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German Pages 386 [388] Year 2012
Bastian Hein, Manfred Kittel, Horst M¨ oller (Hg.) Gesichter der Demokratie
Gesichter der Demokratie Portr¨ ats zur deutschen Zeitgeschichte
Eine Ver¨ offentlichung des Instituts f¨ ur Zeitgeschichte M¨ unchen-Berlin herausgegeben von Bastian Hein, Manfred Kittel, Horst M¨ oller
Oldenbourg Verlag M¨ unchen 2012
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978-3-486-71512-5
eISBN 978-3-486-71601-6
Udo Wengst zum 65.Geburtstag
Inhalt Bastian Hein, Manfred Kittel und Horst Möller Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Rudolf Morsey Gelehrter, Kulturpolitiker und Wissenschaftsorganisator in vier Epochen deutscher Geschichte – Georg Schreiber (1882–1963) . . . . . . . .
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Andreas Wirsching Demokratie als „Lebensform“ – Theodor Heuss (1884–1963) . . . . . . . . . . . . . . 21 Klaus Wengst Theologie und Politik im Jahr 1933 – Karl Barth (1886–1968) und Karl Ludwig Schmidt (1891–1956) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 Manfred Kittel Weimarer Nationalprotestanten in der Gründergeneration von CSU und FDP – Die fränkischen Bauernpolitiker Friedrich Bauereisen (1895–1965) und Konrad Frühwald (1890–1970) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 Helmut Altrichter „Politik ist keine Religion“ – Julius Leber (1891–1945) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 Martin Schumacher „Wir wollten als Deutsche nicht abseits stehen“ – die Herausgeber der „Deutschen Blätter“ in Santiago de Chile Udo Rukser (1892–1971) und Albert Theile (1904–1986) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 Helge Kleifeld Eine Beamtenkarriere vom Kaiserreich bis zur Bundesrepublik – Walther Kühn (1892–1962) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Petra Weber Gescheitertes „Neu Beginnen“ – Hermann Louis Brill (1895–1959) . . . . . . . . 125 Peter März Überlegungen zu einer deutschen Biografie – Sepp Herberger (1897–1977) . 145 Anselm Doering-Manteuffel Protagonist kritischer Demokratiewissenschaft zwischen Weimar, Washington und West-Berlin – Franz L. Neumann (1900–1954) . . . . . . . . . . . 161
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Inhalt
Hans-Peter Schwarz Ein Leitfossil der frühen Bundesrepublik – Theodor Eschenburg (1904–1999) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 Anne Rohstock Kein Vollzeitrepublikaner – die Findung des Demokraten Theodor Eschenburg (1904–1999) . . . . . . . . . . . 193 Ingrid Gilcher-Holtey Das Lachen der Hannah Arendt (1906–1975) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 Heinrich Potthoff Ein Leben für Freiheit und soziale Demokratie – Susanne Miller (1915–2008) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 Hans Günter Hockerts Vom Ethos und Pathos der Freiheit – Werner Maihofer (1918–2009) . . . . . . . 245 Horst Möller Machtpolitik im Schafspelz – Walter Scheel (Jg. 1919) als Parteipolitiker und Staatsmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 Günther Heydemann Ein Liberaler der ersten Stunde – Wolfgang Natonek (1919–1992) . . . . . . . . . 291 Bastian Hein Das Gewissen der Nation? – Günther Grass (Jg. 1927) als politischer Intellektueller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 Franziska Fronhöfer Die Vision der „Soziokultur“ – Hermann Glaser (Jg. 1928) . . . . . . . . . . . . . . . . 325 Hermann Wentker Von der Friedens- und Menschenrechtsbewegung zur friedlichen Revolution – Ulrike Poppe (Jg. 1953) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 Elisabeth Zellmer Der lange Weg zur Kanzlerin – Frauen und Politik im Spiegel der deutschen Zeitgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375
Bastian Hein, Manfred Kittel und Horst Möller
Einleitung
Das 20. Jahrhundert war ein „Zeitalter der Extreme“ und gerade in Deutschland von tiefen Zäsuren geprägt.1 Das Deutsche Reich führte zwei Weltkriege, und die Deutschen erlebten 1918/19, 1933, 1945, 1949 und 1989/90 Wechsel der Staatsform sowie 1920, 1938/39 und 1945 umfangreiche Veränderungen des Staatsgebiets. Die ebenfalls höchst wechselhafte wirtschaftliche Entwicklung spiegelte sich in den Zahlungsmitteln: Bis 1923 galt die Mark des Kaiserreichs, die in der Hyperinflation wertlos und durch diverse Notgelder bzw. Tauschgeschäfte ersetzt wurde. Die nun eingeführte Renten- bzw. Reichsmark überstand nicht nur die Weltwirtschaftskrise, sondern auch den Zweiten Weltkrieg. Auf dem Schwarzmarkt der Nachkriegszeit traten jedoch der Dollar, die Zigarettenwährung und Ähnliches neben sie. Die Einführung der D-Mark bzw. Ostmark von 1948 war ein wichtiger Schritt zur deutschen Teilung, die deutsch-deutsche Währungsunion von 1990 zur Wiedervereinigung. Der seit 1999 bzw. 2002 gültige Euro schließlich steht nicht nur für das Zusammenwachsen Europas, sondern auch für den steigenden Globalisierungsdruck. Den schwerer zu zäsurierenden, jedoch nicht weniger tiefgreifenden sozialen und kulturellen Wandel2 versuchen Generationen-Modelle zu erfassen. Unterscheiden lassen sich unter anderem die „Frontgeneration“ und die „Kriegsjugend“ des Ersten Weltkriegs, die „HJ-“ bzw. „Flakhelfergeneration“, deren Mitglieder auch als „45er“ bezeichnet werden, die „68er“ und schließlich – wenn auch (noch) eher feuilletonistisch als historisch – die Generationen „X“, „Golf“ und „Praktikum“.3 Die Bedeutung politischer Zäsuren ist jedoch umstritten. Seit 1961 stellte Fritz Fischer die Tragweite des Umbruchs von 1918/19 ebenso partiell in Frage wie die der „Machtergreifung“ von 1933, indem er die These aufstellte, die deutsche Außenpolitik sei vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis 1945 kontinuierlich ag-
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Hobsbawm, Eric J.: Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München u.a. 1995; Gallus, Alexander (Hg.): Deutsche Zäsuren. Systemwechsel vom Alten Reich bis zum wiedervereinigten Deutschland, München 2006, S. 133 ff. Vgl. Prinz, Michael und Frese, Matthias (Hg.): Politische Zäsuren und gesellschaftlicher Wandel im 20. Jahrhundert. Regionale und vergleichende Perspektiven, Paderborn u.a. 1996. Herbert, Ulrich: Drei politische Generationen im 20. Jahrhundert, in: Reulecke, Jürgen (Hg.): Generationalität und Lebensgeschichte im 20. Jahrhundert, München 2003, S. 95–114; Moses, Anthony Dirk: Die 45er. Eine Generation zwischen Faschismus und Demokratie, in: Neue Sammlung 40 (2000), S. 233–263; Busche, Jürgen: Die 68er. Biographie einer Generation, Berlin 2003; Coupland, Douglas: Generation X. Geschichten für eine immer schneller werdende Kultur, Hamburg 1992; Illies, Florian: Generation Golf. Eine Inspektion, Berlin 2000; Stolz, Matthias: Generation Praktikum, in: Die Zeit vom 31. 3. 2005.
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Bastian Hein, Manfred Kittel und Horst Möller
gressiv und expansionistisch gewesen.4 Die hitzige „Fischer-Kontroverse“5 mündete in eine lang anhaltende Auseinandersetzung über das „Kontinuitätsproblem“ der deutschen Geschichte6 bzw. den deutschen „Sonderweg“, der sich durch Elemente wie Obrigkeitsstaatlichkeit, Militarismus und fehlenden Bürgersinn ausgezeichnet habe7. Dahinter stand die Frage, warum es seit 1933 zur nationalsozialistischen Diktatur kam. Selbst die vermeintlich evidente „Stunde Null“ von 1945 wurde mit dem Verweis auf vielfältige „braune Kontinuitäten“ bzw. eine vermeintliche „Restauration“ relativiert.8 Die Auseinandersetzung mit der „Ära Adenauer“ bediente sich dabei vielfach der biographischen Methode, mit der per se längere Zeiträume in den Blick genommen werden. Unter anderem Ulrich Herbert und Norbert Frei verwiesen auf zahlreiche recht glatte Karriereübergänge vom Dritten Reich zur Bundesrepublik.9 Die Hinwendung prononciert „kritischer“ Historiker zur „neuen Biographik“10 war bemerkenswert, da gerade die ebenfalls dezidiert „kritische“ Bielefelder Sozialgeschichte zuvor dieses Genre für methodisch überholt erklärt hatte.11 Allerdings hatte längst vorher eine Reflexion über Sinn, Methode und Form von Biographien eingesetzt. Dabei ging es um die Frage, wie weit die etwa in England gängige Form „life and letters“ überindividuelle Determinanten adäquat erfassen könne. Schließlich sollte eine moderne geschichtswissenschaftliche Biographie die Dialektik von Individuum und geschichtlichem Kontext spiegeln, 4
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Fischer, Fritz: Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914/18, Düsseldorf 1961. Vgl. auch sein späteres, noch pointierteres Werk Bündnis der Eliten. Zur Kontinuität der Machtstrukturen in Deutschland 1871–1945, Düsseldorf 1979. Vgl. Schöllgen, Gregor: Griff nach der Weltmacht? 25 Jahre Fischer-Kontroverse, in: Historisches Jahrbuch 106 (1986), S. 386–406. Vgl. u.a. Alff, Wilhelm: Materialien zum Kontinuitätsproblem der deutschen Geschichte, Frankfurt a.M. 1976; Conze, Werner und Lepsius, Rainer M. (Hg.): Sozialgeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Beiträge zum Kontinuitätsproblem, Stuttgart 1983; Holtmann, Everhard (Hg.): Wie neu war der Neubeginn? Zum deutschen Kontinuitätsproblem nach 1945, Erlangen 1989. Zusammenfassend, jedoch parteiisch Kocka, Jürgen: Nach dem Ende des Sonderweges. Zur Tragfähigkeit eines Konzepts, in: Hitzer, Bettina und Welskopp, Thomas (Hg.): Die Bielefelder Sozialgeschichte. Klassische Texte zu einem geschichtswissenschaftlichen Programm und seinen Kontroversen, Bielefeld 2010, S. 263–275. Resümierend Klessmann, Christoph: 1945 – welthistorische Zäsur und „Stunde Null“, unter: http://docupedia.de/zg/1945 [Zugriff 15. 7. 2011]. Zum Streit um die „Restauration“ vgl. Möller, Horst: Zeitgeschichte – Fragestellungen, Interpretationen, Kontroversen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 2 (1988), S. 3–16. Herbert, Ulrich: Deutsche Eliten nach Hitler, in: Mittelweg 36 8 (1999/2000), Heft 3, S. 66–82; Frei, Norbert: Hitlers Eliten nach 1945 – eine Bilanz, in: ders. (Hg.): Karrieren im Zwielicht. Hitlers Eliten nach 1945, Frankfurt a.M. u.a. 2001, S. 303–335. Vgl. Wengst, Udo: Machen Männer wieder Geschichte? Der Stellenwert von Politikerbiografien in der Geschichtsschreibung über die Bundesrepublik Deutschland, in: ders., Hildebrand, Klaus und Wirsching, Andreas (Hg.): Geschichtswissenschaft und Zeiterkenntnis. Von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Festschrift zum 65. Geburtstag von Horst Möller, München 2008, S. 627–639. U.a. Kocka, Jürgen: Struktur und Persönlichkeit als methodologisches Problem der Geschichtswissenschaft, in: Hitzer, Bettina und Welskopp, Thomas (Hg.): Die Bielefelder Sozialgeschichte. Klassische Texte zu einem geschichtswissenschaftlichen Programm und seinen Kontroversen, Bielefeld 2010, S. 167–182.
Einleitung
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also lang- und kurzfristige Strukturprobleme einer spezifischen Epoche zu einer wesentlichen Dimension der Biographie machen, die damit nicht nur ein Lebens-, sondern ein Zeitbild am exemplarischen Individuum liefern sollte.12 Der im Bezug auf die deutsche Zeitgeschichte vielfach dominante Fokus auf „Kontinuitätsprobleme“ und „Karrieren im Zwielicht“ ist allerdings in zweierlei Hinsicht selbst nicht unproblematisch. Erstens werden hier teilweise ahistorischabsolute, retrospektiv-besserwissende bzw. aus der gesicherten Lage der späten Bundesrepublik gewonnene Maßstäbe an Akteure von früher angelegt, ohne ihren Kenntnis- und Erfahrungshorizont bzw. konkret gegebenen Handlungsspielraum ausreichend zu reflektieren.13 Zweitens kann paradoxerweise gerade eine Perspektive, die auf Distanzierung von deutschen „Sonderwegen“, vom Dritten Reich und vom vermeintlich „restaurativen CDU-Staat“ Adenauers aus ist, zu einer zumindest latent unkritischen, affirmativen Deutung der Bundesrepublik nach der Studentenrevolte von „1968“, dem sozialliberalen „Machtwechsel“ von 1969 und der Wiedervereinigung von 1990 führen, die im Kontrast als „fundamental liberalisiert“14 oder „im Westen“ angekommen15 erscheint. Die vorliegende Sammlung biographischer Skizzen zu deutschen Demokraten im 20. Jahrhundert stellt sich diesen Problemen. Sie zeigt, dass Deutschland nicht nur ein „Kontinuitätsproblem“ hatte, sondern bei der Etablierung und Stabilisierung der zweiten deutschen Republik auch auf – allerdings lange minoritäre und gefährdete – positive Traditionen zurückgreifen konnte. Dabei wird der Begriff der „Demokraten“ bewusst weit gefasst, um eine möglichst facettenreiche Antwort darauf zu erhalten, wie es gelingen konnte, in Deutschland trotz der schwierigen Startbedingungen und erheblichen Vorbelastungen eine weitgehend normal funktionierende Demokratie zu etablieren. Aus diesem Grund werden im Folgenden nicht nur Politiker und Politikerinnen, sondern auch Männer und Frauen aus der Wissenschaft, den Medien und der Kultur porträtiert. Neben „lupenreinen“ Demokraten, die sich stets und aus tiefster Überzeugung für die Demokratie einsetzten, werden auch solche vorgestellt, die sich nach autoritären bzw. totalitären Versuchungen, Prägungen oder Fehltritten zu Demokraten wandelten. Mit dem Fußballlehrer Sepp Herberger ist sogar ein Mann aufgenommen worden, der sich allem Anschein nach wenig für Politik interessierte und ganz sicher in seinem Wirkungsbereich vom Mehrheitsprinzip nichts hielt, aber mit dem „Wunder von Bern“ einen der positiven Mythen der jungen Republik begründete und somit nolens volens zumindest funktional zur Akzeptanz des neuen Staats beitrug. 12
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Vgl. als Beispiel einer solch umfassend angelegten Biographie Möller, Horst: Aufklärung in Preussen. Der Verleger, Publizist und Geschichtsschreiber Friedrich Nicolai, Berlin 1974. Vgl. zu einer differenzierten Auseinandersetzung mit den Fragen, die durch personelle Kontinuitäten über 1945 hinweg aufgeworfen werden, Gall, Lothar: Elitenkontinuität in Wirtschaft und Wissenschaft: Hindernis oder Bedingung für den Neuanfang nach 1945? Hermann Josef Abs und Theodor Schieder, in: HZ 279 (2004), S. 659–676. Vgl. Herbert, Ulrich: Liberalisierung als Lernprozess. Die Bundesrepublik in der deutschen Geschichte – eine Skizze, in: ders. (Hg.): Wandlungsprozessein Westdeutschland. Belastung, Integration, Liberalisierung 1945–1980, Göttingen 2002, S. 7–49. Vgl. Winkler, Heinrich August: Der lange Weg nach Westen, 2 Bd., München 2000.
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Bastian Hein, Manfred Kittel und Horst Möller
Die präsentierten Kurzbiographien erschöpfen sich keinesfalls in einem artifiziellen und affirmativen Verweis auf ein „anderes Deutschland“. Vielmehr werden gerade in den Auseinandersetzungen der deutschen Demokraten mit den obrigkeitsstaatlichen Traditionen des Kaiserreichs, dem totalitären und massenmörderischen Nationalsozialismus sowie dem diktatorischen Staatssozialismus der DDR die belastenden Elemente der deutschen Nationalgeschichte deutlich. Schließlich verweist der detaillierte biographische Blick auf Repräsentanten der Demokratie in Deutschland auf die historischen Brüche und die Ambivalenzen auch der bundesrepublikanischen „Erfolgsgeschichte“.16 Denn die von ihnen im Einzelnen vertretenen Konzepte, ihre Strategien und Handlungen erweisen sich im historischen Rückblick vielfach ebenfalls als fragwürdig. Auch wenn – wie gerade seit 1989/90 – eine totalitäre Gefährdung der demokratischen Grundordnung Deutschlands in weite Ferne gerückt zu sein scheint und sich der Staatsaufbau der Bundesrepublik in über 60 Jahren als stabil erwiesen hat, so muss in jeder Demokratie doch immer wieder aufs Neue darauf geachtet werden, die Balance auf dem schmalen Grat zwischen Freiheit und sozialer Gerechtigkeit, zwischen Mehrheitsprinzip und Minderheitenschutz, zwischen notwendigem Pragmatismus und wünschenswertem Idealismus zu halten.17 Wie schwierig das ist und wie es dennoch gelingen kann, zeigen die folgenden Porträts. Sie sollen aber auch, das hoffen die Herausgeber nicht zuletzt mit Blick auf den mit diesem Band zu seinem 65. Geburtstag geehrten Udo Wengst, eine spannende und bei aller Gelehrtheit anregende und unterhaltsame Lektüre bieten. Udo Wengst selbst hat mit seinem grundlegenden Buch „Staatsaufbau und Regierungspraxis“18 nicht allein die Verfassungsorgane, sondern auch die Frage der „gebrochenen Lebensläufe“ bzw. der Kontinuität politischer und administrativer Karrieren thematisiert. Außerdem stellte er in zwei größeren biographischen Studien politische Akteure in ihren jeweiligen epochenspezifischen Kontext, die beide durch vorherige fundamentale Umbrüche geprägt waren: In seiner Doktorarbeit behandelte er die Außenpolitik der frühen Weimarer Republik am Beispiel des Grafen Brockdorff-Rantzau, der das Deutsche Reich 1919 bei den Friedensverhandlungen in Versailles vertreten hat.19 In seiner umfangreichen Biographie über eine der interessantesten Persönlichkeiten des deutschen Liberalismus nach 1945 hat er Thomas Dehler dargestellt und damit einen wesentlichen Beitrag zur Geschichte der FDP in den 1950er und 1960er Jahren geleistet.20 Auch Dehlers heftiges Temperament und seine politische Grundorientierung sind ohne die Zäsur von 1945 nicht zu denken. 16 17
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Differenziert Hertfelder, Thomas (Hg.): Modell Deutschland. Erfolgsgeschichte oder Illusion?, Göttingen 2007. Vgl. zu einem ähnlichen, wenn auch zeitlich weiter ausgreifenden Ansatz Asendorf, Manfred und Bockel, Rolf von (Hg.): Demokratische Wege. Ein biographisches Lexikon, Sonderausgabe Stuttgart 2006. Wengst, Udo: Staatsaufbau und Regierungspraxis 1948–1953. Zur Geschichte der Verfassungsorgane der Bundesrepublik Deutschland, Düsseldorf 1984. Wengst, Udo: Graf Brockdorff-Rantzau und die außenpolitischen Anfänge der Weimarer Republik, Bern u.a. 1973. Wengst, Udo: Thomas Dehler 1897–1967. Eine politische Biographie, München 1997.
Einleitung
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So gelten einige der folgenden Beiträge den bisherigen Kernthemen der Forschung von Udo Wengst – Liberalismus und geschichtswissenschaftliche Biographie. Sie dienen zugleich dazu, ihn in seinem Vorhaben zu bestärken, die Biographie eines weiteren deutschen Liberalen, Theodor Eschenburg, zu verfassen. Dies ist auch der Grund, dass die Herausgeber die Kuriosität nicht gescheut haben, zum künftigen Thema des zu Ehrenden gleich zwei Beiträge aufzunehmen, die ihrerseits den generationellen Unterschied des Zugangs spiegeln, stammen sie doch von einem Alt- und Großmeister unseres Fachs auf der einen und einer Schülerin von Herrn Wengst auf der anderen Seite.
Rudolf Morsey
Gelehrter, Kulturpolitiker und Wissenschaftsorganisator in vier Epochen deutscher Geschichte – Georg Schreiber (1882–1963) Einleitende Bemerkungen Der münsterische Universitätsprofessor und Päpstliche Hausprälat Georg Schreiber, 1920–1933 Reichstagsabgeordneter für die Deutsche Zentrumspartei, zählte als Kulturpolitiker und Wissenschaftsorganisator zu den führenden Persönlichkeiten der Weimarer Republik.1 Dabei gehörte er zur Minderheit derjenigen Wissenschaftler, die dazu beigetragen haben, die junge Demokratie auch geistig zu fundieren. Denn sie stieß in großen Teilen des „geistigen Deutschlands“, auch in katholisch-konservativen Kreisen, auf Zurückhaltung oder Ablehnung („Verfassung ohne Gott“). Wenn damals die Versöhnung von Politik und Kultur, die Integration der „geistigen Arbeiter“ – ein Ausdruck, den Schreiber gern benutzte – in Staat und Gesellschaft, der Ausgleich von Staat und Kirche und eine eigenständige Kulturpolitik des Reiches in vielfacher Hinsicht richtungweisend begonnen wurden, so hat der Zentrumspolitiker daran erheblichen Anteil. 1935 gelang es dem katholischen Kirchenhistoriker, eine Zwangsversetzung an die Theologische Fakultät der Staatlichen Akademie in Braunsberg (Ostpreußen) durch seine ein Jahr später erreichte Emeritierung zu verhindern. Er konnte in Münster seine Forschungsarbeit fortsetzen, auch in den von ihm weiterhin geleiteten Instituten für Auslandkunde e.V. und Volkskunde e.V., bis beide Anfang 1939 von der Gestapo beschlagnahmt wurden. Nach dem 20. Juli 1944 entzog sich Schreiber einer befürchteten Verhaftung und hielt sich in Niederbayern versteckt, seit Januar 1945 in der Benediktinerabtei Ottobeuren. Im Juli 1945 kehrte er nach Münster zurück, wo er seinen früheren Lehrstuhl wieder übernahm und sich am Wiederaufbau überregionaler Wissenschaftsorganisationen beteiligte.
Herkunft, Ausbildung und wissenschaftliche Karriere bis 1920 Georg Schreiber stammte aus kleinen dörflichen Verhältnissen. Er wurde am 5. Januar 1882 in Rüdershausen bei Duderstadt (Eichsfeld) – seit 1866 preußische Provinz Hannover – als Sohn einer eingesessenen katholischen Familie geboren. Sein Vater Franz Ignaz (1835–1887), ein Förster, starb früh, ebenso Schreibers einziger 1
Vgl. Glum, Friedrich: Zwischen Wissenschaft, Wirtschaft und Politik, Bonn 1964; Zierold, Kurt: Forschungsförderung in drei Epochen, Wiesbaden 1968; Heiber, Helmut: „Schlüsselfigur in der Kulturpolitik auf Reichebene.“ Walter Frank und sein Reichsinstitut für die Geschichte des neuen Deutschlands, Stuttgart 1968, S. 131.
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Rudolf Morsey
jüngerer Bruder. Seine Mutter, Marie geb. Freckmann (1860–1942), führte ihm später in Münster den Haushalt. Nach dem Besuch der Rektoratsschule in Duderstadt wechselte Schreiber 1896 auf das Gymnasium Josephinum in Hildesheim. Im Anschluss an das Abitur 1901 begann er ein philosophisch-theologisches Studium an der Staatlichen Akademie in Münster, die ein Jahr später zur Universität erhoben wurde. Er besuchte auch literaturwissenschaftliche Lehrveranstaltungen und veröffentlichte erste literarische Artikel in der „Unitas“, der Zeitschrift seines gleichnamigen katholischen Studentenverbands. 1902 leitete er den Studentenausschuss. In diesen Jahren lernte Schreiber herausragende Persönlichkeiten seiner Theologischen Fakultät näher kennen, in erster Linie Franz Hitze und Joseph Mausbach. Der Hildesheimer Bischof und spätere (1914) Breslauer Fürstbischof Adolf Bertram (1919 Kardinal) förderte die wissenschaftliche Laufbahn Schreibers. Er erhielt nach seinem Studienabschluss 1904 in Münster und nach einer einjährigen Ausbildung im Hildesheimer Priesterseminar im April 1905 in seiner Heimatdiözese die Priesterweihe. Anschließend setzte er, von seiner kirchlichen Behörde beurlaubt, sein Studium der Geschichte und Literaturwissenschaft in Münster und, ab 1906, in Berlin fort, mit dem Ziel, Gymnasiallehrer zu werden. Zu seinen akademischen Lehrern gehörten Dietrich Schäfer, Hans Delbrück, Kurt Breysig und der Österreicher Michael Tangl, sein späterer Doktorvater. Während dieser Jahre war Schreiber Hausgeistlicher im Waisenhaus „Maria Schutz“ in Wilmersdorf, bei den Grauen Schwestern im St. Elisabeth-Stift in Moabit und 1909–1913 im St. Josephs-Krankenhaus der Trierer Borromäerinnen in Potsdam. 1909 wurde er mit der Dissertation „Kurie und Kloster im 12. Jahrhundert. Studien zur Privilegierung, Verfassung und besonders zum Eigenkirchenwesen der vorfranziskanischen Orden, vornehmlich auf Grund der Papsturkunden von Paschalis II. bis auf Lucius III. (1099–1181)“ magna cum laude zum Dr. phil. promoviert. Das Werk erschien 1912 in zwei Bänden in Ulrich Stutz’ Reihe „Kirchenrechtliche Abhandlungen“ und begründete den wissenschaftlichen Ruf seines Verfassers. Bereits darin erfolgte jene Verknüpfung historischer, theologie- und rechtsgeschichtlicher, volkskundlicher und liturgiewissenschaftlicher Disziplinen, die für Schreiber kennzeichnend wurde. Seine assoziative Sicht der Geschichte, die Länder- und Kulturgrenzen ebenso übersprang wie sie vermeintlich vergleichbare Entwicklungen über Jahrhunderte hin zu- und ineinander fügte, erschwerte allerdings die Rezeption seiner Forschungsergebnisse. Nach seiner Promotion ergänzte Schreiber seine Studien in der Juristischen Fakultät der Berliner Universität, vor allem zur Rechtsgeschichte. Da für einen katholischen Geistlichen eine wissenschaftliche Laufbahn in Berlin nicht möglich und zunächst angestrebte Professuren des Kirchenrechts in Prag und Bamberg nicht erreichbar waren, erwarb er, als Voraussetzung für eine inzwischen geplante Habilitation für Kirchengeschichte, im Juli 1913 in Freiburg i.Br., ohne dort studiert zu haben, den theologischen Doktorgrad. Seine Dissertation „Untersuchungen zum Sprachgebrauch des mittelalterlichen Oblationswesens. Ein Beitrag zur Geschichte des kirchlichen Abgabewesens und des Eigenkirchenrechts“ wurde mit dem höchsten Prädikat ausgezeichnet, aber nur zu einem kleinen Teil
Georg Schreiber
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publiziert. Ende 1913 habilitierte sich Schreiber in der Katholisch-Theologischen Fakultät in Münster für Mittlere und Neuere Kirchengeschichte. In seinen Berliner Studienjahren hatte er namhafte Zentrumsabgeordnete des Reichstags und des Preußischen Abgeordnetenhauses kennengelernt, vor allem solche, die während ihrer Aufenthalte in der Hauptstadt in den von Schreiber betreuten Schwesternhäusern wohnten. Dazu zählte auch Matthias Erzberger. Mit seinem Fleiß und Organisationstalent beeindruckte er den jüngeren Theologen, der von dem prominenten, aber auch umstrittenen Zentrumspolitiker häufig zu Spazier- und Diskutiergängen eingeladen wurde. Dass Schreiber später so rasch in die Parlamentsarbeit hineinwuchs, verdankte er auch entsprechenden Erfahrungen und Kontakten aus der Berliner Studienzeit. 1915 folgte der in Münster lehrende Privatdozent einem Ruf als a.o. Professor für Kirchenrecht sowie bayerisches Staats- und Verwaltungsrecht an das Königliche Lyceum in Regensburg, die spätere Philosophisch-Theologische Hochschule. Dort weckten süddeutsches Volks- und Brauchtum sein Interesse für die Religiöse Volkskunde, die Schreiber später systematisch erforschte. 1918 erschien als erstes Ergebnis der Beschäftigung mit diesem Thema das Buch „Mutter und Kind in der Kultur der Kirche“.2 Inzwischen war sein Verfasser bereits seit dem 27. Juli 1917 Ordinarius für Mittlere und Neuere Kirchengeschichte und historische Caritaswissenschaft in der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster. Von nun an verknüpften sich sein wissenschaftliches Werk wie seine politische Wirksamkeit mit seiner Wahlheimat. Bis zum Zusammenbruch des Kaiserreichs ist von Schreiber keine Stellungnahme zur Tagespolitik bekannt. Das änderte sich bereits wenige Tage später. Am 19. November 1918 befürwortete der Zentrumsanhänger in der „Kölnischen Volkszeitung“ einen „festeren Zusammenschluss der preußischen Provinzen Westfalen und Rheinland in einem neuen deutschen Bundesstaat“. In Versammlungen der Westfälischen Zentrumspartei und in Presseartikeln attackierte er die von der preußischen Revolutionsregierung angekündigte Trennung von Staat und Kirche als neuen Kulturkampf. Dieser verband sich mit dem Namen des Kultusministers Adolph Hoffmann (USPD), der unter dem Druck einer breiten Protestwelle bereits Ende 1918 sein Amt verlassen musste. Die Beratungen der Nationalversammlung zur Schaffung einer neuen Reichsverfassung hat Schreiber öffentlich nicht kommentiert. Im August 1919 gehörte er zu den Gründern der „Westfälischen Gesellschaft für Volksbildung und Volkshochschulwesen“ in Münster, deren Vorsitz er übernahm. Auf dem Ersten Reichsparteitag des Zentrums, im Januar 1920 in Berlin, verurteilte er den zunehmenden Antisemitismus und forderte verstärkte politische Bildungsarbeit für Studenten wie für ältere Akademiker. In diesem Jahr lehnte er ihm durch Hitze und Mausbach vermittelte Angebote des Auswärtigen Amtes ab, in den diplomatischen Dienst einzutreten. Schreiber, der zum republikanischen Flügel des Zentrums zählte, sah in der Weimarer Republik keine „Staatsform auf Kündigung“, sondern eine, die mit „tiefem sittlichen Gehalt, mit seelischem Inhalt 2
Studien zur Quellenkunde und Geschichte der Karitas, Sozialhygiene und Bevölkerungspolitik, Freiburg i.Br. 1918.
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Rudolf Morsey
und kulturellem Wirken“ angefüllt werden müsse, wie er am 17. März 1927 im Reichstag formulierte.
Zentrumsabgeordneter, Kulturpolitiker und Wissenschaftsorganisator 1920–1933 Sein politischer Einsatz im Winter 1918/19 verhalf Schreiber zum Einzug in den Reichstag der Weimarer Republik. Sein älterer Fakultätskollege Mausbach war nicht bereit, nach Abschluss der Verfassungsarbeiten der Nationalversammlung, an denen er aktiv mitgewirkt hatte, ein neues Mandat zu übernehmen. Daraufhin kandidierte Schreiber im Wahlkreis Westfalen-Nord und gelangte im Juni 1920 für die Deutsche Zentrumspartei in den Reichstag. Ihm gehörte er, siebenmal wiedergewählt, bis zum Herbst 1933 an, in den Jahren „zwischen Demokratie und Diktatur“, wie Schreiber später seine Memoiren3 überschrieb. Rasch gewann der Wissenschaftler Einfluss im Parlament und bald auch als Vorstandsmitglied zentraler Wissenschaftsorganisationen. Seine erste Rede im Reichstag im November 1920 über Probleme der besetzten westdeutschen Gebiete galt dem durch Annexionen gefährdeten rheinisch-westfälischen Grenzland – ein Thema, das der Abgeordnete in der Folge wiederholt aufgriff und das nach 1945 neue Aktualität gewann. Die Grundlage für Schreibers rasch erreichte parlamentarische Schlüsselstellung bildete seine Mitgliedschaft im Haushaltsausschuss, und zwar als Berichterstatter für den weit aufgefächerten Etat des Reichsministeriums des Innern. Diesem Ressort waren durch die neue Reichsverfassung zusätzliche Kompetenzen übertragen worden bzw. als Folge des verlorenen Krieges und/oder des Friedensvertrags zugefallen. Schreiber erkannte früh die sich daraus bietenden Einflussmöglichkeiten und baute sie, über den Haushaltsausschuss, im Reichstag weiter aus – dank Überzeugungskraft und Durchsetzungsfähigkeit, aber auch durch gute Kontakte zu anderen Fraktionen. Sein Ziel war es, angesichts der geschwächten politischen Stellung des Reiches, dessen wirtschaftlicher Notlage sowie der inneren Zerklüftung des Volkes das „Deutschland der Zukunft als Großmacht des Geistes und des Wissens“ (1921) zu erhalten. Er suchte wissenschaftliche und kulturelle Wege und Möglichkeiten zur Überwindung der Isolierung des Reiches zu nutzen und damit zur inneren Befriedung wie zur Völkerverständigung beizutragen, die „Not der deutschen Wissenschaft und der geistigen Arbeiter“ (so ein Buchtitel 1923) zu mindern sowie Geist und Republik miteinander zu versöhnen. Schließlich lag dem Abgeordneten daran, die seelischen Kräfte des Volkes und die religiösen Wurzeln des Volkstums, auch mit Hilfe der beiden Kirchen, zu aktivieren und die durch den Friedensvertrag entstandenen oder erheblich vergrößerten deutschen Minderheiten im europäischen Ausland in der Erfüllung ihrer auch als Kulturaufgabe verstandenen Rolle zu stärken. Dabei trug die Pflege des Auslandsdeutschtums, im Zeichen des Minderheitenschutzes, bei Schreiber keinen nationalistischen Akzent, 3
Untertitel: Erinnerungen an die Politik und Kultur des Reiches (1919–1944), Münster 1949.
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sondern war Teil der Kulturarbeit („Das Auslandsdeutschtum als Kulturfrage“, 1929) und sittliche Verpflichtung in europäischem Rahmen. Da die Mittel für die von Schreiber betreuten Aufgaben und Institutionen überwiegend aus dem Reichsministerium des Innern und dem Auswärtigen Amt kamen, gelang es ihm, in deren Etats entsprechende Titel einzusetzen, auszuweiten und zu kontrollieren. Der körperlich eher kleine und untersetzte Universitätsprofessor, der 1922 die erste Wissenschaftsdebatte im Reichstag bestritt, entwickelte sich zu einem je nachdem beneideten oder gefürchteten Politiker. In seiner Publizistik wie in seinen Wahlreden blieb Schreiber darauf bedacht, Vertreter anderer Richtungen nicht zu verletzen. Er profitierte, neben einem sicheren Wahlkreismandat, von dem Sozialprestige seines Professorentitels und, seit 1924, auch von dem des Päpstlichen Hausprälaten. Seinem doppelten Doktorgrad konnte er bereits ab Mitte der zwanziger Jahre Ehrendoktorate von vier Universitäten hinzufügen, für deren Auf- oder Ausbau er sich eingesetzt hatte. An der Reichshaushaltsordnung von 1922 war Schreiber als „Arbeitsbiene des Reichstags“ so wesentlich beteiligt, dass er als deren „Vater“ galt.4 Als Folge seines Einflusses, ja seiner Macht, aber auch wegen seiner Hilfsbereitschaft waren sein Rat gefragt und seine Gunst gesucht. Infolgedessen wurde dieser „Nothelfer der deutschen Wissenschaft“ ständig mit neuen Aufgaben und Ämtern bedacht, zudem in die Vorstände, Kuratorien oder Beiräte zahlreicher Institutionen berufen. Es waren schließlich an die fünfzig, darunter in Berlin die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, die Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft / Deutsche Forschungsgemeinschaft, die Hochschule für Politik, die Historische Reichskommission und die Deutsche Caritas für Akademiker, in Bonn die GörresGesellschaft zur Pflege der Wissenschaft, in München das Deutsche Museum, in Nürnberg das Germanische Museum, in Mainz das Römisch-Germanische Museum, in Stuttgart das Deutsche Auslands-Institut, in Leipzig die Deutsche Bücherei, in Dresden das Deutsche Hygiene-Museum und das Deutsche Studentenwerk. Die Verpflichtungen, die ihm aus diesen Funktionen zuwuchsen, nahm Schreiber gewissenhaft wahr und nutzte auch die ihm dadurch zufallenden Informationen und Personenkenntnisse. Dabei halfen ihm sein vorzügliches Gedächtnis und die Fähigkeit, delegieren zu können. Obwohl er immer neue Ziele aufgriff, schloss er einmal begonnene Aktivitäten auch ab. Er legte Wert darauf, mit Koryphäen der Wissenschaft, Wirtschaft und Kirche in Kontakt zu bleiben. Das galt für Adolf von Harnack, Max Planck, Oskar von Miller, Ferdinand Sauerbruch, Carl Duisberg, Paul Reusch und Adolf Kardinal Bertram. Bei seiner Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses in den verschiedensten Disziplinen blieb Schreiber darauf bedacht, die Zahl katholischer Kandidaten, die im Kaiserreich systematisch zurückgesetzt worden waren, in den Ministerien wie in der Wissenschaft und ihren Spitzenorganisationen zu vermehren. Das weit gespannte öffentliche Wirken Schreibers ist in den Memoiren zahlreicher Zeitgenossen aus Politik und Wissenschaft festgehalten, ganz überwiegend 4
Zitiert in: 250 Jahre Rechnungsprüfung, hg. vom Bundesrechnungshof, Frankfurt a.M. 1964, S. 72.
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mit positiver Akzentuierung. Bisweilen ist der Abgeordnete aber auch, wegen seiner Geschäftigkeit, kritisiert und deswegen mit Erzberger verglichen worden. Nach dem späteren Urteil Heinrich Brünings hat sich der Vorstand des Zentrums bemüht, Schreiber im Reichstag nicht zu außenpolitischen Themen sprechen zu lassen, „weil alle Parteien ihn einfach nicht ertragen konnten“. In den Memoiren des badischen Reichsfinanzministers 1927/28, Heinrich Köhler, heißt es nach anerkennenden Bemerkungen über den beispielhaften Fleiß und die Vitalität Schreibers: „Der Weg zu den Reichsfonds führt über Prälat Schreiber, hieß es im Reichstag. Rücksichtslos in der Ausübung seiner Macht, Gnaden nach Gunst und Rügen nach Launen austeilend, wurde der ,Dominus‘, wie Dr. Schreiber in der Fraktion hieß, in der Zeit der Weimarer Republik zu einem ebenso mächtigen wie gefürchteten Mann.“5 Politische Gegner und Neider fanden Angriffspunkte an seiner Empfänglichkeit für äußere Ehrungen. Andere, so „Rechtskatholiken“ in der DNVP wie Vertreter eines integralen Katholizismus, lehnten die politische Tätigkeit von Geistlichen generell ab. Schreiber zählte, wie Ludwig Kaas und andere zu den – auch an der Päpstlichen Kurie durchaus mit Distanz betrachteten – „Zentrumsprälaten“. Dabei waren sie gefragte Redner auf kirchlichen Großkundgebungen – so sprach Schreiber zwischen 1921 und 1932 auf fast allen Katholikentagen –, und trugen ihrerseits dazu bei, durch die Betonung der konfessionellen Gemeinsamkeit das von wirtschaftlichen und sozialen Spannungen durchzogene Zentrum zusammenzuhalten. Denn diese sozial inhomogene Konfessionspartei war strukturell geschwächt, nachdem frühere Forderungen (Grundrechte, Anerkennung und Unabhängigkeit der Religionsgemeinschaften) in der Reichsverfassung von 1919 erfüllt waren. Verbliebene Monita aus den Bereichen der Schul- und Kirchenpolitik (Sicherung der Bekenntnisschule, Abschluss von Konkordaten, Schutz katholischer Minderheiten im Ausland) vermochten keine ausreichende politische Bindekraft zu entwickeln. So suchte Schreiber die in der Republik über die Deutsche Zentrumspartei (und in Bayern über die Bayerische Volkspartei) mitregierenden Katholiken, nicht zuletzt durch kulturpolitische Zielsetzungen und Erfolge, mit der Nation zu versöhnen, im Sinne einer „Wiederbegegnung von Kirche und Kultur in Deutschland“, wie der Titel einer „Gabe für Karl Muth“ lautete.6 Bei der Lösung der selbst gestellten Aufgaben kam dem Abgeordneten zugute, dass die von ihm geförderte (und so benannte) „Auslandskulturpolitik“ – die er seit 1925 auch in wissenschaftlichen Beiträgen vertrat – in der Linie der Außenpolitik des Reiches (Revision des Friedensvertrags und Schutz deutscher Minderheiten im Ausland) lag und der Brückenschlag von Kirche und Volkstum dabei hilfreich war. So erhielt Schreiber z.B. vom Auswärtigen Amt Mittel für die von ihm zwischen 1923 und 1927 geleiteten Auslandshochschulwochen in Innsbruck und Graz, Riga und Helsinki, Reval, Dorpat und Temesvar, für die 1927 erfolgte Errichtung einer von ihm geleiteten Forschungsstelle für Auslandsdeutschtum (seit 1930: Deutsches Institut für Auslandkunde e.V.) in Münster und für den 5 6
Becker, Josef (Hg.): Heinrich Köhler. Lebenserinnerungen des Politikers und Staatsmannes 1878–1949, Stuttgart 1964, S. 220. Ettlinger, Max u.a (Hg.), München 1927.
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Druck thematisch einschlägiger Publikationen und Reihen. Schreiber konnte ferner mit Reichsmitteln den Bau eines Studentenheims und einer Burse in Münster (1927) fördern und darin eine Beratungsstelle für Auswanderer einrichten. Mit Reichsmitteln gelangen ihm auch die Errichtung eines Forschungsinstituts der Görres-Gesellschaft in Madrid (1927) und der Ausbau ihrer Forschungsstellen in Rom und Jerusalem. Das gleiche galt für die 1928 institutionalisierte Österreichisch-deutsche Wissenschaftshilfe. Der Zentrumspolitiker zählte zu den Verfechtern eines friedlichen Anschlusses Österreichs. Dem Einfluss des „Reichsprälaten“ war es mit zu verdanken, wenn die deutsche Wissenschaft nach und nach ihre Isolierung durchbrechen und an frühere Auslandsbeziehungen wieder anknüpfen konnte. Zu seinem 50. Geburtstag 1932 erschien eine von dem Bonner Physiker Heinrich Konen und dem Religionswissenschaftler Johann Peter Steffes in Münster herausgegebene Festschrift. Sie enthielt unter dem für den Jubilar charakteristischen Titel „Volkstum und Kulturpolitik“ 40 Beiträge von bekannten Vertretern unterschiedlicher Disziplinen. Das Geleitwort stammte von Friedrich Schmidt-Ott, dem Präsidenten der Deutschen Forschungsgemeinschaft, der 1917 als preußischer Kultusminister an Schreibers Ernennung zum Ordinarius beteiligt gewesen war. Von Anfang an begleitete der Gelehrte seine Parlamentsarbeit durch (partei-) politische Artikel und (Wahl-)Handbücher sowie die Herausgabe mehrerer wissenschaftlicher Reihen. Die „Schriften zur deutschen Politik“ (1922–1932) leitete er mit einem Beitrag „Deutsche Kulturpolitik und der Katholizismus“ ein. Deren 32. und letztes Heft, wiederum von Schreiber verfasst, galt einem Thema, das inzwischen bei ihm, auch in Verbindung mit literarischer Würdigung des Völkerbunds, in den Vordergrund gerückt war: „Christentum und Abrüstung“. In dem von Schreiber herausgegebenen „Politischen Jahrbuch“ (3 Bände, 1925, 1926, 1927/28) waren alle prominenten Zentrumspolitiker vertreten, während die von ihm herausgegebenen 65 Hefte der Reihe „Deutschtum und Ausland“ (1926–1938) seine Auslandskulturpolitik stützten. Schließlich zeichnete der Wissenschaftler auch noch als Herausgeber der 1930 begonnenen „Forschungen zur Volkskunde“, von denen bis zum Verbot 1938 32 Bände erschienen.
Leben und Überleben im Dritten Reich Mit dem 30. Januar 1933 begann für den 51jährigen Gelehrten eine Leidenszeit. Auch er wurde von der Geschwindigkeit und Brutalität überrascht, mit der es den NS-Machthabern gelang, eine Diktatur zu errichteten und zu einem totalitären Regime auszubauen. Mitte März konnte Schreiber noch seinem Institut für Auslandkunde e.V. in Münster ein kleines Institut für Volkskunde e.V. angliedern. Am 23. März 1933 gehörte er zu den 72 Mitgliedern seiner Fraktion, die geschlossen dem „Ermächtigungsgesetz“ zustimmten. Dabei spielten Zusicherungen Hitlers eine Rolle – die alle nicht eingehalten wurden –, sowie das Bestreben, den Katholizismus nicht aus der vermeintlichen „Volksgemeinschaft“ auszugliedern, sondern als „national zuverlässig“ zu erweisen. Ende März entzog sich Schreiber einer befürchteten Verhaftung durch einen mehrwöchigen Aufenthalt
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in Holland, der Schweiz und Österreich. An der letzten Sitzung des Reichstags der 8. Wahlperiode, am 17. Mai 1933, nahm er nicht teil. Inzwischen betrieb an der Universität Münster bereits eine aus NSDAPAktivisten bestehende „Gleichschaltungskommission“ die Entlassung auch des Kirchenhistorikers. Sie wurde geleitet von dem Orientalisten Anton Baumstark, dessen Berufung 1930 Schreiber mit erreicht hatte. Noch aber konnte er seine Ausschaltung, auch mit Hilfe ihm bekannter Beamter im Berliner Kultusministerium, verhindern.7 Mit der am 5. Juli 1933 erfolgten Auflösung der Zentrumspartei endete auch Schreibers (kultur-)politische Tätigkeit. Sein bisheriger Lehrstuhlvertreter, Ludwig Mohler, trat 1933 in die NSDAP ein und wechselte 1935 nach Würzburg. Schreibers Absicht, sich auf wissenschaftliche Arbeit zurückzuziehen, misslang, da auch der örtliche NS-Gauleiter, Alfred Meyer, auf seine Entfernung aus Münster drängte. Zum 1. April 1935 versetzte der Reichs- und preußische Minister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, Bernhard Rust, Schreiber – auf der Grundlage eines neuen Reichsgesetzes – an die Theologische Fakultät der Staatlichen Akademie in Braunsberg (Ostpreußen). Dort erhielt er den Lehrstuhl des Kirchenhistorikers Joseph Lortz zugewiesen, der, als NSDAP-Mitglied und „Brückenbauer“ zwischen Kirche und Nationalsozialismus, soeben nach Münster berufen worden war. Schreiber gelang es mit großer Mühe und mit Hilfe ärztlicher Atteste, in denen ihm erhebliche gesundheitliche Beeinträchtigungen bescheinigt wurden, sich zunächst zwei Semester lang beurlauben zu lassen. Im März 1936 erreichte er dann, unterstützt vom Münchner Geopolitiker Karl Haushofer – der Rudolf Heß einschaltete – und dem Berliner Chirurgen Ferdinand Sauerbruch, wegen „Dienstunfähigkeit“ seine Emeritierung in Braunsberg. Vermutlich half auch Schreibers Bekanntschaft mit Rust, seinem eichsfeldischen Landsmann und früheren (seit 1930) Kollegen im Reichstag. Er konnte mit seinen beiden Instituten in Münster vorerst weiterarbeiten, auch reisen und publizieren. Das tat er vor allem in der zielbewusst ausgeweiteten Religiösen Volkskunde, für die er noch im Herbst 1934 in der Görres-Gesellschaft eine eigene Sektion hatte errichten können, die er leitete. Nicht zuletzt durch deren Veranstaltungen, auf den Jahresversammlungen der Gesellschaft bis 1937, und Publikationen – vor allem das von Schreiber im Auftrag der Gesellschaft herausgegebene „Jahrbuch für Volkskunde“ (3 Bände, 1936–1938) – zog er sich die Gegnerschaft der germanisch-völkischen Ideologen um Alfred Rosenberg zu. Er verkörperte für die braunen Machthaber die ihnen verpönte „Systemzeit“. Seit 1936 wurde Schreiber vom Sicherheitsdienst des Reichsführers SS wegen „staatsfeindlicher Umtriebe“ überwacht. Informationen über regimekritische Äußerungen lieferte sein Assistent am Institut für Auslandkunde, Ludwig Förg, der Gestapo. Sie hätten bereits 1938, wie es wenig später hieß, ausgereicht, den Prälaten in ein Konzentrationslager einzuweisen. Mitte Januar 1939 wurden seine 7
Dazu vgl. Morsey, Rudolf: Die Görres-Gesellschaft zur Pflege der Wissenschaft. Streiflichter ihrer Geschichte, Paderborn 2007, S. 97–119: Anton Baumstark und Georg Schreiber 1933–1948. Zwei gegensätzliche politische Positionen innerhalb der GörresGesellschaft.
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beiden Institute auf Weisung Reinhard Heydrichs von der Gestapo geschlossen, ihre Trägervereine aufgelöst und deren Vermögen eingezogen. Schreiber erhielt, nach einer Hausdurchsuchung, acht Tage Hausarrest. Für die umfangreichen Bibliotheks- und Archivbestände der beiden Institute interessierten sich schon längst Himmler für sein „Ahnenerbe“ und Rosenberg für seine „Hohe Schule“. Ihr Machtkampf um die Aufteilung ihrer Beute – deren größten Teil das Reichssicherheitshauptamt 1941 nach Berlin verschleppen ließ – endete zu Gunsten der SS. Der über den „Diebstahl“ empörte NS-Gauleiter Meyer erreichte nur noch eine nachträgliche Aufteilung der Bestände zwischen der Universität in Münster und dem Deutschen Auslandswissenschaftlichen Institut in Berlin. Sie fielen jedoch an beiden Stellen wenig später dem Bombenkrieg zum Opfer.8 Schreiber verbrachte ab 1938 im Sommer jeweils einige Wochen in Tirol und hielt sich zwischen 1940 und 1943 mehrfach einige Zeit in der Berliner Charité bei Sauerbruch auf – weniger aus gesundheitlichen Gründen als zur eigenen Sicherheit. Bei Sauerbruch traf er Ende November 1941 einen Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes, Fritz Kolbe, der mit einer Sekretärin des Chirurgen liiert war. Kolbe erklärte, dass er ein Gegner des Nationalsozialismus sei und daran denke, in die Schweiz zu emigrieren. Stattdessen riet ihm Schreiber, in seiner jetzigen Stellung gegen das Hitler-Regime zu arbeiten. Im August 1943 begann Kolbe seine Spionagetätigkeit für den Chef des US-Geheimdienstes (OSS) in Bern, Allen W. Dulles. Er wurde als „George Wood“ für die Amerikaner zu ihrem wichtigsten Informanten.9 Inzwischen forderte die NS-Spitze in Münster, auch wegen angeblicher Veruntreuung von Institutsmitteln, Schreibers Verhaftung. Den Machthabern erschien es jedoch zu riskant, einen Schauprozess gegen den Prälaten zu eröffnen, zumal nach dem Weltecho, das die Predigten des Bischofs Clemens August Graf von Galen 1941 ausgelöst hatten, und der seit 1943 unter dem Bombenkrieg schwer leidenden Bevölkerung in der Stadt. So warnte der Generalstaatsanwalt in Hamm vor einer Verhaftung Schreibers. Seinem Votum schlossen sich schließlich die Parteikanzlei der NSDAP und das Reichsjustizministerium an. Stattdessen ordnete Rust 1944 ein Dienststrafverfahren gegen den Emeritus an, das die örtliche Universitätsleitung jedoch in die Länge zog. Ohnehin war Schreiber nicht mehr „greifbar“; denn nach dem gescheiterten Stauffenberg-Attentat am 20. Juli 1944 hatte er sich, auf Grund einer Warnung, der befürchteten Verhaftung entzogen, die tausende früherer Abgeordneter traf („Aktion Gewitter“). Er hielt sich in „abenteuerlichen Fluchtmonaten und unter vielen Entbehrungen“ in Nieder8
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Dazu vgl. Morsey, Rudolf: Machtkampf um eine Bibliothek in Münster 1939–1943. Himmlers und Rosenbergs Interesse an den beschlagnahmten Instituten von Georg Scheiber, in: Kirchliche Zeitgeschichte 18 (2005), S. 68–120. Jahrzehnte später sind Restbestände dieser Bibliothek in der UB Münster gefunden worden. Vgl. Pophanken, Elke: Verbotene und beschlagnahmte Bücher aus der Zeit von 1933 bis 1945 im Bestand der Universitäts- und Landesbibliothek Münster, in: Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie 44 (2008), S. 143–155, hier S. 149–151. Dazu vgl. Delattre, Lucas: Fritz Kolbe. Der wichtigste Spion des Zweiten Weltkriegs, München und Zürich 2003, S. 85 f., 88.
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bayern versteckt.10 Erst 1991 wurden seine Aufenthaltsorte – Osterhofen und Arbing bei Passau – bekannt, bis heute jedoch nicht seine dortigen Unterkünfte. Im Januar 1945 fand Schreiber Asyl in der Benediktinerabtei Ottobeuren. Dort traf ihn um den 22./23. März Fritz Kolbe, der im Auftrag seines Chefs im Auswärtigen Amt, Botschafter z.B. V. Karl Ritter, dessen Geliebte mit Kind und Frau Margot Sauerbruch im PKW in Süddeutschland in Sicherheit bringen sollte. Bereits im Juni 1945 kam Kolbe – der inzwischen von der Schweiz aus weiter für Dulles arbeitete – wieder nach Bayern, um dort u.a. nach Ritter zu suchen. Er nahm Schreiber in Ottobeuren auf eine vom 2. bis zum 6. Juni dauernde „Bayernreise“ mit, über deren Ablauf bisher keine Informationen vorliegen.11 Kolbe verschaffte dem Prälaten auch die Möglichkeit, Anfang Juli in einem US-Jeep Münster kurz besuchen zu können.
Rückkehr an die Universität, Forscher und Wissenschaftsorganisator 1945–1963 Noch in diesem Monat kehrte der 63jährige Gelehrte in die dortige Trümmerwüste zurück, in der auch sein Wohnhaus zerstört war, und begann mit ungebrochener Schaffenskraft den neuen Lebensabschnitt. Inzwischen hatte ihn ein Notsenat aus acht Professoren, die nicht NSDAP-Mitglieder gewesen waren, zum Rektor der Universität gewählt. Seinen früheren Lehrstuhl erhielt er zurück, der NS-belastete Kirchenhistoriker Joseph Lortz wurde entlassen. Das Rektorat in der nahezu vollständig zerstörten Universität war ein aufreibendes und undankbares Amt. Schreiber bewies beim Wiederaufbau Verhandlungsgeschick und Organisationstalent, Durchsetzungsvermögen und Entscheidungsfähigkeit. Er war unter ungünstigsten äußeren Bedingungen, zumal im Winter 1945/46, zugunsten der Universität unterwegs. Als schwierig erwies es sich, politisch unbelastete Professoren zu gewinnen. Schreiber half nicht nur Universitätskollegen durch „Persilscheine“ bei ihrer Entnazifizierung. Bei seinen strapaziösen Bettelreisen zu Firmen und Fabriken, zu Handwerksbetrieben und bäuerlichen Genossenschaften, zu Klöstern und Bürgermeistern kamen ihm Erfahrungen und Beziehungen aus der früheren Abgeordnetentätigkeit in Westfalen zugute. Der Rektor verhinderte auch eine Verlegung der Hochschule in eine andere, weniger zerstörte Stadt. Er unterstützte die inzwischen in Münster vorbereitete Gründung der CDP/ CDU, die Mitte Oktober 1945 mit ihrer ersten Kundgebung unter ihrem Vorsitzenden Hermann Pünder hervortrat. Schreibers erfolgreicher Einsatz beim Wiederaufbau der Universität führte im Sommer 1946 jedoch nicht zu der erwarteten Wiederwahl als Rektor. Vermutlich weckte diese „Entlastung“ sein Interesse 10
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Schreiber, Georg: Zwischen Demokratie und Diktatur. Erinnerungen an die Politik und Kultur des Reiches (1919–1944), Münster 1949, S. 37; Schreiber, Georg: Westdeutsche Charaktere. Daten und Erinnerungen an die Wissenschaftsgeschichte und Sozialpolitik der letzten Jahrzehnte, in: Westfälische Forschungen 9 (1956), S. 54–82, hier S. 71. Vgl. Delattre, Lucas: Fritz Kolbe. Der wichtigste Spion des Zweiten Weltkriegs, München und Zürich 2003, S. 319.
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an der inzwischen wieder möglichen parlamentarischen Arbeit. Jedenfalls kandidierte er für die CDU bei der ersten Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen am 20. April 1947. Der Professor unterlag jedoch im Wahlkreis Münster-Land dem früheren Zentrumsabgeordneten des Preußischen Landtags, Schulrat Johannes Brockmann, von der neuen Zentrumspartei. Bei diesem Votum spielten offensichtlich Aversionen gegen „Unionsprälaten“ eine Rolle. Von Stund an konzentrierte sich der Professor auf seine Lehr- und Forschungstätigkeit und betätigte sich als altes bzw. neues Vorstandsmitglied in überregionalen wissenschaftlichen Institutionen und Gremien. Das galt für die Max-PlanckGesellschaft – deren Umbenennung aus Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft er bei deren Gründung 1946 in Göttingen vorgeschlagen hatte –, für die Görres-Gesellschaft zur Pflege der Wissenschaft, die nach dem Verbot (1941) 1948 in Köln wiedergegründet wurde, für die Arbeitsgemeinschaft des Landes Nordrhein-Westfalen sowie für die Historische Kommission Westfalens. Als deren Vorsitzender (1946–1962) gelang es ihm allerdings nicht, die Erforschung der Landeszeitgeschichte anzuregen, für die er mit der Veröffentlichung seiner bereits erwähnten Erinnerungen (1949) ein Beispiel gab. Er veröffentlichte weitere Beiträge zur jüngsten Wissenschafts- und Kirchengeschichte Westfalens und Westdeutschlands und 1954 eine Studie „Deutsche Wissenschaftspolitik von Bismarck bis zum Atomwissenschaftler Otto Hahn“. Gegenüber niederländischen Gebietsforderungen warnte er vor einer „blutenden Grenze“. Wie nach 1918 bemühte sich Schreiber darum, die abgerissenen Wissenschaftsbeziehungen zum benachbarten Ausland wieder anzuknüpfen, auch für die Görres-Gesellschaft. Von 1954 an zählte er, wie bereits 1928–1939, erneut zu den Herausgebern ihrer „Spanischen Forschungen“. Nach der 1948 erfolgten Rückerstattung seiner vollständig zerstörten früheren Institute für Auslandkunde und Volkskunde begann Schreiber in seinem inzwischen wiederaufgebauten Wohnhaus mit deren bescheidener Neuerrichtung. Das Kultusministerium in Düsseldorf verweigerte ihm dagegen ein Universitätsinstitut für neueste Kirchengeschichte und Geschichte. Die 1951 erfolgte Emeritierung bedeutete für Schreiber keine Zäsur in seiner Forschungs- und Publikationsaktivität. Nach der Veröffentlichung gesammelter Abhandlungen unter dem Titel „Gemeinschaften des Mittelalters. Recht und Verfassung, Kult und Frömmigkeit“ (1948) und nach der Herausgabe des zweibändigen Sammelwerks „Das Konzil von Trient“ (1951), das er Papst Pius XII. überreichen konnte, konzentrierte sich Schreiber vornehmlich auf die Volkskunde und übernahm in der Görres-Gesellschaft die Leitung der entsprechenden Sektion. Dabei wahrte er weiterhin in Schrift und Rede seine bilderreiche Sprache und seine kühnen Assoziationen, mit denen er raum- und epochenübergreifende Zusammenhänge herstellte. Sie fanden bei zunehmend spezialisierten Wissenschaftsdisziplinen und zumal bei der jüngeren Generation allerdings immer weniger Resonanz. Dabei erhielt der Gelehrte weitere wissenschaftliche, kirchliche und staatliche Auszeichnungen. Er trug schließlich höchste Titel, so den des Apostolischen Protonotars, und Orden: Stern zum Großen Bundesverdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland, Goldenes Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich, Harnack-Medaille der Max-Planck-Gesellschaft, Freiherr-vom-
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Stein-Medaille des Landschaftsverbands von Westfalen. Schreiber, dem vier Festschriften gewidmet waren (1932, 1952, 1962 und 1963), besaß schließlich sieben Ehrendoktorate und war Korrespondierendes Mitglied mehrerer ausländischer Akademien. Während er noch 1962 einschlägige Forschungen in einem Band „Der Bergbau in Geschichte, Ethos und Sakralkultur“ herausbringen konnte, führte er seine persönliche Erinnerungen nur noch mit einem Band zur deutschösterreichischen Wissenschafts- und Kulturpolitik12 weiter. Hingegen erschien sein Alterswerk „Der Wein in Geschichte, Wirtschaft, Liturgie“ erst 1980, zudem unter dem nicht sachgerechten Titel „Deutsche Weingeschichte“ und in einer von seinem Bearbeiter, Nikolaus Grass (Innsbruck), nicht sanktionierten Fassung. Georg Schreiber ist in seinem Haus in Münster nach kurzer Krankheit am 24. Februar 1963 an den Folgen einer Lungenentzündung gestorben und auf dem städtischen Zentralfriedhof begraben. Seine Arbeitsfreude war bis zuletzt ebenso ungebrochen wie seine geistige Beweglichkeit und Gedächtniskraft. Mit vielen Teilen seines wissenschaftlichen Werkes hat sich diese „zentrale Figur der politisch und geistig tragenden Generation zwischen den beiden Weltkriegen“ (Johannes Spörl) als „Brückenbauer und Pionier“ (Wilhelm Spael) sowie als „großer Anreger“ (Eduard Hegel) erwiesen. Mit den von ihm überschauten Disziplinen und der Fülle seines Wissens hat Schreiber allerdings nicht schulbildend gewirkt. Er blieb von der Bedeutung der schöpferischen Wissenschaftspersönlichkeit und des für sie unerlässlichen Freiraums für den Fortgang wissenschaftlichen Erkennens überzeugt, wollte Leistung und Verantwortung nicht durch Strukturen und Gremien verwischen lassen. Für ihn galt die Priorität des Geistigen auch in der Massengesellschaft. Seine Devise blieb: „Man muss immer vorwärts sehen.“ Er hat trotz mancher Rückschläge – er sprach von „Karfreitagen im Leben eines einzelnen wie der Völker“ – zu seinem Teil an der Gestaltung einer friedlichen Zukunft seines Vaterlandes mitgewirkt.
Weiterführende Literatur Schriftenverzeichnis Georg Schreiber, zusammengestellt von Morsey, Rudolf, 2., ergänzte Ausgabe, hg. vom Deutschen Institut für Auslandkunde, Münster 1958 (als Ms. gedruckt). Morsey, Rudolf: Georg Schreiber, der Wissenschaftler, Kulturpolitiker und Wissenschaftsorganisator, in: Westfälische Zeitschrift 131/132 (1981/1982), S. 121–159. Morsey, Rudolf: Machtkampf um eine Bibliothek in Münster 1939–1943. Himmlers und Rosenbergs Interesse an den beschlagnahmten Instituten von Georg Scheiber, in: Kirchliche Zeitgeschichte 18 (2005), S. 68–120. Morsey, Rudolf: Georg Schreiber, in: Hohmann, Friedrich Gerhard (Hg.): Westfälische Lebensbilder, Bd. 18, Münster 2009, S. 110–125 (mit Ergänzungen des Schriftenverzeichnisses von 1958).
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Deutschland und Österreich. Deutsche Begegnungen mit Österreichs Wissenschaft und Kultur. Erinnerungen aus den letzten Jahrzehnten, Köln und Opladen 1956.
Georg Schreiber
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Hinweise zu den Quellen Ein Restnachlass Georg Schreibers in Privathand ist noch nicht zugänglich. Unterlagen über seine wissenschaftliche und (kultur-)politische Tätigkeit befinden sich im Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abt. Düsseldorf und Münster, im Universitätsarchiv Münster, im Bundesarchiv, Abt. Berlin, im Politischen Archiv des Auswärtigen Amts in Berlin, im Preußischen Geheimen Staatsarchiv in Berlin, im Archiv der Max-Planck-Gesellschaft in Berlin sowie im Historischen Archiv des Erzbistums Köln (Depositum Görres-Gesellschaft). Schreibers Reden und Anträge im Reichstag 1920–1933 sind gedruckt in den Verhandlungen des Reichstags (I.–VIII. Wahlperiode) und des Haushaltsausschusses, Stellungnahmen in seiner Fraktion in: Morsey, Rudolf (Bearb.): Die Protokolle der Reichstagsfraktion und des Fraktionsvorstands der Deutschen Zentrumspartei 1926–1933, Mainz 1969, und in: Morsey, Rudolf / Ruppert, Karsten (Bearb.): Die Protokolle der Reichstagsfraktion der Deutschen Zentrumspartei 1920–1925, Mainz 1981.
Andreas Wirsching
Demokratie als „Lebensform“ – Theodor Heuss (1884–1963) Theodor Heuss gehört zu den bedeutendsten „Gesichtern“ der deutschen Demokratie im 20. Jahrhundert. Wie eine Achse zieht sich seine Biographie durch die gescheiterte Geschichte des ersten deutschen Nationalstaats hindurch. Dabei war er zunächst nur in recht begrenztem Umfang in der Lage, gestalterisch tätig zu sein, und während der NS-Zeit befand er sich in einer politisch wie persönlich zunehmend prekären Situation. Erst am Ende seiner Laufbahn und „bereits im gereiften Mannesalter stehend“, erhielt er „mit der Übernahme des Bundespräsidentenamtes […] die Möglichkeit zu politischer Gestaltung auf höchster Ebene.“1 Ungeachtet solcher wechselnden Konjunkturen seines politischen Lebens verkörperte Heuss in ebenso paradigmatischer wie singulärer Weise den Typus eines Bürgers, der klassische Tugenden und Traditionen des 19. Jahrhunderts in sich vereinigt hatte. Indem er sie zum Maßstab seiner politischen Haltung, aber auch der privaten Lebensführung machte, rettete er diese Ideale durch die Anfechtungen des „Zeitalters der Extreme“ hindurch und machte sie für die bürgerliche Rekonstruktion nach 1945 fruchtbar. Dabei lebte Heuss seine Bürgerlichkeit stets expressiv; ohne Unterbrechung teilte er sich anderen mit: als Journalist und Schriftsteller ebenso wie als Redner und Briefeschreiber. Sein gewaltiges gedrucktes Œuvre, die Erschließung seines umfangreichen Nachlasses und die in den letzten Jahren begonnene Auswahledition seines Briefwechsels machen ihn zu einem der bestdokumentierten Politiker des 20. Jahrhunderts.2 Dass eine umfassende Biographie nach wie vor aussteht,3 mag an deren potentiellem Umfang liegen. Aber als historischer Gegenstand ist Heuss auch schwie1 2
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Wengst, Udo: Rezension von Theodor Heuss, Stuttgarter Ausgabe. Briefe, Bd. 4, in: Historische Zeitschrift 288 (2009), S. 839. In der „Stuttgarter Ausgabe“ sind bislang erschienen: Theodor Heuss. Aufbruch im Kaiserreich. Briefe 1892–1917, hg. und bearb. von Frieder Günther, München 2009; Theodor Heuss. Bürger der Weimarer Republik. Briefe 1918–1933, hg. von Michael Dorrmann, München 2008; Theodor Heuss. In der Defensive. Briefe 1933–1945, hg. von Elke Seefried, München 2009; Theodor Heuss. Erzieher zur Demokratie. Briefe 1945– 1949, hg. und bearb. von Ernst Wolfgang Becker, München 2007; Theodor Heuss. Hochverehrter Herr Bundespräsident! Der Briefwechsel mit der Bevölkerung 1949–1959, hg. und bearb. von Wolfram Werner, Berlin und New York 2010. Vgl. hierzu Wengst, Udo: Rezensionen der ersten Bände der Stuttgarter Ausgabe, in: Historische Zeitschrift 288 (2009), S. 838–840 und in: Historische Zeitschrift 290 (2010), S. 862–865. Wegweisende Skizzen liegen vor von Möller, Horst: Theodor Heuss. Staatsmann und Schriftsteller, Bonn 1990, und Becker, Ernst Wolfgang: Theodor Heuss. Bürger im Zeitalter der Extreme, Stuttgart 2011. Wesentliche Teilaspekte werden u.a. abgehandelt in: Heß, Jürgen C.: Theodor Heuss vor 1933. Ein Beitrag zur Geschichte des demokratischen Denkens in Deutschland, Stuttgart 1973; Baumgärtner, Ulrich: Reden nach Hitler. Theodor Heuss – Die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, Stuttgart u. München 2001; Langewiesche, Dieter: Liberalismus und Demokratie im Staatsdenken von Theodor Heuss, Stuttgart 2005; Weippert, Matthias: „Verantwortung für das Allgemeine“? Bundespräsident Heuss und die FDP 1949–1956, in: Jahrbuch zur Liberalismus-
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rig, ja sperrig und entzieht sich jeder einfachen Deutung. Völlig in die Irre ginge man etwa, wenn man ihn auf seine fraglos bedeutendste Rolle, nämlich die als erster Bundespräsident, festlegen wollte. Die Vereinnahmung von „Papa Heuss“ als Ikone der Bundesrepublik ist zwar verführerisch, da Heuss diese Rolle durchaus zu spielen verstand. Zusammen mit Konrad Adenauer geriet er zweifellos zum personellen Glücksfall für die zweite deutsche Demokratie. Aber jede Festlegung hierauf übersähe, wie tief und letztlich entscheidend Heuss’ politische Prinzipien im 19. Jahrhundert wurzelten. Im Folgenden soll daher gefragt werden, welche dieser Grundsätze es Heuss erlaubten, seine Rolle als Bürger zweier deutscher Demokratien so nachhaltig zu spielen. Dabei geht es nur in zweiter Linie um die bekannten politisch-weltanschaulichen Inhalte etwa des Heuss’schen Demokratie-, Staats- und Verfassungsverständnisses. Im Mittelpunkt stehen vielmehr die handlungsorientierten Charakterzüge, die es Heuss erlaubten, sich im Wandel der Zeit und unter ganz unterschiedlichen Bedingungen „auf den Boden der Tatsachen“ zu stellen und Demokratie durch sein praktisches Handeln mit Leben zu füllen. Mit Ausnahme der erzwungenen politischen Abstinenz während der NS-Zeit – die er zur Abfassung wissenschaftlicher Studien und vor allem seiner großen Naumann-Biographie nutzte – bestand nämlich Heuss’ gesamtes Berufsleben in der Ausübung demokratischer Praxis. Damit kam er jener Vorstellung recht nahe, die sich schon in Alexis de Tocquevilles Blick auf die frühe amerikanische Republik formte, und die sich, im Anschluss an John Dewey, in dem Schlagwort von der Demokratie als „Lebensform“ ausdrücken lässt. Mehr als eine Regierungsform, beruht die Demokratie demzufolge auf einem dauerhaften, kommunikativ-kooperativen Prozess und sozio-kulturellen Werten, die neben konkret verfestigten politischen Weltanschauungen die gemeinsamen Interessen der Bürger vermitteln.4 Nach 1945 war es in erster Linie die „Generation Heuss“, die über eine solche langjährige Praxis der Demokratie verfügte; und damit wird auch ein Element der Erklärung geliefert, warum es überwiegend älteren, im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts geborenen Politikern vorbehalten blieb, in den Westzonen, sodann in der frühen Bundesrepublik die zweite deutsche Demokratie aufzubauen.
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Forschung 21 (2009), S. 165–197; Hertfelder, Thomas: Friedrich Naumann, Theodor Heuss und der Gründungskonsens der Bundesrepublik, in: Jahrbuch zur LiberalismusForschung 23 (2011), S. 113–145. Hinzuzuziehen sind ferner die gehaltvollen Einleitungen der jeweiligen Herausgeber in den Bänden der Stuttgarter Ausgabe (wie Anm. 2). Größere Heuss-Biographien sind angekündigt von Peter Merseburger und Joachim Radkau. Vgl. Hook, Sidney: Democracy as a Way of Life, in: Andrews, John N. and Marsden, Carl A. (Hg.): Tomorrow in the Making, New York 1939, S. 31–46, hier S. 42: “Democracy is more than a pattern of institutional behavior. It is an affirmation of certain attitudes and values which are more important than any particular set of institutions, for they must serve as the sensitive directing controls of institutional change”.
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Ein „klassischer“, bürgerlich-republikanischer Wertekompass Eine systematische Abhandlung seiner politischen Auffassungen hat Heuss nicht hinterlassen.5 Allerdings ist schon häufiger bemerkt worden, dass sich Heuss und sein politischer Werdegang nur mit erheblichen Einschränkungen als „liberal“ bezeichnen lassen. Jene Formen des Liberalismus zumindest, die sich durch primär individualistische und ökonomische Zielsetzungen auszeichneten, lehnte Heuss stets ab. Tiefer blickt man daher, wenn man Heuss in eine liberale Tradition einordnet, die entscheidend von klassisch-republikanischen Elementen beeinflusst war.6 Deren Bürgerideal war noch stark aristotelisch geprägt und huldigte einer ganzheitlichen Partizipation. Politische und bürgerliche Gesellschaft, civitas und societas civilis, waren in dieser Vorstellung noch nicht so weit auseinandergetreten, dass eine solche Teilhabe für die Bürger eines Gemeinwesens nicht möglich gewesen sein sollte.7 Nicht der bourgeois, der in erster Linie seinem ökonomischen Privatinteresse folgt, entsprach diesem Ideal, sondern jener Typus des (Staats-)Bürgers, des citoyen, der den besten Teil seines Budgets dem öffentlichen Interesse widmet. „Das Wort ,bourgeois‘“, so empfand Heuss noch 1959, „ist eine böse Erfindung von Karl Marx mit einem verächtlich herabsetzenden Sinn, während das Wort ,Bürger‘ ein sehr anständiger und gehaltvoller Begriff ist, den man sich nur durch das Bourgeois-Gerede von Marx verderben ließ.“8 Zwar differenzierte sich die bürgerliche Erwerbsgesellschaft schon im Verlauf des 19. Jahrhunderts so weit aus, dass sich eine entsprechende Bürgertugend in der Breite nicht mehr entwickeln konnte. Der liberale Bürger konnte bestenfalls nur noch ein „Teilzeitbürger“ sein.9 Das wusste auch Heuss, und im Prinzip stand er mit beiden Beinen in der Realität der entfalteten industriellen Massengesellschaft. Gleichwohl bildete sein ganzes Reden und Handeln einen späten Widerschein jener im Kern doch schon vergangenen klassisch-partizipatorischen Bürgertugend. Dies spiegelte sich auch in seiner bleibenden Skepsis gegenüber wirtschaftlichen Partikularinteressen wider, als deren Gegengewicht er – hierin ganz Schüler Friedrich Naumanns – stets einen kräftigen und handlungsfähigen Staat forderte. Der nationale und zugleich soziale (Macht-)Staat, der in der Lage war, die marktbedingten Klassen zu einem gemeinsamen Ganzen zu integrieren und damit auch jeden überzogenen Individualismus in die Schranken zu 5 6 7
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Am ehesten kann die Schrift von Heuss, Theodor: Staat und Volk. Betrachtungen über Wirtschaft, Politik und Kultur, Berlin 1926 als eine solche Abhandlung gelten. Nolte, Paul: Bürgerideal, Gemeinde und Republik. „Klassischer Republikanismus“ im frühen deutschen Liberalismus, in: Historische Zeitschrift 254 (1992), S. 609–656. Vgl. hierzu die Artikel von Manfred Riedel zu „Gesellschaft, bürgerliche“ und „Bürger“ in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hg. von Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck, Bd. 2, Stuttgart 1975, S. 719–800, hier S. 721 ff. und Bd. 1, Stuttgart 1972, S. 672–725, hier S. 672 ff. Theodor Heuss an Wilfried Kossmann, 8. 7. 1959, in: Theodor Heuss. Hochverehrter Herr Bundespräsident! Der Briefwechsel mit der Bevölkerung 1949–1959, hg. und bearb. von Wolfram Werner, Berlin und New York 2010, Nr. 198 B, S. 509 f. Vgl. Holmes, Stephen: Differenzierung und Arbeitsteilung im Denken des Liberalismus, in: Luhmann, Niklas (Hg.): Soziale Differenzierung. Zur Geschichte einer Idee, Opladen 1985, S. 9–41, hier S. 13.
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weisen, blieb ein zentrales Leitbild in Heuss’ politischem Denken.10 Wo Heuss diese Tradition mit dem „klassischen“ Bürgerideal verknüpfte, begegnet man bei ihm einerseits einem eigentümlichen, fast „altmodischen“ Habitus, der den aufgeklärten Menschen ganzheitlich als zoon politikon in Beschlag nehmen möchte. Zum anderen begründete Heuss diesen Anspruch, und darin liegt seine spezifische Fortschrittlichkeit, demokratisch. Denn den Rahmen, in dem legitimes politisches Engagement für Heuss möglich war, bildete allein die Demokratie. Sie ermöglichte partizipatorisches Handeln und lebte zugleich von der Herrschaftsbeteiligung ihrer „Aktiv-Bürger“.11 Diese dauerhafte, doppelte Festlegung auf ein „klassisches“ partizipatorisches Bürgerideal und auf die Demokratie verlieh Heuss einen sicheren politischen Kompass. Das war auch erforderlich in einer Zeit, die nach 1918 voller totalitärer Versuchungen war. Denn in seiner pervertierten Form ließ sich das klassischrepublikanische Bürgerideal durchaus antiparlamentarisch und damit gegen die angeblich bloß „formale“ Demokratie instrumentalisieren – eine in der Weimarer Republik häufig anzutreffende Argumentation, gegen die sich Heuss mit Vehemenz wendete.12 Umgekehrt drohte ein Demokratiebegriff, der auf das Ideal des aktiven Staatsbürgers verzichtete, in den totalitären Ruf nach einem plebiszitären Führer abzugleiten. Beide Versuchungen waren bekanntlich im bürgerlichen Milieu der Weimarer Republik höchst präsent, und beiden Versuchungen vermochte Heuss im Kern seiner Weltanschauung zu widerstehen. Die Kombination des „klassisch“-republikanischen Anspruchs an den Bürger mit der fortschrittlichen Verpflichtung dieses Anspruchs auf die Demokratie, die er grundsätzlich als parlamentarische Demokratie begriff,13 ermöglichte Heuss eine konsequente
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Vgl. zum Naumannschen Erbe Theiner, Peter: Sozialer Liberalismus und deutsche Weltpolitik. Friedrich Naumann im wilhelminischen Deutschland (1860–1919), BadenBaden 1983 und Hardtwig, Wolfgang: Friedrich Naumann in der deutschen Geschichte, in: Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung 23 (2011), S. 9–28. Heuss, Theodor: Demokratie und Parlamentarismus: ihre Geschichte, ihre Gegner und ihre Zukunft, in: Erkelenz, Anton (Hg.): Zehn Jahre deutsche Republik. Ein Handbuch für republikanische Politik, Berlin 1928, S. 98–117, hier S. 99. „Es gibt kaum eine kräftigere Selbstbezichtigung der Denkfaulheit als jener modische Gebrauch des Schlagworts von der ,formalen‘, der ,westlerischen‘, der ,mechanischen‘ Demokratie.“ Heuss, Theodor: Demokratie und Parlamentarismus: ihre Geschichte, ihre Gegner und ihre Zukunft, in: Erkelenz, Anton (Hg.): Zehn Jahre deutsche Republik. Ein Handbuch für republikanische Politik, Berlin 1928, S. 98–117, hier S. 102 f. Vgl. Heuss, Theodor: Demokratie und Parlamentarismus: ihre Geschichte, ihre Gegner und ihre Zukunft, in: Erkelenz, Anton (Hg.): Zehn Jahre deutsche Republik. Ein Handbuch für republikanische Politik, Berlin 1928, S. 98–117, hier S. 108–112. Demgegenüber kritisierte Heuss schon in der Weimarer Republik die Tendenzen der direkten Demokratie und bezeichnete sich als „grundsätzlicher Gegner des Volksbegehrens in der großräumigen Massendemokratie“, siehe Theodor Heuss an Wilhelm Cohnstaedt, 18. 7. 1929, in: Theodor Heuss. Bürger der Weimarer Republik. Briefe 1918–1933, hg. von Michael Dorrmann, München 2008, Nr. 138, S. 327. Vgl. auch Heuss, Theodor: Staat und Volk. Betrachtungen über Wirtschaft, Politik und Kultur, Berlin 1926, v.a. S. 85–92 und S. 147 ff., sowie Dorrmann, Michael: Einführung, in: Theodor Heuss. Bürger der Weimarer Republik. Briefe 1918–1933, hg. von Michael Dorrmann, München 2008, S. 15–50, hier S. 39.
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politische Haltung. Nur kurzfristig, nämlich in der Krise der Demokratie von 1930 bis 1933 unterlag Heuss in dieser Hinsicht einer ernsthaften Anfechtung. Zugleich implizierte diese Kombination einen demokratischen Erziehungsgedanken, dem Heuss zeitlebens einen beträchtlichen Einsatz widmete. Zwar war er selbst im Kontext der Gründung der Berliner Hochschule für Politik skeptisch, „ob Politik lehr- und lernbar sei“.14 Auch in seinen Schriften blieb er überwiegend dem elitären bildungsbürgerlichen Duktus seiner Zeit verhaftet. So zu schreiben, „daß die Bauernbuben auf dem Mainhardter Wald es verstehen“, war ihm nicht gegeben.15 Und gerade in seiner württembergischen Heimat galt er längst nicht allen als volkstümlich. „Sie sind nach Meinung der Leute“, schrieb ihm ein Vertrauter im Juli 1930, „ein so tüchtiger Politiker und ausgezeichneter Kopf, daß man Sie im Reichstag nicht missen möchte, sind aber nicht der Volksmann, der von allen verstanden sich die Gefolgschaft der Masse sichert.“16 Faktisch aber wich Heuss von dem Ziel, für die Demokratie kommunikativ, sozialpraktisch und erzieherisch zu werben, zu keinem Zeitpunkt ab. Seine eigentliche Stunde schlug in dieser Hinsicht allerdings erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Einen mehrheitsfähigen bürgerlichen Habitus verkörpernd, ausgestattet mit einer in der Praxis bewiesenen demokratischen Glaubwürdigkeit, aber auch mit der bitteren Erfahrung der Diktatur, wurde er den Deutschen nunmehr zum volkstümlichen „Erzieher zur Demokratie“. Treffend diagnostizierte Heuss, was den Deutschen nottat: Der „Unterricht eines demokratischen Lebensstils“, so meinte 14
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Theodor Heuss an Georg Friedrich Knapp, 6./7. 10. 1920, in: Theodor Heuss. Bürger der Weimarer Republik. Briefe 1918–1933, hg. von Michael Dorrmann, München 2008, Nr. 36, S. 145. Theodor Heuss an Friedrich Mück, 21. 12. 1931, in: Theodor Heuss. Bürger der Weimarer Republik. Briefe 1918–1933, hg. von Michael Dorrmann, München 2008, Nr. 193, S. 430. Hier ging es um Heuss’ Analyse des Nationalsozialismus in „Hitlers Weg“, die Anfang 1932 erschien. Heuss meinte vielmehr, er habe das Buch für Studenten geschrieben. Siehe Heuss, Theodor: Hitlers Weg. Eine historisch-politische Studie über den Nationalsozialismus, Stuttgart 1932. Ernst Mayer an Theodor Heuss, 31. 7. 1930, in: Theodor Heuss. Bürger der Weimarer Republik. Briefe 1918–1933, hg. von Michael Dorrmann, München 2008, S. 380, Anm. 3. Der Kuriosität halber sei hier erwähnt, dass Heuss auch noch als Bundespräsident entsprechende „Ermahnungen“ erhielt. So seien, wie eine Briefschreiberin es 1953 formulierte, „die Zeiten, in denen Sie, Herr Bundespräsident, als Professor an einer Universität dozierten – und wahrscheinlich von einer begeisterten Studentenschaft umgeben waren, […] endgültig für Sie vorbei, darüber müssen Sie sich viel bewußter klar werden.“ Zu beachten seien „alle die anderen, die Sie repräsentieren, die unsichtbaren Tatmenschen, die Bauern, die Arbeiter, die Hausfrauen, die Gewerbe- und Geschäftstreibenden, eben alle die wenig Zeit haben und sich immer kurz fassen müssen.“ Hieran schloss die Korrespondentin die Bitte an, Heuss möge künftig alles das, „was irgendwie dozierend klingt“, herausnehmen. „Nehmen Sie also ihren Geist für die Zukunft richtig an die Kandare.“ Heuss antwortete mit der für ihn typischen Mischung aus freundlich-selbstironischer und in der Sache völlig eindeutiger Zurückweisung: „Es war sehr nett, daß Sie sich meiner erzieherisch so entschlossen angenommen haben, aber ich fürchte, bei einem Mann, der im 70. Lebensjahr steht und der nun seine Tradition des Redens und Lehrens für sich entwickelt hat, werden Sie nicht mehr viele Änderungen erreichen.“, siehe Käthe Wohmann an Theodor Heuss, 22.2.1953, sowie das Antwortschreiben von Theodor Heuss, 25.2.1953, in: Theodor Heuss. Hochverehrter Herr Bundespräsident! Der Briefwechsel mit der Bevölkerung 1949–1959, hg. und bearb. von Wolfram Werner, Berlin und New York 2010, Nr. 79 A u. 79 B, S. 247–249.
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er im Oktober 1945, könne nicht einfach aus der Besatzung der Alliierten heraus erfolgen, sondern müsse von den Deutschen selbst, im Sinne der Selbsterziehung und in geistiger Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus erfolgen.17
Eine liberale Randfigur der Weimarer Republik Die politische Pragmatik, die Heuss’ politische Rolle nach 1945 erforderte, hatte er schon nach dem Ersten Weltkrieg unter Beweis gestellt. Typisch für das bürgerlich-liberale Milieu, in dem er sich bewegte, war er keineswegs ein Freund der Revolution von 1918/19. Vielmehr vermutete er in ihr geradezu ein „nationales Unheil“, und auch in der Folgezeit hielt er sich mit grundsätzlicher Kritik an der Monarchie und am Wilhelminismus zurück. Gleichwohl fasste er in der Weimarer Republik politisch und intellektuell sehr schnell Fuß.18 Anfangs bewegte sich Heuss dabei durchaus in vertrauten „vernunftrepublikanischen“ Spuren.19 Neben dem fraglos vitalen persönlichen Ehrgeiz trug hierzu auch der Wunsch bei, das Erbe des früh verstorbenen und von Heuss bewunderten Friedrich Naumann fortzuführen. Es bestand insbesondere in der anhaltenden Hoffnung auf die Versöhnung der sozialen Klassen und Schichten der Industriegesellschaft im Gehäuse eines nationalen Machtstaates, die durch Naumann in gültiger Weise vorgegeben worden war.20 Darüber hinaus aber halfen Heuss vor allem seine eigenen politischen Prinzipien dabei, sich in die neuen Gegebenheiten auch praktisch einzufinden. Insbesondere vertrat er den für den Liberalismus so charakteristischen Entwicklungsgedanken. Wie er für sein persönliches Gemütsleben eine Haltung reklamierte, die „nicht Brüche, sondern nur Entwicklungen kennt“,21 so gestand er auch der Weimarer Republik und ihrer Verfassung einen legitimen Ort in der geschichtlichen Kontinuität zu. Dieses Kontinuitätsdenken erlaubte es ihm bald, sich rückhaltlos und vollen Herzens für die Republik einzusetzen und bei sich bietender Gelegenheit ihre Verwurzelung in der deutschen Geschichte aufzuzeigen. Während bekannte bildungsbürgerliche „Vernunftrepublikaner“ wie Hermann Oncken oder Friedrich Meinecke zur praktischen Politik letztlich ein doch eher 17
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Theodor Heuss, Erziehung zur Demokratie. Rundfunkansprache von Kultminister Theodor Heuss vom 3. Oktober 1945, zit. n. Becker, Ernst Wolfgang: Einführung, in: Theodor Heuss. Erzieher zur Demokratie. Briefe 1945–1949, hg. und bearb. von Ernst Wolfgang Becker, München 2007, S. 15–58, hier S. 17 (Hervorhebung A.W.). Heß, Jürgen C.: Theodor Heuss vor 1933. Ein Beitrag zur Geschichte des demokratischen Denkens in Deutschland, Stuttgart 1973, S. 59 ff. Vgl. hierzu Wirsching, Andreas: „Vernunftrepublikanismus“ in der Weimarer Republik. Neue Analysen und offene Fragen, in: ders. und Eder, Jürgen (Hg.): Vernunftrepublikanismus in der Weimarer Republik. Politik, Literatur, Wissenschaft, Stuttgart 2008, S. 9–26, sowie Hertfelder, Thomas: „Meteor aus einer anderen Welt“. Die Weimarer Republik in der Diskussion des Hilfe-Kreises, in: Wirsching, Andreas und Eder, Jürgen (Hg.): Vernunftrepublikanismus in der Weimarer Republik. Politik, Literatur, Wissenschaft, Stuttgart 2008, S. 29–55. Vgl. die obigen Ausführungen zu Naumann und seiner Wirkung. Theodor Heuss an Elly Knapp, 2. 10. 1906, in: Theodor Heuss. Aufbruch im Kaiserreich. Briefe 1892–1917, hg. und bearb. von Frieder Günther, München 2009, S. 170, Anm. 4.
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distanziertes Verhältnis pflegten,22 verbanden sich bei Heuss das von ihm selbst gelebte Ideal des „Aktiv-Bürgers“ und der damit verbundene Hang zur politischen Praxis mit den Vorzügen des liberalen Entwicklungsgedankens. Beides zusammen ließ ihn zu einem der bestimmtesten bürgerlichen Fürsprecher der Weimarer Republik werden und trieb ihn zu einem Engagement, das gerade in seinem Praxisbezug weit über den bürgerlichen „Vernunftrepublikanismus“ hinausging. So kritisierte er schon nach dem für die DDP verheerenden Ergebnis der Reichstagswahl vom 6. Juni 1920, dass „gerade die Bildungsschicht“ sich am meisten dazu bringen lasse, „dieser Nation die Möglichkeit einer demokratischen Lebensform abzusprechen“.23 Auch für Heuss persönlich bedeutete die Reichstagswahl einen Rückschlag, denn sie machte seine Hoffnungen auf den Erwerb eines Reichstagsmandats vorerst zunichte. Tatsächlich suchte Heuss während der Weimarer Republik durchgängig die politische Praxis im Parlament und träumte einen „Volksvertretertraum“.24 Schon Ende 1918 hatte er sich um seine Berücksichtigung auf der württembergischen Landesliste für die Wahl zur Verfassunggebenden Nationalversammlung bemüht; und als 1922 ein württembergischer Reichstagsabgeordneter sein Mandat niederlegte, mobilisierte Heuss erneut seine schwäbischen Freunde, um als Nachrücker in den Reichstag einzuziehen. Beide Initiativen waren vergeblich, und erst 1924 verfügte Heuss über einen sicheren Platz auf der Landesliste. Den Verlust seines Mandats bei der Reichstagswahl von 1928 empfand er durchaus schmerzlich, und für die Reichstagswahlen vom September 1930 strebte er die Spitzenkandidatur auf der Württembergischen Landesliste auch gegen erheblichen Widerstand an: „Ich bin jetzt Mitte Vierzig, ich habe, seit ich mit 21 Jahren zu Naumann ging, mein Leben auf öffentliches Wirken gestellt, und will jetzt die Möglichkeit des politischen Wirkens nicht mit einer vornehmen oder verstimmten Geste auf die Seite werfen. Dazu fühle ich mich noch zu jung.“25 Zu Heuss’ „klassisch“-republikanischem Bürgerideal und zu seinen politischen Grundüberzeugungen gehörte es, dass die Vertreter des Volkes geistigintellektuell ungebunden und möglichst frei von sozial-ökonomischen Interessen sein sollten. Vehement lehnte er daher die berufsständischen Tendenzen in den bürgerlichen Parteien ab, von denen auch die DDP keineswegs frei war. Scharf kritisierte er Ende 1918 die Kandidatenaufstellung des württembergischen Landesverbandes, wo „Bauern, Fabrikanten und Arbeiter an der Spitze stehen“ und sich 22
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Vgl. hierzu Wirsching, Andreas: Demokratisches Denken in der Geschichtswissenschaft der Weimarer Republik, in: Gusy, Christoph (Hg.): Demokratisches Denken in der Weimarer Republik, Baden-Baden 2000, S. 71–95. Heuss, Theodor: „Nach den Wahlen“, 18. 6. 1920, abgedruckt in: Eksteins, Modris: Theodor Heuss und die Weimarer Republik. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Liberalismus, Stuttgart 1969, S. 137 (Hervorhebung A.W.). Theodor Heuss an Elly Heuss-Knapp, 8. 5. 1922, in: Theodor Heuss. Bürger der Weimarer Republik. Briefe 1918–1933, hg. von Michael Dorrmann, München 2008, Nr. 49, S. 165. Theodor Heuss an Adolf Scheef, 2. 8. 1930, in: Theodor Heuss. Bürger der Weimarer Republik. Briefe 1918–1933, hg. von Michael Dorrmann, München 2008, Nr. 163, S. 380. Vgl. zu Heuss’ Streben nach parlamentarischer Wirksamkeit Dorrmann, Michael: Einführung, in: Theodor Heuss. Bürger der Weimarer Republik. Briefe 1918–1933, hg. von Michael Dorrmann, München 2008, S. 15–50, hier S. 32 f.
