein, so dass es sein kann, dass manche Tiere versuchen, sich in einer anderen Gruppe durchzusetzen – niemals kommt es aber zur Etablierung eines exogamen Systems. Dementsprechend gibt es in Tiergesellschaften nichts außerhalb des Verhältnisses von Dominierenden und Dominierten (dominance patterns). Diese Stabilisierung durch die dominance patterns verhindert Streitigkeiten innerhalb des Tierverbandes, womit eine endlose mimetische Rivalität unmöglich wird. Die tierischen Unterwerfungs- resp. Dominanzmuster verleihen der animalischen Horde Zusammenhalt und Effizienz, die ihr ohne dieses Muster sowohl nach innen wie auch gegenüber möglichen Feinden von außen fehlen würde. Menschliche Gesellschaften beruhen jedoch nicht auf dominance patterns. Sie sind gewalttätiger als Tiere, wobei die meisten menschlichen Konflikte doppelseitig und reziprok wirksam sind. Zusätzlich zu den Gelüsten, die wir mit den Tieren gemeinsam haben, gibt es also etwas, was uns explizit von den Tieren unterscheidet. In uns Menschen gibt es laut Girard ein weitaus komplexeres Verlangen427, das kein durch den Instinkt bestimmtes Objekt besitzt: das mimetische Begehren. Girard meint mit dem an Freuds ödipales Begehren angelehnten triangulären Begehren, dass Menschen sich mit ihrem Wollen und ihrer Sehnsucht nicht wie es ihnen scheint auf das ihnen zutiefst Eigene, auf das Individuelle und Besondere beziehen – vielmehr ist es die Imitation eines fremden Strebens. Wir wissen nicht, was wir begehren, und um es herauszufinden, beobachten wir die Menschen, die wir verehren und imitieren deren Begehren428. Dieses auf fundamentalen Neid beruhende Dreiecksverhältnis ist für Girard keineswegs die Ausnahme, sondern der Normalfall. Immer ist es der andere Mensch, den sich der bestimmungsoffene Mensch zum Modell nimmt. Somit konstituiert sich das trianguläre Begehren als mimetisches Grundgesetz. Die Aneignungsmimesis ist also die wesentliche kulturelle Integrationskraft, zugleich jedoch eine höchst zerstörerische und auflösende Macht und in allen Formen des Lebens präsent. Um eben auch die konfliktuelle Seite der Nachahmung denkbar zu machen, verwendet Girard vorzugsweise den griechischen Begriff mímēsis. Girard betont, dass sich in Platons Ideenlehre die kulturelle Problematik der Nachahmung ausdrückt und zum

427 2009: 106. 428 vgl. Moosbrugger 2009.

148

4.3 Girards Mimesistheorie und die unerschöpfliche Quelle der Gewalt

wesentlichen Prinzip erhoben wurde, jedoch ein wesentliches Defizit hat: die Aneignungsmimesis. So ist im platonischen, aber auch im aristotelischen Denken das Aneignungsverhalten nicht vordergründig, weshalb die girardsche Deutung des Mimesis-Begriffes eine neue Dimension erhält429. Im Gegensatz zu den tierischen Dominanz-Rivalitäten gewinnen diese mimetischen Rivalitäten immer mehr an Intensität und sind so hochgradig ansteckend, dass sie sich auf ganze Gemeinschaften übertragen können. Die daraus entstehende Ur-Krise löste einst den Opfermechanismus aus, um den herum sich schließlich Verbote und Rituale bildeten. Girard sieht darin die ersten Religionen und anfängliche Formen menschlicher Kultur. Sie waren es, die der Menschheit die Möglichkeit gaben, ihre mimetische Macht positiv anzuwenden und ihre eigene Gewalt zu überleben. Die verheerende Macht der mimetischen Rivalitäten wandelte sich von einem alle gegen alle in ein die Gesellschaft heilendes und zusammenbringendes alle gegen einen. Zwischen der Animalität und der werdenden Humanität besteht also der Bruch des Kollektivmordes, der allein fähig ist, Organisationen zu gewährleisten, die auf Verboten und Ritualen gründen – auch wenn diese noch in einem frühen Entwicklungsstadium sind. Daraus ergeben sich die zwei wichtigsten Grundpfeiler des Religiösen: Verbote und Rituale. Aufgabe der Rituale ist es einerseits, das konfliktuelle Auseinanderfallen der Gemeinschaft in einen Akt gesellschaftlicher Zusammenarbeit zu verwandeln. Das Paradox ist das Nebeneinander von Verboten und Ritualen in allen religiösen Gesellschaften. So wiederholen Rituale – in zuweilen höchst realistischer Manier – das, was die Gesellschaften in normalen Zeiten am meisten – und anscheinend zu Recht – fürchten. Verbote versuchen andererseits die Krise abzuwenden, indem sie die generierenden Verhaltensweisen verhindern, während die Rituale, falls die Krise doch einsetzt, versuchen, diese in die richtige Richtung zu lenken und eine Versöhnung auf Kosten eines willkürlich gewählten Opfers herbeizuführen. Der Selektion dieses Opfers geht ein Gefühl des radikalen Verlustes des eigentlich Sozialen voraus, nämlich der Untergang der die kulturelle Ordnung definierenden Regeln und Differenzen. Es ist genau diese Entdifferenzierung des Kulturellen eingetreten aus der die gesellschaftliche Krise resultiert. Wie wichtig das Religiöse und damit einhergehend die Verbote (bspw. das Inzestverbot) und Rituale sind, zeigt sich vor allem in seiner Differenzierung der jüdisch-christlichen Offenbarung und der Mythen. Die Mythen zeigen die täuschende Perspektive der Verfolger und nicht die wahr-

429 vgl. Miggelbrink 2009: 13.

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4 Vom Homo ödipus zum Homo mimeticus

haftige Perspektive des Opfers, wie es in der Bibel der Fall ist. Unter dem Aspekt der Erkenntnis gibt es bei Girard nur eine Wahrheit: die Wahrheit des Opfers. Mythen bezeichnet Girard als Verfolgertexte, d.h. Berichte über tatsächlich geschehene, oft kollektiv verübte Gewalttaten, die aus der Perspektive der Verfolger verfasst sind und folglich charakteristische Verzerrungen enthalten. Hingegen ist die Bibelexegese, insbesondere die der Evangelien, ein Aufklärungsschritt gegen die mythischen Sündenbock-Opfermechanismen. Demzufolge ist die jüdisch-christliche Offenbarung die einzige religiöse Schrift, die eine Umkehrung des mythischen Schemas darstellt. So stellen die Mythen ihre Opfer als die zweifellos Schuldigen dar, wohingegen in den jüdisch-christlichen Schriften die Verfolger dafür verantwortlich gemacht werden, unschuldige Opfer angeblicher Verbrechen zu bezichtigen: „Ein Mythos ist nichts anderes als dieser absolute Glaube an die Allmacht des Bösen im Opfer, der die Verfolger von ihren gegenseitigen Vorwürfen befreit und folglich eins ist mit dem uneingeschränkten Glauben an die Allmacht des Heils.“430 Die Rolle der Religionen im Zusammenhang mit der Mimesis leitet er aus diesen Erkenntnissen ab und sieht in ihr eine Art Eindämmung der Gewalt431. Religionen bändigen die zerstörerische Aggression, die mit der kulturermöglichenden mímēsis unweigerlich einhergeht, indem sie die tödliche Gewalt durch kompensatorische Befriedigung in religiösen Opferzeremonien neutralisieren: „Die Religion ist das, was man vom Opfermechanismus bemerkt, aber auch das, was man von ihm nicht bemerkt – seine nahen und fernen Auswirkungen, die von ihm verursachten Verhaltensweisen, die ihn begünstigenden oder behindernden Umstände.“432 Girard geht in diesem Zusammenhang zur Deutung unserer modernen Welt über, die sich gerade durch diesen Einfluss der biblischen Offenbarung als friedlichste und gewalttätigste Welt zugleich zeigt. Eine Welt, die einerseits immer kritischer der Gewalt gegenübertritt, andererseits jedoch nie dagewesenen Gefahren ausgesetzt ist. Auf der einen Seite leben wir in einer Welt, die weniger gewalttätig ist als jede Welt zuvor, auf der anderen Seite sind wir einer unerhörten Zunahme von Gewalt und Bedrohungen

430 Girard 1990: 51. 431 vgl. Miggelbrink 2009: 19ff. 432 ebd.: 100.

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4.3 Girards Mimesistheorie und die unerschöpfliche Quelle der Gewalt

durch Gewalt ausgesetzt. Diese konträren Entwicklungen entfalten sich seit einigen Jahrzehnten gleichzeitig, was dazu führt, dass mehr Opfer denn je gerettet werden, im selben Atemzug jedoch mehr Opfer denn je Gewalt erleiden. Girard sieht in der sakrifiziellen Gewalt diejenige, die die Gewalt einbindet, indem die Gewalt auf die Opfer kanalisiert wird. Eliminiert oder schwächt man diese Gewalt, lässt sich nicht verhindern, dass auch die friedensstiftenden Aspekte dieser sakrifiziellen Gewalt gemeinsam mit den gewalttätigen verloren gehen. Somit geht mit den durch das Opfer geschaffenen Begrenzungen und der (religiösen) Verbote eine Entfesselung der mimetischen Rivalitäten einher, die sich in höchst zerstörerischer Art und Weise zeigt. Girard betont dabei die friedenserhaltende Funktion archaischer Religionen, die, auch wenn sie auf gewalttätige Mittel zurückgreifen mussten, zum Ziel hatten, den Frieden in der Welt zu erhalten. Archaische Religionen sind also keineswegs die Ursache von Gewalt, sondern zum einen deren Folge und zum anderen boten sie Schutz vor ihr. Wir stehen also mit dem Verschwinden der archaischen Opferstrukturen und ihrer Fähigkeit zur Gewalteindämmung einem entfesselten Begehren gegenüber, welches zutiefst ambivalent ist. So trägt die freigelassene menschliche Konkurrenz sowohl das kreative Potenzial positiven Wetteifers als auch die zerstörerische Gewalt einer planetarischen Konkurrenz in sich. Trotz der Verzerrungen, die Mythen also stellenweise enthalten, glaubt Girard in allen Mythen (u.a. Ödipus) ein gewisses Schema, eine allen zugrundeliegende Struktur zu erkennen. Für Girard gründen alle Mythen auf realen Gewalttätigkeiten, die gegen ebenso reale Opfer gerichtet sind. Nur die Religion ist die schlussendliche Aufklärung der Mythen433. Die Mythen sind bei Girard also eine Form in der die mimetische Symbolisierung ihre eigene Erklärung vorträgt, wobei der charakteristische Wesenskern darin liegt, dass die letzten Gründe eben für diese Erklärung durch den Mythos verborgen bleiben. Bei seiner Mythenanalyse teilt er die gesellschaftlichen Krisen in verschiedene Stadien ein, denen er jeweils entsprechende Stereotype zuschreibt. Dabei müssen nicht immer alle Stereotypen vorhanden sein, mindestens aber zwei oder drei davon. Für Girard stellt die Entdifferenzierung das erste Stereotyp der Krise dar, auf welches dann das Stereotyp der Anschuldigung folgt. Diese stereotypen Anschuldigungen sind fundamentale Verbrechen, die die kulturelle Ordnung angreifen, beispielsweise Sexualverbrechen (u.a. Inzest), religiöse Vergehen oder Gewalttaten an Menschen, gegen die Gewalt auszuüben besonders verbrecherisch ist

433 vgl. Moosbrugger 2009.

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4 Vom Homo ödipus zum Homo mimeticus

(König, Vater oder schwache und hilflose Menschen). Ein drittes Stereotyp ist für Girard die Opferselektion, d. h. ausschlaggebend ist die Zugehörigkeit der Opfer zu bestimmten Kategorien. Diese Kriterien können kultureller, religiöser oder rein physischer Natur sein. Das vierte Stereotyp ist die Gewalt selbst, durch die die Gemeinschaft letztendlich wieder zur totalen Solidarität zurückfindet – auf Kosten eines Opfers. Im Ödipus-Mythos will Girard alle Stereotypen der Verfolgung erkennen: 1. Die Pestepidemie in Theben, 2. Ödipus’ Mord an seinem Vater Laios und der Inzest mit seiner Mutter Iokaste, 3. Ödipus’ Gehbehinderung, sein Status als Fremder in der Stadt Theben sowie als Königssohn und eigentlich rechtmäßiger Nachfolger von Laios und die Tatsache, dass er ein ausgesetztes Kind ist. Girard liest den Ödipus-Mythos folglich als einen Verfolgertext und nicht aus literarischer oder psychoanalytischer Perspektive. Damit nimmt er die Geschichte um König Ödipus aus seinem griechischen Gewand und kleidet ihn nach abendländischer Manier neu ein. Damit zeigt Girard vor allem, dass sich Mythen und Verfolgertexte ähneln. So geht es anfangs meist um eine Entdifferenzierung, die die Verfolger antreibt. Es ist nicht die Differenz, die ängstigt, sondern vielmehr das unaussprechliche Gegenteil. Die Entdifferenzierung ist also eine schematische, aber durchaus erkennbare Version des ersten Stereotyps der Krise, woraus sich der wahre Ursprung der Mythen herauskristallisiert: kollektive Gewalt. Was sich dabei nur schwer als solches erkennen lässt, da es in den Mythen meist als Schuldiger fungiert, ist das Opfer, welches bei Girard im Mittelpunkt seiner Mimesistheorie steht. Es stellt sich jedoch die Frage wie eine derartige Krise ausbrechen soll, die dadurch verursacht wird, dass einer etwas haben will, was der andere hat, wenn gewisse kulturelle Regelungsmechanismen nicht bereits vorhanden sind. Mit seiner Theorie des mimetischen Begehrens setzt Girard ja die Unterscheidung zwischen dem Eigenen und Fremden voraus. Doch woher nimmt er dieses Zugehörigkeitsgefühl, wenn so etwas wie eine Gesellschaft nicht schon existiert hat? Das Problematische an der girardschen These liegt demnach in seiner Schilderung der Urszene, die mit seiner kulturellen Ordnung nicht übereinstimmt und seiner damit einhergehenden unscharfen Differenzierung zwischen Natur und Kultur. Girard grenzt sich vehement vom naturalistischen Ansatz ab: „(...) überwinden wir das evolutionistische Märchen (...)“434, er setzt vielmehr genau das Kollektiv voraus, welches er eigentlich erklären will – augenscheinlich eine petitio principii – was unzweifelhaft an die Kritik von Lévi-Strauss an Freuds Kulturtheorie

434 2009: 120.