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eine ruinöse „Kapitulation vor dem berufsständischen Gedanken“ abzeichnete.26 Unabhängig von seinem eigenen sozialen Standort, der sich freilich nicht verleugnen ließ, befürchtete Heuss von einem berufsständischen Proporz die Kontaminierung der parlamentarischen Politik durch ökonomisch begründete Antagonismen: „Man erinnert sich, daß diese Idee politische Bedeutung bekam, als sie, in einem seltsamen Hin und Her der Motive, dazu diente, dem Rätegedanken die politischen Schößlinge abzuschneiden: man hat ihm damals die wirtschaftspolitische Berufsideologie aufokuliert. Die Gärtner und Botaniker sind sich noch nicht ganz klar, ob der Baum nun im Gewächshaus des Reichswirtschaftsrats nahrhafte Früchte tragen wird.“27 Der „Berufsideologie“ stellte Heuss stets seine eigene Selbstwahrnehmung als Parlamentarier entgegen, der interessenpolitisch ungebunden und gleichsam als Generalist die politische Agenda vorurteilslos betrachten und nach bestem Sachverstand entscheiden kann. Auch in seinen Reden versuchte er stets, „nicht so sehr den Katalog der Einzelinteressen darzubieten […], sondern eher ein politisches Gesamtbild zu zeigen“. Dies entsprach für ihn der liberalen Tradition, „zu der wir uns im allgemeinen bekennen und verpflichtet fühlen“. Eben hieraus und aus seinem unermüdlichen Einsatz im Dienste der Partei und Fraktion leitete er auch einen sachlich überlegenen Anspruch auf sein Mandat beziehungsweise einen Spitzenplatz auf der Landesliste ab, „da ich auch meine berufliche Tätigkeit weitgehend auf die Kombination von Lehramt, Publizistik und politischer Wirksamkeit aufgebaut habe“.28 An die Spitze der parlamentarischen Parteipolitik schaffte Heuss es mit diesem politischen Kapital allerdings nicht. Während der Weimarer Republik blieb er letztendlich eine Nebenfigur, zwar ununterbrochen aktiv und umtriebig, aber ohne wirklich entscheidenden Einfluss. Nicht nur musste er immer wieder um sein Reichstagsmandat kämpfen, das er wie gesehen 1928 und dann erneut im November 1932 verlor. Auch entscheidende personelle und politische Weichenstellungen wie etwa das Zusammengehen der DDP mit dem Jungdeutschen Orden und die damit verbundene Gründung der Deutschen Staatspartei gingen an Heuss 26
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Theodor Heuss an Conrad Haußmann, 13. 12. 1918, in: Theodor Heuss. Bürger der Weimarer Republik. Briefe 1918–1933, hg. von Michael Dorrmann, München 2008, Nr. 18, S. 115. Heuss, Theodor: Demokratie und Parlamentarismus: ihre Geschichte, ihre Gegner und ihre Zukunft, in: Erkelenz, Anton (Hg.): Zehn Jahre deutsche Republik. Ein Handbuch für republikanische Politik, Berlin 1928, S. 98–117, hier S. 113. Heuss spielt hier auf den Art. 165 der Weimarer Reichsverfassung und die Einrichtung eines Reichswirtschaftsrates an. Hierzu ausführlich Ritter, Gerhard A.: Die Entstehung des Räteartikels 165 der Weimarer Reichsverfassung, in: Historische Zeitschrift 258 (1994), S. 73–112. Siehe des weiteren Heuss, Theodor: Staat und Volk. Betrachtungen über Wirtschaft, Politik und Kultur, Berlin 1926, S. 87–89 u. 154 f.; Heuss, Theodor: Die Deutsche Demokratische Partei, in: Harms, Bernhard (Hg.): Volk und Reich der Deutschen, Bd. II, Berlin 1929, S. 104–121, hier S. 114. Theodor Heuss an Willy Dürr, 24. 6. 1932, in: Theodor Heuss. Bürger der Weimarer Republik. Briefe 1918–1933, hg. von Michael Dorrmann, München 2008, Nr. 205, S. 480–482. Vgl. auch Theodor Heuss an Johannes Hieber, 31. 7. 1930, in: Theodor Heuss. Bürger der Weimarer Republik. Briefe 1918–1933, hg. von Michael Dorrmann, München 2008, Nr. 160, S. 371–373.
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vorbei. Erst nach den Reichstagswahlen vom 5. März 1933, in deren Folge die Fraktion der DStP aufgrund einer technischen Listenverbindung mit der SPD noch einmal von zwei auf fünf Abgeordnete „anwuchs“, spielte Heuss eine zentrale parteipolitische Rolle. Bis zuletzt suchte er seine politische Praxis fortzusetzen. Charakteristisch hierfür war auch die letzte Resolution des Gesamtvorstandes der Staatspartei vom 14. Mai 1933, die von Heuss formuliert worden war. Mit ihr appellierte die Partei an ihre Freunde, „in diesen Zeiten rascher geschichtlicher Entwicklung ihr die Treue zu bewahren, dem Staat, wo immer sie ihre Kräfte ansetzen können, um des Vaterlandes willen, wie bisher, treu zu dienen und dessen eingedenk zu bleiben, was bürgerliche Freiheit für den Aufbau des deutschen Nationalbewußtseins bedeutet hat und bedeuten wird.“29 Rückblickend hätte sich Heuss möglicherweise gewünscht, er wäre im März 1933 nicht mehr in den Reichstag gewählt worden; der Makel, für das „Ermächtigungsgesetz“ vom 23. März 1933 gestimmt zu haben, wäre ihm dann erspart geblieben. Unabhängig von taktischen Erwägungen mag dabei die Mehrheit der Fraktion – Heuss hatte ursprünglich zumindest die Enthaltung empfohlen – an eine staatstragende Position und den vergeblichen Versuch gedacht haben, die staatliche, „gesetzmäßige“ Legalität fortzuführen.30 Heuss und seine Fraktionskollegen erwiesen sich hier einmal mehr als liberale Etatisten, für die die staatliche Kontinuität einen Wert an sich bildete. In jedem Fall bildete der Staat das Kollektivsubjekt, den Akteur, in dem und durch den sich Geschichte und geschichtlicher Fortschritt vollzogen und der mithin Ausgangspunkt wie Ziel historischen Fragens und politischen Handelns bestimmte. Demokratie und Aktivbürgerschaft vermochten sich daher für sie letztlich nur in einem festen nationalstaatlichen Gehäuse zu verwirklichen. In dem Maße, in dem aus dieser Sicht jeder Gedanke an Widerstand gegen die Staatsgewalt fern lag, bestanden autoritäre Versuchungen. Bedrängt durch den Verfall ihrer Partei und gemeinsam mit der bürgerlichen Mitte unterwarfen sich Heuss und seine Mitstreiter in der Staatskrise der Weimarer Republik mehr und mehr dem „Primat der Regierung gegenüber dem Parlament“.31 Nach dem Machtantritt Hitlers in eine ausweglose Situation gera29
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Linksliberalismus in der Weimarer Republik. Die Führungsgremien der Deutschen Demokratischen Partei und der Deutschen Staatspartei 1918–1933, eingeleitet von Lothar Albertin, bearb. von Konstanze Wegner, Düsseldorf 1980, S. 765, Anm. 3. Vgl. zur Zustimmung zum Ermächtigungsgesetz Seefried, Elke: Einführung, in: Theodor Heuss. In der Defensive. Briefe 1933–1945, hg. von Elke Seefried, München 2009, S. 15–70. hier S. 22–25; Becker, Ernst Wolfgang: Theodor Heuss. Bürger im Zeitalter der Extreme, Stuttgart 2011, S. 69–72. Insgesamt vgl. die Dokumentation von Morsey, Rudolf: Das „Ermächtigungsgesetz“ vom 24. März 1933. Quellen zur Geschichte und Interpretation des „Gesetzes zur Behebung von der Not von Volk und Reich“, 2. Aufl. Düsseldorf 2010, hier v.a. S. 152–158 zur Rolle von Theodor Heuss. Vgl. ferner Heuss’ retrospektive Aussage vor dem Untersuchungsausschuss des WürttembergBadischen Landtags in: Politischer Irrtum im Zeugenstand. Der Untersuchungsausschuss des Württemberg-Badischen Landtags 1947 zum „Ermächtigungsgesetz“ vom 23. März 1933, hg. und bearb. von Ernst Wolfgang Becker und Thomas Rösslein, Stuttgart und München 2003, S. 137–142. Meinecke, Friedrich: Nationalsozialismus und Bürgertum, 21. 12. 1930, in: ders.: Politische Schriften und Reden, hg. und eingeleitet von Georg Kotowski, 4. Aufl. Darmstadt 1979, S. 441–445, hier S. 442.
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ten, konnten sie sich auch nicht mehr zu einem starken Signal des demokratischliberalen Widerstands gegen den Nationalsozialismus aufraffen.32
Die liberale Hauptfigur der jungen Bonner Republik Noch im September 1932 hatte Theodor Heuss auf eine Besserung der politischen Lage gehofft: „Wie das Schicksal der sogenannten bürgerlichen Mittelgruppen sich in dieser Sachlage gestalten wird, ist noch ungewiß genug. Der Zwang, im konkreten Sinn konservative Staatspolitik machen zu müssen und dauernd in der Verteidigungsposition zu stehen, hat sie unsicher gemacht. Auch ist ,Mitte‘ ja schließlich keine zündende Parole, so notwendig staatspolitisch und sozial in einem Volk der Schwierigkeiten, wie es das deutsche ist, die Ausgleichsfunktion bewertet werden muß. Ich möchte wünschen können, daß die Zeitlage uns die Möglichkeit gibt, ideenmäßig und organisatorisch eine Neuformung für die strategische Lage vorzubereiten, da ich glaube, daß der Zeitpunkt wiederkommt, wo eine tapfere bürgerliche Gesinnung und eine Neuprägung liberaler Gedanken den Deutschen notwendig genug sein werden.“33 Die Möglichkeit, eine solche „Neuprägung“ zu erleben und an ihr mitzuwirken, ergab sich freilich erst nach dem kompletten Untergang des „Dritten Reiches“. Heuss hatte die NS-Zeit „in der Defensive“ ohne größere Blessuren überstanden. Trotz einiger überwiegend materiellen Zwängen geschuldeter Anpassungen hatten ihn sein sicherer politischer Kompass und seine persönliche Integrität davor bewahrt, sich zu kompromittieren. Seiner politischen Skepsis und nationalen Besorgnis gab er in seiner Privatkorrespondenz regelmäßigen Ausdruck; sein persönliches Leben meisterte er mit Glück, Gelassenheit und Humor.34 Dafür, dass Heuss nach 1945 eine herausragende Rolle spielen konnte, in der die für ihn typische Verbindung von Bürgerideal und Demokratie zum Tragen kam, mussten zwei Voraussetzungen erfüllt sein. Zum einen verließ ihn sein unerschütterlicher Optimismus auch in den schwierigen Nachkriegsjahren nicht. Seine Korrespondenz in den ersten Monaten nach dem Krieg zeugt von ungebrochenem Streben nach demokratischer Praxis, wobei ihm allerdings die Mehrfachbelastung als Herausgeber der Heidelberger „Rhein-Neckar-Zeitung“, württem32
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Wie stark man Heuss spätere Kontakte zu den Verschwörern des 20. Juli 1944 gewichten möchte, sei hier nicht näher diskutiert. Jedenfalls besaß er diese Kontakte, ohne zum inneren Kreis zu gehören. Vgl. Seefried, Elke: Einführung, in: Theodor Heuss. In der Defensive. Briefe 1933–1945, hg. von Elke Seefried, München 2009, S. 15–70, hier S. 59– 61 und – mit (zu) starker Betonung der Widerstandsnähe von Heuss – Heß, Jürgen C.: „Die Nazis haben gewußt, daß wir ihre Feinde gewesen und geblieben sind“. Theodor Heuss und der Widerstand gegen den Nationalsozialismus, in: Jahrbuch zur Liberalismusforschung 14 (2002), S. 143–195. Theodor Heuss an Heinrich Schäff-Zerweck, 10. 9. 1932, in: Theodor Heuss. Bürger der Weimarer Republik. Briefe 1918–1933, hg. von Michael Dorrmann, München 2008, Nr. 212, S. 494. Zu Heuss’ Überwintern in der NS-Zeit exzellent und tiefschürfend Seefried, Elke: Einführung, in: Theodor Heuss. In der Defensive. Briefe 1933–1945, hg. von Elke Seefried, München 2009, S. 15–70.
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bergischer Kultminister und gefragter Parteipolitiker zu schaffen machte.35 Zwar verschloss er keineswegs die Augen davor, dass die Demokratie in Deutschland wieder nicht „erobert“, sondern von den Alliierten „angeordnet, anempfohlen, zugelassen, zugemessen, lizenziert, limitiert, kontingentiert“ worden sei. Aber solches „Wandern im Tal der Ohnmacht“ erlaubte keine Resignation. Heuss beschwor demgegenüber mit Hölderlin eine „heilige Nüchternheit“, mit der die Eigenständigkeit wiedergewonnen und konkrete Aufgaben gelöst werden sollten. „Wir sind gegenüber der Wirklichkeit illusionslos geworden, wir alle, diese Generationen, sind durch die Schule der Skepsis hindurchgegangen. Aber wenn wir nur illusionslos sind und wenn wir nicht ein Stück Glauben auch für diesen unseren Beruf mitbringen, dann verliert unser Handwerk von seinem Beginn an die innere Würde.“36 Die zweite Voraussetzung für Heuss’ Wirken nach 1945 war sein fortbestehender positiver Staatsbegriff. Vehement wandte er sich gegen jene, die aufgrund der Weimarer und der NS-Erfahrung zu einem grundsätzlichen Staatsskeptizismus oder gar einem „Nihilismus gegenüber der Staats- und gesellschaftlichen Ordnung“37 neigten: „Wir dürfen“, so rief Heuss den Mitgliedern des Parlamentarischen Rates zu, „wenn wir ein Staatsgrundgesetz machen, nicht damit beginnen, die innere Würde des Staates zu kränken, indem wir ihn nur als eine subsidiäre Angelegenheit für den Menschen – wer ist denn der Mensch? – unterbringen wollen. Weil wir erlebt haben, daß Staatssinn und Menschentum in der Zeit wo der Hitler die Geschichten bestimmt hat, als Gegensätze behandelt und empfunden wurden, wo der Staat ein Ruinierer des Menschentums wurde, deshalb dürfen wir meiner Meinung nach nun nicht mit einer so negativen Deklaration beginnen. Der Staat ist nicht nur eine Apparatur, sondern er ist auch ein Träger eingebore-
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Siehe die Korrespondenz in Theodor Heuss. Erzieher zur Demokratie. Briefe 1945–1949, hg. und bearb. von Ernst Wolfgang Becker, München 2007, S. 93–172 u. passim. Zu Heuss’ parteipolitischer Aktivität nach 1945 grundlegend Wengst, Udo: Einleitung, in: FDP-Bundesvorstand. Die Liberalen unter dem Vorsitz von Theodor Heuss und Franz Blücher. Sitzungsprotokolle 1949–1954, erster Halbband (1949–1952), bearb. v. Udo Wengst, Düsseldorf 1990, S. XI–CXXVI. Daran, dass Heuss allein ein „schöngeistiger Literat mit wenig Neigung und Eignung zu parteiorganisatorischer Arbeit“ gewesen sei (S. XIV), lässt sich aufgrund seiner in der „Stuttgarter Ausgabe“ erstmals erschlossenen Korrespondenz während der Weimarer Republik zweifeln. Zu deutlich ist hier die von Heuss immer wieder auch selbst betonte parteipolitische Kärrnerarbeit bezeugt. Dass diese Arbeit in Partei und Parlament letztendlich politisch wie persönlich vergeblich war, mag zu seiner stärkeren Distanz vom parteipolitischen Alltag nach 1945 beigetragen haben. Vgl. ferner Heß, Jürgen C.: Fehlstart. Theodor Heuss und die Demokratische Partei Deutschlands 1947/1948, in: Jahrbuch zur Liberalismusforschung 9 (1997), S. 83– 121. Heuss, Theodor: Rede vor dem Parlamentarischen Rat, 9. 9. 1948, in: Theodor Heuss. Vater der Verfassung. Zwei Reden im Parlamentarischen Rat über das Grundgesetz 1948/49, hg. und bearb. von Ernst Wolfgang Becker, München 2009, S. 52 f. Theodor Heuss an Gustav Stolper und Toni Stolper, 21. 7. 1946, in: Theodor Heuss. Erzieher zur Demokratie. Briefe 1945–1949, hg. und bearb. von Ernst Wolfgang Becker, München 2007, Nr. 41, S. 191.
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ner Würde, und als Träger der ordnenden Gemeinschaft ist er für den Menschen und ist der Mensch für ihn keine Abstraktion.“38 Was Heuss also vor 1933 ein Stück weit anfällig machte für die Anpassung an einen mehr und mehr autoritär überformten Staat, verlieh ihm nach 1945 die nötige Tatkraft, den staatlichen Neuaufbau voranzutreiben. Insofern wehrte er sich dagegen, vom Grundgesetz und der werdenden Bundesrepublik nur als einem „Provisorium“ zu sprechen.39 Solche Überzeugungen ermöglichten es Heuss schließlich auch im Persönlichen, das „Opfer“ einer politischen Ämterlaufbahn zu erbringen und infolgedessen auf die „guten Bücher, die ich schreiben wollte“, zu verzichten.40 Dies war die weltanschauliche und charakterliche Basis, auf der Heuss zum prägenden citoyen der zweiten deutschen Demokratie avancierte. Anders und viel nachhaltiger als in Weimar tat er dies in hohen und höchsten politischen Ämtern. Das bürgerlich-partizipatorische Tugendideal, das er aus dem 19. Jahrhundert mitgebracht und durch die NS-Zeit gerettet hatte, ermöglichte es ihm nunmehr, als genuiner homo politicus den demokratischen Neuaufbau zu gestalten und langfristig zu beeinflussen.41 Bezeichnenderweise begnügte er sich dabei nicht damit, die von ihm bekleideten politischen Ämter und Mandate formal auszufüllen. Stets ging sein Bestreben auch dahin, für die Demokratie geistig-ideell, ja im Grunde erzieherisch, das heißt im Sinne der Verbreitung und Verwurzelung jenes Tugendideals zu wirken. Auch als Bundespräsident pflegte Heuss eine dementsprechend basisorientierte, demokratische „Praxis“. Einen guten Eindruck hiervon vermittelt das Spektrum seiner Reaktionen auf die ihn täglich vielhundertfach erreichende Korrespondenz aus der Bevölkerung. Zwar wird jeder hohe Amtsträger und erst recht jedes Staatsoberhaupt mit Eingaben, Geschenken und Beschwerden, „Schimpfbriefen“, Petitionen und Meinungsäußerungen aus der breiteren Bevölkerung traktiert. Aber die Art und Weise, wie Heuss auf sie reagierte, zeugt von der Ernsthaftigkeit, mit der er sein partizipatorisches Bürgerideal nunmehr ebenso autoritativ wie kommunikativ, gleichsam von „oben nach unten“, vertrat. Jenseits der zahllosen Belanglosigkeiten, welche die Korrespondenz mit den Bürgern füllten, waren es vor allem zwei Motive, die Heuss in seinen Antworten wieder und wieder zur Geltung brachte: Zum einen betraf dies die nationalsozialistische Vergangenheit. Denn dass sich die neue Demokratie nicht ohne die gleichzeitige nüchterne, aber schonungs38
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Heuss, Theodor: Rede vor dem Parlamentarischen Rat, 9. 9. 1948, in: Theodor Heuss. Vater der Verfassung. Zwei Reden im Parlamentarischen Rat über das Grundgesetz 1948/49, hg. u. bearb. von Ernst Wolfgang Becker, München 2009, S. 69 f. Heuss, Theodor: Rede vor dem Parlamentarischen Rat, 9. 9. 1948, in: Theodor Heuss. Vater der Verfassung. Zwei Reden im Parlamentarischen Rat über das Grundgesetz 1948/49, hg. u. bearb. von Ernst Wolfgang Becker, München 2009, S. 55. Theodor Heuss an Georg Hohmann, 7. 10. 1945, in: Theodor Heuss. Erzieher zur Demokratie. Briefe 1945–1949, hg. und bearb. von Ernst Wolfgang Becker, München 2007, Nr. 11, S. 118. Vgl. hierzu Wengst, Udo: Staatsaufbau und Regierungspraxis 1948–1953. Zur Geschichte der Verfassungsorgane in der Bundesrepublik Deutschland, Düsseldorf 1984, hier v.a. S. 274–290 über das Bundespräsidialamt unter Heuss.
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lose öffentliche Auseinandersetzung mit der jüngsten NS-Vergangenheit entfalten konnte, hat Heuss wie nur wenige andere Spitzenpolitiker der unmittelbaren Nachkriegszeit erkannt; und als Bundespräsident hat er weitaus mehr als andere zu einem offenen, auf ernsthafte Aufarbeitung zielenden Umgang mit den nationalsozialistischen Verbrechen beigetragen.42 In seiner Korrespondenz mit Bürgern der jungen Republik betrachtete er es als eine seiner Aufgaben, „den Deutschen zu helfen, aus der Verkrampfung der nationalsozialistischen Zeit herauszukommen“ – manchmal sei dies geglückt, manchmal nicht.43 Um dieser Aufgabe gerecht zu werden, ließ er sich immer wieder und in zum Teil erstaunlich detaillierter Weise auf kurze Dialoge mit privaten Briefeschreibern ein. Nörgler und Ewiggestrige wies er mit bisweilen deutlichen Worten zurecht. So wandte er sich ebenso gegen die „alberne und anmaßende“ Behauptung einer Korrespondentin, die deutsche Nationalhymne hänge mit keinem „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ zusammen, wie er sich gegen jegliche „gewerbstüchtige Verkitschung“ der NS-Zeit aussprach. Rührselige Reportagen über ehemalige Nazis fand er geradezu „zum Kotzen“. Was dem deutschen Volk dagegen nottue, sei „eine kühle, nüchterne Kenntnis von facts“.44 Den gelegentlich an ihn herangetragenen Wunsch, er möge in seinen Reden nicht ständig an das Dritte Reich erinnern und damit neue Gräben aufreißen, wies er nachdrücklich zurück. Nur parallel zu einer solch ständigen Selbstvergewisserung, so war Heuss überzeugt, konnte sich zum anderen dann auch der demokratische Geist in Deutschland wieder ausbreiten – Demokratie zur „Lebensform“ werden. Entscheidend hierfür war die werbende Rede für die parlamentarische Demokratie und ihre Repräsentanten. Umgekehrt wies er die in der Bürger-Korrespondenz immer wieder aufscheinende, gleichsam „klassische“ Kritik an der repräsentativen Demokratie, an Parlament, Parteien und Politikern, regelmäßig in die Schranken. Nicht selten speiste sich solche politische Kritik aus schweren Einzelschicksalen, die so manchen Briefeschreiber hatten bitter werden lassen, und die Heuss auch stets respektierte. Zugleich aber bekämpfte er doch regelmäßig und erneut in zum Teil erstaunlicher Detailliertheit die zugrunde liegenden Dispositionen und Ressentiments. Die „stille Epidemie der deutschen Seele“, so schrieb er an einen Korrespondenten, sei der „Pharisäismus, [der] auch Sie ein bißchen zu bedrohen scheint“.45 Ihn galt es zu bekämpfen und die Deutschen „von der rein individua42 43
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Ausführlich hierzu Baumgärtner, Ulrich: Reden nach Hitler. Theodor Heuss – Die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, Stuttgart und München 2001. Theodor Heuss an Franz Vogel, 17. 1. 1955, in: Theodor Heuss. Hochverehrter Herr Bundespräsident! Der Briefwechsel mit der Bevölkerung 1949–1959, hg. und bearb. von Wolfram Werner, Berlin und New York 2010, Nr. 144 B, S. 393. Hans Bott (Persönlicher Referent des Bundespräsidenten) an Annemarie Pohl, 28. 2. 1952, in: Theodor Heuss. Hochverehrter Herr Bundespräsident! Der Briefwechsel mit der Bevölkerung 1949–1959, hg. und bearb. von Wolfram Werner, Berlin und New York 2010, Nr. 53 B, S. 196; Theodor Heuss an Alfred Mück, 16. 3. 1951, in: Theodor Heuss. Hochverehrter Herr Bundespräsident! Der Briefwechsel mit der Bevölkerung 1949–1959, hg. und bearb. von Wolfram Werner, Berlin und New York 2010, Nr. 37 B, S. 163. Theodor Heuss an Wolfgang Martin, 8. 7. 1952, in: Theodor Heuss. Hochverehrter Herr Bundespräsident! Der Briefwechsel mit der Bevölkerung 1949–1959, hg. und bearb. von Wolfram Werner, Berlin und New York 2010, Nr. 61 B, S. 212.
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listischen, gefühlsmäßigen Betrachtung der politischen Dinge“ zu lösen. Vielmehr müssten die Menschen in Deutschland „in Gottes Namen dazu erzogen werden, in den Institutionen eine verbindliche Kraft zu sehen“.46 Unbegründete oder ungerechte Polemik gegen die politischen Amts- und Mandatsträger kannte Heuss ja nur allzu gut aus der Weimarer Republik. Und wenn Heuss ihr in deutlichen Worten entgegentrat, so sind diese in unserer gegenwärtigen Zeit, in der Politik- und Demokratieverdrossenheit grassieren, von höchster Aktualität. „Ich möchte Ihnen nur dies sagen“, so wies er einen Kritiker zurecht, „daß das Schimpfen auf die Parteien und auf die Kandidaten eine ewige Beschäftigung von Menschen ist, die nicht wissen oder nicht wissen wollen, welche ungeheure Last auf den meisten der Abgeordneten ruht und welche schier unlösbaren Aufgaben in den Beamtungen warten, wenn irgendwelche notwendigen und grundsätzlich zu gebenden gesetzlichen Vorschriften in die Auseinandersetzung mit dem ja immer wieder besonders liegenden Individualfall kommen. Das Auf-den-Staat-schimpfen und gleichzeitig Nach-dem-Staat-rufen ist ein Verfahren, in dem für viele eine Art von seelischer Ausflucht liegt.“47 Auch in dieser Beziehung ließ sich der Bundespräsident mehr als einmal auf ein längeres Diskutieren mit den Beschwerdeführern ein. Nur wenn er den Ton als zu anmaßend und die vorgetragene Sache für zu dürftig hielt, wurde er schroff und abweisend. Dann wandte er sich gegen „das banale Geschwätz einer polemischen Literatur“ und verurteilte die „Legenden […], die ja immer bequemer sind als die Auseinandersetzung mit dem Wirklichen und seiner Bedingtheit“.48 Ansonsten ermunterte er die Korrespondenten darin, die Komplexität demokratischer Willensbildung und Verwaltung zu akzeptieren und aktiv zu ertragen. Zugleich suchte er sie davon zu überzeugen, dass das von den Politikern der ersten Stunde 46
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Hans Bott an W. Kühn, 9. 1. 1952, in: Theodor Heuss. Hochverehrter Herr Bundespräsident! Der Briefwechsel mit der Bevölkerung 1949–1959, hg. und bearb. von Wolfram Werner, Berlin und New York 2010, Nr. 50 B, S. 189; Theodor Heuss an Gretha Jünger, 3. 7. 1959, in: Theodor Heuss. Hochverehrter Herr Bundespräsident! Der Briefwechsel mit der Bevölkerung 1949–1959, hg. und bearb. von Wolfram Werner, Berlin und New York 2010, S. 519 f., Anm. 3. Theodor Heuss an Georg Friess, 6. 8. 1953, in: Theodor Heuss. Hochverehrter Herr Bundespräsident! Der Briefwechsel mit der Bevölkerung 1949–1959, hg. und bearb. von Wolfram Werner, Berlin und New York 2010, Nr. 92 B, S. 274. Theodor Heuss an Friedrich Winter Jr., 22. 7. 1959, in: Theodor Heuss. Hochverehrter Herr Bundespräsident! Der Briefwechsel mit der Bevölkerung 1949–1959, hg. und bearb. von Wolfram Werner, Berlin und New York 2010, Nr. 200 B, S. 516. Noch schärfer wurde Heuss gegenüber einem pensionierten Tübinger Pfarrer, der im Sinne eines Nationalneutralismus westdeutsche Politiker „Kreaturen des Westens“ und ostdeutsche „Kreaturen des Ostens“ nannte. Heuss antwortete hierauf: „Ich beantworte Ihren Brief persönlich […], weil ich Ihnen mit aller Schärfe sagen muß, daß wir, die wir uns Tag und Nacht bemüht haben, dem deutschen Volk aus seiner Zerschlagenheit herauszuhelfen, uns auch nicht von einem Pfarrer i.R. ,Kreaturen des Westens‘ nennen lassen. Ich habe mich keinen Augenblick in meinem Leben als die Kreatur eines fremden Willens gefühlt und teile Ihnen mit landsmannschaftlicher Offenheit mit, daß ich diesen Teil ihres Briefes für eine anmaßende Unverschämtheit halte.“ Theodor Heuss an Karl Schmid, 28. 8. 1959, in: Theodor Heuss. Hochverehrter Herr Bundespräsident! Der Briefwechsel mit der Bevölkerung 1949–1959, hg. und bearb. von Wolfram Werner, Berlin und New York 2010, Nr. 203 B, S. 522.
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erarbeitete Aufbauwerk trotz aller Fehler und Missgriffe im einzelnen als im Kern gelungen gelten dürfe und geschichtlich bedeutsam sei. Mithin füllte Heuss auch das Amt des Bundespräsidenten so aus, wie er Politik immer schon begriffen hatte: als demokratische Praxis, ja Lebensform, die in einem republikanisch-partizipatorischen Bürgerideal gründete. Wenn man das Amt begreift als Medium politischer Kommunikation, deren Aufgabe es ist, die Bürger dort an den Staat heranzuführen, wo sie drohen, von ihm enttäuscht zu werden, so war es Heuss auf den Leib geschnitten. „Was ich zu leisten versuche“, so schrieb er einmal, „ist, das Ethos einer anständigen demokratischen Grundhaltung im Bewußtsein des Volkes und auch der Parteien lebendig zu halten, soweit mir das nun eben gegeben ist.“49 Einen persönlichen Ausweis dieses Ethos gab er mit seiner dezidierten Weigerung, einer Grundgesetzänderung zuzustimmen, die ihm eine weitere Amtszeit ermöglicht hätte. Vielmehr konnte er 1959 in der sicheren Erkenntnis abtreten, dass er mit einem Politikverständnis, das letztlich im 19. Jahrhundert wurzelte, zur Popularisierung der Demokratie in Deutschland einen gewichtigen Beitrag geleistet hatte: „Es ist mir geglückt, die Beziehungen zu breiteren Volksschichten zu verdichten und so bescheiden bin ich nicht, um nicht zu wissen, daß das eine nützliche Wirkung für den Staat bedeutet hat.“50
Weiterführende Literatur Möller, Horst: Theodor Heuss. Staatsmann und Schriftsteller, Bonn 1990. Becker, Ernst Wolfgang: Theodor Heuss. Bürger im Zeitalter der Extreme, Stuttgart 2011. Heß, Jürgen C.: Theodor Heuss vor 1933. Ein Beitrag zur Geschichte des demokratischen Denkens in Deutschland, Stuttgart 1973. Baumgärtner, Ulrich: Reden nach Hitler. Theodor Heuss – Die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, Stuttgart und München 2001. Langewiesche, Dieter: Liberalismus und Demokratie im Staatsdenken von Theodor Heuss, Stuttgart 2005. Weippert, Matthias: „Verantwortung für das Allgemeine“? Bundespräsident Heuss und die FDP 1949–1956, in: Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung 21 (2009), S. 165–197. Hertfelder, Thomas: Friedrich Naumann, Theodor Heuss und der Gründungskonsens der Bundesrepublik, in: Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung 23 (2011), S. 113–145.
Hinweise zu den Quellen Es gibt drei zugängliche Heuss-Nachlässe im Deutschen Literaturarchiv Marbach, im historischen Archiv des Germanischen Nationalmuseums in Nürnberg und vor allem im Bundesarchiv Koblenz. Ein kleinerer Teilnachlass befindet sich zudem noch in Familienbesitz. Zentrale Teile der Heuss-Korrespondenz sind in den fünf Bänden der „Stuttgarter Ausgabe“ ediert. Wichtige Unterlagen zu Heuss’ Wirken in der DDP, der Deutschen Staatspartei und schließlich der FDP liegen im Gummersbacher Archiv des Liberalismus, zu seiner Zeit als Bundespräsident im Bundesarchiv Koblenz (B 122). Seit 2007 erscheint in der „Stuttgarter Ausgabe“ eine Auswahl seiner Briefe. 49
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Theodor Heuss an Erika Hörmann, 4. 12. 1952, in: Theodor Heuss. Hochverehrter Herr Bundespräsident! Der Briefwechsel mit der Bevölkerung 1949–1959, hg. und bearb. von Wolfram Werner, Berlin und New York 2010, Nr. 66 B, S. 222. Theodor Heuss an Konrad Adenauer, Ende Dezember 1958/10. 1. 1959, in: Theodor Heuss, Konrad Adenauer. Unserem Vaterland zugute. Der Briefwechsel, bearb. von Hans-Peter Mensing, Berlin 1989, Nr. 213, S. 264.
Klaus Wengst
Theologie und Politik im Jahr 1933 – Karl Barth (1886–1968) und Karl Ludwig Schmidt (1891–1956) „,Deutschland 1933‘ ist eine Angelegenheit, die den Historikern einer späteren Zeit noch einmal unendlich viel zu reden geben wird, gerade weil uns Zeitgenossen augenblicklich in der Hauptsache nur das Schweigen übrig bleibt.“ Das schrieb Karl Barth in einem Brief am 7. Oktober 1933. In diesem Jahr waren er und Karl Ludwig Schmidt befreundete Kollegen in der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Bonn, die seit dem Beginn ihrer gemeinsamen Zeit in Bonn im Frühjahr 1930 im ständigen Austausch miteinander standen. Sie wohnten nur wenige Minuten voneinander entfernt, gingen zusammen den gut halbstündigen Fußweg am Rhein entlang zu ihren Vorlesungen, machten nach Möglichkeit am Samstagvormittag einen gemeinsamen Ausritt, telefonierten viel miteinander und schrieben sich Briefe, letzteres vor allem in den Semesterferien, wenn Barth in der Schweiz war. Sie hatten gemeinsame theologische Grundüberzeugungen, dabei aber doch ein je eigenes Profil, auch bedingt durch ihre unterschiedlichen Fächer. Mit Gustav Hölscher im Alten, Karl Ludwig Schmidt im Neuen Testament, beide seit 1929 in Bonn, Karl Barth in der Systematischen Theologie und dem 1931 nach Bonn gekommenen Ernst Wolf in der Kirchengeschichte hatte die dortige Evangelisch-Theologische Fakultät für wenige Jahre ihre wahrscheinlich glanzvollste Zeit.1 Lediglich in der Praktischen Theologie bot sie nach der gemeinsamen Einschätzung von Barth und Schmidt „das Loch im Westen“ – mit Emil Pfennigsdorf, der dann bei der Gleichschaltung „Fakultätsführer“ wurde. Aus konservativer Sicht war die Bonner Fakultät der frühen 1930er Jahre eine „rote Fakultät“. Nicht nur Barth und Schmidt, ihre bedeutendsten Professoren, waren Mitglieder der SPD, sondern auch der 1930 als Privatdozent aus der Schweiz gekommene und 1931 zum a.o. Professor gemachte Fritz Lieb. In einer Denkschrift über die Universität Bonn vom März 1933 werden Barth und Schmidt als „Sozialisten“ bezeichnet. „Für Barth ist Staatliches und Nationales vom Teufel. K.L. Schmidt ist völlig charakterlos, Pazifist.“2 Von daher war klar, dass Schmidt und Barth seit dem Machtantritt Hitlers in ihren Stellungen gefährdet waren. 1
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Dass es damit in Bonn eine „neue“ Fakultät gab, zeigt nicht nur der Rückblick, sondern war auch den Beteiligten bewusst. Gustav Hölscher schreibt in seinen handgeschriebenen Lebenserinnerungen: „Wir vier Leute, ausser mir Schmidt, Barth und Wolf, bildeten nun die ,neue‘ Fakultät“. Den Einblick in diese Quelle mit dem Titel Aus meinem Leben verdanke ich seinem Enkel Lucian Hölscher, Bochum. Die zitierte Stelle findet sich dort auf S. 554 [neue Folge]. Zitiert nach Bizer, Ernst: Zur Geschichte der Evangelisch-Theologischen Fakultät von 1919 bis 1945, in: Bonner Gelehrte. Beiträge zur Geschichte der Wissenschaft in Bonn. Evangelische Theologie, Bonn 1968, S. 227–275, hier S. 254.
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Klaus Wengst
Skizze der Lebensdaten Karl Ludwig Schmidts An seinem letzten Tag in Bonn, am 3. November 1933, trug sich Karl Ludwig Schmidt in das Album Professorum seiner Fakultät ein. „Nur die großen Etappen“ gab er dabei an: „Geb. 5. II. 1891 in Frankfurt/Main als Sohn des Schuhmachers Anton Friedrich Schmidt. 1900–1909 Lessing-Gymnasium in meiner Vaterstadt. 1909–1913 Student der alten Philologie und Theologie in Marburg und in Berlin. 1913 Lic. theol. 1913–1921 Assistent am Neutestamentlichen Seminar der Universität Berlin. Zwischendurch 1915/16 Soldat in Königsberg i. Pr., in Russisch-Polen schwer verwundet, im Lazarett in Küstrin; EK II. Kl. 1916 1. theol. Examen in Berlin; 1917/18 Stadtvikar in Berlin; 1918 Habilitation in Berlin. 1921–1925 o. Prof. in Gießen. 1925 Orientreise. 1925–1929 o. Prof. in Jena. 1929–1933 o. Prof. in Bonn. – 1918 verheiratet mit Ursula v. Wegnern, Tochter des Staatsministers Martin v. Wegnern, in Bückeburg, Nachkommen von Martin Luther. – 5 Kinder. – Seit 1924 Mitglied der SPD. Am 15. Sept. 1933 auf Grund von § 4 des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums aus dem Staatsdienst entlassen.“ Schmidt emigrierte in die Schweiz. Seine Familie blieb vorerst in Deutschland. Die Kinder wurden bei befreundeten Familien untergebracht. Schmidt lebte zunächst fast mittellos als Gast in Schweizer Pfarrhäusern. Ab Mai 1934 bekleidete er eine befristete, schlecht bezahlte Pfarrverweserstelle in Zürich-Seebach. Im November 1934 konnte er eine besser ausgestattete Pfarrverweserstelle im Kanton St. Gallen antreten und seine Familie nachkommen lassen. Zum Wintersemester 1935/36 erhielt er eine Professur für Neues Testament an der Universität Basel. 1952 erlitt er einen Schlaganfall, von dem er sich nicht wieder erholte. Er starb am 10. Januar 1956.
Skizze der Lebensdaten Karl Barths Karl Barth wurde am 10. Mai 1886 in Basel geboren. 1889 zog die Familie nach Bern, als der Vater Johann Friedrich Barth dort Professor für Kirchengeschichte wurde. In Bern besuchte Karl Barth von 1892–1904 die Schule und begann dort auch das Studium der Theologie. Im Herbst 1906 wechselte er nach Berlin und kehrte im Sommer 1907 für ein Semester nach Bern zurück, in dem er allerdings weniger studierte, als vielmehr das Verbindungsleben in der „Zofingia“ genoss. Anschließend ging er nach Tübingen, im Sommer 1908 nach Marburg, wo er Schüler Wilhelm Herrmanns wurde. Nach dem Examen im Herbst 1908 war er in Marburg für ein Jahr Mitarbeiter Martin Rades bei der Herausgabe der „Christlichen Welt“, der Zeitschrift des liberalen Protestantismus. 1909 wurde er Hilfsprediger in der deutschsprachigen Gemeinde in Genf und war anschließend von 1911–1921 Pfarrer in dem Industriedorf Safenwil im Aargau. Dort wurde er mit Problemen der Arbeiterschaft konfrontiert. 1915 trat er in die sozialdemokratische Partei ein. In dieser Zeit brach er mit der liberalen Theologie seiner Lehrer, nicht zuletzt ausgelöst durch deren nationale Begeisterung am Beginn des Ersten Weltkriegs. In der Auslegung des paulinischen Römerbriefes suchte er nach einer Theologie, die sich auf nichts als das biblisch bezeugte Wort Gottes gründet. Sein
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1919 dazu veröffentlichtes Werk brachte ihm 1921 den Ruf auf eine Honorarprofessur für reformierte Theologie in Göttingen ein. Die völlig umgearbeitete zweite Auflage von 1922 machte ihn zu einem außerordentlich bekannten Theologen. 1925 übernahm er eine Professur für Systematische Theologie in Münster, 1930 in Bonn. Als er im November 1934 den verlangten Treueid auf den „Führer“ nur mit dem Zusatz: „soweit ich es als evangelischer Christ verantworten kann“ abzulegen bereit war, wurde er vom Dienst suspendiert und schließlich trotz erfolgreicher Berufung im Dienststrafverfahren am 22. Juni 1935 in den Ruhestand versetzt. Noch im selben Monat erfolgte die Berufung an die Universität Basel. Dort lehrte er bis zum Ende des Wintersemesters 1961/62. Er starb in der Nacht vom 9. auf den 10. Januar 1968.
Einem faschistischen Regime keinerlei Loyalität erweisen – Karl Ludwig Schmidt 1933 Bei der Wahl am 12. März 1933 kandidierte Karl Ludwig Schmidt auf der Liste der SPD für die Bonner Stadtverordnetenversammlung. Dass ein Theologe der SPD angehörte und auch noch Bereitschaft zeigte, sich für sie aktiv politisch zu betätigen, war im stark rechts-affinen protestantischen Milieu der Weimarer Zeit äußerst ungewöhnlich. Wie kam Schmidt dazu und wie hat er sich bis 1933 politisch verhalten? In Berlin war er 1918 zunächst der DDP beigetreten, wandte sich aber schon im Frühjahr 1920 wieder von ihr ab. Durch den befreundeten Kollegen Paul Tillich kam er in den von diesem 1920 gegründeten Kairos-Kreis, einen Gesprächszirkel, in dem sich etwa ein Dutzend Intellektuelle trafen, Referate über den Sozialismus hielten und debattierten. Das Wirken im Berliner Kairos-Kreis fand für Schmidt in Gießen eine Fortsetzung im dortigen Republikanischen Lehrerbund. In einem Aufruf dieses Bundes vom Februar 1922, von Schmidt mit unterzeichnet, heißt es: „Wir stehen auf dem Boden der durch die Weimarer Verfassung geschaffenen demokratischen und sozial gerichteten Republik. […] Wir wollen die heranwachsende Jugend zu sozialem Fühlen und Handeln, zu republikanischem Verantwortungsgefühl und zu demokratischer Achtung vor der freien Persönlichkeit und ihren Rechten erziehen.“ Die im Republikanischen Lehrerbund geknüpften Kontakte veranlassten Schmidt 1924 zum Eintritt in die SPD. In seiner Jenaer Zeit hatte er dann Auseinandersetzungen mit sozialdemokratischen „Freidenkern“. Seit Mitte 1927 zog er sich frustriert vom Parteileben zurück, trat aber nicht aus, weil er es für wichtig hielt, dass es an der Universität auch Sozialdemokraten gab. Sein wichtigstes Betätigungsfeld, auf dem er implizit und explizit auch politisch bzw. kirchenpolitisch wirkte, fand Schmidt in der Publizistik, genauer in der von ihm seit 1922 herausgegebenen Monatszeitschrift „Theologische Blätter“. Seine dabei aus kritischem Verantwortungsbewusstsein hervorgehende kompromisslose Haltung kann an seinem Umgang mit dem „Fall Dehn“ exemplifiziert werden. Am 6. November 1928 hatte Günther Dehn, den Schmidt aus dem Berliner Kairos-Kreis kannte, in Magdeburg einen Vortrag über „Kirche und Völkerver-
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söhnung“ gehalten. Aus seinem Widerspruch gegen die Parallelisierung des kriegerischen „Heldentodes“ mit dem christlichen Opfertod und der Infragestellung der Angemessenheit von Gefallenendenkmälern in Kirchen wurde der Vorwurf konstruiert, Dehn habe die Gefallenen „Mörder“ genannt. Als er Ende 1930 einen Ruf auf eine Professur in Heidelberg erhielt, wurde an diese Vorgänge agitatorisch erinnert, woraufhin sechs von sieben Fakultätsmitgliedern Dehn ihr Vertrauen entzogen und dieser den Ruf ablehnte. Im Februar 1931 erhielt er einen weiteren Ruf nach Halle. Schmidt notierte dies in den Theologischen Blättern mit einem knappen Rückblick auf die Heidelberger und Magdeburger Vorgänge und vermerkte wenig später Dehns Beurlaubung für das Sommersemester 1931. Als Dehn zum Wintersemester endlich seinen Dienst antreten wollte, kam es zu Drohungen der „Deutschen Studentenschaft“. Schmidt und Barth setzten eine Solidaritätsadresse auf, der sich drei weitere Kollegen anschlossen. Dehn hielt seine Lehrveranstaltungen unter beträchtlichen Störungen. Ende 1931 gab er eine kleine Schrift mit seinem Magdeburger Vortrag und Dokumenten über die anschließenden Auseinandersetzungen heraus. Schmidt wies in den Theologischen Blättern im Januar 1932 auf diese Publikation hin und zitierte aus Dehns Nachwort: „Vielleicht ist das, was sich in Halle und Heidelberg ereignet hat, nur ein Vorspiel kommender Ereignisse, wo ein rein machtpolitisch orientierter Staat, der von seiner Verantwortung Gott gegenüber nichts mehr weiß, von der Kirche entweder völligen Gehorsam verlangen oder sie für staatsgefährlich erklären wird. […] Es ist ja einfach nicht wahr, daß diese fanatische, meinetwegen religiös gefärbte, tatsächlich aber von Gott gelöste Vaterlandsliebe dem Vaterland wirklich hilft. Im Gegenteil, sie wird das Vaterland ins Verderben führen“. Auch in mehreren weiteren Heften des Jahres 1932 griff Schmidt den „Fall Dehn“ auf und verband ihn mit Kritik an den immer krasseren rechtsprotestantischen Auswüchsen. Dass das nationale Pathos in der christlichen Bürgerlichkeit kirchlich-theologisches Denken und Handeln völlig dominierte, darin erblickte Schmidt die entscheidende Gefahr, weil damit Kirche und Theologie verraten wurden. Dagegen wollte er theologisch und politisch angehen. Das bestimmte sein Handeln im Jahr 1933. An dieser Stelle lag auch, bei aller Übereinstimmung im Grundsätzlichen, der Unterschied zu Barth. Am 12. März 1933 wurde Schmidt über den dritten Listenplatz der SPD in die Bonner Stadtverordnetenversammlung gewählt. Bis dahin hatte er nie bei einer Wahl kandidiert. Warum tat er es diesmal? In einem Brief an Martin Buber vom 23. Februar 1933 schrieb er: „Sie werden verstehen, daß ich mich mehr als je mit der leidigen Politik befasse. Ich kann mir nicht helfen: dieser ,deutschen‘, dieser ,nationalen‘ Regierung schäme ich mich als Deutscher und als evangelischer Christ. Während ich bis jetzt jeden Antrag der SPD, dieses oder jenes Mandat anzunehmen, abgelehnt habe, habe ich nun dieses Mal ein ganz bescheidenes Mandat angenommen: als mich vor wenigen Tagen die SPD-Leitung dringend bat, mich für die Stadtverordnetenwahl am 12. März aufstellen zu lassen, habe ich ja gesagt.“ Die Situation eines totalitär werdenden Staates unter einer zur Macht gekommenen rechten Regierung, mit der sich ein Großteil der nationalistisch verseuchten evangelischen Kirche verbunden fühlte, ließ es Schmidt geboten erscheinen, nicht nur theologisch zu arbeiten, sondern auch politisch zu handeln.
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Als es aufgrund dieser Entscheidung zu Spannungen zwischen ihm und Barth kam, verteidigte sich Schmidt in einem Brief vom 24.–25. April: „Wir waren uns aber doch darin einig, daß man sich einer konkreten Aufgabe, die einem die eigene Partei in einer für sie besonders schweren Lage übertragen will, nicht ohne weiteres entziehen darf. Mein einziges ,Pech‘ war, daß die Genossen an mich und nicht etwa an Sie dachten, obwohl ich mich ebensowenig wie Sie in Bonn jemals betätigt hatte.“ Diesen Verpflichtungscharakter unterstrich Schmidt, wenn er im selben Brief als Reaktion auf eine Bemerkung Barths über das „Parteibüchlein“ – eine Ausdrucksweise, die er Barths „Schweizer Idiom“ zugutehielt – schrieb: „Und dieses Parteibuch mit seinen Verpflichtungen der Vergangenheit und vor allem der Zukunft gegenüber ist, äußerlich gesehen, ein dünnes Büchlein, aber potentiell für uns gerade um der Kirche willen eine Sache von starkem Gewicht, das es nicht zuläßt, auch nur ein Minimum von Loyalität einem faschistischen Régime gegenüber zu betonen. Wir schulden Gehorsam der Obrigkeit gegenüber. Aber die Kirche kann und darf dem Faschismus in seiner unabirrbaren Zwangsläufigkeit das Prädikat der Obrigkeit nicht ohne weiteres zuerkennen.“ Der Zusammenhang der Verweigerung gegenüber einem totalitären Regime mit einer dezidiert kirchlich-theologischen Position tritt hier deutlich hervor. In einem Brief an Barth vom 4. Dezember 1933, schon aus der Schweiz nach Bonn geschickt, verstärkte Schmidt dessen Kritik an dem von Martin Niemöller gegründeten Pfarrernotbund. Trotz „aller Betonung von Lehre und Bekenntnis“ verstecke sich da eine Mitarbeit mit dem herrschenden System „hinter, besser: in der üblichen reichsdeutschen nationalliberalen oder auch neukonservativen Bürgerlichkeit“. Er exemplifizierte das an der eigenen Erfahrung: „Konkret-persönlich gesprochen […] ist es doch so: keiner von diesen Notbündlern denkt etwa daran, zu mir zu halten, der ich zwar Sozialist war und bin, aber damit keine kirchlichen Belange verraten habe […]. Im Gegenteil: ,man‘ wird sich in strengster ,Vaterlandsliebe‘, besser: ,Bürgerlichkeit‘ von mir distanzieren und sich mit den NSDAP- und sogar mit den DC-Leuten immer wieder solidarisch fühlen.“ Im selben Brief vermerkte Schmidt: „[…] Zu ,Pazifismus‘, ,Demokratie‘ und auch ,Sozialismus‘ hat die Kirche Jesu Christi eine stärkere Affinität als zu ,Militarismus‘, ,Staatsomnipotenz‘ usw. Das Betonen solcher Affinität zu profanen Entsprechungen ist keine theologia naturalis, sondern ein Betonen der Kirche der Völker, aller Völker, ein Betonen der sichtbaren Kirche als des corpus Christi, des fleischgewordenen Gotteswortes.“3 Schmidts Bereitschaft, politisch aktiv zu werden, lag auch darin begründet, dass er glaubte, dem totalitären Staat gegenüber sei auch nicht die Spur von Loyalität erlaubt. Barth dagegen halte – so Schmidt in einem Brief vom 20. April – „offenbar das, was jetzt bei uns geschieht, für ein Hagelwetter, in das man nicht gerade hineinrennen soll. […] M.E. ist schon recht viel, was gar nicht mehr gut zu 3
Angesichts dieser Selbstaussagen scheint das Urteil Andreas Mühlings, Schmidt sei „politisch stets ein Liberaler“ gewesen, der „auch in der SPD seine liberalen Grundüberzeugungen nicht auf[gab]“, nicht ganz zutreffend. Angemessener ist Schmidt politisch wohl als liberaler Sozialdemokrat zu bezeichnen. Vgl. Mühling, Andreas: Karl Ludwig Schmidt. „Und Wissenschaft ist Leben“, Berlin und New York 1997, S. 31.
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machen ist, gründlich verhagelt worden.“ Schmidt warf Barth in einem Brief vom 15. April vor, „dass Sie […] gegenüber dem neuen Kurs etwas verharmlosen, was nie und nimmer eine Verharmlosung verträgt, nämlich den Faschismus“. Für sich selbst stellte er im Brief vom 24.–25. April kategorisch fest: „Eine Loyalitätserklärung auch nur bescheidensten Ausmaßes kann ich einem faschistischen Régime gegenüber nicht geben.“ Im letzten Brief Schmidts an Barth aus dem Jahr 1933 vom 28. Dezember griff er diese Thematik noch einmal im Widerspruch gegen die von Barth gemachte Aussage auf: „Ich widerstehe einer heute beim Nationalsozialismus ihre Zuflucht suchenden Theologie, nicht der nationalsozialistischen Staats- und Gesellschaftsordnung.“4 Schmidt wandte sich vehement gegen die verneinte Aussage: „Dieser Ihr Satz ist m.E. theologisch und d.h. kirchlich falsch und als von einem Mitglied der SPD, aus der ja gerade Sie in eigener Weise nicht ausgetreten sind, gesprochen peinlich. Ein Theologe qua Beauftragter der Kirche Jesu Christi […] kann und darf nicht sagen, daß er der ,nationalsozialistischen Staats- und Gesellschaftsordnung nicht widerstehe‘. Der ganz eindeutige, durch keine Dialektik aufzuhebende Grund für die Falschheit Ihres genannten Satzes und Ihrer im Bereich der großen ,Gleichschaltung‘ abrutschenden Haltung liegt darin, dass es […] zum Wesen der ,nationalsozialistischen Staats- und Gesellschaftsordnung‘ gehört hat und weiter gehört, dass sie nur eine solche Theologie und Kirche kennt, die eben bei ihr ,ihre Zuflucht sucht‘.“ Deshalb war für Schmidt gerade auch politischer Widerstand gegen den Faschismus theologisch geboten.5 Die im ersten Drittel des Jahres 1933 gemachten Erfahrungen und die dabei gewonnenen Einsichten brachten Schmidt schon im April dazu, eine Bekenntniskirche und die Einrichtung kirchlicher Fakultäten ins Auge zu fassen. Aus einer Kirche, „deren ,Bekenntnis‘ nur das Volkstum ist“, schrieb er am 24.–25. April an Barth, müsse man „austreten, womit man dann dem Faschismus in sehr eindeutiger Weise den Kampf ansagt, obwohl er das Régime übernommen hat. Ich hoffe von Herzen, dass Sie und ich uns trotz unsres notorischen Dissensus demnächst unterhalten über die jetzt akute Frage der Bekenntniskirche, von der aus allein noch eine Möglichkeit besteht, der drohenden Gleichschaltung und dem omnipotenten Staat etwas Wirkliches und Wirksames entgegenzusetzen. […] Solange es für mich in Deutschland Tag ist, werde ich hier nach Kräften mitarbeiten. Ich sehe mit Entsetzen, wessen die Deutschen fähig sind.“ Gegen Ende dieses Briefes sieht er sich „bestätigt in meinem alten Plan, um der recht verstandenen Freiheit der Theologie willen, die nun vom alles fressenden Staat bedroht ist, kirchliche Fakultäten einzurichten“.
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Barth, Karl: Die Kirche Jesu Christi. Theologische Existenz heute 5, München 1933, S. 8. Auf diesen Brief Schmidts gibt es keine unmittelbare schriftliche Antwort Barths. Sie haben sich kurz danach getroffen und sind ohne Übereinstimmung auseinander gegangen, woran Barth im Brief vom 3. Februar 1934 an Schmidt erinnert. Für ihn hatte der Widerstand gegen Hitler die Gestalt des Widerstands gegen die Deutschen Christen, wie er rückblickend in einem Brief an Schmidt vom 3. Juli 1943 ausführte. Es bleibt allerdings die Frage, warum er ausdrücklich formulieren musste, „nicht der nationalsozialistischen Staats- und Gesellschaftsordnung“ zu widerstehen.
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Mit der Wahl in die Bonner Stadtverordnetenversammlung wurde Schmidt sofort zur Zielscheibe heftiger Angriffe, vor allem vonseiten der Deutschen Christen. Das sei an zwei Beispielen verdeutlicht. Während Schmidt an Examensprüfungen in Koblenz teilnahm, schickte die nationalsozialistisch geleitete Fachschaft ihren Vorsitzenden zu ihm mit der Aufforderung, sein Mandat niederzulegen, da es eine „Provokation der breiten kirchlichen Öffentlichkeit“ darstelle. Für die niederrheinische Predigerkonferenz hatte Schmidt einen Vortrag zugesagt über das Thema: „Das Wort und die Wörter in der Bibel“. NSDAP-Pfarrer drohten im Vorfeld, ihn nicht reden zu lassen, woraufhin der Vorstand die Veranstaltung absagte. Das gewonnene Stadtverordnetenmandat erwies sich alsbald als perspektivlos. Die neuen Machthaber dachten nicht daran, sich an parlamentarische Regeln zu halten. Durch Ausschluss von relevanter Ausschussarbeit wurden SPD-Stadtverordnete von der politischen Mitarbeit faktisch ferngehalten, woraufhin Schmidt sein Mandat am 21. April niederlegte. Im März und April 1933 rechneten sowohl Schmidt als auch Barth mit ihrer Entlassung.6 In dieser Situation versuchte Schmidt, ein gemeinsames Vorgehen von Professoren, die der SPD angehörten, zu erreichen. In einem Brief vom 26. März teilte er Barth mit, dass er sich mit Tillich „in dem schönen Weinnest Aßmannshausen“ getroffen habe. „Er vertritt die These, daß unsereiner um seines Professorenberufs willen doch wohl die SPD aufgeben müsse. U.a. begründete er das damit, daß die SPD-Leitung selbst das wünsche!!!“ Schmidt bezeichnete das als „nicht maßgebend“. „Bei den anderen ,Betroffenen‘ herrscht offenbar eine richtige Panik-Stimmung.“ Im selben Brief hielt er es für „gut, wenn noch vor Ostern eine Zusammenkunft der Betroffenen wäre, am besten in Frankfurt/Main. Da dürfen Sie nicht fehlen.“ Zwei Tage später schrieb er an Barth aus Jena und schilderte die dortige Situation: „In Thüringen darf kein Beamter der SPD angehören. Daraufhin hat die Thüringer SPD die Genossen an der Universität Jena – ausgeschlossen. Die Genossen von der sog. universitas litterarum fügen sich. Nur der Ordinarius für Statistik Hemsberg macht das nicht mit. Ich besuche den Mann heute nachmittag.“ Anschließend war Schmidt in Halle, danach in Berlin. Von dort fasste er an Barth am 10. April die „Summa“ seiner Gespräche zusammen: „[…] die allgemeine Lage ist so eindeutig, daß die besondere Lage für unsereiner automatisch eindeutig ist.“ An ein Treffen der „Betroffenen“ vor Ostern war offenbar nicht mehr zu denken. So wollte Schmidt wenigstens mit Barth für Bonn eine Übereinkunft erreichen. Zu diesem Zeitpunkt wusste er noch nicht, dass Barth bereits Anfang April im Blick auf seine Person einen genialen Alleingang unternommen hatte mit einem noch genauer zu besprechenden Brief an den NS-Kultusminister, Bernhard Rust. Davon erfuhr Schmidt wenig später in Berlin durch seinen Lehrer Deissmann, der Verbindungen zum Ministerium hatte und von einer wahrscheinlich positiven Antwort auf Barths Brief zu berichten wusste. Kurz danach bekam Schmidt 6
Nach den Lebenserinnerungen Hölschers rechnete Schmidt auch mit seiner Festnahme: „Im März 1933 ist er für eine Reihe von Tagen, als die Polizei ihn in seiner Wohnung mehrfach festzunehmen suchte, zu mir gegangen und hat sich da verborgen gehalten; am 15/16 März schrieb er ins Gästebuch ,Sicher vor Nachstellungen in Bonn‘“ (Aus meinem Leben, S. 661 [neue Folge]).
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von Barth auch eine Kopie des Briefes an den Minister. Es scheint ihm erst allmählich klar geworden zu sein, dass sich ein gemeinsames Vorgehen durch Barths Brief erledigt hatte. So äußerte er sich am 10. April gegenüber Barth: „Ich schrieb Ihnen schon einige Male, daß ich gerne mit Ihnen einen gemeinsamen modus procedendi überlegen möchte. Durch Ihren Brief an den kommissarischen Kultusminister Rust, den Sie für sich allein in eigenster Sache geschrieben haben, ist diese Gemeinsamkeit zum mindesten in Frage gestellt. Sie betonen Rust gegenüber, daß Sie sich an den politischen Kämpfen nicht beteiligt hätten. Da ich das in bestimmten Zusammenhängen, wenn die SPD oder ein ähnlicher Verband mir eine Aufgabe übertrug, getan habe […], bin ich durch ein solches Diktum Ihrerseits ganz ordentlich – abgeseilt.“ Schmidt fühlte die von ihm für selbstverständlich gehaltene Solidarität durch Barth verletzt. Barths Antwort vom 18. April konnte Schmidt nicht überzeugen. Barth behauptete, er habe Schmidt gar nicht „abseilen“ können, weil sie je auf einen anderen Berg gestiegen, also gar nicht zusammengeseilt gewesen seien. Das war angesichts der gemeinsamen SPD-Mitgliedschaft und der damit gegebenen gemeinsamen Bedrohung an derselben Fakultät wenig überzeugend. Schmidt betonte in seinen Briefen an Barth vom 20. und 24.–25. April die Selbstverständlichkeit der Solidarität, meinte aber schließlich, es käme ihm „nicht darauf an, Sie auch nur von ferne um eine Aktion der Solidarität zu bitten. Das ist vorbei. Gegenüber einem Einspänner, dessen besondere Kraft zu verkennen mir nicht einfällt, muß ich mich darauf beschränken, meinen Widerspruch zu den Akten zu geben.“ Schmidt hatte die Größe, im weiteren Verlauf des Jahres die außerordentliche Bedeutung Barths für den Widerstand in der Kirche zu bemerken und anzuerkennen. Am 10. Oktober schrieb er ihm: „Sie wissen ja, daß ich in puncto Solidarität immer etwas anderer Meinung war als Sie. Aber ich sehe nun doch ein, daß es seinen rechten Sinn hat, wenn Sie ausharren, so lange es eben geht.“ Und am 4. Dezember merkte er an: „Jeder Tag, den Sie noch in Deutschland sind, ist ein Gewinn für Theologie und Kirche und letztlich auch das deutsche Volk“. Im Zusammenhang mit dem Solidaritätsproblem sei noch angefügt, dass Schmidt im Brief vom 24.–25. April eine wichtige Frage stellte, die nicht beantwortet wurde: „Im übrigen aber sollten wir Universitätsprofessoren uns aber allen Ernstes überlegen, ob wir uns nicht mit den jüdischen Kollegen, die nun als Juden abgesetzt werden, solidarisch erklären müssen.“ Die fortgesetzten Attacken gegen Schmidt führten dazu, dass er am 29. April in einem Telegramm um Beurlaubung für das Sommersemester bat, die noch am selben Tag genehmigt wurde. Er hoffte, dadurch aus der Schusslinie zu kommen und im Wintersemester wieder lehren zu können. Die Beurlaubung sollte offiziell der wissenschaftlichen Arbeit dienen. An sie hat er sich allerdings nicht begeben. In Köln hatte er „einige Sitzungen zusammen mit SPD-Genossen und Gewerkschaftlern“. Dann reiste er in politischer Aktivität „fünf Wochen lang in Deutschland herum“ und nahm dabei in Berlin „an einer geheimen Zusammenkunft der religiösen Sozialisten“ teil.7 Gegenüber dem wohl wiederholten Rat Barths, einfach theologisch zu arbeiten, hatte er diesem bereits am 12. Februar geschrieben, 7
Daran erinnert Schmidt in einem Brief an Barth vom 13. 7. 1943.
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was offenbar für ihn jetzt umso mehr galt: „Ist es nicht so, dass man wirklich nicht recht arbeiten, ich meine: in äußerer und innerer Ruhe arbeiten kann, wenn vorm Haus Leute stehen, die Bomben aufs Dach werfen?“ Eine weitere tiefe Enttäuschung hinsichtlich verweigerter Solidarität musste Schmidt Mitte Juni erleben. Am 15. Juni nahm er in einer Fakultätssitzung Stellung zu den – so das Sitzungsprotokoll – „über ihn verbreiteten Gerüchten und gegen ihn erhobene Vorwürfe“. Anschließend verließ er als Beurlaubter das Sitzungszimmer. Ein von Wolf eingebrachter Antrag intendierte das einmütige Votum der Fakultät zur derzeitigen Zusammensetzung ihrer Dozentenschaft, wobei die Zugehörigkeit von Karl Ludwig Schmidt ausdrücklich erwähnt und die gegen ihn erhobenen Vorwürfe als haltlos zurückgewiesen wurden. Die Aussprache über diesen Antrag muss gezeigt haben, dass er keine Mehrheit finden würde, sodass es nicht einmal zu einer Abstimmung kam.8 Noch einmal bitter war für Schmidt, dass er anschließend auch von der Rheinischen Kirche faktisch fallen gelassen wurde, als ihm mit Schreiben vom 30. Juni förmlich mitgeteilt wurde, seine Beteiligung am zweiten theologischen Examen erscheine „untunlich“. Anfang August 1933 wurden alle Beamten aufgefordert, binnen drei Tagen zu erklären, dass sie alle „Beziehungen zur landesverräterischen SPD und ihren Hilfs- und Ersatzorganisationen“ gelöst hätten. Schmidt kam dem mit der Erklärung nach: „Ich habe jegliche Beziehungen zur SPD und ihren Hilfs- und Ersatzorganisationen gelöst.“ Aber das konnte ihn nicht mehr vor der Entlassung bewahren. Von ihr erfuhr er am 21. September durch einen Telefonanruf seiner Frau, als er sich bei seiner Schwester in Frankfurt aufhielt. Er war darauf eingestellt. Drei Tage später berichtete er Barth: „Meine Bücher und Zeitschriften und Akten sind tadellos geordnet. Wochenlang ist daran mit Hilfe von Freunden gearbeitet worden. Sie würden staunen über den Erfolg“. Im Brief vom 10. Oktober an Barth rühmte er die Hilfe, die seiner Familie zuteil wurde: „Die Leute, die nicht von der Zunft der Redenden und Schreibenden sind, helfen einem in rührender Weise, auch wenn sie selbst in ganz anderer Not sitzen als unsereiner. Gestern brachte die SPD-Frau Seifert ein respektables Pilzgericht. Und heute dasselbe ein KPD-Mann – der Mann unserer früheren Aufwartefrau.“
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Vgl. zu diesen Vorgängen neben dem Sitzungsprotokoll Mühling, Andreas: Karl Ludwig Schmidt. „Und Wissenschaft ist Leben“, Berlin und New York 1997, S. 152–156 und 162–163, und Faulenbach, Heiner: Heinrich Josef Oberheids theologisches Examen im Jahr 1932 und das Geschick seines Prüfers Karl Ludwig Schmidt im Jahr 1933, in: Gutheil, Jörn-Erik und Zoske, Sabine (Hg.): „Daß unsere Augen aufgetan werden …“ Festschrift Hermann Dembowski, Frankfurt a.M. u.a. 1989, S. 57–97, hier S. 79–81. Die Aussage Faulenbachs, nur Wolf sei laut Protokollbuch für Schmidt eingetreten (Anm. 80 auf S. 95), von Mühling auf S. 155 wiederholt, ist aus dem Protokollbuch, das lediglich das Faktum der Aussprache vermerkt, nicht zu belegen. Was sich im Einzelnen abgespielt hat, lässt sich nicht rekonstruieren. Es ist aber vorauszusetzen, dass Barth und Hölscher mit Wolf am selben Strang zogen. Denn in einem bitteren Brief an Schmidt-Japing vom 30. 9. 1933 nannte Schmidt selbst Barth, Hölscher und Wolf als seine Unterstützer in dieser Sache und auf der anderen Seite Pfennigsdorf, Weber, Goeters, Horst und den Adressaten des Briefes (abgedruckt bei Mühling, S. 162 f.). Damit sind alle Personen genannt, die laut Protokoll bei der Fakultätssitzung am 15. Juni anwesend waren.
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Sich als Mann der Kirche bewähren – Karl Barth 1933 Nachdem Karl Barth als Pfarrer in Safenwil von 1915 bis zu seiner Übersiedlung nach Deutschland 1921 Mitglied der Schweizer sozialdemokratischen Partei gewesen war, trat er der SPD erst in Bonn am 1. Mai 1931 bei – aus Protest gegen den sich immer stärker zeigenden politischen Ungeist. In einem Brief an Paul Tillich vom 2. April 1933 begründete er diesen Eintritt. Negativ hielt er fest: „Die Zugehörigkeit zur S.P.D. bedeutet für mich nicht das Bekenntnis zur Idee und Weltanschauung des Sozialismus.“ Positiv stellte er heraus: „Die Zugehörigkeit zur S.P.D. bedeutet für mich schlechterdings eine praktische politische Entscheidung. Vor die verschiedenen Möglichkeiten gestellt, die der Mensch in dieser Hinsicht hat, halte ich es rebus hic et nunc sic stantibus für richtig, die Partei 1. der Arbeiterklasse, 2. der Demokratie, 3. des Nicht-Militarismus und 4. einer bewußten, aber verständigen Bejahung des deutschen Volkes und Staates zu ergreifen. Diese Erfordernisse einer gesunden Politik sehe ich in der S.P.D und nur in ihr erfüllt. Und weil ich die Verantwortung für die Existenz dieser Partei nicht Anderen überlassen, sondern selber mitübernehmen will, darum bin ich ihr Mitglied. Ich könnte diese Entscheidung grundsätzlich auch in noch aktiveren Formen betätigen. Bis jetzt meinte ich, dazu weder das Zeug noch die Zeit noch den Ruf zu haben, und ich vermute bestimmt, daß es auch in Zukunft dabei bleiben wird. Ich könnte mich freilich auch nicht darauf festlegen, daß es durchaus dabei bleiben muß.“ Obwohl Barth die politische Situation schon 1931 als bedrohlich einschätzte, schickte er unmittelbar nach der „Machtergreifung“ beruhigende Statements in die Schweiz. So meinte er am Abend des 30. Januar, Hitler „würde, wenn er mehr Verstand hätte, heute Nacht gewiß sehr unruhig schlafen. […] Seid jedenfalls auch in dieser Hinsicht unsertwegen ruhig und unbesorgt. Die Nazis werden mir nichts tun.“ Diese Einschätzung änderte sich sehr bald. Dem Generalsuperintendenten Otto Dibelius, der die Predigt im Gottesdienst zur Eröffnung des Reichstags in Potsdam halten sollte, wies er in einem Brief vom 17. März „im Namen der heute mundtot Gemachten“ auf eine Situation hin, die „eindeutig unter dem Aspekt von Gewaltherrschaft und Unterdrückung steht“. Nach ihm befand sich, wie er in weiteren Briefen bemerkte, Deutschland „jetzt in einem Fiebertraum“. Er sprach vom „völligen Irrsinn der politischen Verhältnisse in Deutschland“, sah „eine Clique von offenkundig Wahnsinnigen am Regimente“, klagte über das notorische Schweigen der Kirche „zu all den Brutalitäten, Kindereien und Geistlosigkeiten, deren Geschehen wir doch wirklich ohne Unterschied der Parteibrille jeden Tag jetzt konstatieren müssen“, fragte: „,Rechtsstaat‘, ,Menschenwürde‘, ,Gedankenfreiheit‘, ,Post- und Telephongeheimnis‘, Möglichkeit eines aufrichtigen Wortes vor Unbekannten – du liebe Zeit, wo ist das Alles hingekommen?“ Während seines Aufenthalts in der Schweiz in den Semesterferien packte Barth sozusagen den Stier bei den Hörnern und schrieb, wie bereits erwähnt, am 2. April in eigener Sache offensiv an den kommissarischen preußischen Kultusminister, Bernhard Rust. Unter Hinweis auf Nachrichten über die Verhaftung von Universitätsrektoren fragte er, „ob es der Absicht der Regierung entsprechen möchte, wenn ich meine Arbeit in Bonn zu Beginn des Sommersemesters wie gewohnt
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aufnehme und fortsetze“. Er bekannte offen: „Ich gehöre aus praktisch-politischen Gründen der Sozialdemokratischen Partei an.“ Er fügte hinzu: „Mit meiner Lehrtätigkeit hat dies insofern nichts zu tun, als diese allein durch das Bekenntnis der evangelischen Kirche bestimmt und gebunden ist“ und versicherte, „daß ich meinen theologischen Auftrag von jetzt an ebensowenig zur Bekämpfung des neuen politischen Systems wie bisher zur Unterstützung des alten mißbrauchen würde“. Darüber hinaus gab er die hintergründig-ironische Loyalitätsbekundung ab, „daß ich der neuen Staatsform gegenüber auch als Bürger dieselbe Loyalität bewähren würde, die ich während der 12 Jahre, die ich an preußischen Universitäten zugebracht habe, meine politisch rechtsstehenden Kollegen der bisherigen Staatsform gegenüber bewähren sah.“ Schließlich beteuerte er: „Ich könnte aber auch eine Aufforderung zum Austritt aus der S.P.D. als Bedingung der Fortsetzung meiner Lehrtätigkeit nicht annehmen, weil ich von der Verleugnung meiner politischen Gesinnung bzw. von der Unterlassung ihrer offenen Kenntlichmachung, die dieser Schritt bedeuten würde, weder für meine Zuhörer, noch für die Kirche, noch auch für das deutsche Volk etwas Gutes erwarten könnte.“ In der Antwort des Ministeriums vom 24. April wurde Barth beschieden, der Minister beabsichtige nicht, „die Vertreter der einen oder andern Richtung in ihrer Lehrtätigkeit in irgend einer Weise“ zu beschränken. Auf diesen Briefwechsel konnte Barth verweisen, als im August die Beamten aufgefordert wurden, sich von der „landesverräterischen SPD“ loszusagen. Obwohl sein Verbleib auf dem Bonner Lehrstuhl so etwas abgesichert war, machte sich Barth keine Illusionen darüber, dass seine Existenz gefährdet blieb. Seine Devise lautete, „dass wir uns bei aller politischen Erregung […] als Männer der Kirche betätigen und bewähren. Die Nazis müssen unzweideutig im Unrecht sein, wenn sie uns aus politischen Gründen an den Kragen gehen“.9 Er wollte „nur solange in Bonn bleiben, als ich meine dortige Tätigkeit ohne alle und jede Gleichschaltung für sinnvoll halten kann“.10 In dem Schreiben an Georg Merz, aus dem dieses Zitat stammt, ließ Barth einen deutlichen Unterschied zu Karl Ludwig Schmidt erkennen. Er betonte, er werde sich „nicht dem neuen politischen System – wohl aber dem System einer besonderen sachlichen Bindung der Kirche an dieses System direkt und indirekt bestimmt widersetzen“. Im Blick auf die Ende Juni erfolgte Einsetzung August Jägers als Staatskommissar für die evangelische Kirche Preußens stellte er in einem weiteren Brief an Minister Rust vom 1. Juli fest: „[…] die Staatsregierung hat sich eine bestimmte Theologie, nämlich die der sog. ,Deutschen Christen‘ zu eigen gemacht. Wenn dem so ist, so ist von jetzt ab der Widerspruch gegen die ,Deutschen Christen‘ in Gefahr, als Widerspruch gegen die Staatsregierung verstanden zu werden.“ Demgegenüber berief er sich auf die ihm gegebene Erklärung vom April und hielt es für geboten, „innerhalb des theologischen Bereichs positiv und kritisch nach wie vor so vorzugehen, als ob es daselbst keine von der Staatsregierung bevorzugte und gewünschte theologische Richtung gebe“.
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So in einem Brief an Fritz Lieb vom 10. 4. 1933. So in einem Brief an Georg Merz vom 21. 4. 1933.
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Barth wollte sich also dezidiert als „Mann der Kirche“ bewähren, sich ganz und gar auf die Theologie konzentrieren und nicht Politik treiben. Es versteht sich aber, dass sich eine derartige Konzentration, die sich um der eigenen Sache willen jedweder Gleichschaltung entzog und widersetzte, im Kontext des Jahres 1933 ganz von selbst auf indirekte Weise politisch auswirkte. Das zeigte sich besonders klar in Barths Schrift „Theologische Existenz heute!“, die am 1. Juli 1933 erschien und bis zu ihrer Beschlagnahme im Juli 1934 eine Gesamtauflage von 37 000 Exemplaren erreichte. Barth war von verschiedenen Seiten bedrängt worden, ein „Wort zur Lage“ zu sprechen. Er jedoch wollte „zur Sache“ reden und tat es in der genannten Schrift. An ihrem Beginn bemerkte er, „das Entscheidende“, was er zu sagen habe, bestünde „sehr unaktuell und ungreifbar einfach darin […], daß ich mich bemühe, hier in Bonn mit meinen Studenten in Vorlesungen und Übungen nach wie vor und als wäre nichts geschehen – vielleicht in leise erhöhtem Ton, aber ohne direkte Bezugnahmen – Theologie und nur Theologie zu treiben“. Es lohnt sich, den beiden Wendungen „als wäre nichts geschehen“ sowie „Theologie und nur Theologie zu treiben“ näher nachzugehen. Der Halbsatz „als wäre nichts geschehen“ war alles andere als unpolitisch, sondern ein Gegen-Satz zu der Flut kirchlicher Erklärungen aus dem Frühjahr 1933, die die politischen Veränderungen freudig begrüßten.11 Barth bezeichnete das als „sehr befremdlich“ und kritisierte, damit sei sich die Kirche „wieder einmal untreu“ geworden, indem sie „nicht bei ihrem Thema blieb“. Bei dem Halbsatz „als wäre nichts geschehen“ handelte es sich also um einen scharfen Widerspruch dazu, dass Theologen ganz untheologisch „zur Lage“ redeten, sich dabei von dieser „Lage“ die Sicht auf die eigene Sache vernebeln ließen und diese so verrieten, wobei sie sich zudem noch über die „Lage“ täuschten. Die negative Wendung „als wäre nichts geschehen“ ging einher mit der positiven Aussage, „Theologie und nur Theologie zu treiben“. Die Konzentration auf das theologische Arbeiten hatte Barth schon in vorangegangenen brieflichen Äußerungen angedeutet, in denen er sich dankbar zeigte, „Theologe zu sein und mit politisch so wertbeständigen Dingen zu tun zu haben“. In einem Brief vom 24. Mai an den befreundeten Philosophen Heinrich Scholz stellte er fest: „Ach, wie lernt man heute die Menschen kennen, auch und gerade auf Deutschlands Universitäten! Und wie schön ist man nun erst recht genötigt, sich auf das Wesentliche zu besinnen und zu konzentrieren! Und wie automatisch angehalten, den Rücken nun erst recht steif zu halten!“ Was es in der Situation von 1933 hieß, „Theologie und nur Theologie zu treiben“, wurde von Barth in seiner Schrift gleich auf den ersten Seiten in großer Klarheit und auch in rhetorischer Prägnanz entfaltet. Fünfmal begann er mit der Wendung: „In der Kirche ist man sich einig darüber, daß“ und stellte jeweils Aspekte des „in den heiligen Schriften Alten und Neuen Testaments“ bezeugten Wortes Gottes als des allein Bindenden und Verbindlichen heraus und schloss diesen Abschnitt mit dem Fazit: „Darüber ist man sich in der Kirche einig oder man ist nicht in der Kirche.“ Danach benannte er zweimal, worüber „wir als Predi11
In der Neuausgabe der „Theologischen Existenz heute!“ hat Hinrich Stoevesandt diese Erklärungen aufgezählt; vgl. Barth, Karl: Theologische Existenz heute! (1933), neu hg. u. eingeleitet v. Hinrich Stoevesandt, München 1984, S. 101, Anm. 26, und S. 103, Anm. 28.
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ger und Lehrer der Kirche“ einig sind, nämlich diesem Wort Gottes zu dienen und daneben „kein Zweites [zu] kennen, sondern alles Zweite und Dritte, das uns auch bewegen mag und muß, in diesem Ersten eingeschlossen und aufgehoben, von ihm her gerichtet und gesegnet [zu] sehen“. Auch hier zog er das Fazit: „Darüber sind wir uns einig oder wir sind nicht Prediger und Lehrer der Kirche.“ Demgegenüber kennzeichnete er in fünf Dass-Sätzen als „die kräftige, in allen möglichen Gestalten auftretende Versuchung dieser Zeit“, die alleinige Bindung an das Wort Gottes und das alleinige Vertrauen auf es aufzugeben und sich „unter dem stürmischen Eindruck gewisser ,Mächte, Fürstentümer und Gewalten‘“12 von „der Macht anderer Ansprüche“ imponieren oder auch einschüchtern zu lassen. Indem Barth von solcher Grundlegung aus „Theologie und nur Theologie“ trieb, immunisierte er gegen die Ansprüche des totalen Staates und wirkte so politisch. Dagegen warf er dem Pfarrernotbund in einem Brief an Pfarrer Gerhard Jacobi vom 23. Dezember 1933 „Kirchenpolitik in einem üblen Sinn des Begriffs“ vor: „Es wird da immer wieder geschielt nach dem Wohlwollen der Nazis; man will ,kirchlich handeln‘ – aber man will sich dabei doch immer wieder ein Feigenblatt mit einem Hakenkreuz darauf verschaffen, statt mitten hindurch zu gehen und sich um Kompromittierung und Empfehlung in den Augen von Staat und Partei einen Deubel zu kümmern!“ Dass Barth bereit war, praktisch-politische Konsequenzen aus seiner theologischen Konzentration zu ziehen, sei für das Jahr 1933 an drei Beispielen aufgezeigt. Kurz vor dem 1. Mai waren ihm „böse Dinge“ angedroht worden, „wenn unser Haus morgen nicht beflaggt sei“. Er weigerte sich und brachte aus den folgenden Semesterferien eine Schweizerfahne mit, „zwei Meter lang und breit und wohl geeignet, in der Siebengebirgstraße alle Hakenkreuze zu überstrahlen.“ Eine aggressive Aufforderung, der NS-Volkswohlfahrt beizutreten, wies Barth mit Schreiben vom 20. Oktober brüsk zurück, da es sich bei der NSV um die „Veranstaltung einer politischen Partei“ handele, „der ich nicht angehöre“. Er teilte mit, eine Spende von 50 Reichsmark überwiesen zu haben, da er bereit sei, „auch dem von der N.S. Volkswohlfahrt zu erreichenden Teil des deutschen Volkes zu helfen“. In den ersten Wochen des Wintersemesters wollten nationalsozialistische Studenten mehrfach den „deutschen Gruß“ in Barths Vorlesung einführen, was er jeweils zu verhindern wusste. Am 14. Dezember befahl es ihm der Rektor. Barth teilte ihm am selben Tag schriftlich mit, „daß ich nicht in der Lage bin, den mir erteilten Befehl, betr. die Eröffnung meiner Vorlesung mit dem ,deutschen Gruß‘, auszuführen“, und kündigte eine Beschwerde beim Kultusminister an, die er zwei Tage später schrieb. In ihr bezeichnete er den „deutschen Gruß“ als eine „Symbolhandlung der Anerkennung des Totalitätsanspruchs der Volkseinheit im Sinne des nationalsozialistischen Staats“. In der Theologie gehe es aber „um die Verkündigung des Evangeliums. Auf diese Sache kann sich der Totalitätsanspruch der Volkseinheit nicht beziehen, sondern in ihr findet er seine sinngemäße Grenze, weil er hier auf einen andern, überlegenen Totalitätsanspruch stößt.“ Barth er12
Vgl. die zweite Strophe des Liedes „Jesus Christus herrscht als König“; Evangelisches Gesangbuch Nr. 123.
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Klaus Wengst
klärte sein Verhalten jedoch nicht als für andere verbindlich. Seinem Sohn Markus, der kurz vor dem Abitur stand, riet er in einem Brief vom 11. September aus der Schweiz nach Bonn: „Hebe du zunächst deine Flosse zu dem bewußten Gruß!“13
Nach Kriegsende: Keine Rückkehr von Barth und Schmidt nach Bonn Die Bonner Evangelisch-Theologische Fakultät war durch Entlassungen, Versetzungen und Neuberufungen bis zur Jahreswende 1935/36 restlos „braun“ geworden. Alle Professoren waren Parteimitglieder – bis auf eine Ausnahme, den Neutestamentler Ethelbert Stauffer, der anstelle Karl Ludwig Schmidts berufen worden war. Stauffer lag als „Deutscher Christ“ aber dennoch „auf Linie“. Als nach Kriegsende das Universitätsleben wieder aufgebaut werden sollte, wurde er für die Evangelisch-Theologische Fakultät als erster Dekan beauftragt. Er war nicht nur der einzige Nicht-Parteigenosse, sondern hatte im Januar 1943 eine Absetzbewegung gemacht, indem er einen öffentlichen Vortrag über „Augustus und Cleopatra“ mit Anspielungen auf die eigene Zeitgeschichte hielt. Das brachte ihm die – folgenlos gebliebene – Aufhebung der Uk-Stellung, ein Vortragsverbot und einen Verweis ein. In 1945/46 geschriebenen Lebensläufen stilisierte er sich daraufhin als Widerständler und Opfer.14 Stauffers Partner für den Wiederaufbau der Fakultät auf Seiten der Rheinischen Kirche war Generalsuperintendent Stoltenhoff, der am 1. Mai 1933 in einem Rundbrief an die rheinischen Pfarrer „die Abwehr der ,bolschewistischen Gefahr‘“ begrüßt und dazu ermuntert hatte, den „nationalen Umbruch“ „von Herzen“ zu bejahen und Kontakte zu den Deutschen Christen aufzunehmen.15 Karl Ludwig Schmidt hatte er noch während dessen Urlaubssemester eiskalt fallen lassen. Das waren nicht gerade gute Voraussetzungen für eine Restitution von Karl Barth und Karl Ludwig Schmidt in Bonn. Als Barth im Sommer 1945 während einer Deutschlandreise auch Bonn besuchte, „bat ihn niemand, an die alte Wirkungsstätte zurückzukehren“. Bemühungen um eine Rückkehr gingen später von Männern der Bekennenden Kirche aus. Sie wurde Barth auch ermöglicht. Er beließ es aber bei zwei Gastsemestern im Sommer 1946 und 1947 und entschied sich um der Weiterarbeit an der „Kirchlichen Dogmatik“ willen für ein Verbleiben in Basel.16 13
14 15 16
Ein wahrgenommenes, aber offen gebliebenes Problem bildete für Barth „die Judenfrage“, die er im Unterschied zur Frage der „natürlichen Theologie“ nicht für ein theologisches Kernproblem hielt. Darauf kann hier aus Raumgründen nicht eingegangen werden. Zu diesem Punkt wäre auch über Schmidt zu handeln. Trotz Befangenheit in traditionellen Denkmustern erwies er sich als offen für das Judentum als ein der christlichen Theologie gestelltes Problem und zeigte als Publizist konkrete Solidarität. Faulenbach, Heiner: Die Evangelisch-Theologische Fakultät Bonn. Sechs Jahrzehnte aus ihrer Geschichte nach 1945, Bonn 2009, S. 482–519. Busch, Eberhard (Hg.): Karl Barth. Briefe des Jahres 1933, Zürich 2004, S. 208. Faulenbach, Heiner: Die Evangelisch-Theologische Fakultät Bonn. Sechs Jahrzehnte aus ihrer Geschichte nach 1945, Bonn 2009, S. 90–97.
Karl Barth und Karl Ludwig Schmidt
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Karl Ludwig Schmidt, der gerne nach Bonn zurückgekehrt wäre, sah sich der eigenartigen Situation gegenüber, dass ausgerechnet derjenige, der seine Stelle eingenommen hatte und sie weiter besetzt hielt, als Dekan vorgab, seine Restitution zu betreiben. Faktisch hintertrieb Stauffer jedoch in Zusammenarbeit mit dem Universitätsrektor Konen, einem „alten Zentrumsmann“, die Wiederherstellung des Rechtszustandes vor 1933, die sein eigenes Abtreten hätte bedeuten müssen. „Als Schmidt Anfang 1947 zu der Meinung kam, dass sich unter dem Einfluss der CDU die Reaktion in Deutschland durchsetzte und Steigbügelhalter wie Nutznießer des Nationalsozialismus im Amt blieben, was für ihn mit Stauffer beispielhaft belegt war, empfand er so große Enttäuschung, dass er weder in Bonn noch sonst in Deutschland einen Lehrstuhl annehmen wollte.“17 So blieb auch er in Basel. Gegenüber dem bis weit in die „Bekennende Kirche“ hinein reichenden Chor derjenigen, die „Deutschlands Erwachen“ 1933 „mit einem freudigen Ja“ begrüßten, waren Karl Barth und Karl Ludwig Schmidt mit ihren Reaktionen und Aktionen in diesem denkwürdigen Jahr zwei gewiss unterschiedlich leuchtende, aber doch in gleicher Weise höchst respektable Gestalten, die es wert sind, auch im Umkreis meines „zeitgeschichtlichen“ Bruders und ihm zu Ehren erinnert zu werden.
Weiterführende Literatur Mühling, Andreas: Karl Ludwig Schmidt. „Und Wissenschaft ist Leben“, Berlin und New York 1997. Busch, Eberhard: Karl Barths Lebenslauf. Nach seinen Briefen und autobiographischen Texten, München 1975. Beintker, Michael u.a. (Hg.): Karl Barth in Deutschland (1921–1935). Aufbruch – Klärung – Widerstand, Zürich 2005. Beintker, Michael u.a. (Hg.): Karl Barth im europäischen Zeitgeschehen (1935–1950). Widerstand – Bewährung – Orientierung, Zürich 2010. Kinzig, Wolfram: Wort Gottes in Trümmern. Karl Barth und die Evangelisch-Theologische Fakultät vor und nach dem Krieg, in: Becker, Thomas (Hg.): Zwischen Diktatur und Neubeginn. Die Universität Bonn im „Dritten Reich“ und in der Nachkriegszeit, Göttingen 2008, S. 23–57. Vielhauer, Philipp: Karl Ludwig Schmidt. 1891–1956, in: Bonner Gelehrte. Beiträge zur Geschichte der Wissenschaft in Bonn. Evangelische Theologie, Bonn 1968, S. 190–214.
Hinweise zu den Quellen Die Quellenlage zu Karl Barth ist ungleich günstiger als die zu Karl Ludwig Schmidt. Ein wichtiger Teil von Barths Korrespondenz liegt innerhalb der Karl-Barth-Gesamtausgabe vor. Sein umfangreicher Nachlass befindet sich in dem nach ihm benannten Archiv in Basel. Dessen Leiter, Dr. Hans-Anton Drewes, danke ich herzlich für mitdenkende Hilfe bei der Bereitstellung von Kopien noch unveröffentlichter Briefe. Einschlägiges Aktenmaterial zu Schmidt habe ich im Universitätsarchiv Bonn eingesehen.
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Faulenbach, Heiner: Die Evangelisch-Theologische Fakultät Bonn. Sechs Jahrzehnte aus ihrer Geschichte nach 1945, Bonn 2009, S. 78–82, das Zitat auf S. 82.