152

4.3 Girards Mimesistheorie und die unerschöpfliche Quelle der Gewalt

erinnert. Mit letzterem hat Girard neben der Hypothese des gewaltvollen Urmordes gemeinsam, dass auch er aus ähnlichen deskriptiven innerpsychischen Prozessen (trianguläres und mimetisches Begehren) auf ein universalkulturelles Phänomen (Inzestverbot) und dessen geschichtliche Genese schließt. In Bezug auf Lévi-Strauss lässt sich feststellen, dass Girard dessen Tauschprinzip als monokausalen Erklärungsansatz zwar für unzureichend erklärt, er mit ihm aber insofern übereinstimmt, dass es sich mit den Frauen wie mit Nahrungsmitteln sowie allen anderen Tauschgütern verhält. Die Nahrungsmittelverbote sind für Girard deswegen mit dem Inzestverbot gleichzusetzen, weil sich die Verbote auf die nächstliegenden Objekte beziehen und mimetische Rivalität stiften. Gleichzeitig wendet Girard jedoch ein, dass Lévi-Strauss all diese Objekte mit Gütern im modernen Sinn gleichsetzt. Girard konstatiert an den strukturalistischen Ausführungen zum Inzesttabu und der damit einhergehenden universellen Allianz- resp. Kommunikationstheorie, dass die Bedeutung des Religiösen im Hominisationsprozess marginalisiert wird. Dadurch, dass er die Rolle der Religion wieder hervorheben will, setzt er, trotz seiner generellen Kritik an der Ethnologie, im Grunde wieder bei Durkheim an – von dem sich Mauss und Lévi-Strauss diesbezüglich distanziert und auf eine Theorie des Religiösen verzichtet haben. Girard plädiert also zusammenfassend dafür, die Hominisation und die daraus entstandenen kulturellen Institutionen von der Aneignungsmimesis und den von ihr erzeugten Konflikten her zu denken, denn nur so kann nach seiner Überzeugung ein argumentativer Zirkelschluss umgangen werden – ein Schwachpunkt, der jedoch auch seiner Theorie entgegenzuhalten ist435. Nachdem nun die drei zentralen Theorien zum Inzesttabu dargestellt und miteinander verglichen wurden, lässt sich abschließend sagen, dass sowohl Freud als auch Girard einer petitio principii unterliegen, indem sie – zumindest prekäre – kulturelle Gegebenheiten voraussetzen, deren Ursprünge sie im Grunde erklären wollen. Im Gegensatz zu Girard sind Freuds Ausführungen zum Inzesttabu aber um einiges detaillierter, da Girard das Spezifische am Inzestverbot nicht tiefergehend herausarbeitet. Für ihn gründen lediglich sämtliche sozialen Verbote und Rituale auf den Opferriten. Er setzt das Inzestverbot also mit anderen kulturellen Regularien gleich, die etwa das Nahrungs- oder Funeralverhalten betreffen und unterscheidet sich damit explizit von Lévi-Strauss, der im Inzesttabu die wichtigste Regel der menschlichen Kulturgeschichte sieht. Was allen Freud, Lévi-Strauss und Girard aber gemein ist, ist das kulturermöglichende und

435 vgl. Moosbrugger 2009.

153

4 Vom Homo ödipus zum Homo mimeticus

-bedingende Moment des Inzesttabus. Sie alle erkennen in der Übertretung oder gar der Auflösung des endogamen Verbots vor allem eine soziale Gefahr, die gesellschaftszersetzende Konsequenzen mit sich bringen kann.

154

5 Butlers Verwandtschaftsverständnis und die Allianztheorie von Lévi-Strauss im Vergleich

Sophokles’ Antigone wird von Butler einer neuer Leseweise unterzogen. Butler arbeitet darin ihre Neuordnung traditioneller Verwandtschaftsverhältnisse aus und überwindet damit einhergehend klassisch feministische Positionen (Repräsentationspolitik): „In der Tat ist der mimetische oder repräsentative Charakter Antigones nicht nur in Frage gestellt, weil Antigone eine fiktive Figur ist, sondern auch, weil sie als Figur der Politik in eine ganz andere Richtung weist, nämlich nicht in Richtung Politik als Frage der Repräsentation, sondern in Richtung der politischen Möglichkeit, die sich eröffnet, wenn die Grenzen der Repräsentation und die Grenzen der Repräsentierbarkeit selber zutage treten.“ 436 Dabei nimmt Butler aber keine genuin literaturwissenschaftliche Exegese dieser griechischen Tragödie vor, sondern verbindet philosophische Beiträge mit sozialpolitischen Forderungen in Form einer generellen Kulturkritik. Hierfür ein Stück wie Antigone heranzuziehen, bietet sich vor allem deshalb an, weil dort Themen wie staatliche und väterliche Gewalt, Familienkonstellationen, Begehrensmuster und ethische Probleme sichtbar werden. Daher verwundert es nicht, dass Antigone in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts u.a. auch von Derrida, Lacan oder Žižek auf philosophischer Ebene diskutiert wurde. Aber auch im feministischen Kontext setzte sich neben Kristeva auch Irigaray mit dem Antigone-Stoff auseinander. Für Irigaray zeigt diese Tragödie die Grenze des väterlichen Gesetzes, welches nicht in der Lage ist, die weiblichen Beziehungen zu regulieren und die dramatischen Ereignisse, insbesondere die Selbstmorde, zu verhindern437. Bei Butler wiederum dient Antigone als Symbol für den Widerstand gegen eine tyrannische Staatsmacht und als Leitfigur eines Gegentrends zu dem traditionell-feministischen Gebaren, sich von staatlicher Seite Unterstützung bei der Umsetzung frauenspezifischer Anliegen auf gesellschaftspolitischer Ebene zu holen (z. B. Frauenquote). Dabei steht für Butler die auf Freud aufbauende strukturalistische Bezugnahme auf den Ödipus-Mythos 436 Butler 2013: 13. 437 vgl. Nieberle 2013: 64f.

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5 Butler und Lévi-Strauss im Vergleich

und dem daraus abgeleiteten Diktum heteronormativer Verwandtschaftsstrukturen bei Lévi-Strauss kontrapunktisch zu ihrer Auffassung von Verwandtschaftsformen, die sie anhand ihrer Interpretation des Antigone-Dramas ausarbeitet. Sie votiert für einen „Poststrukturalismus der Verwandtschaft“438, der sich der „strukturalistischen Totalität“ entzieht 439. Die Tatsache, dass Butler Antigone als zentralen Bestandteil des ÖdipusSzenarios für ihr theorieeigenes Interesse nutzt, lässt eine Kontinuität in ihrer Arbeit erkennen. So will Butler dem Ödipuskomplex bereits in Gender Trouble440 seine Autorität nehmen, weil sie in diesem die Grundlage universeller Mechanismen patriarchaler Verwandtschaftsverhältnisse und heterosexueller Fortpflanzung sieht. Um nun einen alternativen Ausgangspunkt geschlechterbezogener Autorität zu erarbeiten, formuliert Butler die Rolle der Antigone im Ödipusdrama neu. Damit will Butler letztlich die Intelligiblität anderer Verwandtschaftsorganisationen ermöglichen – was eine Öffnung herkömmlicher auf dem Inzesttabu beruhender Familienstrukturen zur Folge hat. Ausgehend von gender trouble, dessen Kern noch die Störung der Geschlechterkategorien war, kann Butlers Revolutionierung des bisherigen Familien- und Verwandtschaftsverständnisses weiterführender als kinship trouble bezeichnet werden. Dies wird vor allem daran deutlich, dass nach Butler traditionell heteronormative Verwandtschaftsstrukturen starre Geschlechtsidentitäten hervorbringen441. Besonders deutlich drückt Butler in Undoing Gender 442 ihr in Antigones Verlangen bereits angedeutetes Anliegen aus, das Inzestverbot und die Grenzen des auf diesem Tabu aufbauenden, hegemonialen Verwandtschaftsverständnisses neu zu überdenken. Butler rekurriert dabei vor allem kritisch auf Lévi-Strauss’ strukturalistische Verwandtschaftstheorie, weshalb im Folgenden beide Positionen gegenübergestellt werden. 5.1 Butlers Antigone in Abgrenzung zu bisherigen Interpretationsansätzen Butler will mit ihrer Antigone-Lektüre die Vorstellungen über den Staat als öffentlichen, männlich besetzten Raum und das Private als weibliche Domäne in ihren Grundlagen neu denken. Dabei verdeutlicht sie, dass sämtliche Auslegungen Antigones (Hegel, Lacan, Irigaray) die inzestuöse Famili438 439 440 441 442

156

ebd.: 105. ebd. vgl. Butler 2014: 63–122. vgl. Butler 2013: 19. vgl. Butler 2015: 167–213; 247–259.

5.1 Butlers Antigone in Abgrenzung zu bisherigen Interpretationsansätzen

enkonstitution der Labdakiden nicht berücksichtigt hätten, welche eine strikte Trennung zwischen Kreon als Herrscher (staatlich) und Antigone als Familienmitglied (privat) nicht zulassen. Butlers kritische Auseinandersetzung mit den wichtigsten Interpretationsansätzen (Hegel, Lacan) des Antigone-Dramas443 steht im hiesigen Kontext zwar nicht im Fokus, da es an der Fragestellung zu weit vorbeiführt, soll jedoch zur Akzentuierung ihrer Auffassung in prägnanter Form umrissen werden. Zudem ist Butlers Lacankritik für ihre Bezugnahme auf Lévi-Strauss und dessen Allianztheorie entscheidend. 5.1.1 Die beiden höchsten sittlichen Mächte bei Hegel Hegels Antigone-Interpretation in seiner Phänomenologie des Geistes (1807) und in den Vorlesungen über die Ästhetik III (1820–1829) dient als musterhaftes Exempel für den Konflikt der beiden höchsten sittlichen Mächte, der für ihn charakteristisch für das Wesen der Tragödie ist: Einerseits die Blutsverwandtschaft und die damit einhergehende Familienliebe als natürliche Sittlichkeit, verkörpert durch Antigone, andererseits das Staatsrecht als allgemeine Sittlichkeit, wofür Kreon einsteht. Beide geschlechtsspezifische repräsentierte Sphären scheinen aufgrund ihrer unterschiedlichen ethischen Ansprüche unvereinbar, sind jedoch dialektisch miteinander eng verknüpft444. Die beiden Prinzipien, das göttlich-familienbezogene Gesetz (Antigone) und das menschlich-staatliche Recht (Kreon), finden nach Hegel in Antigone ihre vorbildliche Umsetzung. Die substantielle Sittlichkeit besteht also aus zwei, in scheinbarer Antinomie zueinander stehender, Verpflichtungen. Hinzu kommt eine geschlechterbezogene Anbindung der beiden Gesetze. So ist die eine Sphäre (Staat, Öffentlichkeit) dem Mann zugehörig, die andere (Familie, Haus) der Frau und sie sind vom jeweiligen Geschlecht als selbstverständliche normative Gewißheiten verinnerlicht. Dies ist für Hegel charakteristisch für die griechische Kultur, wobei in Antigone die konflikthafte Sittlichkeit der Polis zum Ausdruck kommt. Bei Hegel bedeutet Sittlichkeit also, dass es Individualität in der altertümlich-griechischen Gesellschaft nicht geben kann, sondern dass sich das Individuum immer schon mit der Gemeinschaft identifiziert. Der Einzelne handelt nicht aus eigener Überzeugung und eigenem Wertmaßstab, sondern ge-

443 vgl. Butler 2013: 50–92. 444 vgl. Hegel 1970: 320ff.; vgl. Nieberle 2013: 65.

157

5 Butler und Lévi-Strauss im Vergleich

mäß bestimmter Grundsätze, die ausschließlich zwei Formen annehmen. Antigone ist bei Hegel somit die Repräsentantin des Gesetzes der Verwandtschaft und der häuslichen Götter, Kreon hingegen tritt als Vertreter des Staatsrechts auf445. Zum Konflikt kommt es schließlich, weil das königliche Edikt Kreons die Familienpietät der Antigone verletzt und Antigone wiederum durch die Bestattung ihres Bruders Kreons Befehlsgewalt ignoriert. Für Hegel haben Antigone und Kreon gleichermaßen Recht wie Unrecht. Beide haben Unrecht, weil sie einseitig handeln und nur ihr eigenes sittliches Gesetz als gültig und rechtmäßig betrachten. Sie sind gleichzeitig aber auch im Recht, weil sie nur ihrem jeweiligen sittlichen Gesetz folgen. Butler kritisiert an der hegelschen Antigone-Deutung vor allem die kategorische Trennung der staatlichen und familiären Sphäre. Sie konstatiert, dass in einer Gegenüberstellung dieser beiden Kräfte eine Unvereinbarkeit suggeriert und dabei verkannt wird, dass Antigone nicht wie bei Hegel für konsanguine Verwandtschaftsbeziehungen stehen kann, da sie daraus bereits gelöst ist – was sich zum einen aus ihrer inzestuösen Abstammung und zum anderen aus ihrer inzestuösen Zuneigung zu ihrem Bruder Polyneikes ergibt. Butler sieht in Antigone also weder eine Art weiblichen Ausdrucks emanzipatorischen Ungehorsams, noch eine bloße Form von Individualisierung. Vielmehr steht Antigone für sie als Versinnbildlichung des Widerstandes gegen eine von Heteronormativität bestimmte Zukunftsperspektive, bspw. indem sie sich gegen eine zu erwartende Mutterschaft stellt446. Zudem nimmt sie als Frau ein typisches männliches Gebaren an, unter anderem indem sie im öffentlichen Raum spricht447: „Mit ihrer Tat überschreitet Antigone ebenso die Normen der Geschlechtszugehörigkeit wie der Verwandtschaft (...)“448. Doch bevor nun Butlers Antigone-Lektüre offengelegt und analysiert wird, soll zunächst Lacans Deutung auf die sich Butler v.a. in Auseinandersetzung mit Lévi-Strauss kritisch bezieht, knapp dargestellt werden.

445 446 447 448

158

vgl. ebd.: 17. vgl. Nieberle 2013: 65. vgl. Butler 2013: 19, 26. ebd.: 20.

5.1 Butlers Antigone in Abgrenzung zu bisherigen Interpretationsansätzen

5.1.2 Lacans Universalimus der symbolischen Ordnung Lacans Auseinandersetzung mit der Antigone von Sophokles449 ist geprägt von seiner psychoanalytischen Denkweise und weist sowohl Parallelen, aber auch fundamentale Unterschiede zu Butlers Antigone-Interpretation auf. Bei Lacan steht – mit Rückgriff auf den Strukturbegriff von LéviStrauss – die symbolische Ordnung über der Sprache und der Verwandtschaft. Der Universalismus der symbolischen Ordnung beruht bei Lacan darauf, dass Kulturen, wie sehr sie sich auch voneinander unterscheiden, weitgehend den Forderungen dieser Gesetze gehorchen. Damit werden die Sprache und regulierte Formen der Verwandtschaftsorganisation zu grundlegenden Parametern der Intelligibilität und zu sozial nicht veränderbaren Institutionen erhoben. Antigones heldenhaftes Gebaren steht bei Lacan folglich für eine Abgrenzung zu den kultur- und gesellschaftsprägenden Gesetzen und symbolischen Normen. Welch weitreichende Folgen, ja tödliche Konsequenzen, ein Bruch mit diesen Normen haben kann, zeigt sich für ihn gerade im Drama um Antigone. Denn Letztere überschreitet die normativen Grenzen der Gesellschaft, indem sie sich dem Befehl ihres Onkels widersetzt und ihren Bruder gleich zweimal begräbt. Damit ist sie gewissermaßen die „Hüterin des Seins ihres Bruders“450. Lacan nimmt dabei eine ideale, reine Form der Verwandtschaft an, da sie, ihren eigenen Tod in Kauf nehmend, ihr Sein für Polyneikes opfert und so zur Repräsentantin der (Bluts-)verwandtschaft wird. Im Zeichen der Familienbindung und die göttlichen Gesetze über die menschlichen stellend, wird Antigone bei Lacan zu einer furchtlosen Heldin, die sich dem Befehl Kreons aus geschwisterliche Liebe zu Polyneikes widersetzt – wohl wissend, dass damit ihr eigener Tod einhergeht. Im Verständnis Lacans ist Antigone damit eine Person, die sich im Grenzgebiet zwischen Leben und Tod befindet451, deren Gesetzesbruch er aber als legitim betrachtet. Butler hingegen wendet sich in ihrer Diskussion der Antigone-Lektüre von Lacan vor allem gegen eine Idealisierung des Symbolischen und Trennung von Sozialem und Verwandtschaft im Licht des psychoanalytischen und strukturalistischen Erbes. Sie vermutet „ein[en] theologische[n] Impuls in der Theorie der Psychoanalyse, der jede Kritik am symbolischen Vater, dem Gesetz der Psychoanalyse selbst, auszuschließen sucht“452. Im Zu-

449 450 451 452

vgl. Lacan 1996: S. 293–434. Herhausen 2014: 15. vgl. ebd.: 12–15. Butler 2013: 43.