Manfred Kittel
Weimarer Nationalprotestanten in der Gründergeneration von CSU und FDP – Die fränkischen Bauernpolitiker Friedrich Bauereisen (1895–1965) und Konrad Frühwald (1890–1970) Einleitung Wer nach den Ursachen für die erstaunlich erfolgreiche Gründungsgeschichte der zweiten deutschen Demokratie nach 1945/49 sucht, hat neben der Analyse wirtschaftlicher und außenpolitischer Entwicklungen vor allem auch eine, allerdings selten in der notwendigen Deutlichkeit formulierte Frage mentalitäts- und parteiengeschichtlicher Art zu stellen: Es ist die Frage nach der Wandlung des vom 19. Jahrhundert her stark „nationalprotestantisch“1 geprägten, nationalkonservativ oder nationalliberal orientierten evangelischen Bevölkerungsteils, der nach dem Trauma des Versailler Vertrages in den 1920er und 1930er Jahren – oft noch antidemokratisch, monarchistisch und rückwärtsgewandt – mit seiner Anfälligkeit für die NS-Bewegung zum Scheitern der Weimarer Republik beitrug, der nach 1945 freilich in der Bundesrepublik nicht nur quantitativ gegenüber dem Katholizismus an Bedeutung verlor, weil ost- und mitteldeutsche Kernlande der Reformation nunmehr jenseits des Eisernen Vorhangs lagen, sondern auch in einem mühsamen Prozess doch mehr und mehr Anschluss an die neue demokratische Entwicklung fand und den Wiederaufbau und die Westintegration der Bundesrepublik Deutschland durch die Wahl der in Bonn seit 1949 regierenden Parteien CDU, CSU und FDP mit bestimmte. Trotz dieses für die Lernfähigkeit der nationalkonservativ bzw. nationalliberal sozialisierten Protestanten letztlich nicht ungünstigen Befundes ist der nationalprotestantische Traditionsstrang von der parteinäheren CDU/CSU und FDPHistoriographie – aus nachvollziehbaren Gründen – bislang eher stiefmütterlich behandelt worden. Denn in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen, nicht nur, aber bevorzugt zu Wahlkampfzeiten, wird in der politischen Debatte der Bundesrepublik die Frage der Kontinuitätslinien zwischen den „bürgerlichen“ Parteien der Weimarer Zeit und ihren „Nachfolgern“ in der frühen Bundesrepublik aufgeworfen – bis hin zu der These, die „Vorläufer“ von CDU, CSU und FDP trügen Schuld an Hitlers Machtergreifung2. Irreführend ist dies aber schon insofern, als es sich bei diesen Parteien gerade nicht um Wiederauflagen der liberalen und konservativen Weimarer Organisa1 2
Zum Begriff des „Nationalprotestantismus“ vgl. die Ausführungen weiter unten. Vgl. hierzu Kittel, Manfred: Erbschuld aus Weimar? Deutschnationale und Nationalliberale in den bürgerlichen Parteien nach 1945, in: Die politische Meinung 47 (2002), Heft 395, S. 73–77.
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Manfred Kittel
tionen handelte, sondern um Neugründungen. Pate stand dabei nicht zuletzt die am Ende der Weimarer Republik, spätestens aber im Kirchenkampf während des Dritten Reiches gewonnene Erkenntnis, die unheilvolle Zersplitterung der bürgerlichen Kräfte in Protestanten und Katholiken, Deutschnationale Volkspartei (DNVP) und Zentrum bzw. Bayerische Volkspartei (BVP), in Links- und Rechtsliberale – d.h. Deutsche Demokratische Partei (DDP) bzw. Deutsche Volkspartei (DVP) –, in ländlichen und städtischen Mittelstand (Landvolk- bzw. Mittelstandspartei) endlich überwinden zu müssen. Politiker und Wähler von DDP und DVP sammelten sich nach 1945 bekanntlich überwiegend in der FDP, katholische und evangelische Christen mehrheitlich in CDU und CSU, wobei es aber auch manch Weimarer Deutschnationale in die FDP oder ehemalige DVP- und sogar DDPAnhänger in die Unionsparteien verschlug. Versuche, das katholische Zentrum wiederzubeleben, endeten in einer Splitterpartei. Organisationsgeschichtlich gesehen sind pauschale „Vorläuferthesen“ mithin ziemlich abwegig, aber sind sie es auch im Blick auf die personellen Kontinuitäten zwischen dem Nationalkonservativismus bzw. -liberalismus der späten Weimarer und der frühen Bundesrepublik? Schließlich waren mit dem CDU-Bundesinnenminister Robert Lehr (1950–1953)3 oder dem ersten Bundespräsidenten Theodor Heuss (FDP, 1949–1959) führende Politiker von Union und FDP während der Weimarer Zeit bereits in der DNVP bzw. in der DDP tätig gewesen. Und gab es in der zweiten und dritten Reihe der Gründergeneration von CDU, CSU und FDP nicht noch ganz anders belastete Politiker als etwa Heuss, der – wenn auch wohl eher aus Rücksicht auf die Fraktionsmehrheit – 1933 dem Ermächtigungsgesetz Hitlers zugestimmt hatte? Leider sind wirkliche oder vermeintliche personelle Kontinuitätslinien aus besagten Gründen bislang wenig untersucht worden. So konnte Christian F. Trippe noch 1999 in seiner Doktorarbeit zur DNVP konstatieren, die CDU bekenne sich anscheinend „nicht zur deutschnationalen Wurzel ihrer Existenz“, sondern betone „ausschließlich die Traditionen des Zentrums und der Christlich-Sozialen Bewegung“4. Trippe nennt als Beleg hierfür ein Sammelwerk zur CDU in BadenWürttemberg, in dem zwar vieles über das Zentrum und den Christlich-Sozialen Volksdienst erzählt, über die protestantisch-bürgerliche Württembergische Bürgerpartei, die Landesgliederung der DNVP, aber kein Wort verloren würde. Trippes Kritik ist insofern zutreffend, als die verbreitete Bezugnahme auf den Christlich-Sozialen Volksdienst, dem etliche evangelische CDU/CSU-Gründer in der Spätphase der Weimarer Republik angehört hatten, von der Tatsache abzulenken vermag, dass diese Politiker vorher nicht selten für die DNVP engagiert gewesen waren. Andererseits würde Trippe aber irren, wenn er damit andeuten wollte, dies seien alles „ewig Gestrige gewesen“, weil es sich eben – auch oder vielleicht sogar überwiegend – um demokratisch geläuterte Ex-DNVP-Anhänger gehandelt haben kann5 . Um die damit zusammenhängenden Fragen systematischer 3 4 5
Lehr hatte von 1924 bis 1933 als Oberbürgermeister in Düsseldorf amtiert. Trippe, Christian F.: Konservative Verfassungspolitik 1918–1923. Die DNVP als Opposition in Reich und Ländern, Düsseldorf 1995, S. 19. Vgl. auch eine Bemerkung Hans Wollers (Gesellschaft und Politik in der amerikanischen Besatzungszone. Die Region Ansbach und Fürth, München 1986, S. 191), dass
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untersuchen zu können, bedürfte es umfänglicher prosopographischer Studien. Im Folgenden soll aber zumindest exemplarisch für die Geschichtslandschaft des westlichen Mittelfranken anhand zweier markanter Gestalten der regionalen Parteiengeschichte der Versuch einer Annäherung an den Problemkomplex unternommen werden. Westmittelfranken verfügte über eines der dichtesten nationalprotestantischen Milieus in Deutschland und wurde 1932/33 – ähnlich wie etwa das ebenfalls kleinbäuerlich-protestantische Nordhessen oder das gutsherrschaftlich geprägte evangelische Pommern – zu einer Hochburg der NSDAP6 . Jahrhundertelang hatte das Gebiet überwiegend zu den hohenzollerschen Markgrafen von Ansbach und Bayreuth gehört. Lange noch stark von der Landwirtschaft geprägt, zählte sich das Territorium auch mit Stolz zu den Kernlanden der lutherischen Reformation. Bis weit in das 20. Jahrhundert hinein war für die Menschen dort eine hohe Kirchenfrömmigkeit charakteristisch. Die beiden Protagonisten der vorliegenden Untersuchung sind Konrad Frühwald und Friedrich Bauereisen, die sich am Ende der Weimarer Republik als Landbundpolitiker im Spektrum der Deutschnationalen Volkspartei bewegt hatten, nach der Zäsur des „Dritten Reiches“ aber von 1949 bis 1957 bzw. 1961 als Abgeordnete der FDP bzw. der CSU den ersten Deutschen Bundestagen angehörten. Aufgrund der Quellenlage sind auch einer nur exemplarischen Tiefenbohrung Grenzen gesetzt. Man kommt leicht ins Grübeln über die Vergänglichkeit oder zumindest Relativität irdischen Ruhms, wenn man sieht, wie wenig Spuren bisweilen selbst ausgewachsene, regional lange in hohen Ehren stehende Gründerväter unserer Republik in der historischen Literatur hinterlassen haben. Ob dies auch mit dem von Horst Möller immer wieder ironisch beklagten Umstand zu tun hat, dass die Deutschen die Geschichte ihrer Diktaturen mehr liebten als die ihrer Demokratien, sei dahingestellt. Wenn trotz des vor allem im Fall Bauereisen noch sehr ausbaufähigen Forschungsstandes dennoch beide Politiker in den Blick genommen werden konnten, so auch deshalb, weil sie trotz ihrer unterschiedlichen parteipolitischen Verortungen nach 1945 nicht nur weltanschaulich aus demselben Holz geschnitzt, sondern einander auch menschlich ungewöhnlich eng verbunden gewesen waren. Auf der Beerdigung Bauereisens 1965, der, obwohl fünf Jahre jünger als Frühwald, fünf Jahre vor ihm starb, wurden Abschiedsworte Frühwalds verlesen, die in bewegender Weise diese Nähe zwischen dem CSU- und dem FDP-Politiker zum Ausdruck brachten. „Mit Friedrich Bauereisen“, so formulierte es der Freie Demokrat Frühwald, „ist ein Stück meines Lebens von mir gegangen“. Da bereits die Familien der Eltern sich gut kannten, konnte sich zwischen beiden „schon von frühester Jugend an eine enge Freundschaft“ entwickeln. Und wenn sich auch die politischen Wege der beiden Freunde, die vor 1933 parteipolitisch und im kirch-
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manche, aus dem „protestantisch-nationalen Lager“ stammende CSU-Gründer in der Partei eine „gleichsam geläuterte Neuauflage der DNVP“ erblickt hätten. Falter, Jürgen W.: Hitlers Wähler, München 1991, S. 154–161.
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lichen Bereich zusammen tätig gewesen waren, nach 1945 trennten, so seien sie doch „im Ziel immer einig gewesen“.7
Bauernsöhne im nationalprotestantischen Milieu Als Konrad Frühwald am 5. Juni 1890 in Roßbach im Steigerwald, unweit Neustadt an der Aisch, und Friedrich Bauereisen am 9. Dezember 1895 in Ehingen am Fuße des Hesselbergs, nahe der früheren Freien Reichsstadt Dinkelsbühl, in die Welt der kleinen Bauerndörfer Westmittelfrankens hineingeboren wurden, befand sich die parteipolitische Landschaft im Umbruch. Ihre Heimat hatte nach der Einverleibung in das überwiegend katholische Königreich Bayern 1803/06 zunächst in Opposition zum altbayerischen München mehr und mehr eine anti-ultramontane, liberale Identität entwickelt. Dies begann sich aber zu ändern, als im Zeitalter des Kulturkampfs die liberalen Abgeordneten im Landtag Ende der 1860er Jahre daran gingen, auch noch die Konfessionsschule abzuschaffen, und spätestens dann in den 1880er Jahren, als die schweren Agrarkrisen der Bismarckzeit dem reichsweit vorherrschenden Liberalismus angekreidet wurden und als bald darauf die industriefreundliche Handelspolitik des Bismarcknachfolgers Caprivi, jenes Kanzlers „ohne Ar und Halm“, die agrarische Mobilisierung weiter verstärkte. Über neugegründete Bauernvereine, die dem 1893 in Berlin entstehenden, ostelbisch dominierten Bund der Landwirte weltanschaulich eng verbunden waren, erfolgte eine politische Umorientierung. Deren Richtung gab u.a. die schon früher, 1873, im westmittelfränkischen Gunzenhausen unter maßgeblicher Beteiligung „neuorthodoxer“ lutherischer Pfarrer gegründete Nationalkonservative Partei (NKP) vor. Während sich in den kleinen Städten der Region die Liberalen in den Jahren bis zum Ersten Weltkrieg noch einigermaßen behaupten konnten, entwickelten sich die ländlichen Bezirke mit höchster (evangelischer) Kirchlichkeit und größtem Agraranteil zu Bastionen der (auf Reichsebene mit den Deutschkonservativen verbündeten) NKP. Konservative Kandidaten vermochten dort bei Wahlen bis zu 80 oder 90 Prozent der Stimmen zu gewinnen. Die politische Mentalität, die der Entwicklung dieser regionalen Parteienlandschaft zugrunde lag, lässt sich auf den Begriff des Nationalprotestantismus bringen, eines „Syndroms“8 , das im evangelischen Deutschland während des 19. Jahrhunderts durch die gleichzeitige „Sakralisierung des Nationalen“ und die „Nationalisierung des Religiösen“ wie in einem System kommunizierender Röhren entstanden war – unter maßgeblicher Beteiligung des evangelischen Pfarrhauses, das diese Einstellungen bis in die entlegensten Dörfer der Agrarprovinz zu 7
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Fränkische Landeszeitung (Dinkelsbühl Stadt und Land) vom 19. 1. 1965, S. 8. Der Nachruf ist auch insofern besonders bemerkenswert, als Bauereisen 1949 nicht in seiner eigentlichen Dinkelsbühler Heimat kandidiert hatte, sondern von der CSU gezielt in dem weiter nördlich gelegenen damaligen Bundestagswahlkreis Ansbach/Rothenburg/Uffenheim/Feuchtwangen aufgestellt worden war, weil man – zurecht – nur ihm zutraute, gegen den dortigen FDP-Direktkandidaten Frühwald zu gewinnen. Wehler, Hans-Ulrich: Deutsche Gesellschaftsgeschichte 1914–1949. Vom Beginn des ersten Weltkriegs bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten, München 2003, S. 799.
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popularisieren half. Zu den Grundelementen der nationalprotestantischen Mentalität zählten die vorbehaltlose Bejahung der auf den Hohenzollernstaat von 1871 fixierten Reichsidee („Heiliges Evangelisches Reich Deutscher Nation“), die Ablehnung von Liberalismus und Demokratie als „westlichen“ Fehlprodukten sowie ein Antisemitismus, der sich gleichermaßen aus alten „christlichen“ Ressentiments gegen das „Volk der Gottesmörder“ speiste wie aus schlechten Erfahrungen mit Landhändlern, die in manchen Gegenden ganz überwiegend der jüdischen Konfession angehörten. Hierfür symptomatisch war die führende Rolle eines nationalkonservativen Pfarrers bei der Gründung der ersten Raiffeisenschen Darlehenskassenvereine in Westmittelfranken (1884), die das Ziel hatte, verschuldete Bauern „allmählich aus den Händen der [jüdischen] Wucherer“ zu befreien9 . Auch in den bäuerlichen Elternhäusern von Bauereisen und Frühwald wurde – dies lässt sich auf Grundlage der vorliegenden Indizien mit ziemlicher Sicherheit sagen – im Großen und Ganzen nationalprotestantisch gedacht. Bereits der Großvater Bauereisens hatte 1878 einen Aufruf für den nationalkonservativen Reichstagskandidaten August Emil Luthardt unterzeichnet, „weil wir conservativ sind, und Obrigkeit und Freiheit, Recht und Glauben, Wohlstand und gute Sitte des deutschen Volkes erhalten und wieder gebracht wissen wollen.“10 Der ebenfalls politisch aktive Vater Bauereisens, ein mittelgroßer Landwirt und Ziegeleibesitzer, 1912 zum Bürgermeister von Ehingen gewählt, war Rechner und Kreisvorsitzender der Raiffeisengenossenschaft, Mitglied der evangelischen Landessynode in Bayern und nach 1918 als Vertreter des deutschnational orientierten Landbunds im Kreistag von Mittelfranken auch auf regionaler Ebene politisch tätig11. Frühwalds Vater, Johann Lorenz Frühwald, vom Enkel als (für fränkische Verhältnisse) „Großbauer und Schöffe“ vorgestellt12, trat zwar politisch weniger hervor; doch nicht nur er selbst, sondern auch seine tiefreligiöse Frau waren in der strengen christlichen Tradition der protestantischen Glaubensflüchtlinge aus Österreich erzogen worden. Als Konrad 1911 beim 19. Bayerischen Infanterieregiment in Metz diente, schrieb ihm der Vater aus Roßbach: „Mein lieber Sohn! … Sei bescheiden und fromm und … beherzige das Wort des Apostels Paulus: Am allerliebsten will ich mich meiner Schwachheit rühmen; auf daß die Kraft Christi bei mir wohne“13. Vom Vater, der auch einige Jahre als Unteroffizier in der bayerischen Armee verbracht hatte, „zum Gehorsam und zur Pflichterfüllung erzogen“14, übernahm Konrad später – ebenso wie Bauereisen – trotz anderer beruf9 10 11 12 13 14
Kittel, Manfred: „Weimar“ im evangelischen Bayern. Politische Mentalität und Parteiwesen 1918–1933, mit einem Ausblick auf die Zeit nach 1945, München 2001, S. 29. Süddeutsche Landpost vom 20. 7. 1878. Baumeister, Frank (Hg.): Hesselbergland. Land und Leute in Ehingen, Dambach und Lentersheim, Gunzenhausen 1991, S. 445. Frühwald, Ernst: Der Bauernphilosoph. Das Lebensbild eines Politikers aus Franken, Sennfeld 2 1989, S. 7. Frühwald, Ernst: Der Bauernphilosoph. Das Lebensbild eines Politikers aus Franken, Sennfeld 2 1989, S. 9. Frühwald, Ernst: Der Bauernphilosoph. Das Lebensbild eines Politikers aus Franken, Sennfeld 2 1989, S. 7.
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licher Ambitionen nicht nur den Hof, sondern auch die „tiefe Verankerung im evangelischen Glauben“15 . Die Worte der Bibel wurden Frühwald „lebenslänglich Richtschnur“, wobei seine Religion stark von der täglichen Begegnung des Bauern mit der Schöpfung Gottes geprägt war. „Besonders von den Texten des Alten Testamentes“ fühlte er sich angesprochen, „die für ein Hirten- und Bauernvolk niedergeschrieben worden waren“.16 Die Einstellung eines Menschen, „der sein Leben ohne jede Bindung an Gott, den Schöpfer, führen wollte“17, konnte Frühwald, mochte sein Verhalten sonst noch so sehr „aus christlicher Grundgesinnung heraus von Toleranz getragen“18 sein, nicht schätzen. Ähnlich wie Frühwalds evangelisch-lutherische Frömmigkeit ist auch die Bauereisens charakterisiert worden, dessen Familie ebenfalls von österreichischen Glaubensflüchtlingen abstammte: Die Quelle, die Bauereisens Leben speiste, „war seine Religion. Mit seinem Herrgott stand er auf du und du. Natürlich, daß er auch den kirchlichen Organisationen seine Kraft schenkte.“19 Der Ansbacher Kreisdekan Heinrich Koch rief dem verstorbenen Bauereisen 1965 am offenen Grabe nach, er habe „die tiefsten Wurzeln seines Geistes aus dem Boden seines Glaubens und seiner fränkischen Heimat“ bezogen, die er „über alles geliebt“ habe; „mit allen Fasern seines Herzens“ sei Bauereisen ein „gläubiger Christ“ gewesen, der sich „seines evangelischen Glaubens nicht geschämt“ habe: „Aus diesem Glauben heraus bezog er seine innere Ruhe, Gelassenheit und Heiterkeit, und daraus schöpfte er die Kraft für seine tägliche Arbeit“20 . Der Glaube half den beiden jungen Männern auch, den Ersten Weltkrieg zu überstehen, an dem Bauereisen von 1916 bis 1918 in Ungarn und Serbien teilnahm. Am Ende des großen Orlog hatte sich Bauereisen zwar militärische Orden verdient, doch wegen des Verlusts des linken Augenlichts kehrte er 40%-kriegsbeschädigt in sein Heimatdorf zurück21 . Der einige Jahre ältere Frühwald hatte schon ab 1914 die Gräuel des Stellungskrieges an der Westfront erleben müssen, ehe er endlich, nach insgesamt acht Jahren als Soldat, mit Verdienstkreuz und Verwundetenabzeichen ausgezeichnet wieder heimkehren konnte. In sein Kriegstagebuch schrieb Frühwald, der nach Genesung von einem Kniedurchschuss in der Schlacht von Epinal 1914 an der Front in Flandern eingesetzt wurde: „1. Juli 1916 nachmittags 5 Uhr: Granateinschläge an der Stelle, wo ich fünf Minuten vorher gestanden hatte. War es Zufall? Nein. Es war Gottes Fügung.“22 15 16 17 18 19 20 21 22
So Josef Ertl im Geleitwort von Frühwald, Ernst: Der Bauernphilosoph. Das Lebensbild eines Politikers aus Franken, Sennfeld 2 1989, S. 2. Frühwald, Ernst: Der Bauernphilosoph. Das Lebensbild eines Politikers aus Franken, Sennfeld 2 1989, S. 8. Frühwald, Ernst: Der Bauernphilosoph. Das Lebensbild eines Politikers aus Franken, Sennfeld 2 1989, S. 11. So Josef Ertl, zitiert nach Frühwald, Ernst: Der Bauernphilosoph. Das Lebensbild eines Politikers aus Franken, Sennfeld 2 1989, S. 3. So äußerte sich einer der beiden Verleger der Fränkischen Landeszeitung, Wilhelm Wiedfeld, in der Fränkischen Landeszeitung vom 15. 1. 1965, S. 10. Fränkische Landeszeitung (Dinkelsbühl Stadt und Land) vom 19. 1. 1965, S. 8. Staatsarchiv Nürnberg, Bestand Spruchkammer Dinkelsbühl Land, Nr. B-109, Akte Friedrich Bauereisen, Dokument Nr. 6. Frühwald, Ernst: Der Bauernphilosoph. Das Lebensbild eines Politikers aus Franken, Sennfeld 2 1989, S. 10.
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Aktiv im Landbund und in der DNVP Noch 1918 bzw. 1920 gründeten Frühwald und Bauereisen nicht nur kurz nacheinander bürgerliche Familien, denen bald Kinder geschenkt wurden, sie begannen auch beide, sich neben dem landwirtschaftlichen Broterwerb in ihrem agrarischen gesellschaftlichen Umfeld zu engagieren. „Nach dem Fronterleben im ersten Weltkrieg“, so heißt es später in einem Kurzporträt des Bundestagskandidaten Bauereisen, kam er „mit der politischen Arbeit […] in Berührung“23 . Angesichts des Bürgermeisterhauses, in dem Bauereisen aufgewachsen war, konnte sich diese Aussage nur auf den Beginn eigener ehrenamtlicher Tätigkeit des mit 24 Jahren aus dem Krieg Heimgekehrten im landwirtschaftlichen Genossenschaftswesen beziehen, aber auch als Vorstand des Gesangvereins „Frohsinn Ehingen“ oder als Vorsitzender der Sängergruppe Hesselberg. Höheren politischen Ämtern setzten einstweilen nicht nur die Jugend Grenzen, sondern auch die anhaltenden Aktivitäten des Vaters und Bürgermeisters, der von der Verbandsspitze des nach der Novemberrevolution umgegründeten nationalkonservativen Bayerischen Landbunds (BLB) als „einer unserer zuverlässigsten Bündler“ geschätzt wurde24 . 1926 avancierte er gar zum Ökonomierat. Doch machte auch der junge Bauereisen etwa durch „wuchtige“ vaterländische Ansprachen bei Festen des Fränkischen Sängerbundes auf sich aufmerksam, der gerade nach dem „Diktatfrieden“ von Versailles in der Stärkung des Nationalbewusstseins die Aufgabe jedes einzelnen Vereins sah und im Lied „den Hort des deutschen Vaterlandes“ zu besitzen beanspruchte.25 Frühwald trat noch 1919 der Deutschnationalen Volkspartei bei26 , engagierte sich aber vor allem im Landbund und in der Bauernkammer auf Bezirks-, Kreisund seit 1925 auch auf Landesebene. Bis 1928 hatte er sich schon so viel Ansehen erworben, dass der Landbund einen sicheren Listenplatz für Frühwald bei den Wahlen zum Bayerischen Landtag fordern und auch durchsetzen konnte. Zu diesem Zweck musste sogar der aus dem ebenfalls westmittelfränkischen Windsheim stammende langjährige Landes- und Fraktionsvorsitzende der DNVP Hans Hilpert an die zweite Stelle rücken und auf sein Glück bei der Reststimmenverteilung hoffen27 . Der promovierte Realschullehrer Hilpert aber, dessen Vater, ein Bauer und Metzgermeister, in Windsheim 1893 selbst einen konservativen Bauernverein gegründet hatte, wusste, dass die Allianz mit dem Landbund für die 23 24
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Fränkische Landeszeitung (Ansbach Stadt und Land) vom 13. 8. 1949, S. 7. So der Landbundgeschäftsführer Wolfgang Brügel an den deutschnationalen Reichstagsabgeordneten Luitpold Weilnböck am 18. 9. 1919, in: Bundesarchiv Koblenz (BAK), Nachlass Weilnböck, Nr. 20b. Zu den Gesangsvereinen als „authentischem, mentalitätsgeschichtlich wirkungsmächtigem Ausdruck des Nationalprotestantismus in Westmittefranken“ vgl. Kittel, Manfred: Provinz zwischen Reich und Republik. Politische Mentalität und Parteiwesen in Deutschland und Frankreich 1918–1933/36, München 2000, S. 417 und 422. Die Partei firmierte aus föderalistischen Motiven in Bayern damals offiziell noch als „Bayerische Mittelpartei“. Kiiskinen, Elina: Die Deutschnationale Volkspartei in Bayern (Bayerische Mittelpartei) in der Regierungspolitik des Freistaats während der Weimarer Zeit, München 2005, S. 306.
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bayerische DNVP existentielle Bedeutung hatte und dass die Deutschnationalen in ihren evangelisch-fränkischen Hochburgen, wo sie oft 80 Prozent der Stimmen holten, ganz wesentlich eine Partei der Bauern waren28. Die Episode verweist auf das an dieser Stelle zu erläuternde, gelinde gesagt nicht immer einfache Verhältnis zwischen BLB und DNVP. Und auch weil der Landbund als die eigentliche politische Heimat Frühwalds wie des jungen Bauereisens gelten kann, der in den letzten Weimarer Jahren 1932/33 als BLB-Vorsitzender im Bezirksamt Dinkelsbühl fungierte, sollen das Profil dieses agrarpolitischen Interessenverbandes und seine Beziehungen zur DNVP hier zumindest kurz beleuchtet werden. Faktisch handelte es sich bei DNVP und BLB jedenfalls um zwei verschiedene Organisationen mit getrennten Mitgliedschaften. Weder die Masse der Landbund-Mitglieder noch sämtliche Funktionäre waren gleichzeitig auch der Partei beigetreten; und umgekehrt galt das gleiche. Wie konkurrierende Partner in einem Zweckverband verhandelten Partei und Landbund über die Aufstellung von Wahlvorschlägen und die Finanzierung der Wahlkämpfe. Inhaltliche Differenzen – etwa über die Erhöhung der Invalidenversicherungsbeiträge 1927 oder andere sozial- und wirtschaftspolitische Themen – rührten meist daher, dass die DNVP sich reichsweit darum bemühte, nicht nur die Bauern, sondern auch national eingestellte Arbeiter und Angestellte anzusprechen, wofür man im Landbund oft wenig Verständnis hatte. Auch verharrte der BLB so anhaltend in der Tradition des deutschen Antiparteienaffekts, stand dem „neudeutschen Parlamentarismus“ und der „Futterkrippenwirtschaft“ der „Parteipolitik“ so zutiefst ablehnend gegenüber29, dass sein Verhältnis zur DNVP davon nicht unbeeinflusst bleiben konnte. Ansonsten allerdings stimmten die großen Ziele von BLB und DNVP in Bezug auf die Revision von Versailles und die, wenn auch zunehmend diffuser werdende Sehnsucht nach Rückkehr zur Monarchie nahtlos überein. Auch die unklare Grenze zu den (Radikal-)Völkischen hinüber mitsamt tiefsitzenden antisemitischen Überzeugungen teilte der BLB mit den Deutschnationalen. Am Anfang dieser Entwicklung stand die unkritische Übernahme eines vagen völkischen Begriffs30 , der sich nach dem Nationalisierungsschub des Ruhrkampfs und dem spektakulären Hitlerprozess 1923/24 in der Propaganda des Landbunds mehr und mehr durchsetzte31.
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Zu den Wahlergebnissen für die Weimarer Jahre vgl. den „Anhang C“ bei Kiiskinen, Elina: Die Deutschnationale Volkspartei in Bayern (Bayerische Mittelpartei) in der Regierungspolitik des Freistaats während der Weimarer Zeit, München 2005, S. 484 ff. Die Differenzen zwischen einem Wähleranteil von 52,6% im Bezirksamt Ansbach und 15,7% in der Stadt oder 52,5% im Bezirksamt Dinkelsbühl und 8,3% in der Stadt (bei den Landtagswahlen 1919) ließen an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Vgl. eine einschlägige BLB-Entschließung aus dem Jahr 1925 bei Kittel, Manfred: Zwischen völkischem Fundamentalismus und gouvernementaler Taktik. DNVPVorsitzender Hans Hilpert und die bayerischen Deutschnationalen, in: Zeitschrift für Bayerische Landesgeschichte 59 (1996), S. 849–901, hier S. 865. Der Bund der Landwirte in Bayern vom 17. 2. 1924. Zur großdeutschen Programmatik des Landbundes nach 1918 s. Heller, Karl: Der Bund der Landwirte bzw. Landbund und seine Politik mit besonderer Berücksichtigung der fränkischen Verhältnisse, Würzburg 1936, S. 59.
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Auf Distanz zu den Nationalsozialisten Vor dem Hintergrund nationalprotestantisch grundierter Berührungspunkte mit den „Parteivölkischen“ gewann die Frage der Beziehungen zur NSDAP für den Landbund angesichts des Aufstiegs der Nationalsozialisten in der Wirtschaftsund Staatskrise der Weimarer Republik entscheidende Bedeutung. Georg Bachmann, der führende Repräsentant des westmittelfränkischen Landbundes, der von 1920 bis 1932 für die DNVP im Reichstag saß und im Übrigen ähnlich wie Frühwald oder Bauereisen danach strebte, „ein Leben nach dem lutherischen Katechismus zu führen“32 , war – sei es aus gesunder Menschenkenntnis oder aus gouvernementalem Pragmatismus – trotz prima vista ähnlicher „nationaler“ Ziele von vornherein skeptisch gegenüber der vom neuen DNVPReichsvorsitzenden Alfred Hugenberg verfolgten Umarmungstaktik gegenüber den Nationalsozialisten. Im DNVP-Landesausschuss führte Bachmann im Mai 1930 aus, dass es angesichts des Hugenberg-Kurses der DNVP zutreffe, wenn „wir als Nazisten gebrandmarkt“ würden; er aber wolle nicht mit jenen „Revolutionisten auf eine Stufe gestellt“ werden. „Insbesondere auch“ Konrad Frühwald, so verzeichnet das Protokoll, sprach sich im Anschluss an Bachmann gegen die Zusammenarbeit mit der NSDAP aus33 . Im Sommer 1930 eskalierte die Lage, als Hugenberg weite Teile seiner Reichstagsfraktion dazu brachte, an der Seite von SPD, KPD und NSDAP am 16. Juli die Deckungsvorlage der ersten Präsidialregierung Brüning zur Haushaltssanierung abzulehnen und zwei Tage später auch eine entsprechende Notverordnung nach Artikel 48 außer Kraft zu setzen. Das damit indirekt auch ausgesprochene Misstrauensvotum des rechtsradikalen DNVP-Flügels gegen die Politik des amtierenden Reichslandwirtschaftsministers – und Reichslandbundvorsitzenden! – Martin Schiele veranlasste Bachmann dazu, sich ganz auf die gouvernementalen Traditionen des BLB zu besinnen und „wehen Herzens das Band mit der Partei“ zu lösen, so wie es „mit Ausnahme einiger größerer Besitzer“34 nun sämtliche Landwirte vor allem westlich der Elbe taten. Zum Auffangbecken für Bachmann und die enttäuschten Landbündler wurde vorerst die Christlich-Nationale Bauern- und Landvolkpartei (CNBLP), für die Schiele und Bachmann bei den vorgezogenen Reichstagswahlen im September 1930 auch kandidierten. Der Ehinger Bürgermeister Bauereisen, der bei aller Kritik an Hugenberg einen eigenständigen parteipolitischen Weg des Landbunds für falsch hielt, sollte den „Abfall Bachmanns nie vergessen“. Schließlich hatte der Landbund zwei Jahre vorher noch gegen die neue CNBLP den Vorwurf der Zersplitterung der bäuerlichen Kräfte erhoben. Schwer enttäuscht begann Bauereisen, sich aus der Politik 32 33
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Kittel, Manfred: „Weimar“ im evangelischen Bayern. Politische Mentalität und Parteiwesen 1918–1933, mit einem Ausblick auf die Zeit nach 1945, München 2001, S. 120. Kiiskinen, Elina: Die Deutschnationale Volkspartei in Bayern (Bayerische Mittelpartei) in der Regierungspolitik des Freistaats während der Weimarer Zeit, München 2005, S. 345. Vgl. den Bericht Bachmanns aus dem Reichstag, in: Der Bayerische Landbund vom 27. 7. 1930.
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zurückzuziehen und einige seiner Ämter für den Sohn freizumachen35. Bald darauf, 1932, verstarb er. Seinem Sohn gelang es nicht, sich bei der notwendig werdenden Neuwahl für das Amt des Ehinger Bürgermeisters gegen einen von der NSDAP unterstützten Kandidaten durchzusetzen. Die Resignation des alten und die (wenn auch knappe) Wahlniederlage des jungen Bauereisen36 waren symptomatisch für die allgemeine Verunsicherung und Orientierungslosigkeit, die aufgrund der „Zerrissenheit im fränkischen Rechtslager […] in all diesem Wirrwarr“37 unter den Nationalkonservativen Platz griff. In Bayern trug dazu nicht zuletzt der merkwürdige Umstand bei, dass die BLB-Politiker im Landtag – anders als auf Reichsebene – auch nach dem Juli 1930 weiterhin der nach wie vor bestehenden DNVP-Fraktion angehörten. Konrad Frühwald zählte allerdings zu einer Minderheit in der BLB-Führung, die das „unwürdige Doppelspiel“ zwischen Reichs- und Landespolitik beenden und durch Austritt der Landbündler aus der DNVP-Fraktion im bayerischen Maximilianeum endlich klare Verhältnisse schaffen wollte. Denn der Landbund und der von ihm nach wie vor unterstützte Minister Schiele würden doch „bei allen passenden und unpassenden Gelegenheiten“ von der DNVPPresse und auf DNVP-Versammlungen „mit Hohn und Spott überschüttet“. Ein Zusammengehen mit der DNVP sei „unmöglich“, weil diese heute „von den Nati[onal]sozi[alisten] geführt“ würde38 . Die große Mehrheit in der BLBFührung war jedoch bei allem Verständnis für „das Gefühl“ Frühwalds nicht bereit, den für maßgeblich erachteten Einfluss des Verbandes auf die Landespolitik preiszugeben und sich definitiv von der DNVP-Option zu verabschieden. Das chaotische Taktieren des Landbundes im Hinblick auf sein Verhältnis zur schwächelnden DNVP und zu der immer mehr nationalprotestantische Bauern anziehenden NSDAP führte bei den Reichspräsidentenwahlen im Frühjahr 1932 schließlich zum faktischen Eingeständnis der eigenen Politikunfähigkeit: Beim ersten Wahlgang legte sich der BLB doch wieder auf einen Deutschnationalen, den Stahlhelmführer Duesterberg, fest, um im zweiten Wahlgang „keine Parole für Hindenburg, aber auch keine Parole für Hitler“39 auszugeben. Angesichts dieses „vollkommenen Versagens unserer bisherigen politischen Führung“ meinten jetzt selbst alte Gründungsmitglieder des Bundes der Landwirte in Franken: „Nur der Nationalsozialismus kann heute noch Rettung bringen.“40
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Gespräch des Verfassers mit dem damaligen Landtagsabgeordneten Friedrich Bauereisen am 28. 8. 1992 in Ehingen. Vgl. auch Baumeister, Frank (Hg.): Hesselbergland. Land und Leute in Ehingen, Dambach und Lentersheim, Gunzenhausen 1991, S. 445. Ein Wahlplakat befindet sich noch im Besitz der Familie Küßwetter in Ehingen. Gespräch mit Alexander Küßwetter vom 20. 9. 2011. So die treffende Analyse der Mittelfränkischen Volkszeitung vom 5. 8. 1930. Niederschriften über die Hauptausschusssitzung am 15. 2. und 8. 3. 1931 in Nürnberg, in: Archiv des Instituts für Zeitgeschichte, Bestand Bayerischer Landbund. Dort auch das folgende Zitat. Kittel, Manfred: „Weimar“ im evangelischen Bayern. Politische Mentalität und Parteiwesen 1918–1933, mit einem Ausblick auf die Zeit nach 1945, München 2001, S. 188. Kittel, Manfred: „Weimar“ im evangelischen Bayern. Politische Mentalität und Parteiwesen 1918–1933, mit einem Ausblick auf die Zeit nach 1945, München 2001, S. 191.
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Um aus der Zange zwischen DNVP und NSDAP herauszukommen, kehrte der Landbund – Spitzengespräche über eine Zusammenarbeit mit der NSDAP im Herbst 1931 waren gescheitert – zur alten Allianz mit den Deutschnationalen zurück, womit parteipolitisch nun Not und Elend kooperierten. Schon vorher hatten die nationalkonservativen Kräfte derart viel Terrain verloren, dass dieser neuerliche Kurswechsel nichts mehr – oder eher noch das Gegenteil – bewirkte und zu weiteren erdrutschartigen Verlusten der DNVP bei den bayerischen Landtagswahlen vom 24. April 1932 führte. Nach dem Urnengang, der ihn selbst das Mandat gekostet hatte, schrieb Frühwald einem Parteifreund: „Die Nationalsozialisten haben noch mehr Stimmen erhalten, als ich befürchtet hatte. […] Ich lehne es ab, daß wir, die 3 letzten von 13 bayerischen Abgeordneten der Deutschnationalen Volkspartei, uns jetzt der Landtags-Fraktion der NSDAP anschließen. Auch unsere Wähler würden den Anschluß nicht verstehen; denn sie haben uns in der Überzeugung gewählt, daß wir eine Distanz zu den Nationalsozialisten einhalten“41. Hintergrund des Briefs waren Bemühungen der NSDAP-Fraktion, die drei verbliebenen Deutschnationalen zum Übertritt zu bewegen, wodurch die Nationalsozialisten einen entscheidenden Vorsprung vor der Bayerischen Volkspartei gewonnen hätten und zur stärksten Fraktion geworden wären42. Später warf Frühwald Hugenberg und den führenden Politikern der DNVP vor, sie hätten nach ihren ersten Koalitionsgesprächen mit der NSDAP an Hitlers „Erscheinungsbild und Wesen erkennen müssen, daß sie diesem skrupellosen Demagogen nicht gewachsen sein würden“43 , doch ging er bis zum Schluss nicht von der deutschnationalen Fahne, sondern stellte sich der Partei bei den letzten Reichstagswahlen als Kandidat abermals zur Verfügung. Dies hatte zur Folge, dass Frühwald infolge des Gesetzes zur Gleichschaltung der Länder vom 31. März 1933, das die Besetzung der Länderparlamente auf der Grundlage der jüngsten Reichstagswahlen anordnete, als Abgeordneter der Deutschnationalen Front formal noch einmal dem – machtlos gewordenen – Bayerischen Landtag angehörte44.
Zwischen christlichem Widerstand und innerer Emigration Die der Treue zum Landbund geschuldete Fortsetzung der deutschnationalen Abgeordnetentätigkeit Frühwalds während des von der DNVP mit zu verantwor41 42
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Frühwald an Baron von Thüngen vom 27. 4. 1932, zit. nach Frühwald, Ernst: Der Bauernphilosoph. Das Lebensbild eines Politikers aus Franken, Sennfeld 2 1989, S. 28. Vgl. Kiiskinen, Elina: Die Deutschnationale Volkspartei in Bayern (Bayerische Mittelpartei) in der Regierungspolitik des Freistaats während der Weimarer Zeit, München 2005, S. 367. Frühwald, Ernst: Der Bauernphilosoph. Das Lebensbild eines Politikers aus Franken, Sennfeld 2 1989, S. 27 f. Kiiskinen, Elina: Die Deutschnationale Volkspartei in Bayern (Bayerische Mittelpartei) in der Regierungspolitik des Freistaats während der Weimarer Zeit, München 2005, S. 593.
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tenden scheinlegalen Übergangs von der Weimarer Republik zum Dritten Reich kann aber keinen Zweifel an seiner anhaltend tiefen Abneigung gegenüber dem Nationalsozialismus begründen. Schon der gesellschaftlichen Gleichschaltung in den Monaten nach der NS-Machtergreifung versuchte sich Frühwald als Präsident der Kreisbauernkammer von Mittelfranken nach Kräften zu widersetzen. Bald schloss er sich auch, gegen die von der NSDAP gesteuerten „Deutschen Christen“, der Bekennenden Kirche an und predigte als Laie auf den Kanzeln vieler fränkischer Kirchen – bespitzelt von Kriminalbeamten, die nur darauf warteten, ob er mit seinem Reden den Vorwand zur Verhaftung lieferte45. Von weiterem offenen Widerstand gegen die braunen Machthaber hielt den vierfachen Vater die Rücksicht auf seine Familie ab. Doch mit ebenfalls NS-kritischen Geistern wie dem katholischen Ex-BVP-Abgeordneten Alois Hundhammer, früheren deutschnationalen Parteifreunden oder auch dem nach dem 20. Juli 1944 hingerichteten General Karl-Heinrich von Stülpnagel pflegte Frühwald bei Treffen in Nürnberg, München oder auf dem eigenen Hof konspirative Kontakte. Aufzeichnungen und Dokumente über diese Tätigkeit verbrannte Frühwald nach dem erfolglosen Attentat auf Hitler allerdings in größter Eile und vermengte die Asche mit der Spreu des Pferdestalles46. Schon im September 1941 war Frühwald zur Kreisleitung nach Neustadt an der Aisch einbestellt worden. Kreisleiter Hans Krehmer hatte eigentlich den Auftrag, Frühwald als missliebigen Politiker verhaften zu lassen. Nach einem langen Gespräch unter vier Augen kam der vergleichsweise „gemäßigte“ Nationalsozialist Krehmer aber zu der Überzeugung, dass es besser wäre, Frühwald für die Mitarbeit in der Ernährungswirtschaft des Deutschen Reiches zu gewinnen. Frühwald lehnte dies (und den damit verbundenen Eintritt in die NSDAP) mit dem Argument ab, er könne nicht einem Staate dienen, der Kirche und Christentum zu beseitigen trachte. Frühwald entschied sich stattdessen, nach wie vor überzeugt, dass die Nationalsozialisten sein geliebtes Deutschland in den Abgrund treiben würden, und der Siegesmeldungen aus den Volksempfängern zunehmend überdrüssig, für die innere Emigration. Nachdem er schon zu Kriegsbeginn die alten Schafweiderechte der Gemeinde in Roßbach erworben hatte, pachtete er nun einige Gemeindefluren im Steigerwald dazu. In ständiger Furcht, dass ihn die Gestapo doch noch holen würde, überlebte Frühwald bis Kriegsende, dem Gesichtsfeld potentieller Verfolger möglichst weit entrückt, beim Hüten einiger hundert Schafe auf den Feldern der fränkischen Keuper-Platte. Auch wenn Friedrich Bauereisen in diesen Jahren auf seinem Hof in Ehingen blieb, weisen seine Lebenslinien während des Dritten Reiches doch ganz ähnliche Züge auf. Bereits in Hugenberg hatte Bauereisen einen „Verräter“ an der deutschnationalen Sache gesehen47. Da er vor 1933 zudem als Dinkelsbühler Landbundvorsitzender „die bäuerliche Bevölkerung in vielen Orten auf das 45 46 47
Frühwald, Ernst: Der Bauernphilosoph. Das Lebensbild eines Politikers aus Franken, Sennfeld 2 1989, S. 37. Frühwald, Ernst: Der Bauernphilosoph. Das Lebensbild eines Politikers aus Franken, Sennfeld 2 1989, S. 48. Mail von Alexander Küßwetter an den Verfasser vom 18. 9. 2011.
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nachdrücklichste vor den Gefahren des Nazismus gewarnt“ und sich „den immer fanatischer werdenden Haß“ der NSDAP-Kreisleitung zugezogen hatte, wurde er schon bald nach der Machtergreifung aller seiner Ehrenämter – vom Vorsitz des Sängergaues Hesselberg bis zum Vorstand der Molkereigenossenschaft Ehingen – enthoben. Den von ihm geführten örtlichen Gesangverein lösten die Machthaber, um Bauereisen „die Anhängerschaft zu nehmen“, im Oktober 1933 kurzerhand auf 48 . Nachdem Hausdurchsuchungen, die den Molkereivorstand Bauereisen der Unterschlagung überführen und ihn gesellschaftlich erledigen sollten, nicht den von der NSDAP gewünschten Zweck erreicht hatten, erschien 1934 ein Rollkommando in der Ehinger Gastwirtschaft „Zum Ochsen“ und fragte: „Wo ist der Bauereisen?“ Angesichts einer Überzahl alter Landbündler verzichtete der nationalsozialistische Stoßtrupp zunächst auf eine weitere Konfrontation, doch als Bauereisen später nach Hause ging, sprang ein Mann aus einem Versteck und stach ihm mit dem Messer in die linke Brustseite bzw. versuchte dies zumindest49 . Dennoch stand der überzeugte Protestant Bauereisen – entsetzt über das Bekenntnis des Ortspfarrers zu den Deutschen Christen – weiterhin auch im Kirchenkampf seinen Mann50 . Dies brachte ihm neben seinen anhaltend NS-kritischen Äußerungen zur Kommunal- und Agrarpolitik nicht nur ein Redeverbot ein, sondern auch fortgesetzte Schikanen, Bedrohungen und materielle Nachteile. Wurden ihm unter Beugung der geltenden Bestimmungen einmal die nicht unerheblichen Zuschüsse für einen Stallneubau verweigert, so waren es ein andermal die eben gepflanzten Obstbäume, die einem offensichtlich politisch motivierten Zerstörungsakt zum Opfer fielen. Zweimal musste er 1935 und 1936 bei seinem Erzfeind, dem Kreisleiter Ernst Ittameier in Wassertrüdingen „antreten“. Beim zweiten Termin eröffnete ihm der Nationalsozialist: „Das nächste Ziel für Sie ist Dachau!“51. Dennoch trat Bauereisen, der 1933 als Stahlhelm-Mitglied automatisch in die SA-Reserve überführt worden war und sich dem wegen seiner damals ohnehin äußerst kritischen Lage nicht widersetzt hatte, 1937 nach einer 48
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Friedrich Bauereisen aus Ehingen an die Spruchkammer Dinkelsbühl vom 21. 4. 1947, in: Staatsarchiv Nürnberg, Bestand Spruchkammer Dinkelsbühl Land, Nr. B-109, Akte Friedrich Bauereisen, Dokument Nr. 7. Eidesstattliche Erklärung des 1933 in Schutzhaft genommenen Friedrich Joas vom 8. 4. 1947, in: Staatsarchiv Nürnberg, Bestand Spruchkammer Dinkelsbühl Land, Nr. B109, Akte Friedrich Bauereisen, Dokument Nr. 8. Ob dieser auch von Bauereisen selbst (Dokument Nr. 7) erwähnte Vorfall im Jahr 1947 nicht etwas dramatischer geschildert wurde, als er 1934 wirklich stattgefunden hatte, lässt sich nicht mehr zweifelsfrei klären, steht aber zu vermuten, da er im Familiengedächtnis keinen Niederschlag gefunden hat. Dagegen hatten die Nationalsozialisten auf den Vater Bauereisens 1931 in Wassertrüdingen tatsächlich einen Mordanschlag verübt. Mail von Alexander Küßwetter an den Verfasser vom 18. 9. 2011. Eidesstattliche Erklärung des 1933 in Schutzhaft genommenen Friedrich Joas vom 8. 4. 1947, in: Staatsarchiv Nürnberg, Bestand Spruchkammer Dinkelsbühl Land, Nr. B109, Akte Friedrich Bauereisen, Dokument Nr. 8 – Bauereisen wies uns an, so Joas, „wie wir uns verhalten sollten im Kirchenkampf “. Eidesstattliche Erklärung von Ernst Schirrle in Ehingen vom 10. 4. 1947, in: Staatsarchiv Nürnberg, Bestand Spruchkammer Dinkelsbühl Land, Nr. B-109, Akte Friedrich Bauereisen, Dokument Nr. 10.
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weiteren Auseinandersetzung „mit den Trabanten der Kreisleitung“ aus der SA aus52 . Sieht man sich den Spruchkammerbescheid Bauereisens kritisch an, so erscheinen diese ihn entlastenden Punkte aus den ersten Jahren des Dritten Reiches auch insofern recht plausibel, als danach eine Lücke klafft. Diese könnte damit zu erklären sein, dass Bauereisen unter dem Eindruck der außenpolitischen und militärischen Triumpfe des NS-Regimes bzw. deren Auswirkungen auf die Volksstimmung in seiner Regimekritik zurückhaltender wurde53 und dies dann auch während des totalen Krieges zunächst blieb. Erst wieder für die letzte Phase vor der Befreiung durch die Amerikaner 1944/45 werden oppositionelle Aktivitäten ins Feld geführt, etwa die Hilfe für einen Mitbürger, der einen politischen Witz erzählt hatte, oder für französische Kriegsgefangene, denen Bauereisen zur Flucht verhalf 54.
Mitarbeit am demokratischen Neuanfang in CSU bzw. FDP Die Entwicklung nach der katastrophalen Zäsur des Dritten Reiches sollte erweisen, dass die nationalprotestantische Mentalität im evangelischen Bayern durch die „egalisierende ,Planierraupe‘ der NSDAP verformt und gelähmt“55, bei weitem jedoch nicht ganz zerstört worden war. Vor allem die neugegründete Christlich-Soziale Union bekam dies zu spüren, die von allen Parteien die größten programmatischen Anstrengungen unternahm, um die in den Weimarer Jahren so weit vom Pfad der Republik abgewichenen protestantischen Wählerschichten endlich an die Demokratie heranzuführen. Rechtsparteien, die an deutschnationale oder nationalliberale Traditionen hätten anknüpfen können, wurden von der amerikanischen Besatzungsmacht in der unmittelbaren Nachkriegszeit noch nicht zugelassen. Als Ausgangsbasen für politische Unternehmungen auf bürgerlicher Seite blieben fast nur christlich-kirchliche Gruppen. Nach der bitteren Erfahrung mit der – nicht zuletzt konfessionell bedingten – Parteienzersplitterung in der Weimarer Republik und mit den kirchenfeindlichen Maßnahmen des antichristlichen NS-Regimes, von dem Protestanten und Katholiken gleichermaßen betroffen waren, wurde in den Monaten nach der Kapitula52
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Bauereisen aus Ehingen an die Spruchkammer Dinkelsbühl vom 21. 4. 1947, in: Staatsarchiv Nürnberg, Bestand Spruchkammer Dinkelsbühl Land, Nr. B-109, Akte Friedrich Bauereisen, Dokument Nr. 7. So die Auskunft seines Sohnes, des langjährigen CSU-Landtagsabgeordneten Friedrich Bauereisen. Kittel, Manfred: Provinz zwischen Reich und Republik. Politische Mentalität und Parteiwesen in Deutschland und Frankreich 1918–1933/36, München 2000, S. 744. Bestätigung von Karl Bauer vom 1. 6. 1945, in: Staatsarchiv Nürnberg, Bestand Spruchkammer Dinkelsbühl Land, Nr. B-109, Akte Friedrich Bauereisen, Dokument Nr. 14 sowie die Eidesstattliche Erklärung von Friedrich Joas (Dokument Nr. 8). So Alf Mintzel im Blick auf die Lebenskraft der politischen Tradition in Bayern. Alf Mintzel: Regionale politische Traditionen und CSU-Hegemonie in Bayern, in: Oberndörfer, Dieter und Schmitt, Karl (Hg.): Parteien und regionale politische Traditionen in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1991, S. 125–180, hier S. 141.
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tion der Gedanke eines überkonfessionellen christlichen „Zusammenschlusses“ immer stärker. In Bayern propagierte vor allem auch der katholische Oberfranke Josef Müller, genannt „Ochsensepp“, den (parteipolitischen) Brückenschlag zwischen den Bekenntnissen. Doch während in Franken an den Aufbau eines neuen demokratischen deutschen Bundesstaates unter bayerischer Beteiligung gedacht wurde, hatten in Altbayern viele ganz andere, extrem föderalistische bis separatistische Vorstellungen von der politischen Zukunft des Landes. Für die Protestanten in Mittel- und Oberfranken, die in der Verbindung zum mehrheitlich evangelischen Deutschen Reich von jeher ein willkommenes Gegengewicht zu ihrer Minderheitenposition im überwiegend katholischen Bayern sahen, stammten derartige Vorstellungen „aus dem separatistischen Gruselkabinett“56 . Einmal mehr in der Geschichte Frankens übernahm jetzt das evangelische Pfarrhaus in einer historischen Umbruchsituation führende politische Verantwortung. Ebenso wie die Theologen waren auch die kirchlichen Laien, die sich zur Mitarbeit an der neuen Christlich-Sozialen Union bereitfanden, zumeist von der Erfahrung des Kirchenkampfes gegen das NS-Regime geprägt. Da die antikirchlichen Maßnahmen des NS-Regimes das Vertrauen in eine vermeintlich stets gute autoritäre Obrigkeit schwer erschüttert und die rassenideologische Vernichtungspolitik des Dritten Reiches die Gefährlichkeit nationalistischer und antisemitischer Gedanken dramatisch vor Augen geführt hatten, kam eine Wiederbelebung der von den Nationalprotestanten vor 1933 bevorzugten DNVP nicht mehr ernsthaft in Frage, selbst wenn die Besatzungsbehörde dies zugelassen hätte. Ohnehin fällt auf, dass die meisten der ehedem deutschnationalen CSUGründer nicht bis 1933 bei der DNVP geblieben waren, sondern die Partei schon nach Hugenbergs Wahl zum DNVP-Vorsitzenden 1929 verlassen hatten, weil sie den damit einhergehenden Rechtsruck nicht mitvollziehen konnten, oder zumindest innerparteilich in Opposition zu Hugenberg gegangen waren. Dies galt auch für Westmittelfranken, wo sich im Ansbacher Land Friedrich Bauereisen zusammen mit dem evangelischen Pfarrer Heinrich Seiler oder dem späteren Landtagsabgeordneten Georg Mack, der 1934 bei einem spektakulären öffentlichen Protest gegen die nationalsozialistische Kirchenpolitik wesentliche Prägungen erfahren hatte, an den ersten Gesprächen zur Gründung einer CSU beteiligten57 . Bauereisen war im Sommer 1945 statt eines bis dahin amtierenden Nationalsozialisten von der amerikanischen Militärregierung als Bürgermeister eingesetzt worden. Der politische Berater der amerikanischen Militärregierung, Robert Murphy, war in seinen „Politischen Erwägungen betreffend Richtlinien für Besatzungsoffiziere für Stellenbesetzungen in Deutschland“ vom 7. Mai 1945 zwar zu der Einschätzung gelangt, dass die früheren Mitglieder der „rechtsgerichteten Parteien“ DNVP und DVP „in vielen Fällen nur weniger gefährlich als die Nationalsozialisten selbst“ seien. Obwohl „vielleicht Gegner des Nationalsozialismus“ seien sie im Allgemeinen doch „so von den Vorstellungen des deutschen Nationalismus, Militarismus und konservativen Traditionalismus durch56 57
Schlemmer, Thomas: Aufbruch, Krise und Erneuerung. Die Christlich-Soziale Union 1945 bis 1955, München 1998, S. 23. Woller, Hans: Gesellschaft und Politik in der amerikanischen Besatzungszone. Die Region Ansbach und Fürth, München 1986, S. 224.
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drungen“ gewesen, dass sie „für jegliche Zwecke diskreditiert“ seien58 . Doch trotz dieser allgemeinen Erwägungen hatte die amerikanische Besatzungsmacht immer dann, wenn sie vor Ort eines anderen belehrt worden war, keine Scheu, jemanden wie Friedrich Bauereisen zum Dorfbürgermeister zu ernennen, zumal wenn dieser nicht eigentlich DNVP-Mann, sondern „nur“ Landbündler gewesen und als Gegner des NS-Regimes bekannt war59. Zu den wesentlichen Motiven seines Engagements für die neue CSU zählte Bauereisens Überzeugung, dass „Evangelische und Katholiken […] zusammen für einen christlichen Geist in der Politik eintreten“ müssten. „Staatlichen Sozialismus“, mit dem ihm auch die SPD zu sympathisieren schien, lehnte Bauereisen entschieden ab60. Er trat in den kommenden Wahlkämpfen für die CSU als jene Partei ein, „in der Religiosität, Rechtssicherheit und Sicherheit des Eigentums verkörpert“ seien. In „dieser schweren Zeit“ müssten die Deutschen „jeden Bruderkrieg vermeiden und fernab jeden persönlichen Ehrgeizes […] den schweren Weg“ gehen61. Als „besonderes Verdienst“ Bauereisens kann die Gründung des Evangelischen Arbeitskreises der CSU in Ansbach gelten62. Während Politiker wie Bauereisen oder sein Schwiegersohn Hans Küßwetter alles taten, um die evangelische Fahne innerhalb der CSU hochzuhalten, weil sie aus historischer Erfahrung daran glaubten, diesen Weg trotz zeitweilig stärksten Gegenwinds gehen zu müssen, kam Konrad Frühwald in den Jahren bis 1949 hier zu einer anderen Auffassung – unbeschadet der Tatsache, dass nach dem Krieg beide gemeinsam der Evangelischen Landessynode angehörten. Ähnlich wie Bauereisen hatte auch Frühwald schon bald nach dem Zusammenbruch von 1945 eine neue Aufgabe (als Leiter des sog. „Ernährungsamtes A“ in Neustadt an der Aisch) erhalten. Anders als Bauereisen aber war Frühwald, der den altbayerischen Partikularismus in Teilen der BVP vor 1933 im Münchner Landtag noch persönlich kennengelernt hatte, sehr pessimistisch hinsichtlich der Entwicklungschancen einer christlichen Union. Den späteren Bundesminister Werner Dollinger hatte Frühwald 1945 noch zur Gründung eines Ortverbandes der CSU in Neustadt/Aisch angeregt. Aber einem ehemaligen deutschnationalen Parteifreund schrieb Frühwald schon im Februar 1946: „Die französische Diplomatie pflegt bewusst die bayerischen Sonderwünsche, weil sie hofft, dadurch leichter ihr Ziel zu erreichen, eine gesamtdeutsche Regierung […] zu verhindern“. Im August 1946 präzisierte Frühwald, was das für ihn auch bedeutete: „Ich gehöre bis heute keiner Partei an. Ich kann als Franke einer bayerischen 58 59
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Zit. nach Vollnhals, Clemens: Entnazifizierung. Politische Säuberung und Rehabilitierung in den vier Besatzungszonen 1945–1949, München 1991, S. 120. So setzte die amerikanische Militärregierung etwa auch im Landkreis Rothenburg nach dem Krieg ein ehemaliges Landesvorstandsmitglied der Deutschnationalen als Landrat ein. Kittel, Manfred: „Weimar“ im evangelischen Bayern. Politische Mentalität und Parteiwesen 1918–1933, mit einem Ausblick auf die Zeit nach 1945, München 2001, S. 223. Fränkische Landeszeitung (Ansbacher Land) vom 6. 8. 1949, S. 7. Fränkische Landeszeitung (Rothenburg Stadt und Land) vom 2. 8. 1949, S. 7. So Werner Dollinger laut Fränkischer Landeszeitung(Dinkelsbühl Stadt und Land) vom 19. 1. 1965.
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Politik mit separatistischen Tendenzen nicht zustimmen. Mein Platz ist dort, wo Deutschland steht.“63. Nach einer Bauernversammlung im Herbst 1946 in Rothenburg ob der Tauber führte Frühwald ein langes Gespräch mit Josef Müller, dem damaligen Landesvorsitzenden der Christlich-Sozialen Union. Dieser bot ihm die Position eines stellvertretenden Parteivorsitzenden in der CSU an. Frühwald aber lehnte ab: Bestimmte Spitzenpolitiker der CSU, mit denen er dann in München zusammenarbeiten müsse, würden „Eigenschaften besitzen, die er nicht schätzen, und politische Ziele verfolgen, denen er nicht zustimmen könne“64 . Hinzu kamen grundsätzliche staatspolitische Erwägungen: Habe sich ein Volk für die Demokratie entschieden, dann brauche diese Demokratie wenigstens drei Parteien, so argumentierte er, damit jeweils die beiden schwächeren Parteien gemeinsam die alleinige Machtausübung der stärksten Partei verhindern könnten. Manches sprach demnach aus Frühwalds Sicht dafür, sich eher für ein kleineres Korrektiv wie die ebenfalls neugegründete, in ihren Anfangsjahren noch stark nationalliberale FDP als für die große Sammlungspartei CSU zu entscheiden. Die ablehnende Haltung der Bayerischen Staatsregierung und der Mehrheit des Bayerischen Landtages zum Bonner Grundgesetz veranlassten Frühwald 1949 endlich, aus seiner „bisherigen parteipolitischen Reserve herauszutreten“ und bei den Wahlen zum Deutschen Bundestag im August für die FDP zu kandidieren (auf dem zweiten Platz der bayerischen Landesliste hinter Thomas Dehler). „Der fränkische Bauer“, so fasste Frühwald sein politisches Credo in einem Wahlaufruf an das „Fränkische Landvolk“ zusammen, „war den bayerischen separatistischen Bestrebungen noch nie zugänglich und ist bis zur Stunde trotz aller Nöte unseres Vaterlandes deutsch geblieben, genauso wie er sich bedingungslos zu den christlichen Sittengesetzen bekennt.“65 Nun hätte Bauereisen diesen Satz zwar ebenfalls unterschreiben können, denn ein „nationaler Deutscher“66 blieb auch er nach 1945, doch fehlte ihm nicht nur die gleichsam hautnahe BVP-Erfahrung Frühwalds aus der Zeit vor 1933, sondern wohl auch die grüblerisch-philosophische Fundierung dieser „nationalen“ Weltanschauung, wie sie bei Frühwald so ausgeprägt war. Dieser hatte schon in den 1920er Jahren in der Stube seines Roßbacher Bauernhauses an den langen Winterabenden Gesinde und Familie aus Oswald Spenglers Buch „Der Untergang des Abendlandes“ vorgelesen. Und während der inneren Emigration im Dritten Reich studierte er abends in seinem Schäferkarren die Schriften von Theologen und Philosophen, um am darauffolgenden Tag „dann über die gelesenen Themen beim Schafehüten“67 nachzugrübeln. 63 64 65 66 67
Frühwald, Ernst: Der Bauernphilosoph. Das Lebensbild eines Politikers aus Franken, Sennfeld 2 1989, S. 74. Frühwald, Ernst: Der Bauernphilosoph. Das Lebensbild eines Politikers aus Franken, Sennfeld 2 1989, S. 76. Frühwald, Ernst: Der Bauernphilosoph. Das Lebensbild eines Politikers aus Franken, Sennfeld 2 1989, S. 83. So charakterisierte Bundesminister Dollinger posthum den politischen Standort Bauereisens. Fränkische Landeszeitung (Dinkelsbühl Stadt und Land) vom 19. 1. 1965, S. 8. Frühwald, Ernst: Der Bauernphilosoph. Das Lebensbild eines Politikers aus Franken, Sennfeld 2 1989, S. 60.
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Darüber hinaus wurde für den vielleicht noch etwas stärker pragmatischen und jüngeren Bauereisen bald auch der alte Konrad Adenauer als Vaterfigur der Unionsparteien und der neuen Bundesrepublik zu einem zentralen Orientierungspunkt, der in ihm die Überzeugung von der Notwendigkeit einer entschiedenen Westbindung der Bundesrepublik (notfalls auch unter Verzicht auf neutralistische Experimente zum Zwecke einer schnellen Wiedervereinigung) wachsen ließ. An Adenauer hing der Bundestagsabgeordnete Bauereisen mit „einer fast rührenden Liebe und Verehrung“, vor allem weil ihm dessen „Klugheit und unbeirrbare Charakterfestigkeit“ so imponierten68 . Frühwald dagegen teilte eher die deutschlandpolitischen Positionen seines nationalliberalen bayerischen FDP-Landesvorsitzenden Thomas Dehler, der sich seinerseits mit Konrad Frühwald, „mit dem eigenwilligen Franken, […] mit dem leidenschaftlich bewegten Politiker“, sehr verbunden fühlte69 . Dehler konnte auf die Zustimmung Frühwalds rechnen, als er sich ihm gegenüber Anfang 1958 tief enttäuscht über die deutschlandpolitische Entwicklung äußerte: Er „merke wenig von Wille und Mut“ zur Wiedervereinigung70 . Seinen politischen Standort hatte Frühwald auch 1952 bereits deutlich markiert, nachdem der FDPBundesvorsitzende Reinhold Maier in Bad Ems erklärt hatte, für die Ideen der alten Deutschnationalen sei heute in einer liberalen Partei kein Platz mehr. Frühwald warnte daraufhin die FDP vor einer Hinwendung nach links: „Ohne die Stimmen der ehemaligen deutschnationalen Wähler wäre die bayerische F.D.P. weder im Landtag noch im Deutschen Bundestag vertreten. Wenn die F.D.P. keine Synthese findet zwischen konservativ und liberal, begeht sie Selbstmord“.71 Trotz dieser prononciert nationalen Positionen wäre es aber falsch, Frühwald auch nur in die Nähe jener Strömungen zu rücken, die in den 1950er Jahren vor allem in Nordrhein-Westfalen auch mit Hilfe ehemaliger Nationalsozialisten versuchten, die FDP zu einer rechtsnationalistischen Sammlungspartei umzufunktionieren72 . Zwar sympathisierte Frühwald nach 1945 zunächst noch mit ständestaatlichen Modellen, weil ihm das nach den Weimarer Erfahrungen eine bessere Alternative als ein neuer „Parteienstaat“ zu sein schien; und er fand die Arbeit im neuen Bayerischen Senat, dem er seit 1947 angehörte, sachlicher und deshalb fruchtbarer als in den Parteien-Parlamenten vor 1933. Doch rang er sich auch aufgrund seiner führenden Tätigkeit im neu gegründeten (jetzt ebenfalls überkonfessionellen) Bayerischen Bauernverband bald zu der Einsicht durch, „letztlich die Forderungen der Landwirtschaft nur im Parlament wirkungsvoll vertreten“ zu
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Nachruf von Wilhelm Wiedfeld. Fränkische Landeszeitung vom 15. 8. 1965, S. 10. Frühwald, Ernst: Der Bauernphilosoph. Das Lebensbild eines Politikers aus Franken, Sennfeld 2 1989, S. 120 Wengst, Udo: Thomas Dehler 1897–1967. Eine politische Biographie, München 1997, S. 309. Frühwald, Ernst: Der Bauernphilosoph. Das Lebensbild eines Politikers aus Franken, Sennfeld 2 1989, S. 126. Vgl. Buchna, Kristian: Nationale Sammlung an Rhein und Ruhr. Friedrich Middelhauve und die nordrhein-westfälische FDP 1945–1953, München 2010.
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können und deshalb „wieder ins parteipolitische Leben“ zurückkehren zu müssen73 . Bei einer FDP-Wahlversammlung in Rothenburg im Sommer 1949 sagte Frühwald: „Die Demokratie in Deutschland ist nicht unser eigenes Kind, sie ist das Patengeschenk der Siegermächte. [… ] Nur wenn wir dieses Kind nach unserem eigenen Willen erziehen könnten, würden wir mit ihm verwachsen.“74 Trotz der kleinen „nationalen“ Einschränkung hatte sich Frühwald damit klar zum „Geschenk“ (!) der Demokratie bekannt. Auch in einem Rundfunkvortrag zur Bundestagswahl 1949 begann er eine Aussage zur sozialen Bindung des Eigentums mit den Worten: „Für uns als Demokraten …“75. Man braucht die Seelenspiegelung, wie rasch aus den Weimarer Nationalprotestanten Frühwald und Bauereisen nach 1945 „lupenreine Demokraten“ wurden, an dieser Stelle nicht fortzusetzen. Denn was Bundesminister Dollinger bei Bauereisens Beerdigung 1965 dem Verstorbenen nachrief, gilt für beide: Der Entschluss solcher Art geprägter regionaler Honoratioren, „nach dem Zusammenbruch politisch mitzuarbeiten“, war „entscheidend für viele andere Persönlichkeiten, sich in den Dienst des [demokratischen! M.K.] Wiederaufbaus zu stellen.“76 Sie packten einfach mit an – und wurden zu Demokraten, indem sie die Spielregeln einer parlamentarischen Demokratie in der erfolgreichen praktischen Arbeit für ihre (oft agrarpolitischen) Anliegen zu nutzen verstanden. Bauereisen unter anderem als Kreisrat im Dinkelsbühler Land, als Bezirksvorsitzender des Bayerischen Bauernverbandes, als Vorsitzender der Raiffeisengenossenschaft und des Rinderzuchtverbandes Mittelfranken; Frühwald als Vizepräsident des Bayerischen Bauernverbandes, stellvertretender Vorsitzender des Landesverbandes bayerischer Schafzüchter und führendes Mitglied in der Deutschen Wollverwertung, als Aufsichtsrat der Bayerischen Zentraldarlehenskassen und anderer genossenschaftlicher Institute. Im Mittelpunkt ihrer parlamentarischen Tätigkeit in Bonn während der 1950er Jahre stand bei Bauereisen wie bei Frühwald der Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten. Bauereisen, der als „echter und selbstbewußter Sohn Frankens […] nicht im Rampenlicht glänzen“ wollte, sondern eher in der Stille arbeitete77, wirkte etwa an der Änderung des Viehseuchengesetzes oder an einem Gesetz zur Schlachtgewichtsstatistik mit78 . Frühwald hatte sich in ähnlicher Weise den Ruf erworben, „groß nicht durch Ehrgeiz, sondern durch Bescheidenheit und Taten“ zu sein79 . Aber er war in Bonn wegen seiner zeitweiligen 73 74 75 76 77 78 79
Frühwald, Ernst: Der Bauernphilosoph. Das Lebensbild eines Politikers aus Franken, Sennfeld 2 1989, S. 83. Fränkische Landeszeitung (Rothenburg Stadt und Land) vom 2. 8. 1949, S. 7. Frühwald, Ernst: Der Bauernphilosoph. Das Lebensbild eines Politikers aus Franken, Sennfeld 2 1989, S. 87. Fränkische Landeszeitung vom 18. 1. 1965, S. 7. Fränkische Landeszeitung (Dinkelsbühl Stadt und Land) vom 19. 1. 1965, S. 8. Stenographische Berichte des Deutschen Bundestages, 2. Wahlperiode, 154. Sitzung, S. 8394 D f. und 3. Wahlperiode, 118. Sitzung, S. 6848 D f. So Regierungspräsident Karl Burkhardt in einem Nachruf. Fränkische Landeszeitung vom 23. 4. 1970 (zit. nach Frühwald, Ernst: Der Bauernphilosoph. Das Lebensbild eines Politikers aus Franken, Sennfeld 2 1989, S. 152).
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Mitgliedschaft im Haushaltsausschuss insgesamt die auffälligere Figur. Er widmete sich etwa der Bekämpfung der Rindertuberkolose oder der Förderung und Erhaltung der deutschen Wollerzeugung80, sprach freilich auch öfters zu Fragen der Integration der deutschen Ostvertriebenen, wobei er manch Brücke zwischen Alteingesessenen und Neubürgern zu bauen suchte81 .
Schlussbetrachtung Die vier (mit der Besatzungszeit sogar fünf) Staatsformen in Deutschland überspannenden Lebensläufe Frühwalds und Bauereisens verweisen darauf, dass viele CSU- und FDP-Politiker der ersten Stunde, die aus dem nationalprotestantischen Weimarer Milieu kamen, das schreckliche Gesicht des Nationalsozialismus meist recht früh erkannt und sich dann entschieden von ihm abgewandt hatten. Wie repräsentativ ihre Haltung war, könnten zwar nur größere Studien quantifizieren, doch zumindest in der evangelischen Agrarprovinz Frankens stellten sie alles andere als Einzelfälle dar. Vielmehr waren Politiker mit ähnlichen Biographien die auffälligsten Gestalten in der Gründergeneration der bürgerlichen Parteien auf lokaler Ebene. Als prominentes Beispiel für Mittelfrankens Nachbarregion Oberfranken wäre dabei Adam Sühler zu nennen. Vor 1933 als Landbündler Mitglied der deutschnationalen Landtagsfraktion, zeigte er sich dem Dritten Reich gegenüber resistent, wurde von den Amerikanern 1945 zum Bürgermeister seiner Heimatgemeinde berufen und brachte es dann für die CSU bis zum Staatssekretär im Landwirtschaftsministerium82 . Studien über das konservative Milieu in der niedersächsischen Region Celle vor und nach 1945, das aufgrund der welfischen Traditionslinien ein besonderes Pflaster war, oder über den nationalsozialistischen Unterwanderungsversuch der FDP in Nordrhein-Westfalen Anfang der 1950er Jahre zeigen allerdings auch, wie spezifisch die Verhältnisse im föderalistisch strukturierten Deutschland lagen83. Für die hier untersuchten evangelischen Teile Bayerns bleibt festzuhalten, dass ehemalige NS-Aktivisten schon deshalb schwerlich in den vorderen Reihen der Aufbaugeneration von CSU und FDP zu finden sein konnten, weil die teils zum Widerstand gehörende erste CSU-Führungsriege um Josef Müller und Alois Hundhammer es unerträglich gefunden hätte, mit „alten Nazis“ an einem Vor80 81 82
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Stenographische Berichte des Deutschen Bundestages, 2. Wahlperiode, 24. Sitzung, S. 901 C f., sowie 211. Sitzung, S. 12 279 D f. Stenographische Berichte des Deutschen Bundestages, 1. Wahlperiode, 254. Sitzung, S. 12 249 D. Vgl. hierzu Kittel, Manfred: Erbschuld aus Weimar? Deutschnationale und Nationalliberale in den bürgerlichen Parteien nach 1945, in: Die politische Meinung 47 (2002), Heft 395, S. 75 f. Bösch, Frank: Das konservative Milieu. Vereinskultur und lokale Sammlungspolitik (1900–1960), Göttingen 2002; Buchna, Kristian: Nationale Sammlung an Rhein und Ruhr. Friedrich Middelhauve und die nordrhein-westfälische FDP 1945–1953, München 2010. Allerdings gehörten auch im Kreis Celle ehemalige evangelische Deutschnationale zu den Gründerfiguren der CDU, die wie Wilhelm Brese oder Edmund Rehwinkel die DNVP schon vor 1933 wieder verlassen hatten bzw. später in Konflikt mit dem NS-Staat geraten waren. Vgl. dazu in Böschs Buch die Seite 208.
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standstisch zu sitzen. Und Ähnliches galt für den ersten FDP-Landesvorsitzenden Thomas Dehler, der – aus der DDP-Tradition kommend – im Dritten Reich mit einer jüdischen Frau verheiratet geblieben war und auch ansonsten resistentes Verhalten an den Tag gelegt hatte. Inwieweit dieses Bild zu differenzieren wäre, wenn man ganz nach unten auf die lokale Ebene ginge und personelle Kontinuitäten Gemeinde für Gemeinde mit in den Blick nähme, könnten nur entsprechende Studien zeigen84. Die Lebensläufe nationalprotestantischer Politiker wie Frühwald oder Bauereisen sind im Sinn Rankes („jede Epoche ist unmittelbar zu Gott“) nur vor dem Hintergrund ihrer Zeit angemessen zu bewerten. Die Nachlebenden stehen heute oft fassungslos vor dem Berg nationalistischer, antisemitischer oder antidemokratischer Ressentiments, an dem die Weimarer Republik scheiterte. Doch die Bauereisens und Frühwalds in den bürgerlichen Parteien nach 1945 waren nicht einmal verkappte Wiedergänger Hugenbergs, der als einer der wichtigsten Steigbügelhalter Hitlers fungiert hatte. Hugenbergianer oder gar ehemalige nationalsozialistische Überzeugungstäter spielten im Aufbauprozess der CSU und der FDP in Bayern nach 1945 keine nennenswerte Rolle85. Dagegen bestimmten die aus Kirchenkampf, innerer Emigration, Resistenz oder Widerstand kommenden Kräfte auch im protestantischen Gründermilieu dieser Parteien eindeutig die Richtung. Ihre Lebensläufe zeigen eindrucksvoll, dass Kontinuitätstheoretiker, die den fundamentalen Unterschied zwischen Konservativismus und Nationalsozialismus übersehen, nicht auf den Grund der historischen Erkenntnis hinabzusteigen vermögen. Das Hauptamt des Sicherheitsdienstes (SD) der NSDAP wusste es da noch besser, als es 1939 in der „Erfassung führender Männer der Systemzeit“ auch 73, überwiegend für DVP oder DNVP engagiert gewesene Weimarer Politiker als „Rechtsopposition und Reaktion“ auflistete. Regionale Politiker wie Bauereisen oder Frühwald waren darin übrigens – anders als der bayerische DNVP-Vorsitzende Hilpert – noch nicht einmal verzeichnet. Kein Zweifel, zwischen der sich in der evangelischen Agrarprovinz vor 1933 zeitweilig als pseudo-protestantische Integrationspartei aufspielenden, in ihrem ideologischen Kern zutiefst atheistischen NSDAP und den konservativen Nationalprotestanten lagen geistige Welten. Dies hatte nicht nur mit der Einstellung zu Religion und Kirche zu tun, sondern letztlich auch mit der zu Volk und Nation. Wenn ein Veteran des Ersten Weltkriegs wie Bauereisen nach dem Anschluss Österreichs und des Sudetenlandes 1938 zeitweilig ins Grübeln kam, ob die NSDAP nicht doch die geeignete 84
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Gerade Landkreise wie Rothenburg oder Uffenheim, wo in den 1950er Jahren eine prononciert nationalliberale FDP oft noch deutlich vor der CSU lag, kämen als Untersuchungsraum in Betracht. Typisch für den anderen Weg ehemaliger Parteigänger Hugenbergs war die Karriere des letzten DNVP-Fraktionsvorsitzenden im Reichstag, Otto Schmidt, der nach 1945 nicht den Weg in die Unionsparteien oder die FDP fand, sondern sich diversen neuen Rechtsparteien anschloss. Vgl. Terhalle, Maximilian: Deutschnational in Weimar. Die politische Biographie des Reichstagsabgeordneten Otto Schmidt (Hannover) 1888– 1971, Köln u.a. 2009. Der eingangs erwähnte CDU-Bundesinnenminister und frühere Deutschnationale Lehr war dagegen 1933 von den Nationalsozialisten als Oberbürgermeister abgesetzt worden.
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Kraft sei, den ersehnten Wiederaufstieg Deutschlands ins Werk zu setzen86 , so befand sich sein Nationalgefühl damit auf der in weiten Teilen Europas, zumal bei den Verlierern von 1918 üblichen hohen Temperatur. Ein Plädoyer für den rassenideologischen Vernichtungskrieg gegen die Völker des Ostens bedeutete das „vaterländische“ Grübeln Bauereisens aber nicht87. Und der Bücherwurm Frühwald, der anders als viele Zeitgenossen Hitlers „Mein Kampf“ tatsächlich gelesen hatte, wurde dadurch Ende der 1930er Jahre sogar vor solchen Versuchungen und Zweifeln bewahrt. Selbst nach dem Hitler-Stalin-Pakt 1939 blieb Frühwald weiterhin überzeugt, dass ein Einmarsch deutscher Armeen in Russland „die zwangsläufige Folge der Forderung Hitlers nach ,Lebensraum‘ im Osten sein“ werde88. „Das Bekenntnis zur Geschichte, zur Tradition unseres Volkes, zu seinen Höhen und Tiefen, auch zum nationalen Selbstverständnis und damit zur eigenen Würde und Identität“ war für Frühwald „selbstverständlich“. Mit diesen Worten ist der FDP-Politiker von seinem Parteifreund, dem Bundeslandwirtschaftsminister Josef Ertl, der in Frühwald seinen „politischen Vater“ sah, im Rückblick (1987) charakterisiert worden. Aber Frühwald habe auch „genau um die Unterschiede zwischen national und nationalistisch“ gewusst.Was den Antisemitismus anbelangt, der in den Bauernhäusern der evangelischen Agrarprovinz weit verbreitet war, so wird man auch die westmittelfränkischen Landbündler davon nicht frei sprechen können, doch eliminatorischer, nationalsozialistischer Art war er definitiv nicht. Von Frühwald, der Lessings Drama „Nathan, der Weise“ schätzte, wissen wir vielmehr, dass er „auch den Israeliten, der seine Religion als Richtschnur seines Lebens betrachtete“, mit Achtung begegnete. Dass ein großer Teil der Nationalprotestanten den Unterschied zwischen national und nationalistisch erst zu spät begriff und auch viele, anders als Bauereisen und Frühwald, sich tief in das verbrecherische NS-System verstrickt hatten, war ein wesentlicher Grund für die schweren Identitätskrisen des deutschen Protestantismus nach 1945. Andererseits hat nicht zuletzt die Größe der Katastrophe und die Vielzahl bitterer eigener Erfahrungen unter einer totalitären Diktatur den Panzer der nationalprotestantischen Mentalität so stark verformt, dass diese sich endlich westlichen Werten von Demokratie und Parlamentarismus öffnete. Ohne diese Wandlung speziell auch in den ländlichen nationalprotestantischen Traditionsmilieus, an der pragmatische Politiker wie Bauereisen und Frühwald maßgeblich mitwirkten, wäre auch die zweite deutsche Demokratie auf Sand gebaut worden.
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Kittel, Manfred: Provinz zwischen Reich und Republik. Politische Mentalität und Parteiwesen in Deutschland und Frankreich 1918–1933/36, München 2000, S. 744. Wie sein Enkel Alexander Küßwetter es formuliert hat, befanden sich das Protestantische und das Nationale beim Nationalprotestanten Bauereisen in einem Mischungsverhältnis von etwa 65 zu 35%. Gespräch mit A. Küßwetter am 20. 9. 2011. Frühwald, Ernst: Der Bauernphilosoph. Das Lebensbild eines Politikers aus Franken, Sennfeld 2 1989, S. 44. Dort (auf S. 3 und S. 11) auch die folgenden Zitate.
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Weiterführende Literatur Kittel, Manfred: „Weimar“ im evangelischen Bayern. Politische Mentalität und Parteiwesen 1918–1933, mit einem Ausblick auf die Zeit nach 1945, München 2001. Frühwald, Ernst: Der Bauernphilosoph. Das Lebensbild eines Politikers aus Franken, Sennfeld 2 1989. Baumeister, Frank (Hg.): Hesselbergland. Land und Leute in Ehingen, Dambach und Lentersheim, Gunzenhaun 1991. Dort vor allem der Beitrag von Friedrich Bauereisen: „MdB Johann Friedrich Christian Bauereisen. Bürgermeister 1945–1965“ im Kapitel „Persönlichkeiten“ auf S. 445–447.
Hinweise zu den Quellen Nur über einen der beiden Protagonisten dieses Aufsatzes, nämlich über Konrad Frühwald, steht dem Forscher eine von dessen Sohn, einem Tierarzt, zusammengestellte und publizierte Materialsammlungzur Verfügung, die zwar nicht fachwissenschaftlicher Art ist, aber doch von hohem Wert, weil sie eine ganze Reihe ansonsten verlorener Quellen enthält (s. den obigen Literaturhinweis). Für Friedrich Bauereisen gibt es so etwas nicht, und hier ist auch wegen eines Dachstuhlbrandes im Hause seines Enkels, des heutigen stellvertretenden Bezirkstagspräsidenten Alexander Küßwetter (CSU), Material vernichtet worden, das für die Darstellung wichtig gewesen wäre. Auch durch den Spruchkammerbescheid Bauereisen (für Frühwald wurde im Staatsarchiv Nürnberg hier Fehlanzeige vermeldet), die punktuelle Auswertung der Lokalpresse sowie der sehr übersichtlichen Altbestände des Gemeindearchivs in Bauereisens Heimatort Ehingen war dieses Ungleichgewicht der Quellen nicht ganz wettzumachen. Herzlich danken möchte ich für den Zugang zu archivalischen Beständen der Fränkischen Landeszeitung (Ansbach) deren Verleger, Guido Mehl, für die Betreuung im Archiv der Gemeinde Ehingen dem dort tätigen Beamten, Friedrich Fuchshuber, sowie für aufschlussreiche Gespräche zu Friedrich Bauereisen dessen Enkel, Alexander Küßwetter.
Helmut Altrichter
„Politik ist keine Religion“ – Julius Leber (1891–1945) Julius Leber war Sozialdemokrat, hatte für seine Partei von 1921 bis 1933 in der Lübecker Bürgerschaft gesessen, seit 1924 auch im Reichstag. Im historischen Gedächtnis geblieben ist er, weil er zum inneren Kreis um den 20. Juli gehörte. Er nahm, wie er nach dem Scheitern des Attentats auf Hitler, ohne Namen zu nennen, zu Protokoll gab, 1943 an einer „Reihe von Besprechungen“ teil, die das Ziel hatten, „eine Einheitsfront zwischen Rechts- und Linksopposition zu schaffen“ sowie „ehemalige christlichen Gewerkschaften und freie Gewerkschaften“ im Widerstand gegen das nationalsozialistische Regime zusammenzubringen. Er verhandelte mit Vertretern des nationalkonservativen Zirkels um den einstigen Leipziger Oberbürgermeister Carl Goerdeler, der Planskizzen zur Außen- und Innenpolitik Deutschlands nach dem Zusammenbruch des Hitler-Regimes ausgearbeitet hatte. Im Spätsommer des gleichen Jahres lernte Leber führende Köpfe des Kreisauer Kreises kennen, die sich auf dem Familienbesitz der Moltkes in Niederschlesien zu mehreren Gesprächsrunden zusammen gefunden und „Grundsätze für die Neuordnung“, zum „Reichsaufbau“, zu „Kirche, Kultur, Bildungswesen“, zur „Wirtschaft“ sowie zur „Bestrafung von Rechtsschändern“ formuliert hatten. Ende 1943 traf Leber Claus Schenk Graf von Stauffenberg, die zentrale Figur des militärischen Widerstands gegen den Nationalsozialismus. Es entwickelte sich, so wird berichtet, rasch eine „tiefe menschliche und politische Freundschaft“. Ende Juni 1944 nahm er vorsichtige Sondierungsgespräche mit kommunistischen Vertretern um Anton Saefkow und Franz Jacob auf; zu einem avisierten zweiten Treffen kam es nicht mehr. Anfang Juli wurde Leber verhaftet; vermutlich war in der Gruppe ein Spitzel gewesen. Anfang Januar 1945 wurde Leber in Berlin-Plötzensee hingerichtet. Von Leber ist keine Denkschrift überliefert, wie er sich den Neubeginn nach Hitler vorstellte. Im Grunde hielt er auch nicht viel von langen Programmdiskussionen. Mit ihnen war das diktatorische Regime nicht zu stürzen, waren Recht, Gesetz und Ordnung, Menschenwürde und politische Freiheit nicht wiederherzustellen. Er sah sich selbst eher als politischen Pragmatiker (was wohl schon Zeitgenossen dazu brachte, ihn der „rechten“ Sozialdemokratiezuzuordnen). Formulierungen, wie die der Kreisauer „Grundsätze“, die „im Christentum die Grundlage für die sittliche und religiöse Erneuerung unseres Volkes, für die Überwindung von Haß und Lüge, für den Neuaufbau der europäischen Völkergemeinschaft“ sahen, gingen Leber wider die politische Natur, was er in den Diskussionen vehement zum Ausdruck brachte.1 Völlig fremd waren ihm auch die politischen An1
Text in: Roon, Ger van: Neuordnung im Widerstand, München 1967, S. 542–571; zu den Kontakten aus Sicht der Ermittler: Jacobsen, Hans-Adolf (Hg.): Spiegelbild einer Verschwörung. Die Opposition gegen Hitler und der Staatsstreich vom 20. Juli 1944 in der SD-Berichterstattung. Geheime Dokumente aus dem ehemaligen Reichssicherheitshauptamt, 2 Bd., Stuttgart 1984.
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sichten Carl Goerdelers und seines Umkreises; er machte die „Reaktionäre“ von der DNVP, zu der auch Goerdeler gehört hatte, für den Untergang der Weimarer Republik und den Aufstieg des Nationalsozialismus mit verantwortlich. Dass er sozial nicht zur adelig-großbürgerlichen Welt, wie sie die konservativ-militärischen Widerstandskreise verkörperten, gehörte, war beiden Seiten wohl bewusst: Leber stammte aus einfachsten Verhältnissen und machte auf Helmuth James Graf von Moltke einen „bäurischen“ Eindruck.2 Erst recht blieb Leber skeptisch gegenüber den Kommunisten. Doch er war überzeugt, dass „Sozialdemokraten ein Bündnis auch mit Teufel [eingehen müssten] zu dem ausschließlichen Zweck, Hitlerfaschismus und Hitlerkrieg zu liquidieren“.3 Leber nötigte seinen neuen Partnern trotz der sozialen Unterschiede und ideologischen Differenzen, Respekt, ja Hochachtung ab. Auch wenn seine Fähigkeiten „sehr einseitig im rein Praktischen“ lägen, war er für Moltke ein „überzeugend guter Mann“, der schon durch seine „ungeheuere Aktivität“ für sich einnahm.4 Leber stand zu seiner „proletarische[n] oder doch jedenfalls völlig unbürgerliche[n] Herkunft“5 und beeindruckte offensichtlicht durch Geradlinigkeit, Zuverlässigkeit, Glaubwürdigkeit. Was er war, hatte er sich erarbeitet: das Abitur, den Offiziersrang im Ersten Weltkrieg, die Promotion. Was er tat, tat er mit Entschlossenheit und Konsequenz. Er war der Sozialdemokratie beigetreten, als dies in Kreisen von Bürgertum und Militär, bei Besitz und Bildung immer noch als moralischer Makel galt, der Karriere eher hinderlich als förderlich war.6 Er blieb sich treu und brauchte sich seiner politischen Vergangenheit nicht zu schämen. Er hatte für seine demokratischen Überzeugungen und die junge Republik gekämpft, gegen rechts und links, noch, als andere sie längst aufgegeben und den Nationalsozialismus als Zukunft gepriesen hatten. Er bezahlte diesen Kampf 1933 mit Verhaftung und Verfolgung, jahrelangen Demütigungen und Erniedrigungen, im Gefängnis und anschließend im Konzentrationslager. Dass sie ihn nicht zu brechen vermocht hatten, dass er sich im Widerstand gegen das Regime erneut für seine Überzeugungen zur Verfügung stellte, nötigte Bewunderung ab. Goerdelers Kabinettsliste sah ihn als neuen Innenminister vor, was Stauffenberg nachhaltig unterstützte. Noch lieber hätte er Leber als neuen Reichskanzler, anstelle Goerdelers oder zumindest in seiner Nachfolge gesehen.7 Etwas von dem, was Lebers Persönlichkeit ausmachte, wird in Stationen seines Lebensweges greifbar.
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Moltke, Freya von, Balfour, Michael und Frisby, Julian: Helmuth James von Moltke, 1907–1945. Anwalt der Zukunft, Stuttgart 1975, S. 285. So in einem Nachruf auf Julius Leber von Gustav Dahrendorf 1947, hier zitiert nach Beck, Dorothea: Julius Leber. Sozialdemokrat zwischen Reform und Widerstand, Berlin 1983, S. 196. Moltke, Freya von, Balfour, Michael und Frisby, Julian: Helmuth James von Moltke, 1907–1945. Anwalt der Zukunft, Stuttgart 1975, S. 275 und 284. Leber, Julius: Schriften, Reden, Briefe (hg. von Beck, Dorothea und Schoeller, Winfried), München 1976, S. 280 f. So auch der Kommentar eines Mitschülers, vgl. Beck, Dorothea: Julius Leber. Sozialdemokrat zwischen Reform und Widerstand, Berlin 1983, S. 25. Ritter, Gerhard: Carl Goerdeler und die deutsche Widerstandsbewegung, München (Taschenbuchausgabe) 1964, S. 319 ff., 386 f., 575 f.