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5 Butler und Lévi-Strauss im Vergleich

ge dessen weitet sie ihre Kritik auch auf die Verwandtschaftstheorie von Lévi-Strauss aus. So konstatiert Butler, dass Lacan auf der Grundlage des Inzesttabus von Lévi-Strauss und seiner Allianztheorie einen kulturermöglichenden Universalimus der symbolischen Ordnung behauptet453. Für Butler hingegen steht Antigone avantgardistisch für die Genderdebatte. So sehen zwar sowohl Butler als auch Lacan in Antigones Handeln die Überschreitung intelligibler, kultureller Normen, doch Butler geht einen Schritt weiter und untersucht Antigones Stellung im Kontext des Geschlechterdiskurses – während es bei Lacan maßgeblich um eine Eröterung der Todestriebhypothese im Lichte Freuds geht. Butler hebt hervor, dass Verwandtschaft in der heutigen Zeit etwas „Brüchiges“454 und „Poröses“455 ist, das kaum noch sichtbare Grenzen hat. Die symbolischen Normen des Feldes (Lacan) hätten aber weiterhin Bestand, obwohl sie mit der Ausweitung der Verwandtschaftsbeziehungen nur noch wenig gemein hätten: „Aus Lacanscher Sicht ergeht an das gesellschaftliche Leben ein unbewußter Anspruch, der sich auf keinerlei gesellschaftlich lesbare Ursachen und Wirkungen reduzieren läßt. Der symbolische Platz des Vaters widersteht nicht nur Forderungen nach einer gesellschaftlichen Neuorganisation der Vaterschaft, sondern das Symbolische ist eben das, was sämtlichen utopischen Bemühungen zu einer Umgestaltung und Wiederbelebung von Verwandtschaftsverhältnissen außerhalb der ödipalen Szene Grenzen setzt“456 5.2 Antigone im poststrukturalistischen Verständnis Bei ihrer Antigone-Auslegung geht es Butler darum, die wichtigsten Interpretationsansätze zu hinterfragen und sowohl die Differenzierung des staatlichen und verwandtschaftlichen Raums (Hegel) als auch die des Symbolischen und Gesellschaftlichen (Lacan) zu überwinden457, indem sie „diese Trennungen in eine produktive Krise [führt]“458. Worum es Butler bei ihrer Re-Lektüre der Antigone im Wesentlichen geht, subsumiert sie auf zwei Kernfragestellungen:

453 454 455 456 457 458

160

vgl. Butler 2015: 82f. Butler 2013: 46. ebd. ebd.: 42. ebd.: 53f. ebd.: 54; Anm. d. Verf.

5.2 Antigone im poststrukturalistischen Verständnis

„Ist Verwandtschaft – und damit meine ich hier nicht die ‚Familie’ in irgendeiner bestimmten Form – ohne Unterstützung und Vermittlung durch den Staat und ist der Staat ohne die Unterstützung und Vermittlung der Familie möglich? Und weiter: Wenn Verwandtschaftsbeziehungen zu einer Bedrohung für die staatliche Autorität werden und der Staat sich gewaltsam gegen diese Verwandtschaftsbeziehungen wendet – können diese beiden Begriffe dann überhaupt noch ihre wechselseitige Unabhängigkeit behaupten?“459 Butler stellt mit ihrer Deutung die gegenwärtige feministische Politik der Zusammenarbeit und den Wunsch nach (staatlicher) Assimiliation gegen die des Widerstands, für den Antigone exemplarisch stehen soll – generell ist der Akt des Widersetzens einer der zentralen Parameter ihrer AntigoneInterpretation. 5.2.1 Antigones inzestuöses Begehren Gleich zu Beginn ihrer Antigone-Deutung verweist Butler darauf, dass diese auf Grund ihres inzestuösen Beziehungsgeflechts nicht für eine normative Verwandtschaftsstruktur stehen kann460. Antigones Überschreitung symbolischer Normen begründet Butler dabei aus dem sexuellen Begehren gegenüber ihrem Bruder Polyneikes461 und der von Inzest geprägten Verbindung zu ihrem Bruder-Vater Ödipus. Butler, die sich eindeutig auf die sophokleische Figur der Antigone bezieht462, grenzt sich damit deutlich von Hegels oder Lacans Interpretation ab. Damit will sie letztlich hervorheben, dass Antigone nicht das verwandtschaftliche Vorrecht vor staatlichen Normen hat – vielmehr will Butler durch ihre radikale Antigone-Lektüre „den sozial kontigenten Charakter der Verwandtschaft ans Licht bring[en]“463. In Sophokles’ Antigone finden sich für die butlersche These einer inzestuösen Beziehung zwischen den Geschwistern jedoch keine Anhaltspunkte – im Gegenteil. Bereits am Anfang als Ismene versucht, ihre Schwester Antigone von deren Vorhaben Polyneikes zu beerdigen, abzubringen, weil sich Antigone damit gegen das Bestattungsverbot Kreons wendet, spricht aus Ismene nur geschwisterliche Loyalität:

459 460 461 462 463

ebd.: 18, Hervorh. i. Orig. ebd.: 12, 25. vgl. ebd.: 19, 25. ebd.: 11f. ebd.: 20; Anm. d. Verf.

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5 Butler und Lévi-Strauss im Vergleich

Ismene „Begraben willst du ihn, trotz dem Verbot! (...) Antigone Ja, meinen Bruder, und versagst du dich, Auch deinen. Zum Verräter werd ich nicht (...) Aber ich geh hin, Das Grab dem lieben Bruder aufzuschütten“464 Zudem vernachlässigt Butler die Liebesbeziehung zwischen dem Königssohn Haimon, die eindeutig als solche angesprochen wird, u.a. als Ismene Kreon davon abhalten will, Antigone für ihre Tat mit dem Tode zu bestrafen: „Du willst sie töten, deines Sohnes Braut? Nie fügt sich’s mehr wie zwischen ihm und ihr“465 Auch als Haimon selbst auftritt und bei seinem Vater um Gnade für Antigone bittet, wird deren Liebesverhältnis, wahrscheinlich bereits in einer Verlobung bekräftigt, vom Chor deutlich benannt: „Sieh, Haimon kommt, dein jüngster Sohn. Treibt Sorge ihn her um Antigones Los Und Angst, seine Braut zu verlieren?“466 Dies bestätigt auch Kreons Antwort: „Kommst du nun, Vor mir um deine Braut zu toben, oder Liebst du den Vater stets, was er auch tut?“467 Auch als er später den Entschluss fasst – das Flehen seines Sohnes ignorierend – Antigone für ihren Frevel lebendig einzumauern, bezieht sich Kreon nochmals auf das Verhältnis zwischen Antigone und Haimon: „Hol mir das Scheusal her! Vor seinen Augen

464 465 466 467

162

Sophokles, Antigone: V. 44, 45–46, 80–81;. ebd.: V. 568–570. ebd.: V. 628–630. ebd.: V. 632–634.

5.2 Antigone im poststrukturalistischen Verständnis

Vor Ihrem Bräutigam muss sie jetzt sterben!“468 Am signifikantesten zeichnet sich jedoch Antigones rein familiäre Zuneigung zu ihrem Bruder-Neffen Polyneikes in ihrer letzten Schicksalsklage gegenüber dem Chor ab: „Für meinen toten Gatten hätt’ ich nie Der Stadt mich widersetzt mit solcher Tat. Um welcher Satzung willen sag ich das? Starb mir der Gatte, fänd ich einen andern, Von ihm ein Kind auch, wenn ich eins verlor. Doch ruhn im Hades Mutter schon und Vater, Da kann ein Bruder niemals mehr erblühn. Nach solcher Satzung ehrt ich dich vor andern, Geliebter Bruder, aber Kreon fand, Dass ich mich schuldig machte und empörte. Und nun packt seine Faust mich, schleppt mich fort, Kein Brautbett ward mir und kein Hochzeitslied Zuteil, kein Gattem keines Kindes Pflege. Verlassen so von aller Liebe, geh ich Lebendig in die Grabesgruft der Toten“469 Hier kristalliert sich Antigones Bevorzugung verwandtschaftlicher Verpflichtungen und ihre starke Loyalität gegenüber ihrer Familie heraus. Es ist auf Grund Antigones Rede davon auszugehen, dass sie für ihren anderen Bruder Eteokles, dem im Gegensatz zu Polyneikes eine ehrenhafte Bestattung zu Teil wurde, das Gleiche getan hätte. Spätestens an dieser Stelle, an der sie ausschließt, für einen Liebespartner resp. Gatten eine ähnliche Tat zu vollbringen und damit einhergehend ihr Leben zu geben, lässt sich schlussfolgern, dass es sich bei Antigone und Polyneikes um kein inzestuöses Verhältnis gehandelt haben kann, sondern sie aus reiner Familienliebe zu handeln scheint, wie Antigone auch selbst betont: „Und doch, wie hätt ich rühmlicheren Ruhm Gewonnen, als dass ich den eignen Bruder Begrub?“470

468 ebd.: V. 760–761. 469 ebd.: V. 906–920. 470 ebd.: V. 502–504.

163

5 Butler und Lévi-Strauss im Vergleich

Auch der Bote, der Kreons Frau Eurydike die Todesnachricht ihres Sohnes Haimon überbringt, bekräftigt das partnerschaftliche Verhältnis zwischen Polyneikes und Antigone abschließend nochmals : „Wir spähten, wie der Ängstliche befahl, Und sahn ganz hinten im Gewölbe sie, Erhängt in einer Schlinge, ihren Nacken Umschnürte ihres Schleiers feines Linnen. Und er umfasste ihren Leib und klagte Um ihre Hochzeit, die der Tod zerstört – Des Vaters Werk – und um die arme Braut“471 Nur an einer Stelle spricht Antigone von Polyneikes zweideutig – aber auch nur, wenn man diese Passage separat und nicht im Kontext ihrer gesamten Rede sieht. So sagt Antigone zu Ismene: „Geliebt bei dem Geliebten ruh ich dann, und fromm hab ich gefrevelt“472 Doch eingebettet in den Gesamtzusammenhang, vor allem in ihrer vorherigen Klage gegenüber ihrer Schwester, ist davon auszugehen, dass Antigone damit ihre familiäre Zuneigung zum Ausdruck bringt: „Er [Kreon] darf mich von den Meinen doch nicht trennen“473 Somit kann Butlers Einwand entgegengehalten und festgehalten werden, dass Antigone für das Prinzip einer idealen Verwandtschaftsform steht und nicht aufgrund ihrer eigenen inzestuösen Verstrickung mit ihrem Bruder für eine deformierte Verwandtschaftstruktur. Weiterhin stellt Butler die These auf, dass Antigones inzestuöses Verhängnis noch weiter reicht und auch ihr Bruder-Vater Ödipus gemeint sein könnte474. Antigones Begehren zielt also in der butlerschen Auslegung nicht (nur) auf Polyneikes, sondern womöglich zusätzlich oder primär auf Ödipus: „Was wird aus dem Erbe Ödipus, wenn die Regeln, gegen die Ödipus blind verstößt, nicht länger die ihnen von Lévi-Strauss und der strukturalen Psychoanalyse zugesprochene Stabilität besitzen? Anders gesagt, sind symbolische Positionen für Antigone inkohärent geworden, für

471 472 473 474

164

ebd.: V. 1219–1225. ebd.: V. 73–74. ebd.: V. 48; Anm. d. Verf. vgl. Butler 2013: 44f., 98, 108, 128.

5.2 Antigone im poststrukturalistischen Verständnis

Antigone, die Bruder und Vater vermischt und die nicht als Mutter erscheint, sondern (...) an,Stelle der Mutter’“475 Bei Sophokles finden sich für Butlers These jedoch keine Belege – im Gegenteil. Es scheint fast so, als ob Antigone, trotz ihrer wissentlich inzestuösen Herkunft, um Normalität bemüht ist. So differenziert sie stets zwischen ihren beiden Brüdern (Polyneikes und Eteokles) und ihrem Vater Ödipus, sie schließt letzteren in ihren Reden sogar in seiner Doppelfunktion als ihren Bruder-Vater aus476: „Ach Schwester, denke, wie der Vater uns Verhasst und ohne Ruhm zugrunde ging“477 (...) Und wie an einem Tage unsre Brüder, Unselig Paar, das gleiche Todeslos Im Wechselmorde sich bereiteten!“ Später, als sie von Kreon wegen ihrer Tat zur Rede gestellt wird, ist von Polyneikes und nicht von Ödipus die Rede: „Ja, hätt ich meiner Mutter Sohn, Den Toten, unbestattet liegen lassen“478 An einer weiteren Passage wird ihre Trennung zwischen ihren Brüdern und ihrem Vater, den sie im gesamten Text nicht als ihren Bruder benennt, besonders plastisch. Antigone sagt zum Chor: „Vaters Unheil und unser aller Los, der berühmten Labdakiden. Io! Fluchehe des Vaters! Dem eigenen Kind sich einte, Meinem Vater, die Unheilsmutter. (...) Io! Und dich,mein Bruder, Traf der Ehe Verhängnis“479 Butlers gesamter Argumentationsstrang läuft folglich auf eine Kritik am Strukturalismus hinaus, welcher eine, auf dem Inzesttabu beruhende,

475 476 477 478 479

ebd.: 44f. vgl. auch Sophokles, Antigone: V. 21–22, 45, 511–517, 897–899. ebd.: V. 49–50, 55–57; Hervorh. d. Verf. ebd.: V. 466–467; Hervorh. d. Verf. ebd.: V. 860–865, 870–871; Hervorh. d. Verf.

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5 Butler und Lévi-Strauss im Vergleich

Form der Verwandtschaftsorganisation zur Voraussetzung kultureller und damit menschlicher Intelligibilität macht. Ihr geht es nun im Wesentlichen um eine Poststrukturalisierung des Verwandtschaftsbegriffs, die eine Vielzahl sozialer Arrangements denkbar macht. Damit will Butler nicht konsanguine Formen von Liebe und Zugehörigkeit, die jenseits der vom Staat garantierten Bereiche liegen, intelligibel machen480. 5.2.2 Antigones Bruch mit den Geschlechternormen Butler erkennt in Antigones Gebaren nicht nur eine Überschreitung der Verwandtschaftsnormen, sondern eine Öffnung normativer Geschlechterzugehörigkeiten. In einem weiteren Argumentationsschritt will Butler zeigen, dass auch auf Grund der verschobenen Geschlechternormen bei Antigone nicht der üblichen Annahme (Hegel, Lacan) gefolgt werden kann, dass Antigone eine Vertreterin des Ideals verwandtschaftlicher Beziehungen ist: „Antigone repräsentiert nicht Verwandtschaft in ihrer idealen Form, sondern deren Deformation und Verschiebung, eine Verwandtschaft, die die Herrschaftssysteme der Repräsentation überhaupt in eine Krise stürzt und die Frage aufwirft, welches die Bedingungen der Verständlichkeit gewesen sein könnten, die ihr ein Leben hätten ermöglichen können, ja, welches stützende Netz von Beziehungen unser Leben überhaupt möglich macht, das Leben derjenigen, die die Begriffe der Verwandtschaft ganz neu begreifen.“481 Schon zu Beginn des Stücks drückt sich in Ismenes Ansprache, in der sie Antigone von ihrem Vorhaben, den Bruder widerrechtlich zu bestatten, abbringen will, die kulturelle Norm der antiken Geschlechterhierarchie aus: „Wie schlimm wir enden, wenn wir dem Gesetz Zum Trotz der Herrscher Machtwort übertreten! Wir müssen einsehn, dass wir Frauen sind, Mit Männern uns zu messen nicht bestimmt. Der Stärkere hat über uns Gewalt, Er kann noch Härteres fordern als nur dies.“482 480 vgl. Nieberle 2013: 66. 481 Butler 2013: 48; Hervorh. d. Verf. 482 Sophokles, Antigone: V. 59–64.