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Aufsteiger aus „kleinen“ Verhältnissen Julius Leber wurde als unehelicher Sohn einer Tagelöhnerin 1891 im elsässischen Biesheim geboren und wuchs in kleinbäuerlichen Verhältnissen auf. Der Ortsgeistliche sorgte dafür, dass er nach der Grundschule die GroßherzöglicheHöhere Bürgerschule im rechtsrheinischen badischen Breisach besuchte. Sie war nahe genug, um nach der Schule in der Landwirtschaft mithelfen zu können; trotzdem war Julius während der 6 Jahre stets der Klassenbeste. Nach der Bürgerschule begann er in Breisach eine kaufmännische Lehre, bevor er im Spätsommer 1910 ins 30 Kilometer entfernte Freiburg ging, in die Unterprima der RotteckOberrealschule eintrat und dort das Abitur nachholte. Nach eigenen Angaben wandte Leber sich schon als Schüler der Sozialdemokratie zu; ob, wenn es so war, dahinter mehr als ein juveniles Aufbegehren zu sehen ist, ist nicht zu sagen.8 Nach dem Abitur begann Leber im Herbst 1912 an der Kaiser-Wilhelms-Universität in Straßburg ein Studium der Nationalökonomie und wechselte nach zwei Semestern an die Universität Freiburg, bevor nach weiteren zwei Semestern der Krieg das Studium für mehrere Jahre unterbrach. Leber meldete sich – wie viele seiner Kommilitonen – Anfang August 1914 freiwillig, wurde Soldat im 3. Oberelsässischen Feldartillerieregiment Nr. 80 und machte den gesamtem Krieg bis zum unrühmlichen Ende mit. Er nahm im Herbst 1914 und Frühjahr 1915 an den Flandernschlachten teil, wurde im Sommer 1915 schwer verwundet, nach einem halben Jahr Lazarettaufenthalt als garnisonsverwendungsfähig entlassen und an die Ostfront verlegt. Einer erneuten Verwundung folgten ein weiterer, diesmal zweimonatiger Lazarettaufenthalt, die neuerliche Verlegung nach Westen und eine Gasvergiftung, an deren Folgen er lebenslang zu laborieren hatte. Schon im März 1915 zum Leutnant befördert, wurde er mit dem Eisernen Kreuz 2. und 1. Klasse sowie dem Verwundetenabzeichen ausgezeichnet. Leber kehrte auch nach Kriegsende nicht in seine, nun zu Frankreich gehörende, elsässische Heimat zurück, wurde mit seinem Truppenteil in die vorläufige Reichswehr übernommen und war nun, im Dienste der jungen Republik, zur Grenzsicherung im Osten eingesetzt. Während des Kapp-Putsches im März 1920 verweigerten Leber und die Soldaten seiner in Hinterpommern stationierten Batterie den Putschisten die Gefolgschaft; sie nahmen Verbindung zur örtlichen Arbeiterwehr auf und widersetzten sich dem Befehl übergeordneter militärischer Stellen, die Waffen nieder zu legen. Das brachte Leber, nachdem der Putsch niedergeschlagen war, den Vorwurf ein, den militärischen Gehorsam verweigert und einen „Links-Putsch“ versucht zu haben; er wurde verhaftet. Ob er aus der Reichswehr entlassen wurde oder noch vor der Klärung des Vorgänge seinen Abschied nahm, ist unklar. Die Enttäuschung blieb.9 Zurückgekehrt an die Universität Freiburg, schloss Leber noch im gleichen Jahr 1920 sein volkswirtschaftliches Studium mit einer Dissertation über die „ökonomische Funktion des Geldes im Kapitalismus“ ab, offensichtlich nieder8 9
Hierzu wie zum Folgenden: Beck, Dorothea: Julius Leber. Sozialdemokrat zwischen Reform und Widerstand, Berlin 1983, S. 23 ff. Dazu auch Lebers eigene Darstellung in: Leber, Julius: Schriften, Reden, Briefe (hg. von Beck, Dorothea und Schoeller, Winfried), München 1976, S. 13 f.
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geschrieben in wenigen Wochen und mit „cum laude“ bewertet. Nach sechs Jahren Kriegsunterbrechung war damit, was einst begonnen wurde, nun auch zu Ende geführt, der Ordnung genüge getan, mehr nicht. Inzwischen SPD-Mitglied, bewarb er sich um die Stelle eines Redakteurs der sozialdemokratischen Zeitung „Lübecker Volksbote“, wusste, dass man von ihm auch die Mitarbeit in der Parteiorganisation erwartete, bekam den Posten und nahm bereits Mitte März 1921 die neue Tätigkeit auf.
Mit spitzer Feder für die junge Republik In Hunderten von mit „Dr.L.“ signierten Artikeln begann Leber nun, dem Lübecker Leser die große und kleine Politik zu deuten. Zupackend, meinungsfreudig, unmissverständlich. Themen gab es in diesen unruhigen Zeiten zuhauf. Stets kam es ihm darauf an, die großen politischen Zusammenhänge hinter den Dingen verständlich zu machen. Der Leser sollte verstehen, dass der Flaggenstreit zwischen Schwarz-Rot-Gold und Schwarz-Weiß-Rot ein Streit zwischen Republik und Monarchie, ein „Kampf um die Staatsform und damit um die Macht“ war; „jeder Angriff auf die schwarzrotgoldene Flagge“, so schrieb er im Juni 1921, ist „ein Angriff auf die Republik selbst, und wenn wir diese Fahne verteidigen, so verteidigen wir damit das demokratische Prinzip“.10 Vergleichbares gelte für Straßennamen und Bilder der kaiserlichen Familie im öffentlichen Raum. Viel zu lange habe es gedauert, bis die Lübecker Oberschulbehörde sich bequemte, dem Drängen der Bürgerschaft nachzugeben und „ihren alten kaiserlichen Halbgott aus den Klassenzimmern zu entfernen. Und drei Jahre haben noch nicht genügt, die Schulbücher von dem alten Hohenzollernkitsch zu reinigen.“ „Sollen wir noch lange zusehen“, fragte er im gleichen Artikel Mitte März 1922, „wie an Gymnasien und Realschulen eine vom Staat bezahlte Lehrerschaft ihre Stellung dazu missbraucht, gegen Republik und Sozialismus zu hetzen? In die Schule gehört keine Parteipolitik. Aber freudiges Eintreten für die republikanische Staatsform, für den Gedanken des neuen Staates ist unbedingtes Erfordernis. Lehrer, die solchem Erfordernis nicht genügen, haben im Dienst der Republik nichts mehr zu suchen“. Sie könnten „als Hauslehrer bei junkerlichen und adeligen Dummköpfen“ ihr Brot verdienen. Anlass des Artikels war, dass in den Nächten zuvor „Dutzende buntbemützter Jünglinge“, „Abiturienten einer hiesigen höheren Bildungsanstalt“ durch die stillen Straßen Lübecks gezogen waren, „nationalistische Lieder“ gegrölt, republikanische Politiker wüst beschimpft und „Hakenkreuzgeist niedrigster Stufe“ demonstriert hatten. Zwar habe Lübeck eine sozialistische Mehrheitsregierung, doch das gesamte höhere Schulwesen sei noch immer „wie zu Wilhelms Zeiten […] eine Insel für das Bürgertum“, noch immer erziehe „der Staat mit dem von Arbeitern mühsam erschundenen Geld Herrensöhne zu Feinden der Arbeiterschaft und der Republik“.11 10 11
Leber, Julius: Schriften, Reden, Briefe (hg. von Beck, Dorothea und Schoeller, Winfried), München 1976, S. 22 f. Leber, Julius: Schriften, Reden, Briefe (hg. von Beck, Dorothea und Schoeller, Winfried), München 1976, S. 30 f.
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Vergleichbares galt aus Lebers Sicht auch für den Justizapparat. „Unsere Richter fühlen sich im wesentlichen immer noch“, so schrieb er im Dezember 1924, „als Beamte des alten Staates. Sie sind deutsch-national, sie sind Monarchisten. Zwar sind sie, ruhig wiederkäuend, an der Staatskrippe sitzen geblieben nach der Umwälzung im November 1918, zwar haben sie den neuen Eid auf die Verfassung der Republik abgeleistet, aber – innerlich sind sie das, was sie immer waren: rückständige Monarchisten. Diese Tatsache wird dadurch so verhängnisvoll, wirkt dadurch doppelt demoralisierend auf unsere Justiz, weil diese Richter die anderen und auch sich selbst über ihre wahre Gesinnung hinwegtäuschen mit einem frömmlerischen Augenaufschlag zu ihrer streng in Schlagworten gefassten Objektivität.“ Mit diesem Text reagierte Leber auf das Urteil des Magdeburger Landgerichts in jenem Prozess, den Reichspräsident Ebert gegen einen Journalisten der „Mitteldeutschen Presse“ angestrengt hatte. Dieser hatte in einem Artikel Ebert vorgeworfen, durch die Unterstützung eines Munitionsarbeiterstreiks im Januar 1918 die Kriegsniederlage mitverschuldet zu haben. Das Gericht verurteilte den Journalisten zwar wegen Beleidigung zu einer Freiheitsstrafe von drei Monaten. Dass Ebert angab, der Streikleitung nur beigetreten zu sein, um ihn möglichst rasch zu beenden, hielt das Gericht zugleich für juristisch belanglos. „Objektiv“ habe Eberts Verhalten den Tatbestand des Landesverrats nach § 89 des Strafgesetzbuches erfüllt, womit das Gericht im Grunde dem Beklagten recht gab und den rechten Republikfeinden einen politischen Sieg beschwerte. Zwar ging Ebert in die Berufung, starb aber wenige Wochen später an einer verschleppten Blindarmentzündung. „Der Republikaner, der sich heute noch zu irgendeiner politischen Klage hinreißen lässt“, so lautete Lebers Resümee, „muß von allen guten Geistern verlassen sein. Er kann bei unserer heutigen Justiz etwas erleben, er ist schutzlos einer Meute von Hetzern und Verleumdern preisgegeben, denen die Gerichte willfährige Bütteldienste leisten. Halb unbewußt vielleicht, aber trotzdem nicht entschuldbar“.12 Dass auch das Militär nicht auf Seiten der Republik stand, hatte Leber im Kapp-Putsch am eigenen Leib erfahren. Dass die militärische Führung erfolgreich die Schuld an der Niederlage anderen, den Repräsentanten des neuen Staates zuschob, hatte der Ebert-Prozess einmal mehr gezeigt. Und jeder ihrer Auftritte mit den alten Fahnen und klingendem Spiel demonstrierte diesen Ungeist und ihre Sonderrolle im Staat, so sehr auch Leber dagegen anzuschreiben versuchte. Er hatte dabei insbesondere Erich Ludendorff im Visier, der nun als Galionsfigur der rechten Republikfeinde auftrat und sich für seine Verdienste im Ersten Weltkrieg feiern ließ. Er stand für die „Geistesverfassung preußischer Generale, die so schwere Not und so schwere Schuld auf Deutschlands Haupt gesammelt“ haben, wie Leber anlässlich der Kriegsverbrecherprozesse vor dem Leipziger Reichsgericht (im Juli 1921) schrieb. Nach Kriegsende sei Max Weber zu Ludendorff gegangen und habe ihn aufgefordert: „Wenn Sie ein Mann sind und wenn Sie ein gutes Gewissen haben, so stellen Sie sich freiwillig der Entente“. Doch Ludendorff, der „Millionen in den Tod gejagt hat“, sei „zu feige“ gewesen, seine Person 12
Leber, Julius: Schriften, Reden, Briefe (hg. von Beck, Dorothea und Schoeller, Winfried), München 1976, S. 56 f.
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einzusetzen.13 Unter der Überschrift „Helden“ beschrieb Leber seine klägliche Rolle beim Münchner Novemberputsch von 1923: „Ludendorff, der ,gewaltige Heerführer‘ aus dem Weltkrieg, zettelte in einer Münchner Bierwirtschaft einen kleinen Putsch an. Mit einigen Abenteurern verschanzt er sich. Um auf den ersten Schuß beide Hände hoch zu heben und alle Schwüre der Welt herunterzuleiern, um sein bisschen Leben zu behalten“.14 Doch Ludendorffs Nimbus blieb ungebrochen, seine Rolle im Lager der Republikfeinde schillernd und die Grenze zwischen neuen Völkischen, alten Monarchisten und Reichswehr fließend, wie ihre Großdemonstration im Mai 1924 in Halle anlässlich der Einweihung eines Moltke-Denkmals zeigte. Obwohl Innenminister Jarres am 1. Mai alle Versammlungen unter freiem Himmel verboten hatte, beriefen die „Deutschen Verbände“ nur zehn Tage später einen „Deutschen Tag“ nach Halle ein. Er bot, wie Leber tags darauf im Lübecker Volksboten schrieb, „Gelegenheit zu einer schwarzweißroten Flaggenparade, zu einer riesigen monarchistischen Kundgebung“. An der Feier nahm eine Kompagnie des Reichswehrregiments „Graf von Moltke“ Nr. 38 teil; sie wurde vom „Stahlhelm“, dem paramilitärischen Wehrverband der Frontsoldaten abgeholt und mit klingendem Spiel durch die Stadt geleitet. Zwar sei eigentlich nur eine Feier erlaubt gewesen, doch habe die Polizei nicht verhindern können oder wollen, dass sich ein Festzug formierte, bei dem neben zahlreichen anderen militärischen Größen Ludendorff („wie ein pompös aufgezäumtes Zirkuspferd“) mitmarschierte und „nicht weniger als 50 Hakenkreuz- und Totenkopffahnen“ sich anschlossen.15
Sozialdemokratischer Realpolitiker Von Anfang an ging es Leber nicht nur um die journalistische Auseinandersetzung mit den Problemen. Kaum in Lübeck angekommen, engagierte sich der junge Redakteur in der Lokalpolitik, ließ sich schon in seinem ersten Lübecker Jahr (1921) auf der SPD-Liste für die Bürgerschaft aufstellen und wurde gewählt. Noch im selben Jahr nahm er als Delegierter des Bezirks Mecklenburg-Lübeck am Parteitag der SPD in Görlitz teil, wo er mit der linken Minderheit gegen eine Koalition mit der DVP stimmte. In seinen Artikeln hatte er schon vorher gegen den neuen Programmentwurf polemisiert: An den „marxistischen Grundlagen“ der Partei, am Ziel der „Befreiung des arbeitenden Volkes aus den Fessel des Kapitalismus durch den Sozialismus“ dürfe nicht gerührt werden; auch hier entschied die Parteimehrheit anders.16 Selbst wenn Leber nie einfach „die alte ,Ideologie‘ über Bord werfen“ wollte, um „mit dem Parteivorstand durch dick und dünn zu gehen“, machte auch er sich 13 14 15 16
Leber, Julius: Schriften, Reden, Briefe (hg. von Beck, Dorothea und Schoeller, Winfried), München 1976, S. 24 f. Leber, Julius: Schriften, Reden, Briefe (hg. von Beck, Dorothea und Schoeller, Winfried), München 1976, S. 44 f. Leber, Julius: Schriften, Reden, Briefe (hg. von Beck, Dorothea und Schoeller, Winfried), München 1976, S. 48 f. Beck, Dorothea: Julius Leber. Sozialdemokrat zwischen Reform und Widerstand, Berlin 1983, S. 48 ff.
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allmählich die Einsicht zu eigen, dass „unsere Aufgaben […] heute ganz anders als vor zehn oder zwanzig Jahren“ sind und die „Wandlungen der Zeit […] auch Wandlungen von uns“ verlangen. Das müsse die innerparteiliche Opposition begreifen, die an der alten Ideologie zäh festhalte und sie immer wieder hervorhole, um sie der Mehrheit, den „Realpolitikern“, vor die Füße zu werfen. Vielmehr müssten sich beide, die Politiker des „Nur-gestern“ und des „Nur-heute“ die Frage nach dem Morgen und Übermorgen stellen, so schrieb Leber in seinem „Schlusswort“ zum folgenden Berliner Parteitag im Juni 1924, an dem er erneut als Delegierter des Bezirks Mecklenburg-Lübeck teilgenommen hatte.17 Ende des Jahres 1924 schrieb er, was nun eine Art Leitlinie für ihn bleiben sollte: „Politik ist keine Religion, sondern – Politik! Der Religiöse unterwirft sich selbst dem Dogma; er tut selbst Törichtes, diesem Dogma zuliebe. Anders der Politiker. Für ihn gibt es kein absolutes Dogma, er ist kein Sektierer. Richtunggebend für ihn ist in den Tatsachen das Ziel. Auf dieses Ziel stellt er die Wirkung seiner Mittel ein, im freien Spiel seiner Kräfte und seiner grundsätzlichen Ansichten“.18 Seit Mai 1924 saß Leber für Lübeck im Reichtag. Eine Verpflichtung mehr, bei aller Politik die Bedeutung für das Ganze, die Republik, mitzubedenken. Und für ihr Morgen und Übermorgen. Mit Außenpolitik hatte er sich in seinen Artikeln schon vorher befasst. Wohl mitbedingt durch seine Herkunft war der Blick dabei besonders nach Westen gerichtet: auf die Folgen des Versailler Vertrages und die Reparationsfrage; auf „französischen Chauvinismus“ und „gallischen Augenblicksrausch“, dem „alles“ zuzutrauen sei; auf die Besetzung des Ruhrgebietes „ohne jeden Rechtsgrund“ und „Herrn Poincaré“, der dem „Verbrechen“ das „Mäntelchen der Unschuld umzuhängen“ versuchte; auf den „unerbittlichen Feind“, der vor Deutschlands Grenzen „in Waffen starrend“ liege.19 Doch er appellierte zugleich „an die deutsche Vernunft“: Deutschland habe den Krieg nun einmal verloren. „Waren sich die nationalen Herrschaften“, so schrieb Leber im Mai 1924, „die im Krieg so fürchterlich den Mund aufrissen, nicht klar darüber, dass eine der beiden Parteien den Krieg verlieren und dass die verlierende Partei fürchterliche Fesseln auf Jahrzehnte tragen musste? Helfferich20 sprach es ja schon 1915 aus. Unsere Feinde werden ungeheuer bezahlen müssen, unsere ganzen Kriegsschulden werden auf sie niederwuchten, mögen sie dann die Sklavenfesseln wie fürchterliche Bleigewichte durch die Jahrzehnte schleppen. So drohte man dem Feind und jetzt, wo er gegen uns dasselbe deutschnationale Rezept anwendet, sind die Freunde Helfferichs aufs höchste erstaunt und entrüstet“. Die Losung konnte nur sein: „Abwarten“; „Zeit gewinnen“, damit „die Siegervölker ihren Rausch ausschlafen“, „wichtigtuerischer und nationalistischer Unverstand sich austoben“ konnte, bis die „Epoche der Kriegervereine hüben und drüben“ 17 18 19 20
Leber, Julius: Schriften, Reden, Briefe (hg. von Beck, Dorothea und Schoeller, Winfried), München 1976, S. 50 f. Leber, Julius: Schriften, Reden, Briefe (hg. von Beck, Dorothea und Schoeller, Winfried), München 1976, S. 58. Leber, Julius: Schriften, Reden, Briefe (hg. von Beck, Dorothea und Schoeller, Winfried), München 1976, S. 20, 34 ff., 42. Karl Helfferich, damals Staatssekretär im Reichsschatzamt, nach dem Krieg einer der lautstärksten deutschnationalen Wortführer gegen „Novemberverbrecher“ und „Erfüllungspolitiker“.
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abebbte; und „immer aufs neue seine Verständigungsbereitschaft […] erklären, seine ehrliche Erfüllungsbereitschaft […] beweisen und das im Krieg von allen Seiten zerstörte Vertrauen des einen Volkes zum anderen wiederherstellen“.21 Als wichtigen Schritt in diese Richtung sah Leber das Vertragswerk von Locarno. Für ihn bestand dessen tieferer Sinn, wie er Ende Oktober 1925 im Lübecker Volksboten schrieb, „weniger in der Tatsache, dass Deutschland auf das Elsaß, Frankreich auf seine vielbesprochenen Rheinpläne verzichtet, sondern vielmehr darin, dass die beiden großen europäischen Nationen sich die Hände gereicht haben in der festen Absicht, gemeinsam einen Weg der Verständigung zu suchen, einen Strich unter die Vergangenheit zu machen und für die Zukunft als europäische Leidensgenossen nebeneinander zu stehen“. Dafür war der Vertrag freilich nur ein „Anstoß“, was daraus wurde, ob die „Vernunft von Locarno“ sich umsetzte „in politische Vernunft im französischen und mehr noch im deutschen Volk“, ob der „Sinn des Werks von Locarno“ wirklich zum „geschichtlichen Sinn für Europa“ wurde, darüber lag die Entscheidung bei den Völkern selbst. 22
Gegner der Nationalsozialisten Wenn Leber in seinem Zeitungsartikel über den Novemberputsch 1923 bereits Hitler als den „Großen“ bezeichnete, so war das blanke Ironie: „Hitler, der Große, feuerte einen Revolverschuß in die Decke. Und sofort sinken Kahr und Lossow, die beiden Männer der deutschen Zukunft, in die Knie, ihn anzubeten. Und mit einem sich in unteren Körperteilen aufhaltenden Herzen halten sie begeisterte Reden für ihren großen Herrn Hitler und für eine stolze deutsche Monarchie“.23 Im Herbst 1929 titulierte Leber die Nationalsozialisten als „Räuberbande des Großkapitals“, die – geführt von „lauter entlassene[n] Offiziere[n], verkrachte[n] Schieber[n], Adelige[n], die noch niemals ehrlich Arbeit geleistet haben“ – die Schaufenster jüdischer Geschäfte einschlugen, Prügeleien auf öffentlichen Plätzen inszenierten und rücksichtslos Arbeiter niedertrampelten, die eine andere Meinung zu zeigen wagten. Ihr einziger Programmpunkt sei: Hitler. Doch auch des „großen Adolf Stern“ sei am Verblassen. Nicht nur „dass er jetzt seit sechs Jahren immer dieselbe Rede hält, was selbst anspruchslose Majore auf die Dauer langweilt“. Knüppeln allein genüge nicht, die Partei müsse schließlich auch sagen, „was sie nach dem Knüppel will“, und dann sei sie mit ihrer Weisheit am Ende. Und wenn das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold, gegründet zum Schutz der Republik gegen ihre rechten und linken Feinde, aus „Rücksicht auf den Staat und seine Ordnung“, sich zunächst zurück gehalten habe: Inzwischen
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Leber, Julius: Schriften, Reden, Briefe (hg. von Beck, Dorothea und Schoeller, Winfried), München 1976, S. 45 ff. Leber, Julius: Schriften, Reden, Briefe (hg. von Beck, Dorothea und Schoeller, Winfried), München 1976, S. 63 ff. Leber, Julius: Schriften, Reden, Briefe (hg. von Beck, Dorothea und Schoeller, Winfried), München 1976, S. 44.
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seien auch für Sozialdemokraten die Zeiten vorbei, in denen sie sich „von einigen nationalsozialistischen Schlägergarden terrorisieren“ ließen.24 Leber wähnte Hitler erneut am Ende, als 1931 die Parteilinke unter Gregor Strasser und der ostdeutsche SA-Führer Walter Stennes gegen den „Salonbolschewismus“ der Münchner Parteizentrale, ihre Verschwendungssucht und das Bonzentum aufbegehrten. Die SA-Leute, so Leber, „bis dahin gegen Staat und Kapital dressiert“, wollten nicht hinnehmen, dass die Parteiführung nun Hunderttausende ausgab „für die Ausschmückung eines herrlichen Palastes in München, für Luxusautos, für Repräsentationszwecke“, dass sich ihrem Führer nun „die vornehmen Salons Münchens“ öffneten, „mondäne Damen“ ihm „dezent parfümierte Liebesbillettchen“ schickten und er seine Erholungsstunden „auf feudalen Landsitzen am Rhein und in den Alpen“ verbrachte. Und im Oktober 1932 erklärte Leber Hitler noch einmal für politisch tot: Er sei bei den Deutschnationalen, dem „ganz fürnehme[n] Bürgertum“, gleichsam über Nacht aus der Mode gekommen, die Herrn vom Adel und im Generalsrock hätten den „Anstreichergesellen aus Österreich“ und „böhmischen Gefreiten“, die „braunen Kamelrücken“, auf denen sie vorher saßen, ohnehin nie für voll und ebenbürtig genommen und nun eben zurück in den Stall geschickt.25 Es waren Wunschträume, die sich nicht erfüllten. Doch Leber ließ es nicht dabei, er nahm den Kampf gegen den nationalsozialistischen Gegner auf allen Fronten auf: im Reichstag, wo die NSDAP seit 1930 mit 107 Abgeordneten saß und zusammen mit den Kommunisten jedes vernünftige Agieren mehr und mehr verhinderte, seit Sommer 1932 stellte sie hier mit 230 Abgeordneten die größte Fraktion; in der Lübecker Bürgerschaft, wo sie 1932 zur zweitstärksten Fraktion nach der SPD aufstieg und fortan den Ton vorgab; in Versammlungen und auf der Straße, wo Leber nicht nur zahllose Reden hielt, sondern die Arbeiterschaft aufforderte, sich von den braunen Horden nicht terrorisieren zu lassen, ihnen Gleiches mit Gleichem heimzuzahlen; seit der Gründung des Reichsbanners SchwarzRot-Gold 1924 war er in Lübeck Mitglied. Schon Ende Oktober 1930 hatte ihm ein Nationalsozialist in einer Sitzung der Lübecker Bürgerschaft angekündigt, es werde die Stunde kommen, wo man an seine Tür klopfen werde, um ihm zu sagen: „Herr Dr. Leber, es ist soweit“. Und im Lübecker Volksboten stand am 13. März 1932, einer der „bekanntesten Lübecker Naziführer“ habe gedroht: „Zwei Stunden nach unserem Sieg hängt Dr. Leber auf dem Marktplatz“.26 In Lübeck wurde die Kanzlerschaft Hitlers einen Tag nach Berlin, am 31. Januar 1933, mit einem Fackelzug gefeiert. Da er durch einen Telefonanruf gewarnt worden war, ließ sich Leber auf dem nächtlichen Nachhauseweg von zwei Reichsbannermitgliedern begleiten. Die Gruppe wurde von SA-Mitgliedern gestellt. Es kam zu einer heftigen Schlägerei, bei der Leber erheblich verletzt und einer der 24 25 26
Leber, Julius: Schriften, Reden, Briefe (hg. von Beck, Dorothea und Schoeller, Winfried), München 1976, S. 123 f., 125 f. Leber, Julius: Schriften, Reden, Briefe (hg. von Beck, Dorothea und Schoeller, Winfried), München 1976, S. 148 ff., 174 ff. Beck, Dorothea: Julius Leber. Sozialdemokrat zwischen Reform und Widerstand, Berlin 1983, S. 122; Leber, Julius: Schriften, Reden, Briefe (hg. von Beck, Dorothea und Schoeller, Winfried), München 1976, S. 163.
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SA-Leute von einem der Reichsbanner-Männer durch einen Messerstich tödlich verwundet wurde. Leber wurde festgenommen. Lübecker Arbeiter reagierten darauf mit Solidaritätsbekundungen und die sozialdemokratische Reichstagsfraktion forderte mit Verweis auf seine Immunität beim Reichspräsidenten die sofortige Haftentlassung Lebers. Mitte Februar 1933 kam Leber noch einmal frei, nahm am 19. Februar in Lübeck an einer Massenversammlung der Eisernen Front teil, fuhr danach zu einem Kurzurlaub an den Kochelsee, anschließend, trotz der Warnungen, zur Reichstagssitzung nach Berlin, wo er am 23. März 1933 beim Betreten der Behelfsunterkunft des Parlaments, der Kroll-Oper, verhaftet wurde.27 Was folgte, wurde oben bereits in aller Kürze beschrieben: Leber wurde zunächst als „Schutzhäftling“ ins Lübecker Untersuchungsgefängnis Marstall gebracht, Anfang Mai aus Lübeck wegverlegt, erst nach Schwerin, dann ins Zuchthaus Dreibergen/Mecklenburg. Der wegen der Schlägerei im Januar eröffnete Prozess endete Ende Mai 1933 mit einer Verurteilung Lebers. Er erhielt wegen „Beteiligung an einem Raufhandel“ (nach § 277 Strafgesetzbuch) 20 weitere Monate Gefängnis und 50 Mark Geldstrafe (wegen Sachbeschädigung in der Polizeistelle). Das Leipziger Reichsgericht bestätigte das Urteil erster Instanz. Lebers Lebenswerk lag in Scherben: Der Lübecker Volksbote war inzwischen von den Nationalsozialisten übernommen, die SPD wurde im Juni als „volksund staatsfeindliche Organisation“ eingestuft, ihr Vermögen beschlagnahmt. Als Reaktion auf das Verbot der Sozialdemokratie schrieb sich Leber in der Haft die Enttäuschung von der Seele: Das Verbot habe die deutsche Sozialdemokratie „als Organisation“ getroffen, „als Idee“, so lautete sein bitterer Befund, „lebte sie schon lange nicht mehr“. Die Schuld daran gab Leber der Führung. In der „stickigen Luft einer banalen und selbstgefälligen Wissenschaftlichkeit [aufgewachsen], die für alle Schwierigkeiten des sozialen Geschehens irgendwelche marxistische Theorien zum bequemen und hirnberuhigenden Hausgebrauch je nach Bedarf bereitstellte“, habe die Führergeneration den Problemen „der gewaltig sich ankündigenden Entwicklung fern gestanden“; sie sei „nicht im geringsten geladen [gewesen] von jener Gier nach politischer Verantwortung und Gestaltung, die nur aus dem Willen und der Kraft der Persönlichkeit entsteht“. Dabei habe keine Führung je „eine ergebenere, eine treuere und selbstlosere Gefolgschaft hinter sich“ gehabt als „in den Millionen organisierter deutscher Arbeiter“, trotz der „Unterwühlungsarbeit der Kommunisten“ und der „heraufziehende[n] Sturmflut des Nationalsozialismus“. „Wagemutige und entschlossene Führer hätten Wunder mit ihnen vollbringen können“.28 Im September trat Leber im Lübecker Gefängnis Lauerhof seine Strafhaft an. Im Januar 1934 wurde er ins Strafgefängnis Wolfenbüttel verlegt, was Besuche der 27 28
Beck, Dorothea: Julius Leber. Sozialdemokrat zwischen Reform und Widerstand, Berlin 1983, S. 133 ff. Leber, Julius: Die Todesursachen der deutschen Sozialdemokratie, in: ders.: Schriften, Reden, Briefe (hg. von Beck, Dorothea und Schoeller, Winfried), München 1976, S. 179– 246, Zitate S. 181 f.; in gekürzter (etwas entschärfter) Form abgedruckt unter dem Titel „Gedanken zum Verbot der deutschen Sozialdemokratie Juni 1933“, in: Ein Mann geht seinen Weg. Schriften, Reden und Briefe von Julius Leber (herausgegeben von seinen Freunden), Berlin u.a. 1952, S. 185–247.
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Ehefrau deutlich schwerer machte. Versuche, mit Hilfe der Kirche und unter Verweis auf die militärischen Verdienste Lebers im Ersten Weltkrieg eine vorzeitige Entlassung zu erreichen, scheiterten. Doch auch nach Verbüßung der vollen 20 Monate kam Leber im Frühjahr 1935 nicht frei. Er wurde erneut in „Schutzhaft“ genommen und ins Konzentrationslager Esterwegen im Emsland überstellt. Als Esterwegen als Standort für ein Konzentrationslager im Sommer 1936 aufgegeben wurde, brachte man Leber ins KZ Sachsenhauen. Zwar blieb der Briefkontakt mit der Familie bestehen, aber was sollte man schon schreiben? „Das tägliche Einerlei interessiert nicht oder doch nur wenig“, war in einem Brief zu lesen. Und was hieß es schon, wenn Leber schrieb, man „gewöhn[e] sich“ an das Lagerleben, die Verpflegung sei „an sich gut und ausreichend“, seine Gesundheit sei „in Ordnung“, auch über die Gemütsverfassung und die Nerven solle sich die Ehefrau nicht beunruhigen.29 Wie es um ihn wirklich stand, war diesen kargen Zeilen kaum zu entnehmen, und über die Torturen und Gemeinheiten, die sich die Wachmannschaften für die Häftlinge ausdachten, denen auch Leber ausgesetzt war, durfte er ohnehin nicht schreiben; dazu gehörte die dauernde Bedrohung durch Schläge, die Verhängung eines mehrwöchigen strengen Arrests in einer Dunkelzelle ohne Pritsche, Tisch, Stuhl, Beschäftigung und warmes Essen; dass Häftlinge als „sportliche Übung“ sich in Jauche und Mist wälzen mussten und der Wachposten auf den am Boden Liegenden urinierte. Eine ganze Reihe von Entlassungsgesuchen – eingereicht von der Ehefrau über den Osnabrücker Bischof, den Reichstatthalter von Mecklenburg-Lübeck und den Rechtsanwalt, der Leber verteidigt hatte, an den Innenminister, den Inspekteur der Konzentrationslager, an Himmler persönlich und an die Kanzlei des Führers – blieben ohne positives Resultat.30 Erst am 5. Mai 1937 wurde Leber entlassen. Er zog nach Berlin, wo seine Frau inzwischen ein kleines Schneidereigeschäft betrieb. Sein Freund Gustav Dahrendorf, selbst aus Hamburg zugezogen, besorgte ihm eine Beschäftigung im Kohlenhandel. Um sie herum baute sich allmählich ein kleiner Freundeskreis auf, deren Mitglieder (Ernst von Harnack, Ludwig Schwamp, Carlo Mierendorff, Wilhelm Leuschner) sich aus der alten SPD kannten und der nach einiger Zeit auch in Kontakt kam zu anderen Gegnern des Regimes. Gemeinsam mit ihnen setzte Julius Weber seinen aktiven Widerstand gegen den Nationalsozialismus ungebeugt fort. Am 5. Januar 1945 bezahlte er dafür mit dem Leben.
Weiterführende Literatur Beck, Dorothea: Julius Leber. Sozialdemokrat zwischen Reform und Widerstand, Berlin 1983. Beck, Dorothea: Julius Leber, in: Neue Deutsche Biographie, Band 14, Berlin 1985, S. 18 f. Bracher, Karl Dietrich: Julius Leber, in: Schultz, Hans Jürgen (Hg.): Der Zwanzigste Juli. Alternative zu Hitler?, Stuttgart und Berlin 1974, S. 148–156. 29 30
Leber, Julius: Schriften, Reden, Briefe (hg. von Beck, Dorothea und Schoeller, Winfried), München 1976, S. 288 ff. Beck, Dorothea: Julius Leber. Sozialdemokrat zwischen Reform und Widerstand, Berlin 1983, S. 154 ff.
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Grasmann, Peter: Julius Leber, in: ders.: Sozialdemokraten gegen Hitler 1933–1945, München und Wien 1976, S. 59–73. Mommsen, Hans: Julius Leber und der deutsche Widerstand gegen Hitler, in: ders.: Alternative zu Hitler. Studien zur Geschichte des deutschen Widerstandes, München 2000, S. 313–324. Hamerow, Theodore S.: Die Attentäter. Der 20. Juli – von der Kollaboration zum Widerstand, München 1999. Schmädeke, Jürgen und Steinbach, Peter (Hg.): Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Die deutsche Gesellschaft und der Widerstand gegen Hitler, München und Zürich 2 1986.
Hinweise zu den Quellen Der Nachlass Julius Lebers ist, gut erschlossen durch ein Online-Findbuch, im Bundesarchiv Koblenz zu finden. Lebers Schriften liegen in einem 1952 „von seinen Freunden“ herausgegebenen Band (Ein Mann geht seinen Weg. Schriften, Reden und Briefe von Julius Leber) bzw. in einer 1976 von Dorothea Beck und Winfried F. Schoeller besorgten Edition (Julius Leber, Schriften, Reden, Briefe) vor.
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„Wir wollten als Deutsche nicht abseits stehen“ – die Herausgeber der „Deutschen Blätter“ in Santiago de Chile Udo Rukser (1892–1971) und Albert Theile (1904–1986) Wie die meisten Publikationen des deutschsprachigen Exils erschienen die „Deutschen Blätter“ in Santiago de Chile im Selbstverlag, von 1943 bis 1946. Die Zeitschrift genießt den Ruf, „eine der erfreulichsten Erscheinungen der ganzen Emigration“1 gewesen zu sein. Als Herausgeber der insgesamt 34 Hefte zeichneten zwei Deutsche verantwortlich, die sich erst in Chile kennengelernt hatten: Udo Rukser, bis 1934 Anwalt in Berlin, fungierte zugleich mit insgesamt nicht weniger als 33 Aufsätzen, die teils unter den Pseudonymen Gustav Mana und Friedrich Ballhausen erschienen, als wichtigster Beiträger. Albert Theile, der sich selbst gern als „Mann vom Bau“ gesehen hat, besorgte alles Technische, was angesichts der nicht deutschsprachigen Setzer eine Sisyphusarbeit war.
Anwalt, Publizist, Kunstsammler und Landwirt: der „Auswanderer“ Udo Rukser Udo Rukser wurde 1892 in Posen geboren. Er studierte Jura und wurde 1916 zum Dienst im Ersten Weltkrieg eingezogen. Der künstlerischen Avantgarde verbunden, wie seine Veröffentlichungen zur Architektur, Malerei und Musik zeigen, ließ sich Rukser Ende 1919 als Anwalt in Berlin nieder. Als juristischer Sachverständiger nahm er 1922 an den Verhandlungen der deutschen Delegation über Oberschlesien in Genf teil. In mehreren Darstellungen behandelte er die Rechtslage in den an Polen abgetretenen ehemaligen preußischen Gebieten, befasste er sich mit der Frage des Minoritätenrechts, „einer neuen Disziplin des Völkerrechts“. Entsprechend international war auch seine Praxis ausgerichtet. Das Auswärtige Amt schätzte seinen Rat und seine Vermittlung. So hielt Rukser Kontakte zu den Repräsentanten der deutschen Minderheit, aber auch zu polnischen Anwälten und Rechtsprofessoren, die Interessen und Mandate von Angehörigen der deutschen Minderheit wahrzunehmen bereit waren. Zu seinen Mandanten zählten vor allem Deutsche in Polen, die nicht für Deutschland optiert hatten und deren Ländereien durch die Agrarreform von der Enteignung bedroht waren, weiter Verbände der preußischen Domänenpächter, aber auch von den Folgen des Versailler Vertrages betroffene „Personnes royales“. Nach Abschluss des Deutsch1
Berendsohn, Walter A.: Die humanistische Front. Einführung in die deutsche Emigranten-Literatur, Teil 2, Worms 1976, S. 151.
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polnischen Liquidationsabkommens vom 31. Oktober 1929, das einen Schlussstrich unter die offenen Vermögensfragen zog, und dem ein Jahr später vom Reichstag verabschiedeten „Polenschädengesetz“ zahlte sich dieser Schwerpunkt auch materiell aus. So dürfte Rukser, der selbst vor einer solchen „Liquidation der Vergangenheit mit Polen“ gewarnt hatte („Ost-Locarno“), am Ende der Weimarer Republik zu den bestverdienenden Anwälten in Berlin gehört haben. 1925 hatte Rukser zusammen mit den Berliner Anwälten Heinrich Freund und Erwin Loewenfeld die Zeitschrift „Ostrecht“ gegründet, die vom Auswärtigen Amt subventioniert wurde. Die „Monatsschrift für das Recht der osteuropäischen Staaten“ erschien im Carl Heymanns Verlag in Berlin. 1927 fusionierte sie mit der vom Osteuropa-Institut in Breslau herausgegebenen „Zeitschrift für osteuropäisches Recht“ zur „Zeitschrift für Ostrecht“. Dem Druck insbesondere des Preußischen Kultusministeriums, die jüdischen Mitherausgeber Freund und Loewenfeld 1933 auszubooten, widersprach Rukser, der das Redaktionsbüro der Zeitschrift mit seiner Praxis verbunden hatte und in diesem „Ehrenpunkt“ zu keinen Zugeständnissen bereit war. Anfang 1934 stellte die Zeitschrift daraufhin ihr Erscheinen ein.2 Freund und Loewenfeld konnten 1938/39 emigrieren, der Schwägerin Loewenfelds ermöglichte Rukser durch eine größere Zuwendung die „Auswanderung“. Udo Rukser hatte 1922 in zweiter Ehe eine Schwester des Malers und Filmemachers Hans Richter geheiratet. Die Ehe blieb kinderlos. 1932 verkaufte Rukser sein Siedlungshaus in Rehbrücke bei Potsdam an Friedrich Thimme und erwarb eine Villa am Griebnitzsee. Als Anwalt vom „Ende der freien Advokatur“3 nicht betroffen, ließ der Zweiundvierzigjährige seine Zulassung löschen. Auf Empfehlung von Friedrich Aereboe, den er als Gutachter und Agrarwissenschaftler schätzte, kaufte Rukser auf der Höri am Bodensee 1934 den verwahrlosten Oberbühlhof. Mit Leidenschaft stürzte er sich in das Landleben. Beraten insbesondere von Paul Weber in Bodman qualifizierte sich der Anwalt als „Obstbauer“, der den Oberbühlhof zu einem Musterbetrieb umgestaltete. Auf elf Hektar pflanzte er 2500 Stämme Edelobst, legte Beerenobstplantagen an und errichtete eine Kelterei für unvergorenen, „garantiert“ chemikalien- und alkoholfreien „Oberbühler Süßmost“, der mit einem die See- und Alpenlandschaft stilisierenden Etikett und dem Slogan „Trinkt den Apfel – Trinkt die Beeren“ als Qualitätsprodukt vermarktet wurde. Daneben beteiligte sich Rukser an einem weiteren Obstgut. Im August 1938 nahm er in Begleitung seiner Frau und zusammen mit Paul Weber am 12. Internationalen Gartenbaukongress in der Berliner Kroll-Oper teil. In den fünf Jahren auf dem Oberbühl hatte der Gutsherr nie die Brücken nach Berlin abgebrochen. 2
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Politisches Archiv des Auswärtigen Amts, Berlin, R 54 306; Rukser, Udo: Heinrich Freund und das Ostrecht. Ein Rückblick auf die Ostrechtsforschung 1918–1948, in: Osteuropa-Recht 6 (1960), 1, S. 2–5; zu Freund, Loewenfeld und weiteren genannten Anwälten vgl. Ladwig-Winters, Simone: Anwalt ohne Recht. Das Schicksal jüdischer Rechtsanwälte in Berlin nach 1933, Berlin-Brandenburg 2 2007. Thimme, Roland, Rote Fahnen über Potsdam 1933–1989. Lebenswege und Tagebücher, Berlin 2007, S. 166 und 168; Schumacher, Martin: Namensähnlichkeit als Ausschließungsgrund? Die Säuberung der Anwaltschaft in Preußen 1933, in: VfZ 59 (2011), S. 19– 51, hier S. 33.
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Die Berlinerin Dora Rukser geborene Richter, Jüdin wie Ruksers erste Frau, war eine ideale Partnerin des „Gutsherrn“, die sich besonders gut auf den Umgang mit Menschen verstand, auch unter den gänzlich anderen Verhältnissen später in Chile. Künstler, Freunde und Ferienkinder aus Berlin, aber auch Eleven, die sich auf ihre Auswanderung nach Palästina vorbereiteten, belebten den Oberbühlhof. Als Hausherrin war Dora Rukser neben ihrem Mann der Mittelpunkt des Oberbühlhofs, der vielen Bedrängten offenstand.4 In Chile übernahm Dora Rukser die Aufgaben der Sekretärin der „Deutschen Blätter“. Als „Udora“ zeichneten beide ihre privaten Briefe. Udo Rukser hatte sich am Bodensee eine neue Existenz geschaffen. Bis zum Frühjahr 1938 hoffte er auf eine politische Wende. In der Schublade lagen von Max E. Haefeli und Wils Ebert überarbeitete Pläne von Ludwig Hilberseimer für einen Umbau des Oberbühlhofs. Zugleich sondierte er, von Freunden in Berlin unterstützt, eine Auswanderung als Landwirt. Nach dem Novemberpogrom setzte er alle Hebel in Bewegung, kurzfristig ein Visum zu erhalten. Sein jüdischer Schwager war auf dem Hof verhaftet worden und emigrierte nach seiner Entlassung aus dem KZ Dachau mit seiner Familie nach Palästina. Dora Rukser befand sich seit Ende Oktober nicht mehr auf dem Oberbühlhof. „Im Allmendli“ bei Max E. und Inge Haefeli in Zürich-Erlenbach zu Gast, konnte sie sich auf ein Leben und Haushalten in Übersee vorbereiten. Sie blieb dort nicht zuletzt, um ihren Pass zu behalten. Ruksers Bemühungen, den Oberbühlhof zu verkaufen, führten zunächst zu keinem Ergebnis. Ein Pächter übernahm den Hof. Zu seinem Treuhänder bestimmte Rukser Paul Weber in Bodman. Seine Kunstsammlung, darunter „einige Werke Verschollener“, die der Malerfreund Karl Schmidt-Rottluff noch Mitte Oktober 1938 bei einem Besuch auf dem Oberbühlhof erfreut vorgefunden hatte, konnte Rukser in die Schweiz verbringen, wo er zusammen mit seinem Schwager Hans Richter ein Haus in Carabietta am Luganer See besaß. Einen Teil der Sammlung waren die Auswanderer gezwungen über Karl Nierendorf in New York zu verkaufen. Einige „Sachen“ deponierte Rukser bei Max Raeber, einem Basler Kunsthändler. Druckgraphiken, Erstausgaben und seine juristische Bibliothek, aber auch der treuhänderisch verwahrte (und in den Nachkriegswirren untergegangene) Nachlass des Philosophen Ernst Marcus5 verblieben am Bodensee. Seine Villa am Griebnitzsee hatte Rukser verkaufen können, weiteren Vermögenstransfer hatte er klug eingefädelt. Als Passagiere erster Klasse gelangten Udo und Dora Rukser nach Chile.6 Der „Auswanderer“ erwarb Anteile einer Schaffarm und 1941 bei Quillota im fruchtbaren Aconcaguatal 14 Hektar Gartenland. Auch nach dem schließlich doch erfolgten Verkauf des Oberbühlhofs – der Erlös konnte transferiert werden – verfügte Rukser noch 4
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Bosch, Manfred: Udo Rukser auf dem Oberbühlhof am Bodensee, in: Harbusch, Ute und Wittkopp, Gregor (Hg.): Kurzer Aufenthalt. Streifzüge durch literarische Orte, Göttingen 2007, S. 172–176. Universitäts- und Landesbibliothek Bonn, Nachlass Marcus IV. Chile „hat eine niedrige Valuta und ist noch sehr unentwickelt […]. Ist bestes Apfelland, das bestimmte Udo mit. Aepfel sind seine Liebe.“ – so Dora Rukser an Ludwig Hilberseimer, Chicago, vom 18. 1. 1938, in The Art Institute of Chicago, Ryerson and Burnham Archives, Chicago, Ludwig Karl Hilberseimer Archive.
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über Vermögenswerte in Deutschland, die neben Paul Weber der Jugendfreund Hans Czapski in Berlin betreute.
„Vom Bau“: Albert Theile, Journalist, Weltreisender und Flüchtling Albert Theile, 1904 in Hörde geboren, besuchte von 1914 bis 1920 das dortige Realgymnasium, arbeitete in der Industrie und schloss 1924 eine kaufmännische Lehre ab. In Abendkursen bereitete er sich auf das Abitur vor, unternahm 1925 eine erste Reise in den Nahen Osten und nach Griechenland, berichtete 1927 für Zeitungen aus Spanien und Frankreich. Gefördert wurde er durch seinen Gymnasiallehrer Karl d’Ester, seit 1924 Professor für Zeitungswissenschaft in München. Theile hat später beklagt, dass er durch seine „Flucht“ die „Aussicht“ auf eine „Nachfolge“ seines Lehrers eingebüßt habe. In der Schar der vielen akademischen Schüler d’Esters scheint Theile jedoch nicht auf. „Vom Bau“ war Theile insofern, als er auf Fürsprache des ebenfalls aus Hörde stammenden Bildhauers Bernhard Hoetger 1928 mit der redaktionellen Leitung der Kulturzeitschrift „Die Böttcherstrasse“ betraut worden war. Die „Internationale Zeitschrift“, begründet und herausgegeben von Ludwig Roselius, war in erster Linie ein „Reklameträger“ für dessen Kaffee-Imperium, das in der seit 1922 als Ensemble wiederhergestellten „Böttcherstrasse“ in Bremen seinen Sitz hatte.7 14 Hefte der Zeitschrift, von Hoetger graphisch gestaltet, erschienen bis Juli 1930. Dann beendete Roselius das Unternehmen, dessen Schuldenberg zu einem nicht unerheblichen Teil aus den üppigen Reisespesen des jungen Redakteurs resultierte.8 Roselius fand „den lieben kleinen Theile“, der 1928 bei der PRESSA in Köln d’Ester zugearbeitet hatte, mit einigen Aufträgen großzügig ab. Zusammen mit Franz Roh veröffentlichte Theile zwei Fotobücher, schrieb Reiseberichte, legte nach eigenen Angaben das Begabten-Abitur9 ab und studierte an der Berliner Universität 1932/33 Geschichte, Publizistik, Ostasiatische Kunst und Philosophie. 1933 bis 1935 unternahm Theile eine Weltreise, wirkte in Japan an der Zeitschrift „Nippon“ mit und hielt sich danach in Norwegen auf. Für den Aschehoug Forlag arbeitete er als Autor und Übersetzer am Volkslexikon „Familienboken“ mit. 7
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Estermann, Alfred: Geist und Geld und Grenzüberschreitung. „Die Böttcherstrasse“, eine „Weltzeitschrift“, in: Estermann, Monika u.a. (Hg.): Buchkulturen. Beiträge zur Geschichte der Literaturvermittlung. Festschrift für Reinhard Wittmann, Wiesbaden 2005, S. 445–485; ergänzend zur „Böttcherstrasse“ der Briefwechsel Theiles mit d’Ester 1930/31, in Institut für Zeitungsforschung, Dortmund, d’E N 75, Bd. 1 und 2. Der Bestand „Redaktionskorrespondenzen“ im Deutschen Literaturarchiv Marbach „enthält nur Autorenbriefe an ihn [Theile], aber keinen Brief von ihm aus der Böttcherstrassen-Zeit und nur wenige Manuskripte. Die Sammlung macht zudem den Eindruck, sie sei geplündert.“ – Estermann (Anm. 7), S. 459. Nach Estermann, Alfred: Geist und Geld und Grenzüberschreitung. „Die Böttcherstrasse“, eine „Weltzeitschrift“, in: Estermann, Monika u.a. (Hg.): Buchkulturen. Beiträge zur Geschichte der Literaturvermittlung. Festschrift für Reinhard Wittmann, Wiesbaden 2005, S. 483 f., wurde Theile die „Zulassung zum Universitäts-Studium ohne Reifezeugnis auf Grund seiner außergewöhnlichen journalistischen Leistungen“ erteilt.
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1937 geriet Theile ins Visier der Gestapo, die die Deutsche Gesandtschaft einschaltete. Die Auskünfte waren belanglos. Theile hatte nach einem vorübergehenden Aufenthalt in Kopenhagen bei der Gesandtschaft das „Meldeblatt“ abgegeben. Der Reisepass, vom Deutschen Konsulat in Yokohama ausgestellt, war bis Anfang 1940 gültig.10 Der norwegischen Polizei war Theile, der „nicht eindeutig als politischer Flüchtling“ bekannt war, deshalb grundsätzlich verdächtig11, gar als Gestapo-Agent, wenn man Theile glauben mag. Nach der deutschen Invasion nach Schweden entkommen, gelangte Theile über Sibirien und China wieder nach Japan, wo er 1940 von Toshihiko Katayama, dem Begründer der Zeitschrift „Nippon“, aufgenommen wurde: „Wir taten alles, um ihm beizustehen, der jetzt von den Vertretern der Gestapo in Tokyo bespitzelt wurde.“12 Ende 1940 erreichte Theile mit „135 jüdischen Emigranten“ und einem weiteren reichsdeutschen Journalisten Chile. Die Deutsche Botschaft in Santiago berichtete über das Ereignis und fügte eine Personenbeschreibung der beiden Journalisten bei, deren „Tätigkeit“ nun, „soweit es möglich ist, beobachtet“ werde. Theile konnte einen in Oslo am 12. Januar 1940 ausgestellten und bis Ende des Jahres gültigen Reisepass vorweisen. In der Schwedischen Gesandtschaft hatte er „zahlreiche Post abgeholt“, unter anderem von der Kaffee HAG in Bremen: „An Bord hat der Genannte geäussert, dass sein wirklicher Name Albert Thiele sei; er sei Chefdirektor der Internationalen Revue in Bremen und zuletzt Professor der Nansen-Akademie in Norwegen gewesen.“ Im Auswärtigen Amt in Berlin leitete Legationsrat Franz Rademacher den Bericht an das Reichssicherheitshauptamt weiter. Der Chef der Sicherheitspolizei und des SD teilte daraufhin dem Amt mit, dass er „Theile zur Ausbürgerung vorschlagen“ werde, und ersuchte, „die zuständige Deutsche Vertretung im Auslande zu veranlassen, etwaige Paßanträge des Genannten abzulehnen und ihm gleichfalls jede Unterstützung des Reiches zu versagen“. Inzwischen hatte Theile, dem keine „deutschfeindliche Betätigung“ nachzuweisen war, ein Visum für Peru erbeten und offenbar auch erhalten. Ein Telegramm der Botschaft vom 19. November 1941 schließt mit der Feststellung: „Hier ist er nicht wieder aufgetaucht.“ Eine individuelle Ausbürgerung Theiles wurde nicht vollzogen.13
Gründung und Ende der „Deutschen Blätter“ Anfang 1943 brach Chile die diplomatischen Beziehungen mit Deutschland ab. „Amtliche“ Quellen über die Gründung der „Deutschen Blätter“ sind nicht überliefert. Auch im „Redaktionsarchiv“ ist der „Vorlauf“ nicht dokumentiert. Als Herausgeber firmierten Udo Rukser und Albert Theile, der „wieder aufgetaucht“ 10 11
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Politisches Archiv des Auswärtigen Amts, Berlin, R 99 620. Einhart Lorenz (Exil in Norwegen. Lebensbedingungen und Arbeit deutschsprachiger Flüchtlinge 1933–1943, Baden-Baden 1992, S. 321, ergänzend 291 und 293) beruft sich dabei auf Hans-Albert Walter (Deutsche Exilliteratur 1933–1950, Bd. 3, Stuttgart u.a. 1988, S. 135), der als Quelle eine mündliche Auskunft Theiles angibt. Bezirksregierung Düsseldorf, Dezernat 10 (Wiedergutmachung), Az. 610 041. Politisches Archiv des Auswärtigen Amts, Berlin, R 100 034.
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war. Der Titel „Das deutsche Gewissen“ wurde als „zu anspruchsvoll“ verworfen. Ungeachtet des in beiden Varianten gleichen Attributs unterstrich der „Zwischentitel“ – „Für ein europäisches Deutschland, gegen ein deutsches Europa“ – die politische Stoßrichtung der „seit langem geplanten“ Zeitschrift. Auf der ersten Umschlagseite stand als „Motto“ ein Zitat von Pestalozzi: „Wir wollen keine Verstaatlichung des Menschen, sondern eine Vermenschlichung des Staates“. Mit dieser „Forderung“ brachten die Herausgeber ihren eigenen „Standpunkt“, ihr politisches Wollen „am kürzesten“ zum Ausdruck.14 Vor Erscheinen des ersten Heftes hatte Rukser versucht, für das Unternehmen prominente europäische Autoren zu gewinnen. Am 9. November 1942 schrieb er an den Schweizer Psychologen C.G. Jung, den er für einen „der ganz Wenigen“ erachtete, die „befugt“ seien, „zu den Grundfragen der künftigen Friedensregelung“ in einem Aufsatz Stellung zu beziehen und deren Wort „auch gehört“ werde: „Mit einigen Freunden habe ich hier eine Monatsschrift in deutscher Sprache ins Leben gerufen, welche den Zweck hat, den über Amerika versprengten Menschen deutscher Sprache wieder eine Vorstellung von dem zu geben, was wirklich deutsches Wesen und deutsche Überlieferung ist. Dies schien uns u.a. aus dem Grunde notwendig, weil wir gesehen haben, wie sehr viele – leider auch Schweizer! – der Nazipropaganda wehrlos gegenüber stehen. Ferner schien es uns nötig, die reichlich vorhandenen, aber Verstreuten nicht-nazistischer Gesinnung irgendwie zu sammeln.“15 Der Brief lässt keinen Zweifel daran, dass Rukser die Zeitschrift als sein Projekt betrachtete. Er gab die Linie vor: „deutsches Wesen und deutsche Überlieferung“, Sammlung der „Verstreuten nicht-nazistischer Gesinnung“. Weder im Prolog noch in diesem Brief scheinen „Exil“ oder „Emigration“ als Stichworte auf. Zum Gründerkreis gehörten in Santiago de Chile neben Theile insbesondere der Anfang der 1920er Jahre eingewanderte „Landwirt“ Nikolaus von Nagel, eine mysteriöse Figur, und Fritz Siegel, ein emigrierter jüdischer Wirtschaftsanwalt aus Berlin. In New York repräsentierten Joseph Kaskel und zuletzt Karl O. Paetel die „Deutschen Blätter“. Rukser hatte mit Kaskel, einem früheren Berliner Anwaltskollegen, im Frühjahr 1942 über „die grosse Frage“ der Lernfähigkeit der Völker „aus diesem Krieg“ korrespondiert und die sich immer mehr ausbreitende „schwarz-weiss Malerei in der Politik und der Berichterstattung“ bedauert: „Alles 14 15
„Was wir wollen“, in: Deutsche Blätter, H. 1 (1943), S. 1. Rukser bezog sich auf einen nicht überlieferten Brief Jungs vom 24. 4. 1940; ergänzend merkte er „nur soviel“ noch an, „dass wir die Zeitschrift aus eigener Tasche & aus Spenden Gleichgesinnter bezahlen. Aber was Sie an Honorar bestimmen, will aufgebracht werden. Meinen Freund, den Architekten Max Häfeli habe ich gebeten, sich wegen all dieser Dinge mit Ihnen in Verbindung zu setzen.“, in Institut für Zeitungsforschung, Dortmund, II AK 87/84, Bd. 8. In Santiago de Chile hatte sich um den früheren Leiter der Frankfurter Nervenklinik Max Mayer eine kleine „Jung-Gemeinde“ gebildet. Rukser hat die fragwürdige Haltung Jungs gegenüber dem Nationalsozialismus nicht wahrhaben wollen und ihm zugetragene kritische Äußerungen als Zeichen „eine[r] planmässige[n] Aktion“ zur Diskreditierung des „genialen Menschen“ abgetan. In der Sache und zu anderen Themen hat Rukser weiterhin mit Jung korrespondiert – vgl. Theile an Karl O. Paetel vom 4. 3. 1946 und Rukser an Dr. Ernest Herms vom 11. 6. 1946, in Institut für Zeitungsforschung, Dortmund, II AK 87/84, Bd. 11 und 4. Vgl. Jung, C.G.: Briefe, Bd. 2: 1946–1955, Olten 1972, S. 95 f.
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Gute ist nur auf der Seite zu finden, wo man selbst ist, alles Unheil, alle Bosheit auf der andern“.16 Theile und Rukser waren keine Politiker. Sie wollten mit ihrer Zeitschrift Partei ergreifen, sich aber nicht von einer Partei vereinnahmen lassen, erst recht nicht „im Schlepptau der Moskowiter“ (U. Rukser) segeln. „Jede Hilfe“ – „Anregungen“ und „Spenden“ – sei willkommen, sofern damit nicht „irgendwelche entscheidende Einflussnahme auf Richtung und Gestaltung“ hergeleitet werde.17 In der chilenischen Hauptstadt war Rukser kein Unbekannter. Seine mit „ausgewanderte“ Nichte, eine junge Ärztin, hatte dort den einflussreichen Senator und Arzt Leonardo Guzmán geheiratet. Als „Deutscher“ widmete sich Rukser „in voller persönlicher Freiheit“, wie er immer betont hat, aber „unter grossen Opfern der selbstgestellten Aufgabe“. Wenn es ihm auch gelungen sein dürfte, die Last auf möglichst viele Schultern zu verteilen, bürgte er doch für das Gesamtunternehmen, politisch und finanziell. Wirklich in Not geriet die Zeitschrift erst nach Kriegsende. Die Erwartung, in dieser Situation vermögende Deutsch-Amerikaner oder deutsch-amerikanische Stiftungen als Förderer gewinnen zu können, erfüllte sich nicht.18 Thomas Mann, von Rukser und Theile mit Unterstützung vor allem von Kaskel und Erich von Kahler umworben, schrieb freundliche Briefe, publizierte in den „Deutschen Blättern“, registrierte dankbar das ihm aus Anlass seines 70. Geburtstages gewidmete Heft 25 der Zeitschrift, hielt sich in der Überlebensfrage aber bedeckt. Wie ausweglos die Situation 1945/46 schließlich war, zeigt sich nicht zuletzt auch darin, dass Rukser seine ganze Hoffnung nun auf den früheren Preußischen Finanzminister Otto Klepper19 setzte, der mittellos in Mexiko gestrandet war, viele Ideen entwickelte, aber weder in der dortigen deutschen Kolonie noch in den USA eine Goldader erschließen konnte. Der frühere Reichskanzler Heinrich Brüning, der sich im amerikanischen Exil von allem fern hielt, war zwar „besorgt um das Schicksal der D[eutschen] Bl[lätter]“, hatte aber mit seinen Bemühungen auch keinen Erfolg.20 Rukser selbst war nicht bereit, einen „Weg“ zu akzeptieren, auf dem die Zeitschrift „ihre bisherige Funktion“ nicht
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Vander Heide, Ralph Peter: Deutsche Blätter für ein europäisches Deutschland, gegen ein deutsches Europa. A cultural-political study, Albany, State University of New York, Diss., 1975, S. 104; Korrespondenz zwischen Rukser bzw. Theile und Kaskel/Kaskell aus den Jahren 1939 bis 1950 ist erhalten: „Joseph Kaskell Papers“, University at Albany, M.E. Grenander Department of Special Collections and Archives, Ger-049. Undatierte, von Rukser und Theile unterzeichnete „Erklärung“ als Anlage zu einem Schreiben an Welz vom 9. 12. 1942, in Institut für Zeitungsforschung, Dortmund, II AK 87/84, Bd. 21; Rukser an J. Kaskel vom 2. 2. 1944, zitiert nach Vander Heide, Ralph Peter: Deutsche Blätter für ein europäisches Deutschland, gegen ein deutsches Europa. A cultural-political study, Albany, State University of New York, Diss., 1975, S. 10. Vgl. Institut für Zeitungsforschung, Dortmund, II AK 87/84, Bd. 16. Pufendorf, Astrid: Otto Klepper (1888–1957), Deutscher Patriot und Weltbürger, München 1997. Erich v. Kahler an Rukser vom 24. 12. 1946, in Institut für Zeitungsforschung, Dortmund, II AK 87/84, Bd. 8.
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hätte „weiter erfüllen“ können.21 Das „Wunder“, das sich Klepper von Thomas Mann erhofft hatte22, blieb aus. Die Lage ähnelte dem Beginn im Frühjahr 1943. Damals hatten Rukser und Theile „eine „Anzahl von wirklichen Europäern, denen wir uns besonders verpflichtet fühlen“, gebeten, „sich für ein Ehren-Komité unserer Zeitschrift zur Verfügung zu stellen“. Dazu ist es nie gekommen. Die von Rukser in einem Brief an C.G. Jung genannten Persönlichkeiten – neben Jung zwei Nobelpreisträger, Thomas Mann und Alexis Carrel, sowie Hermann Hesse, Aldous Huxley und Friedrich Wilhelm Foerster – haben sich der ihnen zugedachten Rolle entzogen, sofern die Schreiben überhaupt ihre Adressaten erreicht haben.23 Die Kommunikationswege verbesserten sich auch nach Kriegsende nur allmählich. Alle Bemühungen, die „Deutschen Blätter“ nun durch Kooperation mit einem Verlag in Großbritannien oder in der Schweiz nach Europa zu verpflanzen, misslangen. Ende 1946 kehrte Theile nach einer im Auftrag Ruksers unternommenen Reise nach Mexiko, Nordamerika und Europa mit leeren Händen zurück. Das Verfahren zur Zulassung der „Deutschen Blätter“ zum Versand in die amerikanische Besatzungszone zog sich bis Ende 1946 hin. Resignierend mussten Rukser und Theile erkennen, dass mit dem Segen der Siegermächte im geteilten Deutschland neue Zeitschriften gegründet wurden und die „Neue Rundschau“ aus Schweden nach Berlin zurückkehrte. Die „Deutschen Beiträge“, eine der vielen Neugründungen, deren Titel dem „Exilblatt“ entlehnt zu sein schien, druckten in ihrem ersten Heft 1946 einen aus den „Deutschen Blättern“ übernommenen Aufsatz von Erich Kahler nach. Der redaktionelle Vorspann eröffnete die vielen ehrenden Nachrufe auf die „Deutschen Blätter“ zu einem Zeitpunkt, als die Herausgeber noch um das Überleben ihrer Zeitschrift kämpften. In der Schweiz erhofften sie sich Unterstützung von dem Archäologen Karl Schefold, der in den „Basler Nachrichten“ über die Zeitschrift geschrieben hatte, aber nicht in der Lage war, „Geldmittel für die Versendung der Blätter nach Deutschland“ bereitzustellen.24 Mit Heft 34 verstummten die „Deutschen Blätter“, nicht jedoch deren Herausgeber, die „Rundbriefe“ und eine „Denkschrift“ verfassten, die sie Ende März 21
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Rukser an v. Kahler vom 14. 12. 1946; Rukser bezog sich auf eine Anregung Wolf v. Eckardts, „die Zeitschrift auf geschäftliche Basis um[zu]stellen“: „Was fehlt, sind 5000 Dollar. Wir sind nicht bereit, gegen [eine] solche Summe unsere Unabhängigkeit aufzugeben.“ – in Institut für Zeitungsforschung, Dortmund, II AK 87/84, Bd. 8. Klepper an Th. Mann vom 22. 8. 1946, zitiert nach Vander Heide, Ralph Peter: Deutsche Blätter für ein europäisches Deutschland, gegen ein deutsches Europa. A culturalpolitical study, Albany, State University of New York, Diss., 1975, S. 39 f.; für die Äußerungen Manns über die „Deutschen Blättern“ sei auf dessen Briefwerk und Tagebücher verwiesen. Der von Ralph Peter Vander Heide (Deutsche Blätter für ein europäisches Deutschland, gegen ein deutsches Europa. A cultural-political study, Albany, State University of New York, Diss., 1975, S. 229) für das „Redaktionsarchiv“ nachgewiesene Brief vom 4. 4. 1943 ist dort nicht mehr vorhanden. Schefold an Rukser (18. 12. 1946), der dem Archäologen durch I. Haefeli die „Deutschen Blätter“ hatte zukommen lassen; zu C.G. Jung, dessen Buch „Einführung in die Mythologie“ Rukser als „Pflichtlektüre“ empfohlen hatte, äußerte sich Scheffold zurückhaltend – in Institut für Zeitungsforschung Dortmund, II AK 87/84, Bd. 15.
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1947 den alliierten Regierungen übersandten. Das von Kahler und Klepper mit unterzeichnete Memorandum befürwortete „anstelle eines vorzeitigen und endgültigen Friedensvertrages ein internationales Statut für Deutschland“ – „bis die Lage für eine Föderation aller europäischen Staaten reif ist.“25 Die Denkschrift, im „Redaktionsarchiv“ nicht überliefert, blieb politisch ohne jede Resonanz. Das dürfte Rukser besonders enttäuscht haben, der aus seinem „reduzierten Vermögen“ nach und nach insgesamt 25 000 Dollar für die Herausgabe der „Deutschen Blätter“ aufgebracht hatte: „Wir haben Teppiche und Schmucksachen meiner Frau verkauft, um die DB zu halten, und mussten sie schließlich eingehen lassen, weil es nicht mehr ging.“26 Das unaufhaltsame Ende dürfte paradoxerweise mit einem Erfolg zusammenhängen, auf den die Herausgeber besonders stolz waren: Die mit der Zulassung der Zeitschrift zu den deutschen Kriegsgefangenenlagern in den Vereinigten Staaten seit Anfang 1945 verbundenen Kosten – bei gleichzeitiger Ermäßigung des Jahresabonnements – erhöhten dramatisch das chronische Defizit des Unternehmens.
Die „Deutschen Blätter“ – eine Wochenzeitung für das geteilte Deutschland? Otto Klepper, der im mexikanischen Exil zwei Beiträge für die „Deutschen Blätter“ geschrieben hatte und 1946 „mit leichtem Gepäck“ (A. Theile) nach Deutschland zurückgekehrt war, setzte sich mit der Kraft seiner gewinnenden Persönlichkeit für die Gründung einer Wochenzeitung ein, die das Erbe des Exilblatts antreten sollte. Er skizzierte 1947 einen „Verlagsplan“: „Zeitungsgrossformat, Mindestumfang 12 Seiten, Anfangsauflage 80 000 Exemplare“. Klepper war kein Mann der falschen Bescheidenheit. Er berief sich auf seine „Verhandlungen“ mit Rukser und Theile und er nannte „Persönlichkeiten“ für die Redaktion, an erster Stelle Hans Baumgarten, verantwortlicher Redakteur der „Wirtschaftszeitung“ in Stuttgart. Die erste Nummer des Wochenblatts sollte ab Mai 1948 – „bevor in Frankfurt das Paulskirchen-Jubiläum stattfindet“ – herauskommen, „damit bis zu diesem Tage die auf publizistischem Gebiet noch klaffende Lücke bereits ausgefüllt ist“. Als Gegner des Nationalsozialismus und Emigrant fühlte sich Klepper zum Lizenzträger berufen, ohne dass es im Verlagsplan ausdrücklich erwähnt wird. Als solcher gab er die „Richtung der Zeitung“ vor, die „unabhängig von den politischen Parteien und dem Interessentum das gesamte öffentliche Leben, insbesondere die Regierungen, Verwaltungen, Parlamente und Parteien kritisch beobachten“27 werde. 25 26
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Theile an Dr. Max Rychner vom 31. 3. 1947, in Institut für Zeitungsforschung, Dortmund, II AK 87/84, Bd. 13. Rukser an O. Klepper vom 11. 7. 1952 im Nachlass Klepper, der durch Vermittlung des Verfassers an das Bundesarchiv (N 1509) gelangte, aber nicht benutzbar ist. Auch die im Folgenden nicht oder ohne Fundort nachgewiesenen Zitate stammen aus der Korrespondenz Kleppers mit Theile und Rukser in diesem Bestand; Kopien im Besitz des Verfassers. Undatierter Verlagsplan, „mit den besten Grüssen“ (ohne Datum) an Rukser übersandt.
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Für Theile hatten diese Pläne „etwas ganz besonders Faszinierendes“, erkannte er doch die Chance, seine Talente als Korrespondent „in der Schweiz“ zur Geltung zu bringen. Rukser vertraute Klepper, dem er in der Sache freie Hand ließ, erwartete aber „dass im Kopf“ des Blattes an den früheren Status erinnert werde: „Gegründet in Santiago de Chile von UR & AT 1943 / fortgesetzt von Otto Klepper in Frft a M“. Zugleich gab Rukser, der die „Gegenwart“ als „für viel zu pedantisch & altbacken“ einschätzte, Klepper „zu bedenken, dass Sie mit einer Wochenschrift zu nahe an den Tagesjournalismus heran kommen“. Sein Rat lautete daher: „Wenn Sie sich zur Monatsschrift entschließen wollten, so sehen wir vergleichsweise viel bessere Chancen, eine Elitezeitschrift zu werden, und nur das lohnt sich überhaupt!!!!!“ Rukser, „zu weit weg“, um selbst „eine Mitverantwortung“ für den Plan übernehmen zu können, riet abschließend dringend, über das Vorhaben „mit einigen Leuten, die Presseerfahrung haben“, zu sprechen, namentlich dem in die Schweiz emigrierten Publizisten Hermann Ullmann in Genf und Professor Edgar Salin in Basel: „Diese Unterstützung ist wichtig, denn wenn es los geht mit der Zeitschrift, muss sie erstklassig und einzigartig sein – nicht nur [für] Deutschland, sondern für ganz Europa!“28 Auch Theile, der hinter dem Zeitungsplan die Hand von Babette Gross, der Lebensgefährtin Kleppers, vermutete, sparte nicht mit guten Ratschlägen, die vor allem seine Mitarbeit betrafen. Die Militärregierung war jedoch nicht bereit, hinsichtlich der Redaktion und damit auch der „Richtung“ der Zeitschrift jene Freiheit und Unabhängigkeit „zu konzidieren“, die Klepper als Lizenzträger „für eine conditio sine qua non“ erachtete. Noch einmal äußerte sich Rukser ausführlich zu dem Plan Kleppers, nannte weitere Mitarbeiter und betonte seine Bereitschaft zur Zusammenarbeit – „von draussen mit Ihnen“. Tatsächlich jedoch war Klepper keineswegs unabhängig, sondern auf Zuwendungen angewiesen, für die die Wirtschaftspolitische Gesellschaft von 1947 ein Sammelbecken bildete. Und die von ihm für die Redaktion vorgesehenen Mitarbeiter hatten ihre eigenen Vorstellungen, wie eine Zeitung gemacht werden sollte. Ihnen sagten die „Deutschen Blätter“ wenig oder nichts. „Sie wollten etwas ganz Neues.“ Es war dann Rukser, der die Reißleine zog. Die Klepper als „Treuhänder“ angebotene Hilfe könne allzu leicht als „verkappte ausländische Sache, amerikanisches Kapital via Chile“ diffamiert werden. „Unser Titel“ werde „als Vorspann“ daher nur „Misstrauen“ wecken: „Was bleibt uns also übrig, als Sie herzlich zu bitten, dafür zu sorgen, dass keinesfalls unser Titel genommen wird.“29 Die „Begrüssungsworte“, von Udo Rukser und Albert Theile „zu dem historischen Augenblick“ bereits formuliert, erblickten nie das Licht der Öffentlichkeit. Im November 1949, nach der ersten Bundestagswahl und der Aufhebung des Lizenzierungszwanges wähnte sich Otto Klepper gleichwohl an dem Ziel, das er sich schon 1947 gesetzt hatte. Als stellvertretender Vorsitzender des Verwaltungsrates der „Frankfurter Allgemeinen“, aber gerade nicht als einer der fünf Herausgeber, repräsentierte er nun das Kapital, ohne das eine „Zeitung für Deutschland“ nicht hätte gegründet werden können, eine Tageszeitung, die – wie die 28 29
Rukser an O. Klepper vom 20. 10. 1947. Rukser an O. Klepper vom 30. 1. 1948.
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„Deutschen Blätter“ – „eine Stimme Deutschlands in der Welt sein“ wollte. Als Leitartikler kam Klepper im Blatt zu Wort, auch Rukser schrieb einige Beiträge, zog sich aber nach einem als „Geschimpfe“ empfundenen Artikel zum 75. Geburtstag von Thomas Mann verbittert zurück. Ein Jahr nach der Gründung fand er außer den Artikeln von Baumgarten, Erich Welter und Klepper in der Zeitung „kaum was zu lesen“. Verglichen mit der „Neuen Zürcher Zeitung“ sei das Blatt „unangenehm provinziell“.30 Ein Jahr später schied Klepper nach heftigem Streit aus seiner Funktion bei der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ aus. Als Außenminister wäre er gerne nach Bonn gerufen worden, wie nicht nur der von ihm als „Erstunterzeichner“ mit getragene „Aufruf zu einheitlicher deutscher Außenpolitik“ in der „Frankfurter Rundschau“ vom 29./30. August 1953 erkennen lässt.
Der Remigrant Albert Theile: Freier Schriftsteller und Übersetzer Als „Schriftsteller“ mit Wohnsitz „Oberägeri/Schweiz“unterzeichnete auch Theile den Aufruf. Rukser wird nicht genannt. Theile, der seit Heft 30 vom März/April 1946 auf dem Titelblatt der „Deutschen Blätter“ – nun mit dem Untertitel „Hojas Alemanas“ – als „Editor Responsable“ firmierte, hatte sich in Chile bis 1949 mit der Herausgabe eines Bücherbriefs, der Vorbereitung einer Buchausstellung im „Goethejahr“, mit Übersetzungen und Veröffentlichungen über Wasser gehalten. 1949 heiratete er die Tochter des Direktors der Bibliotheca Hertziana in Rom, der in Italien lange mit dem nationalsozialistischen „Bilderraub“ in Verbindung gebracht wurde. Aufgrund seiner Tätigkeit im Exil hoffte Theile auf eine Verwendung im Auswärtigen Dienst. Wirtschaftlich „zwischen Tür & Angel“31 hatte der nach eigenem Bekunden Ausgebürgerte auf diese Karte gesetzt. Auf Fürsprache seines Schwiegervaters – „an höchster Stelle“ – wurde er zu Gesprächen nach Bonn eingeladen und allem Anschein nach von Konrad Adenauer empfangen, der sich vielleicht an den PRESSA-Mitarbeiter erinnerte, Theile aber nicht protegierte. Und in Santiago hielt der neue deutsche Geschäftsträger einen Mann, „der in den vergangenen schweren Jahren im Brennpunkt der politischen und geistigen Auseinandersetzungen gestanden hat“, für ungeeignet, nun die „deutschen Belange“ erfolgreich zu vertreten. Seinen „Qualitäten“ werde „sehr viel mehr Rechnung getragen“, so der Botschafter herablassend, „wenn man ihn als unabhängig geistig Schaffenden, ja vielleicht Richtungweisenden einsetzt“.32 Nach dem Misserfolg in Bonn, kehrte Theile vorübergehend nach Chile zurück, ließ sich später in der Schweiz nieder. 1955/56 stellte er dem „Abendländer und insbesondere dem deutschen Leser“ die „Kunst der außereuropäischen Völker“ in drei Bänden reich bebildert vor Augen. Das Renommee der „Deutschen Blätter“ wie der „Böttcherstrasse“ nutzend, warb er in Bonner Amtsstuben für seinen Plan einer 30 31 32
Rukser an O. Klepper vom 23. 11. 1950. Rukser an O. Klepper vom 16. 6. 1952. Botschafter von Campe (Santiago de Chile) an (Pablo) H(esslein) vom 10. 7. 1952, Abschrift.
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neuen internationalen Kulturzeitschrift mit dem Titel „Arcus“. Das Projekt vermochte Theile unter dem Namen „Humboldt“ zu realisieren, dank der Förderung des Presse- und Informationsamts der Bundesregierung und später des Auswärtigen Amts.33 Die seit 1960 zunächst im Übersee-Verlag in Hamburg erscheinende „Revista para el mundo ibérico“ verdankt ihren Namen Rukser. Im gleichen Jahr veröffentlichte Theile, Übersetzer und Herausgeber lateinamerikanischer Literatur, ein Porträt seines Gönners Bernhard Hoetger.
Udo Rukser und die deutschen Geschäftsträger in Santiago de Chile nach dem Krieg Im Gegensatz zu Theile waren Udo und Dora Rukser 1944 tatsächlich förmlich ausgebürgert worden. Die amtliche Bekanntmachung seiner „Reichsfeindschaft“ konnte Rukser bald nach Kriegsende in Berlin ermitteln lassen. Dieser Tatsachenbeleg war für ihn auch deshalb wichtig, weil er seit Gründung der „Deutschen Blätter“ in Chile vielen Verdächtigungen ausgesetzt war und selbst als verkappter Nazi-Spion denunziert wurde. Tatsächlich stand Rukser auf gutem Fuß mit amerikanischen Diplomaten, insbesondere mit Donald Heath, den er vielleicht schon in Berlin kennengelernt hatte und mit dem er auch später noch korrespondiert hat. Wie selbstverständlich bezeichnete Rukser 1943 gegenüber Erich Koch-Weser34 den amerikanischen Botschafter Claude G. Bowers als „unseren“ Mitarbeiter. 1951 schickte die Bundesrepublik Deutschland mit Carl von Campe wieder einen Geschäftsträger nach Santiago de Chile, der aus dem „Amt“ stammte und 1949 für die Deutsche Partei in den Bundestag gewählt worden war. Voller Skepsis beobachtete Rukser die ungelenken Schritte des Botschafters, der „Nazipfaffen“ und deren Mitläufer hofierte, den alten „Nazis um den Bart“ ging und von den Herausgebern der „Deutschen Blätter“, die „hier 4 Jahre lang das geistige Deutschland mit Opfern vertreten haben“, keine Notiz nahm. Rukser mied es, den Botschafter zu treffen, der „sich die Verleumdungen zu eigen macht, die seit je gegen uns in Umlauf gesetzt wurden: die Deutschen Blätter seien mit alliiertem Gelde und vielleicht auf alliierte Veranlassung gemacht worden“.35 Als Quelle dieser Lügen bezeichnete Rukser Pablo Hesslein36 , der während des Krieges als „bezahlter Agent des englischen & amerikanischen Secret Service“ gearbeitet habe und sich auf diese Weise der Botschaft anbiedere.37 Die Einschätzung Ruksers, dass von Campe nicht lange bleiben werde, war ein Irrtum. Erst 1955 wurde der Botschafter in den Ruhestand verabschiedet. Sein negatives Urteil zu revidieren 33
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Politisches Archiv des Auswärtigen Amts, Berlin, B 33, Bd. 75. Im Auftrag des Presseund Informationsamts hatte Theile 1959 das Sonderheft „Berlin, piedra de toque del mundo libre“ der „Übersee-Rundschau“ herausgegeben. Schumacher, Martin: „Der Mann von Ansehen“: Erich Koch-Weser, die „Deutschen Blätter“ und Udo Rukser 1943/44. Eine Dokumentation des Briefwechsels mit dem Herausgeber der „Revista Anti-Nazi“ in Santiago de Chile, in: Jahrbuch zur LiberalismusForschung 22 (2010), S. 181–214. Rukser an O. Klepper vom 16. 6. 1952 und 11. 7. 1952. Nachlass im Institut für Zeitgeschichte. Rukser an O. Klepper vom 23. 10. 1952.
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sah Rukser nie einen Grund: „Es ist, wie mir scheint, nicht so [sehr] schlechter Wille, als Blödheit wirksam. Der Mann ist ein Tölpel, der noch in wilhelminischen Vorstellungen lebt. Ich will weder mit ihm noch mit der Botschaft was zu tun haben.“ Nicht weniger kritisch verfolgte Rukser die Zustände im Auswärtigen Amt in Bonn, in dem es „ganz anarchisch“ zugehe.38 Otto Klepper teilte die kritische Einschätzung Ruksers an der „Stickluft“ in Bonn wie an der Rolle Globkes hinter den Kulissen, nicht nur im „Fall Theile“: „Es ist doch eine Unmöglichkeit, dass ein Mann, der die Nürnberger Gesetze kommentiert hat, heute die Personalpolitik des Auswärtigen Amtes massgeblich beeinflusst.“39
„Mit Halskreuz“: Restitution, Wiedergutmachung und späte Ehrungen Seit Ende Januar 1949 bemühte sich Rukser um die Rückerstattung des Oberbühlhofs. Eine Klage wurde „als unbegründet“ abgewiesen. Erst im Berufungsverfahren vor dem Oberlandesgericht in Freiburg konnte Rukser erreichen, dass der 1941 vereinbarte Kaufvertrag „für nichtig erklärt“ wurde.40 Den Hof selbst konnte Rukser nicht halten. Er benötigte Geld, „um unsere Verhältnisse zu erleichtern“ und für die erste Europareise: „Die Deutschen Blätter und danach die jahrelange Paketaktion und endlich die verdammten Krankheiten haben so ziemlich alle Reserven verzehrt.“41 Nach Erlass des Bundesentschädigungsgesetzes 1953 konnte Rukser weitere Schäden an Eigentum und Vermögen sowie im Beruf geltend machen.42 In einem Schreiben an Bundeskanzler Willy Brandt hat Albert Theile 1972 auf die Praxis in der DDR verwiesen, „verdienstvolle Emigranten durch einen angemessenen Ehrensold“ auszuzeichnen und ihnen noch „andere Vergünstigungen“ zukommen zu lassen, und dann hinzugefügt: „In der BRD gibt es dergleichen nicht. Kein Wunder, denn wir waren lange als ,Landesverräter‘ verfemt.“ Zuvor hatte Theile den Reprint der „Deutschen Blätter“ übersandt und darauf hingewiesen, „dass die Zeitschrift mehr als eine solche war, u.a. durch den Versuch, eine deutsche Exilregierung zu bilden, u.a. im Einvernehmen mit [Hans] Vogel, dem damaligen Vorsitzenden der SPD in London; durch eine gross angelegte Hilfsaktion, die letztlich den Kindern im Ruhrgebiet zugute kam“. Theile bestätigte eine angeblich „in der DDR“ kursierende Schätzung zum finanziellen Rahmen der „Deutschen Blätter“ in Höhe von 200 000 $. In diesen Gesamtkosten seien aber nicht eingerechnet die „fast“ ausschließlich von ihm gesammelten Mittel für Hilfsaktionen in Höhe von 150 000 $. Für die Zeitschrift habe er „umsonst“ gearbeitet. 38 39 40 41 42
Rukser an O. Klepper vom 25. 9. 1952. O. Klepper an Rukser vom 9. 9. 1952. Staatsarchiv Freiburg, F 167/2 und OR 25/49. Rukser an O. Klepper vom 25. 9. 1952. Staatsarchiv Freiburg, F 196/1, 2687 und 4606; Landesamt für Bürger und Ordnungsangelegenheiten Berlin, 40 620.
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Trotz des teilweise fabulösen Inhalts – Exilregierung, Kosten und Eigenleistung – hatte Theile doch mit dem Stichwort „Landesverräter“ den Ton getroffen. Egon Bahr, Bundesminister für besondere Aufgaben beim Bundeskanzler, ließ die Gewährung eines Ehrensoldes aus den Verfügungsmitteln des Bundespräsidenten prüfen, Theile aber zugleich wissen, dass er „wegen der jetzt überaus starken Beanspruchung des Herrn Bundeskanzlers“ leider „keinen Gesprächstermin in Aussicht stellen“ könne. Als „deutscher Emigrant“ – „ein Ehrentitel“ in der Schweiz wie in Skandinavien „und bei aller Grenze auch in der DDR“ – dankte Theile für die „Mühe in der Frage des Ehrensolds“. Nach den „Erfahrungen“, die er „im AA und bei Inter Nationes gesammelt habe“, sei er aber „in allen Fragen die Emigration betreffend skeptisch“. Die amtliche Prüfung brachte dann zu Tage, dass die Bundesrepublik Deutschland Wiedergutmachung, wie angemessen auch immer, geleistet hatte, eine Rente zahlte und Theile als Herausgeber seiner Kulturzeitschriften ein beträchtliches Jahreshonorar zuzüglich Sach- und Reisekosten gewährte. Die Sache war damit entschieden. In der Schweiz hat Theile auch später nicht Not gelitten. Als jemand, der „Deutschland die Treue“ gehalten hatte, schickte er 1976 Bundeskanzler Helmut Schmidt eine Ablichtung des von den „Deutschen Blättern“ handelnden Abschnitts aus der „Humanistischen Front“ von Walter A. Berendsohn – „Das Ganze ist längst Geschichte. Vielleicht doch kennenswert“ – und sein Vorwort zum Reprint der Zeitschrift. Das Kanzleramt bestätigte, alles sei „aufmerksam gelesen worden“. 1981 ließ sich das Amt auf Bitten Brandts, der „wunschgemäß“ ein Heft der Zeitschrift „Humboldt“ weitergeleitet hatte, als „anerkennendes Wort“ den Satz entlocken: „Diese von Ihnen [Theile] herausgegebene Zeitschrift leistet sicher einen guten Beitrag zum internationalen Kulturaustausch.“43 Erst in den 1960er Jahren waren Rukser und Theile für ihre publizistische Tätigkeit im Exil ausgezeichnet worden. Botschafter Dr. Hans Strack überreichte am 15. Januar 1961 Udo Rukser in der deutschen Botschaft in Santiago de Chile das Bundesverdienstkreuz I. Klasse. Stracks Vorgänger, Carl von Campe, hatte sich im Fall des Hitler-Gegners Rukser stets quer gestellt. Erst nach einem Brief Theiles an Bundespräsident Lübke wurde Rukser schließlich die Auszeichnung verliehen. Lübke kannte nicht nur durch Klepper die „Deutschen Blätter“, sondern mutmaßlich Rukser selbst aus der Zeit vor 1933. Er dürfte sich auch an einen Brief erinnert haben, den dieser ihm nach dem Tod Kleppers geschrieben hatte. Der Nachfolger Campes suchte nach „Abberufung der mit der Sache befasst gewesenen Mitarbeiter“ und vorläufiger Prüfung der Akten das Gespräch mit Rukser, den er „in seinem Dorf“ aufsuchte. Er habe dabei „den Eindruck gewonnen, dass es sich um eine Persönlichkeit handelt, deren Mitarbeit für uns von Wert sein könnte“. Damit war das Eis gebrochen. An dieser „Entspannung“ hatte nicht zuletzt der neue Botschaftsrat Günter Diehl maßgeblichen Anteil. Ihm ist es zuzuschreiben, dass das Rukser durch von Campe zugefügte „Unrecht“ wiedergutgemacht wurde. Aus protokollarischen und ordenstaktischen Gründen hatte allerdings der Leiter der Ordenskanzlei Lübke davon abgeraten, Ruk43
Bundesarchiv, Koblenz, B 136, Bd. 24 670.
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ser „zusätzlich zu der Verleihung persönlich zu gratulieren“.44 Auch Theile, der sich 1972 über die mangelnde Anerkennung der Emigranten beklagte, war schon 1965 das Große Verdienstkreuz verliehen worden. Rukser hatte die Auszeichnung zu Theiles 60. Geburtstag ins Spiel gebracht45 und Diehl, inzwischen Leiter des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, privat eine „Notiz über Theile“46 übermittelt. Der Bundespräsident war dem Vorschlag des Auswärtigen Amts gefolgt und hatte Theile den Verdienstorden verliehen.47 Als Experte für Chile zeichnete Theile zusammen mit Jörn C. Fitter für „Projektvorschläge“ zur „Entwicklung und Entwicklungspolitik in Chile“ verantwortlich, die 1965 veröffentlicht wurden und einen „Maßnahmenkatalog für eine Landwirtschaftsförderung“ enthielten, für den Rukser aber wohl nicht Pate gestanden hat.48 Das sonst nicht beachtete Jubiläum der Gründung der „Deutschen Blätter“ feierten die beiden „Herausgeber“ 1968 in Quillota. Bis 1982 redigierte Theile, „ein Mann von weitgespannten Interessen, ein phantasiebegabter und faszinierender Erzähler“,49 „Humboldt“ und das Schwesterorgan für die arabische Welt „Fikrun wa Fann“. Er war viel unterwegs, erwog zeitweise mit seinem Archiv und mit der Bibliothek von Unterägeri im Kanton Zug nach Rom überzusiedeln. In der Wiedergutmachungsakte liegt ein „Testat“ von Thomas Mann50, der Theile schätzte. 44
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Politisches Archiv des Auswärtigen Amts, Berlin, B 8, Bd. 336; Bundesarchiv, Koblenz, B 122, Bd. 38 739; G. Diehl erwähnt Rukser und die „Deutschen Blätter“ in seinen „Bonner Erinnerungen 1949–1969“ (Zwischen Politik und Presse, Frankfurt a.M. 1994, S. 253) nur beiläufig. Rukser an G. Diehl: „Nach einiger Überlegung bin ich zu dem Schluss gelangt, dass in seinem Fall ein Orden weniger wichtig wäre als die Verleihung des ProfessorenTitels von der Bundes-Regierung. Det hebt den janzen Menschen, sagte man in Berlin“. (21. 3. 1964) – „Da es mit dem ,Professor‘ nichts wird, so habe ich Herrn v Herwarth gebeten zu veranlassen, dass der Bundes-Präs. ihm einen Glückwunschbrief schreibt.“ (1. 4. 1964), in Bundesarchiv, Koblenz, N 1453, Bd. 56. Am Ende der Notiz heißt es: „Der Jubilar ist heute in Deutschland einer der wichtigsten Repräsentanten der auf weltweite Kulturpflege zielenden Bestrebungen, die sich um die Ausweitung der eng gewordenen nationalen Horizonte bemühen.“, in Bundesarchiv, Koblenz, N 1453, Bd. 56. Politisches Archiv des Auswärtigen Amts, B 8, Bd. 658 (nach BArchG teilweise noch gesperrt). Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit hatte 1964 die FriedrichNaumann-Stiftung mit entsprechenden Studien für Chile und Peru beauftragt;Archiv des deutschen Liberalismus, Gummersbach. Schimmel, Anneliese: „Zum Andenken an Albert Theile, einen großen Literaturvermittler“ und „Nachwort“, in: Jahrbuch der Rückert-Gesellschaft 10 (1996), S. 185–194. Thomas Mann am 17. 2. 1955: „Es ist mein Wunsch, zu bezeugen, dass ich seit einer längeren Reihe von Jahren die öffentliche Tätigkeit des Herrn Albert Theile verfolgt habe und auch die Freude hatte, ihm wiederholt persönlich zu begegnen, wobei sich die guten Eindrücke bestätigten, die ich während seines Exils in Chile empfangen hatte. Seine Arbeit als Mitherausgeber der Zeitschrift „Deutsche Blätter“ war überaus verdienstvoll, und seine Haltung gegenüber dem National-Sozialismus von vorbildlicher Charakterfestigkeit. Er ist nun nach Europa zurückgekehrt, wo er zweifellos seine Arbeitskraft weiterhin in den Dienst guter und edler Ziele stellen wird, und wenn er sich beim westdeutschen Staat um eine Wiedergutmachung bewirbt, so glaube ich, dass die Opfer, die er seinen freiheitlichen Ueberzeugungen gebracht hat, ihn in hohem Grade dazu berechtigten.“, in Bezirksregierung Düsseldorf, Dezernat 10, Wiedergutmachung, Az. 610 041.
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Udo Rukser, seit 1966 Mitglied der Philosophischen Fakultät der Universidad de Chile in Santiago, wurde 1967 mit dem Orden Bernardo O’Higgins, dem höchsten chilenischen Orden ausgezeichnet. Im August 1967, anlässlich des 75. Geburtstages des Freundes, lancierte Diehl einen Beitrag im Südamerikadienst der „Deutschen Welle“, der Ruksers Lebenswerk würdigte, insbesondere „seine hervorragende Mittlerrolle zwischen Deutschland und der iberoamerikanischen Welt“.51 Nur das Goethe-Institut tat sich immer noch schwer mit einer Auszeichnung Ruksers. Erst kurz vor seinem Tod wurde ihm „für hervorragende Verdienste um die deutsche Sprache im Ausland52 die Goethe-Medaille in Gold“ verliehen. Die „wohlverdiente Ehrung“ war im Wissenschaftlichen Beirat des Goethe-Instituts bis zuletzt umstritten. Bei der feierlichen Verleihung im Goethe-Institut in Santiago de Chile 1971 glänzte die Botschaft durch Abwesenheit: Botschafter Horst Osterheld hielt sich in Deutschland auf, der Kulturreferent und der Sachbearbeiter hatten es vorgezogen, an der Tagung des Vereins deutscher Lehrer in Chile teilzunehmen.53 Im gleichen Jahr wurde Albert Theile der Friedrich-Rückert-Preis der Stadt Schweinfurt verliehen.
Zwischen Wissenschaft und Politik: „Habe noch mancherlei Pläne im Kopfe“ „Las Gracias“ hatten Udo und Dora Rukser ihr „Gütchen“ genannt, das sie 1941 in San Isidro erworben hatten, vor der Stadt Quillota. Drei Jahre später sicherte der Betrieb „einigermassen“ den Lebensunterhalt.54 Als „Major domo“ entlastete der jüdische Emigrant Ernst Hanf 55 den Gutsbesitzer, der sich vorrangig seiner Arbeit als Herausgeber der „Deutschen Blätter“, später seinen literarischen und wissenschaftlichen Vorhaben widmen konnte. Den Ausgebürgerten, die ihre Lebenssituation „im Vergleich zu sonstigen Schicksalen“ immer als „zu gut“56 empfan51 52
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Bundesarchiv, Koblenz, N 1453, Bd. 60. Mit den Veröffentlichungen „Heine in der hispanischen Welt“ (Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 4/1956), „Goethe in der hispanischen Welt“ (1958) und „Nietzsche in der Hispania“ (1962) fand Rukser als Hispanist Anerkennung. Bundesarchiv, Koblenz, B 307, Bd. 37, 38 und 309, und N 1453, Bd. 55; Politisches Archiv des Auswärtigen Amts, Berlin, B 93, Bd. 1844. Rukser an Jacob Robinson (New York, ehemals Anwalt in Kaunas und Mitarbeiter an der „Zeitschrift für Ostrecht“) vom 24. 6. 1943: „‘It gave me a Thrill’ wie man dort sagt, ist viel zu schwach – denn für mich sind Sie ein Totgeglaubter und schon betrauerter, der nun wiedergekommen ist! Ja, mein Lieber, so ist es & ich bin glücklich, dass Sie zu denen gehören, die dem Verhängnis entronnen sind.[…] Ich wage kaum, Sie nach Ihren Schicksalen zu fragen – aber vielleicht vergessen Sie nicht, einmal alles aufzuzeichnen, damit in allen Einzelheiten diese apokalyptische Zeit aufbewahrt bleibt und nicht bloss durch Journalisten.“, in Institut für Zeitungsforschung, Dortmund, II AK 87/84, Bd. 8. Sohn des Wittener Bankiers Moritz Hanf und seiner Ehefrau Rebecka geb. Löwenstein; R. Hanf, 1944 in Auschwitz ermordet, war als „Schülerin“ von Ernst Marcus mit Rukser bekannt gewesen; vgl. Staatsarchiv Münster, Regierung Arnsberg, Wiedergutmachungen, Nr. 426 510. Rukser an den Jugendfreund Julian Hirsch, London, vom 12. 2. 1944, in Institut für Zeitungsforschung, Dortmund, II AK 87/84, Bd. 10.
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den, sahen ihre kleine Obstfarm „am Ende der Welt“ gleichsam als Arche in einer aus den Fugen geratenen Welt. Den „Trümmern seiner früheren Existenz“ trauerte Rukser nicht nach. Eine Rückkehr nach Deutschland und eine Tätigkeit als Anwalt hat er für sich stets ausgeschlossen: „Ich hab das satt!“57 Seit 1949 chilenische Staatsbürger, konnten Udo und Dora Rukser 1953 ihre erste Europareise unternehmen. Weitere Aufenthalte zu Forschungszwecken, aber auch Kuren in Baden-Baden folgten. Durch Vermittlung Diehls konnte Rukser 1960 Heinrich von Brentano seine „Sorgen“ über das Vordringen des Kommunismus in Südamerika darlegen. Rukser suchte und fand aber auch Kontakte zum Internationalen Gewerkschaftsbund und zu Herbert Wehner, die er über Projekte für Gewerkschaftsschulen und zur Förderung des ländlichen Genossenschaftswesens informierte. In Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut in Santiago unterstützte er die Anregung zur Einrichtung eines Gastlehrstuhls an der Katholischen Universität Valparaíso. Die angebliche Zusammenarbeit der deutschen Botschaft mit einem „Pankow-Spitzel“ beunruhigte ihn mehr als das (bis 1971 ohnehin erfolglose) Bemühen der DDR um diplomatische Anerkennung. Der Wissenschaftler Rukser, durch seine Bücher „Goethe in der Hispanischen Welt“ (1958) und „Nietzsche in der Hispania“ (1962) als Kenner der Geistesgeschichte ausgewiesen, nahm 1962 am 2. Internationalen Hispanisten-Kongress in Nimwegen teil. 1970 erschien sein Buch über den „Denker Rudolf Pannwitz“. Dank Förderung durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft58 sowie die Guggenheim Foundation konnte er sich seinem letzten großen wissenschaftlichen Vorhaben „Ortega und die deutsche Philosophie“ zuwenden. In den Fokus seiner Korrespondenz mit Günter Diehl rückte aber ein Thema, das ihm zum Albtraum wurde: die politisch motivierte Agrarreform in Chile. Er schrieb sich die Finger wund, wandte sich an Brentano, der inzwischen nicht mehr Minister war und in seiner Antwort auf die Südamerikareise von Bundesminister Walter Scheel verwies.59 Das Thema hatte auch einen persönlichen Bezug. Als Teilhaber einer zu 51 Prozent in deutschem Besitz befindlichen riesigen Schaffarm in der Halbwüste im Norden Chiles, die nur der Form nach in eine Arbeitergenossenschaft umgewandelt werden sollte, fürchtete Rukser, erneut enteignet zu werden. Auf sein Drängen richtete schließlich der deutsche Botschafter eine Verbalnote an das chilenische Auswärtige Amt. Dank Günter Diehl fand Rukser in Bonn Unterstützung. Erst nachdem sich im Fall „Cia. Ganadera de Tongoy Ltda.“ eine „maßvolle Entscheidung“ der chilenischen Behörden abzeichnete, revidierte Rukser sein harsches Urteil über den Botschafter, der sich mit der For-
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Rukser an David A. Avram, Habana/Cuba, vom 11. 11. 1945, in Institut für Zeitungsforschung, Dortmund, II AK 87/84, Bd. 1. – Der jüdische Anwalt (Bukarest) war nach 1933 noch wiederholt zu Gesprächen in Berlin (Auswärtiges Amt) und zuletzt Ende Februar 1939 dort mit Rukser zusammengetroffen; später Attorney at Law in Washington. Reisebeihilfe für das Forschungsvorhaben „Ortega und die deutsche Philosophie“, Bewilligung vom 27. 4. 1964, in Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG), Schriftgutverwaltung. Bundesarchiv, Koblenz, N 1553, Bd. 54 (15. 11. 1960), N 1453, Bd. 18 (16. 10. 1961) und N 1453, Bd. 56 (27. 8. 1962).
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derung nach einer Gleichbehandlung von Chilenen und Ausländern „eine richtige ,gaffe‘ geleistet hat“.60 Tief verunsichert, beantragte der 1944 Ausgebürgerte für sich und seine Frau wieder die deutsche Staatsbürgerschaft.61 Nur anderthalb Jahre nach Aushändigung der Einbürgerungsurkunde im Generalkonsulat in Valparaíso starb Rukser 1971. Albert Theile würdigte in seiner Zeitschrift62 den Weggefährten, der am Bodensee unvergessen ist: Die Dauerausstellung „Höri – Refugium der Dichter“ im Hermann-Hesse-Höri-Museum in Gaienhofen widmet dem Gutsbesitzer und Publizisten einen eigenen Raum. Zu den von Manfred Bosch zusammengetragenen Exponaten – darunter Fotografien von Udo und Dora Rukser – zählt ein kleines Blatt von Hans Richter. Die Collage „Udo Rukser und seine Welt“ rückt ein Porträt in den Blickpunkt, das Richter 1914 gemalt hatte. Es zeigt den introvertierten Intellektuellen aus dem Kreis um Herwarth Walden und Salomo Friedlaender. Das Klebebild feiert anrührend das unternehmerische, publizistische und wissenschaftliche Werk des Freundes und Schwagers, der als „Anwalt des Rechts“ 1934 seinen Beruf aufgegeben hatte. 1943 wollten Rukser und Theile „nicht länger schweigen“: „Das ist das, was wir tun können, wir hier in Amerika, damit die Zukunft unter dem Stern des Friedens stehe.“
Weiterführende Literatur Bosch, Manfred (Vorlass im Franz-Felder-Archiv der Landesbibliothek Bregenz) hat seit 1992/93 wiederholt an Udo Rukser erinnert (u.a. in Bohème am Bodensee, Lengwil 2 1997, S. 294–296 und 304); zuletzt: „Mir bleibt die Stelle lieb, wo ich gelebt“. Unbekannte biographische Zeugnisse von Kunstsammlern und Kunstwissenschaftlern am Bodensee, in: Schriften des Vereins für Geschichte des Bodensees und seiner Umgebung 125 (2007), S. 171–198, hier S. 178–182. Vander Heide, Ralph Peter: Deutsche Blätter für ein europäisches Deutschland, gegen ein deutsches Europa. A cultural-political study, Albany, State University of New York, Diss., 1975. Wojak, Irmtrud: Exil in Chile. Die deutsch-jüdische und politische Emigration während des Nationalsozialismus 1933–1945, Berlin 1994. Stephan, Alexander: Die intellektuelle, literarische und künstlerische Emigration, in: Krohn, Claus-Dieter u.a. (Hg.): Handbuch der deutschsprachigen Emigration 1933– 1945, Darmstadt 2 1998, Sp. 30–46.
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Rukser an G. Diehl (19. 6. 1969), „Jenes Prinzip, dass man Auslaender so schlecht behandeln koenne wie man wolle, wenn man sie nur nicht schlechter als Inlaender behandele, kam vor 40 Jahren auf und wurde in der westlichen Welt allgemein abgelehnt. Denn es bedeutet ja einen Freibrief zur Auspluenderung von Auslaendern, wenn man sie nur den Inlaendern gleich stellte.“, in Bundesarchiv, Koblenz, N 1453, Bd. 63. „Meine Frau und ich streben, unsere Arbeit in Chile weiter fortzusetzen, solange es möglich ist“, schrieb Rukser in seinem zur Wiedereinbürgerung verfassten Lebenslauf vom 22. 11. 1969, in Kreisarchiv Konstanz, 703-3, Bd. 4001. Humboldt 12 (1971), 45, S. 72 f., und 27 (1986), 87, S. 100: Nachruf „Profesor Albert Theile, fundador de esta revista“, „gran hombre de cultura y promotor de publicaciones“.
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Hinweise zu den Quellen Das „Redaktionsarchiv“ der „Deutschen Blätter“ befindet sich im Dortmunder Institut für Zeitungsforschung. Klassische Nachlässe sind nicht nachweisbar (Udo Rukser) oder verschollen. Albert Theile hat an Memoiren gearbeitet, wie auch seine Beiträge im „Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel“ („Die internationale Zeitschrift ,Die Böttcherstraße‘. Erinnerungen“ und „Die ,Deutschen Blätter‘“) erkennen lassen.
Helge Kleifeld
Eine Beamtenkarriere vom Kaiserreich bis zur Bundesrepublik – Walther Kühn (1892–1962) Einführung Menschen, die im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts in Deutschland geboren wurden, durchlebten in der Regel, wenn sie Glück hatten und nicht im Ersten oder Zweiten Weltkrieg gefallen bzw. durch die Kriegsumstände auf andere Art und Weise ums Leben gekommen waren, bewusst fünf verschiedene Herrschaftssysteme: Das wilhelminische Kaiserreich, die Weimarer Republik, das Dritte Reich, die Besatzungszeit durch die Alliierten und die Bundesrepublik Deutschland bzw. die Deutsche Demokratische Republik. Der häufige Wechsel der Staatsform – Monarchie, Demokratie, Diktatur, militärische Fremdherrschaft, Demokratie bzw. Diktatur – musste zwangsläufig Auswirkungen auf die Lebensumstände und Lebensläufe dieser Menschen haben. Beispielsweise wurde durch die häufigen Systemwechsel für die jeweiligen Systemanhänger bzw. -gegner ein rascher beruflicher und gesellschaftlicher Auf- bzw. Abstieg möglich, letzterer mit zum Teil tödlichen Konsequenzen. Die biografische Geschichtsschreibung wendet sich verständlicherweise zunächst denjenigen Zeitgenossen zu, die am schnellsten und höchsten aufstiegen oder am tiefsten fielen. Das ist wenig verwunderlich, denn es handelt sich in beiden Fällen zwangsläufig um politische Entscheidungsträger und gesellschaftliche Leitfiguren. Zudem sind derartige Lebenswege mit einem relativ großen Maß an Publizität verbunden, so dass es in der Regel eine verhältnismäßig breite Quellengrundlage für die Forschung gibt. Nicht zuletzt um diese „besonderen“ Lebensläufe einzubetten, strebt die Geschichtswissenschaft mehr und mehr an, auch die Lebensläufe der „Lieschen oder Thomas Müllers“ zu erforschen, um daraus Erkenntnisse für die Entwicklung der Lebensumstände der breiten Bevölkerungsschichten zu ziehen. Doch neben den zwei genannten „Extremen“ gab es noch Menschen, deren Lebensentwicklung nicht so spektakulär verlief wie bei den politischen Entscheidungsträgern, die aber dennoch im Staat oder in der Gesellschaft eine Position bekleideten, die ihnen Verantwortung für politische oder Verwaltungsentscheidungen und damit auch für das Wohl und Wehe der „Lieschen und Thomas Müllers“ übertrug. Ob diese Menschen einer gesellschaftlichen „Schicht“ zugeordnet werden können oder sollten, muss hier offen bleiben. Es handelt sich um Entscheidungsträger bzw. Entscheidungsausführer aus den hinteren Reihen, eine „administrative Mittelinstanz“. Mit deren Repräsentanten haben sich bereits einige Forscher intensiv beschäftigt. So untersuchte beispielsweise Michael Ruck in seiner Monografie „Korpsgeist und Staatsbewußtsein“ die höheren Beamten des „deutschen Südwesten“ in einer
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„regionalen Fallstudie“ mit empirischer Methodik. Marie-Bénédicte Vincent beschäftigte sich in ihrer Dissertation „Serviteurs de l’État“ mit den preußischen Verwaltungseliten zwischen 1871 und 1933, ebenfalls auf der Grundlage einer repräsentativen Auswahl. 1985 erschien der Sammelband „Die preußischen Oberpräsidenten 1815–1945“, herausgegeben von Klaus Schwabe; und Horst Möller veröffentlichte seine erweiterten Forschungen zu den preußischen Oberpräsidenten der Weimarer Republik als Verwaltungselite 1982 in den Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte.1 Im Folgenden wird der Versuch unternommen, den Lebensweg von Walther Kühn, einem in vieler Hinsicht typischen Vertreter dieser „Mittelinstanz“, nachzuzeichnen und zu interpretieren. Walther Kühn war im Kaiserreich Student, später als Soldat Leutnant und in der Weimarer Zeit höherer Verwaltungsbeamter der preußischen Provinzialverwaltung bis hin zum Landrat. Er stieg in der Zeit des Nationalsozialismus nach einem kurzen Karriereknick zum Regierungspräsidenten auf, um sich am Ende des Krieges nach raschem tiefen Sturz in einem Strafbataillon wiederzufinden. In der Bundesrepublik wurde er FDP-Parlamentarier, der – nicht in der ersten Reihe stehend – vor allem bei der Wiedereinführung des Berufsbeamtentums engagiert war. Bereits auf den ersten Blick ergibt sich die Frage: Wie arrangierte sich Kühn im Rahmen seiner Karriere mit den so unterschiedlichen Staatsformen und politischen Systemen, die ja nicht nur formal sondern auch gesellschaftlich-ideologisch sehr verschieden waren? Doch für die Forschung über Walther Kühn steht zunächst ein anderes nicht zu unterschätzendes Problem im Vordergrund: die Quellenkritik. Kühn hat keinen Nachlass hinterlassen, weder geschlossen noch in Teilen. Ausgehend von den wenigen Daten über seinen Lebensweg war es notwendig, in den in Frage kommenden Archiven nach Splittern über Kühns Vergangenheit zu suchen. Im Rahmen des vorliegenden Artikels war es leider nicht möglich, allen Spuren nachzugehen. So wurden beispielsweise Archive im heutigen Polen nicht berücksichtigt. Der vorliegende Artikel stützt sich auf die Überlieferung zu Kühns Lebensweg, die sich in folgenden Archiven befindet: im Bundesarchiv in Berlin, in Koblenz und in Freiburg2 , im Landesarchiv NRW3 , im Brandenburgischen Landeshauptarchiv4, im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbe-
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Ruck, Michael: Korpsgeist und Staatsbewußtsein. Beamte im deutschen Südwesten 1928–1972, München 1996; Vincent, Marie-Bénédicte: Serviteurs de l’État. Les élites administratives en Prusse de 1871 à 1933, Paris 2006; Schwabe, Klaus (Hg.): Die preußischen Oberpräsidenten 1918–1945, Boppard 1985; Möller, Horst: Die preußischen Oberpräsidenten der Weimarer Republik als Verwaltungselite, in: VfZ 30 (1982), S. 1– 26. Bundesarchiv, PK Walther Kühn; Bundesarchiv, OPG Walther Kühn; Bundesarchiv, B 192, 6; Bundesarchiv, B 234, 867; Bundesarchiv, B 405, 2682; Bundesarchiv, Militärarchiv, RW 59/2077, Walther Kühn. Landesarchiv NRW, NW 1055, 1968. Brandenburgisches Landeshauptarchiv, Rep. 3 B I Präs., Nr. 1633.
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sitz5 , im Archiv des Liberalismus6 , im Universitätsarchiv Tübingen7 , im Archiv der Universität Wien8 , im Universitätsarchiv der Universität Halle-Wittenberg9 und im Parlamentsarchiv des Deutschen Bundestages. Zudem wurden die üblichen Handbücher mit Kurzbiografien, wie z.B. unterschiedliche Jahrgänge des Handbuches des Deutschen Bundestages, M.d.B Volksvertretung im Wiederaufbau und das Biographische Handbuch des Deutschen Bundestages ausgewertet. Weitere biografische Hinweise ergaben sich aus unterschiedlichen Jahrgängen der Zeitschrift „Der Convent. Akademische Monatsschrift“ und der Verbandszeitschrift der Deutschen Sängerschaft „Deutsche Sängerschaft“ sowie der Festschrift 50 Jahre Sängerschaft Hohentübingen in der DS (Weimarer CC), herausgegeben von Werner Grütter und Hans-Dieter Reinöhl. Darüber hinaus wurden diverse Hilfsmittel verwendet. Da die Quellen nur sehr sporadisch Auskunft über Kühns Privatleben geben, werden im Folgenden selbst unwichtig erscheinende Informationen aufgenommen, um wenigstens ansatzweise Hinweise auf Kühns privates Tun und Sein zu bieten. An dieser Stelle ist es notwendig, zu den verschiedenen Quellen kritisch Position zu beziehen. Während die Archivalien aus den oben genannten Archiven grundsätzlich als „neutral“ gelten können, handelt es sich bei den Kurzlebensläufen und biografischen Hinweisen in Handbüchern und bei den Überlieferungen aus den unterschiedlichen Verbänden, in denen Kühn Mitglied war, um Darstellungen, auf die Kühn aktiv Einfluss hat nehmen können und mit Sicherheit auch genommen hat. Die aus diesen Quellen entnommenen „Fakten“ müssen daher mit besonderer Vorsicht verwertet werden. Handelt es sich dabei um Informationen mit reinem „Auskunftswert“, wie z.B. wann wurde Kühn in seiner beruflichen Laufbahn wohin versetzt oder welche Orden erhielt er, so ist die Verwendung im Falle Kühns unproblematisch. Stehen jedoch Informationen im Blickfeld, die nach dem Zweiten Weltkrieg dazu dienen konnten, Kühn in einem demokratieoder republikfreundlichen Licht erscheinen zu lassen, oder ihn als Opponenten des nationalsozialistischen Regimes darzustellen, so ist vor dem Hintergrund der weiter unten dargelegten „Wirrungen“ in Kühns Karriere Vorsicht bei der unkritischen Verwertung geboten. Im folgenden Text wird auf diese Quellenproblematik an den jeweiligen Stellen hingewiesen. Bei der insgesamt sehr dünnen Quellenlage ist es jedoch unverzichtbar, auf derartige Quellen zurückzugreifen, um überhaupt ein Bild von dem Lebensweg Walther Kühns zeichnen zu können. 5
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Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, I. HA Rep. 77, Nr. 5039, 4527, 4685, tit. 398g Nr. 1, Bd. 5; Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, I. HA Rep. 125, Nr. 2783; Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, XVII, Nr. 626. Archiv des Liberalismus A31-53, 53-63; Archiv des Liberalismus N1-952, Beamteneingliederung in Bundesministerien; Archiv des Liberalismus N1-998, KV Witzenhausen zu Art. 131 GG; Archiv des Liberalismus N11-56, Korr. Zu Wahlkampfterminen; Archiv des Liberalismus N 77-7, Interview; Archiv des Liberalismus N11-25, Art. 131 GG; Archiv des Liberalismus N11-24, Art. 131 GG; Archiv des Liberalismus N11-18, Art 131 GG. Universitätsarchiv Tübingen 258/10 400, Walther Kühn. Archiv der Universität Wien, Nationale Walther Kühn. Universitätsarchiv der Universität Halle-Wittenberg, Anmeldebuch Walther Kühn.
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Der Lebensweg Walther Kühns Walther Albert Gustav Kühn wurde am 27. Dezember 1892 in Posen geboren. Sein Vater, Gustav Kühn, arbeitete als Gymnasialprofessor, seine Vorfahren waren brandenburgische Bauern. Kühn war evangelisch und besuchte nach der Bürgerschule von 1901–1907 zunächst das Gymnasium in Bromberg, wechselte aber 1907 zum Königlichen Friedrichs-Gymnasium nach Frankfurt/Oder, wo er sein Abitur am 17. März 1911 mit „gut“ bestand. In Frankfurt/Oder wohnte er vermutlich in der Fürstenwaldstraße 12, südwestlich des Stadtzentrums. Sein Jurastudium begann er im Sommersemester 1911 an der Königlich Württembergischen Universität Tübingen. Er wohnte, wie zu dieser Zeit üblich, zur Untermiete bei einer Wirtin, Frau Sauter, in der Schmiedtorgasse 15, recht zentral. In seinem ersten Semester hörte Kühn neben den üblichen juristischen Einführungsvorlesungen über römisches Recht, Rechts- und Verfassungsgeschichte und Rechtswissenschaften auch zwei Vorlesungen, die bereits sein Interesse für Politik und sein späteres Engagement in unterschiedlichen politischen Parteien erahnen lassen: „Der Sozialismus und die deutsche Politik“ und „Die politischen Parteien, vorwiegend Deutschlands“. Auch im folgenden Wintersemester 1911/12 zeigte sich neben den fachbezogenen Vorlesungen und Übungen über bürgerliches, römisches und Privatrecht sowie einer offensichtlich sein Jurastudium erweiternden Vorlesung über allgemeine Volkswirtschaftslehre Kühns fächerübergreifendes Interesse. Er nahm an den Vorlesungen „Einleitung in die Philologie“ und „Geschichte des 19. Jahrhunderts“ teil. Das Sommersemester 1912 war Kühns letztes Semester in Tübingen. Er ergänzte sein juristisches Fachwissen mit Veranstaltungen über Familienrecht, Strafrecht, Sachen- und Erbrecht sowie gerichtliche Psychiatrie und widmete sich darüber hinaus historischen und philologischen Themen: „Geschichte Bismarcks“ und „Kritische Vorträge über Goethes Faust“ sowie „Zeitgeschichtliche Probleme“. Bereits in den ersten drei Semestern lässt sich also Kühns Streben nach fächerübergreifender Bildung deutlich erkennen. Ein Ansinnen, dem – anders als beim gegenwärtigen Hochschulsystem – die damalige humboldtsche Ausprägung des Lehr- und Lernbetriebes an den deutschen Universitäten durchaus entgegenkam. Außer dass Kühn seiner Wirtin über drei Semester treu blieb und dass er bereits im Sommersemester 1911 bei der Sängerschaft Zollern in Tübingen Mitglied wurde, Kühns Vater war ebenfalls Sängerschafter in Halle, geben die herangezogenen Quellen über sein Studentenleben in Tübingen keine nähere Auskunft. Kühn wechselte im Wintersemester 1912/13 an die juristische Fakultät der Universität Wien, wo er in der Josefstädterstraße 29, Wien VIII (1080), ebenfalls nicht weit vom Zentrum wohnte. Mit Veranstaltungen zu Völkerrecht und Volkswirtschaftspolitik, Gerichtlicher Medizin und Rechtsgeschichte vervollständigte er seinen juristischen und wirtschaftswissenschaftlichen Fächerkanon, und sein „Studium Generale“ ergänzte er mit „Assoziations- und Organisationswesen der Gegenwart“, „Allgemeine Geschichte der jüngsten Vergangenheit“ und „Kunst des 19. Jahrhunderts“. Ob er sich in Wien, wie aus einer biografischen Quelle hervorgeht, „speziell völkischen Fragen“ widmete, „einem Arbeitsgebiet, das ihm
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noch heute [1955] sehr nahesteht und das er noch heute intensiv betreibt“10 , lässt sich nicht verifizieren. Am 28. April 1913 meldete Kühn sich an der Königlich Vereinigten FriedrichsUniversität Halle-Wittenberg unter der Nummer 412 an und studierte dort in der juristischen Fakultät Rechts- und Staatswissenschaften. In Halle wohnte er in der Straße Harz 50 wiederum durchaus zentral und nicht weit von der Universität entfernt. Hier beschleunigte Kühn sein Studium. Er belegte Veranstaltungen zu den noch fehlenden Rechtsgebieten und heutzutage teilweise exotisch anmutende, damals jedoch übliche Vorlesungen wie „Gerichtliche und soziale Fragen der Geburtshilfe und Gynäkologie“ oder „Digestenexegese“11 . Hinzu kamen Praktika, Übungen und Besuche von Amts- und Landgericht. Der gestiegenen Intensität des Jurastudiums, das nach wie vor Elemente eines wirtschaftswissenschaftlichen Studiums enthielt, fiel Kühns Interesse für Politik, Geschichte, Germanistik und Philosophie zum Opfer. Während seiner Zeit in Halle konzentrierte er sich offenbar ganz auf sein Fachstudium, um möglichst bald sein Examen ablegen zu können. Das „Referendarexamen“ bestand er schließlich im August 1914, als Kriegsfreiwilliger beurlaubt, vor dem Oberlandesgericht in Naumburg/Saale mit der Note ausreichend. Im Krieg war Kühn bei der Artillerie. Aus der Beförderungskartei der Kriegsreserveoffiziere ist zu entnehmen, dass Kühn als Reservist dem Artillerieregiment 18 zugeteilt war. Seinem „Rangdienstalter“ nach war er 1922 Oberleutnant und 1937 Hauptmann der Reserve. 1939 war er bei dem Einmarsch in die Tschechoslowakei beteiligt. Aus einem Brief geschrieben „Im Felde“ an die Universität Halle vom 15. September 1918 geht hervor, dass er zu dieser Zeit als Leutnant der Reserve dem königlich Preußischen 2. Rheinischen Feldartillerie-Regiment Nr. 23 angehörte und in der III. Abteilung im Stab Dienst tat. Am 2. September 1914 wurde Kühn bei der Schlacht an den Masurischen Seen schwer verwundet. Eingesetzt wurde er in Belgien, Frankreich und Russland. Er war – in beiden Weltkriegen – nach eigenen Angaben Träger des Eisernen Kreuzes erster und zweiter Klasse (1914), des Oldenburgischen Friedrich-August-Kreuzes erster und zweiter Klasse (1914), des Frontehrenkreuzes (1914/1918), der österreichischen und ungarischen Kriegserinnerungsmedaille (1914/1918), des Kriegsverdienstkreuzes mit Schwertern (1939) und des Infanterie-Sturmabzeichens. Zudem erhielt er die Nahkampfspange und das Goldene Verwundetenabzeichen. Nach dem Waffenstillstand wurde er als Leutnant und Abteilungs-Adjutant entlassen. Über Kühns Leben zwischen 1918 und 1921 liegen dem Verfasser keine Quellen vor. Da er aber bis zum Waffenstillstand „Im Felde“ war und im Juli 1921 sein Assessorexamen ablegte, ist davon auszugehen, dass er in dieser Zeit sein Referendariat absolvierte. Zur Zeit des Examens war Kühn bei der Regierung Frankfurt/Oder eingesetzt, wo er vermutlich auch den wesentlichen Teil seines Referendariates ableistete, denn auch seine private Post sandte er von Frankfurt/Oder aus und seine Eltern lebten dort. Seine Examensarbeit mit dem Titel „Unternehmungen der Deutschen Stadtgemeinden auf kommunalwirtschaftlichem Gebiet“ 10 11
Der Convent. Akademische Monatsschrift, 6 (1955), S. 70. Interpretation historischer Rechtstexte.
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wurde neben einigem Lob und einiger Kritik an der Themenstellung von einem der Gutachter unter anderem mit der Bemerkung „Die Behandlung des Themas selbst ist nicht allzu glücklich“ und mit der Note „vollkommen befriedigend“ versehen. Für seine Klausur über das Thema „Die Hauptursachen und die soziale Wirkung der Geldentwertung in Deutschland“ erhielt Kühn ein „ausreichend“ und befand sich damit unter den sechs gemeinsam bewerteten Referendaren auf Platz drei. Sein Examen bestand er schließlich mit der Note fast gut. Während seiner Referendarzeit heiratete Kühn Gaby Henschel, mit der er zusammen eine Tochter hatte. Als frisch gebackener Assessor ging Kühn im August 1921 zur Regierung Frankfurt/Oder. Das Ministerium des Inneren benötigte Ende 1922 dringend einen Hilfsarbeiter und forderte Kühn bei der Bezirksregierung an. Dort blieb er circa ein halbes Jahr in der Kommunalabteilung und wurde im Sommer 1923 zurücküberwiesen. Die Akten belegen schließlich im August 1923 die Überweisung Kühns von der Regierung Frankfurt/Oder an die Regierung Köln, die aber bereits im Oktober 1923 wieder aufgehoben wurde. Ob er tatsächlich in Köln war, ist aufgrund der vorliegenden Quellen nicht zu ermitteln. Zwischen 1921 und 1931 war Kühn – mit kurzer Unterbrechung beim Ministerium des Inneren – in der Bezirksregierung Frankfurt/Oder beschäftigt. Dort wurden ihm vielfältige Aufgaben übertragen. Er wurde zwischen 1923 und 1928 als Leiter in der Referendarausbildung eingesetzt und war nebenamtlich seit 1924 Dozent der Verwaltungsbeamtenschule in Frankfurt/Oder. Er arbeitete mit bei der Erstellung der 1926 erschienen 23. Auflage des „Handbuch der Verfassung und Verwaltung in Preußen und dem Deutschen Reiche“, herausgegeben von Graf Hue de Grais. Hierin verfasste er das siebte Kapitel „Handel und Gewerbe (einschl. Arbeitsrecht, Kapitalpflege Bergbau)“. Zudem wurde er zum Staatskommissar für die Handwerkskammer und am 1. Februar 1926 zum Regierungsrat ernannt. 1931 schließlich wurde Kühn zunächst „kommissarisch“ mit der Verwaltung des Landratsamtes Zielenzig im brandenburgischen Kreis Oststernberg betraut. Dieser Posten war frei geworden, da der bisherige Landrat um Versetzung in den Ruhestand gebeten hatte. Das als „Geheim“ klassifizierte Empfehlungsschreiben des Regierungspräsidenten der Regierung Frankfurt/Oder, Wilhelm Fitzner (SPD), an den Preußischen Minister des Inneren, Carl Wilhelm Severing (SPD), enthält nun erstmals einige sehr interessante Bemerkungen über Kühns politische Einstellung, die vor dem Hintergrund der späteren „Wirrungen“ in Kühns Karriere wichtig erscheinen: „Kühn ist kenntnisreich, fleißig und verfügt über ein beachtliches Geschick im Umgang mit Menschen. Politisch gehört er der Volkspartei an. Er ist seit Jahren in dieser Partei im Bezirk Frankfurt/Oder führend tätig und hat sich nach meiner Kenntnis stark bemüht, die Volkspartei im republikfreundlichen Sinne zu beeinflussen. An seiner persönlichen republikanischen Einstellung habe ich keinen Zweifel. Kühn ist Vorsitzender des Wahlkreises Frankfurt/Oder-Grenzmark der Deutschen Volkspartei und gehört außerdem dem Ortsvorstande der Deutschen Volkspartei in Frankfurt/Oder an. Ich bin überzeugt, dass er als Landrat eine gute republikanische Haltung bewahren würde. […] Bei dieser Zusammensetzung [des Kreistages] muss es als aus-
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geschlossen angesehen werden, dass sich im Kreistag eine Mehrheit für einen Angehörigen einer der Parteien findet, welche die Preußische Regierungskoalition bildet.“12 Die Charakterisierung Kühns als republikfreundlich ist einerseits vor dem Hintergrund zu sehen, dass der Regierungspräsident seinen Regierungsrat vermutlich lange und gut gekannt hat, andererseits ist zu berücksichtigen, dass Fitzner seinen Wunschkandidaten für das Landratsamt seinem Parteigenossen, dem Innenminister Severing, in einem möglichst guten Licht präsentieren wollte, wenn er schon nicht der SPD oder einer der Regierungsparteien Preußens angehörte. Dies gelang und so war Kühn am 7. April 1931 in Zielenzig mit seiner Amtsübernahme beschäftigt. Bereits im Juni 1931 schlug ihn der Kreistag einstimmig als Landrat vor, so dass seine endgültige Bestallung ebenfalls im Juni 1931 vorgenommen wurde. Als Landrat war er auch Mitglied des Provinziallandtages der Provinz Brandenburg. Sogleich übernahm Kühn zahlreiche Nebenämter. Im April 1931 wurde er Kreisfeuersozietätsdirektor und im Juli desselben Jahres genehmigte der Preußische Innenminister die Tätigkeiten als Mitglied des Aufsichtsrates der Märkischen Elektrizitätswerk-A.G., als Vorsitzender des Aufsichtsrates der Leinbahn-A.G. Küstrin-Hammer und als Vorsitzender des Sparkassenzweckverbandes Zielenzig-Oststernberg. Es kehrte nun für zwei Jahre Ruhe in Kühns Amtsführung ein. So große Ruhe, dass Kühn durchaus zum Feiern aufgelegt war – doch dazu unten mehr. In Preußen veränderte sich derweil das politische Koordinatensystem. Im Verlauf des „Preußenschlages“ im Juni 1932 trat an die Stelle des SPD-Innenministers Severing zunächst der parteilose frühere Zentrumspolitiker Franz Bracht und am 30. Januar 1933 Hermann Göring. Auch der Regierungspräsident Fitzner in Frankfurt/Oder verlor sein Amt. Bereits gut vier Wochen später wurde Kühn Opfer einer gezielten Denunziation und Intrige. Ein Schreiben, verfasst am 6. März 1933 vom „Obmann der Fachschaft Regierung“ der NSDAP in Frankfurt/Oder, Bossat, erreichte unter anderem den Gauleiter des Gaues Ostmark und Mitglied des Preußischen Landtages Wilhelm Kube: „1.) Während am Sonnabend, den 4. März 1933, unser Führer noch einmal mit aller Gewalt das Deutsche Volk zur Besinnung aufrüttelte und noch einmal dem Volk mit in die Seele dringenden Worten den furchtbaren Ernst unserer heutigen Zeit vor Augen führte, ja, wo zum Abschluß seiner Mahnung feierlich die Glocken einfielen, gestattete, oder besser gesagt erfrechte sich der Preuß. Landrat Walter Kühn in Zielenzig in den Räumen des Landratsamtes zu Zielenzig einen Maskenball abzuhalten, dessen Veranstalter er selbst war, denn die Einladungen ergingen vom Landrat Kühn. Es erfolgten sogar Einladungen an Personen nach Reppen. Als während der Maskerade ein Landjägereibeamter in der Nacht zur Erstattung seiner dienstlichen Meldung beim Landrat Kühn vorsprach, erschien dieser selbst in vollem Maskenschmuck. Jedenfalls soll sich der Bevölkerung in Zielenzig eine ungeheure Empörung über dieses scham- und gewissenlose Verhalten des Landrats bemäch-
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Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, I. HA Rep. 77, Nr. 4685, 130, 130v.
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tigt haben. Kühn ist scharf gegen rechts eingestellt und mit dem Vizepräsidenten Herrmann in Ffo. sehr gut befreundet.“13 Die umgehende Reaktion Kubes, ein Brief an seinen Parteigenossen Kurt Daluege, der zu dieser Zeit ebenfalls Mitglied des Preußischen Landtages und in der Polizeiverwaltung als Kommissar zur besonderen Verwendung tätig war, lässt in ihrer Art darauf schließen, dass er hinter der Denunziation persönliche Missgunst vermutete. Zumindest war er bestrebt, Kühn weitestgehend zu schonen: „Lieber Herr Parteigenosse Daluege, beiliegende Meldung aus Frankfurt/Oder überreiche ich Ihnen mit der Bitte, diese Meldung so zu behandeln, dass der betreffende Beamte nicht von irgendeinem deutschnationalen Edeling Nachteile zu erfahren hat.“14 Kühn mobilisierte eine beachtliche Abwehrfront gegen diese Intrige. Zwischen dem 28. März und dem 6. April gingen beim Ministerium des Inneren zahlreiche Unterstützungsschreiben ein, die Kühn als in der Bevölkerung beliebt, national zuverlässig und in der Verwaltung des Kreises erfolgreich auswiesen. Sie waren unterschrieben von den maßgeblichen Funktionären des Kreisfeuerwehrverbandes – bei diesem an Hermann Göring adressierten Brief ist unter den Unterschriften des Kreisbranddirektors und des Oberbrandmeisters mit anderer Hand hinzugefügt: „beide Mitglieder der N.S.D.A.P.“15 –, dem Landgemeindeverband Kreisabteilung Oststernberg, dem Kreiskriegerverband, der Ortsgruppe Zielenzig des Stahlhelm, dem Bürgerverein, der Verkehrskommission, der Freiwilligen Sanitätskolonne vom Roten Kreuz und dem Reichslandbund in Berlin. Doch die Mühe war vergebens. Am 13. Mai erging zunächst per „Polizeifunkspruch“ mit der Bemerkung „Sofort! (Noch heute!)“ der Auftrag des Preußischen Ministers des Inneren an den Regierungspräsidenten in Frankfurt/Oder, Kühn „sofort zu beurlauben“ und am selben Tag offensichtlich mit normaler Post, aber auch mit dem Hinweis „Sofort!“, eine genauere Spezifizierung. Kühn sei aus „politischen Gründen“ abzuberufen und „unter Gewährung des gesetzlichen Wartegeldes sofort einstweilen in den Ruhestand zu versetzen.“16 Vor dem Hintergrund der Nachbesetzung des Landratsamtes des Kreises Oststernberg mit Werner Schmuck, der seit 1928 Gaugeschäftsführer und Gaupropagandaleiter des Gaues Ostmark der NSDAP war, wird die Denunziation und die daraus folgende Versetzung in den einstweiligen Ruhestand vielleicht verständlicher. Kühn wurde jedoch bereits im Juni 1933, „auf sein wiederholtes persönliches Drängen hin,“17 zum Oberpräsidium nach Breslau zur dienstlichen Verwendung überwiesen – hier übernahm er die Aufgabe eines Dezernenten für Kommunalund Wirtschaftssachen – und Anfang Oktober 1933 vertretungsweise Landrat im Landkreis Waldenburg, wo er nach erfolgtem „Ariernachweis“ für seine Frau und sich zum 1. Januar 1934 endgültig zum Landrat berufen wurde. Der Posten in Waldenburg war vakant, da der Landrat Karl Franz, ein Sozialdemokrat, 1932 13 14 15 16 17
Schreiben von Bossat an Albrecht vom 6. 3. 1933, in Bundesarchiv, PK Walther Kühn. Schreiben von Kube an Daluege vom 9. 3. 1933, in Bundesarchiv, PK Walther Kühn. Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, I. HA Rep. 77, Nr. 4685, 154. Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, I. HA Rep. 77, Nr. 4685, 152, 158. Der Convent. Akademische Monatsschrift, 6 (1955), S. 70–71. Diese Information kann nur von Kühn selbst stammen und ist anhand amtlicher Quellen nicht überprüfbar.
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seines Amtes enthoben und ab 1933 im KZ Sonnenburg inhaftiert worden war. Seit dieser Zeit wurde das Amt vertretungs- bzw. auftragsweise verwaltet. In einem Nachruf wird darauf verwiesen, dass Kühns Zugehörigkeit zur DVP im Zusammenhang mit der Intrige gegen ihn zu sehen sei und dass er aus diesem Grunde den Nationalsozialisten unzuverlässig erschien18. Kühn selber erwähnte in seinem Fragebogen zur Entnazifizierung, dass er im Wahlkampf vor 1933 als DVP-Mitglied in Wahlkampfreden häufig gegen die Nationalsozialisten Stellung bezogen hätte und daher aus seinem Amt entfernt worden sei. Zur Beantwortung der Frage, ob die vorübergehende Versetzung in den einstweiligen Ruhestand durch die in Preußen an die Macht gelangten Nationalsozialisten auf die Person Walther Kühn zielte, und ob er für die Nationalsozialisten unzuverlässig war und damit notwendigerweise abberufen werden musste, bietet ein an ganz anderer Stelle und zu einem späteren Zeitpunkt stattfindender Vorgang interessante Hinweise. Spätestens seit September 1934 war Kühn bemüht, auch formal nachweisen zu können, Mitglied der NSDAP zu sein. Nach eigenen Angaben hatte er am 1. April 1933 – offenbar im Zuge, zumindest aber in auffallender zeitlicher Nähe der gegen ihn gerichteten Intrige – seine Mitgliedschaft in der NSDAP beantragt. Im Fragebogen zur Entnazifizierung gab er an, dass ihm der Eintritt in die NSDAP „dienstlich nahe gelegt wurde“. Den Antrag stellte er noch vor der Aufnahmesperre in die NSDAP vom 19. April 1933. Kühns Aufnahme wurde ihm offensichtlich nie formal bestätigt und im Verlauf der Klärung der Angelegenheit entwickelte sich 1934/1935 ein reger Schriftverkehr zwischen den unterschiedlichen beteiligten Parteistellen der NSDAP. In einem Schreiben, das Kühn am 1. Februar 1935 an den Reichsschatzmeister Franz Xaver Schwarz sandte, schilderte er seinen Fall. Trotz der Berücksichtigung der Tatsache, dass Kühn sich in dieser Sache dem Reichsschatzmeister als treuer, überzeugter und zuverlässiger Nationalsozialist präsentieren wollte, enthält der Brief zahlreiche Fakten, die bei der Beurteilung von Kühns Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus hilfreich sind: „Wie aus der beiliegenden Aufnahmeerklärung für die NSDAP hervorgeht, habe ich mich am 1. 4. 1933 in Zielenzig (Krs. Oststernberg), wo ich damals Landrat war, als Mitglied zur NSDAP gemeldet. […] Während der ganzen Zeit habe ich regelmäßig meinen Monatsbeitrag in Höhe von 5 RM […] abgeführt. […] Ich darf […] bemerken, dass […] ich während der nun fast 2 Jahre regelmäßig an allen Veranstaltungen der NSDAP. teilgenommen und meine Mitgliedsbeiträge abgeführt habe. Gleichzeitig darf ich erwähnen, dass ich seit Ende Juni 1933 der SS (z. Zt. Sturm 4 der SS Standarte 70 in Liegnitz) angehöre (SS-Ausweis Nr. 188649) und dass ich Mitglied des Nationalsozialistischen Juristenbundes (Ausweis Nr. 53420), der NSV. und anderer Organisationen der NSDAP. seit langer Zeit bin. In diesem Zusammenhang darf ich darauf hinweisen, dass es mir bei der bestehenden Einheit von Partei und Staat besonders erwünscht erscheint, dass die leitenden Beamten der Verwaltung nicht nur
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Zum Heimgang von Walther Kühn, in: Das Rathaus. Zeitschrift für Kommunalpolitik 16 (1963), S. 5.
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Nationalsozialisten sind, sondern auch formell der Partei als Mitglied angehören […]. Heil Hitler!“19 In dem zitierten Brief wird zudem deutlich, dass Kühn bei den Bestrebungen, seine Parteizugehörigkeit formal bestätigt zu bekommen, bei seinem Nachfolger im Kreis Oststernberg, dem oben bereits erwähnten Werner Schmuck, Unterstützung fand. Im September 1934 bescheinigte der Ortsgruppenleiter der NSDAPOrtsgruppe Zielenzig, Kiehne, dass Kühn seinen Aufnahmeantrag Anfang April 1933 gestellt hatte und dass dieser verloren gegangen sei. Auf demselben Schreiben fügte Werner Schmuck hinzu: „Die Angaben des Ortsgruppenleiters Kiehne entsprechen den Tatsachen. Der Fall ist mir persönlich bekannt. Eine nachträgliche Aufnahme des Kühn in die Partei wäre also durchaus berechtigt.“20 Unterfertigt ist die Bemerkung durch Schmucks Hand mit den Amtsbezeichnungen Stellvertretender Gauleiter und Gauinspekteur. Zwischen beiden bestand offenbar, trotz der Intrige, die Kühn zumindest vorübergehend seine Stellung gekostet hatte, kein schlechtes Verhältnis; beinahe so, als wäre die Denunziation, die Abberufung Kühns und seine schnelle spätere Wiederverwendung zwischen den Beteiligten abgesprochen gewesen oder im Zuge der Intrige ausgehandelt worden. Später wurde Kühn in der Mitgliederkartei der NSDAP unter dem Mitgliedsdatum 1. Mai 1933 geführt. In seinem Fragebogen zur Entnazifizierung gab er an, Mitglied in der NSDAP, im Förderkreis des NSFK, im NSV, im NS-Rechtswahrerbund, im Deutschen Roten Kreuz und im Reichsluftschutzbund gewesen zu sein. Eine Mitgliedschaft in der Allgemeinen- oder Waffen-SS verneinte er, anders als in dem oben zitierten Brief. Falls Kühn tatsächlich wegen seiner Mitgliedschaft in der DVP Opfer einer Intrige der Nationalsozialisten wurde, die ihn aus diesem Grunde für ungeeignet hielten, ein Landratsamt in ihrem Sinne zuverlässig zu führen, so wird deutlich, dass er sehr intensiv, gründlich, eilig und vor allem erfolgreich bemüht war, diese Zweifel an seiner Zuverlässigkeit zu zerstreuen, um seine Karriere als preußischer Staatsbeamter fortsetzen zu können. Warum sich Kühn im September 1934 anschickte, auch seine formale Anerkennung als Parteimitglied zu erhalten, stand vermutlich im Zusammenhang mit einer zweiten „Unregelmäßigkeit“ in seiner Karriere als Verwaltungsbeamter. Nachdem er die „Maskenball-Affäre“ relativ glimpflich überstanden hatte, wurde im August/September 1934 ein Zwischenfall aktenkundig, der erneut zu einer Versetzung Kühns führte. In den Akten findet sich ein vom Oberpräsidenten in Breslau verfasstes Schreiben an den Preußischen Minister des Inneren, in dem – der Vorgabe des Berichts des Regierungspräsidenten in Breslau folgend – angeregt wurde, Kühn mit einem Verweis zu bestrafen und ihn als Landrat aus dem Kreis Waldenburg abzuberufen. Auch ein Nachfolger wurde dem Innenminister bereits vorgeschlagen: „Da im Kreise Waldenburg bei den entstandenen Schwierigkeiten zweckmäßig ein alter Parteigenosse verwendet werden muss, so
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Schreiben von Kühn an Schwarz vom 1. 2. 1935, in Bundesarchiv, PK Walther Kühn. Bescheinigung der Ortsgruppe Zielenzig vom 28. 9. 1934, in Bundesarchiv, PK Walther Kühn.
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lege ich auch aus diesem Grunde besonderen Wert darauf, dass die Stelle dem komm. Landrat Williger übertragen wird.“21 Aus einem Schreiben des Gaugerichts Schlesien, das sich über ein Jahr später, am 13. November 1935 mit dem Fall beschäftigte, geht hervor, worum es sich bei dieser „Unregelmäßigkeit“ in Kühns Amtsführung gehandelt hatte: „Der Pg. Kühn […] steht unter dem Verdacht, dass er Gelder zum Ankauf einer Dienstvilla verwendet hat, die zur Unterstützung von Bedürftigen bestimmt waren. Dieser Vorgang soll bereits Gegenstand einer Untersuchung durch den Herrn Regierungspräsidenten in Breslau gewesen sein.“22 Ob es sich hierbei erneut um eine Intrige handelte, ist aufgrund der Quellenlage nicht zu ermitteln. Kühn selber führte in seinem Fragebogen zur Entnazifizierung aus, dass er „schwere Differenzen“ mit dem Kreisleiter der NSDAP gehabt habe und ihm der Gauleiter wegen Unbotmäßigkeit und mangelnder politischer Zuverlässigkeit sogar mit der Entlassung aus dem Staatsdienst gedroht habe. Die Bestrafung Kühns mit einem Verweis war jedoch nicht sehr streng und mit Karl Williger wurde ein „alter Parteigenosse“ von einem eher ländlichen in einen industriell geprägten Kreis versetzt, zweifelsohne eine Beförderung. Erneut wurde Kühn, wie aus dem Schreiben des Preußischen Ministeriums des Inneren vom 21. September 1934 hervorgeht, „aus politischen Gründen“ versetzt. Im Oktober 1934 wurde ihm zunächst die kommissarische Leitung des Landkreises Liegnitz übertragen und im März 1935 nach der Zustimmung des Kreistages endgültig bestätigt. Für Kühn war die Versetzung in den ländlich geprägten Landkreis vermutlich eine Verschlechterung. In Liegnitz amtierte Kühn vier Jahre. „Auch hier kam er in kein erträgliches Verhältnis zur Kreisleitung und bat in Berlin um anderweitige Verwendung“23. Schließlich wurde er im Frühjahr 1939 dem Regierungspräsidenten Otto von Keudel als Regierungsvizepräsident in Marienwerder zugeteilt. Bereits im Herbst erfolgte seine erneute Versetzung. Kühn wurde als Regierungsvizepräsident mit dem Wiederaufbau der Regierung in Danzig beauftragt und kam circa zwei Jahre später, 1941, in gleicher Amtseigenschaft zum Regierungsbezirk Bromberg, den er seit November 1942 als Regierungspräsident leitete. Es zeigt sich, dass Kühn trotz der Rückschläge zu Beginn der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten durch seine beachtliche Wendigkeit in politischen Dingen in der Lage war, auch unter dem nationalsozialistischen Regime Karriere in der Preußischen Verwaltung zu machen. Im Januar 1945, als die Sowjetische Armee sich im Anmarsch auf Bromberg befand, befolgte Kühn Befehle der obersten Partei-Instanzen nicht und wurde auf Anordnung Heinrich Himmlers, der zu diesem Zeitpunkt auch Reichsinnenminister war, als „in jeder Beziehung unzuverlässig“ aller seiner Ämter enthoben, degradiert, verhaftet und der Geheimen Staatspolizei in Danzig übergeben. Dort kam er in das Stapo-Gefängnis und wurde später in das Konzentrationslager Matzkau überführt. Kühn wurde zum Tode verurteilt, später aber auf Anwei21 22 23
Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, I. HA Rep. 77, Nr. 4527, 207. Schreiben des Leiters der Geschäftsstelle an den Regierungspräsidenten Breslau vom 25. 11. 1935, in: Bundesarchiv, OPG Walther Kühn. Diese Einschätzung scheint von Kühn selber zu stammen. Vgl. Der Convent. Akademische Monatsschrift 6 (1955), S. 70.
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sung Himmlers als gemeiner Soldat in ein Strafbataillon überführt. Bei zahlreichen Kämpfen wurde der immerhin schon 53jährige Kühn auch im Nahkampf eingesetzt und viermal verwundet. Aufgrund dessen fehlte Kühn der Mittelfinger an der linken Hand und zwei Finger waren steif. Auf dem Seewege kam er in das Marine-Lazarett nach Flensburg-Mürwik. Im November 1945 wurde er dort entlassen. Gleichzeitig kam er aus der englischen Kriegsgefangenschaft frei. Aus der Heimat vertrieben arbeitete er zunächst als Hilfsarbeiter in der Landwirtschaft und im Gartenbau in Farmbeck, Land Lippe. Die zuletzt erwähnte Wendung in Kühns Leben ist leider in amtlichen Quellen nicht nachprüfbar. Lediglich biografische Quellen und sein Fragebogen zur Entnazifizierung, der aus quellenkritischer Sicht als objektive Quelle nur bedingt taugt, geben hierzu Auskunft. Kühn schilderte hierin seine fortgesetzten Probleme mit dem SD und anderen Parteistellen. Er gab an, dass der SD aufgrund der kirchlichen Einsegnung seiner Tochter 1937, seiner und seiner Frau Weigerung aus der Kirche auszutreten und schließlich der kirchlichen Trauung seiner Tochter 1944 verstärktes Misstrauen gegen ihn hegte und ihn fortgesetzt bespitzelte. Im selben Jahr kam es zu einem ersten Verfahren gegen ihn auf Betreiben des SD, welches mit einem Verweis endete. 1944 wurde ein Disziplinarverfahren gegen Kühn eingeleitet, das jedoch nicht mehr zu Ende geführt wurde. Seine Degradierung und Gefangennahme erfolgte, da er sich beim Anmarsch der Russen auf Bromberg Befehlen der obersten Parteiinstanzen widersetzte. Welche Befehle das waren, erwähnt Kühn nicht. In einer von 15 Erklärungen, die dem Fragebogen beigegeben sind und die Kühns „widerständiges Verhalten“ im Rahmen seiner Beamtentätigkeit durch zahlreiche Beispiele illustrieren, schrieb der damalige Intendant des Braunschweigischen Staatstheaters Heinrich Voigt, Kühn habe 1945 den Volkssturm in Bromberg nicht eingesetzt und darauf hingewirkt, dass die Stadt den Russen kampflos übergeben würde. Kühn selbst wies darauf hin, dass über seine Verhaftung in Deutschland und im Ausland in Rundfunk und Presse berichtet worden sei24 . Seit 1945 engagierte sich Kühn, der sein gesamtes Vermögen verloren hatte, als selbst Betroffener für die Heimatvertriebenen. 1946 kam er zur FDP in NordrheinWestfalen und wurde als Landesschatzmeister Mitglied des Landesvorstandes. Bei den Wahlen zum ersten Deutschen Bundestag wurde Kühn über die nordrhein-westfälische Ergänzungsliste als Abgeordneter gewählt. Auch dem zweiten, dritten und vierten Deutschen Bundestag gehörte er, diesmal über die Landesliste NRW, an. Er kandidierte zunächst im Wahlkreis 94, Borken – Bocholt – Ahaus und später im Wahlkreis 69, Bonn Stadt und Land. 1949 bis 1953 war Kühn zusammen mit Erich Mende Parlamentarischer Geschäftsführer der FDPFraktion und 1957 bis 1962 Leiter des FDP-Arbeitskreises Innenpolitik. Unmittelbar nach der Bildung des ersten Kabinetts Adenauer erhielt Kühn in der FDP die Aufgabe, möglichst viele Posten in der sich bildenden Ministerialverwaltung – vor allem in den der FDP zugefallenen Ministerien, aber auch in Ministerien, die von den anderen Koalitionsparteien besetzt worden waren – mit FDP-treuen Bewer24
Landesarchiv NRW, NW 1055, 1968.
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bern zu besetzen. Bei der Fraktion waren offenbar über 600 Bewerbungen eingegangen. Ein Schreiben des vorläufigen Arbeitsausschusses für beamtenrechtliche Fragen in der FDP an die Landesverbände und deren Beamtenausschüsse vom 25. Oktober 1949 stellt diese Arbeit sehr anschaulich dar: „Trotz dauernder Vorstellung ist es noch nicht gelungen, Zusicherungen bei unseren eigenen Ministerien, in ihren Ministerien qualifizierte Beamte aus unseren Kreisen […] nach Vorschlag unseres Vertrauensmannes aufzunehmen, zu erhalten. Unser Parteifreund und Kollege Kühn hat sich deshalb erneut dringend an die Parteifreunde im Ministeramt gewandt und um entsprechende Maßnahmen gebeten. Bei den nicht von der FDP besetzten Ministerien ist bisher überhaupt keine Meldung eines liberalen Beamten aus den bei der Fraktion vorliegenden Meldungen berücksichtigt worden. Man zeigt da bis in die höchsten Stellen die kalte Schulter. Unser Freund Kühn gibt sich auch hier die größte Mühe, durch seine zahlreichen Bekanntschaften in der höheren Beamtenschaft in den anderen Ministerien etwas Boden zu gewinnen, um unsere Parteifreunde in die Auswahl einzuschalten. Aber das sind auch nur Einzelfälle und fallen nicht ins Gewicht.“25 Inhaltlich beschäftigte sich Kühn vor allem mit Fragen des Berufsbeamtentums, des Beamtenrechts und der Bezügefrage von Ruhestandsbeamten sowie mit Fragen der Heimatvertriebenen. Bei der Wiedereinführung des Berufsbeamtentums hat er entscheidend mitgewirkt. Im Rahmen seiner parlamentarischen Arbeit war er in zahlreichen Bundestagsausschüssen tätig. In der ersten Wahlperiode war Kühn ordentliches Mitglied und in der zweiten Wahlperiode ab dem 29. Oktober 1953 stellvertretender Vorsitzender des Ausschusses für Beamtenrecht. Zusätzlich war er in der ersten Wahlperiode ab dem 10. Juni 1952 ordentliches Mitglied des Ausschusses für Geschäftsordnung und Immunität. In dieser Wahlperiode gehörte er bis zum 2. Februar 1953 dem Ausschuss für Heimatvertriebene als Mitglied an, anschließend war er stellvertretendes Mitglied. Seit dem 1. März 1953 war er zudem Mitglied des Ausschusses zur Beratung des Personalvertretungsgesetzes. Stellvertretendes Mitglied war er im Ausschuss für Angelegenheiten der inneren Verwaltung, ab dem 24. Oktober 1951 im Ausschuss für Fragen des Gesundheitswesens und ab dem 24. Januar 1952 im Ausschuss für Kommunalpolitik. In der zweiten Wahlperiode gehörte er dem Ausschuss für Angelegenheiten der inneren Verwaltung zunächst als ordentliches Mitglied – bis zum 15. November 1956 – dann als stellvertretendes Mitglied – bis zum 26. Februar 1957 – und danach wieder als ordentliches Mitglied an. Ebenfalls ordentliches Mitglied war er im Ausschuss für Heimatvertriebene bis zum 21. September 1955 und im selben Ausschuss ab dem 18. März 1957 stellvertretendes Mitglied. Zudem war er stellvertretendes Mitglied im Ausschuss für Fragen des Gesundheitswesens – bis 26. April 1956 und wieder ab dem 26. Februar 1957 –, im Ausschuss für Lastenausgleich bis zum 20. Januar 1956 und im Ausschuss für Geschäftsordnung. In der dritten Wahlperiode gehörte Kühn nur noch dem Ausschuss für Inneres als ordentliches Mitglied an. 25
Schreiben von Gerhard an die Landesverbände der FDP vom 25. 10. 1945, in Archiv des Liberalismus Gummersbach, N1-925, Thomas Dehler.
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Kühn trat in seiner Partei und im Parlament für eine Ordnung des Beamtenrechts ein. Ende der 1950er Jahre forderte er eine Novellierung der Beamtengesetzgebung. Vornehmstes Ziel seiner Arbeit war eine bessere Besoldung vor allem der mittleren und unteren Beamten. Im Detail wünschte Kühn die Neuregelung der Ruhestandsbezüge, des Weihnachtsgeldes, des Unterstützungsgrundsatzes, des Versorgungsrechts und der Ortsklassen. Zudem war er bemüht, ein „besseres partnerschaftliches Verhältnis mit dem Dienstherrn“ herzustellen. 1957 stellte er bezogen auf die Beamtenschaft in einer Wahlkampfveranstaltung in Bonn fest: „Das Wirtschaftswunder schleicht an den Türen der Kleinsten leise vorbei.“ In der FDP war Kühn der führende Experte im Bereich Beamtenrecht. Er fungierte als Ansprechpartner für die Parteibasis in Beamtenrechtsfragen, hielt zahlreiche Vorträge in den örtlichen Organisationen der FDP sowie der Beamten-, Vertriebenenund Soldatenorganisationen und beantwortete auch ganz konkrete, auf eine Person bezogene Anfragen vor allem hinsichtlich deren Ruhestandsbezüge. Außerhalb des Parlaments engagierte sich Kühn in zahlreichen zum Teil bedeutenden Verbänden. Dieses Engagement hatte in den meisten Fällen eine inhaltliche Verbindung zu seiner parlamentarischen Tätigkeit in den Bereichen Beamtenrecht und Vertriebene.1949 gehörte Kühn zu den Mitbegründern der Landsmannschaft Westpreußen und bekleidete von 1960 bis 1962 das Amt des Sprechers. Von 1955 bis zu seinem Tode 1962 übte er den Bundesvorsitz des Verbandes der verdrängten Beamten, Angestellten und Arbeiter (Verbaost) aus. 1957 bis 1962 war Kühn Stellvertretender Vorsitzender des Deutschen Beamtenbundes (DBB) und seit 1960 Bundesvorsitzender des Bundes der Ruhestandsbeamten und Hinterbliebenen im Deutschen Beamtenbund (BRH). In einem Zeitungsinterview 1957 auf seine Funktion als „Bindeglied zwischen der Arbeit des Bundestages und der Beamtenorganisationen“ angesprochen bezeichnete sich Kühn selber als „Beamtenabgeordneter“. Durch seine Doppelfunktion in Partei und Parlament sowie in den berufständischen Organisationen der Beamtenschaft entwickelte er sich zu einem einflussreichen Lobbyisten der Beamten im Bundestag und in der FDP. 1954 wurde Kühn zum Vorsitzenden des Verbandes Alter Sängerschafter (VAS) gewählt. Dieses Amt behielt er bis zu seinem Tode. Zahlreiche Sängerschaften machten Kühn zu ihrem Ehrenmitglied und mit zunehmendem Alter steigerte Kühn sein Engagement und Interesse für die Arbeit in der Deutschen Sängerschaft. Das besondere Vertrauen, das er dort bei jungen und alten Mitgliedern genoss, drückte sich durch den ihm inoffiziell verliehenen Kosenamen „Papa Kühn“ aus. Ein rheinisches „Bonbon“ ist die Wohnortwahl Kühns. Zunächst lebte er auf der Bonner „Schäl Sick“ in Beuel, später im rechtsrheinischen Bonn und zuletzt im von vielen Politikern bevorzugten Bad Godesberg. Ein steter „Aufstieg“. Im Sommer 1961 wurde ihm das große Bundesverdienstkreuzes verliehen. Am 4. Dezember 1962 verstarb Walther Kühn nach schwerer Krankheit.
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Fazit Aus dem Bildungsbürgertum stammend wuchs Kühn im wilhelminischen Kaiserreich heran, studierte und absolvierte sein erstes Staatsexamen. Im Krieg wurde er Offizier. Es ist davon auszugehen, dass er patriotisch und national gesinnt war. In der Weimarer Republik knüpfte er mit einem Referendariat als Verwaltungsjurist nahtlos an sein Studium an und begann eine Beamtenlaufbahn in der preußischen Staatsverwaltung. Er wurde Mitglied der DVP, die einerseits staatstragend war, aber andererseits ausreichend Spielraum für eine nationale und patriotische Gesinnung ließ. Als gewissenhafter, kenntnisreicher und engagierter Verwaltungsmann mit Zug zur Karriere gelang es ihm, sich im Weimarer Vielparteienstaat mit unterschiedlichen Kräften zu arrangieren. Trotz Zugehörigkeit zur DVP stieg er im SPD-geführten Regierungsbezirk Frankfurt/Oder zum Landrat auf. Kühn wurde nach dem Preußenschlag unverschuldet zum Spielball nationalsozialistischer Machtinteressen und beeilte sich, den neuen Machthabern seine Loyalität mit den ihm möglichen Mitteln zu beweisen: Er trat unverzüglich in die NSDAP, die SS und andere nationalsozialistische Organisationen ein. So gelang ihm rasch die Überwindung einer gezielten Intrige und die Wiederaufnahme in die preußische Verwaltung als Landrat. Er stieg zwischen 1939 und 1942 über mehrere Stationen bis zum Regierungspräsidenten in Bromberg auf. Kurz vor Kriegsende, im Januar 1945, geriet er in Konflikt mit den nationalsozialistischen Machthabern. Die Folgen – Verhaftung, KZ und Einsatz in einem Strafbataillon mit mehrfachen schweren Verwundungen – waren für Kühn gravierend. In der Nachkriegszeit wurde er rasch Mitglied der FDP und Politiker im Bundestag. Er war ein entscheidender und erfolgreicher Lobbyist des Berufsbeamtentums und konnte sich dabei auf seine in der Weimarer und der nationalsozialistischen Zeit gesammelten Erfahrungen und Bekanntschaften stützen. Seine Position in der FDP während der ersten Wahlperiode als „Arbeitsvermittler“ für „liberale Beamte“ erlaubte es ihm zugleich, neue Verbindungen zu knüpfen und sich Menschen zu verpflichten. Inwieweit daraus für Kühn nützliche Abhängigkeiten entstehen konnten, muss bei der dünnen Quellenlage offen bleiben. Seine politische Grundeinstellung und seine Karriere in der Zeit des Nationalsozialismus schienen ihm in der Nachkriegszeit nicht hinderlich zu sein, konnte er doch jederzeit auf seine Amtsenthebung 1933 und auf seinen tiefen Fall Anfang 1945 verweisen. Drei Dinge scheinen trotz der spärlich vorhandenen Quellen für Kühn als Haupttriebfedern seines Handelns erkennbar: seine Karriere, sein deutscher Patriotismus sowie seine Verbundenheit mit Verwaltung und Beamtentum. Auf dieser Grundlage ist es ihm gelungen, sich ausgehend vom Kaiserreich über die Weimarer Republik, das Dritte Reich und die Besatzungszeit bis hin zur Bundesrepublik Deutschland mit den herrschenden Staatsformen und politischen Systemen zu arrangieren. Der Lebensweg Walther Kühns macht deutlich, dass es national gesinnten, gut ausgebildeten Menschen aus dem Bildungsbürgertum mit Karrierebewusstsein und einem ausreichenden Schuss Opportunismus möglich war, sich in den unterschiedlichsten politischen und gesellschaftlichen Systemen zurechtzufinden und einzurichten. Die Demokratie der Bundesrepublik konnte offensichtlich mit die-
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ser Art Opportunismus leben, und die Demokratisierung funktionierte auch auf der Grundlage einer „administrativen Mittelinstanz“, die mit Männern wie Kühn durchwirkt war.
Weiterführende Literatur Vincent, Marie-Bénédicte: Serviteurs de l’État. Les élites administratives en Prusse de 1871 à 1933, Paris 2006. Mommsen, Hans: Beamtentum im Dritten Reich, Stuttgart 1966. Wengst, Udo: Beamtentum zwischen Reform und Tradition. Beamtengesetzgebung in der Gründungsphase der Bundesrepublik Deutschland 1948–1953, Düsseldorf 1988. Hein, Dieter: Zwischen liberaler Milieupartei und nationaler Sammlungsbewegung. Gründung, Entwicklung und Struktur der Freien Demokratischen Partei 1945–1949, Düsseldorf 1985. Gutscher, Jörg: Die Entwicklung der FDP von ihren Anfängen bis 1961, Königstein 1984.
Hinweise zu den Quellen Da Walther Kühn keinen Nachlass hinterlassen hat, kann sein Lebensweg nur aus Splittern in diversen Archiven rekonstruiert werden. So findet sich Material zu seiner Studentenzeit in den Universitätsarchiven Tübingen, Wien und Halle-Wittenberg, zu seinem Einsatz im Ersten Weltkrieg im Bundesarchiv-Militärarchiv Freiburg, zu seiner Beamtenlaufbahn unter anderem im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz und im Brandenburgischen Landeshauptarchiv und zu seinem Verhältnis zur NSDAP in den personenbezogenen Sammlungen des ehemaligen Berlin Document Center, die jetzt im Bundesarchiv Berlin aufbewahrt werden. Zu Kühns Nachkriegskarriere sind vor allem Unterlagen im Archiv des Liberalismus Gummersbach und im Parlamentsarchiv des Deutschen Bundestages einschlägig. Die Entnazifizierungsakte liegt im Landesarchiv Nordrhein-Westfalen.
Petra Weber
Gescheitertes „Neu Beginnen“ – Hermann Louis Brill (1895–1959) Sozialist, Pädagoge und Schulreformer
„Wissen ist Macht – Macht ist Wissen“ – dieses Diktum Wilhelm Liebknechts entwickelte sich zu einem Credo in der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung, in der Bildung zur Voraussetzung der Emanzipation erklärt wurde. Liebknecht hatte seinen Glauben an die Macht der Bildung mit der Forderung verbunden, dass die Schule von einem „Mittel der Knechtung“ zu einem „Mittel der Befreiung“ werden müsse1 . Hermann Louis Brill, am 9. Februar 1895 als erstes von fünf Kindern des Schneidermeisters Michael Brill und seiner Ehefrau Lina im thüringischen Gräfenroda geboren, wuchs in einer Familie auf, in der diese Werte und Traditionen der Arbeiterbewegung hochgehalten wurden. Das Elternhaus sei eine „Heimstätte des Sozialismus“ gewesen, erinnerte sich Brill2, der schon als Heranwachsender die Schriften von Marx und Lassalle las. Später vertiefte er sich in die Werke Lenins, die er erst nach 1945 einer harschen Kritik unterzog, indem er unter Berufung auf Karl Kautsky dem russischen Revolutionär und Staatsmann vorwarf, eine terroristische Minderheitsdiktatur errichtet zu haben3. Seinen Bildungsdrang und sein pädagogisches Sendungsbewusstsein konnte der Jugendliche, dem es nicht vergönnt war, das Gymnasium und die Universität zu besuchen, am ehesten stillen, indem er sich zum Volksschullehrer ausbilden ließ. Von 1909 bis 1914 besuchte Brill das Lehrerseminar in Gotha, dessen konservativem, kriegsbejahenden Geist er sich nicht völlig entziehen konnte. Am 3. August 1914 meldete er sich als Kriegsfreiwilliger. Die Kriegseinsätze in Ost und West dämpften schnell den patriotischen Überschwang und führten auch bei Brill zu einer politischen Radikalisierung. Im Oktober 1918 schloss er sich bei seinem letzten Fronturlaub in Gotha der USPD an. Gotha war eine Hochburg der USPD, die bei der Wahl zur ersten Landesversammlung am 23. Februar 1919 dort über 50 Prozent der Stimmen erhalten hatte. Die Wahl war durch einen eskalierenden Konflikt zwischen der Arbeiterschaft, die in der eine revolutionäre Politik verfechtenden Gothaer Regierung der Volksbeauftragten ihr Sprachrohr fand, und dem Bürgertum, das die Unterstützung der im Februar 1919 einmarschierenden Reichswehreinheiten unter Generalmajor Maercker suchte, überschattet gewesen4 . Wie der radikale Flügel der Gothaer USPD sprach sich zunächst auch 1 2 3
4
Liebknecht, Wilhelm: Festrede, gehalten zum Stiftungsfest des Dresdner BildungsVereins am 5. Februar 1872, Neuauflage Berlin 1904, S. 24 f. Vgl. Overesch, Manfred: Hermann Brill. Ein Kämpfer gegen Hitler und Ulbricht, Bonn 1992, S. 22. Vgl. Brill, Hermann: Karl Kautsky, 16. Oktober 1854–17. Oktober 1938, in: Zeitschrift für Politikwissenschaft 1 (1954), S. 211–240, insbesondere, S. 224 f.; Brill, Hermann: Das sowjetische Herrschaftssystem. Der Weg in die Staatssklaverei, Köln 1950, S. 40–43. Vgl. Matthiesen, Helge: Zwei Radikalisierungen – Bürgertum und Arbeiterschaft in Gotha 1918–1923, in: Geschichte und Gesellschaft 21 (1995), S. 32–62, hier S. 42–44.
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Brill für eine Diktatur des Proletariats aus und plädierte für einen Anschluss der USPD an die Kommunistische Internationale in Moskau. Als Abgeordneter der Gothaer Landesversammlung und Mitbegründer des „Vereins sozialistischer Lehrer in Gotha“ forderte er, seit Kriegsende selbst als Volksschullehrer tätig, eine umfassende Schulreform durch die Schaffung einer demokratischen Einheitsschule vom Kindergarten bis zur Universität und die Abschaffung der obligatorischen Teilnahme am Religionsunterricht sowie dessen Aufhebung als Prüfungsfach. Das Bürgertum lief Sturm, als in einem Religionserlass vom 25. August 1919 diesem Postulat Rechnung getragen wurde5 . Als sich Brill der Erkenntnis nicht mehr verschließen konnte, dass die Hoffnung auf die Etablierung einer Rätedemokratie nicht mehr war als ein frommer Wunsch, legte er im Dezember 1919, den Weisungen der Reichsregierung folgend, den Entwurf für eine parlamentarisch-demokratische Verfassung für die Republik Gotha vor. Im Gegensatz zu der Mehrheit der Unabhängigen in Gotha trat er nicht in die KPD ein, sondern avancierte zu einem der führenden Köpfe der Rest-USPD, die sich 1922 mit der SPD vereinte. An der das Bürgertum erzürnenden Forderung nach einer radikalen Schul- und Bildungsreform hielt Brill hingegen fest, als er im Juni 1920 in den Landtag des neu gegründeten Thüringen einzog und 1921 zunächst Hilfsreferent und dann Vortragender Rat im Volksbildungsministerium wurde. Brill war maßgeblich an der Ausarbeitung der Greilschen Schulreform beteiligt, durch die 1922 in Thüringen die akademische Ausbildung der Volksschullehrer und die Einheitsschule eingeführt wurde, die schon zu den Programmpunkten der Vorkriegssozialdemokratie gezählt hatte6. Verdienste erwarb er sich darüber hinaus durch seinen Einsatz für das Volkshochschulwesen und die Gründung einer Volkswirtschaftsschule in Thüringen, die den Arbeitnehmern Kenntnisse über wirtschaftliche Prozesse vermitteln sollte7. Als die Kommunisten 1923 den „deutschen Oktober“ entfesseln wollten, war Brill nicht mehr im Volksbildungsministerium tätig, sondern zum Ministerialdirektor und Leiter der thüringischen Landespolizei im Ministerium des Innern aufgestiegen. Brill, der zum linken Flügel der SPD zählte, hätte eine Einbindung der KPD in die linkssozialistische Regierung Frölich in Thüringen begrüßt, wenn diese sich auf den Boden der Verfassung gestellt hätte. Da die Kommunisten dies ablehnten und ihn überdies als „Menschewik“ verunglimpften, übte Brill an der am 16. Oktober 1923 erfolgten Regierungsbeteiligung der KPD heftige Kritik und wies die Polizeikräfte ausdrücklich an, die Republik gegen einen Putschversuch der Kommunisten zu verteidigen. Eine Zusammenarbeit mit den Kommunisten 5
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Vgl. Overesch, Manfred: Hermann Brill. Ein Kämpfer gegen Hitler und Ulbricht, Bonn 1992, S. 47–50; Matthiesen, Helge: Zwei Radikalisierungen – Bürgertum und Arbeiterschaft in Gotha 1918–1923, in: Geschichte und Gesellschaft 21 (1995), S. 32–62, hier S. 45. Vgl. hierzu die quellennahe, wenn auch ideologisch überfrachtete Darstellung von Mitzenheim, Paul: Die Greilsche Schulreform in Thüringen. Die Aktionseinheit im Kampf um eine demokratische Einheitsschule in den Jahren der revolutionären Nachkriegskrise 1921–1923, Jena 1966. Vgl. Reiners, Bettina Irina: Die Neue Richtung der Erwachsenenbildung in Thüringen 1919–1933, Diss. Tübingen 2000, S. 422.
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erschien Brill auch in den späteren Jahren nur möglich, wenn eine Anbindung an die Kommunistische Internationale in Moskau unterblieb. Nach der Reichsexekution gegen Thüringen im November 1923 und der Wahlniederlage der SPD bei den Landtagswahlen im Februar 1924 wurde Brill als politischer Beamter in den Wartestand versetzt. Seinem ungestillten Bildungshunger folgend, nahm er 1924 in Jena ein Studium der Jurisprudenz, Politischen Ökonomie, Soziologie und Philosophie auf, das er 1927 mit dem 1. Staatsexamen in Jura abschloss. Gemäß seiner Maxime, dass das „Bildungsniveau des proletarischen Klassenkampfes gehoben“ werden müsse8 , gab Brill nach bestandenem Staatsexamen bis 1932 an der 1920 eröffneten sozialistischen Heimvolkshochschule Schloss Tinz, die jungen Erwachsenen, denen eine höhere Schulbildung versagt geblieben war, die geistigen und sittlichen Werte des Sozialismus vermitteln wollte, Einführungskurse in das Öffentliche Recht9. 1928 wurde er mit „Studien zur Entstehung und Entwicklung der deutschen Selbstverwaltung“ zum Dr. jur. promoviert. Brill maß der durch die Selbstverwaltung erzielten Demokratisierung der Verwaltung zentrale Bedeutung bei, denn sie ermöglichte die Partizipation weiter Bevölkerungskreise am politischen Geschehen.
Widerstand gegen den Nationalsozialismus Die Regierungsbeteiligung der NSDAP in Thüringen im Januar 1930 führte dazu, dass Brill, der von 1920 bis 1933 dem thüringischen Landtag angehörte, zu einem der frühesten und entschiedensten Kämpfer gegen den Nationalsozialismus und Hitler wurde. Als Wilhelm Frick als thüringischer Innen- und Volksbildungsminister mit Hilfe eines am 29. März 1930 verabschiedeten Ermächtigungsgesetzes u.a. eine radikale personelle „Säuberung“ des Beamtenapparates in Gang setzte, erreichte Brill, der die Annahme dieses Ermächtigungsgesetzes durch die bürgerlichen Parteien als „geistigen Höllensturz der Bourgeoisie“ scharf verurteilte, im Namen der SPD-Fraktion, die er zum Kampf gegen die „Diktatur des Bürgertums und die gesinnungslose Bürokratie“ aufrief, vor dem Staatsgerichtshof dessen Zurücknahme10. Als Vorsitzender des Untersuchungsausschusses des thüringischen Landtags, der Aufklärung über Vorbereitungen Fricks, die Einbürgerung Hitlers durch dessen Bestellung zum Gendarmeriekommissar von Hildburghausen zu veranlassen, suchte, vernahm Brill am 15. März 1932 den Führer der NSDAP als Zeuge. Dieser beteuerte, das Angebot Fricks sogleich entschieden abgelehnt zu haben. Für Hitler war die Befragung demütigend und mit der Gefahr verbunden, der Lächerlichkeit preisgegeben zu werden11. Brill erklärte später, dass diese Begegnung mit dem Führer der NSDAP in ihm den Entschluss habe reifen 8 9 10 11
So Brill im thüringischen Landtag am 21. 3. 1925, Stenographische Berichte über die Sitzungen des III. Landtages von Thüringen, S. 3374. Zu der Heimvolkshochschule in Tinz vgl. Reiners, Bettina Irina: Die Neue Richtung der Erwachsenenbildung in Thüringen 1919–1933, Diss. Tübingen 2000, S. 133–141. Vgl. [Brill], Hermann Louis: Ermächtigungsgesetz in Thüringen, in: Der Klassenkampf 4, 1930, S. 210–212. Vgl. Zeugenaussage vor dem Untersuchungsausschuss des thüringischen Landtags am 15. 3. 1932, in: Hitler: Reden, Schriften, Anordnungen, Bd. IV: Von der Reichstagswahl
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lassen, gegen den Nationalsozialismus zu kämpfen12. Dass die SPD dies nicht mit aller Entschlossenheit tat, sondern in der irrealen Hoffnung, ihre Organisation retten zu können, nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten einen Legalitätskurs verfocht, war für Brill, der von Juli bis November 1932 die SPD auch im Reichstag vertreten hatte, Anlass genug, im Mai 1933 aus der Partei auszutreten. Wie bitter enttäuscht er von ihr war, manifestiert sich in seiner schroffen, hämischen Feststellung: „In diesem Volk, voll Kasernenhofkreaturen, ist immer Platz für die königlich-preußische Sozialdemokratie.“13 In der SPD nach 1914 sah er auch später nur noch eine „Epigonenpartei“14. Brill schloss sich noch 1933, kurz nach seiner Entlassung aus der Schutzhaft im Landgerichtsgefängnis Gotha, der in Ostthüringen von Jakob Greidinger und Otto Jenssen geleiteten Widerstandsgruppe „Befreiung der Arbeit“ an, von der er und Gleichgesinnte 1934 zu dem Widerstandskreis „Neu Beginnen“ stießen, dessen Widerstandskonzept und politisches Programm durch die gleichnamige Broschüre des Berliner Linkssozialisten Walter Loewenheim geprägt war. Loewenheim, der unter dem Pseudonym „Miles“ schrieb, vertrat dort die Auffassung, dass der von SPD wie KPD unterschätzten faschistischen Bedrohung nur durch die Überwindung der Spaltung der Arbeiterbewegung und dem politischen Handeln von Eliten Einhalt geboten werden könne. Der Verfasser von „Neu Beginnen“, der mit der SPD nicht weniger scharf ins Gericht gegangen war als Brill, glaubte, dass eine solche sozialistische Sammlungspolitik nur im Rahmen der Sozialistischen Arbeiter-Internationale möglich sei, da die Komintern die Hauptschuld an der Spaltung der Arbeiterbewegung trage15. Nach seiner 1934 erfolgten Übersiedlung nach Berlin konstituierte Brill zusammen mit Otto Brass und Oskar Debus die „Deutsche Volksfront“, der sich vor allem ehemalige Reichs- und Landtagsabgeordnete, Gewerkschaftsfunktionäre und Genossenschaftler anschlossen. Das 1936 unter Federführung Brills entworfene kurze Zehn-Punkte-Programm der Deutschen Volksfront forderte neben der Ahndung und Wiedergutmachung der NS-Verbrechen, die Verstaatlichung der Schwerindustrie und der Banken, die Selbstregierung des Volkes in einer politischen, sozialen und wirtschaftlichen Demokratie, die Wiederherstellung der Rechtstaatlichkeit, die Beseitigung der Not und Arbeitslosigkeit und die europäische Zusammenarbeit im Rahmen eines reorganisierten Völkerbundes. Diese Ziele folgten Gedanken Loewenheims16. Durchwoben von einem großen, fast an Weltfremdheit grenzenden Idealismus war Brills erste, allein aus seiner Feder stammende Denkschrift „Deutsche Ideologie“, die er im Oktober 1937 verfasste.
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bis zur Reichspräsidentenwahl. Oktober 1930 – März 1932, Teil 3: Januar 1932 – März 1932. Hg. vom IfZ. Kommentiert von Christian Hartmann, München 1997, S. 227–238. Vgl. Brill, Hermann: Gegen den Strom, Offenbach 1946, S. 9 und 14. So Brill an Frister, 12. 9. 1933, zit. nach Overesch, Manfred: Hermann Brill. Ein Kämpfer gegen Hitler und Ulbricht, Bonn 1992, S. 167. Brill an Benedikt Kautsky, 3. 4. 1957, in: Bundesarchiv, NL Brill, Nr. 50 a. Vgl. Loewenheim, Walter [Miles]: Neu Beginnen!, in: Klotzbach, Kurt (Hg.): Drei Schriften aus dem Exil, Berlin u.a. 1974, S. 1–88. Das Zehn-Punkte-Programm ist abgedr. in: Langkau-Alex, Ursula: Deutsche Volksfront 1932–1939. Zwischen Berlin, Paris und Moskau, Bd. 3: Dokumente, Chronik und Verzeichnisse, Berlin 2005, S. 174.
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Die durchaus zutreffende Erkenntnis, „dass die von der modernen Industrie geschaffenen Massen“ in den Jahren 1919 bis 1932 „keineswegs bei den marxistischen Parteien standen“, und der Aufruf, den Irrglauben an die unaufhaltsame Entwicklung des Sozialismus zu überwinden, mündete ähnlich wie bei Loewenheim in die nur in dem Glauben an die Macht der Bildung wurzelnde Zuversicht, dass ein „neuer deutscher Mensch“ entstehe, „kritisch, aktiv im Denken und Tun, schöpferisch und tragisch in erlebter Humanität. Bürger, nicht Untertan, arbeitet er für die Errichtung eines Staates, der für den Menschen da ist, und will nichts gemein haben mit einem Staat, in dem der Mensch nur für den Staat existiert“17. Die zweite Programm-Schrift, die Brill unter dem Titel „Freiheit!“Anfang 1938 während der Blomberg-Fritsch-Krise vorlegte, war ein Appell, die Diktatur durch eine Befreiung des eigenen Denkens von der NS-Ideologie zu stürzen. Die konkreten Forderungen entsprachen denen des bereits erwähnten Zehn-PunkteProgramms, die nun aber ausführlich erläutert wurden. Die Schrift schloss mit einem Verweis auf die Sowjetunion und die Volksfront in Frankreich, die, so Brill, den Beweis erbracht hatten, „dass der Sozialismus mehr vermag als Diktatur und Kapitalismus“18 . Brill und seine Mitstreiter waren sich allerdings darüber im Klaren, dass in Deutschland „keines der parteilichen, weltanschaulichen, geistigen, moralischen, oekonomischen und sozialen Elemente vorhanden“ war, die in Frankreich die Volksfront möglich und notwendig machten19. Brill reiste im Dezember 1937 nach Brüssel, um den Sekretär der Sozialistischen Arbeiter-Internationale, Fritz Adler, deren Präsidenten Louis de Brouckère sowie den Vertrauensmann von „Neu Beginnen“ innerhalb der SOPADE, Paul Hertz, für das Programm der „Deutschen Volksfront“ zu gewinnen20 . Die Gruppe, die seit 1938 eng mit dem Berliner Widerstandszirkel von „Neu Beginnen“ zusammenarbeitete, blieb jedoch auf internationaler Ebene isoliert. Im September 1938 erfolgte die Aufdeckung der Widerstandstätigkeit durch die Gestapo. Brill, der nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten zunächst in den Ruhestand versetzt worden war und seit dem Entzug des Ruhegeldes und der Hinterbliebenenversorgung im Frühjahr 1934 nur noch durch gelegentliche Übersetzungen und Repetitoreneinkünfte zum Familienunterhalt hatte beitragen können21 , wurde am 21. September festgenommen, in der Gestapozentrale in der Berliner Prinz-Albrecht-Straße verhört und Ende 1938 in das Untersuchungsgefängnis Berlin-Altmoabit eingeliefert. Am 28. Juli 1939 wurden Brass und Brill 17 18 19
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Deutsche Ideologie 1937, abgedr. in: Brill, Hermann: Gegen den Strom, Offenbach 1946, S. 18–60, Zitate S. 24, 42. Die Programmschrift ist abgedr. in: Brill, Hermann, Gegen den Strom, Offenbach 1946, S. 61–87, Zitat S. 87. Begründung eines deutschen Volksfront-Programms, in: Langkau-Alex, Ursula: Deutsche Volksfront 1932–1939. Zwischen Berlin, Paris und Moskau, Bd. 3: Dokumente, Chronik und Verzeichnisse, Berlin 2005, S. 175. Vgl. Brill, Hermann: Gegen den Strom, Offenbach 1946, S. 61; Langkau-Alex, Ursula: Deutsche Volksfront 1932–1939. Zwischen Berlin, Paris, Prag und Moskau, Bd. 2: Geschichte des Ausschusses zur Vorbereitung einer deutschen Volksfront, Berlin 2004, S. 307 f. Vgl. Overesch, Manfred: Hermann Brill. Ein Kämpfer gegen Hitler und Ulbricht, Bonn 1992, S. 228 f., 233–236, 247.
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vom 1. Senat des Volksgerichtshofs wegen Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens zu jeweils zwölf Jahren Zuchthaus und einem Ehrverlust für die Dauer von zehn Jahren verurteilt. Brills Hochverrat bestand im Verfassen der Programmschriften für die „Deutsche Volksfront“, in denen er, so das Gericht, „durch immer negative, nörgelnde Kritik die Grundlagen der nationalsozialistischen Weltanschauung herabgesetzt, bekrittelt und lächerlich gemacht, sowie durch Propaganda für die Humanitätsideologie und für die pazifistische Irrlehre zersetzend gewirkt“ habe. Dass sie nicht die Todesstrafe verhängt hatten, begründeten die Richter des Volksgerichtshofes damit, dass die Widerstandsgruppe „keinen Anhang finden konnte und von vornherein zur Erfolglosigkeit verdammt war“. Brill wurde als „weltfremd“ apostrophiert, was sogar ein Gran Wahrheit enthielt, bezeichnete er sich doch später selbst als „hoffnungslosen Idealisten“22 . Bis Ende 1943 war Brill im Zuchthaus Brandenburg-Görden inhaftiert, danach wurde er, nachdem er es abgelehnt hatte, sich freiwillig zur Bewährung an die Front zu melden, im Zuge der von Hitler 1942 angeordneten und von Reichsjustizminister Thierack durchgeführten „Auslieferung asozialer Elemente aus dem Strafvollzug an den Reichsführer SS zur Vernichtung durch Arbeit“ an die Polizei überstellt und in das Konzentrationslager Buchenwald verbracht. Brill wurde dort Zeuge der auch gegen die politischen Häftlinge gerichteten nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie. Täglich sah er Lastwagen mit Leichen der Häftlinge, die im Arbeitslager Dora bei Nordhausen, dem Produktionsort der V2, an Unterernährung und Entkräftung gestorben waren23. Das Bild der Leichenhaufen, der bis zum Skelett abgemagerten Körper, der aufgebrochenen Schädel, „das Knarren des zweirädrigen Wagens, mit denen andere, die es auch nicht mehr weit vom Tode haben, diese Leichen fortfahren wie verendetes Vieh“, sollte Brill, dessen eigene Gesundheit infolge der KZ-Haft stark angeschlagen war, nicht mehr loslassen24. Brills Verbitterung zeigte sich in seiner 1945 wiederholten Äußerung, dass die „Nazis“ „keine Menschen“ seien25 . Das erklärt seinen moralischen Rigorismus bei der Entnazifizierung und der von ihm vorgesehenen Ahndung der Justizverbrechen. 22
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Urteil 1H 25/39-10J 453/38 des 1. Senats des Volksgerichtshofes gegen Otto Brass und Hermann Louis Brill vom 28. 7. 1939, Zitate S. 46 und 47, in: Nationalsozialismus. Holocaust, Widerstand und Exil. Online Datenbank, http://db.saur.de/DGO/ basicFullCitationView.jsf?documentld=wh2921; zur Selbstcharakterisierung Brills vgl. dessen Brief an Walter Hummelsheim vom 20. 5. 1952, in: Bundesarchiv, NL Brill, Nr. 38a. Vgl. Vermerk über die Aussprache mit Staatssekretär Brill am 3. 9. 1949. ZS-449-1, http://www.ifz-muenchen/archiv/zs/zs-0449.pdf; zu der Übergabe der Strafgefangenen an die SS vgl. Wachsmann, Nikolaus: Gefangene unter Hitler. Justizterror und Strafvollzug im NS-Staat, Berlin 2006, S. 310–328; zum Lager Dora vgl. Wachs, Jens Christian: Das KZ Mittelbau Dora, Göttingen 2001. Vgl. Bonner Tagebuch vom 8. 9. 1948, in: Bundesarchiv, NL Brill, Nr. 361. Vgl. Rede Hermann Brills auf der 1. Landeskonferenz des Bundes Demokratischer Sozialisten am 8. 7. 1945 in Weimar, abgedr. in: Schulz, Eberhart: Hermann Brills Zukunftsbilder eines demokratischen Sozialismus, Jena 2001, S. 29–46, hier S. 37; Rede Hermann Brills vor dem 1. Buchenwalder Volkskongress am 23. 4. 1945, in: Overesch, Manfred: Buchenwald und die DDR oder die Suche nach Selbstlegitimation, Göttingen 1995, S. 150–152, hier S. 152.