166

5.2 Antigone im poststrukturalistischen Verständnis

Die Intelligibilität der Geschlechtsidentitäten zeigt nochmals Kreons Reaktion, als er von einem Wächter erfährt, dass Polyneikes – entgegen seinem ausdrücklichen Befehl -begraben wurde. So wird an seiner Frage nach dem Täter deutlich, dass es für Kreon gar nicht vorstellbar, ja auszuschließen ist, dass auch eine Frau diesen Frevel begangen haben könnte: „Was sagst du? Welcher Mann hat das gewagt?“483 Diese Unvorstellbarkeit, dass eine Frau es war, die sich dem Befehl des Königs widersetzt, zeigen sich auch an den Aussagen des Wächters: „Ja hätten wir ihn nur! Doch ob er nun Erwischt wird oder nicht – vielleicht gelingt’s –, Mich siehst du hier nicht wieder.“484 Dass Antigone nun tatsächlich mit den gängigen Geschlechtrollen bricht und ein männliches Verhalten an den Tag legt, wird spätestens an der Stelle deutlich, als Kreon erfährt, dass Antigone es war, die sich seinem Edikt widersetzt hat und diese, von ihm darauf angesprochen, ihre Tat nicht leugnet: „Und ihrem ersten Frevel folgt der zweite: Hohnlachend prahlt sie noch mit ihrer Tat. Wenn sie sich ungestraft das leisten darf, Bin ich kein Mann mehr, dann ist sie der Mann!“485 Kreon kann es also offensichtlich nicht zulassen, dass sich eine Frau, wie Ismene einleitend bereits sagte, dem Befehl eines Mannes, und in diesem Fall auch Herrscher, widersetzt. Somit scheint es Kreon nicht nur um eine Bestrafung dafür zu gehen, dass sich seines Willens nicht gebeugt wurde, sondern, um mit Butlers Worten zu sprechen, vor allem darum, dass intelligible Geschlechternormen übertreten werden würden, wenn eine Frau sich über einen Mann stellt. Zu Antigone sagt er: „Mich wird im Leben nie ein Weib regieren!“486 Kreon ist jedoch nicht derjenige, der Antigone ihrer Weiblichkeit beraubt, im Gegenteil. Er hält an ihrer Weiblichkeit und damit an der vorherrschenden Geschlechterdichotomie fest, was anhand mehrerer Stellen deutlich

483 484 485 486

ebd.: V. 248. ebd.: V. 327–329. ebd.: V. 482–485. ebd.: V. 525.

167

5 Butler und Lévi-Strauss im Vergleich

wird. So spricht Kreon zu Haimon, der gegenüber seinem Vater für seine Verlobte eintritt: „Für Söhne schlechte Weiber hasse ich (...) Darum, mein Kind, gib wegen einem Weib, Das dir gefiel, nicht deine Einsicht preis! Bedenk, das wird ein frostiges Umarmen, Ein böses Weib im Haus! Denn welche Wunde Schmerzt ärger als ein falscher Freund? Verwirf sie Wie eine Feindin! Lass das Mädchen doch Im Hades drunten einen Freier suchen! (...) Drum gilt’s, Das Ordnung-Schaffende zu schützen Und ja nicht einem Weibe sich zu beugen! Wenn’s sein muss, besser, mich verdrängt ein Mann, Dann heißt es nicht, ich lasse Weiber herrschen (...) Weibshöriger! Geh mir mit dem Geschwätz!“487 In Kreons Aussagen kann erkannt werden, dass die Geschlechterzugehörigkeit für die antike Gesellschaft eine tragende Rolle spielt und eine Verschiebung derselben auch die öffentliche Ordnung stören würde488. Bei manchen Passagen drängt sich gar der Gedanke auf, ob es Kreon in erster Linie wirklich darum geht, dass sein ausdrückliches Verbot Polyneikes zu bestatten, übertreten wurde oder ob ihn vielmehr die Tatsache erzürnt, dass die Täterin eine Frau war und damit die Kohärenz der Geschlechtsidentität subvertiert wird. Eben an jenem Aspekt setzt Butlers Argumentation an, dass Antigone – entgegen gängiger Auslegungen (Hegel, Lacan) – schwerlich für eine ideale Verwandtschaftsform stehen kann, da sie sich nicht weiblich verhält. Das männliche Gebaren wird ihr aber nicht zugesprochen, vor allem nicht durch Kreon, der sogar ganz im Gegenteil seine Männlichkeit sowohl verbal als auch in seinen Taten signalisiert. Kreon lässt sich durch Antigones Ungehorsam nicht seiner Männlichkeit berauben und hält an seinem Entschluss Antigone mit dem Tod zu bestrafen fest. Daher muss Butlers These zumindest in Frage gestellt werden, wenn sie behauptet:

487 ebd.: V. 571, 648–654, 677–680, 746, 750. 488 vgl. ebd.: V. 677.

168

5.2 Antigone im poststrukturalistischen Verständnis

„Antigone wird männlich, wenn sie zu Kreon spricht; Kreon wird entmannt, wenn er angeredet wird; keiner von beiden kann also seine Position in der Geschlechterordnung halten, und die Störung der Verwandtschaftsbeziehung scheint durch das Stück hindurch auch die Geschlechterzugehörigkeit zu destabilisieren“489 Obwohl Antigone also einen männlichen Habitus zeigt, lässt sich Kreon davon nicht beirren. Er verteidigt seine Rolle als Mann und Herrscher vehement und rückt von seinem Entschluss, Antigone lebendig einzumauern erst ab als der blinde Seher Teiresias ihm prophezeit, dass seiner Blutsfamilie Unheil drohe, wenn er Polyneikes nicht noch ordnungsgemäß begräbt und Antigone begnadigt. Doch zu diesem Zeitpunkt ist es bereits zu spät und sowohl Antigone als auch Haimon sind schon tot, woraufhin sich auch seine Frau Eurydike das Leben nimmt. Auf Grund dessen kann nicht davon gesprochen werden, dass Antigone „Mannhaftigkeit [gewinnt] durch den Sieg über das Männliche“490. Es ist also nur Antigone, die Männlichkeit für sich beansprucht, zum einen indem sie im öffentlichen Raum spricht, was einer Frau in der Antike nicht zustand, zum anderen weil sie sich dem Befehl des Königs widersetzt, was sich für eine Frau im antiken Griechenland nicht gehört und auch gar nicht vorstellbar ist491. Dass Antigone sich ganz bewusst so verhält, wohlwissend, dass sie mit ihrem Verhalten (Geschlechter-)grenzen überschreitet, wird an mehreren Passagen offenkundig. So bittet Ismene ihre Schwester darum, die widerrechtliche Bestattung ihres Bruders heimlich zu vollziehen, Antigone jedoch will, dass ihre Tat öffentlich wird: Ismene „So halte wenigstens die Tat geheim Und sag es niemand, und auch ich will schweigen Antigone Nein, laut verkünden sollst du’s allen Leuten, Du bist mir viel verhasster, wenn du schweigst!“492 Zudem begräbt Antigone ihren Bruder-Neffen zweimal, wobei sie bei ihrer ersten ehrenhaften Bestattung des Polyneikes nicht entdeckt wurde und somit nicht bestraft worden wäre. Für die Wiederholung ihrer Tat gab

489 490 491 492

Butler 2013: 26. ebd.: 28. vgl. Sophokles, Antigone: V. 248. ebd.: V. 84–87.

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5 Butler und Lévi-Strauss im Vergleich

es demnach keinen Anlass, da sie ihrer familiären Verpflichtung nachgekommen war. Dies unterstreicht die These, dass Antigone bewusst in der öffentlichen Sphäre trauern wollte, was Frauen eigentlich nicht gestattet war. Antigone will die Tat unbedingt für sich beanspruchen, selbst als Ismene aus schwesterliche Liebe zu Antigone gegenüber Kreon die Schuld, oder zumindest eine Mitschuld, auf sich nehmen will: Ismene „Ich hab’s getan. Wenn sie es denn gesteht, Bin ich beteiligt, trage mit die Schuld. Antigone Das ist nicht wahr! Dazu hast du kein Recht! Du wolltest nicht, allein hab ich’s getan“493 Und so wird die „Inanspruchnahme der Tat (...) zu einem Akt, der den Akt wiederholt, den er bekräftigt; der Akt des Ungehorsams wird erweitert, indem er im sprachlichen Bekenntnis wiederholt wird“494 – ähnlich wie bei Bekennerschreiben terroristischer Vereinigungen, die auch nicht versuchen ihre Taten zu verschleiern, sondern damit ganz bewusst an die Öffentlichkeit gehen und damit ihr kriminelles Tun performativ nochmals vollziehen. Doch trotz ihrer mannhaften Züge gelingt es Antigone nicht, dem Fluch zu entkommen, daher muss Antigones „Sieg über das Männliche“495 in der butlerschen Auslegung zurückgewiesen werden. 5.2.3 Antigones Widerstand im feministischen Kontext Butlers Kernkritikpunkt am traditionellen Feminismus und anderen Gleichberechtigungsbewegungen liegt darin, dass diese durch ihr Begehren nach Assimilation den staatlichen Machtapparat affirmieren, dessen normative Prinzipien eigentlich abgelehnt werden – was Butler eine „Politik der Repräsentation“496 nennt. Antigone dient Butler dabei als Galionsfigur eines, aus ihrer Sicht notwendigen, Gegentrends des normgerechten Verwandtschaftsbegriffs. Indem sie also normative Familienbeziehungen verwirrt (trouble), drängt Butler auf unbegrenzte und freie Verwandt-

493 494 495 496

170

ebd.: V. 536–539. Butler 2013: 27. ebd. ebd.: 13.

5.2 Antigone im poststrukturalistischen Verständnis

schaftsformen, die nicht notwendig konsanguiner Natur sind und die durch das psychoanalytische und darauf aufbauende strukturalistische Inzesttabu geschlechtsidentitäre Rollenverteilungen (Vater, Mutter) nicht mehr eindeutig oder singulär bestimmen sollen. Damit geht auch ihre Forderung nach neuen Normverhältnissen für homosexuelle Lebensformen, Patchwork-Familien, Wahl- oder Zweckfamilien auf politischer Ebene einher: „Es ist dann vielleicht nötig, das Inzestverbot neu zu überdenken als das, was manchmal vor einer Verletzung schützt und manchmal genau das Werkzeug einer Verletzung wird. Was dem Inzesttabu entgegentritt, eckt nicht nur deshalb an, weil es oft die Ausbeutung derer mit sich bringt, deren Zustimmungsfähigkeit in Frage steht, sondern weil es die Abweichung innerhalb normativer Verwandtschaft zur Schau stellt, eine Abweichung, die vielleicht auch wesentlich gegen die Fesseln der Verwandtschaft eingesetzt werden kann, um eine Änderung und Ausdehnung genau dieser Konditionen zu erzwingen.“ Doch apodiktisch ist Butlers Haltung keineswegs. Mit einer kategorischen Ablehnung der staatlichen Anerkennung normabweichender Lebensformen entsteht ein „Dilemma“497: „Einerseits kann ein Leben außerhalb der Normen der Anerkennung zu beträchtlichem Leiden und zu Formen der Entrechtung führen, deren psychische, kulturelle und materielle Konsequenzen sich miteinander vermischen. Andererseits kann die Forderung nach Anerkennung, die eine sehr starke politische Forderung darstellt, zu neuen ungerechten Formen sozialer Hierarchien führen (...) und zu neuen Formen, die staatliche Macht zu stützen und auszubauen – sofern die Forderung keine kritische Infragestellung genau der Normen der Anerkennung in Gang setzt, die durch die staatliche Legitimation vorgegeben und verlangt werden“498 Daher geht es ihr nicht darum, für eine Seite (z.B. die sog. Homo-Ehe) zu plädieren, sondern eine „kritische Praxis zu entwickeln“499 und das Thema der Verwandtschaft in eine produktive Krise zu führen. Antigone spiegelt für sie genau diese Ambivalenz wieder und so betont Butler, dass Antigones Verhalten nicht ein-, sondern nur zweideutig gesehen werden kann: Als

497 Butler 2015: 189. 498 ebd. 499 ebd.: 192.

171

5 Butler und Lévi-Strauss im Vergleich

gleichzeitige „Ablehnung“500 und „Einverleibung“501 patriarchaler resp. staatlicher Autorität. „Antigone behauptet sich durch die Aneignung der Stimme des anderen, zu dem sie in Opposition steht, und sie gewinnt ihre Autonomie somit in der Aneignung der autoritativen Stimme dessen, dem sie widersteht – eine Aneignung, die in sich Spuren einer gleichzeitigen Ablehnung und Einverleibung eben dieser Autorität trägt“502 5.3 Butlers Rekurs auf Lévi-Strauss Resümierend kann bis hierhin gesagt werden, dass sich Butlers postidentitäre Performanztheorie des Geschlechts auf eine Auseinandersetzung mit normativen Verwandtschaftsverhältnissen ausweitet – nicht zuletzt, weil genau dort auf Grundlage des gesellschaftsbildenden und unintelligiblen Inzesttabus (Lévi-Strauss) Geschlechteridentitäten gebildet und damit einhergehend kulturelle Rollenzuweisungen einverleibt werden. In Gender trouble hat sie gezeigt, wie Geschlecht hervorgebracht und zu Gunsten einer heterosexuellen Reproduktion stetig performativ wiederholt wird, damit es zur Grundlage der Anerkennung einer intelligiblen Geschlechtsidentität werden kann. Nun geht es Butler um eben jenen Ort, an dem Geschlechtsidentitäten auf Grundlage des Inzesttabus hergestellt werden: die Familie. In Antigones Verlangen rekurriert sie dabei primär auf Lévi-Strauss’ Verwandtschaftstheorie, die sie im psychoanalytischen Erbe verstrickt sieht und in dessen Zentrum v.a. das Inzesttabu steht. Ihre poststrukturalistische Kritik an der straussschen Allianztheorie führt dabei vor allem über Lacan, da beide für sie patriarchale Verwandtschaftsformen konstituieren und letzterer seine Theorie des Symbolischen und Universalisierung desselben auf dem Erbe der Elementaren Strukturen der Verwandtschaft aufbaut503: „In Lacans Erörterung erscheint der Staat zwar gar nicht, sowenig wie übrigens bei Lévi- Strauss vor ihm, aber jede soziale Ordnung gründet auf einer Struktur der Mittelbarkeit und Intelligibilität, die als symbolisch aufgefasst wird. Und obgleich das Symbolische weder für Lévi-

500 501 502 503

172

Butler 2013: 28. ebd. ebd. vgl. Butler 2013: 36f.

5.3 Butlers Rekurs auf Lévi-Strauss

Strauss noch für Lacan die Natur ist, instituiert es doch die Struktur der Verwandtschaft auf recht starre Weise“504 Butler kritisiert demnach vor allem die von Hegel über Lacan reichende Erhebung Antigones als Repräsentantin einer idealen Verwandtschaftsstruktur, die die Familie trotz ihrer inzestuösen Abstammung verteidigt505. Ihre tragische Geschichte im Lichte ihrer inzestuösen Abstammung will Butler umschreiben und noch tiefergehende inzestuöse Verstrickungen aufdecken. Damit geht es ihr letztlich um eine Öffnung des gesellschaftsbildenden und -erhaltenden Inzesttabus, da die mit dem Inzestverbot verbundenen Regeln über die menschliche Intelligibiltät bestimmen506: „Das Symbolische wird für Lacan 1953 zu einem technischen Begriff, mit dessen Hilfe er die mathematische (formale) Verwendung des Begriffs mit dem Gebrauch verbindet, den Lévi-Strauss von ihm macht. Das Symbolische wird definiert als das Reich des Gesetzes, das das Begehren im Ödipuskomplex regelt. Dieser Komplex soll sich herleiten aus einem primären oder symbolischen Inzestverbot, einem Verbot, das nur in Begriffen der Verwandtschaftsbeziehungen überhaupt sinnvoll ist, in deren Rahmen verschiedene,Positionen’507 in der Familie nach exogamischen Vorschriften besetzt werden“ Je nachdem welche Positionen im familiären Strukturgefüge besetzt werden, ergeben sich auch unterschiedliche Modalitäten für die jeweilige Rolle. Der Vater unterhält bspw. eine sexuelle Verbindung zur Mutter, nicht aber zu seinem Sohn oder seiner Tochter und der Sohn wiederum darf nicht mit seiner Mutter oder Schwester in Intimität verfallen usw. In der strukturalistischen Verwandtschaftsauffassung hat ein jeder, strukturiert durch binäre Oppositionen, seinen Platz, ähnlich wie die sprachlichen Zeichen in der Gesamtstruktur der Sprache, woraus sich Erwartungen und verbindliche, soziale Ordnungszusammenhänge ergeben. Einzeln ergeben die Zeichen, die den Austausch von Natur, Kultur und Gesellschaft tragen, keinen Sinn – sie sind vielmehr in Relation zu den anderen Zeichen zu verstehen. Das strukturalistische Verwandtschaftsgefüge leitet für Butler hieraus auch den symbolischen Platz des Vaters (phallus) ab, auf den traditionelle Familienformen aufbauen und Geschlechteridentitäten entwickeln. Butler geht es jedoch um eine Überschreibung dieser deterministi-

504 505 506 507

ebd.: 29. vgl. ebd.: 34. vgl. Butler 2013: 37; vgl. Nieberle 2013: 66. ebd.: 38f; Hervorh. i. Orig.