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Hoffnung auf ein „Neu Beginnen“ Im „Buchenwalder Manifest für Frieden, Freiheit, Sozialismus“, das er am 13. April 1945 einem von ihm während der Lagerhaft im Juli 1944 gebildeten Volksfront-Komitee vortrug, forderte er nicht nur die unverzügliche Suspendierung aller Beamten, „die als Träger der Diktatur tätig gewesen sind“, sondern auch die Verurteilung der NS-Verbrecher durch Volksgerichte und ihre Unterwerfung unter einen Strafvollzug, der ihren eigenen Grundsätzen entsprach26. Das Buchenwalder Volksfront-Komitee, dem Sozialisten wie Benedikt Kautsky und Ernst Thape, Kommunisten wie Walter Wolf und Johannes Brumme, aber auch bürgerliche Politiker wie der frühere sächsische Landesvorsitzende des Zentrums Werner Hilpert angehörten, war sich einig, dass die Überwindung des Nationalsozialismus nicht durch einzelne Organisationen, sondern nur durch eine basisdemokratische Bewegung der „werktätigen Massen in Stadt und Land“ erreicht werden könne27. Konsens herrschte auch darüber, dass an den damals in weiten Kreisen der Bevölkerung verpönten und von Brill schon vor 1933 mit Skepsis betrachteten Parlamentarismus der Weimarer Republik nicht angeknüpft werden könne. Im „Buchenwalder Manifest“ postulierte er einen „neuen Typ der Demokratie, der sich nicht in einem leeren, formelhaften Parlamentarismus erschöpft, sondern den breiten Massen in Stadt und Land eine effektive Betätigung in Politik und Verwaltung ermöglicht“28. Grundlage dieser neuen Form der Demokratie sollten antifaschistische Volksausschüsse sein, die jedoch schon im Sommer 1945 wieder durch die neu entstehenden Parteien verdrängt wurden. Wie schon in seinen Programmentwürfen der dreißiger Jahre setzte sich Brill auch jetzt wieder für eine Sozialisierung der Wirtschaft ein, die er – offensichtlich im Rückgriff auf Lenins Imperialismustheorie – allein schon dadurch gerechtfertigt sah, dass der Kapitalismus die letzte Ursache des Weltkriegs gewesen sei. In einer Zeit, in der der Kalte Krieg noch nicht ausgebrochen war, konnte sich Brill sowohl für ein enges Einvernehmen mit der Sowjetunion aussprechen als auch den „Eintritt Deutschlands in den angelsächsischen Kulturkreis“ befürworten. Für eine umfassende Schulreform in Anknüpfung an seine in der Weimarer Republik bereits entwickelten Vorstellungen hatte er sich bereits 1944 in einer im Buchenwalder Lager von ihm eingerichteten „Kommission für Erziehungsfragen“ eingesetzt29 . Als herausragender Kopf des linken Widerstands glaubte sich Brill dazu legitimiert, eine führende Rolle im Nachkriegsdeutschland zu spielen. Die Zeitläufte schienen zunächst auch dafür günstig zu sein. Bereits Ende April bat ihn die amerikanische Militärregierung in Weimar um eine Expertise über den Neuaufbau der Verwaltung in Thüringen. Am 29. April wurde er zum offiziellen Bera26 27 28 29
Das Buchenwalder Manifest ist abgedr. in: Brill, Hermann: Gegen den Strom, Offenbach 1946, S. 96–102, hier S. 98. Vgl. Bericht über die Tätigkeit des Volksfront-Komitees des ehemaligen KZ-Buchenwald, in: Brill, Hermann: Gegen den Strom, Offenbach 1946, S. 88–93, hier S. 90. Das Buchenwalder Manifest ist abgedr. in: Brill, Hermann: Gegen den Strom, Offenbach 1946, S. 96–102, hier S. 98. Vgl. Röll, Wolfgang: Sozialdemokraten im Konzentrationslager Buchenwald 1937– 1945, Göttingen 2000, S. 168 f.
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ter der Amerikaner für den Stadt- und Landkreis Weimar ernannt, am 7. Mai als kommissarischer Leiter des Thüringer Staatsministeriums und der nachgeordneten Fachministerien eingesetzt, am 12. Mai trat er an die Spitze des Ministeriums des Innern, am 9. Juni hielt Brill die Ernennungsurkunde zum vorläufigen Regierungspräsidenten der Provinz Thüringen in der Hand. Seine Richtlinien zur Entnazifizierung des Verwaltungsapparates waren jedoch selbst den Amerikanern zu radikal, die zwar seine Pläne zur Abschaffung des Berufsbeamtentums teilten, in dem von ihm anvisierten personellen Kahlschlag aber eine Gefahr für das Funktionieren der Verwaltung sahen. Lediglich die Einsetzung des Buchenwald-Häftlings Fritz Behr (SPD) zum Weimarer Oberbürgermeister und seine Pläne zur Entfernung der „Alten Kämpfer“ aus der Landesverwaltung konnte er durchsetzen30 . Kurzzeitigen Erfolg hatte er auch mit seinen Vorschlägen zur Reorganisation der Polizei in Weimar. Nach einer Entfernung der bisherigen Polizeibeamten wurde, wie von Brill vorgeschlagen, eine größere Zahl ehemaliger Buchenwaldhäftlinge in der städtischen Polizeidirektion eingestellt31. Als am 2. Juli 1945 die achte Gardearmee unter Führung von Generaloberst W.I. Tschuikow in Thüringen einrückte, war Brill noch guter Hoffnung, für seine radikalen Entnazifizierungspläne in den Russen kongeniale Partner zu finden32 . Nur 14 Tage später musste er, nachdem das ZK der KPD bei der Sowjetischen Militäradministration in Thüringen (SMATh) auf seine Ablösung gedrängt hatte, den Regierungssessel in Thüringen räumen. Das „Buchenwalder Manifest“, das ohnehin eher den Charakter eines abstrakten Reißbrettplanes als den eines konkreten Neuaufbauprogramms hatte, wurde schon im Sommer 1945 Geschichte. Der Chef der SMATh Generalmajor Iwan S. Kolesnitschenko machte die Zulassung des am 8. Juli 1945 gegründeten Bundes Demokratischer Sozialisten, zu dessen 1. Vorsitzenden Brill gewählt worden war, von der Anerkennung des Aufrufs des Zentralausschusses der SPD in Berlin, einer Rückkehr zu der alten Bezeichnung SPD und einem Abrücken vom „Buchenwalder Manifest“ abhängig33. Gemäß seinem Diktum, dass das „sozialdemokratische Zeitalter“ „zu Ende“ sei, es kein Zurück vor 1933 geben könne, hatte Brill in seiner Grundsatzrede auf der Gründungskonferenz des Bundes Demokratischer Sozialisten einen sich schon im Parteinamen ausdrückenden Neuaufbau der sozialistischen Arbeiterbewegung propagiert, den er mit der Zielsetzung verband, durch einen schnellen Zusammenschluss die Kommunisten in die neue Einheitspartei einzubinden 30 31 32
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Ausführlich hierzu Overesch, Manfred: Hermann Brill. Ein Kämpfer gegen Hitler und Ulbricht, Bonn 1992, S. 330–335. Vgl. Vorschläge für die Reorganisation der Polizei der Stadt Weimar, [ o.D.], in: Bundesarchiv, NL Brill, Nr. 95. Vgl. Rede Hermann Brills auf der 1. Landeskonferenz des Bundes Demokratischer Sozialisten am 8. 7. 1945 in Weimar, abgedr. in: Schulz, Eberhart: Hermann Brills Zukunftsbilder eines demokratischen Sozialismus, Jena 2001, S. 29–46, hier S. 43. Vgl. Niederschrift von Heinrich Hoffmann über die Unterredung mit dem Stellvertreter für Zivilangelegenheiten des Chefs der SMATh Generalmajor Kolesnitschenko am 2. 7. 1945 und Aus dem Protokoll über die Sitzung des Landesvorstandes des Bundes demokratischer Sozialisten Thüringen in Weimar am 30. 7. 1945, in: Malycha, Andreas: Auf dem Weg zur SED. Die Sozialdemokratie und die Bildung einer Einheitspartei in den Ländern der SBZ, Bonn 1995, S. 98–106.
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und auf diese Weise deren Dominanz zu verhindern. Da er davon ausging, dass sich die KPD von ihrer auf die Vernichtung der SPD zielenden Einheitsfrontpolitik der Jahre vor 1933 abgewendet habe, sah er eine gute Chance für die Realisierung seiner eigenen Einheitspläne und seines Programms, in dem der Sozialismus zur „unmittelbaren Gegenwartsaufgabe“ erklärt wurde34 . Einige Monate später konnte sich Brill dann schon der Einsicht nicht mehr verschließen, dass die KPD doch zu ihrer alten Einheitsfronttaktik zurückgekehrt war. Um seine Ablösung als Landesvorsitzenden der SPD, wie der Bund Demokratischer Sozialisten nunmehr weisungsgemäß hieß, zu erzwingen, spielte die sowjetische Militärregierung wie auch die KPD-Führung ihn gegen Heinrich Hoffmann aus, der einen Zusammenschluss von KPD und SPD auch dann befürwortete, wenn er sich unter kommunistischer Regie vollzog. Die SMATh wie auch die KPD hatten Brill darüber hinaus wissen lassen, dass er es zu unterlassen habe, den Sozialismus zu einer Gegenwartsaufgabe zu erklären35. Propagierte die KPD doch 1945 aus deutschland- und blockpolitischen Gründen noch die „Aufrichtung eines antifaschistischen demokratischen Regimes“, in dem die „private Unternehmerinitiative auf der Grundlage des Privateigentums“ nicht angetastet werden sollte36. Bereits am 3. September 1945 wurde Brill, den die SMATh am 4. August für kurze Zeit festgenommen hatte, bis auf Weiteres von der Führung der Geschäfte des 1. Vorsitzenden beurlaubt, am 29. Dezember trat er, um einer drohenden Verhaftung zu entgehen, von diesem Amt zurück. Als er auf einer Tagung des Gesamtvorstandes der SPD in Weimar am 26. November 1945 der Hoffnung Ausdruck gab, dass durch die Hinzuziehung der basisdemokratisch orientierten Gewerkschaften und Genossenschaften eine „sozialistische Einheit der deutschen Arbeiterklasse“ entstehen könne, die nicht der Gefahr der Bolschewisierung unterliege, war dies nur noch ein Schwanengesang auf seine früheren Pläne37. Die Erfahrungen mit der russischen Militärregierung und den Kommunisten in Thüringen führten dazu, dass Brill die kommunistische Diktatur mit nicht weniger scharfen Worten verurteilte und bekämpfte wie das NS-Regime. „Die kommunistische Diktatur ist der Todfeind der Freiheit und der Humanität. Wo sie herrscht, bedeckt sie den Boden mit Konzentrationslagern, errichtet Guillotinen, bestellt Exekutivkommandos und schickt ihre Feinde zu Hunderten und Tausenden unter 34
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Rede Hermann Brills auf der 1. Landeskonferenz des Bundes Demokratischer Sozialisten am 8. Juli 1945 in Weimar, in: Schulz, Eberhart: Hermann Brills Zukunftsbilder eines demokratischen Sozialismus, Jena 2001, insbesondere S. 30, 32, 39. Vgl. Rundschreiben des Landesvorstandes der SPD Thüringen vom 16. 8. 1945, Aus dem Protokoll über die Tagung des Gesamtvorstandes der SPD Thüringen in Weimar am 26. 11. 1945, in: Malycha, Andreas: Auf dem Weg zur SED. Die Sozialdemokratie und die Bildung einer Einheitspartei in den Ländern der SBZ, Bonn 1995, S. 107–110, S. 194– 243; Brill an Friedrich Adler, 22. 4. 1947, in: Bundesarchiv, NL Brill, Nr. 27. So der Aufruf des ZK der KPD vom 11. 6. 1945, abgedr. in: Weber, Hermann: DDR. Dokumente zur Geschichte der Deutschen Demokratischen Republik 1945–1985, München 1986, S. 32–36. Aus dem Protokoll über die Sitzung des Landesvorstandes der SPD Thüringen in Weimar am 26. 11. 1945, in: Malycha, Andreas: Auf dem Weg zur SED. Die Sozialdemokratie und die Bildung einer Einheitspartei in den Ländern der SBZ, Bonn 1995, S. 241 f.
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die Erde“, schrieb er 1950 in einer Abhandlung über das sowjetische Herrschaftssystem38 . Brill suchte nun ein „Neu Beginnen“ im Westen, zunächst ging er für ein halbes Jahr als mit Dienstleistungen für die Manpower Division beauftragter Chefberater der amerikanischen Militärregierung nach Berlin, danach wurde er auf Wunsch der Amerikaner im Juni 1946 Staatssekretär in der hessischen Staatskanzlei in Wiesbaden, wo er sich vor allem um die Durchführung einer Verwaltungs- und Gebietsreform bemühte. Darüber hinaus versuchte er, Einfluss auf die Verfassunggebung in Hessen zu nehmen, denn angesichts der Beseitigung der Menschenrechte im NS-Regime wollte er den Grundrechten eine „größere Wirksamkeit“ verschaffen, indem auch die Verwaltung und der Gesetzgeber an sie gebunden werden sollten39. Eine neue Plattform für seine verfassungspolitischen Ambitionen und Ziele fand Brill im 1947 von den Ministerpräsidenten der US-Zone gegründeten Deutschen Büro für Friedensfragen, in dessen Verwaltungsausschuss er neben dem Staatssekretär in der bayerischen Staatskanzlei, Anton Pfeiffer, und dem sozialdemokratischen Abgeordneten im Landtag von Württemberg-Baden, Fritz Eberhard, zu den entscheidenden Persönlichkeiten zählte. Von ihm im April 1947 ausgearbeitete „Vorschläge für eine Verfassungspolitik des Länderrates“ waren sowohl eine Reaktion auf den seit November 1946 vorliegenden Musterentwurf für eine Verfassung der späteren DDR, der nach Brills nicht ganz zutreffender Auffassung „durch völlige Nichtbeachtung der Menschenrechte, eine gänzlich rechtsstaatsfeindliche Einstellung und das Bestreben, den ganzen Staatsaufbau zu sowjetisieren“, gekennzeichnet war, als auch auf den von dem bayerischen Ministerialdirigenten Friedrich Glum in die Debatte gebrachten Entwurf einer Bundesverfassung, nach dem eine Art Bundesrat, bestehend aus den Ministerpräsidenten der einzelnen Länder, die Richtlinien der Politik bestimmen sollte. In seinen nur zwei Seiten umfassenden Vorschlägen setzte Brill, der sich mit den Bayern in dem Bestreben, eine Omnipräsenz der Parteien zu verhindern, einig wusste, den extrem föderalistisch-gouvernementalen Plänen Bayerns ein Bekenntnis zu einem „gesamtdeutschen Staat auf bundesstaatlicher Grundlage“ entgegen, als dessen wichtigste Organe ein Volksrat, gewählt nach den Grundsätzen des früheren Reichstagswahlrechts, und ein Staatenrat, dessen Wahl nach dem Vorbild des amerikanischen Senats erfolgen sollte, vorgesehen waren. Die Bundesregierung, aufgrund der parlamentarischen Instabilität und der Krisen der Weimarer Republik konzipiert als Regierung auf Zeit ohne parlamentarische Ministerverantwortlichkeit, sollte aus einem vom Volks- und Staatenrat auf die Dauer einer Legislaturperiode gewählten Bundespräsidenten und den von ihm ernannten Bundesministern bestehen. Die Ministerpräsidenten scheuten jedoch ange38 39
Brill, Hermann: Das sowjetische Herrschaftssystem. Der Weg in die Staatssklaverei, Köln 1950, S. 162. Vgl. die Ausführungen Brills bei der Ersten Lesung des Verfassungsentwurfs in der Verfassungsberatenden Landesversammlung Groß-Hessens am 6. 8. 1946, in: Berding, Helmut (Hg.): Die Entstehung der Hessischen Verfassung von 1946. Eine Dokumentation, Wiesbaden 1996, S. 481–485.
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sichts der nicht voraussehbaren gesamtstaatlichen Entwicklung vor einer Verfassungsdiskussion zurück40. Auch Brills den bayerischen Föderalisten entgegenkommender Plan, eine „Realunion“ der deutschen Länder zu errichten, durch die als provisorische Notmaßnahme auf den Gebieten der Wirtschaft, des Verkehrs, der Finanzen und der Arbeit „gemeinsame Regelungen“ geschaffen werden sollten41, verstaubte in den Archiven, denn Kurt Schumacher untersagte die Vorlage des Entwurfs auf der Ministerpräsidentenkonferenz, die Anfang Juni in München stattfinden sollte, weil dort nicht die Parteien, sondern die Ministerpräsidenten zu legitimen Vertretern des deutschen Volkes erklärt wurden42 . Brill, von Schumacher wegen seines Vorstoßes gerüffelt, fiel in Ungnade, da er unerschrocken gegenüber dem SPDParteivorsitzenden sein Bestreben, einen Zweckverband der deutschen Länder ins Leben zu rufen, verteidigte und sich obendrein darüber beschwerte, dass die Parteiführung seine Berufung zum Generalsekretär des Exekutivrates des Wirtschaftsrates hintertrieb43. Den Zenit seines politischen Einflusses erlebte Brill beim Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee, wo er zusammen mit Carlo Schmid zu den wortmächtigsten Widersachern der bayerischen Verfassungspläne zählte. Trotz persönlicher Animositäten zogen Brill und Schmid an einem Strang, als es darum ging, die bayerischen Absichten, den zukünftigen Bundesstaat als stark föderalistisch geprägten Weststaat zu errichten, zu vereiteln. Beide vertraten die Auffassung, dass der deutsche Staat nicht untergegangen sei, und dass angesichts der doppelten Hypothek der deutschen Teilung und der Fremdbestimmung durch die Besatzungsmächte nur ein Provisorium geschaffen werden könne, ein, wie Brill es ausdrückte, „Übergangsstaat, geboren aus der Not und aus dem Willen, diese Not zu überbrücken“44 . Beide plädierten trotz ihrer grundsätzlichen Bejahung eines föderalistischen Staatsaufbaus angesichts des außerordentlich hohen Finanzbedarfs des Gesamtstaates für eine Stärkung der Finanzkraft des Bundes, beide wandten sich gegen die von den Bayern favorisierte Einrichtung eines Bundesrates, weil dieser die obrigkeitsstaatliche Kultur in Deutschland fördern würde. 40
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Vgl. Besprechung über Verfassungsfragen in der bayerischen Staatskanzlei in München am 14. 3. 1947, Besprechung über Verfassungsfragen im Deutschen Büro für Friedensfragen in Stuttgart am 14. 4. 1947, Vorschläge für eine Verfassungspolitik des Länderrats, in: Akten zur Vorgeschichte der Bundesrepublik Deutschland 1945–1949 Hg. von BA und IfZ, Bd. 2, Bearb. Wolfram Werner, München und Wien 1979, S. 280–300. Entwurf eines Vertrags über die Bildung einer Deutschen Staatengemeinschaft;Entwurf eines Vertrags über die Bildung eines Verbandes deutscher Länder, in: Akten zur Vorgeschichte der Bundesrepublik Deutschland 1945–1949 Hg. von BA und IfZ, Bd. 2, Bearb. Wolfram Werner, München und Wien 1979, S. 440–443. Rede Schumachers über Radio Frankfurt: Deutschland – demokratisch und sozialistisch, 31. 5. 1947, in: Schumacher, Kurt: Reden – Schriften – Korrespondenzen 1945–1952. Hg. von Willy Albrecht, Berlin und Bonn 1985, S. 522–528. Vgl. Brief Brills an Schumacher vom 14. 7. 1947, in: Archiv des IfZ, ED 117 (NL Eberhard), Nr. 59. So Brill in der Plenarsitzung des Konvents am 11. 8. 1948, in: Der Parlamentarische Rat 1948–1948. Akten und Protokolle, Bd. 2: Der Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee. Hg. und bearb. von Peter Bucher, Boppard am Rhein 1981, S. 79; zu den Stellungnahmen Schmids auf dem Verfassungskonvent vgl. Weber, Petra: Carlo Schmid 1896–1979. Eine Biographie, München 1996, S. 340–348.
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Wie schon bei den Verfassungsberatungen im Deutschen Büro für Friedensfragen votierte Brill auch jetzt wieder für die Errichtung eines Senats nach amerikanischem Vorbild. Er hoffte, durch einen solchen auch das deutsche Parteiwesen reformieren zu können, dem er, wie viele andere Konventsteilnehmer auch, überaus kritisch gegenüberstand: „Wir brauchen im deutschen Parteiwesen den Typ des senatorialen Politikers, den wir in Deutschland noch nicht haben, den älteren Staatsmann, der auf lange Erfahrungen im Parteiwesen und in der parlamentarischen Regierungsmaschinerie zurückblickt und deshalb imstande ist, die politischen Probleme auf einer höheren Ebene miteinander zu verbinden.“45 Wie schon bei den hessischen Verfassungsberatungen maß Brill auch beim Herrenchiemseer Verfassungskonvent einer Garantie der Grundrechte zentrale Bedeutung bei. Nachdem er die bayerischen Verfassungsexperten mit der Frage konfrontiert hatte, warum die Grundrechte in ihrem Entwurf fehlten, führte er vor Augen, welch hohen Stellenwert sie nicht nur für die Bürger in den Westzonen, sondern auch für die in der SBZ hatten: „Für die Menschen der sowjetischen Besatzungszone, die nach Menschenrechten dürsten und keine haben, und für den Kampf in Berlin aber scheint es mir von größter propagandistischer Bedeutung zu sein, dass wir sagen können: Für uns steht die Idee der menschlichen Freiheit allen anderen Staatszwecken voran und bei uns ist es nicht eine leere Deklamation, sondern ein Gebot praktischer Politik, diesen Weg zu gehen.“46 Überzeugt, dass die neue Demokratie „von der Idee der Würde des Menschen erhellt“ werden müsse47, setzte sich Brill für die Errichtung eines obersten Gerichtshofes ein, der über Popularklagen gegen Grundrechtsverletzungen entscheiden sollte. Er wie auch andere Konventsteilnehmer, die diese Forderung unterstützen, legten damit einen ersten Grundstein für die Arbeit des späteren Bundesverfassungsgerichtes. Äußerst empört reagierte Brill, als Theodor Heuss im Bonner Parlamentarischen Rat den Grundsatz „Der Staat ist um des Menschen willen da; nicht der Mensch um des Staates willen“ im alles regierenden Artikel 1 des Verfassungsentwurfs von Herrenchiemsee als „heimliche Polemik gegen einen schief verstandenen, vor 117 Jahren verstorbenen Hegel“ abtat48 . Sarkastisch fragte er, ob Heuss’ „goldene Seele“ ein Gefühl für die „äußerste Entwürdigung des Menschen zum bloßen Werkzeug“ habe49 .
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Brill in der Plenarsitzung des Konvents am 11. 8. 1948, in: Der Parlamentarische Rat 1948–1948. Akten und Protokolle, Bd. 2: Der Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee. Hg. und bearb. von Peter Bucher, Boppard am Rhein 1981, S. 133. Der Parlamentarische Rat 1948–1948. Akten und Protokolle, Bd. 2: Der Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee. Hg. und bearb. von Peter Bucher, Boppard am Rhein 1981, S. 75. So Brill bei der Feierstunde zum Gedenken an die Opfer des Faschismus und des Kriegs am 21. 11. 1951 in Kassel, in: Bundesarchiv, NL Brill, Nr. 343. So Heuss in der Sitzung des Plenums des Parlamentarischen Rats am 9. 8. 1948, in: Der Parlamentarische Rat 1948–1949. Akten und Protokolle, Bd. 9: Plenum. Bearb. von Wolfram Werner, München 1996, S. 115. Brill, Bonner Tagebuch, 9. 9. 1948, in: Bundesarchiv, NL Brill, Nr. 361.
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Streit mit Kurt Schumacher und Erbitterung über die Vergangenheitspolitik Brill war nicht in den Parlamentarischen Rat delegiert worden, so dass er heute als Verfassungsvater fast vergessen ist. Der Einzug in den 1. Bundestag gelang ihm zwar, aber als schärfster Widersacher des SPD-Parteivorsitzenden stand er auf verlorenem Posten, zumal er über keinerlei Hausmacht in der Partei und in der Fraktion verfügte. Seine Neigung zur Selbstüberschätzung, seine kaustische Dialektik, seine Schroffheit im Umgang mit Anderen hatte ihn zunehmend isoliert, auch von Menschen, die auf seiner Seite standen. Selbst die amerikanische Militärregierung, die lange Zeit ihre schützende Hand über ihn gehalten hatte, sprach zuweilen von ihm als einem „enfant terrible“50. Brill war zudem bitter enttäuscht, dass er als Widerstandskämpfer gegen Hitler und Ulbricht an den Rand der Politik gedrängt wurde, während die, die geschwiegen hatten oder gar Mitläufer waren, wieder in die vordersten Reihen der Politik rückten51 . Seinem Kampfesmut tat seine Verbitterung keinen Abbruch. Er richtete sich jetzt gegen die Politik Kurt Schumachers. Schon bei den Debatten über die Regierungsbildung im September 1949 kam es zu einer Kontroverse zwischen Brill und Schumacher. Während der SPD-Parteivorsitzende aus dem Scheitern der Koalitions- und Tolerierungspolitik der SPD in der Weimarer Republik den Schluss zog, dass die SPD nach ihrer Wahlniederlage auf den harten Plätzen der Opposition Platz nehmen müsse, sprach sich Brill ebenso wie Willy Brandt angesichts der für die Identität der Deutschen zentralen Frage der deutschen Wiedervereinigung für die Bildung einer „nationalen Notgemeinschaft“ aus. Die „außerordentliche Situation“ der Teilung Deutschlands ließ nach Brills Dafürhalten das „normale Spiel von Regierungskoalition und Opposition“ nicht zu52 . Nur wenige Monate später entflammte ein erbitterter Streit über den Beitritt der Bundesrepublik zum Europarat, den Schumacher ablehnte, solange das Saarland dort als selbstständiger Staat vertreten war. Brill, der sich schon vor 1949 für die europäische Idee engagiert hatte und zum Vorsitzenden des Exekutivkomitees des Deutschen Rats der Europäischen Bewegung gewählt worden war, wollte die Beteiligung Deutschlands am Europarat nicht vom Ausschluss des Saarlandes aus dem Europarat abhängig machen, da sich die Deutschen dadurch selbst der „ersten Möglichkeit zu einer selbstständig politischen Regelung“ der Saarfrage auf europäischer Tribüne berauben würden. Er versuchte darüber hinaus Kurt Schumacher mit dem Argument umzustimmen, dass sich bei einer Ablehnung des deutschen Europaratbeitritts die sozialdemokratische Fraktion in einen „antieuropäischen Abstimmungsblock mit den kommunistischen Bundestagsabgeordneten“ begebe. Von den Fraktionskollegen zunächst zum Widerspruch er50 51 52
Vgl. Mühlhausen, Walter: Hessen 1945–1950. Zur politischen Geschichte eines Landes in der Besatzungszeit, Frankfurt a.M. 1985, S. 279. Brill, Bonner Tagebuch, 9. 9. 1948, in: Bundesarchiv, NL Brill, Nr. 361; Brill an Ernst Thape, 29. 11. 1949, in: Bundesarchiv, NL Brill, Nr. 59 a. Bericht Brills über seine Tätigkeit als Bundestagsabgeordneter in der Zeit vom 1. 9. 1949–31. 3. 1950, in: Bundesarchiv, NL Brill, Nr. 328a.
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muntert, dann jedoch von ihnen im Stich gelassen, musste er sich schließlich dem Fraktionszwang beugen und gegen den Beitritt stimmen53. Die gleiche Demütigung widerfuhr ihm bei der Abstimmung über Deutschlands Beitritt zur Montanunion. Schumacher entfachte eine Kampagne gegen den Schuman-Plan, in dem er einen „regionalen Spezialpakt“ von sechs Ländern sah, die „konservativ, klerikal, kapitalistisch und kartellistisch“ seien54 . Brill, der 1951 die EuropaUnion in ihrem Bestreben, einen Europäischen Bundespakt zu gründen, unterstützt hatte, hielt hingegen die Montan-Union für eine „unabdingbare Notwendigkeit für den Frieden in Europa und der Welt“, da die Zeit der Nationalstaaten abgelaufen sei. Brill wünschte sich nicht weniger als Schumacher ein sozialistisches Europa, glaubte aber, dass der „Klassenkampf“ allenfalls noch auf europäischer oder internationaler Ebene geführt werden könne55. Auch in der Frage der Wiederbewaffnung stimmte Brill nicht immer mit der Parteilinie überein. Als Mitglied des Kuratoriums der Deutschen Friedensgesellschaft lehnte er den Aufbau deutscher Streitkräfte unter den gegebenen Bedingungen ab. Im Gegensatz zur SPD-Spitze wünschte er aber keine Neuwahlen, sondern eine Volksbefragung über die Remilitarisierung, die jedoch von der SED ebenso instrumentalisiert worden wäre wie der von ihm vorgeschlagene und auch in der SPD-Führung erörterte, aber dann verworfene Massenprotest gegen den EVG-Vertrag. Brill war allerdings trotz seines Engagements in der Friedensbewegung kein radikaler Pazifist. Eine europäische Ordnungstruppe im Rahmen eines europäischen Bundesstaates hätte er befürwortet, aber dies war eine Utopie, die keinerlei Realisierungschance hatte56. Brills unnachgiebige Opposition gegen die Politik Kurt Schumachers hatte ihn in der SPD zur persona non grata werden lassen. Die Drohung eines Parteiausschlusses stand mehrfach im Raum. 1953 bekam er nur noch einen sehr schlechten Listenplatz und verpasste den Wiedereinzug in den Bundestag. Seine Isolation in der SPD schmerzte und beunruhigte ihn aber weniger als die von ihm 53
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Brill an Dieter Roser, 8. 3. 1950, in: Bundesarchiv, NL Brill, Nr. 32; hektographiertes Manuskript: Erklärung der sozialdemokratischen Fraktion zum Entwurf eines Gesetzes über den Beitritt der Bundesrepublik zum Europarat, in: Bundesarchiv, NL Brill, Nr. 32a; Brief an Schumacher vom 12. 6. 1950, in: Archiv der sozialen Demokratie, PV-Bestand Schumacher, Q 21. Schumacher auf der Konferenz der Sozialen Arbeitsgemeinschaften der SPD in Gelsenkirchen, 24. 5. 1951, in: Schumacher, Kurt: Reden – Schriften – Korrespondenzen 1945– 1952. Hg. von Willy Albrecht, Berlin und Bonn 1985, S. 807–820, hier S. 808. Vgl. Brill, Erklärung zur Europäischen Montan-Union, 16. 12. 1951, in: Bundesarchiv, NL Brill, Nr. 343; Brill an Stierle, 26. 1. 1951, in: Bundesarchiv, NL Brill, Nr. 35; Protokoll der Sitzung der SPD-Fraktion am 8. 1. 1952, in: Die SPD-Fraktion im Deutschen Bundestag. Sitzungsprotokolle 1949–1957. Bearb. von Petra Weber, Düsseldorf 1993, S. 319–322. Sitzung der SPD-Fraktion am 1. 11. 1950, in: Die SPD-Fraktion im Deutschen Bundestag. Sitzungsprotokolle 1949–1957. Bearb. von Petra Weber, Düsseldorf 1993, S. 204; Brill an Adolf Arndt, 12. 2. 1953, in: Bundesarchiv, NL Brill, Nr. 40; Brill an August Bangel, 25. 2. 1952; in: Bundesarchiv, NL Brill, Nr. 38a; zu Brills Engagement in der Friedensbewegung vgl. Werner, Michael: August Bangel – Hermann L. Brill – Fritz Wenzel. Drei Sozialdemokraten in der Deutschen Friedensgesellschaft, in: Bald, Detlef und Wette, Wolfgang (Hg.): Alternativen zur Wiederbewaffnung. Friedenskonzeptionen in Westdeutschland 1945–1955, Essen 2008, S. 71–87.
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wahrgenommene „Wiederherstellung der ökonomischen und sozialen Macht der Nazis“57 . Brill war und blieb in vergangenheitspolitischen Fragen ein moralischer Rigorist. Das bezeugt sein Widerspruch gegen die Beendigung der Entnazifizierung, seine Klage über die Wiederherstellung des Berufsbeamtentums, das er durch einen Civil Service hatte ersetzen wollen, sein vergebliches Bemühen, die SPD-Fraktion von einer Zustimmung zu dem Gesetzentwurf zu Artikel 131 des Grundgesetzes abzubringen, der nicht nur NSDAP-Mitgliedern, sondern auch Gestapo- und SD-Mitarbeitern die Rückkehr in den öffentlichen Dienst ermöglichte, wie auch seine Ungehaltenheit darüber, dass der 1951 vom Bundestag eingerichtete Untersuchungsausschuss Nr. 47, der Aufklärung über die NS-Belastung der Angehörigen des Auswärtigen Amts bringen sollte, kaum personelle Konsequenzen zeitigte58. Es erbitterte ihn, dass die Justiz auf eine Selbstreinigung verzichtete und bei der Ahndung von NS-Verbrechen versagte, indem sie die NSTäter unter Verweis auf den herrschenden Befehlsnotstand exkulpierte59 . Nicht das geringste Verständnis hatte er dafür, dass sich die SPD-Fraktion beim amerikanischen Hohen Kommissar John J. McCloy dafür einsetzte, dass die in Landsberg einsitzenden, in den Nürnberger Nachfolgeprozessen zu Tode verurteilten Kriegsverbrecher begnadigt wurden. Für ihn war der Gedanke, in wenigen Jahren unter den „Ausrottungsmördern des Dritten Reichs leben zu müssen, unerträglich“60. Dass der DP-Abgeordnete Wolfgang Hedler, der das Andenken an die Widerstandskämpfer verunglimpft hatte, 1949 durch das Landgericht in Neumünster freigesprochen worden war, hielt er für skandalös. Er verlangte eine Bestrafung der verantwortlichen Richter und schlug vor, Richter künftig prinzipiell nicht mehr auf Lebenszeit einzustellen61 . Brill war geradezu empört über die geringe Anerkennung, die die Widerstandskämpfer im Nachkriegsdeutschland fanden, und überaus ungehalten darüber, dass nur der konservative Widerstand gewürdigt wurde, dem linken Widerstand, dem er angehört hatte, aber kaum Beachtung geschenkt wurde. Als 1954 die Goerdeler-Biographie Gerhard Ritters erschien, verriss er in der ihm eigenen Schärfe nicht nur die Arbeit des Freiburger Historikers, der dem bürgerlichkonservativen Widerstand eine höhere Dignität als anderen Widerstandsgruppen verliehen hatte, sondern kanzelte auch Goerdelers Denkschriften als „sture[n] Unsinn eines alten Deutschnationalen“ ab. Mit Ritter, dessen Selbststilisierung als „Mann des 20. Juli“ er zuweilen mit Hohn begegnete, hatte er schon im Institut für Zeitgeschichte die Klingen gekreuzt, zu dessen Gründungsvätern er zählte62. 57 58 59 60 61 62
Brill an Gerhard Tresp, 7. 8. 1950, in: Bundesarchiv, NL Brill, Nr. 33. Vgl. Brill an Schaaf, 22. 7. 1953, in: Bundesarchiv, NL Brill, Nr. 40; Brill an Walter Hummelsheim, 20. 5. 1952, in: Bundesarchiv, NL Brill, Nr. 38a. Vgl. Brill, Hermann Louis: Gewaltenteilung im modernen Staat, in: Gewerkschaftliche Monatshefte 7 (1956), S. 385–393, hier S. 390–392. So Brill in seinen Aufzeichnungen zu seinen Ausführungen in der Fraktionssitzung am 9. 1. 1951, in: Bundesarchiv, NL Brill, Nr. 329. Brill, Gesetz oder Recht? Zum Fall Hedler, 13. 3. 1950, in: Bundesarchiv NL Brill, Nr. 328. Brill, Hermann: Geschichte und Geschichten, in: Geist und Tat 10, 1955, S. 202–204; vgl. auch Brief Brills an Walter Hammer vom 4. 1. 1955, in: Bundesarchiv, NL Brill, Nr. 45a; zu Ritters Selbststilisierung als Mann des 20. Juli vgl. Cornelißen, Christoph: Geschichtswissenschaft und Politik im 20. Jahrhundert, Düsseldorf 2001, S. 361.
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Aufbauarbeit im Institut für Zeitgeschichte Es war keine einfache Aufgabe für das 1947 von den Ministerpräsidenten Bayerns, Hessens, Württemberg-Badens und dem Senatspräsidenten von Bremen als Stiftung ins Leben gerufene Institut zur Erforschung der nationalsozialistischen Politik, wie das Institut für Zeitgeschichte damals noch hieß, eine gesicherte finanzielle Basis zu finden. Die beiden wichtigsten Kuratoriumsmitglieder des neugegründeten Instituts Hermann Brill und Anton Pfeiffer ließen sich vom Widerstand der Finanzminister der Länder, die der Forschung über die NSZeit kein Geld zu Verfügung stellen wollten, nicht schrecken, denn beide erkannten die Bedeutung der Zeitgeschichtsforschung für die politische Bildung63 . Brill wünschte sich eine „Geschichtsschreibung über die größte deutsche Schande, die nazistische Diktatur, und die größte deutsche Niederlage, die von 1945“, die zugleich zeigte, „warum alles so gekommen ist“64 . Er wollte dem Institut aber nicht nur eine wissenschaftliche, sondern auch eine volkspädagogische Aufgabe zuweisen. Es sollte die im Nachkriegsdeutschland herrschende Gleichgültigkeit und die Abneigung gegen die Aufklärung über das NS-Regime überwinden helfen. Deshalb wünschte er neben wissenschaftlichen Arbeiten auch Publikationen für interessierte Laien und Flugschriften von etwa 24 bis 36 Seiten, die von großen Organisationen wie den Gewerkschaften vertrieben werden sollten65. Die Finanzierung des Instituts war allerdings trotz Brills Intervention bei den Vertretern der vier Staatskanzleien der Stiftungsländer im Dezember 1948 noch immer ungeklärt, als im Februar 1949 erstmals der Wissenschaftliche Rat und das Kuratorium des Instituts zusammentraten. Auch Brills Vorstoß auf der Ministerpräsidentenkonferenz der Länder in Bad Godesberg im Mai 1949 war nicht von Erfolg gekrönt, obwohl er ihn mit der flammenden Mahnung verbunden hatte, dass den vielen Publikationen, die in das NS-System Verstrickte zu ihrer Entlastung schrieben, etwas entgegensetzt werden müsse66 . Auf der Ministerpräsidentenkonferenz in Wiesbaden im August 1949 beschlossen die anwesenden Ministerpräsidenten zwar nach einem wortreichen Plädoyer Brills, in dem er ein fehlendes neues Geschichtsbewusstsein für das Scheitern der Weimarer Republik mitverantwortlich gemacht hatte, die Gründung des Instituts zu unterstützen, und empfahlen den Ländern den Beitritt zu dem vom Kuratorium entworfenen Staatsabkommen über das Institut, die Finanzminister bewilligten aber keine
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Zur Gründungsgeschichte des Instituts vgl. Auerbach, Hellmuth: Die Gründung des Instituts für Zeitgeschichte, in VfZ 18 (1970), S. 529–554; Möller, Horst: Das Institut für Zeitgeschichte und die Entwicklung der Zeitgeschichtsschreibung in Deutschland, in: ders. und Wengst, Udo: 50 Jahre Institut für Zeitgeschichte. Eine Bilanz, München 1999, S. 1–68. Brill, Hermann: Geschichte und Geschichten, in: Geist und Tat 10, 1955, S. 202. Vgl. die Protokolle der 3. und 4. Sitzung des Kuratoriums des Instituts zur Erforschung der nationalsozialistischen Politik am 27. 2. 1949 und 30. 5. 1949, in: Archiv des IfZ, ED 105, Bd. 2. Vgl. Schreiben Brills an die Ministerpräsidenten, Staatspräsidenten der Länder, an den Senatspräsidenten Bremens und den Oberbürgermeister Berlins vom 17. 6. 1949, in: Archiv des IfZ, ED 105, Bd. 2.
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Mittel, so dass Brill erwog, seinen Vorsitz im Kuratorium niederzulegen67. Der SPD-Parteivorstand reagierte mit Desinteresse auf Brills Bemühen, den Bund als Finanzier zu gewinnen68 . Die Losung, dass Bildung Macht bedeute, war dort in Vergessenheit geraten. Erst am 8. September 1950 konnte durch die Vereinbarung einer gemeinsamen finanziellen Trägerschaft des Bundes und des Freistaats Bayern das Deutsche Institut für Geschichte der nationalsozialistischen Zeit, wie das Institut nunmehr hieß, auf eine gesicherte, wenn auch nach dem Dafürhalten Brills, der mit einigem Erfolg auf eine finanzielle Beteiligung der übrigen Bundesländer drängte, viel zu schmale finanzielle Basis gestellt werden. Bei der entscheidenden Besprechung über die Zukunft des Instituts im Bundesinnenministerium am 1. März 1950 hatte er nicht nur Bundesinnenminister Heinemann für eine finanzielle Unterstützung des Instituts durch den Bund zu gewinnen versucht, sondern war auch sehr energisch Gerhard Ritter entgegengetreten, der das Institut als eine eng mit dem Bundesarchiv verbundene Forschungsstelle errichten wollte, während Brill weiterhin die von ihm vorgesehene volkspädagogische Aufgabe des Instituts verteidigte, jetzt vor allem mit dem auch schon auf der Ministerpräsidentenkonferenz in Wiesbaden vorgebrachten Argument, dass von der SED eine Geschichtsoffensive gestartet werde, die auf den „Ruhm der deutschen Kommunisten ausgerichtet“ sei69 . Insbesondere seit Gerhard Kroll, Mitglied der CSU und Landtagsabgeordneter in Bayern, Föderalist und Vertreter einer ständestaatlichen Ideologie, im März 1949 vom Kuratorium zum Geschäftsführer bestellt und in einer neuen Satzung dem Wissenschaftlichen Rat nur ein nachgeordneter Rang eingeräumt worden war, liefen zahlreiche Fachhistoriker, allen voran Gerhard Ritter, Sturm gegen den vom Kuratorium anvisierten Weg der Aufklärung über den Nationalsozialismus. In dem zwischen Kroll und Ritter ausgebrochenen Streit, der nicht selten in gegenseitige Verunglimpfungen ausartete, stellte sich Brill ohne Zögern auf die Seite des CSU-Mannes Kroll, teilte er doch dessen Auffassung, dass der Freiburger Historiker dem Nationalsozialismus zweifelhafte Zugeständnisse gemacht und in der Nachkriegszeit zu dessen Rehabilitierung beigetragen habe. Für Brill war Ritter ein Mann mit einer „sehr kleindeutschen, friderizianischen Geschichtsauffassung“, ein Fachhistoriker, der die Bedeutung der politischen Bildung, um die sich Brill auch als Honorarprofessor für Öffentliches Recht und Staatsrecht an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main und als Lehrbeauftragter an der Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer mühte, völlig verkannte70. Ritters Einfluss im Institut endete, als die von ihm zur Veröf67
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Vgl. Protokoll der Ministerpräsidentenkonferenz in Bad Godesberg am 13. 5. 1949, in: Akten zur Vorgeschichte der Bundesrepublik Deutschland 1945–1949, Bd. 5. Bearb. von Hans Dieter Kreikamp, Wien 1981, S. 986–1032, hier, S. 1009–1015; Brill an Maurice Disch-Zeitler, 1. 11. 1949, in: Bundesarchiv, NL Brill, Nr. 30. Vgl. Brill an den Parteivorstand der SPD, 29. 10. 1949, in: Bundesarchiv, NL Brill, Nr. 30; Brill an Kurt Schumacher, 6. 11. 1949, in: Bundesarchiv, NL Brill, Nr. 35a. Redebeitrag Brills über die Gestaltung des Instituts im Bundesministerium des Innern am 1. 3. 1950, in: Archiv des IfZ, ED 105, Bd. 1. Vgl. die Unterstreichungen Brills in dem hektographierten Schreiben Krolls an Brill vom 22. 6. 1950, dem eine Denkschrift Krolls zum Schrifttum von Gerhard Ritter beilag, in: Bundesarchiv, NL Brill, Nr. 40; Brills Ausführungen auf der Ministerpräsidentenkonfe-
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fentlichung vorgeschlagene und mit einer Einleitung versehene Publikation von „Hitlers Tischgesprächen“ im Jahr 1951 bis in höchste Regierungskreise größten Missmut hervorrief und er dadurch zum langsamen Rückzug aus der Institutsarbeit gezwungen wurde. Trotz seiner abgrundtiefen Antipathie gegen Ritter gehörte Brill nicht zu denen, die die Veröffentlichung verteufelten. Er glaubte, dass sich in der Kritik ein „gewisser Schwächezustand der deutschen Demokratie“ offenbare71 . Brill selbst stand der Entwicklung des Instituts, dessen Gründung ihm so viel Mühe und Zeit gekostet hatte, keineswegs kritiklos gegenüber. Dass mit Kroll und dem Historiker Karl Buchheim bis 1951 zwei Männer mit einer deutlich katholisch-konservativen Ausrichtung die Arbeit des Instituts prägten, konnte nicht im Sinne eines Freidenkers und linken Sozialdemokraten sein. Bei der Berufung des ebenfalls konservativen Leipziger Historikers Hermann Mau zum Leiter des Instituts hatte er sich der Stimme enthalten. Als nach dessen tödlichem Unfall im Oktober 1952 die Nachfolgediskussion entbrannte, versuchte Brill den Parteivorstand der SPD zu mobilisieren, der einen Liberalen oder besser noch demokratischen Sozialisten als Institutsleiter ausfindig machen und durchsetzen sollte. Brill selbst dachte an Erich Matthias, dessen Arbeit „Sozialdemokratie und Nation. Ein Beitrag zur Ideengeschichte der sozialdemokratischen Emigration in der Prager Zeit des Parteivorstandes 1933–1938“ 1952 vom Institut publiziert worden war72. Innerhalb der SPD entfaltete man jedoch keine Initiative. 1953 wurde Paul Kluke, der wegen seiner „nichtarischen“ Frau während der NS-Zeit zahlreiche persönliche und berufliche Nachteile in Kauf hatte nehmen müssen, mit der Institutsleitung betraut. Weitaus mehr als die Personalpolitik verärgerte Brill das Forschungsprogramm des Instituts. Seit dessen Gründung hatte er dafür plädiert, ein großes Projekt über die Justiz im Nationalsozialismus in Angriff zu nehmen. 1952 riss ihm der Geduldsfaden und Hermann Mau bekam einen schroffen, von Sarkasmus nicht freien Mahnbrief. „Warum untersucht man nicht einmal“, so fragte Brill den Generalsekretär des Instituts, „die nazistische Justiz, die Tätigkeit des Volksgerichtshofes, der Sondergerichte, der Kriegsgerichte, der Hoch- und Landesverratssenate bei den Oberlandesgerichten? Warum gibt es keine Zusammenstellung über die Mordpolitik an den Hinrichtungsstätten? Es ist doch bekannt, dass Hitler 22 Guillotinen arbeiten ließ. Muss etwa Rücksicht darauf genommen werden, dass die Blutrichter von damals heute wieder an den Gerichten der Länder tätig sind? Warum wird nicht einmal die gesamte Entartung des Rechtsdenkens dargestellt – vielleicht, weil die Mitglieder der Akademie für Deutsches Recht heute wieder als Universitätsprofessoren fungieren?“73 Angesichts der Biographie Brills ist es nicht
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renz in Wiesbaden am 5. 8. 1950, Protokoll in: Akten zur Vorgeschichte der Bundesrepublik Deutschland 1945–1949, Bd. 5. Bearb. von Hans Dieter Kreikamp, Wien 1981, S. 1014. Brill an Ludwig Bergsträsser, 30. 10. 1951, in: Bundesarchiv, NL Brill, Nr. 35a; zur Kritik an der Publikation vgl. Cornelißen, Christoph: Geschichtswissenschaft und Politik im 20. Jahrhundert, Düsseldorf 2001, S. 539–545. Brill an Willi Eichler, 8. 4. 1953, in: Bundesarchiv, NL Brill, Nr. 40. Brill an Hermann Mau, 23. 7. 1952, in: Bundesarchiv, NL Brill, Nr. 38a.
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erstaunlich, dass ihm dieses Forschungsprojekt, das er 1956 auch Paul Kluke noch einmal inständig ans Herz legte, unter den Nägeln brannte74. Brill lebte nicht mehr, als das Institut zu Beginn der sechziger Jahre ein großes Forschungsvorhaben über „Die deutsche Justiz und der Nationalsozialismus“ in Angriff nahm. Nachdem die 1968 veröffentlichte gleichnamige Überblicksdarstellung aus der Feder des Projektleiters und früheren Präsidenten des Bundesgerichtshofes, Hermann Weinkauff, in der Wissenschaft auf Kritik gestoßen war, weil sie stark auf Hitler zentriert war und nicht eine handelnde, sondern eine leidende Justiz aufzeigte75, avancierten die monumentalen, in mehreren Auflagen erschienenen Werke von Lothar Gruchmann über Anpassung und Unterwerfung der Justiz in der Ära Gürtner und von Wolfgang Wagner über den Volksgerichtshof im nationalsozialistischen Staat zu Standardwerken. Allerdings darf hinzugefügt werden, dass auch Wagners starke Akzentuierung auf die Widerstandskämpfer des 20. Juli von Brill wohl nicht unwidersprochen geblieben wäre76. Brill selbst sah sich am Ende seines Lebens vor den Trümmern seiner Arbeit. Das von ihm gewünschte politische „Neu Beginnen“ war aus seiner Sicht gescheitert. Jedoch war – wie sich rückblickend feststellen lässt – zumindest seine Mühe um den Aufbau des Instituts für Zeitgeschichte nicht umsonst. Wenn er auch mit dessen Arbeit nicht immer einverstanden war, so verteidigte und unterstützte er es bis zu seinem durch die gesundheitlichen Folgen der KZ-Haft verursachten frühen Tod am 22. Juni 1959.
Weiterführende Literatur Overesch, Manfred: Hermann Brill. Ein Kämpfer gegen Hitler und Ulbricht, Bonn 1992. Knigge-Tesche, Renate und Reif-Spirek, Peter (Hg.): Hermann Louis Brill 1895–1959. Widerstandskämpfer und unbeugsamer Demokrat, Wiesbaden 2011.
Hinweise zu den Quellen Brills Nachlass befindet sich im Bundesarchiv Koblenz (N 1086), über Teilnachlässe verfügen auch das Archiv der sozialen Demokratie in Bonn und das Hessische Hauptstaatsarchiv in Wiesbaden. Brills Tätigkeit für das Institut für Zeitgeschichte ist dokumentiert in dessen Hausarchiv (ED 105).
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Brill an Paul Kluke, 29. 11. 1956, in: Bundesarchiv, NL Brill, Nr. 47a. Vgl. Herbe, Daniel: Hermann Weinkauff (1894–1981). Der erste Präsident des Bundesgerichtshofes, Tübingen 2008, S. 273–286. Gruchmann, Lothar: Justiz im Dritten Reich. Anpassung und Unterwerfung in der Ära Gürtner, München 3 2001; Wagner Walter: Der Volksgerichtshof im nationalsozialistischen Staat. Mit einem Forschungsbericht für die Jahre 1974 bis 2010 von Jürgen Zarusky, München 2 2011.
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Überlegungen zu einer deutschen Biografie – Sepp Herberger (1897–1977)
Im Interview mit „11 Freunde“ bekennt einer der Heroen des deutschen Nachkriegsfußballs, Uwe Seeler, er habe, nach vielen Verletzungen und schon gut über 30 Jahre alt, an der Fußballweltmeisterschaft 1970 in Mexiko nicht mehr teilnehmen wollen. „Ich hatte schon 1969 meinen Rücktritt aus der Nationalelf verkündet, für die WM wollte mich Helmut Schön aber unbedingt dabei haben. Er und Sepp Herberger riefen an (…) – Herberger hatte doch längst abgedankt – er zog im Hintergrund aber immer noch ein bisschen die Fäden“1 . 1969 ist Sepp Herberger, Trainer der Nationalmannschaft seit 1936, bereits fünf Jahre im Ruhestand. Wenn es ein personifiziertes Beispiel für funktionale Kontinuität in Führungspositionen in Deutschland gibt, dann wird man Herberger aus gutem Grund mit an erster Stelle nennen können. Dass ein Akteur über die längsten Zeitstrecken der NS-Diktatur wie über die Anfangsdekaden der Bundesrepublik in einem spektakulären, öffentlichkeitswirksamen Bereich gewissermaßen die Planstelle Nummer eins inne hatte, findet wohl in keinem anderen Bereich eine Entsprechung, nicht in der Wirtschaft, nicht im Kulturbetrieb, vielleicht mit der partiellen Ausnahme des Dirigenten Wilhelm Furtwängler, nicht im Militär, wo die Generale der zweiten Reihe wie Hans Speidel, Adolf Heusinger oder Josef Kammhuber ab Mitte der fünfziger Jahre die Bundeswehr aufbauten, und schon gar nicht in der Politik. Analogien fänden sich so allenfalls in den Kirchen, mit Kardinal Faulhaber in München oder – gleichfalls auf Bayern bezogen – mit dem evangelischen Landesbischof Hans Meiser. Aber von den Kirchen abgesehen ist Sepp Herberger ein Unikat, „Reichstrainer“ von 1936 bis 1945, „Bundestrainer“ von 1950 bis 1964.2
Herberger und Adenauer – parallele Lebenswege? Eigenartigerweise wird Sepp Herberger gerne mit dem ersten Bundeskanzler verglichen, obwohl eben, wo beim Fußballtrainer Kontinuität waltete, beim Politiker Diskontinuität bestimmend war. Für Adenauer, bis 1933 Kölner Oberbürgermeister und Präsident des preußischen Staatsrates, bedeutete der Anbruch der NSDiktatur das politische und berufliche Aus und mehrfache existentielle Bedro-
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11 Freunde. Magazin für Fußballkultur vom Dezember 2010, S. 120. Herbergers Biograf Jürgen Leinemann urteilt: „In der Praxis räumten diese Vollmachten dem deutschen Bundestrainer eine Stellung ein, für die es nirgendwo in der Welt Vergleichbares gab. Wenn er es natürlich auch so nicht sehen wollte, Herberger hatte das Führerprinzip des Nazireiches uneingeschränkt in die demokratische Zeit hinübergerettet.“ – in: Leinemann, Jürgen: Sepp Herberger. Ein Leben, eine Legende, Berlin 1997, S. 289.
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hung3, zuletzt im Gefolge der Terrormaßnahmen nach dem 20. Juli 1944. Parallelen, und seien sie auch noch so vordergründig, müssen somit in anderen Bereichen gesucht werden. Adenauer und Herberger scheinen sich physiognomisch zu ähneln, beide hager, diszipliniert und nicht dem kalorienreichen Wohlleben verbunden, beide lakonisch im Ausdruck, zähe „Kämpfernaturen“. Adenauer und Herberger waren Westdeutsche, stammten vom Rhein, der spätere erste Bundeskanzler 1876 in Köln geboren, der künftige zweite Reichstrainer wie erste Bundestrainer 21 Jahre später 1897 in Mannheim. Beide waren westdeutsch bzw. süd-westdeutsch sozialisiert und damit prädestiniert, in der zweiten Republik authentische Bundesdeutsche zu sein bzw. zu werden. Und beide waren soziale Aufsteiger, die gelernt hatten, sich gegen andere durchzusetzen und nach oben zu gelangen. Gewiss vollzog sich dieser soziale Aufstieg nicht auf Augenhöhe: Der rheinische Katholik Konrad Adenauer stammte aus dem Kleinbürgertum, avancierte über Jurastudium und Promotion, mit fester Position im rheinischen Zentrumsmilieu und mit zweimaliger Heirat ins Großbürgertum, weit nach oben. 1926 wurde er als Reichskanzler gehandelt, seit 1949 war er für nahezu eineinhalb Jahrzehnte die politische Zentralfigur der zweiten Republik. Bei Sepp Herberger spielte sich das alles zwei Milieus bzw. Klassen „tiefer“ ab. Er entstammte dem Tagelöhnermilieu. Als er zwölf Jahre alt war, starb der Vater. Die Verhältnisse gestatteten in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg weder den Besuch der höheren Schule noch des Lehrerseminars, so wurde er einstweilen Maurer-Gehilfe – und Autodidakt. Adenauer wurde 1917 Kölner Oberbürgermeister, also noch im Kaiserreich bzw. in der preußischen Monarchie. Herbergers Aufstieg hingegen, von viel weiter unten, war deutlich an die gewandelten Voraussetzungen der Weimarer Republik gebunden. Seit Beginn der zwanziger Jahre wurde der Fußball zum Massenphänomen, ähnlich der Rad- und der Boxsport. Spitzenspiele zogen Zehntausende an, es entwickelte sich eine eigene Fußballpresse und seit Mitte der zwanziger Jahre wurden Fußballspiele im Radio übertragen. Herberger war nicht nur Spitzenspieler, sondern auch um sein soziales und berufliches Fortkommen bemüht. Mit einer Ausnahmegenehmigung konnte er auch ohne Abitur das Studium an der Berliner Hochschule für Leibesübungen aufnehmen und nach nur sechs Semestern 1930 mit vorzüglichem Erfolg als Diplom-Turn- und Sportlehrer abschließen. Adenauer wie Herberger – und hier ist wohl eine weitere Parallele zu sehen – muteten beide unsentimental an. Sie nahmen die Voraussetzungen, wie sie sie vorfanden. Wenn sie scheiterten, starteten sie neu durch. Herberger nach dem desaströsen Ausscheiden mit einer heterogenen „großdeutschen“ Nationalmannschaft nach dem „Anschluss“ Österreich 1938 bei der Fußballweltmeisterschaft in Paris gegen die Schweiz, Adenauer nach dem Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) in der französischen Nationalversammlung – im selben Jahr, in dem Herberger sich mit dem „Wunder von Bern“ für die Pleite von 1938 in Frankreich revanchierte und – eigentlich nur mit den knapp zwei Stun3
Vgl. Schwarz, Hans-Peter: Adenauer. Der Aufstieg: 1876 bis 1952, Stuttgart 1986, S. 341 ff.
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den des Endspiels in der Schweizer Hauptstadt am 4. Juli 1954 – zur historischen Figur in Deutschland wurde. Beide hatten eine Sozialisation im Deutschen Reich hinter sich, Adenauer politisch-kulturell im Kaiserreich wie in der Weimarer Republik, Herberger in der Weimarer Republik und im „Dritten Reich“, und beide akzeptierten offenkundig die Bundesrepublik so, wie sie war. Adenauer gab ihrer Stabilisierung im Westen den Vorrang vor allen Wiedervereinigungsschimären, bei Herberger war nicht erkennbar, dass er dem verlorenen Spielerreservoire aus den Gebieten östlich des Eisernen Vorhanges nachtrauerte. Er beschied sich mit dem, was die neue Bundesrepublik mit ihren Oberligen zu bieten hatte, mit der „Walterelf“ aus Kaiserslautern, mit Helmut Rahn aus Essen, mit Max Morlock, der schon in den letzten Jahren des „Dritten Reiches“ in der bayerischen Gauliga gespielt hatte, aus Nürnberg, mit Uwe Seeler aus Hamburg. Und beide, Adenauer wie Herberger, konnten nicht loslassen. Sie schieden widerstrebend aus dem Amt, Adenauer 1963, Herberger ein Jahr später, obwohl sie kulturell nicht mehr in die Zeit passten. Auch nachdem er das Palais Schaumburg hatte räumen müssen, setzte Adenauer den Kampf gegen Ludwig Erhard unvermindert fort und ähnlich hielt es Sepp Herberger mit Helmut Schön. Die Nachfolger, Ludwig Erhard wie Helmut Schön, waren keine „Kämpfernaturen“ und sie hatten musische bzw. künstlerische Seiten, die die Vorgänger eher befremdeten. Adenauer unternahm 1965/66 alles, um die Nachfolge Ludwig Erhards nun auch in seinem zweiten Amt, dem des Vorsitzenden der CDU, zu verhindern – mit nur sehr mäßigem Erfolg. Der ihm nahestehende Rainer Barzel wurde als erster stellvertretender Vorsitzender und damit de facto als Zentralfigur der Partei unter dem neuen protokollarisch ersten Mann Ludwig Erhard installiert. Sepp Herberger präsentierte sich bei der Fußballweltmeisterschaft 1966, wenige Monate nach dem Wechsel im CDU-Vorsitz, wie eine Art Zweitbundestrainer. Er hatte, wohl informiert wie immer, eine Art eigener Zweitnationalmannschaft aufgestellt, er kommunizierte mit den Journalisten und durchaus auch mit den deutschen Spielern, die er geschickt gegen den neuen Bundestrainer einzunehmen versuchte. Und selbst noch vor der Fußballweltmeisterschaft 1970 wirkte er, wie beschrieben, hinter den Kulissen. Hier endeten freilich auch die Parallelen. Helmut Schön war nicht Ludwig Erhard. Er ließ sich nicht nach nur drei Jahren im Amt von den eigenen Leuten abservieren.4 Der hochaufgeschossene Helmut Schön verkörperte eben doch eine ganz andere Natur als Ludwig Erhard. Nicht autoritär hatte er zugleich durchaus Autorität. Und ihm wuchs eine Spielergeneration zu, die, nach dem Gewinn der Fußballweltmeisterschaft 1954, auf einem bis dahin im Dress der deutschen Nationalmannschaft nicht gekannten spielerischen Niveau die zweite große Erfolgsphase des deutschen Fußballs herbeiführte. Schon nach Herbergers Scheitern im Viertelfinale bei der Weltmeisterschaft 1962 in Chile bedeutete das Vordringen ins Finale bei der Weltmeisterschaft 1966 in England unter Schön einen ebenso unerwarteten wie eindrucksvollen Erfolg. Es folgte der dritte Platz 1970 in Mexiko, mit dem eigentlichen Höhepunkt im 4
Vgl. März, Peter: Zweimal Kanzlersturz. Adenauer 1963, Erhard 1966, in: Schwarz, Hans-Peter (Hg.): Die Fraktion als Machtfaktor. CDU/CSU im Deutschen Bundestag 1949 bis heute, München 2009, S. 39–65, hier S. 55–60.
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Viertelfinale: der gelungenen Revanche gegen England für das verlorene Endspiel vier Jahre zuvor. Und mit der folgenden Generation um die Zentralachse Beckenbauer, Netzer und Müller schloss sich der Triumph bei der Europameisterschaft 1972 und schließlich der Erfolg bei der Weltmeisterschaft 1974 im eigenen Land an. Im Prinzip mochte Herberger wie Adenauer überhaupt keinen Nachfolger – aber, das wird man hinzufügen müssen, Gegensätzlichkeit und Abneigung zwischen Adenauer und Erhard waren doch um vieles ausgeprägter als zwischen Sepp Herberger und Helmut Schön.
Zwischen Mannheim und Berlin Sepp Herberger war in den frühen zwanziger Jahre Spitzenspieler im deutschen Fußball, dreimal wurde er in die Nationalmannschaft berufen, was in einer Zeit mit sehr viel weniger Länderspielen und noch ohne Turniere – zur ersten deutschen Weltmeisterschaftsteilnahme kam es erst 1934 in Italien – sehr viel mehr bedeutete als heute. Aber buchstäblich „interessant“ machten ihn kulturgeschichtlich andere Umstände. Da war einmal die Verwicklung in die erste deutsche Berufsspieler-Affäre. Die Zwischenkriegszeit brachte nicht nur die rasante Entwicklung des Fußballs zu einem Massenphänomen, sondern, als Element einer neuen Unterhaltungsindustrie, auch den Durchbruch zum Berufssport. Beim Fußball war er auf der britischen Insel schon lange Standard, er wurde es in der Zwischenkriegszeit auch in Italien und in den Nachfolgestaaten der Donaumonarchie. Dazu kamen als Publikumssportarten Radsport, Boxen und Motorsport. Deutschland dagegen blieb im Fußball lange, bis nach dem Zweiten Weltkrieg, die große Ausnahme. Die Amateurideologie des tonangebenden Deutschen Fußballbundes gründete letztlich im alten Antagonismus von „Händlern und Helden“ (W. Sombert), in der nationalistischen Stilisierung eines vermeintlich zweckfreien, sich idealistisch verstehenden deutschen Kultur- und Turngedankens gegen schnöden angelsächsischen Kapitalismus. Herberger konnte derartige Ideologeme sein Leben lang nicht nachvollziehen, da Fußball für ihn eben vor allem das Vehikel seines sozialen und damit auch materiellen Aufstiegs war. Das aber hatte zweierlei Konsequenzen: Erstens musste man aus seiner Sicht mit dem Fußball, ob als Spieler oder als Trainer, zumindest einen respektablen Teil seines Lebensunterhaltes verdienen können. Zweitens hatte für ihn der Effizienzgedanke, ob auf Vereinsebene oder in der Nationalmannschaft, Anspruch auf Vorrang gegenüber jedem regionalistischen Traditionsverständnis. So gehörte Herberger zu denen, die zu Beginn der dreißiger Jahre für die Einführung einer „Reichsliga“ in Deutschland plädierten und es dann, sehr vorsichtig, nach dem „Anschluss“ Österreichs unter den Bedingungen des „Dritten Reiches“ wieder versuchten. Die Einführung der Bundesliga 1963 ging vor diesem Hintergrund nicht zuletzt auf sein jahrzehntelanges Eintreten für die Konzentration des Spitzenfußballs zurück. Auch dies im Übrigen ein Beispiel dafür, wie sehr Sepp Herberger ein Exponent sportlich-handwerklicher, kultureller und ökonomischer Kontinuitäten über 1945 hinaus war.
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Zurück zur Affäre Herberger zu Beginn der zwanziger Jahre: Der Wechsel vom proletarischen Verein Waldhof Mannheim zum VfR Mannheim wurde in einem undurchsichtigen Dreiecksgeschäft, unter Einbeziehung des Vereins Phönix Mannheim, mit einem Handgeld wie mit einer Kücheneinrichtung alimentiert. Prompt folgte die Sperre. 1926 wechselte Herberger als knapp Dreißigjähriger in die Stadt, die damals die besten Perspektiven in Deutschland bot, nach Berlin. Die deutsche Hauptstadt war, wie heute auch, keineswegs die nationale Fußballkapitale. Das waren in der Mitte der zwanziger Jahre die einander in herzlicher Abneigung verbundenen fränkischen Nachbarstädte Nürnberg und Fürth, im weiteren Verlauf der dreißiger Jahre Gelsenkirchen mit Schalke’04 und schließlich in der zweiten Kriegshälfte die sächsische Metropole Dresden mit dem Dresdner SC und seinen Stars Richard Hofmann und Helmut Schön, dem späteren Nachfolger Herbergers im Amt des Bundestrainers. Aber letzterer war Taktiker und zumindest in Grenzen Stratege. Er dachte über seine aktive Fußballzeit hinaus. In der Reichshauptstadt konnte er studieren, vielerlei Verbindungen knüpfen und – die Sperre wegen seiner Berufsspieler-Affäre war längst abgesessen – beim renommiert-bürgerlichen Verein Tennis Borussia noch über einige Jahre selbst spielen. 1932 wurde er, in diesen Jahren Protege des ersten Reichstrainers, Otto Nerz, Trainer des Westdeutschen Fußballverbandes. Aber über seine nun geknüpften Berliner Verbindungen blieb er gerade dort präsent, wo Politik und Sport einander auf der Spitzenebene begegneten, gesteigert und verdichtet nach der Machtübertragung an Adolf Hitlers NSDAP am 30. Januar 1933. „Am 1. Mai 1933 trat der Diplomsportlehrer Herberger aus Duisburg, Gau Essen, der NSDAP bei, Mitgliedsnummer 2208548.“5 Alles deutet daraufhin, dass Herberger diesen Schritt aus einer Haltung getan hat, die man als funktionalen Opportunismus kennzeichnen könnte. Die NS-Ideologie war ihm ziemlich fremd. Auch allzu viel nationales Pathos vernahm man weder vor noch nach 1945 von ihm, selbst und gerade nicht in den Wochen der Fußballweltmeisterschaft 1954 in der Schweiz gut zwei Jahrzehnte später. Aber wer in institutioneller Nähe zu den Apparaturen des Regimes vorankommen wollte, tat eben gut daran, der Partei beizutreten. Und Herberger störte es zugleich ersichtlich wenig, dass das Regime in den ersten Monaten seiner Herrschaft die deutsche Gesellschaft brutal „gleichschaltete“ und terrorisierte – so wie sich auch der DFB insgesamt wenig an den Anfängen der NS-Diktatur scherte und sich im vorauseilenden Gehorsam schon im April 1933 von den Juden im deutschen Fußball trennte6 . 5
6
Mikos, Lothar: Karriere um jeden Preis: Sepp Herberger, in: Peiffer, Lorenz und SchulzeMarmeling, Dietrich (Hg.): Hakenkreuz und rundes Leder. Fußball im Nationalsozialismus, Göttingen 2008, S. 331–340, hier S. 334. Vgl. die Entschließung des DFB vom 19. April 1933: „Der Vorstand des Deutschen Fußballbundes und der Vorstand der Deutschen Sportbehörde halten Angehörige der jüdischen Rasse, ebenso auch Personen, die sich als Mitglieder der marxistischen Bewegung herausgestellt haben, in führenden Stellungen der Landesverbände und Vereine nicht für tragbar. Die Landesverbände und Vereine werden aufgefordert, die entsprechenden Maßnahmen, sofern diese nicht bereits getroffen wurden, zu erlassen.“ Zitiert nach Bitzer, Dirk und Wilting, Bernd: Stürmen für Deutschland. Die Geschichte des deutschen Fußballs 1933 bis 1954, Frankfurt a.M. und New York 2003, S. 35.
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Sepp Herbergers große Stunde schlug am 7. August 1936 im mit über 60 000 Zuschauern überfüllten Berliner Poststadion. Bei ihrem zweiten Spiel im Rahmen des olympischen Fußballturniers verlor die deutsche Nationalmannschaft ebenso desaströs wie überraschend mit 0 : 2 gegen Norwegen und schied damit aus dem Wettbewerb aus. Aber es ging weniger um die Frustration der 60 000 deutschen Fußballanhänger, sondern um die Frustration des Diktators Adolf Hitler, der zum ersten und zum letzten Mal in seinem Leben ein Fußballspiel besuchte. Eigentlich hätte der „Führer“ dem olympischen Poloturnier beiwohnen sollen und am liebsten wäre er zum Rudern gegangen, einer Sportart, bei der Deutschland 1936 kräftig Medaillen abräumte. Der Danziger Gauleiter Albert Forster hatte Hitler jedoch zum Besuch des Fußballspiels überredet und so kam es nun zur Blamage in Anwesenheit der halben NS-Nomenklatura.Dieser 7. August 1936 wurde zum Anfang vom Ende des amtierenden Reichstrainers Otto Nerz und damit zur großen Chance für dessen Schüler, Freund und Konkurrenten Sepp Herberger. Die Geschichte des folgenden, fast zwei Jahre währenden Machtkampfs zwischen Nerz und Herberger war für die Verhältnisse des „Dritten Reichs“ in mehrfacher Hinsicht eine Merkwürdigkeit: Er wurde halb öffentlich ausgetragen, er hielt lange an und er endete keineswegs damit, dass der Triumph des einen mit dem Untergang des anderen bezahlt wurde. Nerz stammte wie Herberger aus Mannheim, war vier Jahre älter, vor allem aber der ihm wissenschaftlich und analytisch deutlich überlegene Kopf. 1929 bis 1933 war er Sozialdemokrat, zugleich jedoch einem technokratisch-biologistischen Weltbild verbunden. Otto Nerz war nicht nur Fußballstratege. Der ursprüngliche Volksschullehrer avancierte auch in der Medizin, wurde 1936 Direktor des sportpraktischen Instituts der Reichsakademie für Leibesübungen, seit 1938 im Rang eines Professors, und geriet schließlich in die Nähe des SS-Arztes und Himmlerintimus Karl Gebhardt. Insbesondere vor diesem Hintergrund lassen sich vermutlich seine antisemitischen Ausfälle in mehreren Presseartikeln aus dem Jahre 1943 erklären. Vordergründig kompensierte Nerz also die Niederlage im Kampf um die Zuständigkeit für die Fußballnationalmannschaft gegen Sepp Herberger mit deutlich höherem machtpolitischem wie gesellschaftlichem Status. Aber dahinter stand der Absturz aus der Moderne der Weimarer Jahre in die Barbarei des NS-Regimes.7 Verglichen damit blieb der intellektuell zweifellos unterlegene Sepp Herberger der opportunistische und listige Kleinbürger, der er stets gewesen war. Sepp Herbergers wichtigste Jahre während des „Dritten Reiches“ waren die einer Funktionslosigkeit im vordergründigen Sinn. Die deutsche Nationalmannschaft trug ihr letztes Länderspiel während des Zweiten Weltkrieges am 22. November 1942 in Pressburg aus und schlug dabei die Slowakei mit 5 : 2 – exakt zum selben Zeitpunkt, zu dem sich der Ring der Roten Armee um die 6. deutsche Armee in Stalingrad schloss. Der deutsche Sport agierte in den ersten Jahren des Krieges, insbesondere den Vorgaben des Reichspropagandaministers folgend, gewissermaßen nach der Maxime „als ob“. Man tat so, als ob Deutschland es sich 7
Zu Otto Nerz vgl. Oswald, Rudolf: Im Abgrund: Otto Nerz, in: Peiffer, Lorenz und Schulze-Marmeling, Dietrich (Hg.): Hakenkreuz und rundes Leder. Fußball im Nationalsozialismus, Göttingen 2008, S. 323–329.
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trotz der Kriegsverhältnisse leisten könne, im Sport, aber auch auf den Bühnen weiterhin eine friedensmäßige Zweitexistenz zu führen. Die Heimniederlage gegen Schweden am 20. September 1942, als sich die Fronten an der Wolga schon festzufahren begannen und sich die Peripetie des Krieges auch äußerlich andeutete, brachte aber bereits die Grundsatzentscheidung, bis zum sogenannten „Endsieg“ keine Länderspiele mehr durchzuführen. Es war dem deutschen Publikum scheinbar nicht zuzumuten, dass seine Fußballer gegen Mannschaften von Neutralen verloren, die naturgemäß unter viel günstigeren Umständen trainiert, ernährt und vorbereitet werden konnten. Aber gerade in dieser Situation, da Sepp Herberger auf seiner Planstelle im Grunde nichts mehr zu tun hatte, wurde er für die Spieler der Nationalmannschaft buchstäblich lebenswichtig, an erster Stelle für den am 31. Oktober 1920 geborenen Fritz Walter aus Kaiserslautern, der 1940 im schwarz-weißen Dress debütiert hatte. Dabei war Sepp Herbergers Agieren de facto von Wehrkraftzersetzung nicht allzu weit entfernt. In dieser Phase wurde Joseph Goebbels zum seinem eigentlichen Gegenspieler, weniger in dessen Funktion als Propagandaminister als in der von ihm angestrebten Rolle eines Diktators für die Innenpolitik zur strukturellen Verschlankung und zur Freimachung aller Kapazitäten für den Kriegseinsatz. Allerdings nahmen beide diesen unmittelbaren Gegensatz wohl kaum so wahr. Beides – die einschlägige Propaganda, kulminierend in der „Sportpalastrede“ vom 18. Februar 1943 mit der Proklamation des „totalen Krieges“, und der Kampf um die Erringung einer Art Kompetenzkompetenz gegen die anderen Paladine und Institutionen des Regimes – war in Goebbels Fall miteinander verbunden und verlief synchron.8 In seinem Bereich, dem des Spitzenfußballs, sabotierte Herberger jedoch in den letzten Kriegsjahren diese Tendenzen zur vollständigen inneren Mobilmachung und zu einem Fronteinsatz, der einem Führen auf die Schlachtbank ähnelte, wie und wo er nur konnte. In der Bilanzierung aus der Retrospektive kann man dieses Vorgehen gewiss sehr gegensätzlich deuten, zum einen als den Versuch, ein jedenfalls relativ privilegiertes Segment, das der Spitzenfußballspieler, möglichst vor dem Verheizen an der Front zu bewahren, auf Kosten eben anderer, die nicht in analoger Weise Unterstützung und Fürsprache finden konnten. Gewichtiger aber sollte das Gegenargument erscheinen, dass jegliches Bemühen Leben zu bewahren, in Zeiten, in denen die Kriegsverluste auf schließlich Hunderttausende pro Monat anwuchsen, gefährlich, sinnvoll und honorig war. Herbergers Strategie war eine dreifache: Immer wieder lud er zu Lehrgängen ein, die eine Pause im Kriegseinsatz brachten, wie sportlich dringlich sie jetzt auch immer sein mochten. Ferner ermunterte er alle möglichen Befehlshaber auf der mittleren und unteren Ebene, seine Nationalspieler in Einheiten fernab der Front zu konzentrieren. Schließlich unterhielt er eine intensive Korrespondenz mit den Spielern, in deren Mittelpunkt eine Art Lebenskunde unter Kriegsbedingungen stand. „Ohne Einverständnis der Reichssportführung gelang Herberger am 21. August 1942 die Abkommandierung von Andreas Kupfer, Hans Rohde, Ernst Willimowski und Fritz Walter zum Wachbataillon Berlin. Hier hatte der 8
Vgl. Longerich, Peter: Joseph Goebbels. Biografie, München 2010, S. 535 ff.
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Reichstrainer in Feldwebel Peters einen verständnisvollen Ansprechpartner, um militärische Vorbehalte gegen ,Herbergers Wanderzirkus‘ auszuräumen.“9 Die besten Überlebenschancen ergaben sich in der Folge beim Jagdgeschwader des Oberstleutnants Hermann Graf, einem enthusiastischen Fußballanhänger, der in seinen aktiven Zeiten freilich nicht über die Zweitklassigkeit hinausgekommen war, und der nun gewissermaßen mäzenatisch-kompensatorisch in der zweiten Kriegshälfte die erstklassigen Stars in seiner Mannschaft, den „Roten Jägern“, versammelte. Da die prominenten Spieler schon mangels Ausbildung und Kompetenz in aller Regel selbst keine Einsätze flogen, sondern in der Bodenorganisation untergebracht waren, reduzierte sich ihre Gefährdung zwar nicht auf Null, aber doch beträchtlich. Aber unabhängig von all diesen Listen waren die Kriegsverluste unter den Spitzenfußballspielern noch immer hoch. Herberger konnte und wollte sich auch keineswegs für alle einsetzen. Insgesamt starben im Krieg 48 deutsche Nationalspieler.10 Zugleich formierte sich in den letzten Jahren Herbergers als Reichstrainer so etwas wie eine Kohorte an Spitzenfußballspielern, die nach dem Krieg nochmals als Spieler, aber auch als Trainer oder als Fußballfunktionäre die Fußballlandschaft der jungen Bundesrepublik mitprägten, durchaus in Analogie zu jenen jungen Managern, die ab 1942 Albert Speer zuarbeiteten, den Rüstungsoutput in den letzten Kriegsjahren in die Höhe trieben und sodann führende Funktionen in der Rekonstruktionsphase der Wirtschaftswunderjahre inne hatten. Neben den Gebrüdern Fritz und Ottmar Walter aus Kaiserslautern, die nach 1949 stilprägend wirkten, sind etwa zu nennen der Nürnberger Max Morlock, bereits als Sechzehnjähriger 1941 in der bayerischen Gauliga eingesetzt, der Torwart der WM 1954 Anton („Toni“) Turek, oder der Schalker Hermann Eppenhoff, aktiver Spieler 1938 bis 1951, in der zweiten Kriegshälfte gleichfalls bei den „Roten Jägern“ untergebracht, in Bundesligajahren unter anderem Trainer beim VfB Stuttgart.
Der Bundestrainer der jungen Bundesrepublik Von der Spruchkammer Weinheim wurde Sepp Herberger im Entnazifizierungsverfahren am 21. September 1946 als „Mitläufer“ eingestuft. An ihn erging ein Sühnebescheid in Höhe von 500 Reichsmark, hinzu kamen die Kosten des Verfahrens in Höhe von 348,76 Reichsmark. Herberger beglich umgehend und legte die Quittung des Finanzamts Weinheim „sorgfältig zu seinen Akten“11. Etwas mehr als vier Jahre später kam es zum ersten Länderspiel einer westdeutschen Auswahl unter Herbergers Regie, am 22. November 1950 gegen die Schweiz, die den Deutschen Fußballbund zurück auf das internationale Parkett führte, auf den Tag genau acht Jahre nach dem letzten Länderspiel einer reichsdeutschen Auswahl. Herberger bemängelte, dass die Spieler nicht mehr die Kon9 10 11
Herzog, Markwart: Der „Betze“ unterm Hakenkreuz. Der 1. FC Kaiserslautern in der Zeit des Nationalsozialismus, Göttingen 2006, S. 180. Schulze-Marmeling, Dietrich (Hg.): Die Geschichte der Fußballnationalmannschaft, Göttingen 2004, S. 117. Leinemann, Jürgen: Sepp Herberger. Ein Leben, eine Legende, Berlin 1997, S. 289.
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dition besäßen, die in den Vorkriegsjahren Standard war. Hinsichtlich Taktik und Strategie orientierte er sich an dem, was Otto Nerz und er in den dreißiger Jahren aufgebaut hatten: „Unsere alte Nationalmannschaft war das lebendige Lehrbeispiel für das Spiel der Zukunft!!!“12 . In der Sprache der Volkswirtschaft: Herberger profitierte, wie auch die Wirtschaftswunderunternehmen der jungen Bundesrepublik, von einem – virtuellen – Kapitalstock, der Jahrzehnte zuvor aufgebaut worden war. Das Spiel gegen die Schweiz verlief unspektakulär und endete ebenso unspektakulär durch ein Elfmeter-Tor von Herbert Burdenski. Spektakulär war freilich die Zuschauerzahl von 110 000. Sie dürfte im Westdeutschland der Nachkriegszeit bis heute nicht mehr übertroffen worden sein. Ähnlich hohe Zuschauerzahlen gab es allenfalls – im Zeichen des „real existierenden Sozialismus“ – im Leipziger Zentralstadion. Wie Herberger im Fußball starteten in der Konsumgüterwirtschaft jetzt viele durch, die bereits in den zwanziger und dreißiger Jahren begonnen hatten, denen sich nun aber unter den Rekonstruktionsbedingungen des Wiederaufbaus völlig neue Marktchancen boten: Im Versandhandel etwa Gustav Schickedanz und Josef Neckermann, in der Unterhaltungselektronik Max Grundig und beim Sport, namentlich bei den Fußballschuhen, die Gebrüder Dassler aus der fränkischen Kleinstadt Herzogenaurach. Die Gebrüder Dassler waren mit ihrem Sportschuhangebot bereits bei den Olympischen Spielen 1928 in Amsterdam präsent gewesen, nach dem Ersten Weltkrieg das erste große Sportereignis, an dem Deutschland, zugleich mit seiner Fußballnationalmannschaft, wieder hatte teilnehmen können. Schon in den dreißiger Jahren hatten sie intensive Beziehungen zur damaligen Nomenklatura im deutschen Sport aufgebaut, aber zugleich den Leichtathletikstar und vierfachen Goldmedaillengewinner der Olympischen Spiele von Berlin 1936, Jesse Owens, mit technisch überlegenem Schuhmaterial beliefert. Owens war nicht nur Amerikaner, sondern, was viel schwerer wog, Farbiger und zugleich der Liebling des Publikums im Berliner Olympiastadion – insgesamt eine Provokation für Adolf Hitler. „Owens holt vier Goldmedaillen in Dasslers Schuhen. Hitler ist so verärgert, dass er die Besucherbox verlässt und aus dem Stadion stürmt. Aber Dassler kann weiter unbehelligt seinen Geschäften nachgehen.“13 Ende der vierziger Jahre trennten sich die Gebrüder Rudolf und Adolf Dassler unter denkbar feindseligen Umständen. Adolf Dassler, der Begründer von Adidas, war der Typus des begeisterten Sportlers und unentwegten handwerklichen Tüftlers. Im ständigen Gespräch mit Hochleistungssportlern und Trainern, Fußballspielern wie Leichtathleten, verbesserte er in einer Sieben-Tage-Arbeitswoche stetig seine Modelle. Die Stars und Lieblinge des Hauses erhielten ohnehin maßangepasste Schuhe. Und um Adidas entwickelte sich eine Kultur familiärer Nähe eines großen Teils der deutschen Spitzensportler, insbesondere der Spitzenfuß12 13
Zitiert nach Leinemann, Jürgen: Sepp Herberger. Ein Leben, eine Legende, Berlin 1997, S. 291. Smit, Barbara: Drei Streifen gegen Puma. Zwei verfeindete Brüder und der Kampf um die Weltmarktführerschaft, Frankfurt a.M. und New York 2005, S. 55.
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baller, auf der Zeitachse gewissermaßen über drei Generationen hinweg, verkörpert von den Namen Fritz Walter, Uwe Seeler und Franz Beckenbauer. Sepp Herberger wurde nicht nur Teil, sondern als führender deutscher Fußballstratege wesentlicher Faktor dieser im Schwergewicht süddeutschen Netzwerkstruktur. Kriegsende und Kriegsfolgen brachten insgesamt eine Verlagerung der politischen, ökonomischen und kulturellen Schwerpunktbildungen in Deutschland nach West und Süd mit sich. Siemens zum Beispiel emigrierte von Berlin nach Erlangen und München. Diese Verlagerung galt in hohem Maße auch für den Fußball und seine Strukturen, mit Ausnahme vor allem des Hamburger Sportvereins und seiner Spitzenmannschaft um den Trainer Mahlmann und die Spieler Seeler und Dörfel. Sepp Herbergers Affinität zum 1. FC Kaiserslautern und zur „Walterelf“ der frühen fünfziger Jahre kam insofern nicht von ungefähr, sie war offenkundig auch Teil einer weiteren regionalen Netzwerkbildung. Die starke Figur bei Adidas neben Adolf Dassler war seine Frau Käthe, eine Pfälzerin. Adolf Dassler hatte sie, die Tochter eines seiner Ausbilder, beim Besuch der Schuhfachschule in Pirmasens zu Beginn der dreißiger Jahre kennengelernt. Pirmasens und Kaiserslautern verband zwar von den dreißiger Jahren bis in die fünfziger Jahre eine der unerbittlichsten Nachbarschaftsrivalitäten im deutschen Fußball, wohl noch viel härter als in München zwischen dem 1. FC Bayern und den TSV 1860, vergleichbar etwa den Aversionen zwischen Eintracht Frankfurt und den Offenbacher Kickers, die gleichfalls die Oberligazeiten der fünfziger Jahre prägten. Die Wege trennen sich erst endgültig, als der 1. FC Kaiserslautern 1963 Gründungsmitglied der Bundesliga wurde, während der FK Pirmasens zur Unterklassigkeit verdammt blieb. Vieles spricht dafür, dass die kulturelle, auch phonetische Nähe zwischen dem Kurpfälzer Sepp Herberger und den linksrheinischen Pfälzern aus Kaiserslautern und Pirmasens manches erleichtert hat. Und Käthe Dassler verfügte über ein Talent, das bis heute als geradezu einzigartig geschildert wird. Sie war gewissermaßen eine strategische Gastgeberin, Herz und Motor der „Adidas-Familie“, der wichtigsten kommunikativen Verknüpfung im westdeutschen Sport der fünfziger bis achtziger Jahre unter Einschluss seines gesamten institutionellen und medialen Gefüges. Dieser Verbund stellte zweifellos eine spezifische Form der sogenannten „Deutschland AG“ dar, in ihrem Bereich wohl mindestens so wirksam und schlagkräftig wie die Verknüpfung der Industriekonzerne an Rhein und Ruhr mit den großen Banken in Frankfurt am Main. Sepp Herberger und Adolf wie Käthe Dassler waren zentrale Figuren dieses Teils der „Deutschland AG“. Für das „Wunder von Bern“ 1954 gab es ein ganzes Bündel an sachlichen und technischen Gründen, von der Unwägbarkeit jedes Fußballspiels ganz abgesehen. Einer dieser Gründe waren Adolf Dasslers Schraubstollen, eine bahnbrechende Innovation jener Jahre. Dassler, der Industrielle und Handwerker, saß immer dabei auf der Trainerbank neben Herberger, neben dem Masseur, neben den nicht eingesetzten Spielern, für Vergabe- und Wettbewerbsbehörden unserer Gegenwart wohl ein Gräuel. Heute ist ziemlich klar erkennbar, dass das Prinzip der Schraubstollen, auswechselbare Stollen je nach Witterung und Bodenverhältnissen, von Rudolf Dasslers Firma Puma früher eingeführt wurde. Aber Adolf Dassler war eben der privilegierte Verbündete im Netzwerk um den DFB.
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Es gab noch weitere ebenfalls technische bzw. taktische Gründe, die den unbestreitbaren Qualitätsunterschied zwischen der ungarischen und der deutschen Elf ausgleichen sollten. Herberger studierte die Ungarn bei ihrem vermeintlich größten Triumph, dem 6 : 3 Sieg im Londoner Wembleystadion vom 25. November 1953 über die englische Nationalmannschaft, der ersten englischen Niederlage auf heimischen Boden gegen eine kontinentale Auswahl überhaupt. Herberger achtete, im Gegensatz zu nahezu allen anderen Beobachtern, nicht auf die sechs ungarischen Traumtore, sondern auf die drei Treffer, die sich die ungarische Hintermannschaft einfing. Er beobachtete bei den Ungarn Schwächen in der Abstimmung zwischen Abwehr und Sturm, insbesondere auf der linken Seite, und er verfügte mit dem Hamburger Jupp Posipal, einem Rumäniendeutschen aus Siebenbürgen, über einen des Magyarischen kundigen Spieler, der die Ungarn im Finale von Bern buchstäblich belauschen konnte. Und dann ließ er am 20. Juni 1954 in Basel eine B-Elf im Gruppenspiel gegen Ungarn antreten, die hilflos war, mit 3 : 8 unterlag, den künftigen Gegner in Sicherheit wog und die Kräfte der eigenen, nicht eingesetzten Stars schonte. War das alles unsportlich, unfair und damit letztlich unmoralisch oder klug, effizient und richtungsweisend? Einer der journalistischen Wegbegleiter Sepp Herbergers, der jahrzehntelange Hauptabteilungsleiter Sport beim Südwestfunk Baden-Baden, Rudi Michel – auch er Teil des südwestdeutschen Netzwerkes um Kaiserslautern und Sepp Herberger – druckte in seinen Erinnerungen an die Schweiz 1954 in Faksimile zwei Briefe eines Fußballanhängers an den Bundestrainer aus diesen bewegten Wochen ab. Nach dem ersten Ungarnspiel hieß es: „Den Fußballanhängern können Sie keinen größeren Gefallen tun, als sofort zu verschwinden, denn Sie haben mit ihrer Handlungsweise das Ansehen des deutschen Fußballsports auch im Ausland aufs schwerste geschädigt.“ Schon zwischen dem Halbfinale in Basel, das die Herberger Elf mit 6 : 1 gegen Österreich gewann, und dem Endspiel in Bern schrieb der Autor erneut an den Bundestrainer: „Die Vorwürfe nehme ich (…) mit Bedauern zurück und gratuliere Ihnen und der ganzen Mannschaft zu den bisherigen großen Erfolgen.“14 Gewiss war Herberger ein Systematiker, der über Jahrzehnte die gesamte deutsche Fußballlandschaft akkurat beobachtete und in seinem zum Mysterium werdenden Notizbuch Detail an Detail fügte. Aber er sah die Dinge und insbesondere die Figuren nicht nur abstrakt. Es kann keinen Zweifel daran geben, dass er auch parteiisch war. Fritz Walter wollte er 1962 noch mit 42 Jahren in Chile einsetzen, obwohl „der Fritz“ nicht einmal mehr in der ersten Mannschaft auf dem Betzenberg spielte. Herbergers Netzwerk hatte durchaus feudale Züge. Akzeptanz fand, wer ihm hörig war, wer seinen Vorgaben für einen kleinbürgerlich-soliden Lebenswandel folgte, möglichst ohne Alkohol, sexuelle Eskapaden, ohne Vereinswechsel und ohne ökonomische Experimente. Wenn es der Sache, dem Erfolg, nützte, dann konnte er „Sünder“ schmoren lassen und sodann begnadigen, so dass sie sich ihm besonders verpflichtet fühlten, wie Helmut Rahn, den Schützen des dritten Tores von Bern, nach seinen kleinen wie größeren Vergehen. Das war 14
Zitiert nach Michel, Rudi: Deutschland ist Weltmeister! Meine Erinnerungen an das Wunder von Bern 1954, München 2004, S. 44 und S. 62.
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Ausdruck von Herbergers spezifischer Pädagogik, ebenso wie Rahns und Walters Unterbringung im Doppelzimmer 1954 in Spiez. Ihre ganz gegensätzlichen Charaktere sollten die jeweiligen Defizite ausgleichen und einander wechselseitig Disziplin wie Selbstbewusstsein vermitteln. Dies alles geschah zugleich in einem sehr überschaubaren, patriarchalisch geordneten Rahmen. Wer hingegen in den fünfziger und sechziger Jahren buchstäblich Grenzen überschreiten wollte, ins Ausland ging und dort das große Geld zu machen suchte, verlor schnell Herbergers Gunst und wurde nicht bzw. nicht mehr aufgestellt. Das hatte wohl kaum etwas mit einem sehr herkömmlichen deutschen Nationalismus zu tun, es war vielmehr eine Stilfrage. Man blieb zu Hause, nährte sich redlich, war aber nicht gierig und verharrte in vertrauten Verhältnissen. Auch die prominenten Spieler sollten in der angestammten Region bleiben, in Kaiserslautern, in Nürnberg und Fürth, in Frankfurt, in Gelsenkirchen und Essen, beim HSV in Hamburg. Zu Herbergers einschlägigen Vorstellungen erscheint gerade die Kultur des Heimatfilms der fünfziger und frühen sechziger Jahre als geeignete Referenzebene. Es gab bei alldem zwar keine Revolution, jedoch eine gewisse Evolution. Schon die Nationalmannschaft von 1954 wirkte in gewisser Weise auch kulturell progressiv im Rahmen dessen, was die frühe Bundesrepublik in dieser Hinsicht hergab. Helmut Rahn tanzte den „Boogie-Woogie“, Jazz-Instrumente wie das Saxophon erklangen im Trainingslager in Spiez am Thuner See. Nicht rigider, schon gar nicht antiwestlicher Nationalismus bestimmte somit Sepp Herberger und sein Umfeld, sondern die Fokussierung auf ein Klima, das durch Nestwärme und Überschaubarkeit geprägt war. Daraus erklärt sich seine Aversion gegen das Ferne und nicht Verfügbare. Deutschlands wohl bester Torhüter in den fünfziger Jahren, Bernd Trautmann, den die Kriegsumstände auf die britische Insel verschlagen hatten und der sich dort in der ersten Liga verdingt hatte, erhielt nie eine Chance, in der Nationalmannschaft zu spielen. Als Albert Brülls nach der Fußballweltmeisterschaft 1962 nach Modena wechselte, fand er bis zu Herbergers Ausscheiden als Bundestrainer keine Berücksichtigung mehr. Als 1961 Inter Mailands Trainer Helenio Herrera Uwe Seeler mit einer Million DM netto Handgeld über die Alpen locken wollte, schaltete sich Sepp Herberger ein, riet nicht nur ab („Sie sind nicht der Typ, Uwe, der in einem anderen Land klarkommt. Denken Sie dran: Zum Fremdenlegionär muss man geboren sein“15 ), sondern zog wohl mit die Fäden für ein Arrangement, das Uwe Seeler zum Adidas-Repräsentanten in Norddeutschland machte und ihn damit ökonomisch zusätzlich absicherte – ein klassischer Fall für das Funktionieren des Sport-Netzwerkes in der alten Bundesrepublik. Kulturgeschichtlich erscheint Herberger somit als eine Figur im Übergang und damit durchaus zeittypisch. Seine Korrespondenzen aus den fünfziger und frühen sechziger Jahren mit den Nationalspielern muten heute in Diktion und Argumentation gewiss erheiternd-antiquiert an. Will man sie charakterisieren, dann wirken sie allerdings nicht militant im rauen Befehlston, wie das etwa bei Otto Nerz 15
Zitiert nach Seeler, Uwe: Danke, Fußball! Mein Leben, aufgezeichnet von Köster, Roman, Hamburg 2003, S. 49.
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der Fall gewesen wäre, sondern autoritär-patriarchalisch. Vor allem aber: Herberger war und blieb stets misstrauisch. Er wollte alles und jeden beobachten können und fürchtete nichts so sehr, als dass die Spieler ihm entglitten – was in Zeiten von vier Oberligen bis 1963 in Westdeutschland, mit wenigen Fernsehaufzeichnungen und ohne E-Mailverkehr ja auch leicht möglich war. Nach der Weltmeisterschaft 1954 ging er mit den Nationalspielern hart ins Gericht, um zu verhindern, dass sie sich auf ihren Lorbeeren ausruhten. Jupp Posipal wurde schriftlich mitgeteilt: „Sie sind nicht in bester Kondition. Gute Kondition zeigt sich nicht nur in einem entsprechenden Körpergewicht, sondern vielmehr in anderen Dingen, die ihren Sitz im geistig-seelischen haben.“ Der Kölner Hans Schäfer erfuhr kurz und bündig: „Was früher Ihre Stärke war, ihr Drang zum Tor, Ihr explosiver Körpereinsatz im Kampf um den Ball, sucht man heute vergebens in Ihrem Spiel (…). Wie schon so oft möchte ich auch heute wieder darauf hinweisen, dass nur erhöhte Anstrengungen die früheren Leistungen zurückbringen. Auf der Weltmeisterschaft waren Sie im Urteil aller Sachkenner mit der beste Linksaußen. Sie waren Weltklasse. Heute sind Sie weit davon entfernt.“16 Herberger verkörperte – und auch das lässt ihn als Figur im Übergang erscheinen – den gesunkenen Stellenwert des Nationalen im deutschen Bürgertum wie im deutschen Kleinbürgertum nach 1945, in Ansätzen vermutlich schon zuvor. Mit den deutsch-nationalen Sprüchen von DFB-Präsident Peco Bauwens beim Empfang im Münchner Löwenbräukeller nach dem Sieg in Bern hatte er wohl nichts am Hut. Gewiss alles andere als ein Intellektueller – dass der Fußball schon an sich ein Politikum darstellt, wurde ihm wohl nie richtig bewusst – besaß er doch einen Instinkt dafür, wo sittliche Grenzen lagen und dass Geschichte Konsequenzen zeitigen musste. „Helmut Haller erinnerte sich, dass er nach einem Länderspiel gegen Polen in Hamburg in den sechziger Jahren von Herberger kalt geschnitten und mehrere Spiele lang nicht mehr aufgestellt wurde, weil er – nach einem den Polen zugesprochenen Einwurf – wutentbrannt den polnischen Gästen den Ball vor die Füße geknallt hatte. So etwas, machte ihm Herberger klar, könne sich ein deutscher Spieler nicht erlauben, nach allem, was vorgefallen sei.“17
Resumée Vergleichend wie bilanzierend wird man feststellen können, dass bei Herberger professionelle Kontinuität mit dem Aufbau von etwas doch weithin Neuem, der westdeutschen Bundesrepublik, durchaus im Einklang stand. Die weitere Ablösung, was Einstellungen und Lebenshaltung anbelangte, erfolgte erst nach ihm, bemerkenswerter Weise in zeitlicher Parallele zum Ende der Ära Adenauer und einer deutlichen politisch-kulturellen Neujustierung der Republik. Zugleich hat der Mythos von Bern 1954, weithin gelöst vom realen sportlichen bzw. historischen Geschehen, alles Folgende überlebt und sich in hohem Maße verselbstständigt. Denn legt man die Ergebnisse bei den Fußballweltmeisterschaften zu 16 17
Zitiert nach Seeler, Uwe: Danke, Fußball! Mein Leben, aufgezeichnet von Köster, Roman, Hamburg 2003, S. 33. Leinemann, Jürgen: Sepp Herberger. Ein Leben, eine Legende, Berlin 1997, S. 274.
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Grunde, dann war Herberger durchaus kein überdurchschnittlich erfolgreicher Trainer. Bei vier Weltmeisterschaftsteilnahmen unter seiner Verantwortung blieb er zweimal, 1938 in Frankreich und 1962 in Chile, erfolglos, 1958 in Schweden errang er hingegen mit dem vierten Platz einen respektablen Erfolg, der „nur“ weithin vergessen ist, da er durch das Geschehen vier Jahre zuvor in der Schweiz überstrahlt wurde. Die reine Datenlage ist aber für den ungeliebten Nachfolger Helmut Schön sehr viel positiver: 1966 in England zweiter Platz, 1970 dritter in Mexiko, 1974 im eigenen Land Fußballweltmeister, erst 1978 in Argentinien vorzeitig gescheitert. Und selbst Franz Beckenbauer, dem man gewiss nicht zu nahe tritt, wenn man seine reflektiert-methodische Kompetenz nicht allzu hoch veranschlagt, übertraf den Strategen und Techniker Herberger deutlich. Verantwortlich für die Nationalmannschaft bei „nur“ zwei Weltmeisterschaften und dabei 1986 in Mexiko der zweite Platz, 1990 in Italien der Titelgewinn – eine einsame Spitzenbilanz. So ist es letztlich doch der Kairos, auf den es ankommt: Herberger war, obwohl der am längsten amtierende Trainer für die schwarz-weiße Elf, in der Retrospektive weitestgehend der Mann von 1954, selbst wenn wir heute wissen, dass das Geschehen damals das Bewusstsein der zweiten Republik von sich selbst in deutlich geringerem Maße beeinflusst und geprägt hat, als es in der Rückschau so gerne verklärt wird. Und obwohl gewiss keine Figur vom Range Konrad Adenauers, trifft in abgewandelter Form auf ihn eben doch auch zu, was Hans-Peter Schwarz über die Person des ersten Bundeskanzlers und die nach ihm benannte Ära resümiert hat: „Dies war die geschichtliche Stunde einer […] vertrauenerweckenden Vaterfigur […]. Er rief nicht zur revolutionären Erneuerung auf, sondern plädierte für evolutionäre Verbesserung. Einerseits erwies er sich als Garant der Stabilität, entfaltete aber andererseits genügend Durchsetzungsvermögen und Innovationsfähigkeit, um mit den schwierigen Aufgaben der Nachkriegszeit fertig zu werden.“18 Adenauer und Herberger sind einander nie persönlich begegnet, Herberger hätte das gerne gehabt, Adenauer war nicht sehr interessiert. Und Adenauer, der sich wohl vieles vorstellen konnte, aber gewiss nicht, dass es einmal eine Bundeskanzlerin gäbe, die die Umkleidekabine der Nationalmannschaft aufsucht, sah im massenmedial vermittelten Sport eher ein Problem denn eine Chance. „Sie kommunizierten sozusagen immer nur indirekt. Der greise Adenauer freute sich, wann immer Herberger durch eine Niederlage die Angst vor den Deutschen bei seinen politischen Gesprächspartnern gemindert hatte. Auch das vergleichsweise schlechte Abschneiden bei der letzten WM fand der Bundeskanzler nicht nur negativ. ,Mit Chile ist dat so eine Sache. Ein Sieg kann einem Land so viele Feinde bringen, dass die Diplomaten Monate brauchen, um dat wieder auszubügeln…‘“19
18 19
Schwarz, Hans-Peter: Die Ära Adenauer. Epochenwechsel 1957 bis 1963, Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 3, Stuttgart 1983, S. 358. Leinemann, Jürgen: Sepp Herberger. Ein Leben, eine Legende, Berlin 1997, S. 422.
Sepp Herberger
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Weiterführende Literatur Leinemann, Jürgen: Sepp Herberger. Ein Leben, eine Legende, Berlin 1997. Mikos, Lothar und Nutt, Harry: Als der Ball noch rund war. Sepp Herberger – ein deutsches Fußballeben, Berlin 1998. Brüggemeier, Franz-Josef: Zurück auf dem Platz. Deutschland und die Fußball-Weltmeisterschaft 1954, München 2004. Raithel, Thomas: Fußballweltmeisterschaft 1954. Sport – Geschichte – Mythos, München 2004.
Hinweise zu den Quellen Der umfangreiche Nachlass Sepp Herbergers sowie zahlreiche andere einschlägige Bestände zu seinem Wirken befinden sich im Archiv des Deutschen Fußballbundes.
Anselm Doering-Manteuffel
Protagonist kritischer Demokratiewissenschaft zwischen Weimar, Washington und West-Berlin – Franz L. Neumann (1900–1954) Franz Leopold Neumann gehört zu den großen Unbekannten in der Demokratiegeschichte des 20. Jahrhunderts. Eine sperrige Persönlichkeit von genialer Intellektualität, musste der Jurist vom Jahrgang 1900 nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten ins Exil fliehen, denn er entsprach deren ideologischem Feindbild in geradezu idealtypischer Weise. Neumann war ein marxistisch orientierter Intellektueller. Er arbeitete als Jurist für den Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbund und vertrat dessen Interessen gegen die mehrheitlich deutschnationale und demokratiefeindliche Rechtsprechung in den Spätjahren der Weimarer Republik 1927 bis 1933. Und er war jüdisch. Zusammen mit seinem Freund und Partner als Gewerkschaftsanwalt Ernst Fraenkel, sodann mit Herbert Marcuse, Otto Kirchheimer, Carl Schorske, Felix Gilbert und in kritischer Auseinandersetzung mit dem Leiter des nach New York verlegten Frankfurter Instituts für Sozialforschung, Max Horkheimer, war Neumann als Emigrant in den USA während der 1940er Jahre maßgeblich daran beteiligt, Deutschlands Weg vom Ersten Weltkrieg ins Dritte Reich zu analysieren sowie Perspektiven für die ideelle und politisch-gesellschaftliche Neuordnung nach 1945 zu erarbeiten. Mit seiner hohen juristischen Kompetenz entwarf er Kriterien für die Anklage und Prozessführung des Nürnberger Militärtribunals. In seiner Funktion als Full Professor für Public Law and Government im Department of Political Science der Columbia University in New York beteiligte er sich mit großem Engagement am Aufbau der Freien Universität Berlin, insbesondere an der Grundlegung des Fachs Politologie als Demokratiewissenschaft, und an der ideellen Westorientierung der Berliner Studenten. Einer von Neumanns Schülern während seiner Gastaufenthalte in Berlin war der junge Gerhard Schulz, der nachmalige erste Direktor des Tübinger Seminars für Zeitgeschichte und der akademische Lehrer von Udo Wengst, dem der vorliegende Sammelband gewidmet ist. Zeitgeschichte als historische Analyse des Scheiterns der Demokratie in der Weimarer Republik war für Schulz immer eingebunden in das Nachdenken über die Genese der Demokratie in Amerika, ihren Modellcharakter und ihre Bedeutung als Gegenbild für die deutsche Entwicklung. Schulz bezeichnete Franz Leopold Neumann als denjenigen Intellektuellen, der ihn am stärksten geistig prägte. Da auch Udo Wengst in seinen Forschungen zur Ära Brüning und zur Frühgeschichte der Bundesrepublik in den Spuren von Schulz – und Neumann – den Belastungen, Chancen und Risiken der Demokratie in Deutschland nachgespürt hat, dürfte es lohnend sein, zu seiner Festschrift eine Skizze zu Neumanns Biographie, seinem Werk und dessen Wirkungsgeschichte beizusteuern.
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Ein junger, aufstrebender Republikaner Neumann stammte aus Kattowitz. Die Familie gehörte zum Stand der Handwerker und Kleinhändler, wo sich die Juden sammelten, weil ihnen im deutsch-polnischen Ostmitteleuropa noch im späten 19. Jahrhundert der Weg in gesellschaftlich bessergestellte Berufe meist versperrt war. In Königshütte machte er 1917 Abitur, begann das Studium in Breslau mit den Fächern Philosophie, Wirtschaftsund Rechtswissenschaften. Seit 1919 studierte er in Frankfurt am Main, das zur ersten prägenden Station seines wissenschaftlichen Lebens werden sollte. Hier trat er in die SPD ein, in der er sich frühzeitig auf die Seite des reformistischen, nicht des revolutionären Flügels stellte. Der Schwerpunkt seiner Studien lag auf der Rechtstheorie. Die Dissertation aus dem Jahr 1923 behandelte das „Verhältnis von Staat und Strafe“. Entscheidend für Neumann wurde danach die dreijährige Zeit als Assistent bei Hugo Sinzheimer während des juristischen Referendariats von 1924 bis 1927, denn Sinzheimer hatte maßgeblichen Anteil an der Ausformung des deutschen Arbeitsrechts, nachdem er als Abgeordneter der Weimarer Nationalversammlung den Wirtschaftsteil der Reichsverfassung mitgestaltet hatte. Die Wurzeln von Neumanns theoretischer Orientierung an Karl Marx lagen im Studium, die praktische Umsetzung in sozialistisch-demokratischem Geist nahm er im Frankfurter Juristenseminar bei Sinzheimer in sich auf. 1927 wechselte Neumann nach Berlin und betrieb dort gemeinsam mit Ernst Fraenkel eine Rechtsanwaltskanzlei beim Metallarbeiterverband. Er machte eine steile Karriere als Syndikus verschiedener Gewerkschaften im ADGB und wurde 1932 zudem vom Vorstand der SPD zum Syndikus der Partei berufen. Im Alter von 30 Jahren war Neumann zu einem intellektuell brillanten Repräsentanten des demokratischen Sozialismus im Deutschen Reich nach dem Ersten Weltkrieg geworden. Er verkörperte das vielleicht wichtigste Merkmal der Weimarer Republik als demokratisches und pluralistisches Gemeinwesen, den Ausbau der Sozialverfassung und die Sozialstaatlichkeit.1 Zugleich sah er die Mängel sowohl der Verfassung selbst als auch der Verfassungswirklichkeit zuvörderst in der Schwäche der Gewerkschaften und der SPD begründet. SPD und ADGB waren nicht in der Lage, den Feinden der Demokratie erfolgreich die Stirn zu bieten, wo immer diese in blinder Ablehnung einer liberalen Chance für Deutschland ihren Hass gegen Weimar und Versailles, gegen die behauptete Überformung des „deutschen Wesens“ mit westlicher Demokratie und sozialistischem Geist im politischen Klima zur Geltung brachten und dem Nationalsozialismus die Wege ebneten. Als Zeitgenosse des Niedergangs der Weimarer Republik sah Neumann allerdings weniger auf die reaktionären und antiliberalen Strömungen im bürgerlichen Lager, sondern nur auf den Durchbruch der NSDAP, den die Soziale Demokratie aus eigener Schwäche mit verschuldet habe. „Es ist nicht meine Aufgabe,“ schrieb er 1933 angesichts der Machtergreifung, „die Frage zu beantworten, ob die Arbeiterschaft nicht trotzdem hätte kämpfen sollen, ob nicht ein heroischer Untergang der Sache der Demokratie und des Sozialismus mehr geholfen hätte 1
Wirsching, Andreas: Die Weimarer Republik. Politik und Gesellschaft, München 2 2008, S. 24–31.
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als stillschweigende Ergebung. Aber es besteht kein Zweifel, daß das Schicksal von Freiheit und Demokratie nach zwei Jahren ,Politik des kleineren Übels‘ entschieden war. Die deutsche Demokratie hat Selbstmord verübt und ist gleichzeitig ermordet worden.“2
Schwierige Anfänge im Exil Neumann musste sich vom ersten Tag an im Dritten Reich bedroht fühlen und floh schon im Mai 1933 nach England. Hier liegen die Wurzeln des späteren Politikwissenschaftlers, weil er als deutscher Jurist im englischen Rechtssystem selbst dann nicht hätte Fuß fassen können, wenn sich ihm eine Arbeitsmöglichkeit geboten hätte. Die Unterschiede zwischen dem kontinentalen und dem englischen Rechtssystem ließen das einfach nicht zu. An der London School of Economics erhielt er die Möglichkeit, bei Harold Laski, dem prominenten Politologen und Mitglied der Labour Party, ein Doktorstudium aufzunehmen. Der General British Fund for German Jewry gab ihm ein Stipendium, das es Neumann und seiner Familie überhaupt erst ermöglichte, in England mit bescheidensten Mitteln zu überleben. Da er sich politisch gegen das Dritte Reich engagierte und versuchte, die Emigranten organisatorisch zusammenzuhalten, geriet er früh ins Visier des deutschen diplomatischen Dienstes, der eine hohe Professionalität darin entwickelte, die Emigranten zu bespitzeln und zu verfolgen. Auch das gehört zur Geschichte des Auswärtigen Amts unter dem Nationalsozialismus. Es wies die deutschen Auslandsvertretungen an, „das Tun und Treiben der sogenannten Emigranten mit Aufmerksamkeit zu verfolgen, wenn dabei auch selbstverständlich alles zu vermeiden ist, was dem Ansehen der Vertretung und ihrem Vertrauensverhältnis zur deutschen Kolonie abträglich werden oder einem Denunziantentum Vorschub leisten könnte.“3 In enger Abstimmung zwischen Auswärtigem Amt und Geheimem Staatspolizeiamt wurde Neumann die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt und seine Ausbürgerung im Frühjahr 1936 vollzogen. Mit dem Ablaufen seines Passes würde er staatenlos sein und noch viel schwerer in einem Zufluchtsland Arbeit finden als bisher schon. Noch bevor die Ausbürgerung vollzogen wurde, konnte Neumann seine politikwissenschaftliche Dissertation im Februar 1936 abschließen, die zunächst – sehr bezeichnend für das sich langsam entfaltende demokratietheoretische Bewusstsein – den deutschen Titel trug „Der Rechtsstaatsgedanke in der Periode des Liberalismus“, bevor der englische Titel gefunden war: „The Governance of 2
3
Neumann, Franz L.: Der Niedergang der deutschen Demokratie (1933), in: ders.: Wirtschaft, Staat, Demokratie. Aufsätze 1930–1954, Frankfurt a.M. 1978, S. 103–123, hier S. 119. Zitiert nach Intelmann, Peter: Zur Biographie von Franz L. Neumann, in: 1999. Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts 5 (1990), S. 14–52, hier S. 23. Zum weiteren Kontext der vom Auswärtigen Amt initiierten und kontrollierten Denunziation sozialistischer, kommunistischer und jüdischer Emigranten s. Conze, Eckart, Frei, Norbert, Hayes, Peter und Zimmermann, Moshe: Das Amt und die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik, München 2010, S. 42–51, S. 76–88 und passim.
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the Rule of Law“.4 Zur gleichen Zeit bemühte er sich darum, mit einem Einwanderungszertifikat in die USA zu gehen und erhielt darin die Unterstützung von Harold Laski und Max Horkheimer, der bereit war, Neumann ans Institut für Sozialforschung zu holen. Denn in Großbritannien sah Neumann für sich keine berufliche Zukunft, und er erkannte überdies, dass es in Europa keine entschiedene Politik gegen das nationalsozialistische Reich geben werde, vielmehr Anpassung, Suche nach Ausgleich und Arrangement mit dem Regime. Rückschauend beschrieb er das sehr klar: „Ich verbrachte die ersten drei Jahre (1933 bis 1936) in England, um nahe an Deutschland zu bleiben und den Kontakt nicht zu verlieren. Ich beteiligte mich an der politischen Arbeit der Flüchtlinge und absolvierte daneben ein Doktorstudium der Politischen Wissenschaften an der London School of Economics. Genau hier, in England, wurde mir klar, daß wir die Hoffnungen auf einen Sturz des Regimes von innen begraben mußten. Die Nichteinmischungs-Politik der offiziell herrschenden Gruppen in Großbritannien zusammen mit dem Pazifismus der damals in der Opposition stehenden Labour Party brachten mich und viele andere zur der Überzeugung, daß das NaziRegime statt schwächer eher stärker werden würde, und zwar mit Unterstützung der wichtigen Mächte in Europa. Deshalb mußte ein deutlicher Bruch vollzogen werden – psychologisch, sozial und ökonomisch. Ein neues Leben war zu beginnen. Allerdings war England nicht das richtige Land dafür. So sehr ich und all die andern England liebten, seine Gesellschaftsstruktur war überaus homogen und unbeweglich, die Veränderungschancen (besonders unter den Bedingungen der Arbeitslosigkeit) waren gering, und auch seine Politik sagte mir nicht sonderlich zu. So erschienen die Vereinigten Staaten als das einzige Land, in dem der Versuch vielleicht gelingen konnte, die dreifache Verwandlung zu bewerkstelligen – als Individuum, als Intellektueller und als politischer Gelehrter.“5 Zum Zeitpunkt der Ausbürgerung befand sich Neumann bereits in den USA. Seine Arbeit am Institut für Sozialforschung begann am 15. April 1936. Auch hier waren die Anfänge schwierig, und die Verbindung zwischen Max Horkheimer und Neumann erwies sich als anhaltend kompliziert. In den ersten Jahren konnte er weit weniger seinen wissenschaftlichen Interessen nachgehen, sondern musste für das Institut administrative Aufgaben bewältigen, die ihm wegen seiner juristischen Kompetenz als Anwalt zugewiesen wurden.
Analyst und Gegner des Nationalsozialismus Bis 1939 hatte er sich die nötigen Freiräume jedoch geschaffen und arbeitete seither an seiner gewichtigen Studie über Struktur und Praxis des Nationalsozialismus, die er im August 1941 abschloss und 1942 unter dem Titel „Behemoth“ ver4
5
Neumann, Franz L.: The Governance of the Rule of Law. An Investigation into the Relationship between the Political Theories, the Legal System and the Social Background in the Competitive Society, Oxford 1936 [deutsch: Die Herrschaft des Gesetzes]. Neumann, Franz L.: Intellektuelle Emigration und Sozialwissenschaft (1952), in: ders.: Wirtschaft, Staat, Demokratie. Aufsätze 1930–1954, Frankfurt a.M. 1978, S. 402–423, hier S. 414 f.
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öffentlichen konnte.6 Das Buch wurde umgehend ein durchschlagender Erfolg und gewann enormen Einfluss als maßgebliche Analyse des nationalsozialistischen Deutschland. Es brachte Neumann den Ruf des führenden Experten ein und erschien 1944 in erweiterter Auflage, indem die Gliederung der ersten Auflage in einem neuen, mehr als hundertseitigen Text aufgenommen, die Thesen vertieft, Aussagen präzisiert und die Analyse bis in den Krieg hinein fortgeführt wurde. Neumanns „Behemoth“ war die erste und bis in die 1960er Jahre scharfsinnigste Darstellung des nationalsozialistischen Systems. Ernst Nolte nannte es 1967 die „kenntnisreichste und umfassendste Analyse des Nationalsozialismus, die bis heute das Licht erblickt hat.“7 Die Wirkungsgeschichte des Buchs ist nicht umfassend erforscht.8 In der NS-Forschung seit den 1950er Jahren bis zur Gegenwart wurde es kaum zitiert, wenn auch einzelne Thesen und vor allem Neumanns Strukturanalyse des NS-Systems in vielen historischen Darstellungen durchscheinen, insbesondere bei Martin Broszat, Hans Mommsen und Ian Kershaw. Neumann bestritt die anfänglich verbreitete Auffassung vom Dritten Reich als „totalem Staat“ und verwies statt dessen auf die umfassende Gesetzlosigkeit des Regimes in einem strukturellen Pluralismus, welche die Beherrschung der unterdrückten „Volksgemeinschaft“ durch vier weitgehend autonome Gruppen mit je eigener Verwaltungs- und Justizhoheit ermöglichte: Partei, Armee, Bürokratie und Industrie. Seine These vom „totalitären Monopolkapitalismus“ ließ die marxistischen Vorannahmen des Autors deutlich werden und brachte ihn mehr und mehr in Konflikt mit Horkheimer und Adorno im Institut für Sozialforschung, weil diese in weit stärkerem Maß zu psychologischen Erklärungen der nationalsozialistischen Konsensdiktatur neigten. Sie reagierten früher als Neumann auf den Grundsachverhalt, dass auch die USA ein kapitalistisches Land waren und der Kampf gegen den Nationalsozialismus kein Kampf primär gegen dessen Monopolkapitalismus sein konnte. In den Debatten über Faschismus und Nationalsozialismus, die Neumanns „Behemoth“ in den USA und zumal in der von zahlreichen Emigranten bereicherten Ostküsten-Intelligenz auslöste, zeigte sich bereits ansatzweise, welche ideellen Leitlinien in den Neuordnungsdebatten nach 1945 diesseits und jenseits des Atlantik dominieren würden. Es war der Rekurs auf Karl Marx und einen westlich, das heißt freiheitlich interpretierten Marxismus hier und auf Sigmund Freud und die psychoanalytische Erschließung der Gewaltpotentiale moderner Gesellschaften dort. Damit ist auch der geistige und institutionelle Horizont umrissen, in dem Franz Neumann seit dem Sommer 1942 seine Wirkung entfaltete. Es war die Research & Analysis Branch (R&A) des Office of Strategic Services (OSS) der Bundesregie6 7 8
Neumann, Franz L.: Behemoth. The Structure and Practice of National Socialism, New York 1942. Nolte, Ernst: Vierzig Jahre Theorien über den Faschismus, in: ders. (Hg.): Theorien über den Faschismus, Köln und Berlin 1967, S. 15–75, hier S. 63. Vgl. aber die eingehende soziologische Studie von Bast, Jürgen: Totalitärer Pluralismus. Zu Franz L. Neumanns Analysen der politischen und rechtlichen Struktur der NSHerrschaft, Tübingen 1999.
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rung in Washington, die 1941 nach dem Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg ins Leben gerufen worden war.9 Die R&A Branch war regional gegliedert. Die Central European Section wurde zum Arbeitsfeld Neumanns, wo er mit Herbert Marcuse und Otto Kirchheimer und einigen amerikanischen Kollegen wie H. Stuart Hughes und John H. Herz zusammenarbeitete. Die Aufgabe bestand zunächst darin, den nationalsozialistischen Staat und das polykratische Chaos des diktatorischen Systems durchschaubar zu machen. Die Wissenschaftler der R&A Branch arbeiteten fast ausschließlich mit öffentlich zugänglichem Material, Pressemeldungen, NS-Publikationen, Radiosendungen aus Deutschland, Flüchtlingsberichten, Aussagen von deutschen Kriegsgefangenen. 1944, im Umfeld der alliierten Landung in der Normandie und des Zusammenbruchs der Heeresgruppe Mitte in Russland, änderte sich die Perspektive. Jetzt ging es um Erwägungen zum Vorgehen gegen die Deutschen bei Kriegsende und beim Wiederaufbau nach der bedingungslosen Kapitulation. 1945 stand dann die Vorbereitung des Militärtribunals gegen die Hauptkriegsverbrecher im Zentrum der Arbeit. Die Central European Section der R&A Branch wurde innerhalb weniger Jahre zum wichtigsten think tank in den USA, der mit seinen Forschungen über die Gegner des freiheitlichen Westens ein atlantisches, amerikanisch-europäisches Modell für die Neuordnung Europas nach dem Sieg über den Faschismus erarbeitete. Gegnerforschung – zunächst gegen das nationalsozialistische Deutschland gerichtet, seit 1945 gegen die stalinistische Sowjetunion – sowie die ideelle Beeinflussung der Deutschen in Richtung auf den „liberalen Konsens“ beim Aufbau einer demokratischen Gesellschaft flossen hier zusammen. Antifaschismus, Antibolschewismus und „Westernisierung“ bildeten seit 1948 einen festen Zusammenhang. Neumann war eine der Schlüsselfiguren in der Anbahnung dieses Geschehens.10 Das begann in der dynamischen Phase des OSS während der Jahre 1944/45. Franz Neumann avancierte rasch zum intellektuellen Kopf der Central European Section und wurde von allen als solcher anerkannt. Natürlich spielte das Gewicht des „Behemoth“ und Neumanns darin begründete Kompetenz eine große Rolle. Mindestens ebenso wichtig war indessen seine scharfe Intellektualität, die es ihm leicht machte, hochkomplexe Sachverhalte so zu zergliedern, dass sie präziser Analyse zugänglich wurden. Immer unterschätzt und in der Forschungsliteratur oft gar nicht erwähnt, gleichwohl eminent wirkungsvoll erwies sich Neumanns Anteil an der Konzeption des Nürnberger Prozesses. Die Exper9
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Heideking, Jürgen und Mauch, Christof (Hg.): Geheimdienstkrieg gegen Deutschland. Subversion, Propaganda und politische Planungen des amerikanischen Geheimdienstes im Zweiten Weltkrieg, Göttingen 1993; Mauch, Christof: Schattenkrieg gegen Hitler. Das Dritte Reich im Visier der amerikanischen Geheimdienste, Stuttgart 1999. Es ist kein Zufall, dass diese Tübinger Forschungen in den 1980er Jahren von Gerhard Schulz als eine späte Reaktion auf die Einflüsse Neumanns angeregt wurden. Müller,Tim B.: Krieger und Gelehrte. Herbert Marcuse und die Denksysteme im Kalten Krieg, Hamburg 2010; Hochgeschwender, Michael: Freiheit in der Offensive? Der Kongreß für kulturelle Freiheit und die Deutschen, München 1998; Doering-Manteuffel, Anselm: Amerikanisierung und Westernisierung, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 18. 1. 2011, URL: https://docupedia.de/zg/Amerianisierung_und_Westernisierung?oldid=76659.
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ten im OSS wussten, dass sie gemäß dem liberalen Rechtsverständnis Individuen nur für persönlich nachweisbare Verbrechen zur Rechenschaft ziehen konnten. Wie also war die Führungsclique des Dritten Reichs strafrechtlich zu behandeln? Neumann nahm die Konzeption des „Führerstaats“ auf und machte sie für die Anklageerhebung nutzbar, wonach jeder „Führer“ im NS-System – von Hitler bis zum untersten Führer in den Gliederungen des Staats, der Partei, des Militärs – für alle angeordneten Maßnahmen persönlich die Verantwortung trug. Dieses Prinzip war gegen die Angeklagten zur Geltung zu bringen. In einem R&A-Dokument von 1945, das maßgeblich auf Neumann zurückging – die R&A-Analysen waren nicht namentlich gekennzeichnet –, führte er diesen Gedanken aus, den wir später in der Praxis des Militärtribunals wiederfinden können.11 „Seiner Struktur und Funktion nach war der Nazistaat so beschaffen, daß zwar alle Macht und Autorität bei Hitler als dem Führer lagen, aber zugleich ein hohes Maß an unumschränkter Macht von bereichsspezifischen ,Unterführern‘ ausgeübt wurde. Diese waren nicht so sehr willenlose Werkzeuge von Hitler und anderen hohen Funktionären der Hierarchie als vielmehr Mitarbeiter im Nazisystem, und als solche waren sie für die Formulierung umfassender politischer Maßnahmen in ihrem jeweiligen Kompetenzbereich verantwortlich. Je mehr derlei Maßnahmen mit einer politischen Intention verknüpft waren, desto freier waren sie von rechtlichen Beschränkungen und desto geringer war die Wahrscheinlichkeit, daß irgendwelche spezifischen Anordnungen der politischen Führung an die ausführenden Untergebenen ergingen. Es fehlten also direkte Anordnungen, oft sogar bei der politischen Führung jegliche Kenntnis davon, welche Methoden bei der tatsächlichen Ausführung politischer Pläne angewendet wurden. Es wird daher erhebliche Schwierigkeiten bereiten, die Führer nach herkömmlichen juristischen Prinzipien zu belangen.“ […] „Einer der Gründe, warum das Nazi-System sich nicht vor allem auf ausdrückliche Befehle, sondern eher auf die Beachtung und Befolgung impliziter politischer Grundsätze stützte, liegt in der faktischen Illegalität oder Amoralität der Mehrzahl seiner politischen Maßnahmen. So wäre es z.B. aus Sicherheitserwägungen wie aus Gründen der Propaganda nach innen und außen nicht ratsam gewesen, die Politik der Judenvernichtung, einschließlich ihrer ,technischen‘ Einzelheiten (der systematischen Verschleppung, der Errichtung von Gaskammern, der Beseitigung und der ,Verwendung‘ der Leichen usw.), in schriftliche Anweisungen zu fassen, die von der Spitze der politischen Entscheidungsgewalt bis hinunter zu den ausführenden Organen an der Basis hätten vermittelt und spezifiziert werden müssen. Daher formulierte man an der Spitze allgemeine politische Richtlinien und verließ sich bei deren Durchsetzung auf die politischen Unterführer, ohne daß diese konkrete Anweisungen empfangen hätten.“ […] „Betrachtet man die hierarchische Struktur der nazistischen Führungsorganisation auf der einen Seite und den breiten und undefinierbaren Entscheidungsspielraum, der dem Führer bei der Verwirklichung politischer Leitideen zukam, 11
Führerprinzip und strafrechtliche Verantwortung (R&A Rep. Nr. 3110), in: Söllner, Alfons (Hg.): Zur Archäologie der Demokratie in Deutschland. Bd. 1: Analysen von politischen Emigranten im amerikanischen Geheimdienst 1943–1945, Frankfurt a.M. 1986, S. 173–183. Die folgenden Zitate S. 173, S. 177 f., S. 181 ff.
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auf der anderen, dann scheint es möglich, einen neuen Begriff von Verantwortlichkeit für Taten zu entwickeln, die im Namen des politischen Programms der Nazis begangen worden sind. […] Ein solches System, so scheint es, weist die Verantwortung für alles, was bei der Ausführung der allgemeinen Richtlinien innerhalb der funktionalen und regionalen Zuständigkeitsbereiche geschieht, den Führern zu, unter deren Kontrolle diese Bereiche stehen, und zwar unabhängig davon, ob sie nachweislich besondere Anordnungen getroffen haben oder auch ob sie von den zur Ausführung der politischen Richtlinien gebrauchten Methoden gewußt haben. […] Die Nazis selbst haben diese Interpretation der Verantwortung von ,Führern‘ verfochten. So hat Hitler erklärt: ,Wer Führer sein will, trägt bei höchster unumschränkter Autorität auch die letzte und schwerste Verantwortung.‘ [Mein Kampf, S. 379] […] Die Verantwortlichkeit der Führer wurde von Nazi-Theoretikern weit über die strafrechtliche Verantwortung hinaus gefaßt. Deren Konzept zufolge hat der Führer über das, was die seiner Führung Anvertrauten tun, Rechenschaft abzulegen, selbst wenn sie in einem besonderen Fall gegen seine Anweisungen und ohne eine zurechenbare Schuld des Führers (Vorsatz oder Fahrlässigkeit) gehandelt haben. […] Das ,Gesetz‘, nach dem die Naziführer gehandelt haben, war in Wahrheit die Abwesenheit jeder rechtlichen Schranke. Ihre Handlungen standen in Gegensatz zu dem, was die überwiegende Mehrheit der Völker und Nationen für die Grundregeln von Recht und Moral halten. Diese Grundregeln auf die Naziführer anzuwenden, bedeutet nicht Rechtlosigkeit, sondern das Einklagen von Gerechtigkeit.“
Vordenker der Westernisierung und skeptischer Beobachter der jungen Bundesrepublik Wir beobachten an diesem Text, wie sich in der Auseinandersetzung mit „Struktur und Praxis“12 des NS-Systems Neumanns juristische Kompetenz bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs in immer stärkerem Maß in eine grundsätzliche Richtung entwickelte, deren Kern die politische Ordnung einer „gerechten“ Gesellschaft bildete. Hier wird der Politikwissenschaftler Franz Leopold Neumann sichtbar, der seit 1945 zu einem Vorkämpfer für die Erneuerung der Demokratie in Deutschland wurde. Indes: Welche Demokratie meinte Neumann? Wir stoßen hier auf die politisch-ideologische und ideengeschichtliche Dynamik, die sich seit 1939/41 in den Vereinigten Staaten im Kreise der europäischen Emigranten und im Kontext der amerikanischen Universitäten und Förderinstitutionen für die Wissenschaften entfaltete. Den US-amerikanischen Hintergrund bildete der New Deal, den Präsident Franklin D. Roosevelt 1933 zum Programm für Politik und Gesellschaft ausgerufen hatte, um die Folgen der Weltwirtschaftskrise seit 1929 in den Griff zu bekommen. Hier begann die große Zeit des Denkens und Handelns in den Kategorien des sozialen Liberalismus – eines Liberalismus, der sich seiner gesellschaftlichen Verantwortung bewusst war und die Interessen der Einzelperson programmatisch, politisch wie materiell, mit der Verpflichtung 12
Dies der Untertitel des „Behemoth“.
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auf das Gemeinwesen verband. Das Handlungsmuster des consensus liberalism und consensus capitalism war wegen seiner sozialliberalen und sozialstaatlichen Aspekte sehr gut geeignet, um den Emigranten aus Europa eine ideelle Heimat zu bieten, denn die Europäer – und zumal die Sozialisten unter ihnen – fühlten sich aufs engste mit der Tradition der Sozialstaatlichkeit verbunden. Neumann und Marcuse, um nur diese beiden führenden Köpfe in der Mitteleuropaabteilung der R&A Branch zu nennen, hatten sich bis 1933 für die Ausgestaltung der Sozialverfassung in der Weimarer Republik eingesetzt. Ihre Ideen gerieten in den USA nun in unmittelbare Konfrontation nicht nur mit dem System der Konkurrenzwirtschaft des freien Marktes, sondern auch mit einer Praxis der politischen Selbstbestimmung, welche den „liberalen Konsens“ mit Kapitalismus und Demokratie zum Modell eines demokratischen Sozialliberalismus integrierte.13 Hier liegt der Punkt, an dem die Entwicklung des deutschen Juristen und sozialistischen Rechtstheoretikers Neumann zum euro-atlantischen Politologen der modernen Demokratie zu erkennen ist. Die Erfahrung mit der Demokratie in der parlamentarischen Praxis und der deutschen Gesellschaft der Weimarer Republik bildete den einen Pol, die Erfahrung wirtschaftlicher und politischer Freiheit als gelebte Demokratie zumindest in der weißen Gesellschaft der USA markierte den anderen Pol. Daraus entstanden Vorstellungen über die Neuordnung Deutschlands nach dem Ende des Nationalsozialismus, wie sie Neumann nach 1945 vertrat. Es gehört zur Tragik seines Lebens, dass er sich Illusionen machte über die Möglichkeiten eines schnellen, tiefgreifenden Wandels in der deutschen Gesellschaft nach Hitler. Das Rückschwingen des Pendels politischer und gesellschaftlicher Ordnungsvorstellungen in die Zwischenkriegszeit und die Einsicht in die umfassend misslungene Entnazifizierung veranlassten Neumann in den späten 1940er Jahren zu der tief pessimistischen Auffassung, ein Neuanfang und die Chance zu einer grundlegend neuen Orientierung seien vertan.14 Doch er irrte. Die Dinge waren im Fluß, aber der Wandel im Denken und Handeln benötigte viel Zeit. Die gesellschaftlichen Ordnungsvorstellungen des New Deal bildeten die Grundlage für den Marshall-Plan, den die amerikanische Regierung in der Anfangsphase des Kalten Krieges verkündete. Hier wurde die Bereitstellung von Wiederaufbauhilfe nicht nur an die Verpflichtung der teilnehmenden europäischen Staaten gebunden, dass sie alle miteinander kooperieren und im Konsens über die Verteilung der Mittel unter sich entscheiden sollten – ganz gleich, ob sie im Krieg Gegner oder Verbündete gewesen waren. Der Marshall-Plan sah darüber hinaus vor, dass die europäischen Länder sämtlich Strukturen in der Staats- und Wirtschaftsordnung aufbauen würden, die mit denen der USA kompatibel sein 13
14
Edsforth, Ronald: The New Deal. America’s Response to the Great Depression, Malden, MA und Oxford 2000; Brick, Howard: Transcending Capitalism. Visions of a New Society in Modern American Thought, Ithaca und London 2006; Müller, Tim B.: Krieger und Gelehrte. Herbert Marcuse und die Denksysteme im Kalten Krieg, Hamburg 2010. Neumann, Franz L.: Die Umerziehung der Deutschen und das Dilemma des Wiederaufbaus (1947); Militärregierung und Wiederbelebung der Demokratie in Deutschland (1948); Deutsche Demokratie (1950), in: ders.: Wirtschaft, Staat, Demokratie. Aufsätze 1930–1954, Frankfurt a.M. 1978, S. 290–308; S. 309–326; S. 327–372.
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würden. Das sicherte den Amerikanern die Führung im entstehenden westlichen Block und unterband zugleich das Wiederaufleben jeglicher Art von politischer oder wirtschaftlicher Ordnung, die dem atlantischen Modell des amerikanischen „Empire by Integration“ zuwiderliefen.15 Die politökonomische Strategie wurde seit 1948/50 auf informeller Ebene höchst wirkungsvoll unterstützt durch die Protagonisten westlicher „Denksysteme“ im Kalten Krieg, die zum Teil aus dem Kreis der R&A-Intellektuellen hervorgingen und zum andern Teil zu den New York Intellectuals gehörten oder ihnen nahestanden. Das war eine Gruppe von ehedem kommunistisch orientierten Publizisten, die sich im Verlauf der 1930er Jahre, spätestens nach der Erfahrung des Hitler-Stalin-Pakts, von ihren prosowjetischen Einstellungen abkehrten und seit 1947 zu engagierten Kämpfern gegen die Expansion der Sowjetunion und die Ausweitung des Einflusses kommunistischer Intellektueller in Europa wurden. Sie waren oft Kinder jüdischer Einwanderer aus Osteuropa, die vor den Verfolgungen des Zarenreichs oder der Oktoberrevolution geflohen waren. Ähnlich wie die jüdischen Flüchtlinge vor dem Nationalsozialismus, die seit 1941 im OSS und an verschiedenen amerikanischen Universitäten tätig waren, verfügten sie über breite internationale Erfahrung. Sie kannten Europa, sahen den Sozialismus oder gar den Kommunismus als notwendiges Korrektiv zur kapitalistischen Wirtschaft an und waren zugleich doch so stark in die offene Gesellschaft der USA hineingewachsen, dass sie allen Formen von totalitärer Herrschaft, Diktatur und Unterdrückung der Freiheit mit offener Feindschaft gegenüberstanden. Aus beiden Gruppen entstanden Netzwerke, die in Europa – in Frankreich, Italien und Westdeutschland mit dem Zentrum in West-Berlin – tätig wurden und um die geistige Orientierung der westeuropäischen, nicht zuletzt der deutschen, Gesellschaft kämpften, mit dem Ziel, den Faschismus zu überwinden und dem Kommunismus Barrieren entgegenzustellen. Daraus erklärt sich, warum von hier aus die frühesten und einflussreichsten Impulse in Richtung einer liberalen und sozialen Demokratie ausgingen, wie sie in nahezu allen westeuropäischen Ländern nach einer Inkubationszeit von etwa 15 bis 20 Jahren zum Durchbruch kam. Die Elite des sozialliberalen Reformgeistes in Westdeutschland vom Parteipolitiker Willy Brandt bis zum Schriftsteller Siegfried Lenz gehörte seit den frühen 1950er Jahren diesen Netzwerken an. Im Aufbau der Freien Universität Berlin arbeiteten sie mit Vertretern des Rundfunks, der Presse, verschiedener Verlage und vor allem mit einer größeren Gruppe von Emigranten zusammen, die zum Teil als Remigranten – wie Willy Brandt, Otto Suhr oder Ernst Reuter – wiederum hier tätig wurden. Zu ihnen gehörte Franz Leopold Neumann. Ihr Anliegen war die Begründung eines neuen Verständnisses
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Lundestad, Geir: „Empire“ by Integration. The United States and European Integration, 1945–1997, Oxford 1998; Hogan, Michael J.: The Marshall Plan. America, Britain, and the Reconstruction of Western Europe 1947–1952, Cambridge 1987; Haberl, Othmar Nikola und Niethammer, Lutz (Hg.): Der Marshall-Plan und die europäische Linke, Frankfurt a.M. 1986.
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von Demokratie nicht nur als politische Ordnung, sondern auch als gesellschaftliche Aufgabe.16 Kehren wir deshalb zu Neumann zurück und beobachten wir sein Tun und seine Äußerungen in den späten 1940er und frühen 1950er Jahren. 1945 gehörte er für kurze Zeit zum American War Crimes Staff und wurde zum Leiter der „War Crimes Unit of OSS Europe“ in der Vorbereitung des Nürnberger Prozesses gegen die Hauptkriegsverbrecher ernannt. Neumann hatte sich nicht nach dieser Aufgabe gedrängt und dürfte es nicht bedauert haben, dass er im Zuge der Umstrukturierung des OSS im Herbst 1945, die Präsident Truman veranlasste, diesen Posten wieder preisgeben sollte. Seit 1946 lehrte er an der Columbia University (New York), wo er 1948 zum Visiting Professor und 1950 zum Full Professor ernannt wurde. Sein Fach, „Public Law and Government“, repräsentierte die Spannweite seines wissenschaftlichen Oeuvre und seiner praktischen Tätigkeit seit der Emigration, und es qualifizierte ihn für Gastdozenturen in Deutschland in der neuen Disziplin Politikwissenschaft. Neumann besuchte seit 1947 Deutschland in regelmäßigen Abständen. Wie manche seiner Kollegen der R&A Branch hatte er anfänglich geglaubt, dass es der alliierten Besatzungspolitik in Deutschland gelingen werde, die alten Führungsschichten in der Verwaltung, im Rechtswesen und der Wirtschaft durch neues Personal zu ersetzen. Die Analysen, die sie seit 1942 für das OSS geschrieben hatten, verleiteten sie zu der Annahme, dass es möglich sein würde, einen Elitenwechsel gewissermaßen auf einen Schlag herbeizuführen, wenn man nur genügend Klarheit darüber gewonnen hatte, wie die alten Eliten im Deutschen Reich gedacht und gehandelt hatten. Dass es „neue“ Eliten nicht von jetzt auf gleich geben konnte, hatten die Experten der R&A Branch nicht angemessen erwogen, und so musste Neumann beobachten, wie sehr die westlichen Militärregierungen auf den Rückhalt der etablierten Bürokratie angewiesen waren, wollten sie nicht die Besatzungszonen im Chaos versinken lassen. Das würde nur den kommunistischen Kräften nützen. Die Entnazifizierung hielt Neumann für wertlos, weil sie als Verwaltungsakt praktiziert wurde und nichts anderes als Indifferenz der Deutschen erzeugte. Die Abkehr von den ideologischen Grundsätzen war aber nicht mit einem Verwaltungsakt zu bewerkstelligen, die nationalsozialistische Propaganda mit all ihrer feindschaftlichen Parteinahme gegen den „Amerikanismus“17 saß in den Köpfen fest und konnte nur durch beharrliche Information über die politischen und gesellschaftlichen Lebensformen in den freien Gesellschaften der westeuropäischen Länder und der USA überwunden werden. Die Demokratie war in Deutschland nicht nur wegen Hitler diskreditiert, weil sie längst vor der nationalsozialistischen Machtübernahme gescheitert und schon durch Brünings 16
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Aus der umfangreichen Literatur sei hier nur auf zwei deutschsprachige Titel verwiesen: Müller, Tim B.: Krieger und Gelehrte. Herbert Marcuse und die Denksysteme im Kalten Krieg, Hamburg 2010; Hochgeschwender, Michael: Freiheit in der Offensive? Der Kongreß für kulturelle Freiheit und die Deutschen, München 1998. Wichtige Werke auf Englisch und Französisch stammen u.a. von Terry A. Cooney, Alexander Bloom, Alan M. Wald, Peter Coleman, Pierre Grémion, Charlotte A. Lerg und Maren M. Roth. Amerikanismus – eine Weltgefahr. Erarbeitet und herausgegeben vom Reichsführer SS/SS Hauptamt, Berlin 1944.
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Anlauf auf eine Präsidialdiktatur beseitigt worden war. Im Wiederaufbau nach 1945 agierten die neu gegründeten Parteien unter dem Souveränitätsvorbehalt der Siegermächte, und das politische Personal repräsentierte keine neue Elite, sondern entstammte dem überschaubaren Kreis sozialdemokratischer, zentrumskatholischer und linksliberaler Demokraten, die in Weimar seit 1920 immer in der Minderheit gestanden hatten. Neumann beurteilte die Entwicklung zur Demokratie in den westlichen Zonen mit tiefem Pessimismus. In seiner Studie aus dem Jahr 1950 über „Deutsche Demokratie“ formulierte er einen frühen Grundlagentext für die These vom „restaurativen Charakter der Epoche“, die seit 1950 – seit dem Beginn der öffentlichen Debatte über einen westdeutschen Wehrbeitrag – in der regierungskritischen Publizistik große Bedeutung erlangte.18 Letztlich dachte er um 1950 als Jurist primär in den Kategorien von Recht und Gesetz. Das erschwerte es ihm, anthropologisch diagnostizieren zu können, dass ein Elitentausch Jahrzehnte in Anspruch nimmt. Was sich seit den späten 1950er Jahren in der SPD und alsbald im DGB anbahnte19 und im Verlauf der 1960er Jahre höchst konfliktreich in die Breite der westdeutschen Gesellschaft zu wirken begann, waren jedoch die Auswirkungen der Demokratiegründung in Westdeutschland, die von deutschen Parteipolitikern unter alliierter Kontrolle verantwortet und ausgestaltet, jedoch von den Remigranten aus den alliierten Stäben inhaltlich entscheidend beeinflusst wurden. Die deutsche Geschichte der Nachkriegszeit, West wie Ost, ist ohne die sorgfältige Beachtung dieses Einflussfaktors gar nicht angemessen zu erkennen. Eine der Agenturen für die Grundlegung und Verbreitung eines westlichen Verständnisses von Demokratie, welches das politische System eines Landes und die Ordnung der Gesellschaft in einem unlösbaren Zusammenhang betrachtet, war seit ihrer Gründung 1948 die Freie Universität Berlin. Hier wirkte nicht nur Neumanns alter Freund und Anwaltskollege aus den späten Weimarer Jahren, Ernst Fraenkel, als Professor für Politikwissenschaft und Autor des Klassikers „Deutschland und die westlichen Demokratien“20 und Richard Löwenthal, Autor zweier anderer Klassiker „Jenseits des Kapitalismus“21 und „Die Demokratie im Wandel der Gesellschaft“22, sondern mit ihnen zahlreiche Remigranten, die jetzt die Politologie als ein neues, westlich orientiertes Fach zur Erforschung der Grundlagen und der Existenzbedingungen von Demokratie etablierten. Berlin wurde zum Zentrum dieser neuen Disziplin, die auch an einigen Universitäten der Bundesrepublik ins Leben gerufen wurde. Es ist kein Zufall, dass sich die westdeutsche Studentenbewegung an zwei Orten entfaltete, wo die Erfahrung von Emigration und Remigration in kritischer Sicht auf das Deutschland nach Hitler 18
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Neumann, Franz L.: Deutsche Demokratie (1950), in: ders.: Wirtschaft, Staat, Demokratie. Aufsätze 1930–1954, Frankfurt a.M. 1978, S. 327–372; Dirks, Walter: Der restaurative Charakter der Epoche, in: Frankfurter Hefte 5 (1950), S. 942–954. Zum historischen Kontext vgl. Kielmansegg, Peter Graf: Nach der Katastrophe. Eine Geschichte des geteilten Deutschland, Berlin 2000. Das Godesberger Reformprogramm der SPD stammt von 1959, das Düsseldorfer Programm des DGB von 1962. Stuttgart u.a. 1958. Lauf bei Nürnberg 1946. Berlin 1963.
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die Debatten in Forschung und Lehre bestimmte: das nach Frankfurt zurückgekehrte Institut für Sozialforschung und die Berliner Hochschule für Politik, die später unter dem Namen Otto-Suhr-Institut der Freien Universität bekannt werden sollte. Deren frühes Profil ist ohne den Einfluss Franz Leopold Neumanns nicht angemessen zu erfassen. Neumann lehrte kontinuierlich als Gastdozent an der FU, seit er Professor an der Columbia University geworden war. Seine Themen kreisten um die Probleme demokratischer Ordnung nach der Überwindung des nationalsozialistischen Terrorsystems. Eine Systematisierung seiner neuen Thesen hat er gewiss intendiert, aber nicht mehr leisten können, weil ihn im vollen Lauf ein Verkehrsunfall im Sommer 1954 aus dem Leben riss. Die Texte aus den letzten Lebensjahren deuten jedoch die Richtung an. Es scheint ihm um die sozialwissenschaftliche Fundierung einer sozialistisch-demokratischen Theorie der Demokratie gegangen zu sein, in der nicht zuletzt die Auseinandersetzungen am Institut für Sozialforschung mit Horkheimer in New York späte Früchte trugen. Im marktwirtschaftlichen System der westdeutschen Nachkriegsordnung hatte ein marxistischer Antikapitalismus keinen intellektuell produktiven Ort. Angesichts der ideologischen Konfrontation mit der Sowjetunion und angesichts der in Berlin besonders krass gefühlten Bedrohung durch „den Osten“ ging es ihm vielmehr um die Integration von „Marx“ und „Freud“ in einer politologischen Theorie. Neumanns letzte Studien über „Arbeiterbewegung in Westdeutschland“ und „Angst und Politik“ öffneten diesem streng systematisch argumentierenden Intellektuellen ein neues Feld des Nachdenkens. Ob Neumann nach Deutschland hätte zurückkehren wollen, wie manche seiner Freunde vermuteten, muss offenbleiben. Seine Nähe zu den deutschen Problemen blieb Zeit seines Lebens erhalten, ja sie verstärkte sich nach 1945 noch. Beim Wiederaufbau des geistigen Lebens im demokratischen Staat wäre Neumanns kritische Stimme ohne Zweifel weithin gehört worden.
Weiterführende Literatur Fraenkel, Ernst: Gedenkrede auf Franz L. Neumann (1955), in: ders.: Reformismus und Pluralismus. Materialien zu einer ungeschriebenen politischen Biographie. Zusammengestellt und herausgegeben von Esche, Falk und Grube, Frank, Hamburg 1973, S. 168–179. Söllner, Alfons: Franz L. Neumann – Skizzen zu einer intellektuellen und politischen Biographie, in: Neumann, Franz L.: Wirtschaft, Staat, Demokratie. Aufsätze 1930–1954, Frankfurt a.M. 1978, S. 7–56. Rückert, Joachim: Franz Lepold Neumann (1900–1954) – ein Jurist mit Prinzipien, in: Lutter, Marcus u.a. (Hg.): Der Einfluß deutscher Emigranten auf die Rechtsentwicklung in den USA und in Deutschland, Tübingen 1993, S. 437–474. Intelmann, Peter: Zur Biographie von Franz L. Neumann, in: 1999. Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts 5 (1990), S. 14–52. Intelmann, Peter: Franz L. Neumann. Chancen und Dilemma des politischen Reformismus, Baden-Baden 1996.
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Hinweise zu den Quellen Einen Nachlass von Franz L. Neumann gibt es ebenso wenig wie eine Werkausgabe. Eine Aufstellung seiner Schriften von 1924 bis 1954 enthält die Studie von Peter Intelmann aus dem Jahr 1996. Die besten Sammlungen von Aufsätzen sind zum einen der Band „Franz L. Neumann, Wirtschaft, Staat, Demokratie. Aufsätze 1930–1954“, den Alfons Söllner 1978 herausgegeben hat. Er wird zum andern ergänzt durch die ältere, ursprünglich auf Herbert Marcuse zurückgehende Sammlung aus dem Jahr 1956, die 1967 erstmals auf Deutsch erschien: „Franz Neumann, Demokratischer und autoritärer Staat.“
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Ein Leitfossil der frühen Bundesrepublik – Theodor Eschenburg (1904–1999)
Als Theodor Eschenburg am 4. Oktober 1986 seinen 85. Geburtstag beging, überboten sich die Größen der politischen Klasse mit Respektbezeugungen. Vom damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker über Bundesaußenminister Genscher, den Alt-Präsidenten und frühen Förderer Eschenburgs Gebhard Müller, Gräfin Dönhoff und Theo Sommer von der Zeit bis zum schwäbischen Urgestein Manfred Rommel und Ralf Dahrendorf priesen ihn alle als „Lehrer der Demokratie“ und „Praeceptor Germaniae.“1 Nun sind Laudationes zu einem 85. Geburtstag immer etwas verdächtig. Darf man ihnen glauben? Wenigstens zivilisierte Leute schießen nicht mehr auf hochbetagte Professoren. Tatsächlich war der streitbare Eschenburg über die Jahrzehnte hinweg nicht nur verehrt worden. Er war auch „sehr gefürchtet“2 und manchen geradezu verhasst. Reinhold Maier, der langjährige liberale Ministerpräsident Württemberg-Badens bzw. Baden-Württembergs, mit dem er über Kreuz lag, ist in seinen Memoiren auf eine Karambolage im Januar 1953 eingegangen. „Professor Eschenburg“, schrieb Maier, „zerpflückte meine Ausführungen und legte bei diesem Anlaß den Grundstein zum Praeceptor Suevias, später Germaniae. Immerhin rechne ich es mir zur Ehre an, zu einem der ersten Objekte seiner besserwissenden Kritik geworden zu sein, als er sich mit der Toga des Wahrers der allein richtigen Demokratie zu bekleiden anschickte und dabei hart an der Grenze parteipolitischer Stellungnahme formulierte, freilich ohne sich selbst der läuternden Prozedur einer Volkswahl, deren Plus und Minus, zu unterwerfen.“3 So oder ähnlich sah ihn mancher der seinerzeitigen Kanzler, Ministerpräsidenten und Minister. Eschenburg selbst wusste, dass originelle und kreative Professoren nur dann Aufmerksamkeit finden, wenn sie durchgehend unbequem sind und keinem Streit aus dem Weg gehen. Immerhin wollten auch seine Gegner nicht abstreiten, dass dieses Unikat ein weit gehörter Repräsentant der seinerzeitigen Demokratie war. Eschenburg ist 1999 94 Jahr alt und lebenssatt verstorben. Natürlich teilt er das unvermeidliche Schicksal vieler einstmals hoch respektierter Intellektueller: er gerät in Vergessenheit. Dabei würde es jedoch gerade diese Gestalt verdienen, dass man sich ihrer erinnert. Bei Beleuchtung seines Lebenslaufs, seines Staatsverständnisses, auch seiner starken Wirkung treten nämlich überindividuelle Merkmale der frühen Bundesrepublik ins Blickfeld. 1 2
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Siehe die Würdigungen in Rudolph, Hermann (Hg.): Den Staat denken. Theodor Eschenburg zum Fünfundachtzigsten, Berlin 1990, S. 7–148. So der Titel des Beitrags von Dönhoff, Marion Gräfin: Sehr gefürchtet und sehr geliebt, in: Rudolph, Hermann (Hg.): Den Staat denken. Theodor Eschenburg zum Fünfundachtzigsten, Berlin 1990, S. 98. Maier, Reinhold: Erinnerungen 1948–1953, Tübingen 1966, S. 429 f.
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Daher wird im folgenden Essay nicht so sehr die eigenwillige, starke Individualität Eschenburgs interessieren, sondern die Frage, welche elitesoziologischen, kommunikativen, mentalitätsgeschichtlichen und verfassungsgeschichtlichen Züge der seinerzeitigen Bundesrepublik sich an seinem Beispielfall exemplarisch studieren lassen. Dabei wird deutlich, dass die Gesellschaft der frühen Bundesrepublik mit derjenigen der Weimarer Republik, auch mit den ersten zwei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts und selbst mit den zwölf Jahren des Dritten Reiches in manchem mehr Gemeinsamkeiten aufwies als mit den heutigen Verhältnissen. Auch das Staatsverständnis Eschenburgs und seiner Jahrzehnte hat mit dem der heutigen politischen Klasse nicht mehr allzuviel gemeinsam.
Eschenburgs Netzwerke und Themen: Politik, Wirtschaft, Verwaltung Von Anfang an ist er ein Typ, den man heute als brillanten Netzwerker bezeichnen würde. Unter den Publizisten der frühen Bundesrepublik verfügte Eschenburg wohl über die besten persönlichen Verbindungen zu unterschiedlichen Eliten – zum parteipolitischen Spitzenpersonal, zu den Verwaltungseliten in den Bonner, Stuttgarter, Düsseldorfer und Hamburger Ministerien, aber ebenso in die Wirtschaft hinein und, seitdem er 1957 als freier Kolumnist bei der Zeit angedockt hatte, zusehends auch in der überregionalen Presse. Im Schwäbischen, wohin er sich im April 1945 auf dem Umweg über die Schweiz und Österreich absetzte, um dort irgendwie eine neue Karriere zu bauen, ist er anfangs ein Niemand. Aber unter den Parteipolitikern, Landräten, Verwaltungsbeamten in dem kleinen, von der Besatzungsmacht Frankreich geschaffenen Ländchen Württemberg-Hohenzollern setzt er sich bemerkenswert rasch durch und erweist sich für die Spitzenpolitiker als unentbehrlich. Denn dieser Mann in den besten Jahren, der wie die meisten in jenen chaotischen Zeitläuften mittellos eintrifft, führt ein beträchtliches „Betriebskapital“ mit sich: 17 Jahre Erfahrung in der Wirtschaft, erst im Verbandswesen, dann als Geschäftsführer der Fachgruppen Knopfindustrie und Reißverschluss. Von 1933 bis 1945 war er als Syndikus in diesem Kartell tätig. Was sich heute ridikül anhört, war damals eine für den Export geeignete, im Krieg für die Versorgung der Zivilbevölkerung und der Truppe für wichtig erachtete Branche, in der Millionen von Kämmen, Batterien, Sicherheitsnadeln, Knöpfen und Reißverschlüssen produziert wurden.4 Es war zudem eine gut honorierte Position. Eschenburg ist im Berlin des Dritten Reiches ein Hecht, der durch alle Reusen schwimmt. Zwar hängt ihm zeitweilig der Ruf an, aus den „Systemparteien“ zu kommen, aber den wird er los, indem er 1933/34 kurz Mitglied der Motor-SS wird5 , bis ihm die Mordtaten der SS beim Röhm-Putsch – zufällig sein Hochzeitstag, so dass er nicht im Dienst ist – vor Augen führen, in welche Gesellschaft 4 5
Eschenburg, Theodor: Letzten Endes meine ich doch. Erinnerungen 1933–1945, Berlin 2000, S. 66. Eisfeld, Rainer: Theodor Eschenburg. Übrigens vergaß er zu erwähnen… Eine Studie zum Kontinuitätsproblem in der Politikwissenschaft, in: ZfG 59 (2011), S. 27–44.
Theodor Eschenburg
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er sich begeben hat. Dass er sich danach herauszuwinden versteht, spricht für sein Geschick und seinen Anstand. Von 1933 bis 1945 dirigiert er diese interessante, wenngleich nicht große mittelständische Industriegruppe, ohne der NSDAP anzugehören, wegen der Unentbehrlichkeit dieser Branche übrigens auch ohne zur Wehrmacht eingezogen zu werden. Während der Friedensjahre des Dritten Reiches, aber auch in der Kriegszeit reist er unablässig auch ins neutrale Ausland. Verhandlungsstark, arrogant, hart arbeitend, in ständiger Verbindung mit den zugehörigen Betrieben, mit den Beamten der Reichsministerien, mit anderen Industriegruppen und Verbänden erwirbt er eine immense Personenkenntnis und viele Kontakte. Man muss hinzufügen, dass der Grundstock dieses Netzwerks bereits in die letzten vier oder fünf Jahre der Weimarer Republik zurückreichte, eigentlich bis in die Studienzeit in Tübingen und Berlin. In den letzten Jahren vor 1933 hatte er sich zusammen mit vielen Gleichaltrigen, die wie er an ihrer Karriere bauten, in den zahlreichen Clubs und Gesprächskreisen des damaligen Berlin, auch bei den in vollem Abstieg befindlichen bürgerlichen Parteien herumgetrieben, war bei den berühmten Besäufnissen des Verlegers Ernst Rowohlt zugegen, wo sich Rechts- und Linksextreme tummelten, hatte sich ein Bild von vielen der wichtigen Figuren gemacht, scharf beobachten gelernt und Kontakte geknüpft. Anfangs schwebte ihm wohl eine politische Karriere vor. Nach dem Vorbild des bewunderten Stresemann, der an dem jungen Eschenburg einen Narren gefressen hatte, wollte auch er wohl über das Sprungbrett einer Verbandsposition in die Politik einsteigen. 1933, als die Herrlichkeit des pluralistischen Berlin der späten Jahre der Republik zu Ende war, hatte er nicht nur eines seiner späteren großen Themen gefunden – die neueste Zeitgeschichte, damals die Jahre des späten Kaiserreichs und der Weimarer Republik. Er kannte auch schon manche aus den Parteien, die 1933 von der Bildfläche verschwanden, um dann in der Besatzungszeit bei FDPDVP, CDU oder SPD wieder aufzutauchen. Die gründliche Kenntnis des Verbandswesens stellte ein zweites Hauptthema dar. So war die erste politologische Studie, mit der er 1955 bundesweit auf sich aufmerksam machte, das Büchlein Herrschaft der Verbände? 6 . Das Eschenburgsche Netzwerk erweitert und verdichtet sich in der Besatzungszeit und in den Gründerjahren der Bundesrepublik. 1947 ist der Ministerialrat Eschenburg bereits der zweite Mann im Innenministerium von WürttembergHohenzollern. Die Sozialdemokraten Carlo Schmid, Viktor Renner und der CDUVorsitzende Gebhard Müller, seit 1948 Staatspräsident des Ländchens, das nur rund eine Million Einwohner zählt, sind seine Förderer.7 In dieser Funktion lernt Eschenburg das politische und administrative Spitzenpersonal in den damaligen 6
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Eschenburg, Theodor: Herrschaft der Verbände?, Stuttgart 1955. Vgl. auch Eschenburg, Theodor: Das Jahrhundert der Verbände. Lust und Leid organisierter Interessen in der deutschen Politik, Berlin 1989. Jeder von ihnen erhält später eine Würdigung in der typisch Eschenburgen Mischung von scharfer politischer Beobachtungsgabe, Distanz und einem Quentchen Empathie: Eschenburg, Theodor: Carlo Schmid – ein realistischer Idealist am Anfang der Bundesrepublik, in: Europa und die Macht des Geistes. Gedanken über Carlo Schmid (1896– 1979), hg. von der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn 1997, S. 55–67; Eschenburg, Theodor:
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Westzonen und der frühen Bundesrepublik kennen. Zwar hält er sich im Hintergrund, aber Insider wissen, dass dieser Beamte ein Strippenzieher von hohen Graden ist. In heutiger Terminologie würde man ihn als den Spin-Doktor Gebhard Müllers und Viktor Renners bezeichnen. Beim Ringen um die Errichtung des „Südweststaats“ Baden-Württemberg bis 1952 spielt er die Rolle des Strategen, aber auch die des Propagandisten8. Von nun an gebietet er neben seinen vielfach variierten ursprünglichen Themen Verbandswesen und Weimarer Republik9 über eine ganze Anzahl weiterer Gegenstände: die Vorgeschichte der Bundesrepublik in der Besatzungszeit10 , der Südweststaat11, die Funktion der Staatsverwaltung im Deutschland des 20. Jahrhunderts12 und die Rolle der Exekutive, der Parteien und der Parlamentarier in der Regierungspraxis von Bund und Ländern13. Als sich Eschenburg zur Überraschung vieler weder für eine Bundestagskarriere entscheidet noch als Staatssekretär und Leiter der Staatskanzlei in Stuttgart vor Anker geht, sondern sich für die Unabhängigkeit eines Ordinariats für Politikwissenschaft an der Universität Tübingen entscheidet, verfügt er jedenfalls über Kenntnisse der Zusammenhänge von Politik und Verwaltung wie kein anderer zeitgenössischer Politologe neben ihm mit Ausnahme von Carlo Schmid, dem aber seine politische Tätigkeit keine große und unabhängige Publizistik erlaubt14. Mit der freien Kolumne bei der Zeit erhält er 1957 noch eine Art zweiten Lehrstuhl mit bundesweiter Ausstrahlung und der Möglichkeit, diejenigen, die er für
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Viktor Renner und Gebhard Müller, Präsident des Bundesverfassungsgerichts, in: ders.: Zur politischen Praxis in der Bundesrepublik. Kritische Betrachtungen 1965 bis 1970, Bd. III, München 1972, S. 159–161 und S. 208–213. Vgl. die von Eschenburg verfasste Broschüre: Baden von 1945 bis 1951: Was nicht in der Zeitung steht, Darmstadt 1951. Zur Darstellung der eigenen Rolle siehe Eschenburg, Theodor: Letzten Endes meine ich doch. Erinnerungen 1933–1999, Berlin 2000, S. 119– 151. Vgl. auch Konstanzer, Eberhard: Die Entstehung des Landes Baden-Württemberg, Stuttgart 1969; Matz, Klaus-Jürgen: Reinhold Maier (1889–1971). Eine politische Biographie, Bonn 1989, S. 349–356. Eschenburg, Theodor: Die improvisierte Demokratie. Gesammelte Aufsätze zur Weimarer Republik, München 1963. Eschenburg, Theodor: Regierung, Bürokratie und Parteien: 1945–1949. Ihre Bedeutung für die politische Entwicklung der Bundesrepublik, in: VfZ 24 (1976), S. 58–74; Eschenburg, Theodor: Jahre der Besatzung 1945–1949, Stuttgart 1983, S. 21–280. Eschenburg, Theodor: Aus den Anfängen des Landes Baden-Württemberg, in: VfZ 10 (1962), S. 264–279; Eschenburg, Theodor: Bilanz zur silbernen Hochzeit, in: Republik im Stauferland. Baden-Württemberg nach 25 Jahren, hg. von dems. und Frank-Planitz, Ulrich, Stuttgart 1977, S. 10–28. Eschenburg, Theodor: Der Beamte in Partei und Parlament, Frankfurt 1952; Eschenburg, Theodor: Der bürokratische Rückhalt, in: Löwenthal, Richard und Schwarz, HansPeter (Hg.): Die zweite Republik. 25 Jahre Bundesrepublik Deutschland – eine Bilanz, Stuttgart 1974, S. 64–94. Eschenburg, Theodor: Zur politischen Praxis in der Bundesrepublik: Kritische Betrachtungen, 3 Bd.: 1961–1965, 1965–1970, 1970–1975, München 1964–1972. Zu Schmids wichtiger Rolle in den Anfängen Württemberg-Hohenzollerns, als Professor der Politischen Wissenschaft in Frankfurt und auch bei der Nachkriegskarriere Eschenburgs siehe Weber, Petra: Carlo Schmid. 1896–1979. Eine Biographie, München 1996.
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schädlich hält, publizistisch zu beschädigen.15 Auch die Milieus der Professoren und der Journalisten lernt Eschenburg während seiner dritten Karriere gründlich kennen. Aber sie wirken auf ihn nicht mehr so prägend wie die Lebenswelt der 1945 untergegangenen Reichshauptstadt, in der er sich während seiner ersten Karriere zwei Jahrzehnte getummelt hat, und danach jene Milieus von Politikern und Verwaltungsbeamten seiner zweiten Karriere in den Jahren 1945 bis 1952.
Drei Kontinuitätsstränge: Wirtschaft, Reichsministerialität, Universitäten Kehren wir jetzt zu unserer Eingangsfrage zurück. Inwiefern lässt sich am Beispiel Eschenburgs eine deutliche Elitenkontinuität quer durch die deutschen Regime vom Kaiserreich über Weimar und das Dritte Reich bis zur Bundesrepublik Deutschland konstatieren? Die Frage der Kontinuität reicht bis ins Jahr 1945 zurück und hat die Öffentlichkeit seither unablässig beschäftigt. Sie betrifft die politischen Systeme, erfasst aber auch alle Bereiche der Gesellschaft. Von Anfang an verbanden sich damit zwei Streitfragen, normativ die eine, empirisch-historisch die andere. Die normative Streitrage stand besonders in den ersten zehn Jahren nach 1945 im Vordergrund: Wie viel an qualitativen Umstrukturierungen war nach den Erfahrungen in der ersten Jahrhunderthälfte zwingend geboten? Und umgekehrt: Wie viel von den Machtpositionen, Strukturen und Prägekräften der Wirtschaft, der gesellschaftlichen Organisationen, des Schul- und Ausbildungswesens, der Kirchen und weiterer Einrichtungen durfte, sollte, musste erhalten bleiben, wenngleich zeitgemäß modifiziert? Später kam dazu die empirische, letztlich nur wissenschaftlich zu beantwortende Streitfrage. Sie lautete und lautet noch immer: Wie viel von den traditionellen Strukturen und Machteliten der deutschen Gesellschaft ist über den Bruch des Jahres 1945 hinweg tatsächlich erhalten geblieben? Und wie stark haben diese Kontinuitäten auf die Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland eingewirkt? Hier rückt der Lebensweg Eschenburgs zwei interessante Bereiche ins Blickfeld: die Kontinuitäten der wirtschaftlichen Eliten und die Kontinuitäten der Reichsministerialität. Vor einigen Jahren hat Nina Grunenberg, einstmalige Redakteurin bei der Zeit, eine Studie zu den Netzwerken der deutschen Wirtschaft 1942 bis 1966 publiziert.16 Am Beispiel von zwanzig führenden Unternehmenskapitänen der Wirtschaftswunderjahre hat sie das Profil dieser Gruppe analysiert, deren Energie, so sieht sie es, zu verdanken war, „daß gut sechzig Millionen Westdeutsche zwanzig Jahre nach dem Krieg nicht nur wohlhabend, sondern vor der Weltöffentlichkeit in einem Maß rehabilitiert waren, wie es 1945 niemand mehr für möglich gehalten hätte.“ Als Merkmale dieser „Wundertäter“ werden genannt: Erstens Geburt 15
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Zur langjährigen Tätigkeit Eschenburgs bei der Zeit siehe Janßen, Karl-Heinz, Kuenheim, Haug von und Sommer, Theo: Die Zeit. Geschichte einer Wochenzeitung 1946 bis heute, München 2006. Grunenberg, Nina: Die Wundertäter. Netzwerke der deutschen Wirtschaft 1942–1966, München 2006.
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im Kaiserreich 1880 bis 1910. Manche kamen aus besitz- oder bildungsbürgerlichen Familien, doch waren auch viele darunter, die den Aufstieg zur Spitze in der ersten Generation vollzogen hatten: „Allesamt waren sie fest in der vermeintlichen Sekurität des wilhelminischen Deutschland verwurzelt. Danach allerdings wurde ihnen – mit dem Ersten Weltkrieg, Weimar, Hitler und dem Zweiten Weltkrieg – ein Pensum auferlegt wie keiner anderen Generation.“ Zweitens seien sie politisch recht bis rechts außen angesiedelt gewesen, hätten den Nationalsozialismus meistenteils anfangs begrüßt, teils, weil er Deutschlands Größe wiederherzustellen versprach, teils auch, weil sie im Staat autoritäre Führung für genauso richtig hielten wie in den eigenen Unternehmungen. „Hinterher“, so Nina Grunenberg, „hakten sie die zwölf Hitlerjahre ungerührt als ,accident de parcours‘ ab und machten weiter, sobald ihre ,Entnazifizierung‘ abgeschlossen war und die Alliierten grünes Licht gaben. Ihr geistiger Bezugspunkt war und blieb die Vorkriegszeit.“ Aber – dies der dritte Punkt – eben der Umstand, dass sie durch die Bank „Männer mit Vergangenheit waren“, sprich: mit beträchtlicher Führungserfahrung und zugleich untereinander vielfach vernetzt, „machte sie erfolgreich, unentbehrlich und anfechtbar zugleich.“17 In genau diesem Milieu hat Eschenburg das Dritte Reich überlebt. Als Syndikus der kleinen, wenngleich nicht ganz unwichtigen Fachgruppe Kurzwaren stand er nur am Rande des Kreises der wirklich Mächtigen. Doch er pflegte seine Verbindungen. Wie jedermann, der nicht die Berufung zum Märtyrer in sich spürte, musste er sich anpassen. Man darf ihm aber abnehmen, dass er an liberalen und vernünftigen Überzeugungen festhielt. Anders als die meisten der von Nina Grunenberg Charakterisierten hatte er sich schon in der Weimarer Republik unter Inkaufnahme eines Vater-Sohn-Konflikts zum VernunftRepublikaner entwickelt. Nach dem kurzen Stint bei der Motorsport-SS 1933/34 vermied er jede weitere organisatorische Verbindung zur NSDAP, hielt sich auch nach Maßgabe des beruflich Möglichen überzeugte Nationalsozialisten vom Hals und beschränkte seinen privaten Umgang auf Personen, die wie er selbst in innerer Distanz zum Regime standen. Formale Mitgliedschaft bei der Partei oder einer ihrer Organisationen, auch entsprechende Geldzuwendungen „zur Landschaftspflege“ betrachtete er jedoch bei Freunden und Bekannten, die wie er in der Wirtschaft tätig waren, als Teil einer Mimikry, die dem Fortkommen dienlich war. Wer tief in den Akten gräbt, mag zwar auch bei ihm im einen oder anderen Fall auf Vermerke stoßen, aus denen sich kompromittierende Interpretationen zurecht doktern lassen. Wer in einem totalitären Zwangsstaat in mehr oder weniger hervorgehobener Position tätig ist, sagt, tut oder unterlässt Dinge, die ihn ins moralische Zwielicht rücken oder ihn noch schlimmeren Vorwürfe aussetzen. Verhielte es sich anders, müsste man annehmen, dass Eschenburgs zwölfjährige Tätigkeit in der NS-dominierten Wirtschaft eine Fiktion ist. Eine von Eschenburg immer wieder erzählte Anekdote spielt im Frühsommer 1944, als ihm der damals weithin unbekannte Ludwig Erhard eine Kurzfassung seiner nachmals berühmten Denkschrift „Kriegsfinanzierung und Schul17
Vgl. zu ähnlichen Erkenntnissen schon Dahrendorf, Ralf: Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, München 1971, S. 274 f.
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denkonsolidierung“ zu lesen gab.18 Erhard, der das Regime nachweislich ablehnte, hatte damals über seinen Schwager Karl Guth, den mächtigen Geschäftsführer der Reichsgruppe Industrie, einen guten Draht zu Spitzenpersönlichkeiten der Berliner Wirtschaftseliten. Bei der nächtlichen Lektüre war Eschenburg überrascht, ja erschrocken, und machte Erhard Vorwürfe, durch derlei als extrem defätistisch angreifbare Ausarbeitungen die Familie des Schwagers zu gefährden. Tatsächlich aber gutachtete Erhard mit vollem Wissen Guths für die Spitze der Reichsgruppe Industrie, die seit 1943 Planungen für die Nachkriegszeit betrieb. Im Nachhinein hat Erhard betont, er habe die Denkschrift kurz vor dem 20. Juli auch Goerdeler zugeleitet, den er kannte und schätzte. Der Hauptadressat waren aber die Spitzen der Industrie. Im Spätherbst 1944 ging das Dossier an Otto Ohlendorf, Amtschef im RSHA und, im Rang eines Abteilungsleiters im Reichswirtschaftsministerium dessen heimlicher Minister. Ohlendorf hatte gegen Ende 1944 wohl auch mit Erhard eine Unterredung, von der dieser nach 1945 jedoch kein großes Aufhebens machte, denn dieser mittelstandsfreundliche, durchaus wirtschaftskundige Ökonom bei der SS hatte sich als überzeugter Nationalsozialist im Jahr 1941 als Leiter einer Einsatzgruppe in Russland schwerer Verbrechen gegen die Menschlichkeit schuldig gemacht, für die er 1951 hingerichtet wurde. Aus Erhard aber wurde der Patron der deutschen Industrie, der die Elitenkontinuität im Bereich der Wirtschaft und im eigenen Ministerium mit dem denkbar besten Gewissen und mit den bekannten Erfolgen förderte. Auch die nachbarschaftliche Runde um Karl Guth mit Karl Blessing und Herbert Rohrer, mit der Eschenburg bei den Luftangriffen der Jahre 1943 bis 1945 häufig im Luftschutzkeller zusammensaß, illustriert die Elitenkontinuität im Bereich der Wirtschaft.19 Hier machte man sich in den letzten Kriegsjahren über das böse Ende keine Illusionen mehr, stand dem NS-Regime innerlich distanziert gegenüber, unterhielt lockere Kontakte zu Personen der Verschwörerkreise, plante bereits für die Nachkriegszeit, funktionierte aber zugleich – stoisch, patriotisch, zynisch, wie auch immer – als Rädchen in der Kriegsmaschine. Der Karriereknick kam 1945, gefolgt vom Comeback seit 1948. Eschenburg selbst verließ 1945 die Wirtschaftseliten. Dass er im Herbst 1945 in der Staatsbürokratie von Südwürttemberg-Hohenzollern als „Flüchtlingsdirektor“ eine Anstellung fand, war einer jener Zufälle, wie sie sich damals millionenfach ereigneten, von nun an aber seiner Karriere eine andere Wendung gab. Als Türöffner wirkte einer seiner Freunde aus Berlin, Paul Binder, 1937 bis 1941 Direktor bei der Dresdner Bank, danach Wirtschaftsprüfer, der sich ins heimische Württemberg abgesetzt hatte, wo er seit Herbst 1945 als Landesdirektor für Finan18 19
Vgl. u.a. Eschenburg, Theodor: Letzten Endes meine ich doch. Erinnerungen 1933– 1945, Berlin 2000, S. 74–76. Blessing hatte bis zum Februar 1939 dem Direktorium der Reichsbank angehört, war dann Anfang 1939 nach der Entlassung Schachts als Vorstandsmitglied der MargarineUnion und der Konti-Öl in die Wirtschaft gegangen, kam nach der Internierung als Wehrwirtschaftsführer 1948 wieder ins Geschäft und wurde 1957 Bundesbankpräsident. Herbert Rohrer war 1940 bis 1945 Vorstandsvorsitzender von Osram. Dann erging es ihm übel – sowjetische Speziallager in Landsberg und Buchenwald, 1950 in den Waldheim-Prozessen Verurteilung zu 15 Jahren Zuchthaus, 1952 Entlassung, dann das Comeback bei Flick und seit 1957 Vorstandsvorsitzender der Feldmühle.
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zen von Württemberg-Hohenzollern, später als Finanzstaatssekretär tätig war.20 Eschenburg selbst hat natürlich die persönliche Verbindung zu Bekannten und Freunden aus dem Berliner Wirtschaftsmilieu gepflegt, lenkte jedoch in seinen wissenschaftlichen Studien den Blick fast ausschließlich auf das Verbandswesen. Auf die ihm bestens bekannte Elitenkontinuität in der Wirtschaft kam er eher beiläufig zu sprechen. Bei der Schilderung der Gleichschaltung und der Installation des „Führerprinzips“ im Reichsverband der Deutschen Industrie seit 1933 bemerkte er lakonisch: „Das Personal blieb überwiegend, soweit es nicht aus rassischen Gründen entlassen wurde […] Seit Beginn der totalen Aufrüstung schützte der Beauftragte für den Vierjahresplan, Göring, später der Rüstungsminister Speer, die Wirtschaftsorganisation weitgehend vor Eingriffen der Partei.“ Ein ähnliches Bild skizziert er für die Besatzungsjahre. „Nach Meinung der Sozialdemokraten und auch der Sozialausschüsse der CDU lag ,der Kapitalismus in den letzten Zügen‘. Die Unternehmer waren aber nur untergetaucht; die Betriebe arbeiteten mit Erlaubnis der Besatzungsmacht, mehr oder weniger auch für diese, scheuten aber die Öffentlichkeit. Sie und ihre Verbandsfunktionäre waren, wie in der Novemberrevolution 1918 die Anhänger der Monarchie, Virtuosen der Diskretion.“21 Für die Jahre seit 1949 konstatierte er „im wesentlichen eine Restauration des Weimarer Verbandsgefüges“, allerdings ohne Wiederherstellung des Primats der Schwerindustrie. Dies alles hat Eschenburg nur angetupft, und wenn er auf einzelne Unternehmerpersönlichkeiten anerkennend zu sprechen kam, so nur auf solche, die sich – wie der von ihm bewunderte Walter Bauer – im Widerstand gegen das Hitler-Regime bewährt hatten.22 Demgegenüber sind Eschenburgs Analysen zur institutionellen und personellen Elitenkontinuität, doch ebenso zu den Veränderungen und Brüchen, von der Reichsministerialität zur Ministerialverwaltung in Bonn und in den Bundesländern denkbar reichhaltig, differenziert und wissenschaftlich ergiebig. Aufsätze wie „Der bürokratische Rückhalt“23 gehören zum Besten, was in geraffter Form zum Thema der entsprechenden Elitenkontinuität vom Kaiserreich bis zur frühen Bundesrepublik veröffentlich worden ist. Hier stützte er sich auf persönliche Beobachtungen aus der Reichshauptstadt Berlin bzw. seit 1945 in den Westzonen und in der Bundesrepublik, so beispielsweise auch bei der Beurteilung des umstrittenen Staatssekretärs Globke24. Viele von Eschenburgs Arbeiten beleuchten das endemische Spannungsverhältnis zwischen der Parteiendemokratie und 20
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Kontinuität auch hier. 1948/49 war Binder für die CDU Mitglied des Parlamentarischen Rats, wo er zeitweilig den Vorsitz des Ausschusses für Finanzfragen wahrnahm, danach war er in verschiedenen Funktionen der Wirtschaft tätig und bis 1960 auch im Landtag von Baden-Württemberg. Dieses und das vorige Zitat bei Eschenburg, Theodor: Das Jahrhundert der Verbände. Lust und Leid organisierter Interessen in der deutschen Politik, Berlin 1989, S. 80 und S. 193. Eschenburg, Theodor: Walter Bauer, in: ders.: Zur politischen Praxis in der Bundesrepublik: Kritische Betrachtungen, Bd. III, München 1972, S. 123–126. Eschenburg, Theodor: Der bürokratische Rückhalt, in: Löwenthal, Richard und Schwarz, Hans-Peter (Hg.): Die zweite Republik. 25 Jahre Bundesrepublik Deutschland – eine Bilanz, Stuttgart 1974, S. 64–94. Eschenburg, Theodor: Globke, in: ders.: Zur politischen Praxis in der Bundesrepublik: Kritische Betrachtungen, Bd. I, München 1964, S. 246–250.
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einer dem Staat verpflichteten Beamtenschaft, zwischen „machtgerechtem“ und „sachgerechtem“ Verhalten. Anders als viele zeitgenössische Theoretiker, und erst recht anders als die Parteipolitiker selbst, war Eschenburg durchaus nicht dazu disponiert, diese Dialektik zugunsten eines Primats der Parteiendemokratie aufzulösen. Er war der Sohn eines monarchistischen, obrigkeitsstaatlich denkenden Marineoffiziers und der Enkel eines Senators der Hansestadt Lübeck, der geistig stark in den republikanischen und freisinnigen Traditionen wurzelte. Auch bei der mütterlichen Linie dominierte eher die linksliberale Tradition. Von der Geisteswelt des Vaters hat er sich früh freigeschwommen, nicht aber von der Grundauffassung, dass rechtsstaatliche, von der Verfassung gesicherte Ordnung völlig unverzichtbar ist. Die Erfahrung der Parteidiktatur der NSDAP mit ihren vielen gläubigen, machtlüsternen, opportunistischen und polit-kriminellen Anhängern hat ihn selbst wie viele seinesgleichen davor geschützt, nach 1945 alles Heil von der Parteiendemokratie zu erwarten, auch wenn diese nun pluralistisch und menschenrechtlich sensibel war. Eschenburgs vielbeachtete, kontrovers abgehandelte Lieblingsthemen Ämterpatronage25, Diäten von Abgeordneten26 , Parteifinanzierung27, Korruption28 und Politische Beamte29 oder seine Polemiken gegen die Beurlaubung von Beamten als Parteifunktionäre30 und gegen Parteireklame durch das Bundespresseamt31 zeigen, dass er hinsichtlich des Spannungsverhältnisses zwischen Staat und Parteien viel eher auf der Seite des primär dem Recht und dem Staat verantwortlichen Beamten stand als auf der Seite der Parteien. Der empirisch arbeitende Politikwissenschaftler Eschenburg konstatierte eine seit dem Kaiserreich große personelle Kontinuität bei der hohen Ministerialität, der normative Staatslehrer Eschenburg setzte sich für ein möglichst unparteiisches Beamtentum ein. Er konstatierte das nicht nur, er goutierte es auch. Für Eschenburg gab es noch eine dritte Kontinuitätstradition: die Universitäten. Dass er 1952 einem Ruf auf das Tübinger Ordinariat für Politikwissenschaft folgte und dann dieser Universität bis zum Lebensende treu geblieben ist, hatte viele Gründe: das Tübinger Ordinariat sicherte seine Unabhängigkeit und es machte ihm schlicht und einfach Freude, vorzutragen und große Zuhörerscharen zu belehren – als Professor wie als gefragter Vortragsredner. Zugleich schätzte er die Universität auch deshalb, weil sie hinsichtlich ihrer wissenschaftlichen Quali25 26 27 28
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Eschenburg, Theodor: Ämterpatronage, Stuttgart 1961. Eschenburg, Theodor: Der Sold des Politikers, Stuttgart-Degerloch 1959. Eschenburg, Theodor: Probleme der modernen Parteifinanzierung. Rede bei der feierlichen Rektoratsübergabe am 9. Mai 1961, Tübingen 1961. Eschenburg, Theodor: Korruptionsprozesse in der Bundesrepublik; Der Fall Kilb I; Der Fall Kilb II, in: ders.: Zur politischen Praxis in der Bundesrepublik: Kritische Betrachtungen, Bd. I, München 1964, S. 139–141, S. 204–207 und S. 243–245. Eschenburg, Theodor: Politische Beamte, in: ders.: Zur politischen Praxis in der Bundesrepublik: Kritische Betrachtungen, Bd. II, München 1966, S. 38 f. Eschenburg, Theodor: Wahlkampfurlaub durch einen Ministerialrat, in: ders.: Zur politischen Praxis in der Bundesrepublik: Kritische Betrachtungen, Bd. I, München 1964, S. 222–225. Eschenburg, Theodor: Renaissance des Lehnswesens? – Staatsreklame für die Regierungsparteien, in: ders.: Zur politischen Praxis in der Bundesrepublik: Kritische Betrachtungen, Bd. II, München 1966, S. 219–224.