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5 Butler und Lévi-Strauss im Vergleich

schen Strukturen und eine Verschiebung verwandtschaftlicher Beziehungen, um auch andere Verwandtschaftsformen intelligibel zu machen. Ihre Lektüre Antigones diente Butler dabei als Allegorie für ihr Plädoyer eines neuen Verwandtschaftsbegriffs. Butler sieht selbst den hochaktuellen Bezug ihrer Neuformulierung des Familien- und Verwandtschaftsbegriffs in Zeiten kultureller Herausforderungen, die wohl auch komplexe Konsequenzen für die philosophische Dimension der Verwandtschaftsbeziehungen mit sich bringen werden. „Meine Frage fällt auch in eine Zeit, in der Kinder aus verschiedenen Gründen – Scheidung und Wiederverheiratung, Migration, Exil, Flüchtlingsstatus, globale Verschiebungen – von einer Familie zur anderen wandern, aus jeder Familie herausfallen, aus dem außerfamiliären Raum in eine Familie eintreten oder psychisch zwischen verschiedenen Familien, an der Grenze der Familie oder in vielschichtigen Familiensituationen leben, in denen sehr wohl mehr als nur eine Frau die Mutterrolle und mehr als nur ein Mann die Vaterrolle übernehmen kann, in der die Mutter- oder Vaterrolle aber auch unbesetzt bleiben kann, in der es Halbbrüder gibt, die zugleich Freunde sind – eine Zeit also, in der Verwandtschaft (...) etwas geworden ist, was seine Grenzen überschreitet“508 Die Öffnung traditioneller Güter ist zugleich der Kernpunkt der strausschen Eurozentrismuskritik und für Lévi-Strauss die Problematik der heißen Gesellschaften. Demgegenüber leben für ihn sog. kalte Zivilisationen in Ausgleich mit der Schöpfung und stehen exemplarisch für das gesellschaftsbildende Prinzip der Gabe und Gegengabe. Letztere sieht er jedoch im Prozess der Auflösung – verstrickt durch deren Begegnung mit der europäischen Kultur. Seine diesbezüglichen ethnologischen Forschungen lagen letztlich auch der Formulierung seines Familienbegriffs zu Grunde, welcher diametral zur butlerschen Auffassung steht. Butler konstatiert, dass das Inzesttabu bei Lévi-Strauss nicht nur der Erhaltung des Exogamiegebotes dient, sondern damit auch eine rassistische Ideologie nationaler (R)einheit verfolgt wird: „Der mehrdeutige ,Clan’ bezeichnet 1949 für Lévi-Strauss eine ,primitive Gruppe’, doch im Kontext eines Europas, das sich durch offenere Grenzen und neue Einwandererquellen bedrängt sieht, erfüllt er (...) eine ideologische Funktion für die kulturelle Einheit der Nation. Das

508 ebd.: 46.

174

5.3 Butlers Rekurs auf Lévi-Strauss

Inzesttabu geht so mit einem rassistischen Projekt zur Reproduktion der Kultur einher und im französischen Kontext mit einer Reproduktion der impliziten Identifikation der französischen Kultur und Universalität“509 Ihre grundlegende und zentrale Kritik an der Institution des Inzesttabus, die sie im Wesentlichen mit Lévi-Strauss in Verbindung bringt, der in eben jenem Verbot das kulturstiftende Moment überhaupt sieht, weitet sich somit aus zu der Behauptung, mit dem Strukturalismus gehe ein Ethnozentrisums einher: „Das Inzesttabu wirkt (...) insofern mit dem Tabu der Rassenmischung zusammen, als die Verteidigung der Kultur, die darin besteht, gesetzlich vorzuschreiben, dass die Familie heterosexuell zu sein hat, gleichzeitig eine Erweiterung neuer Formen eines europäischen Rassismus ist. Wir finden dieses Zusammenwirken im Ansatz schon bei LéviStrauss, was zum Teil erklärt, warum im Kontext der gegenwärtigen Debatte ein Wiederaufleben seiner Theorie zu beobachten ist.“510 Den diesbezüglichen Thesen Butlers ist entgegenzuhalten, dass LéviStrauss einer der bedeutendsten Ethno- und vor allen Dingen Eurozentrismuskritiker ist. In Rasse und Geschichte (1952) greift Lévi-Strauss beispielsweise nicht auf die Diskussion über die biologische, anthropologische oder psychologische Verschiedenheit resp. Gleichheit der Menschen zurück, sondern richtet seinen Fokus auf die Verschiedenheit der Kulturen. Er geht darin der Frage nach, wie Menschen die kulturelle Verschiedenheit betrachten, worin sie sich unterscheiden und was ihnen diese Verschiedenheit gebracht hat. Seine Forschungen auf dem Gebiet der Verwandtschaft beziehen sich damit einhergehend ausschließlich auf sog. primitive Gesellschaften. Damit will er vor allem der Auffassung der traditionellen Ethnologie entgegenhalten, die eheliche Familie sei eine exklusive Lebensform moderner und zivlisierter Gesellschaften, wohingegen sog. primitive Gesellschaftstypen in den Bereich des Barbarischen und Archaischen gedrängt werden511. So sieht er insbesondere bei den Australiden hoch entwickelte, familiäre Regelsysteme, für deren Durchdringung höchst komplexe mathematische Formeln angewendet werden müssen512. Lévi-Strauss versucht in Die Fa-

509 510 511 512

Butler 2015:199. ebd.: 200. vgl. Lévi-Strauss 1993: 73ff. vgl. Lévi-Strauss 1972: 42f.

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5 Butler und Lévi-Strauss im Vergleich

milie den Begriff der Familie zu fassen und universale Kriterien festzulegen. Er geht der Frage nach, warum die eheliche Familie zwar aus keiner universellen Notwendigkeit hervorgeht, aber dennoch ein universelles Phänomen darstellt. Hierfür fasst Lévi-Strauss zunächst drei allgemeingültige Merkmale der Familie zusammen: Demnach ist die heterosexuelle Ehe die Voraussetzung für die Familie (1), bestehend aus Vater, Mutter und den aus dieser Verbindung hervorgegangen Kindern sowie etwaigen anderen Verwandten (2) und durch verschiedenste Rechte sowie Verpflichtungen, z.B. rechtlicher, ökonomischer, religiöser oder sexueller Art geeint (3). Aus dem dritten Charakteristikum leitet sich zugleich die wichtigste (kulturelle) Funktion des ersten familiären Wesensmerkmales ab, die nicht etwa darin besteht, eine Verbindung zwischen zwei Individuen zu arrangieren, sondern die Verbindung zweier Gruppen (z.B. Familie, Clan oder Lineage) herzustellen und zu sichern. Indes hebt er nochmals das universelle Inzestverbot hervor, ohne das das aus den exogamen Verwebungen entstehende soziale Solidarnetzwerk nicht gedeihen könnte. Das kulturstiftende Inzestverbot, das bei Lévi-Strauss im Sinne seiner Allianztheorie eher ein Exogamiegebot darstellt, ist bei ihm die Voraussetzung für den Fortbestand einer sozialen Gruppe sowie der Moment des Übergangs vom Tier zum Menschen. Somit kann gemäß Lévi-Strauss die eheliche Familie eben nicht auf natürliche Grundlagen, wie etwa den menschlichen Fortpflanzungstrieb, reduziert werden. Genau hierin zeichnet sich bei ihm der elementare Unterschied zwischen Mensch und Tier ab: „(...) in allen menschlichen Gesellschaften ist die absolute Bedingung zur Schaffung einer neuen Familie die vorgängige Existenz zweier anderer Familien, die bereit sind, die eine einen Mann, die andere eine Frau anzubieten, aus deren Ehe dann eine dritte Familie entsteht, und so endlos fort (...) Mit anderen Worten, was den Menschen vom Tier unterscheidet, ist, daß eine Familie in der Menschheit nicht existieren könnte, wenn es nicht zuvor eine Gesellschaft gegeben hätte.“513 Doch Lévi-Strauss sieht in der Kernfamilie weder das Fundament noch das Produkt der Gesellschaft, sondern sozusagen ihr konträr funktionierendes Pendant, das die Begrenztheit der Familie respektiert, was etwa den männlichen Schutz in der weiblichen Schwangerschafts- und Stillzeit betrifft514. Die Verbindung zwischen der Familie und der Gesellschaft sieht er dabei keinesfalls als statisch an, sondern vielmehr als dynamische Beziehung, die

513 Lévi-Strauss 1993a: 93. 514 vgl. Lévi-Strauss 1993: 102ff.

176

5.4 Die Umkehrung der strukturalistischen Grundidee

sich gesellschaftswandelnden Verhältnissen anpasst und ein Gleichgewicht herstellt. Dabei ist jedoch stets die „Goldene Regel“515 resp. das „Eherne Gesetz“516 das heilige Wort, das eine Verbindung von Mann und Frau vorsieht517. Lévi-Strauss behält das Recht der ehelichen Kleinfamilie demzufolge gegengeschlechtlichen Partnern vor, damit seine Allianztheorie greifen kann. Butler kritisiert jedoch nicht nur den daraus folgernden Ausschluss gleichgeschlechtlicher Vereinigungen, vielmehr stellt sie das Institut der Ehe generell in Frage: „Für eine fortschrittliche Bewegung, auch eine solche, welche die Ehe als Option für Nicht-Heterosexuelle einführen möchte, ist die Aussicht, dass eine Heirat zur einzigen Möglichkeit wird, um Sexualität zu sanktionieren oder zu legitimieren, unannehmbar konservativ.“518 Wie schon im vorherigen Abschnitt thematisiert wurde, sieht sie beispielsweise in der Anerkennung der Ehe gleichgeschlechtlicher Menschen keinen Akt der Freiheit oder Gleichberechtigung, vielmehr wird so der Staat als Quelle von Macht und Anerkennung gestützt und gleichzeitig andere Formen des Zusammenlebens ausgeschlossen519. Ihre Forderung ist daher die Überwindung traditioneller Verwandtschaftsverhältnisse zu Gunsten „eine[r] Reihe gemeinschaftlicher Bindungen (...), die sich nicht auf die Familie reduzieren lassen“520, etwa bestehend aus „Ex-Geliebten, Nicht-Geliebten, Freunden oder Mitgliedern einer Gemeinschaft“521. Dabei knüpft Butler alternative Denkmuster, die jenseits von Binarität (Mann/Frau) und Tabus (Inzesttabu) an das subversive Potential von Sprechakten522. 5.4 Die Umkehrung der strukturalistischen Grundidee im der butlerschen Performanzmodell Warum nun von einer Umkehrung des strukturalistischen Grundgedankens in Butlers Performanzmodell der Geschlechter gesprochen werden

515 516 517 518 519 520 521 522

ebd.: 103. ebd. vgl. Lutherbibel 1984, 1. Buch Mose, Kap. 2, V. 24. Butler 2015: 179. vgl. ebd.: 189. ebd.: 208; Anm. d. Verf. ebd. vgl. Nieberle 2013: 66.

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5 Butler und Lévi-Strauss im Vergleich

kann, wird ersichtlich, wenn man sich nochmals den grundlegenden Unterschied zwischen dem Strukturalismus und dem daraus hervorgegangen Poststrukturalimus vergegenwärtigt. Während nämlich im Strukturalismus die Bedeutung eines Zeichens, also der Signifikant, aus der Vorstellung (Signifikat) hervorgeht, verhält es sich im Poststrukturalismus gerade andersherum. Hier schafft die Zeichenverwendung, also die Bedeutung, die daraus hervorgehende Vorstellung über das Zeichen. Im Poststrukturalismus ist es also nicht das Bewusstein, das den Ursprung der Sprache, die wir sprechen und der Bilder, die wir erkennen, darstellt. Vielmehr ist es die Summe der Bedeutungen, die wir erlernen und stetig reproduzieren523. Die Bedeutung eines Zeichens ist damit nicht mehr referentiell wie im Strukturalismus, sondern differenziell. Bei den Zeichen handelt es sich aber nicht nur um Wörter – diese sind bei weitem nicht die einzigen Signifikanten. Auch Symbole, Gesten, Mimiken, Gemälde, Filme, körperliche Ausdrücke usw. stellen Signifikanten dar. Die Vorstellungen, die wir uns im Laufe unseres Lebens aneignen sind also die Auswirkung der Bedeutungen, die wir erlernen und immer wieder reproduzieren. Es ist demnach die ständig wiederholende Macht des Diskurses (Foucault), die die Geschlechtsidentität hervorbringt. Der geschlechtliche Diskurs folgt bei Butler einem heteronormativen Imperativ, weswegen es nötig ist, diesen für neue Formen zu öffnen. Der Kerngedanke des Strukturalimus ist hingegen, dass die auf binären Oppositionen beruhende Struktur universalen, dem Menschen nicht bewusst zugänglichen, Denkprinzipien gehorcht, was der Struktur einen absoluten Charakter verleiht, der dem diskontinuierlichen Impetus des Poststrukturalismus konträr gegenüber steht. Sämtliche symbolische Kommunikationssysteme funktionieren wie eine Sprache, daher bedient sich LéviStrauss auch sprachwissenschaftlichen Methoden, um diese Systeme zu ent-codieren. Ein zentraler Gedanke im straussschen Strukturalismus ist, dass man eben nicht nach Dependenzen, sondern nach strukturellen Entsprechungen und Mustern suchen muss. Der Schlüssel zu unserer Gesellschaft ist folglich das Erkennen des Symbolischen, nicht des Kausalen, wobei die eigentliche Kraft, die uns trägt, die dem symbolischen Denken inhärente Differenz ist. Anders gesagt: Es sind keine natürlichen Ursachen, die uns dieses System nahelegen, es ist das Geflecht aus Differenzen. Besonders deutlich wird die leitende These dieser Arbeit, dass die Gender-Theorie von Butler eine Übersteigerung des strukturalistischen Kernparadigmas ist, wenn man sich den Prozess des Bezeichnens und Benennens

523 vgl. Belsey 2013: 13.

178

5.4 Die Umkehrung der strukturalistischen Grundidee

näher veranschaulicht: Die Natur liefert uns einen Vorrat an Zeichen, aus dem der Ritus des Bezeichnens seine Gliederung schöpft. Es werden mit Hilfe der Bezeichnung natürlicher Phänomene Personen identifiziert bzw. benannt. Dem Subjekt wird dadurch eine soziale Identität verliehen, die nicht rückgängig gemacht werden kann und auch nichts ist, was jemandem situativ zugeschrieben wird – wie es die Gender-Theorie behauptet. Die Gesellschaft drängt auf Identifizierung und an dieser Bereitschaft hängt auch die Identität des Einzelnen. Diese Verbindung resp. Berührung (Metonymie) geschieht durch gesellschaftliche Prozeduren und eben gerade nicht im Bewusstsein einer Person, die eine Beziehung zwischen der Wirklichkeit und dem Individuum herstellt, wie es bei Butler der Fall ist. Lévi-Strauss will im Gegensatz zu Butler weg von einem momentalistischrepräsentavistischen Modell von Bedeutungen. Zusammenfassend gesagt steht im straussschen Strukturalismus hinter dem Menschen und der Welt keine Idee oder ein Zusammenhang metaphorischer Natur, sondern die Gliederung der Welt vollzieht sich über die Identifikation der Individuen. Der Mensch ist demzufolge ein Weltgliederungswesen, der sich das Sosein der Welt zu Nutze macht, um sein Dasein fassen zu können. Also gehen die Individuen zurück an den Ursprung, indem sie die ihnen zur Verfügung stehende Natur beschreiben und aus dem Ganzen aus dem sie kommen wieder etwas Ganzes machen. Somit stellt die Struktur ein holistisches System dar, wobei alles was uns Menschen gegeben ist, in ein verhaltenssteuerndes Sozialsystem gebracht wird und jeder Einzelne seine Funktion daraus ableiten kann. Unser Denken ist sozusagen eine Art Übersetzung der Wirklichkeit, in der wir uns selbst nur im Vergleich resp. Unterschied zu anderen vollends begreifen können. Wir müssen daher zunächst erkennen, was wir nicht sind, um zu verstehen wer wir sind. Demnach definiert eine Frau ihre Weiblichkeit darüber, dass sie kein Mann ist und vice versa. Dabei ist es insbesondere für die geschlechtliche Identität von enormer Relevanz, dass jeder Einzelne seine Rolle zur Kenntnis nimmt und sich darüber in Verbindung mit anderen setzt. Die Selbsttranszendenz geschieht bei Lévi-Strauss also durch Selbstdistanz. Wie bereits mehrfach betont wurde, baut der Poststrukturalismus auf grundlegenden strukturalistischen Überzeugungen auf, kehrt diese jedoch um und übersteigert sie. Für das Verständnis poststrukturalistischer Theorieansätze ist es dabei elementar, den Poststrukturalismus nicht einfach als einen Anti-Strukturalismus zu denken. Es verhält sich vielmehr so, dass auch der Poststrukturalismus die Idee der Struktur nicht aufgibt, sondern am geschlossenen, geordneten und harmonischen Strukturbegriff ansetzt. Diese Tatsache stellt den markanten Unterschied zwischen dem Strukturalismus (z.B. Lévi-Strauss) und dem Poststrukturalismus (z.B. Butler) dar.

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5 Butler und Lévi-Strauss im Vergleich

Bei den Poststrukturalisten wird der Mensch stetig neu erfunden, nichts ist mehr festgelegt. Und genau diese diskontinuierliche Auffassung der Menschheitsgeschichte steht im Gegensatz zum strukturharmonischen Anspruch der Strukturalisten, wie etwa bei Lévi-Strauss. Beiden Strömungen ist gemein, dass jede Struktur wie die sprachliche Struktur gebildet ist, diese ist aber bei den Poststrukturalisten ein instabiles, inkohärentes, unabgeschlossenes und offenes Konstrukt, es gibt kein Zentrum und keine Grenzen524. Diese Auffassung adaptiert Butler, indem sie das geschlechtliche Sein als etwas nicht determiniertes und auch nicht determinierbares Konstrukt beschreibt, das aus dem geschlossenen und geordneten System der Zwangsheterosexualität (Strukturalismus) ausbrechen muss.

524 vgl. Münker/Roesler 2012: 28ff.

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6 Exkurs: Die Rolle der Frau nach islamischem Verständnis

Abschließend wird nun noch die einleitend erwähnte feministische Debatte aus dem Jahr 2017 aufgegriffen und die Stellung der Frau im Islam diskutiert. Dabei handelt es sich keinesfalls um eine abschließende Erörterung, sondern lediglich um die Skizzierung eines Themenfeldes, welches für weiterführende Forschungen angesichts der gesellschaftlichen Umschwünge in Europa wohl von hoher Brisanz und Aktualität ist. Auf Grund der aktuellen gesellschaftlichen Situation muss sowohl in der Wissenschaft als auch in der Öffentlichkeit und Politik daher das Bewusstein für die Geschlechterdimension im Kontext der Flucht- und Asylthematik steigen. Dabei sind stereotype, auf geschlechtliche Zuschreibungen aufbauende Diskurse nicht zuträglich, vielmehr muss die Komplexität und Multidimensionalität des Themenfeldes berücksichtigt werden. Einer der ersten Schritte kann dabei die Frage sein, wie sich das Geschlechterverständnis in den Herkunftsländern darstellt, um so die Lebensrealitäten besser zu erfassen, Veränderungsprozesse in Gang zu bringen und auf gesellschaftlicher Ebene auszuhandeln. Dass die Spannung, die im Verhältnis des okzidentalen und orientalischen Geschlechterverständnisses liegt, auch im akademischen Kontext thematisiert wird, zeigt die Mediendebatte zwischen Butler und Schwarzer. So ging es bei dieser Auseinandersetzung maßgeblich darum, dass Letztere die Frage stellte, ob aus feministischer Perspektive der Umgang mit Frauen im Islam kritisiert werden darf, was Schwarzer bejahte und ihr von Butler den Vorwurf des Rassismus einbrachte: „(...) Zum Beispiel haben die unmissverständlich zu verurteilenden Angriffe auf Frauen in der Kölner Silvesternacht einen Anlass für die Mobilisierung von Gender, Sexualität und einer bestimmten Vorstellung von Frauenemanzipation geboten, die zur Rechtfertigung rassistischer beziehungsweise islamfeindlicher Ausgrenzungspolitiken dienten (...) Welchen Feminismus auch immer Emma vor Augen hat, es scheint ein Feminismus zu sein, der kein Problem mit Rassismus hat und der nicht bereit ist, rassistische Formen und Praktiken der Macht zu verurteilen. Dies aber ist ein bornierter Feminismus, der sich nicht

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6 Exkurs: Die Rolle der Frau nach islamischem Verständnis

darum bemüht, sein Verständnis der Achsen von Ungleichheit zu vertiefen und seine solidarischen Bindungen zu erweitern“525. Daher drängt sich die Frage auf, wie der okzidental-orientalische Geschlechter- resp. Genderdiskurs vielstimmiger gemacht werden kann – was schon allein deshalb notwendig ist, weil Bilder und Stereotype, die im medialen und politischen Diskurs produziert werden und als soziales Wissen kursieren, einen transformierenden Effekt haben und sich auf das Handeln von Menschen auswirken können. Es sollte folglich sachlich und entemotionalisierter darüber diskutiert werden, wie wir divergierenden Geschlechterwelten begegnen, die sich bspw. an Phänomenen wie der Kölner Silvesternacht 2015/2016, Zwangsehen, Verschleierung oder etwa dem Anschluss junger Mädchen und Frauen an den IS ausdrücken. Es stellt sich zusammenfassend die weiter zu untersuchende Frage, inwieweit eine konsequente Umsetzung des Gender-Mainstreamings wirklich Geschlechtergerechtigkeit und Chancengleichheit für Männer und Frauen schafft oder ob es sich nur um politische Strategien handelt, die an der Oberfläche des eigentlichen Problems bleiben. Weiterhin bleibt abzuwarten, wie unsere westliche Gesellschaft der Herausforderung gerecht wird, den heterogenen, kulturellen und religiösen Kontexten zu begegnen. Der interkulturelle und -religiöse Dialog sollte die Anerkennung der Besonderheit von Männern und Frauen miteinschließen, was bedeutet, dass nicht nur die Differenzen und Variabilitäten zwischen den Geschlechtern zu beachten sind, sondern diese auch innerhalb der Geschlechtergruppen gewürdigt werden sollen. Hinzu kommt aber, dass im interkulturellen und -religiösen Kontext Geschlecht derzeit noch weit variiert und mit unterschiedlichen – aber auch gemeinsamen – Bildern und Vorstellungen besetzt ist. Diese Vielfältigkeit zwischen und innerhalb der Geschlechtergruppen und den kulturellen sowie religiösen Dimensionen ist ernst zu nehmen und im Integrationsprozess zu berücksichtigen, wenn es nicht zu Ressentiments und kulturzersetzenden Ungleichgewichten kommen soll. Im Folgenden soll daher nun die Stellung der Frau im islamischen Kontext angerissen und gezeigt werden, dass neue Diskussionsformen von Nöten sind.

525 Butler/Hark 2017; Hervorh. im Orig.

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6.1 Stellung der Frau

6.1 Stellung der Frau Verfechter der Gleichstellung und Gleichberechtigung von Mann und Frau im Islam berufen sich häufig auf entsprechende Stellen im Koran. Diese Stellen zeigen einen Islam, der die Frauen, ebenso wie die Männer, wertschätzt526. In der Argumentation für die Anerkennung der Würde der Frau im Islam werden oft zwei Stellen zitiert, in der Mann und Frau „aus einem Wesen“527 erschaffen wurden. Hinzu kommt, dass Gott zwischen beide „Liebe und Barmherzigkeit gesetzt [hat]“528 und „Sie [die Frauen] sind euch [den Männern] ein Kleid, und ihr seid ihnen ein Kleid“529. Auch in den überlieferten Aussagen Mohammeds ist die Rede davon, dass Männer gegenüber Frauen respektvoll sein müssen: „Und der Beste von euch ist derjenige, der sich seinen Frauen gegenüber am Besten verhält“530. Im Koran finden sich aber neben den positiv formulierten Suren über Mann und Frau, die die Würde der Frau und deren Gleichstellung in der Ausübung ihrer Religion betreffen, auch Stellen, die den Wert der Frau als geringer klassifizieren: „Die Männer sind den Frauen überlegen wegen dessen, was Allah den einen vor den andern gegeben hat, und weil sie von ihrem Vermögen für die Frauen auslegen. Die rechtsschaffenden Frauen sind gehorsam“531 [und] „doch haben die Männer den Vorrang vor ihnen [den Frauen]“532. Die Übersetzung des Korans lässt zwar immer einen interpretativen Spielraum zu, den Vertreter verschiedener Standpunkte für die jeweilige Auslegung nutzen können, die eben genannten Suren aber sind, in ihrer Übersetzung und Bedeutung, weitläufig anerkannt. Hieraus ergibt sich, dass der Mann, gerade im rechtlichen Bereich, häufig bevorzugt behandelt wird. Auch das Recht der Männer, Entscheidungen für die Frau zu treffen, wird mit dieser Sure legitimiert533.

526 527 528 529 530 531 532 533

vgl. Schirrmacher 2006: 78f. Koran, Sure 4, 1; ebenso 137,189. Koran, Sure 30, 21; Anm. d. Verf. Koran, Sure 2, 187; Anm. d. Verf. Islamische Gemeinschaft in Deutschland e.V. Koran, Sure 4, 34. Koran, Sure 2, 228; Anm. d. Verf. vgl. Schirrmacher 2006: 17f.

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6 Exkurs: Die Rolle der Frau nach islamischem Verständnis

Weiterhin werden bezüglich der eigentlichen Gleichstellung in der Religionsausübung ebenfalls praktische Einschränkungen vorgenommen. So ist es einer Frau z.B. nicht erlaubt, während ihrer Menstruation zu beten, zu fasten, oder mit dem Koran in Berührung zu kommen. Auch zum Freitagsgebet ist sie grundsätzlich nicht verpflichtet. Männer hingegen dürfen und müssen zu jeder Zeit ihren religiösen Verpflichtungen nachkommen534. Die Frage ist, ob diese Einschränkung der religiösen Pflichten der Frau eine Erleichterung oder eine Last darstellt. Obwohl der Koran bezüglich der Schöpfungsgeschichte von einer Gleichwertigkeit von beiden Geschlechtern spricht, gibt es doch in vielen Überlieferungen über Mohammeds Aussprüche auch Aussagen, die den Wert der Frau deutlich unter den des Mannes postulieren. Und so wird den Frauen in der arabischen Gesellschaft eine Minderwertigkeit vor Gott zugeschrieben, ihre Intelligenz und ihr Urteilsvermögen wird angezweifelt, was wiederum Auswirkungen auf ihre rechtliche Stellung hat. Unter den praktizierenden Muslimen sind die Überlieferungen von Mohammeds Aussprüchen bekannter als der Korantext selbst. Deshalb ist davon auszugehen, dass diese eine höhere Bedeutung haben und die Frauenfeindlichkeit damit begünstigt wird535. „So sehr die Frau als unvollkommenes Wesen betrachtet wird, emotional, seelisch leicht in Aufruhr zu versetzen und stets auf eine rechtliche Vertretung durch den Mann angewiesen, so sehr wird der Mann als vollkommen beurteilt, als rational und objektiv urteilend (...) mit größeren Verstandeskräften ausgestattet, geeignet, Recht zu sprechen und schwierige Fragen zu entscheiden“536. Trotzdem wird der Frau so viel Macht zugesprochen, auf Männer eine derart ansprechende Wirkung auszuüben, dass diese nicht mehr in der Lage sind, sich zu zügeln. Dementsprechend trägt sie die Verantwortung dafür, ihr Verhalten dahingehend auszurichten, möglichst kein Aufsehen zu erregen und die Aufmerksamkeit des Mannes nicht auf sich zu ziehen (etwa durch Blickkontakt), um ihn vor einem Fehlverhalten zu schützen. Markant ist an diesem Punkt besonders, dass es in der Verantwortung der Frau liegt und nicht in der des Mannes, der sich ebenso selbst zügeln könnte537.

534 535 536 537

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vgl. ebd.: 80. vgl. ebd.: 82. ebd.: 83. vgl. ebd.

6.1 Stellung der Frau

Da der Prophet, wie oben aufgezeigt, sowohl frauenfreundliche als auch frauenfeindliche Aussagen getroffen haben soll und auch im Koran unterschiedliche Aussagen zum Verhältnis von Mann und Frau zu finden sind, stellt sich die Frage, welchen Aussagen mehr Bedeutung zugemessen werden soll. Somit ist die Thematik der Gleichberechtigung im Islam ein Bereich, der verschiedene Positionen zulässt. Denn nur weil die Aussagen über Frauen und Praktiken im Umgang mit ihnen im Islam nach westlichem Standard als ungerecht tituliert werden, heißt das natürlich nicht, dass diese Feststellung tatsächlichen Lebensrealitäten entspricht. Die muslimische Auffassung von Gerechtigkeit ist eine andere als die westliche. Dieser Auffassung nach besteht zwar eine Geschlechtergerechtigkeit, welche allerdings nicht zu verwechseln ist mit der Gerechtigkeit zwischen Mann und Frau. Denn verglichen werden soll nur Gleiches mit Gleichem und Mann und Frau sind von Natur aus ungleich. Ihnen werden andere geschlechterbezogene Aufgaben zuteil538. Traditionsgemäß kommen der Frau folglich eher Aufgaben aus dem häuslichen Bereich wie auch die Erziehung der Kinder zu. Der Mann ist im Gegenzug dazu zum Unterhalt der Familie verpflichtet, was stark an das aristotelische Geschlechterbild erinnert, welches im Westen im Zuge der Frauenbewegung bereits aufgebrochen und überwunden wurde. Diese Ungleichbehandlung zeigt sich insbesondere in der Rechtsprechung. Dort wurden in der Vergangenheit in überwiegend muslimischen Ländern Frauen oft benachteiligt und ihrer Rechte beraubt, selbst derer, die im Koran verankert sind539: „Diejenigen aber, für deren Widerspenstigkeit ihr fürchtet – warnet sie, verbannt sie aus den Schlafgemächern und schlagt sie. Und so sie euch gehorchen, so suchet keinen Weg wider sie“540. Wird diese Stelle aus dem Koran ohne jegliche historische Überlegungen und ohne eine weiterführende, die vernünftige Abwägung betreffende, Auseinandersetzung auf die heutige Zeit übertragen, so gestaltet sich dies, gerade im Hinblick auf die Würde der Frau, als sehr problematisch. Sogenannte Hardliner berufen sich auf diese Stelle im Koran, und gehen sogar noch einen Schritt weiter, indem sie sozusagen Gebrauchsanweisungen geben, wie Frauen am besten geschlagen und gemaßregelt werden kön-

538 vgl. ebd.: 217f. 539 vgl. ebd.: 216: 540 Koran, Sure 4, 34.

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nen541. Dies verstößt fundamental gegen die westliche Gebotenheit der körperlichen Unversehrtheit, die im zweiten Artikel unseres Grundgesetzes verankert ist. Einer der Vertreter des beschriebenen Gebarens gegenüber Frauen ist der ehemalige Vorsitzende des Zentralrats der Muslime in Deutschland, Nadeem Elyas, der die Steinigung von Frauen bei Ehebruch vorschlägt – und das, obwohl die Steinigung für Ehebruch laut Scharia nicht nur Frauen sondern auch Männer betrifft. Dieses Beispiel zeigt, dass es auch in der heutigen Zeit in politisch und gesellschaftlich wichtigen Funktionen nicht nur Vertreter einer Ungleichbehandlung von Mann und Frau im Islam gibt, sondern sogar Verfechter der körperlichen Züchtigung von Frauen. Angesichts dieses Standpunktes, fällt es schwer, in diesem Zusammenhang, von der Würde der Frau im islamischen Kontext zu sprechen. Interessant ist aber auch der Aspekt, dass Frauen die Trägerinnen der Familienehre sind: „Eine sittsame Frau erhält die Familienehre, wenn sie sich gemäß der islamisch- nahöstlichen Anstandsregeln verhält, mit keinem nichtverwandten Mann Blickkontakt sucht, sich angemessen kleidet, niemanden anspricht, sich gemessen bewegt, nicht laut redet, lacht oder rennt, also schamhaftes Verhalten zeigt“542. Die Ehrverletzung kann nur durch das männliche Geschlecht wieder bereinigt werden – eine Tatsache, die unweigerlich mit den auch in Deutschland immer wieder vorkommenden sog. Ehrenmorden im Verhältnis steht. Aber auch die Jungfräulichkeit der Frau beim Eintritt in die Ehe ist eng mit der islamischen Auffassung der Familienehre verbunden und steht im Kontrast zu der modernen, westlichen Sicht. Der voreheliche Geschlechtsverkehr gilt daher als unzüchtig, ebenso für den Mann wie für die Frau: „Sprich zu den Gläubigen, daß sie ihre Blicke zu Boden schlagen und ihre Scham hüten. Das ist reiner für sie“543. Es zeigt sich, dass hier mit den Gläubigen sowohl Männer als auch Frauen gemeint sind. Warum die Jungfräulichkeit heutzutage in der Praxis aber offensichtlich nur bei den Frauen verlangt wird und Männer, insbesondere von der Familie, nicht zur Rechenschaft gezogen werden, ist hier die zentrale Frage: Wie können sich Theologie und Praxis derart unterscheiden? Vermutlich liegt es daran, dass sowohl im westlichen als auch in östlichen

541 vgl. Spuler-Stegemann 2006: 249. 542 Schirrmacher 2006: 208. 543 Koran, Sure 24, 30.

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6.2 Das Kopftuch als religiöses Statement

Ländern die männliche Überlegenheit hegemonial war. Im Zuge der großen Frauenbewegungen wurden die patriarchalen Strukturen im okzidentalen Bereich jedoch aufgeweicht, sodass Frauen heute in nahezu allen gesellschaftlichen Kontexten die gleichen Zugänge genießen wie Männer. Aber es darf nicht vergessen werden, dass es sich hierbei um die Früchte eines jungen Kampfes handelt. Denn vor nicht allzu langer Zeit gab es auch für Frauen in Deutschland noch nicht so viele Rechte wie es heutzutage der Fall ist. Vor rund 60 Jahren durften Frauen noch ohne die Erlaubnis ihres Mannes keinen Anstellungsvertrag unterzeichnen oder den Führerschein erwerben. Daher ist es vielleicht auch nur eine Frage der Zeit bis die islamische Tradition so weit aufgebrochen wird, dass den Frauen mehr Rechte zugesprochen werden. 6.2 Das Kopftuch als religiöses Statement Ein medial viel diskutiertes Thema ist in diesem Kontext auch der Kopftuchstreit. Die Debatte, ob das Tragen eines Kopftuches als religiöses Statement in nicht-islamischen Ländern geduldet werden sollte, wird sehr spannungsgeladen diskutiert – auch im feministischen Feld. Ist das Kopftuch also ein Symbol der Unterdrückung? Eines liegt jedenfalls auf der Hand: Mit diesem Stück Stoff wird etwas kommuniziert. Der Islam ist der Auffassung, dass Männer den äußerlichen (sexuellen) Reizen der Frauen ausgeliefert sind. So vermittelt für fromme Musliminnen das Tragen eines Kopftuches die Botschaft: Ich spiele nicht mit meinen äußeren Reizen. Dies verstehen islamische Frauen als ein Zeichen der Wertschätzung544. Im Koran selbst findet sich zum Kopftuch kein eindeutiger Hinweis, jedoch gibt es eine Sure, die andeutet, dass Frauen Sünde begehen, wenn sie mit Männern, die nicht ihre Ehegatten, Väter oder Söhne sind, unverschleiert sprechen: „Keine Sünde begehen sie, wenn sie unverschleiert mit ihren Vätern oder ihren Söhnen (...) sprechen“545. Interessant ist, dass es in den vorherigen Versen der Sure 33 um Verhaltensregeln im Haus des Propheten geht. Da der oben zitierte Vers fast direkt im Anschluss kommt, genauer gesagt im übernächsten Vers, könnte angenommen werden, dass sich diese Aufforderung (nur) an die Gattinnen des Pro-

544 vgl. Oestreich 2004: 140. 545 Koran, Sure 33, 55.

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6 Exkurs: Die Rolle der Frau nach islamischem Verständnis

pheten Mohammed richtet, nicht jedoch an alle Frauen. Es ist also, wie bei zahlreichen Suren und Versen auch, eine Frage der Interpretation. Eine Sure, die sich jedoch an alle Frauen zu richten scheint, besagt eindeutig, dass Frauen ihre Reize, insbesondere ihre Scham und ihren Busen, nur ihren Ehemännern oder Vätern zeigen sollen: „Und sprich zu den gläubigen Frauen, daß sie ihre Blicke niederschlagen und ihre Scham hüten und daß sie ihre Reize zur Schau tra- gen, es sei denn, was außen ist, und daß sie ihren Schleier über ihren Busen schlagen und ihre Reize nur ihren Ehegatten zeigen oder ihren Vätern (...)“546. Dass der Kopf jedoch bedeckt sein oder gar eine Ganzkörperverschleierung (Burka, Hidschab, Niqab) getragen werden soll, lässt sich hieraus nicht ableiten. Vielmehr geht es hier bspw. darum, kein offenherziges Dekolleté in der Öffentlichkeit zu zeigen und zwar möglicherweise mit dem Hintergedanken, keine gaffenden Blicke von fremden Männern zu ernten oder diese gar (sexuell) zu erregen: „O Prophet, sprich zu deinen Gattinnen und deinen Töchtern und den Frauen der Gläubigen, daß sie sich in ihren Überwurf verhüllen. So werden sie nicht erkannt und werden nicht verletzt (...)“547. Mit dem Tragen eines Kopftuches oder einer Ganzkörperbedeckung, so ein möglicher Argumentationsstrang, demonstrieren Frauen ihre persönliche Würde und wollen nicht als Sexualobjekte wahrgenommen werden. Weiterhin nehmen sie, besonders wenn sie es freiwillig tragen, öffentlich Stellung zu ihrer religiösen Haltung. Da nicht eindeutig geklärt werden kann, warum einige Muslima Verschleierungen verschiedenster Art tragen, und der Koran unterschiedlich, ja gar subjektiv, ausgelegt werden kann, ist es nicht zielführend, nur eine monokausale Interpretationslinie im europäisch-islamischem Geschlechterdiskurs zuzulassen. Butler hingegen schließt kategorisch aus, dass mit dem Tragen einer Verschleierung auch Formen der Unterdrückung und (psychischer) Gewalt einhergehen können: „Sie symbolisiert, dass eine Frau bescheiden ist und ihrer Familie verbunden; aber auch, dass sie nicht von der Massenkultur ausgebeutet wird und stolz auf ihre Familie und Gemeinschaft ist (...) Die Burka zu verlieren bedeutet mithin auch, einen gewissen Verlust dieser Verwandtschaftsbande zu erleiden, den man nicht unterstützen sollte. Der 546 Koran, Sure 24, 31. 547 Koran, Sure 33, 59.

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6.3 Der Umgang mit Sexualität

Verlust der Burka kann eine Erfahrung von Entfremdung und Zwangsverwestlichung mit sich bringen“548. 6.3 Der Umgang mit Sexualität Fatima Mernissi549 stellt sich die Fragen: „Warum hat man im Islam Angst vor der fitna? Warum hat man Angst vor der Macht der weiblichen Reize?“550. Doch was ist eigentlich die fitna? Wie gestaltet sich Sexualität im Islam? Wie wird mit dem Thema umgegangen? Folgendes Kapitel soll dazu dienen, einen Einblick zu bekommen, wie der Umgang mit Sexualität im Islam ist. Daran wird deutlich werden, wie sehr die islamische Auffassung von der westlichen, die insbesondere durch die 1968er-Bewegung modernisiert wurde, abweicht. Kassem Amin benutzt den Begriff fitna mehrdeutig: „Einerseits allgemein das Chaos, andererseits als das von Frauen hervorgerufene sexuelle Durcheinander“551. Unter anderem deswegen ist es die Pflicht einer frommen Muslima sich „zu verhüllen, damit die Männer nicht ständig gereizt werden [und] die Beherrschung verlieren“552. Nach traditionell islamischen Vorstellungen hat der Mann ein stetiges Anrecht auf Geschlechtsverkehr: „Er muss nicht lernen, seinen Sexualtrieb zu beherrschen, im Gegenteil, Möglichkeiten finden, seinen Trieb zu befriedigen“553. Daher gilt jede Frau, die ihre Reize offen zeigt und die ein Mann erspäht, als potentielle Sexualpartnerin. Auch im Koran findet sich hier eine entsprechende Sure, die es Männern scheinbar erlaubt, ihrem Trieb, wann und wo sie möchten, nachzugehen: „Eure Frauen sind euch ein Acker. Gehet zu euerm Acker, von wannen ihr wollt“554. Gläubige Muslime begründen und argumentieren dahingehend, dass sich der Mann entleeren müsse und dies unter anderem präventiv vor Ehebruch

548 549 550 551 552 553 554

Schwarzer 2017. vgl. Mernissi 1991. Mernissi 1991: 13; Hervorh. i. Orig. ebd.: 12. Kelek 2011: 168; Anm. d. Verf. ebd.: 169f. Koran, Sure 2, 223.

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6 Exkurs: Die Rolle der Frau nach islamischem Verständnis

und Unzucht schützen soll. Da der Geschlechtsakt nach islamischer Auffassung per se als unrein gilt, sollte er nicht direkt vor dem Einschlafen stattfinden, sodass ein Muslim nicht als Unreiner schläft555. Von dieser Unreinheit befreien kann man sich, indem man nach dem Geschlechtsakt rituelle Waschungen vornimmt. Al-Ghazali vertritt sogar die Meinung, dass der Geschlechtsverkehr nur innerhalb der Ehe vollzogen werden sollte und keinen Akt der Liebe darstellen muss556. So kann bereits anhand dieser exemplarischen Auszüge geschlussfolgert werden, dass Sexualität kein für Mann und Frau gleichberechtigtes Thema darstellt, da beispielsweise die aufgezeigten Suren fast ausschließlich an die Befriedigung des Mannes anknüpfen. Dass der Vollzug des Geschlechtsaktes bei gläubigen Muslimen auch mit religiösen Riten verbunden werden sollte, zeigen auch Anregungen von Al-Ghazali aus dem 11. Jahrhundert, an denen sich viele Muslime noch heute orientieren. So empfiehlt er beispielweise den sexuellen Akt „mit der Anrufung des Namen Gottes zu beginnen, dann Gott ist groß zu rufen und mit dem stillen Ruf (...) Es gibt keinen Gott außer Allah zu ejakulieren“557. Bei der Sexualität wird das Selbstbestimmungsrecht der Frauen also möglichst klein gehalten. Mernissi setzt den etwaigen Eintritt der Autonomie der islamischen Frau mit fitna, also dem Eintritt von Chaos gleich: „Wenn die Frauen nicht beherrscht und überwacht werden, müssen die Männer der Gefahr ihrer unwiderstehlichen sexuellen Macht ins Auge sehen (...) Das würde die Männer in (...) Unzucht, den außerehelichen Sexualverkehr, treiben“558. Sexualverkehr außerhalb der Ehe zu betreiben, gilt für Männer und Frauen gleicher- maßen als Sünde, wie auch diese Textstelle im Koran belegt: „Die Hure und den Hurer, geißelt jeden von beiden mit hundert Hieben; und nicht soll euch Mitleid erfassen zuwider dem Urteil Allahs, so ihr an Allah glaubt und an den Jüngsten Tag. Und eine Anzahl der Gläubigen soll Zeuge ihrer Strafe sein“559. Dies könnte ein Grund dafür sein, dass Frauen in Teilen islamisch gläubiger Regionen für Ehebruch öffentlich gesteinigt wurden und teilweise immer noch werden, was auch als generalpräventive Maßnahme dienen soll. 555 556 557 558 559

190

vgl. Kelek 2011: 170f. vgl. ebd. ebd.; Hervorh. i. Orig. Mernissi 1991: 43. Koran, Sure 24, 2.

6.3 Der Umgang mit Sexualität

Es könnte der Eindruck entstehen, dass Sexualität im Islam negativ behaftet ist. Solange sexuelle Tätigkeiten innerhalb der Ehe stattfinden, gilt im Islam körperliche Nähe jedoch als positiv. Dass Frauen hier mitunter eine devote, passiv hinnehmende Rolle einnehmen, kann jedoch nicht bestritten werden. Doch wie sieht es, abgesehen von heterosexueller Zuneigung, mit Homosexualität im Islam aus? Eine Frage, die insbesondere im Zusammenhang mit einer Auseinandersetzung postidentitärer Theorien, wie dem Performanzmodell Butlers interessant ist. Da Sexualität im Islam im Wesentlichen an der Befriedigung der Männer ausgerichtet ist, die ihre Triebe ausleben und sich fortpflanzen sollen, gelten homoerotische Tendenzen innerhalb einer islamischen Lebensweise als Tabuthema. So geht man im Koran davon aus, dass der Mann seinen Geschlechtstrieb mit einer Frau stillen will, auch wenn er dafür mehrere Frauen benötigt. Ein wichtiger Unterschied ist jedoch, ob die homosexuelle Neigung öffentlich ausgelebt wird oder ob es stillschweigend geahnt und hingenommen wird. Im Koran finden sich auch hierzu Textstellen, die eine Ablehnung von Homosexualität andeuten: „Wahrlich, ihr kommt zu den Männern im Gelüst anstatt zu den Frauen! Ja, ihr seid ein ausschweifendes Volk! Und die Antwort seines Volkes war keine andre, als daß sie sprachen:‚Treibet sie hinaus aus eurer Stadt, siehe, sie sind Leute, die sich rein stellen’“560. Da es nach islamischer Auffassung das Recht des Mannes ist, sich zu entleeren, gilt der, der sich beim homosexuellen Geschlechtsakt passiv verhält und seinen Samen nicht in den anderen ergießt als Sünder: „Als aktiver Teil Sex mit einem Mann zu haben, ist deshalb ein Kavaliersdelikt“561. So ist also nicht generell der Geschlechtsakt zwischen zwei Männern im Islam tabu, sondern die Rolle des Penetrierten, nicht die des Penetrierenden. So ist es „einer der schlimmsten und entehrendsten Vorwürfe, weil dadurch die gesellschaftliche Stellung als Mann in Frage gestellt wird. Daraus ergibt sich im Umkehrschluss, dass Frauen, die Penetrierten, als passive und untergeordnete Sexualpartnerin gesehen werden“562. Auch an dieser Stelle

560 Koran, Sure 7, 81, 82. 561 Kelek 2011: 81. 562 Schneider 2011: 112, Hervorh. i. Orig.

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6 Exkurs: Die Rolle der Frau nach islamischem Verständnis

wird erneut deutlich, dass der Mann im Islam eine höhere Stellung als die Frau innehat: „Als Mann galt, wer sowohl über die entsprechenden Geschlechtsmerkmale verfügte als auch den dominierend-aktiven Part in der Sexualbeziehung wahrnahm“563. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass es erstens weit weniger verwerflich ist, der Penetrierende innerhalb einer homosexuellen Geschlechtsbeziehung zu sein, und zweitens, dass die Frau per se die passiv-devote Rolle einnehmen soll. 6.4 Ehe, Partnerschaft und Familie Wenn es um Partnerschaft im Islam geht, ist erneut die Sure 30, 21 hinzuzuziehen, die bezüglich des Umgangs miteinander eine essentielle Aussage trifft: „Und zu seinen Zeichen gehört es, daß er euch von euch selber Gattinnen erschuf, auf daß ihr ihnen beiwohnet, und er hat zwischen euch Liebe und Barmherzigkeit gesetzt“564. Diese Liebe und Barmherzigkeit zwischen Partnern widerspricht jeglicher Art von Zwang, denn in Zwangssituationen ist es unmöglich liebevoll und barmherzig miteinander zu agieren. Von diesem Standpunkt aus betrachtet, konterkariert die genannte Sure auch die Zwangsheirat. Diese Betrachtungsweise steht im Einklang mit der Auffassung sämtlicher islamischer Rechtsschulen, dass die Ehe zwischen zwei Menschen einen Vertrag darstellt, der durch beide freiwillig geschlossen werden muss. Zudem sollen die Vertragspartner volljährig sowie im Besitz all ihrer geistigen Kräfte sein565. Aber warum gibt es in der Öffentlichkeit dann immer wieder Berichte von Zwangsehen, wenn diese doch offenbar von der Religion weder vorgesehen noch erwünscht sind? Die Zwangsehe kann unter Umständen dann entstehen, wenn eine sog. arrangierte Ehe unter Zwang entsteht. Dieses eheliche Arrangement hat mit der Partnerwahl auf Grund verschiedener Kriterien zu tun. Wird der Partner wegen seiner Schönheit, seines Glaubens, seiner Abstammung, seines Vermögens oder guten Rufes ge-

563 ebd. : 113; Hervorh. i. Orig. 564 Koran, Sure 30, 21. 565 vgl. Mohagheghi 2008: 85f.

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6.4 Ehe, Partnerschaft und Familie

wählt und wird davon ausgegangen, dass die Eheschließung nicht nur die Eheleute, sondern auch deren Familien betrifft, so kann es jungen Menschen nahegelegt werden, anhand der genannten Kriterien den passenden Partner zu wählen566. Geschieht dies unter psychischem Druck, so ist es berechtigt, diese Ehe als Zwangsehe aufzufassen. Neben der Liebe und Barmherzigkeit zwischen den Eheleuten, finden sie beieinander auch Geborgenheit und Schutz. Wie weiter oben schon erwähnt, sind sich Mann und Frau gegenseitig eine Bekleidung567, was im übertragenen Sinne auch mit gegenseitiger Wärme zu tun hat568. Der Ehe und Familie wird in der islamischen Gesellschaft ein hoher Stellenwert zu- geschrieben. Sie bilden sozusagen das Fundament einer Gemeinschaft. Historisch betrachtet stammt der enge Zusammenhalt aus dem Stammeswesen der damaligen Zeit, da die Menschen in der Wüste gemeinsam Überlebensstrategien entwickeln mussten und sich dabei gegenseitig einerseits vertrauen aber auch aufeinander verlassen mussten. In der Öffentlichkeit wurden die Stämme dabei jeweils vom männlichen Geschlecht repräsentiert. Auch heute ist dieser enge Zusammenhalt in muslimischen (Groß-)familien noch erkennbar. Klassischerweise dient die Ehe dazu, sich gegenseitig zu unterstützen und zu ergänzen, die körperlichen Bedürfnisse zu befriedigen, sowie auch die geistigen (sprich Mann und Frau sollten auf einem ähnlichen geistigen Stand sein, um sich miteinander unterhalten zu können) Bedürfnisse zu stillen. Darüber hinaus soll die Ehe den Fortbestand des Menschen auf der Erde sichern569. Auch hier zeigen sich ganz grundsätzliche Differenzen zu den Kernthesen der GenderTheorie von Butler, die eben genau diese Lebensformen im Kontext der Zwangsheterosexualität begreift und eine Reformulierung des Familienund Verwandtschaftsbegriffes vorschlägt. Im islamischen Verständnis ist die Ehe ist von Natur aus eigentlich dazu bestimmt, auf Dauer angelegt zu sein. Damit sind Scheidungen unerwünscht. Dennoch gibt es im islamischen Rechtssprechung, der Scharia, das Recht auf Scheidung und zwar sowohl seitens des Mannes als auch seitens der Frau. Die Gründe für eine Scheidung müssen jedoch triftig sein und die Ehe kann aufgelöst werden, indem z.B. der Ehemann vom islamischen Glauben abfällt, der Ehemann seine Frau verstößt oder die Frau ein Gerichtsverfahren anstrengt570. Eine Gleichberechtigung liegt hier also 566 567 568 569 570

vgl. ebd.: 88. vgl. Koran, Sure 2, 187. vgl. Mohagheghi 2008: 86. vgl. ebd.: 86ff. vgl. Schirrmacher 2006: 152f.

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6 Exkurs: Die Rolle der Frau nach islamischem Verständnis

ganz klar nicht vor, wenn der Mann das Recht hat, die Frau einfach zu verstoßen, die Frau hingegen gerichtlich vorgehen muss. Beachtenswert ist auch, dass muslimische Männer (allerdings nur Sunniten) zwar Frauen der Schriften, also Christen und Juden, heiraten dürfen, einer Muslima die Heirat eines andersgläubigen Mannes hingegen strengstens untersagt ist. Die Begründung hierfür ist, dass der Mann traditionell nach außen der Stellvertreter der Familie ist und auch innerhalb der Familie alle Entscheidungen trifft. So gehört es auch zu seiner Entscheidungsgewalt, welche Religion ausgeübt wird und deshalb kann nach muslimischer Auffassung kein Nicht-Muslim mit einer Muslima verheiratet sein571. Theologisch wird die Erlaubnis der Ehe zwischen einem Muslim und einer Christin oder Jüdin so begründet: „Und erlaubt sind euch zu heiraten züchtige Frauen, die gläubig sind, und züchtige Frauen von denen, welchen die Schrift vor euch gegeben ward, so ihr ihnen die Morgengabe gegeben habt und züchtig mit ihnen lebt ohne Hurerei und keine Konkubinen nehmt“572. Abschließend bleibt zu sagen, dass unter progressiven Muslimen anachronistische Geschlechterbilder an Prägungskraft verlieren und auch Butler eine Öffnung traditioneller Geschlechterbilder und Verwandtschaftsbeziehungen denkbar macht. So ist einer der Haupteinwände gegen Butlers Performanztheorie, sie würde die Körperlich- resp. Geschlechtlichkeit als somatische Erfahrung vollständig ignorieren. Dies lässt sich jedoch mit Butlers Schriften, insbesondere Gender Trouble, gerade nicht belegen. Butler will vielmehr den Naturalisierungsdiskurs analysieren, dem letztlich auch die Geschlechterbeziehung unterliegt. Hierfür stellt sie die biologische, binäre Konstruktion der Zweigeschlechtlichkeit und die kausallogische Fundierung von körperlichen Geschlechtsmerkmalen und sozialer Geschlechtsidentität grundlegend in Frage. Der Körper wird so zur Potenzialität, zum Ort der Möglichkeiten – was nicht gleichzusetzen ist mit individueller Autonomie oder Beliebigkeit des Konstruierens. Gemeint ist aber auch nicht das Gegenteil in Form eines diskursiven oder kulturellen Determinismus. Der Körper ist also weder individuell in voluntaristischer Absicht als geschlechtlicher konstruiert, er ist aber ebenso wenig durch diskursive Machtstrukturen abschließend determiniert. Butler sieht im Geschlecht demzufolge nicht mehr länger eine innere Wahrheit der natürlichen Anlagen und Identität, sondern gibt sowohl dem sozialen (gender) als

571 vgl. Mohagheghi 2008: 94f. 572 Koran, Sure 5, 5.

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6.4 Ehe, Partnerschaft und Familie

auch dem natürlichen Geschlecht (sex) sowie deren Zusammenführung im sexuellen Begehren (desire) und in der sexuellen Praxis eine performativ inszenierte Bedeutung. Ein konstantes Geschlecht zu sein stellt bei Butler eine gewaltvolle Bedingung der Subjektkonstitution dar – wie es sich etwa im Inzesttabu ausdrückt. Demgegenüber steht das strukturalistische Postulat der Allianztheorie von Lévi-Strauss. Er begründet die Allianz sozialer Gruppen im Inzesttabu, das sowohl kulturbedingten als auch kulturbedingenden Charakter hat. Das Inzesttabu steht folglich für das Ende der uneingeschränkten Herrschaft der Natur im Menschen, da es zwei Charakteristika in sich vereint: Regel (Kultur) und universales Prinzip (Natur). Es sorgt dafür, dass Ehen in der familiären Einheit unmöglich werden und somit ein Austausch der höchsten Werte der Gesellschaft – der Frauen – vonstattengeht. Der Frauentausch als der Archetyp des Tauschs schafft reziproke solidarische Verpflichtungen, die sich auch auf andere Bereiche des gesellschaftlichen Lebens auswirken. Diese Vernetzung der familiären Gruppen konstituiert die Sozialstruktur und festigt die gemeinschaftliche Integrität. Er sieht im Inzestverbot folglich eher ein Exogamiegebot, weil es das gesellschaftsbildende und -stärkende Prinzip par excellence ist. Resümierend kann festgehalten werden, dass sich hier zwei kulturanthropologische Ausprägungen gegenüberstehen, deren Substanz sich mit dieser Untersuchung angenähert werden konnte. Die hieraus gewonnenen Erkenntnisse können demzufolge sicher für weiterführende Fragestellungen fruchtbar gemacht werden.

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Ausblick: Butler als Impuls für eine philosophische Kritik der Macht?

Ein weiterer Grund, weshalb sich die Assoziierung mit Arendt in der Titelgebung dieses Buches angeboten hat, ist die Frage, ob Butlers Performanzmodell möglicherweise ein fruchtbarer Ausgangspunkt für neue Perspektiven grundlegender philosophischer Probleme, wie etwa den Machtdiskurs, sein kann. Mit der Frage der Macht als zentrales Diskussionsfeld der Politischen Philosophie stehen die Grundvoraussetzungen menschlichen Zusammenlebens auf dem Prüfstand, da mit Machtbeziehungen und Machtverteilungen ganz zwangsläufig Begriffe wie Freiheit, Gerechtigkeit und damit einhergehend Gleichbehandlung und Ungleichbehandlung zur Debatte stehen – wobei nur eine Dimension die der Geschlechtergerechtigkeit ist. Auch Butler greift mit ihrem Begriff der Prekarität in ihren Anmerkungen zu einer performativen Theorie der Versammlung (2016) jene Begrifflichkeiten auf. Prekarität ist demnach durchaus ungleich verteilt, insofern etwa Kindersterblichkeit nicht alle Länder gleich betreffe oder Frauen, Queers, TransPersonen, Arme, anders Begabte, Staatenlose, aber auch religiöse und ethnische Minderheiten besonders gefährdet seien. Konzepte von Gefährdung, Ausgeliefertsein, Verletzbarkeit und damit einhergehend der Verletzungsmächtigkeit sollen durch Hinwendung zum Anderen durchbrochen werden, was impliziert, auf der Basis einer radikalen Gewaltfreiheit für gerechtere und demokratischere Formen sowohl der Wahrnehmung wie der Anerkennung einzutreten. Butler nutzt ihre Neuformulierung des anthropologischen Geschlechtsbegriffs hier als Folie für weitere fundamentale Argumentationen zum Subjekt – unter anderem bezüglich der Wirkweisen von Macht. In Anmerkungen zu einer performativen Theorie der Versammlung geht sie den Dynamiken und Taktiken öffentlicher Versammlungen (Occupy Wall Street bis Pediga) unter den derzeit herrschenden ökonomischen und politischen Bedingungen auf den Grund und fragt, wie öffentliche Versammlungen dabei helfen können, demokratische Verhältnisse herzustellen. Sie rückt dabei nicht mehr nur die geschlechtliche, sondern die körperliche Identität im Allgemeinen als Ausdruck politischer Handlungen in den Vordergrund, das heißt: Demonstrationen sind verkörperte Handlungen. Butlers Anmerkungen zur Performanztheorie der Versammlung, die sich durchaus zu

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Ausblick: Butler als Impuls für eine philosophische Kritik der Macht?

einer Kritik der Macht bzw. Machttheorie weiterdenken ließen, erinnern dabei zum einen an die foucaultsche Prägung des Machtbegriffs, zum anderen an grundsätzliche Überlegungen zur Demokratie und Macht bei Arendt. Bei Arendt sind die Begriffe Gewalt und Macht scharf voneinander getrennt. Macht ist die positive Möglichkeit der Politik und steht in Abgrenzung und im unversöhnlichen Gegensatz zum Gewaltbegriff, da Gewalt ein unpolitisches Handeln ist: Wo Macht herrscht, ist für Gewalt kein Platz. Arendt denkt eine kommunikativ begründete Macht, die aber im demokratischen Rechtsstaat nicht möglich ist, durchaus aber in Räterepubliken oder direkten Demokratien. Butler jedoch fordert keine Formen direkter Demokratie, zentral ist das gemeinschaftliche Moment. Sie versucht zu erklären, warum öffentliche Zusammenkünfte als ein Ausdruck der Demokratie die Wahlen ergänzen müssen. Hierbei trennt Butler den Begriff der Demokratie und der Volkssouveränität und erkennt gerade in unvorhersehbaren Versammlungen ein politisches Potential. Nicht der Körper an sich ist schon eine Aussage, sondern die politische Handlung erwachse performativ aus dem Zwischen der sich versammelnden, eine Allianz bildenden Körper, die damit wiederum ihre Teilhabe am Politischen sichtbar machen. Während bei Foucault die moderne Macht aber gekennzeichnet ist durch ihre Ortlosigkeit und Unsichtbarkeit, die sich wie ein (produktives) Netz über und durch die ganze Gesellschaft spannt, begreift Arendt Macht zwar auch als relationales Phänomen, sie wollte aber die Machtbeziehungen allein in den engen Grenzen des politischen Raums beheimatet wissen. Und genau dort holt Butler den Körper als Ort des Widerstands und der Möglichkeiten zurück. Sind wir mit diesen Überlegungen nicht wieder beim antiken zoon politikon? Butler erinnert damit doch ganz unweigerlich an den politischen Geist der Antike, wo das Handeln der Bürger im öffentlichen Raum stattfindet. Genau in diesem Raum sieht Arendt auch den Ort der Macht. Arendts moderne Besinnung auf die Antike führt zu einer Einheit von Politik und Macht, von Philosophie und Politik. Um die Feindschaft zwischen Politik und die Philosophie zu überwinden, knüpft sie an das sokratische Denken an. Zusammenfassend lässt sich Arendts Machttheorie als kritische Untersuchung der Antike und der Moderne auf der Suche nach einem neuen, gangbaren Weg für die Gegenwart beschreiben, den Butler letztlich beschreitet. Damit wären wir am Schluss dieses Buches wieder am Anfang: bei Hannah Arendt.

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