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tät noch weitgehend an die alten Universitäten der zwanziger Jahre erinnerte, die ihn beeindruckt hatte. Wie die Besten seiner damaligen Lehrer wollte dieser bei den Studierenden auf Anhieb sehr erfolgreiche „Außeneinsteiger“ auch mit seinen Studenten umgehen. „So lebte ich von den Erfahrungen der Semester meiner Studienzeit und verfuhr so, wie ich sie in Erinnerung hatte“ bekannte er im Rückblick ganz offen.32 Die anti-demokratische Orientierung großer Teile der Professorenschaft und der Studierenden allerdings hatte er in der Weimarer Republik schon kritisch gesehen und er arbeitete das rückblickend scharf heraus.33 Die entsprechende Neuorientierung zu befestigen, war ein Hauptmotiv für sein Engagement als Professor der Politikwissenschaft. Er zeigte sich überzeugt, „daß die Demokratie gründlich gelernt werden müsse.“34 Dazu gehörte auch die Kenntnis der jüngsten Vergangenheit. In längeren Gesprächen mit Carlo Schmid während der Besatzungszeit hatte er seine Meinung artikuliert: „Wir müssen Zeitgeschichte lehren. Wir müssen das Bild der Weimarer Republik so zeigen, wie es wirklich war.“ Schmid war der Meinung, Eschenburg selbst sei genau der richtige Mann dafür und verschaffte ihm für das Wintersemester 1946/47 einen Lehrauftrag für Zeitgeschichte in Tübingen, zu dem die Studierenden in Massen herbeiströmten. So wie zuvor in der Verwaltung von Württemberg-Hohenzollern spielte Eschenburg auch in der Universität Tübingen gern die Rolle des Hechts im Karpfenteich, machte sich ein Vergnügen daraus, dann und wann einige unbequeme Geister zu protegieren wie Walter Jens, den Theologen Hans Küng oder Ernst Bloch, der den marxistischen Propheten spielte. Im Amt des Rektors wurde er sich auch der Grenzen der überkommenen Rektoratsverfassung bewusst. Er betrachtete die Reform der Massenuniversität als praktische Notwendigkeit, doch sie war ihm kein Herzensanliegen und so wurde er 1968 „zum großen Buhmann der Linken“35. Das Bild vom Leitfossil trifft somit auch auf den Professor Eschenburg zu. Er dachte und handelte wie eine große Mehrheit der überkommenen universitären Eliten, von denen manche liberal waren, manche konservativ, viele unpolitisch, die meisten sachorientiert, wobei es an Intrigen und Rivalitäten genausowenig fehlte wie in der öffentlichen Verwaltung. Elitenkontinuität jedenfalls auch hier bis in die zweite Hälfte der sechziger Jahre und Eschenburg einer dieser „Mandarine“ kurz bevor die Universitäten von den Folgen der Massenuniversität überwältigt wurden. Macht man sich klar, wie eng Eschenburg unbeschadet seiner Verachtung für die Hitler-Bewegung bis 1945 bei den Berliner Funktionseliten der Wirtschaft und der Reichsministerialität mitschwamm, wird auch verständlich, weshalb er sich später mit den zwölf Jahren des Dritten Reiches vergleichsweise wenig wis32 33
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Eschenburg, Theodor: Zur politischen Praxis in der Bundesrepublik: Kritische Betrachtungen, Bd. II, München 1966, S. 194. Eschenburg, Theodor: Aus dem Universitätsleben vor 1933, in: Flitner, Andreas (Hg.): Deutsches Geistesleben und Nationalsozialismus. Eine Vortragseihe der Universität Tübingen, Tübingen 1965, S. 23–46. Eschenburg, Theodor: Letzten Endes meine ich doch. Erinnerungen 1933–1999, Berlin 2000, S. 195. Küng, Hans: Umstrittene Wahrheit. Erinnerungen, München 2007, S. 156.
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senschaftlich befasst hat. Über die NSDAP, die Größen des NS-Regimes, die NSIdeologie, den totalen Staat und die Kriegführung hat er sich kaum geäußert. Ein paar Aufsätze oder Absätze zur Beamtenschaft im Dritten Reich, das war’s denn auch schon. Resultierte das aus eigenen Verwicklungen? Kaum. Diese waren vergleichsweise unbedeutend36 . Man gewinnt den Eindruck, dass ihm das überhitzte, hasserfüllte und ideologisch verdrehte Nazitum schlicht fremd war, widerlich und unerfreulich, von den Verbrechen ganz zu schweigen. Lieber fokussierte er seine Analysen aufs späte Kaiserreich, auf die Weimarer Republik und auf die Restauration des demokratischen Verfassungsstaates in den Jahren seit 1945. Auch diesbezüglich war er ein Rationalist und ein kühler Beobachter, der alles nicht in den Kategorien von Schuld und Sühne sah, sondern viel lieber nach institutionellen Fehlkonstruktionen suchte oder auch nach individuellen Schwächen der Akteure wie Schleicher und Groener, Brüning, Hindenburg, Meissner oder von Papen. Dabei sparte er nicht mit scharfen Werturteilen, aber gefühliges Moralisieren verabscheute er. Das überließ er anderen – übrigens auch das Moralisieren gegen die DDR und die Sowjetunion. Er hat auf die zwölf Jahre des Dritten Reiches nicht ungerührt als bloßen „accident de parcours“ zurückgeschaut, wie das Nina Grunenberg den ökonomischen „Wundertätern“ unterstellt. Dafür war er zu klug und zu historisch gebildet. Aber noch weniger war er der Meinung, die damals begangenen Verbrechen müssten auf die gesamte Vergangenheit und Zukunft Deutschlands ihren Schatten werfen. Dass er aber dazu neigte, die zwölf Jahre eher auszublenden als hell anzustrahlen, dürfte schon stimmen.
Die Bundesrepublik als deutscher Kernstaat und als Verwirklichung guter Traditionen Eschenburgs Einstellung zur Elitenkontinuität hängt eng mit seinem Staatsverständnis zusammen. Auch dieses war zeittypisch für das Kontinuitätsbewusstsein großer Teile der Führungsgruppen der frühen Bundesrepublik. War der Staat des Grundgesetzes nach der Katastrophe des Deutschen Reiches im Jahr 1945 etwas völlig Neues? Oder war die Bundesrepublik Deutschland nicht doch der deutsche Kernstaat, von dem sich die Wiederherstellung des zerbrochenen 36
Wer sucht, der findet. So hat neulich Rainer Eisfeld ein paar geschönte Details in Eschenburgs Memoiren und einen dubiosen Aktenvermerk aufgespürt. Vgl. Eisfeld, Rainer: Theodor Eschenburg. Übrigens vergaß er zu erwähnen… Eine Studie zum Kontinuitätsproblem in der Politikwissenschaft, in: ZfG 59 (2011), S. 27–44. Beim Blick auf Historiker, die mit staatsanwaltschaftlichem Eifer geschönten Memoiren, unschönen Vorgängen oder gar möglichen Untaten der Professorengenerationen im Dritten Reich oder in der DDR nachspüren, kann man sich durchaus vornehmere Beschäftigungen vorstellen. Doch jeder betreibt das, was ihm Freude macht. Der Schnüffler nach unreinem Verhalten von Zelebritäten handelt dabei durchaus legitim und zeitgemäß. „Auch die Inquisition ist säkularisiert. Wie einst der konfessionellen, spürt sie heute der politischen Abweichung nach“, hat Ernst Jünger aus gegebenem Anlass festgestellt und hinzugefügt: „Dem Zeitalter des Anstreichers ist das der Anbräuner gefolgt“. Jünger, Ernst: Sämtliche Werke, Stuttgart 1978 ff., Bd. 19, S. 37.
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Nationalstaats erhoffen ließ? Bekanntlich haben sich die politischen Eliten für das Kernstaatskonzept entschieden. Als die Westalliierten 1948 das Tor zur Gründung eines Weststaates öffneten, schreckten zuerst viele im Parlamentarischen Rat zurück. Der national-liberale Thomas Dehler beispielsweise wollte anfangs, wie Udo Wengst gezeigt hat, nicht mehr als ein „Notdach“ errichten. Doch nach vollendetem Werk im Mai 1949 war das Grundgesetz für ihn das „Endgültige“, der Start für das neu zu organisierende Deutschland, „das als Staat nicht zerfallen sei, sondern über die Zäsur von 1949 fortbestehe.“37 So wie er dachten die meisten, auch Eschenburg, und dieses Selbstverständnis hielt sich bis Ende der sechziger Jahre. Das Herangehen Eschenburgs in der Führungsgruppe von WürttembergHohenzollern ist geradezu beispielhaft für diesen Pragmatismus. Erst mussten die Ländchen der französischen Besatzungszone aus ihrer Isolierung herausgeführt und zu größeren Ländern verbunden werden. Dann galt es, aus der Trizone eine Art Staat zu machen – einen Verfassungsstaat, der stark genug wäre, sich von den Westalliierten die Souveränität zu ertrotzen, besser: diese geschmeidig auszuhandeln, potent genug auch für den wirtschaftlichen Wiederaufbau sowie die soziale Befriedung von Millionen Depossedierter, aber zugleich offen für die Ostzone und das Saarland. Da Eschenburg die DDR als weitgehend willenlose sowjetische Satrapie betrachtete, schienen ihm auch der Alleinvertretungsanspruch und die Nichtanerkennung der DDR vorerst plausibel. Dabei verblieb er bis zur Berlin-Krise. Von nun an wurde ihm zweierlei klar. Erstens erkannte er, dass die Wiedervereinigung gegen den Willen der atomar gerüsteten Sowjetunion nicht erzwungen werden konnte. Die zweite grundlegende Feststellung: der ungeklärte Status West-Berlins brachte eine ständige Kriegsgefahr und Erpressbarkeit mit sich. So schwebte ihm eine Lösung vor, die eine östliche Anerkennung der Zugehörigkeit West-Berlins zur Bundesrepublik gegen den Verzicht auf das Alleinvertretungsrecht, eine gewisse Anerkennung der Grenzen der DDR und Polens vorsah. Das beinhaltete die Anerkennung der Tatsache, dass die Wiedervereinigung nur noch „im Wege eines Staatsvertrags“ zwischen der Bundesrepublik und der DDR möglich wäre, „so gering auch die Chancen sind.“38 Eschenburg war der erste Publizist von Rang, der für eine deutschlandpolitische Neuorientierung plädierte. Vergleicht man sein differenziertes Räsonnement mit dem anderer Anerkennungs-Publizisten so wirken demgegenüber die entsprechenden Aufsätze Jaspers wie Sonntagspredigten eines Philosophen und die Forderungen Golo Manns wie Feuilletonismus. Doch die deutschlandpolitische Publizistik stand nicht im Mittelpunkt seiner Staatslehre. Vielmehr drehten sich seine Überlegungen vor allem um die verfassungspolitische Kontinuität. Bei allem Verlangen nach staatlicher Kontinuität zum Deutschen Reich war doch zuerst die Frage zu klären, was konsequent neu, 37 38
Wengst, Udo: Thomas Dehler 1897–1967. Eine politische Biographie, München 1997, S. 130. Eschenburg, Theodor: Die DDR respektieren, in: Sommer, Theo (Hg.): Denken an Deutschland. Zum Problem der Wiedervereinigung – Ansichten und Einsichten, Hamburg 1966, S. 162 und S. 168 f. Vgl. auch schon Eschenburg, Theodor: Die deutsche Frage. Verfassungsprobleme der Wiedervereinigung, München 1959.
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reformerisch und fortschrittlich sein musste, und was traditionell bleiben durfte. Eschenburg selbst wie viele im Parlamentarischen Rat und zuvor schon bei Beratung der Länderverfassungen wusste schließlich genau, dass gravierende Fehler zur Katastrophe der Weimarer Republik geführt hatten. Die ganze zweite Jahrhunderthälfte hindurch beschäftigte sich Eschenburgs kritischer Intellekt unablässig mit der Frage, wie viel Altes erhaltenswert sei, ja verteidigt werden musste, sollte der demokratische Verfassungsstaat Bestand haben, und wie viel Neues zu akzeptieren war, sollte eine Wiederkehr des Obrigkeitsstaates vermieden werden. Alt und erneuert zugleich, so sah er es, waren der Rechtsstaat, die Parteiendemokratie, die gewaltenteiligen politischen Institutionen und die föderale Ordnung. Dahrendorf, der mit Eschenburgs Denken aus vielen Diskussionen in den sechziger Jahren vertraut war, meinte: „seine Spontanreaktionen sind am Ende eher auf Ordnung als auf das freie Spiel der Kräfte gestimmt“ und fügte hinzu: „der enthusiastische Demokrat unter den Größen der Nachkriegszeit“ sei er nicht gewesen.39 Ob das auf Eschenburgs Urteil über die demokratischen Verfassungselemente durchgehend zutrifft, sei dahingestellt. Jedenfalls spielte die Kontinuitätsproblematik explizit oder implizit fast in jeden seiner grundsätzlichen Aufsätze hinein. Besonders stark beschäftigten diesen aus der Hansestadt Lübeck stammenden „Neuschwaben“ die Probleme der föderalen Ordnung der Bundesrepublik. Sollten die Länder so stark wie möglich sein und der Zentralstaat so schwach wie gerade eben noch hinnehmbar, oder musste es umgekehrt lauten: der Zentralstaat so stark wie möglich und die Länder so schwach wie das den süddeutschen Föderalisten gerade eben noch erträglich erschien? Bekanntlich haben sich in der Ära Adenauer die zentralstaatlichen Elemente gegenüber den stark föderalistischen Anfängen verstärkt, ohne die Länder so zu denaturieren, wie dies heutzutage der Fall ist. Eschenburg vertrat von Anfang an eine mittlere Position: starke, lebensfähige Länder, deshalb der Südweststaat, und zugleich ein starker Bund. Er war kein Herzens-Föderalist wie viele im damaligen deutschen Süden, sondern eher ein Vernunft-Föderalist. Gegen Ende seiner Tage hat er übrigens auch schon erkannt, wie unerbittlich die Europäische Gemeinschaft den Ländern die Lebenskraft auszusaugen droht.40 So wurde aus Eschenburg einer der repräsentativsten Staatslehrer der frühen Bundesrepublik. Zumeist eher praktisch als theoretisch argumentierend, manchmal spröde, manchmal mit sarkastischem Humor, aber immer mit präzisen Beispielen brachte er seinen Studenten, den Hörern seiner zahllosen Vorträge und seinen Lesern unter ständiger Bezugnahme auf die Erfahrungen im Kaiserreich und in der Weimarer Republik die Grundgedanken des verfassungspolitischen Kontinuitäts-Denkens nahe. Dass dabei ein ständiger Rückgriff auf historische
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Dahrendorf, Ralf: Lob der Institutionen, in: Rudolph, Hermann (Hg.): Den Staat denken. Theodor Eschenburg zum Fünfundachtzigsten, Berlin 1990, S. 68 f. Eschenburg, Theodor: Bundesländer ohne Zukunft? Der europäische Einigungsprozeß im Föderalismus der Bundesrepublik, in: Baden-Württemberg. Eine politische Landeskunde, Teil 2, Stuttgart 1991, S. 245–251.
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Erfahrungen unverzichtbar war, verstand sich für diesen Praktiker einer zeitgeschichtlich fundierten Politikwissenschaft41 von selbst.
Diskontinuitäten zur frühen Bundesrepublik Was hat sich von der mit vielen Wurzeln in die Vergangenheit der ersten Jahrhunderthälfte reichenden frühen Bundesrepublik bis heute gehalten? Wenig. Skizzieren wir also zum Schluss einige der Diskontinuitäten zu den Strukturen und Überzeugungen jener Frühzeit der Bundesrepublik, für die Eschenburg stand. Im zu Ende gehenden 20. Jahrhundert, bei der Arbeit am zweiten Band seiner Erinnerungen,42 hat er selbst ziemlich klar verspürt, dass sich der vorherrschende Zeitgeist von seinem eigenen Staatsverständnis bereits weit entfernt hatte. „In allen Bereichen von Politik und Staat haben wir es mit gegenläufigen Strömungen von Zeitgeist und Funktionsnotwendigkeiten der politischen Ordnung zu tun“, konstatierte er illusionslos. Ein „anti-staatlicher Schub“ habe schon im Dritten Reich mit der Unterwerfung des Staates unter die Partei begonnen, aber „erst in der Nachkriegszeit ist der Staat entstaatlicht worden.“ Inzwischen sei der Staat „zur Behörde der Gesellschaft geworden.“ Kritisch betrachtete er auch die Ausbreitung eines Partizipationsverlangens, dessen Befürworter die Institutionen der parlamentarischen Demokratie und des Rechtsstaats zu unterlaufen suchten. Dadurch sei ein neuartiges Element der „Unberechenbarkeit“ und „Unregierbarkeit“ in die Politik gekommen. Besonders fragwürdig schien ihm die von der Protestund Ökologiebewegung, aber nicht nur von ihr, praktizierte Generalrechtfertigung durch das Gewissen – „eine ganz verfluchte Manier, mit der man alle Ordnungen aushebeln und sich dabei noch ethisch geadelt vorkommen kann.“ Die schwäbischen „Wutbürger“ gegen Stuttgart 21 hätten ihn nicht erstaunt. Für die Konfusion im öffentlichen Bewusstsein machte er in erster Linie die Grünen verantwortlich, zeigte sich aber überhaupt besorgt beim Blick auf die „Zersetzung“ der Parteien. Auf einige wichtige Faktoren des Kontinuitätsbruchs zur frühen Bundesrepublik, ist er aber gar nicht oder nur kursorisch eingegangen. Sie lassen sich aber an seiner Gestalt unschwer beleuchten. Von vorneherein lag ein Defizit seines stark auf Institutionen und Konventionen bezogenen Ansatzes darin, dass er die Bedingungen der politischen Ökonomie weitgehend aussparte. Als im berauschenden Boom der fünfziger Jahre die Grundsatzdiskussionen über die Wirtschafts- und Sozialordnung abflauten, verwandte Eschenburg und mit ihm eine ganze Generation von Politikwissenschaftlern und Staatsrechtslehrern auf die ökonomische Dimension nicht mehr allzu 41
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Eschenburg, Theodor: Aufgaben der Zeitgeschichte, in: GWU 1955, Heft 6, S. 356–361. Zusammen mit seinem Tübinger Kollegen Hans Rothfels fungierte er von 1952 bis 1977 als Herausgeber der „Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte“, überließ dabei Rothfels zwar den Vortritt, betrachtete die Zeitschrift aber als Plattform zur Publikation verschiedenster empirischer Studien zur Weimarer Republik, zum Dritten Reich und zur Besatzungszeit. Eschenburg, Theodor: Letzten Endes meine ich doch. Erinnerungen 1933–1999, Berlin 2000. Die folgenden Zitate hieraus S. 246–250.
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viele Überlegungen. Man ließ die Wirtschaftskapitäne und die mittelständischen Unternehmer gewähren. Das Wirtschaftsleben der Ära Adenauer, die zugleich eine Ära Erhard war, wurde aber nicht nur von den Ordnungsvorstellungen der neo-liberalen Schule bestimmt. Realwirtschaftlich war zugleich ein traditionelles Verbundsystem maßgeblich, für das sich später der Begriff Deutschland AG eingebürgert hat. Im Rahmen der staatlichen Vorgaben steuerte ein enger Verbund von Großindustrie, Banken, Versicherungen, mehr und mehr auch toleriert von den Gewerkschaften, die Industrie – das aber noch eindeutig im nationalen Interesse des Kernstaats Bundesrepublik Deutschland. Gewiss war die deutsche Exportindustrie seit den Jahrzehnten des Wilhelminismus auf den Weltmärkten sehr erfolgreich tätig, meisterte also die damalige Globalisierung. Aber die zentrale Bezugsgröße war und blieb doch der deutsche Staat. Das fand auch im Management seinen selbstverständlichen Ausdruck. Die Unternehmer, Manager und Bankiers der Jahre des „Wirtschaftswunders“ waren so gut wie ausschließlich Deutsche, die primär im Interesse ihrer deutschen Unternehmungen arbeiteten, auch der Belegschaften. Dies war die weithin nicht hinterfragte, für selbstverständlich erachtete Grundbedingung. Wie in unserem Essay angedeutet, stand auch Eschenburg selbst mit dem Milieu der Deutschland AG in Verbindung. Da sich die Wirtschaft in den demokratischen Verfassungsstaat eingliederte, hat er keinen Grund gesehen, ihre Rolle zu problematisieren. Seit Mitte der sechziger Jahre führte das Wiederaufleben marxistischer Strömungen auch zur grundsätzlichen Kapitalismuskritik. Doch für die Realwirtschaft war das weitgehend folgenlos geblieben. Seit Mitte der achtziger Jahre jedoch wurde die Deutschland AG von Politik und Großunternehmen gemeinsam und planmäßig aufgelöst. Die europäisierten und globalisierten Kapitalmärkte schienen schnelleres Wachstum zu versprechen. Großunternehmungen und Management internationalisierten sich jetzt in beispiellosem Tempo. Die im Kontext von Eschenburg erwähnten Persönlichkeiten – Erhard, Guth, Blessing oder ein Bankier wie Paul Binder – hätten es in den fünfziger oder sechziger Jahren wohl für undenkbar gehalten, dass 2012 an der Spitze der Deutschen Bank ein in London domizilierter indischer Investitionsbanker einem sehr erfolgreichen Schweizer Banker nachfolgen würde. Heute ist es ein Gemeinplatz, dass die Globalisierung der Kapitalmärkte, verbunden mit einer wenigstens partiellen Internationalisierung des Managements, die ökonomischen Bedingungen des Verfassungsstaats, somit auch das Modell Deutschland der frühen Bundesrepublik, zutiefst verändert hat. Von den Vorständen global wirtschaftender Unternehmungen kann nicht mehr erwartet werden, dass sie deutschen nationalen Interessen den höchsten Stellenwert einräumen. Auch in diesem entscheidend wichtigen Bereich setzte sich das durch, was der späte Eschenburg recht befremdet und etwas ratlos als „Übergewicht der Gesellschaft“ bezeichnete. Für die heutige Großwirtschaft ist der Nationalstaat in der Tat nicht viel mehr als – mit Eschenburg zu sprechen – eine „Behörde der Gesellschaft.“ Tiefgreifende Veränderungen lassen sich auch in anderen Bereichen beobachten, die im Kontext Eschenburgs zu erörtern waren. Dieser Professor der Poli-
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tikwissenschaft wirkte durch das gesprochene und das geschriebene Wort. Voraussetzung seines Erfolgs war ein gebildetes Publikum, das einem erstklassigen Experten zuhören konnte und wollte. Seine Tübinger Studenten waren meistenteils Söhne und Töchter des Bildungsbürgertums. Aus dem bürgerlichen Milieu kamen auch Eschenburgs Leser, die abzuwägen verstanden und denen ein differenziertes Argument zuzumuten war. Aus heutiger Sicht fällt auf, welches Medium für Eschenburg und seinesgleichen noch keine Rolle spielte: das Fernsehen. Seitdem es die Zeitung und das Buch als Leitmedium beiseite gedrängt hat, sind die Wirkungsmöglichkeiten selbst geistig überlegener Persönlichkeiten relativiert. In einer der heutigen Polit-Talkshows wäre auch ein Eschenburg nur ein Diskutant unter anderen, so er überhaupt eingeladen würde. Viel wesentlicher aber ist der Umstand, dass das Fernsehen die parlamentarische Demokratie stark verändert hat. Redaktionen, die ziemlich maßstablos dem jeweiligen Zeitgeist folgen, fabrizieren recht willkürlich zahllose Bilderwelten der komplizierten eigenen Gesellschaft, der Weltgesellschaft und der sogenannten politischen Wirklichkeit. Auswahl und Kommentierung lassen häufig ein tüchtiges Maß an Voreingenommenheit erkennen. Diese Bilder wirken auch auf die Politik als massenwirksame Komplexitätsreduktionen. Dabei strahlt die Emotionalisierung, die von der Fernsehberichterstattung ausgeht, auf das gesamte politische System aus. Unemotionales, zweckrationales Handeln, für das Eschenburg jahrzehntelang geworben hat, wird schwieriger. Die Repräsentanten der parlamentarischen Demokratie haben dem wenig Eigenes entgegenzusetzen. Spitzenparlamentarier müssen froh sein, wenn sie ins Bild kommen und Sprechblasen von 60 oder 75 Sekunden Länge zu Gehör bringen dürfen. Nicht die Diskussionen im Deutschen Bundestag werden von Millionen verfolgt, sondern die Schaukämpfe der Talkshows. Gewiss gibt es Versuche, das zu korrigieren. Doch dass das Fernsehen und heute das Internet die parlamentarische Demokratie revolutioniert haben, ist kaum zu bestreiten. Suchen wir gar nicht die Frage zu vertiefen, wie und weshalb sich auch die Universität grundlegend verändert hat, der Eschenburg seine produktivsten Jahrzehnte schenkte. Würde so ein Typ in ihren modularisierten Studiengängen und standardisierten Vorlesungen in den heutigen Universitäten noch Gehör finden? Könnte er sich dort wohlfühlen? Die Massenuniversität beinhaltet nicht nur Massen von Studierenden sondern auch Massen von Professoren. Allein die immerhin noch elitäre Vereinigung deutscher Staatsrechtslehrer zählt heute an die 650 Mitglieder, 1950 waren es 100. Ähnlich verhält es sich in der Politikwissenschaft und der Zeitgeschichte. Schwer vorstellbar, wie aus Hunderten mit einander konkurrierender, stark spezialisierter und in viele Gruppierungen zerfallender Disziplinen ein „Praeceptor Germaniae“ emporwachsen und sich über Jahrzehnte hinweg halten könnte. Auch ein weiteres Feld, das im Lebenslauf Eschenburgs und in seinem Staatsbild eine beträchtliche Rolle spielte, hat sich stark verändert: das Corps der hohen Ministerialbeamten. Reichsministerialität, hohe Beamte des Bundes und der Länder bildeten fast das ganze 20. Jahrhundert hindurch den „bürokratischen Rückhalt“ des deutschen Staates, wie Eschenburgs das nannte. Die hohen Ämter sind geblieben, sie haben auch, wie viele andere Bürokratien, ein Breitenwachstum zu
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verzeichnen. Doch die Gestaltungsmöglichkeiten der obersten deutschen Verwaltungseliten sind deutlich geringer geworden. Zu Eschenburgs Zeiten stand die hohe Ministerialität an der Spitze der politischen Machtpyramide, nur nachgeordnet den parlamentarisch verantwortlichen Ministern, dem Parlament und den höchsten Gerichten. Heute spielt sie vielfach nur die zweite Geige in dem von der EU-Bürokratie in Brüssel dominierten Mehrebenensystem. Die heutige Rolle ist gewiss nicht unwichtig und immer noch einigermaßen einflussreich, aber überhaupt nicht mehr zu vergleichen mit der Machtfülle und den Gestaltungsmöglichkeiten von Staatssekretären oder Ministerialdirektoren in den Jahrzehnten Adenauers, Erhards, auch noch Kiesingers, Brandts, Helmut Schmidts oder Helmut Kohls. Gegenüber dem heutigen bürokratischen System diffuser, staatsübergreifend vertikal und horizontal kompliziert vernetzter, durch Gesetzgebung und Rechtsprechung kanalisierter Aktivitäten müsste sich ein Eschenburg mit seinen gestrengen Forderungen nach Amtsgehorsam, personeller Amtsverantwortung, reinlicher Funktionsunterscheidung und transparenten Verwaltungsabläufen unter parlamentarischer Kontrolle, auch unter Kontrolle wachsamer Journalisten und Publizisten wie ein Don Quijote vorkommen. Das führt zu einer weiteren Diskontinuität, heute wichtiger als alle anderen Veränderungen: zur Europäisierung aller politischen Entscheidungsabläufe. Die über Jahrzehnte hinweg kaum gebremste Vertiefung und Erweiterung der Europäischen Union hat zu einer Oligarchisierung geführt, wie sie in der frühen Bundesrepublik nicht mehr vorstellbar war, nachdem die Hohe Kommission ihre Tätigkeit erst reduziert, dann eingestellt hatte. Im europäisierten Mehr-EbenenSystem sucht die eigentlich dem Bundestag, der nationalen Öffentlichkeit und letztlich den Wählern verantwortliche Bundesregierung in mühsamen, intransparenten und unkontrollierbaren Aushandlungsprozessen im Europäischen Rat, gegenüber der EU-Kommission und mittels Einflussnahme auf das Europäische Parlament halbwegs akzeptable Regelungen mühsam durchzusetzen. Bei zweitund drittrangigen Fragen erfolgt vielfach noch eine gewisse Information und Beteiligung von Bundestag und Bundesrat. Bei erstrangigen, weitreichenden und auf europäischer Ebene besonders umstrittenen Entscheidungen jedoch entscheiden die europäischen Oligarchien. Bundestag und Bundesrat sehen sich dann – oft im Eiltempo – zur Ratifizierung kompliziertester Kompromisse zwischen den 27 EU-Regierungen, der Kommission und der EZB gezwungen, auf deren Ausgestaltung sie keinen Einfluss hatten und die sie vielfach auch nicht verstehen. Anschließend obliegt ihnen noch die peinvolle Aufgabe, ihre Wähler zu beruhigen und über die langfristigen Konsequenzen zu täuschen, wollen sie sich nicht den Sanktionen ihrer Partei- und Fraktionsoligarchen aussetzen. Seit der vollen Etablierung der europäisch bestimmten Mehr-Ebenen-Systeme, in denen auch der Länderparlamentarismus leerläuft, liegt geradezu ein Abgrund zwischen der frühen Bundesrepublik und den heutigen Zuständen. Die Themen, um die Eschenburgs kritischer Intellekt damals kreiste – vom Einfluss der Verbände über die Parteifinanzierung und die Diätenproblematik bis hin zur Korruption – sind zwar immer noch wichtig und sie versetzen die Öffentlichkeit periodisch in heftige Erregung. Doch im Vergleich mit den eben angesproche-
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nen Problemen der Globalisierung und der Europäisierung sind das doch eher dritt- und viertrangige Fragen. Wir haben Eschenburg – leicht ironisch – ein Leitfossil der frühen Bundesrepublik genannt. Leitfossilien sind Versteinerungen, die sich in deutlich abgrenzbaren Sedimenten vorfinden. Das erlaubt dem Geologen eine wechselseitige Bestimmung des Alters der Leitfossilien und der Sedimente. Das Bild vom versteinerten Jurameer, in dem sich die Leitfossilien ausgestorbener Mollusken oder Landwirbeltiere finden, mag etwas überzogen sein. Natürlich trennen uns keine Jahrmillionen von der frühen Bundesrepublik, der großen Zeit Eschenburgs. Aber der Kontinuitätsbruch zwischen damals und heute reicht doch bis tief in die Fundamente hinein, auch wenn die Politik gern den Anschein erweckt, es habe sich nicht allzu viel geändert. Ein scharfer Blick auf das verehrungswürdige Leitfossil Theodor Eschenburg und die Sedimente der frühen Bundesrepublik lässt uns mit einem gewissen Erschrecken feststellen, dass die Zeiten einer politisch halbwegs steuerbaren, „vernunftbestimmten Ordnung“, die das Staatsvolk begreifen und rational beeinflussen könnte, weit hinter uns liegen. Wozu aber noch politische Bildung als eine Art „Fahrschule für Politik“43, wenn Politik und Parteien absichtlich oder fahrlässig alles getan haben, ein furchterregendes, unsteuerbares Monster-Gefährt zu konstruieren?! Der demokratische Verfassungsstaat, dessen Vorzüge und Gefährdungen dieser „Praeceptor Germaniae“ einer ganzen Generation nahe brachte, degeneriert langsam, aber sicher zur schönen Fassade, hinter der sich unkontrollierte und unkontrollierbare Oligarchien tummeln, die auch der grimmige Eschenburg nicht mehr zur Verantwortung rufen könnte.
Weiterführende Literatur Eschenburg, Theodor: Also hören Sie mal zu. Geschichte und Geschichten 1904 bis 1933, Berlin 1995. Eschenburg, Theodor: Letzten Endes meine ich doch. Erinnerungen 1933–1999, Berlin 2000. Schwarz, Hans-Peter: Nachruf auf Theodor Eschenburg, in: VfZ 47 (1999), S. 593–600. Lehmbruch, Gerhard: Theodor Eschenburg und die Anfänge der westdeutschen Politikwissenschaft, in: Politische Vierteljahresschrift 40 (1999), S. 641–652. Eisfeld, Rainer: Theodor Eschenburg. Übrigens vergaß er noch zu erwähnen… Eine Studie zum Kontinuitätsproblem in der Politikwissenschaft, in: ZfG 59 (2011), S. 27–44. Bleek, Wilhelm: Geschichte der Politikwissenschaft in Deutschland, München 2001.
Hinweise zu den Quellen Neben den zahlreichen veröffentlichten Werken Theodor Eschenburgs sind wichtige Unterlagen zu seiner Zeit als Student, Dozent, Professor und Rektor im Archiv der Universität Tübingen zu finden. Die Unterlagen zum Wirken als Funktionär verschiedener Wirtschaftsverbände liegen vor allem im Bundesarchiv Berlin, zu dem als Kommentator der Wochenzeitschrift Die Zeit in deren Hamburger Redaktionsarchiv. 43
Eschenburg, Theodor: Letzten Endes meine ich doch. Erinnerungen 1933–1999, Berlin 2000, S. 195.
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Kein Vollzeitrepublikaner – die Findung des Demokraten Theodor Eschenburg (1904–1999) Einleitung Die Lebenswege von Udo Wengst und Theodor Eschenburg haben sich früh gekreuzt. Im Tübingen der 1960er Jahre traf der junge Student der Geschichte und Politikwissenschaft das erste Mal auf den über 40 Jahre älteren Professor – eine Begegnung, die sich ihm im wahrsten Sinne des Wortes ins Gedächtnis einbrannte. Diese Wirkung hatte Theodor Eschenburg allerdings nicht nur auf den noch unerfahrenen jungen Mann, sondern auf viele seiner Zeitgenossen – zum Teil selbst gestandene Originale und vergleichbare Charismatiker der westdeutschen Politik. Altbundeskanzler Konrad Adenauer etwa soll nach einem Treffen mit dem aus Kiel stammenden Norddeutschen in dem ihm eigenen, als „Familienkölsch“ bekannten rheinischen Singsang bemerkt haben: „Jestern war de Eschenburg bei mir, isch dachte, der plant ’ne Attentat“.2 Tatsächlich waren Konrad Adenauer und Udo Wengst beide Zeuge ein und desselben Schauspiels geworden, das als vergnügliche Anekdote in ganzen Studentengenerationen die Runde machte: Der starke Raucher Eschenburg pflegte seine Pfeife noch brennend in die Jackentasche zu stecken; während Vorlesungen etwa kam es auf diese Weise zu bisweilen heftiger Rauchentwicklung. Das Brandloch, auf dessen baldiges Entstehen insbesondere die studentischen Zuhörer Wetten abschlossen, stellte sich allerdings nie ein: Bei seiner Emeritierung zu Beginn der 1970er Jahre ließ sich Theodor Eschenburg beim Tübinger Herrenausstatter Bleckmann am Holzmarkt einen neuen Anzug anfertigen; sein alter blieb nach 26jähriger Tragezeit zurück und fand von dort seinen Weg ins Stadtmuseum – intakt. Für Theodor Eschenburg selbst war das weniger Zufall als vielmehr eine ausgeklügelte „Frage der Technik, angekokelte Taschen zu vermeiden“.3 Solche und ähnliche Geschichten, Döntjes, wie der Norddeutsche Eschenburg zu sagen pflegte, sollen aber nicht Gegenstand des vorliegenden Aufsatzes sein. Sie verweisen ohnehin nur auf eine Seite der vielschichtigen und von Widersprüchen keineswegs freien Persönlichkeit, die sich eben nicht allein durch Vergnüglich-Anekdotisches erschließen lässt – mag Theodor Eschenburg dieses auch Zeit seines Lebens besonders geschätzt haben.4 Auch können die Facetten 1 2 3 4
Ich danke Patrick Bernhard für die Unterstützung bei der Recherche und seine wertvollen Anregungen. Dönhoff, Marion: „Isch dachte, der plant ’ne Attentat“: Ein Wächter der Verfassung. Zum 85. Geburtstag von Theodor Eschenburg, in: Die Zeit vom 20. 10. 1989. http://www.tuebingen.de/1564_12967.html [letzter Zugriff Oktober 2011]. Davon zeugen unter anderem erfundene Figuren wie „Kasimir Pachulke“ oder „Thusnelda Suppengrün“. Vgl. Sommer, Theo: Gelebte Autorität. Theodor Eschenburg
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des Mannes, der vier politische Systeme, nur zwei davon Demokratien, durchlebte, nicht allein aus demokratiegeschichtlicher Perspektive dargestellt werden. Zwar war Theodor Eschenburgs Weg vom Kaiserreich in die Bundesrepublik letztlich ein Weg zur Demokratie. Diese Entwicklung verlief aber nicht linear und weist zahlreiche Brüche auf. Als genuin demokratisch kann sie selbst dann nicht bezeichnet werden, wenn man demokratischem Handeln viele unterschiedliche Ausprägungsmuster und Spielarten zugesteht. Anders formuliert: Eschenburg war nicht, er wurde Demokrat.5 Dass er als solcher schonungslos demokratische „Systemfehler“ eben jener ersten deutschen Republik aufdeckte, deren Entstehen er zuvor von der Basis aus untergraben hatte, ist dabei einer der vielen Treppenwitze der an Findungen reichen Eschenburgschen Geschichte.
Das Nachkriegsnarrativ: Eschenburg als „Gewissen der Nation“ und Wahrer der bundesrepublikanischen Demokratie 1945–1999 Theodor Eschenburg gilt als eine der Gründungsfiguren der Bundesrepublik. Bei Kriegsende 41 Jahre alt, begleitete er die Etablierung und Durchsetzung der zweiten deutschen Demokratie von Beginn an. 1946 zog Eschenburg vom Remstal in die schwäbische Heimat seiner Frau und wurde im gleichen Jahr zum Flüchtlingskommissar des Landes Württemberg-Hohenzollern berufen.6 Ein Jahr später war er im Deutschen Büro für Friedensfragen tätig, das unter der Ägide der Ministerpräsidenten der amerikanischen Besatzungszone Friedensverhandlungen vorbereiten sollte.7 Zunächst Ministerialrat im sozialdemokratisch geführten Innenministerium in Süd-Württemberg (1947–1952), dann Staatsrat (ab 1951), spielte Theodor Eschenburg alsbald eine bedeutende Rolle bei der Ausgestaltung des Südweststaates.8 Nicht nur hob er so das Land Baden-Württemberg politisch mit aus der Taufe. Er kommentierte diesen von ihm als vorbildhaft für die gesamte 5
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ist gestorben. Mit ihm verstummt eine große Stimme der deutschen Politikwissenschaft. Ein Nachruf, in: Die Zeit vom 15. 7. 1999. Ähnlich seit Neuestem: Hacke, Jens: Nationale Traditionen und politische Öffnung nach Westen: Dolf Sternberger und Theodor Eschenburg als Nestoren der deutschen Politikwissenschaft, in: Kiessling, Friedrich und Rieger, Bernhard (Hg.): Mit dem Wandel leben: Neuorientierung und Tradition in der Bundesrepublik der 1950er und 60er Jahre, Köln u.a. 2011, S. 209–228, hier S. 214. Hacke hält Eschenburgs Äußerungen zu seiner politischen Haltung vor 1945 für „erstaunlich konturlos“ und glaubt, dass Eschenburg sich erst 1945 zu einer vorbehaltslosen Anerkennung der Demokratie durchgerungen habe. Lehmbruch, Gerhard: Lebenslauf von Theodor Eschenburg, in: Institut für Politikwissenschaft in Verbindung mit der Universität Tübingen (Hg.): Theodor Eschenburg (1904–1999): Tübinger Perspektiven. Katalog zur Ausstellung anlässlich seines 100. Geburtstages, Tübingen 2004, S. 8–11. Eisfeld, Rainer: Theodor Eschenburg: Übrigens vergaß er noch zu erwähnen… Eine Studie zum Kontinuitätsproblem in der Politikwissenschaft, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 59 (2011), S. 27–44. Vgl. Späth, Lothar: Und was ihn denn mit uns Schwaben verbindet…, in: Hermann, Rudolph (Hg.): Den Staat denken. Theodor Eschenburg zum Fünfundachtzigsten, Stuttgart 1989, S. 23–26.
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Neugliederung der Bundesrepublik empfundenen Prozess auch aus wissenschaftlicher Perspektive.9 Diese doppelte Leidenschaft für Politik und Wissenschaft machte er schließlich zum Beruf: Parallel zu seiner Tätigkeit in der württembergischen Regierung nahm der promovierte Historiker Eschenburg bereits kurz nach Kriegsende einen Lehrauftrag an der Universität Tübingen an, wurde 1949 zum Honorarprofessor und schließlich 1952 auf den Lehrstuhl für wissenschaftliche Politik berufen, den er bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1973 inne hatte. Mit dem Aufbau des Seminars für wissenschaftliche Politik war Theodor Eschenburg maßgeblich an der Institutionalisierung der Politikwissenschaft in der Bundesrepublik beteiligt. Die Wissenschaft hatte für ihn aber auch stets in die Gesellschaft zu wirken, sollte gleichsam erzieherische und pädagogische Qualität besitzen: Zusammen mit dem Freiburger Ordinarius für Politikwissenschaft Arnold Bergstraesser engagierte sich Eschenburg deswegen für sein Leib- und Magenthema, die politische Bildung, und setzte die Einführung des Faches Gemeinschaftskunde an den Schulen des Landes Baden-Württembergs durch. Seine Monographie „Staat und Gesellschaft in Deutschland“10 avancierte zum Standardwerk der Gemeinschaftskundelehrer der „ersten Generation“, die bei ihm die Ausbildung durchlief.11 In eine breitere bundesdeutsche Öffentlichkeit hinein wirkte Theodor Eschenburg aber auch durch sein Engagement bei der Etablierung des Fachs Zeitgeschichte. Er war Mitbegründer des späteren Instituts für Zeitgeschichte (IfZ) in München und hob 1953 zusammen mit dem ebenfalls in Tübingen lehrenden Historiker Hans Rothfels die Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte (VfZ) aus der Taufe, das renommierte deutsche Fachorgan der Geschichtswissenschaft.12 Fast 20 Jahre lang war Eschenburg Mitglied des wissenschaftlichen Beirats des IfZ und arbeitete im Herausgebergremium der Vierteljahrshefte.13 Des weiteren erreichte Eschenburg die bundesdeutsche Gesellschaft der Nachkriegszeit über seine ausgeprägte publizistische Schaffenskraft: In 30 Jahren produzierte Eschenburg mehr als 300 Artikel14 für das liberale Hamburger Wochenblatt Die Zeit und avancierte damit, wie es sein Schüler, der langjährige Zeit-Chefredakteur Theo Sommer, ausdrückte, zum „Miterzieher einer ganzen Generation von Journalisten“.15 9 10 11
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Eschenburg, Theodor: Das Problem der Neugliederung der Deutschen Bundesrepublik: Dargestellt am Beispiel des Südweststaates, Frankfurt a.M. 1950. Eschenburg, Theodor: Staat und Gesellschaft in Deutschland, Stuttgart 1956. Lehmbruch, Gerhard: Demokratie als rationaler Prozess, in: Hermann, Rudolph (Hg.): Den Staat denken. Theodor Eschenburg zum Fünfundachtzigsten, Stuttgart 1989, S. 53– 59. Möller, Horst und Wengst, Udo (Hg.): 60 Jahre Institut für Zeitgeschichte. Geschichte – Veröffentlichungen – Personalien, München 2009. Broszat, Martin: Alles andere als ein Leisetreter, in: Hermann, Rudolph (Hg.): Den Staat denken. Theodor Eschenburg zum Fünfundachtzigsten, Stuttgart 1989, S. 136–141. Auszählung auf der Grundlage der Tübinger Eschenburg-Bibliographie, in: http:// www.uni-tuebingen.de/fakultaeten/wirtschafts-und-sozialwissenschaftliche-fakultaet/ faecher/ifp/institut/publikationen/eschenburg-bibliographie.html [letzter Zugriff 26. 11. 2011]. Sommer, Theo: Miterzieher einer ganzen Generation von Journalisten, in: Hermann, Rudolph (Hg.): Den Staat denken. Theodor Eschenburg zum Fünfundachtzigsten, Stuttgart 1989, S. 103–109, hier S. 104.
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Diese Dienste an der bundesdeutschen Demokratie haben das Bild Theodor Eschenburgs in der Bundesrepublik nachhaltig geprägt. Über Jahrzehnte hinweg strickte die zweite deutsche Republik an dem Portrait eines ausgesprochen standfesten, charakterstarken, nicht immer bequemen, aber doch verschroben-liebenswürdigen, temperamentvollen Mannes, der mit geradliniger Pedanterie die Demokratie, ihre Institutionen und Verfahrenswege verteidigte und gleichzeitig mit moralischer Rigorosität und analytischem Scharfsinn „Gefälligkeitsdemokratie“, „Ämterpatronage“ und „Beutenahme der politischen Parteien“ anprangerte.16 Zur Entstehung dieses gerade in der noch ungefestigten jungen Demokratie stabilisierend wirkenden Bildes eines genuinen deutschen Demokraten haben neben Eschenburg selbst vor allem seine Schüler, Kollegen und Weggefährten beigetragen. Ein wenig befremdlich erscheint aus heutiger Sicht die kaum jemals in Frage gestellte Selbstverständlichkeit, mit der Theodor Eschenburg vom angesehen Staatsrat, Hochschullehrer und Rektor nach und nach zum deutschen „Magister“17, zum „Gewissen der Nation“18 , ja zum „Praeceptor Germaniae“19 aufstieg und zur neuen Führungsfigur der sich offenbar selbst als „vaterlos“ empfindenden bundesrepublikanischen Gründungsgeneration stilisiert wurde20 . In Theodor Eschenburg ließ sich hineinprojizieren, was die Allgemeinheit während der Diktatur so schmerzlich hatte vermissen lassen. Mit Genuss etwa kolportierten seine Weggefährten humorige Geschichten, die Eschenburg als Träger damals als ganz und gar „undeutsch“ geltender Tugenden zeigten: „Zivilcourage“, „persönlicher Mut“21 und „unbestechliches Rechtsgefühl“.22 Die Erzählungen reichten von Eschenburgs Ermahnung an Konrad Adenauer, auch der Bundeskanzler müsse die Straßenverkehrsordnung achten, über die Durchsetzung des Parkleitsystems vor der Aula der Universität und den Verweis des Sandalen ohne Socken tragenden studentischen Vorsitzenden aus einer Pressekonferenz bis hin zu Beschwerdebriefen an den Postminister wegen der unrechtmäßigen Erhebung einer Portogebühr von 20 Pfennig.23 Als „Mahner, Wächter, oft auch Donnerer“ be16
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Menke-Glückert, Peter: Harte Auseinandersetzungen mit „Teddy“, in: Hermann, Rudolph (Hg.): Den Staat denken. Theodor Eschenburg zum Fünfundachtzigsten, Stuttgart 1989, S. 84–92. Dahrendorf, Ralf: Das Lob der Institutionen, in: Hermann, Rudolph (Hg.): Den Staat denken. Theodor Eschenburg zum Fünfundachtzigsten, Stuttgart 1989, S. 65–69. Sommer, Theo: Gewissen der Nation. Einer wie Theodor Eschenburg fehlt heute. Ein Nachruf zum 100. Geburtstag, in: Die Zeit vom 28. 10. 2004. Dönhof, Marion: Sehr gefürchtet und sehr geliebt, in: Hermann, Rudolph (Hg.): Den Staat denken. Theodor Eschenburg zum Fünfundachtzigsten, Stuttgart 1989, S. 98–102, hier S. 107 und 108. So Krause-Burger in Anspielung auf die These von der „vaterlosen Gesellschaft“ des Psychologen Alexander Mitscherlich. Krause-Burger, Sibylle: Da kommt Pachulke aus Kirchentellinsfurt…, in: Hermann, Rudolph (Hg.): Den Staat denken. Theodor Eschenburg zum Fünfundachtzigsten, Stuttgart 1989, S. 60–64. Müller Gebhard: Der hanseatische Praeceptor Sueviae, in: Hermann, Rudolph (Hg.): Den Staat denken. Theodor Eschenburg zum Fünfundachtzigsten, Stuttgart 1989, S. 32– 37, hier S. 36. Dönhof, Marion: Sehr gefürchtet und sehr geliebt, in: Hermann, Rudolph (Hg.): Den Staat denken. Theodor Eschenburg zum Fünfundachtzigsten, Stuttgart 1989, S. 98–102. Geyer, Dietrich: Gute Policy im Rektoramt, in: Hermann, Rudolph (Hg.): Den Staat denken. Theodor Eschenburg zum Fünfundachtzigsten, Stuttgart 1989, S. 76–79.
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zeichneten Eschenburg deswegen ehrfurchtsvoll auch seine selbst niemals laut auftretenden Kritiker.24 Dass sein öffentlich bekundeter moralischer Rigorismus vor Nichts und Niemandem haltmachte, für Angestellte der Universität ebenso wie für Bundeskanzler galt, stimmte gleichwohl nicht immer. Während der Studentenproteste in den 1960er Jahren ergriff Eschenburg beispielsweise Partei für Kollegen, die aufgrund ihres politischen und wissenschaftlichen Engagements für das NS-Regime durchaus zurecht in die Kritik geraten und sich nun studentischen Vorhaltungen ausgesetzt sahen: Kurzerhand verbot Rektor Eschenburg etwa das Tübinger Studentenmagazin „Notizen“, das NS-Originalschriften eines Mediziners der Universität veröffentlicht und den Arzt in SA-Uniform und Amtskette des Tübinger Universitätsrektors auf dem Titelbild abgebildet hatte – für Theodor Eschenburg ohnehin nur „Jugendsünden“ seines Kollegen, wie er einem Zeitgenossen gegenüber bemerkte.25 Öffentlich vertrat er ein eher juristisches Argument: Ein „politisches Mandat“ stehe der Studentenschaft als nicht demokratisch legitimiertem Zwangsverband kaum zu. Allgemeine politische Stellungnahmen müsse sich deswegen auch die aus Zwangsbeiträgen finanzierte studentische Presse verbieten.26 Seine schützende Hand hielt er aber auch über den Literaten, Rhetorikprofessor und Professorenkollegen Walter Jens: Als der aufgebrachte Jens einen seiner Doktoranden verprügeln wollte und sich einen schriftlichen Verweis einhandelte, ließ Eschenburg das inkriminierende Aktenstück mit den Worten „da findet es niemand“ kurzerhand in der Registratur der Universität verschwinden.27 „Erfreulich rigoros“, so die verhalten kritische Einschätzung des Politikwissenschaftlers Klaus von Beyme, war Theodor Eschenburg vor allem immer dann, wenn „persönliche Interessen im Spiel waren“.28 Das Bild des leidenschaftlichen Demokraten und republikanischen Saubermanns ist über ganze Zeitschriftenserien, Festschriftjahrgänge und Studentenwie Professorengenerationen hinweg kolportiert worden und hatte bis vor kurzem nahezu unangetastet Bestand. Nur vorsichtig etwa kratzte der Liberale Ralf Dahrendorf Ende der 1980er Jahre mit der Behauptung am Sockel des Säulenheiligen der Politikwissenschaft, Eschenburg sei weder der „Fundamentalliberale“, zu dem man ihn gerne stilisiert habe, noch „der enthusiastischste Demokrat der Nachkriegszeit“ gewesen und habe stets mehr auf Ordnung gepocht als das freie 24
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So etwa der Liberale Ralf Dahrendorf, hier zitiert nach: Hrbek, Rudolf: Die Taxifahrer haben es noch gar nicht gemerkt, in: Hermann, Rudolph (Hg.): Den Staat denken. Theodor Eschenburg zum Fünfundachtzigsten, Stuttgart 1989, S. 93–97. Menke-Glückert, Peter: Harte Auseinandersetzungen mit „Teddy“, in: Hermann, Rudolph (Hg.): Den Staat denken. Theodor Eschenburg zum Fünfundachtzigsten,Stuttgart 1989, S. 84–92. Eschenburg, Theodor: Das politische Mandat der Studentenschaft, Tübingen 1967. Vgl. auch seine Artikel Wo die Studenten sich irren, in: Die Zeit vom 14. 7. 1967 und Unpolitische Studenten. Ein Wort zu ihrer Rechtfertigung, in: Die Zeit vom 24. 7. 1959. Jens, Walter: Wenn er kommt wird’s nie langweilig, in: Hermann, Rudolph (Hg.): Den Staat denken. Theodor Eschenburg zum Fünfundachtzigsten, Stuttgart 1989, S. 80–83. Beyme, Klaus von: Intrigiert wird in diesem Hause nicht, in: Hermann, Rudolph (Hg.): Den Staat denken. Theodor Eschenburg zum Fünfundachtzigsten, Stuttgart 1989, S. 70–75.
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demokratische Spiel der Kräfte befördert.29 Diese Haltung war ja auch per se nicht verwerflich und konnte auf das spezifische Demokratieverständnis des in der Weimarer Republik sozialisierten Demokraten zurückgeführt werden, das mehr auf Machtkontrolle und -eindämmung denn auf aufgeklärtes, selbstbewusstes Staatsbürgerhandeln ausgerichtet war. Doch auch Eschenburgs journalistische, wissenschaftliche und schließlich autobiographische Werke erregten lange Zeit kaum Aufsehen, obwohl bei genauerem Lesen eines klar wird: Eschenburg war seit den 1950er Jahren darum bemüht, seine keinesfalls über jeden Zweifel erhabene politische Vergangenheit zu rechtfertigen, zu glätten, anzupassen und schließlich auch neu zu erfinden. Dazu gehörten etwa Versuche, das politische Klima im Württemberg der Zwischenkriegszeit zu beschönigen, das er als junger Mann selbst mitgeprägt hatte. So kam er beispielsweise in einem 1974 erschienenen Artikel zu dem Schluss, dass sich im Südwesten der 1920er Jahre liberales politisches Gedankengut aufgrund des Vorbilds der Studentenschaften in Tübingen, deren Vorsitzender er zu diesem Zeitpunkt gewesen war, schnell habe verbreiten können.30 Michael Ruck, der sich zwanzig Jahre später in einer umfangreichen Studie intensiv mit Württemberg in der Weimarer Zeit beschäftigte, fand das „erstaunlich“.31 „Diese Behauptung eines prominenten Zeitzeugen wird durch die historische Analyse nicht gestützt“, lautete sein Fazit. Weder die württembergische Studentenschaft noch die Staatsregierung seien liberal gewesen; letztere habe der deutlich „völkisch-nationalen Majorität“ der Studenten in den 1920er Jahren sogar massiv den Rücken gestärkt.32 Auch an der Mitte der 1980er Jahre in Der Zeit erschienenen Eschenburg-Rezension des Buches von Hans-Jürgen Döscher „Das Auswärtige Amt im Dritten Reich“33 nahm lange Zeit ebenso wenig jemand Anstoß wie an einem Aufsatz Eschenburgs in der Zeitschrift Geschichte in Wissenschaft und Unterricht aus dem Jahr 1955.34 Erst kürzlich haben der Historiker Nicolas Berg und der Politikwissenschaftler Rainer Eisfeld herausgestellt, dass Eschenburg in diesen Artikeln zumindest aus heutiger Sicht merkwürdige Formulierungen gewählt hat, die aufhorchen lassen.35 In dem Aufsatz von 1955 lobte Eschenburg den Historiker und Journalisten Konrad Heiden für seine objektive Darstellung der „positiven Seiten“ 29 30 31
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Dahrendorf, Ralf: Das Lob der Institutionen, in: Hermann, Rudolph (Hg.): Den Staat denken. Theodor Eschenburg zum Fünfundachtzigsten, Stuttgart 1989, S. 65–69. Eschenburg, Theodor: Der bürokratische Rückhalt, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Band 9 (1974), S. 3–28. Bezeichnenderweise tat er das nicht im Haupttext, sondern nur in einer Fußnote. Siehe Ruck, Michael: Korpsgeist und Staatsbewusstsein: Beamte im deutschen Südwesten 1928 bis 1972, München 1996, S. 44, Fn. 70. Ruck, Michael: Korpsgeist und Staatsbewusstsein: Beamte im deutschen Südwesten 1928 bis 1972, München 1996, S. 43–44. Eschenburg Theodor: Rezension Diplomaten unter Hitler. Trotz fleißigen Quellenstudiums ist dem Autor Wesentliches entgangen, in: Die Zeit vom 5. 6. 1987. Eschenburg, Theodor: Aufgaben der Zeitgeschichte, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, Heft 6 (1955), S. 356–361. Berg, Nicolas: Der Holocaust und die westdeutschen Historiker: Erforschung und Erinnerung, Göttingen 2003; Eisfeld, Rainer: Theodor Eschenburg: Übrigens vergaß er noch zu erwähnen… Eine Studie zum Kontinuitätsproblem in der Politikwissenschaft, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 59 (2011), S. 27–44.
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des Nationalsozialismus, die dieser noch vor seiner Vertreibung durch das NSRegime (Heiden war Jude) in der Weimarer Republik herausgearbeitet hatte – eine zumal für eine methodische Schrift ungewöhnliche Feststellung, wie Berg richtig bemerkt.36 In der Rezension von 1987 kritisierte Eschenburg den 1943 geborenen Historiker Hans-Jürgen Döscher wegen der in seinem Buch angeblich aufscheinenden Unkenntnis des „Ambiente“ der Hitler-Diktatur, deren „Zwangslage(n)“ sich nicht nach „rechtsstaatlichen und demokratischen Begriffen“ beurteilen ließen. Wie Rainer Eisfeld überzeugend gezeigt hat, trug in Eschenburgs Sichtweise die Verantwortung für die Ermordung und Verfolgung der europäischen Juden dann auch nicht der in Nürnberg als Kriegsverbrecher verurteilte Diplomat Ernst von Weizsäcker. Der, so Eschenburgs Argumentation, sei in der NS-Diktatur schließlich nicht mehr Staatssekretär Weimarer Rechts und deswegen auch von seinen rechtsstaatlichen „Pflichten“ entbunden gewesen. Und auch das Auswärtige Amt traf nach Eschenburg keine Schuld; in seinen Augen trug diese allein „der Führer“ Adolf Hitler selbst.37 Ähnlich argumentierte Eschenburg in den 1970er Jahren etwa im Falle Johann Ludwig Graf Schwerin von Krosigks, zu Beginn der 1930er Jahre zunächst Reichsfinanzminister, später Leitender Minister und damit Quasikanzler der Reichsregierung Dönitz. In einer Rezension zu dessen Biographie, die einem ehrenden Nachruf auf den inzwischen Verstorbenen gleichkam, formulierte Eschenburg erneut, wie schwer es für viele in der Bundesrepublik sei, das Handeln zahlreicher „aufrichtiger“ Männer in Politik und Bürokratie des NS-Regimes tatsächlich zu verstehen. Für Schwerin, 1949 von einem amerikanischen Militärgericht wegen seiner Rolle bei der Aufrüstung und der Enteignung der Juden zu zehn Jahren Haft verurteilt, sei der Nationalsozialismus eine „völlig fremde Welt“ gewesen, zu der er „keinen Zutritt haben wollte“. Dennoch unterzeichnete Schwerin die als „Judenbuße“ bekannt gewordene Reichsverordnung, die eine „Abgabe“ der Juden von einer Milliarde Reichsmark festsetzte.38 Eschenburg schrieb dazu in einer für einen Historiker ungewöhnlich quellenunkritischen Haltung: „Er tat es in der vergeblichen Hoffnung, eine ,Nacht der langen Messer‘ gegen die Juden zu verhindern. Und weiter: Was die Amts- und Dienstvorstellungen Schwerins in der Diktatur des Dritten Reiches angeht, so hat es in dieser Zeit manche Minister, Staatssekretäre, Ministerialdirektoren, Landräte und Oberbürgermeister gegeben, die ebenso dachten. Ein Verständnis für sie wird kaum jemand aufbringen können, der die grauenhafte Periode durch eigenes Erleben nicht gekannt hat. Sie scheuten, wie es Schwerin gesagt hat, die ,Fahnenflucht‘ und blieben, ,um Schlimmeres zu verhüten‘.“39 Dass man damit „Auswüchse“ des Nationalsozialismus verhin-
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Berg, Nicolas: Der Holocaust und die westdeutschen Historiker: Erforschung und Erinnerung, Göttingen 2003, S. 276. Eschenburg zitiert nach Eisfeld, Rainer: Theodor Eschenburg: Übrigens vergaß er noch zu erwähnen… Eine Studie zum Kontinuitätsproblem in der Politikwissenschaft, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 59 (2011), S. 27–44, hier S. 44. Goehrke, Klaus: In den Fesseln der Pflicht: der Weg des Reichsfinanzministers Lutz Graf Schwerin von Krosigk, Köln 1995. Eschenburg, Theodor: Rückblick auf die Diktatur, in: Die Zeit vom 24. 6. 1977.
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dert und letztlich beinahe schon Widerstand geleistet habe, war ein in Deutschland nach 1945 oft zu hörendes Argument.40 Dass Eschenburg mit solchen und ähnlichen Aussagen nicht nur versuchte, die kompromittierten alten Funktionseliten zu entlasten, sondern auch das eigene Handeln in Weimarer Republik und Nationalsozialismus zu rechtfertigen und dem sich wandelnden Demokratieideal anzupassen, ist zumindest wahrscheinlich. Eschenburgs Memoiren sprechen in ihren Auslassungen, Verzerrungen und Verharmlosungen jedenfalls Bände – nicht nur über das Rechtfertigungsbedürfnis eines in der Bundesrepublik tatsächlich zum Demokraten gereiften Mannes. Auch die Unsicherheit darüber, was denn Demokratie und demokratisches Handeln im jeweiligen zeitlichen und politischen Kontext eigentlich bedeuten sollten und wie sich das wiederum zur Bezugsgröße Demokratie bundesrepublikanischer Prägung verhielt, an der sich nach 1945 jedes frühere Handeln messen lassen musste, wird darin an mehr als einer Stelle sichtbar.
Wandlungen eines Politischen: Weimarer Republik und Nationalsozialismus Der 1904 in Kiel geborene und in Lübeck aufgewachsene Theodor Eschenburg hat in Kindheit und Jugend selten Erfahrungen mit der Demokratie gemacht. Im zunächst stark monarchistisch-reaktionär, dann zunehmend auch rassistischantisemitisch geprägten Elternhaus, aber auch später in Schule und Universität, bot sich ihm über lange und prägende Zeiträume hinweg kaum Gelegenheit, ein republikanisches Verständnis zu entwickeln und demokratisches Handeln in der Praxis zu erlernen. Sein Vater, ein Seeoffizier mit einer dezidierten Abneigung gegen alles Katholische und ausgesprochener Verehrung für die Monarchie, intolerant nach Eschenburgs eigenen Äußerungen sowohl gegenüber religiös als auch politisch Andersdenkenden41 , hielt selbst nach dem Sturz des Kaisers dem exilierten Monarchen die Treue.42 Nicht nur machte er aus seiner tiefen Abscheu gegen alles Republikanische keinen Hehl, sondern trat nach 1918 auch immer offener antisemitisch auf. Die „Geheimnisse der Weisen von Zion“, ein zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Umlauf gebrachtes und eine jüdische Weltverschwörung kolportierendes Werk, wurde seine neue Bibel und trieben ihn nach und nach in den rassischen Antisemitismus. Die Auswirkungen bekam sein etwa 15jähriger Sohn am eigenen Leib zu spüren: Ihm wurden Freundschaften mit jüdischen Kindern verboten.43 40 41 42
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Kraus, Elisabeth: Die Universität München im Dritten Reich. Band 2: Aufsätze, München 2008, S. 475. Eschenburg, Theodor: Also hören Sie mal zu: Geschichte und Geschichten 1904 bis 1933, Berlin 1995, S. 49. Lehmbruch, Gerhard: Lebenslauf von Theodor Eschenburg, in: Institut für Politikwissenschaft in Verbindung mit der Universität Tübingen (Hg.): Theodor Eschenburg (1904–1999): Tübinger Perspektiven. Katalog zur Ausstellung anlässlich seines 100. Geburtstages, Tübingen 2004, S. 8–11. Die Onkel, zu denen sich Eschenburg nach eigenen Angaben zurückzog, waren gegenüber dem rassistischen Vater vermutlich das kleinere Übel: Sie waren offenbar nicht anti-
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In der Schule setzte sich dieser Geist fort: Der Geschichtsunterricht etwa war offen antirepublikanisch, der von Theodor Eschenburg hoch verehrte Klassenlehrer, ein Lateiner, beeindruckend offenbar durch Charakter und Autorität, machte gegenüber seinen Eleven nie einen Hehl daraus, dass er der rechtsgerichteten Jugendbewegung nahe stand.44 Theodor Eschenburg erlebte darüber hinaus die Anfeindungen, denen etwa der Direktor des städtischen Gymnasiums aufgrund seines jüdischen Namens ausgesetzt war. Rechtsanwälte der Stadt forderten in den 1920er Jahren offen die Absetzung des „Juden Rosenthal“; die Masse der Lübecker schwieg, redete aber hinter vorgehaltener Hand über den angeblich unchristlichen Lebenswandel des Direktors. Seine Absetzung erfolgte dann 1933, obwohl er seiner Herkunft nach gar nicht unter das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ fiel.45 Stark konstruiert erscheinen vor diesem Hintergrund noch in jüngster Zeit zu lesende Einschätzungen, Theodor Eschenburg sei in einem „jeder Ideologie abgeneigten“46, „weltoffenen“ Milieu47 aufgewachsen.48 Wie viel Theodor Eschenburg allen gegenteiligen Beteuerungen zum Trotz von seiner insgesamt antirepublikanisch und antisemitisch geprägten Jugendzeit tatsächlich internalisiert hat, ist nicht mehr zu klären. Tatsache ist aber, dass sich ihm keine Alternativen boten: Es bestand für ihn zunächst gar keine Möglichkeit, sich der streng protestantischen, deutschtümelnden und atmosphärischen Enge seiner Heimatstadt Lübeck und seines Elternhauses zu entziehen. Die Chance dazu tat sich erst nach der Beendigung der Schulzeit auf. Im Rückblick hat Theodor Eschenburg die Wahl Tübingens als Studienort primär als Ausdruck der wachsenden jugendlichen Unabhängigkeit von seinem autoritären Elternhaus gedeutet. Sein Vater, so Eschenburg, sei weder mit der Wahl der Stadt noch mit der Wahl der Fächer, Staatsrecht und Geschichte, einverstanden gewesen. Tübingen brachte er offenbar mit dem Dichter Ludwig Uhland in Verbindung, der in seinen Augen vor „demokratischem Öl“ nur so „triefte“. Viel zu sehr, so Eschenburg weiter, habe sein Vater darüber hinaus Angst gehabt vor den demokratischen Einflüssen, die die neue „kritischere“ Geschichtswissenschaft auf seinen Sohn hätte ausüben können.49
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semitisch, dennoch aber antidemokratisch denkende Deutschnationale. Eschenburg, Theodor: Also hören Sie mal zu: Geschichte und Geschichten 1904 bis 1933, Berlin 1995, S. 125. Eschenburg, Theodor: Also hören Sie mal zu: Geschichte und Geschichten 1904 bis 1933, Berlin 1995, Zitat S. 139 und 134. Eschenburg, Theodor: Also hören Sie mal zu: Geschichte und Geschichten 1904 bis 1933, Berlin 1995, S. 135 und 136. Welt online vom 26. 1. 2011, Rubrik Zeitgeschichte. Lehmbruch, Gerhard: Lebenslauf von Theodor Eschenburg, in: Institut für Politikwissenschaft in Verbindung mit der Universität Tübingen (Hg.): Theodor Eschenburg (1904–1999): Tübinger Perspektiven. Katalog zur Ausstellung anlässlich seines 100. Geburtstages, Tübingen 2004, S. 8–11. Dass Eschenburgs Abituraufsatz mit dem Thema „Nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir“ als der beste des Abiturjahrgangs bewertet wurde, erscheint vor diesem Hintergrund als zumindest zweifelhafte Ehre. Eschenburg, Theodor: Also hören Sie mal zu: Geschichte und Geschichten 1904 bis 1933, Berlin 1995, S. 142 und 143.
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Dass diese Gefahr im Tübingen der 1920er Jahre nun wirklich nicht bestand, haben neuere historische Studien eindeutig herausgearbeitet.50 Entgegen Theodor Eschenburgs wiederholter Ehrbekundung für das angeblich so „liberale, demokratische Klima“ des Landes, das ihn stets angezogen habe51, steckte die schwäbische Kleinstadt mitsamt ihrer Hochschule bereits in der Frühphase der Weimarer Republik tief im braunen Sumpf der völkisch-antisemitischen Bewegung.52 So existierten bereits seit 1922 eindeutige Anweisungen der Universitätsleitung, „rassefremde Ausländer (namentlich Ostjuden)“ vom Studium auszuschließen.53 Offen rühmten sich zahlreiche Gelehrte auch des Vorsprungs, den die Hochschule ihrer Meinung nach in der wissenschaftlichen Behandlung der „Judenfrage“ gegenüber den anderen deutschen Universitäten hatte.54 Und tatsächlich war Tübingen dann auch die deutsche Universität, die 1933 die wenigsten jüdischen Gelehrten entlassen musste – so erfolgreich war bereits in der Weimarer Republik die „Selbstarisierung“ der Hochschule gewesen.55 Auch die „demokratische“ Geschichtswissenschaft, vor der Vater Eschenburg angeblich so eindringlich gewarnt hatte, existierte an der Universität Tübingen nicht oder nur rudimentär. Eschenburgs Tübinger Lehrer, der Mittelalterhistoriker Johannes Haller, war einer der zur damaligen Zeit bekanntesten deutschen Geschichtswissenschaftler, dessen dezidiert nationalistische Haltung weit über Tübingen hinaus bekannt war und Einfluss auf die Weimarer Gesellschaft insgesamt ausübte. Antisemitismus gehörte für Haller zum guten Ton: In einer Senatssitzung in den 1920er Jahren erregte sich der Historiker (aber auch eine ganze Reihe weiterer Professoren) in typischem antisemitischen Duktus heißblütig über die angeblich ungenügende „nationale Gesinnung“ des „vaterländischen Kriegsdienstverweigerers“, „Kommunisten“ und Anwärters auf den Lehrstuhl für theo50
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Vgl. etwa: Langewiesche, Dieter: Die Eberhard-Karls-Universität Tübingen in der Weimarer Republik. Krisenerfahrung und Distanz zur Demokratie an den deutschen Universitäten, in: ZWLG 51 (1992), S. 345–381; Bericht des Arbeitskreises „Universität Tübingen im Nationalsozialismus“ zum Thema Juden an der Universität Tübingen im Nationalsozialismus vom 19. 1. 2006 (http://www.uni-tuebingen.de/uni/ qvo/download/AkUniimNS.pdf [letzter Zugriff 26. 11. 2011]); Wiesing, Urban u.a. (Hg.): Die Universität Tübingen im Nationalsozialismus, Stuttgart 2010. Eschenburg, Theodor: Also hören Sie mal zu: Geschichte und Geschichten 1904 bis 1933, Berlin 1995, S. 146. Ruck, Michael: Korpsgeist und Staatsbewusstsein: Beamte im deutschen Südwesten 1928 bis 1972, München 1996, S. 43 und 44. Schreiben der Universität Tübingen an die Universität München aus dem Jahr 1922, zitiert nach: Langewiesche, Dieter: Die Eberhard-Karls-Universität Tübingen in der Weimarer Republik. Krisenerfahrung und Distanz zur Demokratie an den deutschen Universitäten, in: ZWLG 51 (1992), S. 345–381, hier S. 362. Bericht des Arbeitskreises „Universität Tübingen im Nationalsozialismus“ zum Thema Juden an der Universität Tübingen im Nationalsozialismus vom 19. 1. 2006 (http://www.uni-tuebingen.de/uni/qvo/download/AkUniimNS.pdf [letzter Zugriff 26. 11. 2011]), S. 4. Gerstengarbe, Sybille: Die erste Entlassungswelle von Hochschullehrern deutscher Hochschulen aufgrund des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. 4. 1933, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 17 (1994), S. 17–39, hier S. 29; Hartshorne, Edward Yarnall: The German Universities and National Socialism, London 1937, S. 94; Wildt, Michael: Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes, Hamburg 2002, S. 89 ff.
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retische Physik, Alfred Landé; die Berufung des jüdischen Gelehrten lehnte er rundheraus ab.56 Haller, der sich früh der NSDAP anschloss, zu den offensiven Unterstützern des von Alfred Rosenberg gegründeten „Kampfbunds für deutsche Kultur“ gehörte und 1932 den Wahlaufruf von Hochschullehrern für Hitler unterschrieb, besaß darüber hinaus ein ausgesprochen demagogisches Talent: „Besser als Goebbels-Reden“, schwärmte etwa der Altphilologe Karl Reinhardt über Hallers Vorlesungen. Und auch Theodor Eschenburg fand für seinen Lehrer lobende Worte: „[Er machte] ohne Rücksicht auf das jeweilige Vorlesungsthema aus [seiner] antidemokratischen [Haltung], aus [seiner] Verachtung gegenüber der Republik, deren Regierung und ihrer Politik kein Hehl. Bei Haller verging kaum eine Stunde, in der nicht eine scharfe, vielfach sogar gehässige, gezielte Bemerkung, die sorgfältig vorbereitet und glanzvoll vorgetragen war, fiel, um mit großem Beifall aufgenommen zu werden“.57 Das Zitat bietet nicht nur einen bezeichnenden Einblick in die nationalistisch aufgeladene Stimmung, die damals in weiten akademischen Kreisen herrschte, sondern spiegelt auch die Bewunderung wider, die Eschenburg allem Anschein nach für die Haltung Hallers empfand. Diese atmosphärische Skizze findet sich in den Memoiren Eschenburgs zwar wohlweislich nicht wieder. Die Ehrfurcht für seinen akademischen Lehrer, der nicht nur sein „Bild von Geschichte mitgeprägt“ hat, sondern zu dem er auch eine persönliche Verbindung aufbaute, konnte Eschenburg aber nie ganz verhehlen: „Rhetorische Eleganz verband er mit reichem Inhalt“, hielt Eschenburg noch im Rückblick fest.58 War schon auf den Kathedern der Tübinger Universität wenig von demokratischer Gesinnung zu spüren59 , gilt dies in noch stärkerem Maße für die stu56 57
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Paletschek, Sylivia: Die permanente Erfindung einer Tradition. Die Universität Tübingen im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, Stuttgart 2001, insbesondere S. 323. Theodor Eschenburg, zitiert nach: Kotowski, Mathias: Die öffentliche Universität: Veranstaltungskultur der Eberhard-Karls-Universität Tübingen in der Weimarer Republik, Stuttgart 1999, S. 98, Fn. 99. Eschenburg, Theodor: Also hören Sie mal zu: Geschichte und Geschichten 1904 bis 1933, Berlin 1995, Zitate S. 150 und S. 161. Kaum weniger problematisch war die politische Einstellung der anderen Hochschuldozenten, deren Vorlesungen Eschenburg in Tübingen hörte. Hierzu zählten der Historiker Karl Jakob, der die nach 1870 erfolgte Annexionspolitik Bismarcks im Elsass in den höchsten Tönen lobte; der bekennende Monarchist und ehemalige Württembergische Finanzminister Theodor v. Pistorius, zwischen 1922 und 1929 Professor für Finanzwissenschaft und Steuerrecht; der Historiker Adalbert Wahl, der im Hörsaal gegen die „Kriegsschuldlüge“ wetterte und auch durch andere Äußerungen seine kompromisslose Ablehnung der Nachkriegsordnung offen legte, sowie der Wirtschaftswissenschaftler und Jurist Ernst Schuster, der, obgleich ursprünglich aus einem linken Milieu stammend, 1933 politisch umschwenkte und sich nach Hitlers „Machtergreifung“ den neuen Machthabern andiente. Siehe zu Jakob: Gall, Lothar: Das Problem Elsaß-Lothringen, in: Gall, Lothar und Hein, Dieter (Hg.): Bürgertum, liberale Bewegung und Nation. Ausgewählte Aufsätze, München 1997, S. 234–255, hier S. 236; zu v. Pistorius: Kolb, Eberhard: Nationalliberalismus in der Weimarer Republik. Bd. 1, Düsseldorf 1999; zu Wahl: Kotowski, Mathias: Die öffentliche Universität: Veranstaltungskultur der EberhardKarls-Universität Tübingen in der Weimarer Republik, Stuttgart 1999, S. 32 und 82; zu Schuster: Siegfried, Detlef: Das radikale Milieu. Kieler Novemberrevolution, Sozialwissenschaft und Linksradikalismus 1917–1922, Wiesbaden 2004, u.a. S. 9 und Marcon, Helmut (Hg.): 200 Jahre Wirtschafts- und Staatswissenschaften an der Eberhard-Karls-
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dentischen Kreise der kleinen Universitätsstadt am Neckar. Theodor Eschenburg schloss sich sofort bei Beginn seines Studiums im Jahr 1924 der schlagenden Verbindung „Germania“ an und wurde umgehend zum Vorsitzenden des „Hochschulrings deutscher Art“ (HDA) gewählt, einem Zusammenschluss Tübinger Verbindungen.60 „Das gehörte einfach zum Studium“, rechtfertigte er den Eintritt im Rückblick.61 Demokratisch, republikanisch oder auch liberal orientiert62 waren die meisten Verbindungen im Schwäbischen indes nicht.63 Schon gar nicht traf das für den Hochschulring Deutscher Art zu, der, so dessen ehemaliger Vorsitzender Eschenburg, „vor allem deutschnational, zum geringeren Teil völkisch geprägt“ gewesen sei.64 Die Geschichtswissenschaft ist schon früh zu einer anderen Einschätzung gelangt.65 Und vor kurzem hat die Historikerin Sonja Levsen in einer detaillierten Untersuchung erneut herausgestellt, dass Studentenbünde „wie der HDA von Beginn an einen radikalen, aggressiven Nationalismus mit stark völkischer Prägung“ vertraten. Selbst Korporationen wie die „Nicaria“, die dem HDA Mitte der 1920er Jahre noch am deutlichsten oppositionell gegenüberstanden, hätten ausdrücklich „seine wertvolle Grenzlandarbeit und seine völkischen Ideale“ gelobt.66 Die staatsbürgerliche Bildungsarbeit, die sich Theodor Eschenburg im Rahmen seiner Tätigkeit beim HDA auf die Fahnen schrieb, eben gerade weil die Mehrheit der Studenten dem schwarz-weiß-roten, antidemokratischen Geist verfallen gewesen sei67 , erscheinen vor diesem Hintergrund in einem etwas anderen Licht: In Tübingen, so hat Levsen herausgefunden – und so weit reicht auch die Übereinstimmung mit den Eschenburgschen Memoiren –, sei das Engagement des
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Universität Tübingen. Leben und Werk der Professoren. Die Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät der Universität Tübingen und ihre Vorgänger (1817–2002), Bd. 1, Stuttgart 2004, S. 72. Lehmbruch, Gerhard: Lebenslauf von Theodor Eschenburg, in: Institut für Politikwissenschaft in Verbindung mit der Universität Tübingen (Hg.): Theodor Eschenburg (1904–1999): Tübinger Perspektiven. Katalog zur Ausstellung anlässlich seines 100. Geburtstages, Tübingen 2004, S. 8–11. Eschenburg, Theodor: Also hören Sie mal zu: Geschichte und Geschichten 1904 bis 1933, Berlin 1995, S. 143. Wie Theodor Eschenburg seine Leserschaft im Nachhinein glauben machen wollte, indem er etwa eine Traditionslinie der studentischen Verbindungen zur gescheiterten liberalen Revolution von 1848 herzustellen versuchte. Eschenburg, Theodor: Also hören Sie mal zu: Geschichte und Geschichten 1904 bis 1933, Berlin 1995, S. 143 und 163 ff. Ruck, Michael: Korpsgeist und Staatsbewusstsein: Beamte im deutschen Südwesten 1928 bis 1972, München 1996, S. 44 und 45. Eschenburg, Theodor: Also hören Sie mal zu: Geschichte und Geschichten 1904 bis 1933, Berlin 1995, S. 168. Vgl. schon früh zur überwiegend völkischen Prägung des HDA Nipperdey, Thomas: Die deutsche Studentenschaft in den ersten Jahren der Weimarer Republik, in: Grimme, Adolf (Hg.): Kulturverwaltung der zwanziger Jahre, Stuttgart 1968, S. 19–48. Levsen, Sonja: Elite, Männlichkeit und Krieg. Tübinger und Cambridger Studenten, 1900–1929, Göttingen 2006, S. 315 und 316. Was zudem ein deutlicher Widerspruch zu seiner Einschätzung ist, die Tübinger Verbindungen seien liberal und demokratisch gewesen. Eschenburg, Theodor: Aus dem Universitätsleben vor 1933, in: Flitner, Andreas (Hg.): Deutsches Geistesleben und Nationalsozialismus. Eine Vortragsreihe der Universität Tübingen, Tübingen 1965, S. 24–46, hier S. 46.
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HDA seit dem zweiten Drittel der 1920er Jahre in der „Bildungsarbeit“ besonders weitreichend gewesen. Von demokratischer Staatsbürgerkunde hingegen könne in diesem Zusammenhang nicht gesprochen werden: So habe der HDA Studienreisen in „völkisch gefährdete Gebiete“ durchgeführt, die Zeitungen der Auslandsdeutschen aufbereitet und die Lokalpresse Württembergs mit Artikeln über das Auslandsdeutschtum beliefert; jeweils rund 14 Veranstaltungen und Diskussionsabende hätten jährlich auf dem Programm gestanden.68 Theodor Eschenburg, so der Historiker Michael Kotowski, habe zu diesem außergewöhnlichen Engagement des HDA „entscheidend“ beigetragen69, letztlich habe der Bund so auch einen „kaum zu unterschätzenden Einfluss“ auf die Tübinger Studentenschaft ausüben können. Insgesamt, so Levsens abschließende Einschätzung, sei das „politisierte Selbstverständnis der Nachkriegsstudenten“ förderlich für eine „demonstrative Distanz zur Republik“ gewesen, die sich bis zum Ende der 1920er Jahre noch vergrößerte.70 Doch damit nicht genug: Eschenburg verfügte im Hochschulring Deutscher Art über eine für einen studentischen Vorsitzenden ganz ungewöhnliche Machtfülle.71 Wie wir durch neuere Arbeiten wissen, hat er davon Gebrauch gemacht72: Im Gegensatz zu Eschenburgs rückblickender Darstellung ging der zumindest von einem stark nationalen Geist erfasste Student vehement gegen Andersdenkende vor. Den aus einer jüdischen Familie stammenden Pazifisten und Justizkritiker Emil Julius Gumbel etwa, der auf Einladung der Arbeitsgemeinschaft sozialistischer Akademiker Mitte des Jahres 1925 zum Vortrag nach Tübingen gereist war, empfing an der Universität ein von Theodor Eschenburg verantwortetes Plakat mit folgender Aufschrift: „Nach der allgem. Verurteilung seiner Rede an der Universität Heidelberg bedeutet sein Vortrag hier eine starke Beleidigung eines jeden teutschen Studenten. Wir erwarten auf das Bestimmteste, dass Herr Dr. Gumbel von seinem Vorhaben absieht“.73 Die ohnehin aggressive Stimmung unter den Studenten hat dieses Plakat vermutlich noch zusätzlich angeheizt. Für die folgende als „Lustnauer Schlacht“ in die Geschichte eingegangene tätliche 68
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Ähnlich auch Kotowski, Mathias: Die öffentliche Universität: Veranstaltungskultur der Eberhard-Karls-Universität Tübingen in der Weimarer Republik, Stuttgart 1999, S. 164 f. Kotowski, Mathias: Die öffentliche Universität: Veranstaltungskultur der EberhardKarls-Universität Tübingen in der Weimarer Republik, Stuttgart 1999, S. 287. Levsen, Sonja: Elite, Männlichkeit und Krieg. Tübinger und Cambridger Studenten, 1900–1929, Göttingen 2006, S. 315, 316 und 317. Ausdrücklich ermächtigte ihn etwa der Rektor der Universität, über Einladungen zu politischen Vorträgen an der Universität ganz und gar frei zu entscheiden. Vgl. Marcon, Helmut (Hg.): 200 Jahre Wirtschafts- und Staatswissenschaften an der EberhardKarls-Universität Tübingen. Leben und Werk der Professoren. Die Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät der Universität Tübingen und ihre Vorgänger (1817–2002), „Bd. 1, Stuttgart 2004, S. 430 und 431. Lange, Ralph: Von der „Affäre Gumbel“ zum „Fall Wilbrandt“: Die „Lustnauer Schlacht“. Ein Beitrag zur politischen Kultur der Universität Tübingen in der Weimarer Republik, in: Wischnath, Michael (Hg.): Bausteine zur Tübinger Universitätsgeschichte, Folge 9, Tübingen 1995, S. 29–54, hier S. 33 f., Fn. 30. Eschenburg-Plakat, zitiert nach Eisfeld, Rainer: Theodor Eschenburg: Übrigens vergaß er noch zu erwähnen… Eine Studie zum Kontinuitätsproblem in der Politikwissenschaft, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 59 (2011), S. 27–44, hier S. 36.
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Auseinandersetzung zwischen Gegnern und Anhängern Gumbels, bei der es zu mehr als einem Dutzend Verletzten kam, musste sich Theodor Eschenburg dann auch in einem zweistündigen Verhör bei der Polizei verantworten. „Damit war die Sache erledigt“, kommentierte Eschenburg den Vorfall lapidar.74 Ausgerechnet mit der „Causa Stresemann“ rechtfertigte Theodor Eschenburg im Nachhinein sein Vorgehen gegen Gumbel. In seinen Memoiren heißt es, er habe einen Vortrag seines großen Vorbilds, dem nationalliberalen Politiker und kurzzeitigen Reichskanzler der großen Koalition,75 Gustav Stresemann durch den Vortrag Gumbels nicht gefährden wollen. Angeblich nämlich erhoffte sich Eschenburg von dem hohen Besuch sogar ein „Umfunktionieren“ des HDA, eine Rückführung des Hochschulrings in gemäßigte, liberale Fahrwasser.76 Zum einen aber lag die Initiative zur Einladung Stresemanns gar nicht bei Eschenburg.77 Zum anderen – und noch viel wichtiger – war der Student zu diesem Zeitpunkt gar nicht der glühende Anhänger Stresemanns, als der er sich auch später immer wieder gerne gerierte. Wie ein neuer Quellenfund nahe legt, jubelte Eschenburg seit dem Hitlerputsch vom November 1923 nicht dem Nationalliberalen Gustav Stresemann, sondern dem Nationalsozialisten Adolf Hitler als neuer „Führerfigur“ für Deutschland zu: „Im Anfang unseres politischen Denkens, als Primaner, sahen wir in der deutschen Republik einen Staat der Unordnung, der Korruption, der Unmännlichkeit; wir haßten sie nicht, sondern wir verachteten sie. Unser Ideal war, nicht nur unter dem Einfluß von Erziehung und Elternhaus, das scheinbar glanzvolle Reich vor 1914, vor dem wir uns eine ans Legendäre grenzende Vorstellung machten. Im Grunde verstanden wir eigentlich von keinem, der zur bürgerlichen Rechten gehörte, daß er nun mit seiner ganzen Persönlichkeit dem neuen Staate diente. Wir jubelten im November 1923 Hitler zu. Wir erhofften alles von der Macht der Generäle, von Stresemann hatten wir keine Vorstellung. Seitdem er als Kanzler den passiven Widerstand, von dem wir in unserer Sehnsucht nach heldischem Handeln begeistert waren, aufgegeben hatte, zählten wir ihn auch zu jener großen Schar, von der wir ohne nähere Kenntnis der Umstände und der Person den Aufstieg des Reiches nicht erwarteten.“78 74 75 76 77 78
Eschenburg, Theodor: Also hören Sie mal zu: Geschichte und Geschichten 1904 bis 1933, Berlin 1995, S. 177. Bestehend aus DVP, Zentrum, Deutscher Demokratischer Partei (DDP) und Sozialdemokratischer Partei Deutschlands (SPD). Eschenburg, Theodor: Also hören Sie mal zu: Geschichte und Geschichten 1904 bis 1933, Berlin 1995, S. 177. Eschenburg, Theodor: Also hören Sie mal zu: Geschichte und Geschichten 1904 bis 1933, Berlin 1995, S. 175. Vallentin, Antonia: Stresemann: Vom Werden einer Staatsidee. Mit einem Titelbild, Leipzig und München 1930, S. 234. Antonia Vallentin war eine enge Vertraute Stresemanns, unterstützte dessen Annäherungskurs an Frankreich und verkehrte regelmäßig in dessen Haus. Bei dieser Gelegenheit scheint sie oft mit Theodor Eschenburg zusammengetroffen sein; das Eschenburg-Zitat stammt möglicherweise aus einer Vortragsrede. In einem Aufsatz der VfZ heißt es über ihre Arbeit: Antonia Vallentin „verrät eine erstaunlich intime Kenntnis der damaligen diplomatischen Vorgänge“. Kaiser, Angela: Lord d’Abernon und die Entstehungsgeschichte der Locarno-Verträge, in: VfZ 34 (1986), S. 85, Fn. 2.
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Der „Vernunftrepublikaner“, als den sich Theodor Eschenburg später selbst einmal bezeichnete und als der er für die Weimarer Republik eingestanden habe, ohne sie sich je zur Herzensangelegenheit zu machen, scheint der Student zu diesem Zeitpunkt offenbar noch nicht gewesen zu sein.79 Die Frage, ob sich Theodor Eschenburg durch die zunehmend engen Kontakte zu Stresemann schließlich dazu entwickelte, ist nicht einfach zu beantworten. Stresemann übte aber wohl nur kurzfristig Einfluss auf Theodor Eschenburg aus und befand sich als Nationalliberaler im akademischen Umfeld Eschenburgs80 sowohl in Tübingen als auch ab 1926 in Berlin81 in der Minderheit. Der Verfassungshistoriker Fritz Hartung etwa, Eschenburgs Doktorvater in Berlin, machte keinen Hehl aus seiner antidemokratischen und antiparlamentarischen Gesinnung: Unter expliziter Berufung auf Carl Schmitt sprach er beispielsweise von einer „falschen Auffassung der Freiheit als einer Freiheit vom Staate“ und erwies sich auch in anderen Äußerungen als alles andere als ein Vernunftrepublikaner.82 Zu Eschenburgs akademischen Lehrern gehörten neben Hartung aber auch andere radikal-nationalistische, antiparlamentarische und antidemokratische Schwergewichtewie etwa Albert Brackmann, der als „graue Eminenz der deutschen Ostforschung“ gilt83 sowie das Per79 80
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Eschenburg, Theodor: Also hören Sie mal zu: Geschichte und Geschichten 1904 bis 1933, Berlin 1995, S. 133. In seiner Dissertation nannte Eschenburg all jene Dozenten, deren Veranstaltungen er regelmäßig besucht hatte. Eschenburg, Theodor: Das Kaiserreich am Scheideweg: Bassermann, Bülow und der Block. Nach unveröffentlichten Papieren aus dem Nachlass Ernst Bassermann, Berlin 1929. Eschenburg fühlte sich neben Hartung folgenden Berliner Dozenten besonders verbunden: dem Historiker Otto Hoetzsch, der bis 1928 Mitglied im Alldeutschen Verband und im Parteivorstand von Alfred Hugenbergs DNVP war und wie Brackmann als „Pionier der deutschen Ostforschung“ galt; dem Historiker Erich Marcks, der unter dem Einfluss Heinrich von Treitschkes in nationalistisches Fahrwasser geriet und später das „Dritte Reich“ als Erneuerung des Bismarck-Reichs feierte; dem Nationalökonom Ludwig Bernhard, einem engen Vertrauten Hugenbergs, der, wie Gerhard Schulz betont hat, eifrig die Trommel für das faschistische Italien rührte. Allein ein Berliner Dozent Eschenburgs unterstützte die Weimarer Republik wenigstens teilweise: Carl Heinrich Triepel, ein bedeutender Staats- und Völkerrechtler, der selbst an der Abfassung der Weimarer Verfassung mitgewirkt hatte. Allerdings erklärte Triepel, dass er, wenn er zwischen Demokratie und Absolutismus wählen müsste, letztere Staatsform als geringeres Übel vorziehen würde. Zu Hoetzsch siehe Ingo Haar: „Volksgeschichte“ und Königsberger Milieu: Forschungsprogramme zwischen Weimarer Revisionspolitik und nationalsozialistischer Vernichtungsplanung, in: Lehmann, Hartmut und Oexle, Otto Gerhard (Hg.): Nationalsozialismus in den Kulturwissenschaften. Bd. 1: Fächer – Milieus – Karrieren, Göttingen 2004, S. 169–209, hier S. 196; zu Marcks: Eckel, Jan und Etzemüller, Thomas (Hg.): Neue Zugänge zur Geschichte der Geschichtswissenschaft, Göttingen 2007, S. 11; zu Triepel: Poscher, Rolf: Introduction Heinrich Triebel, in: Jacobson, Arthur J. und Schlin, Bernhard (Hg.): Weimar: A Jurisprudence of Crisis, Berkeley 2000, S. 171–175, v.a. S. 173. Chun, Jin-Sung: Das Bild der Moderne in der Nachkriegszeit: Die westdeutsche „Strukturgeschichte“ im Spannungsfeld von Modernitätskritik und wissenschaftlicher Innovation 1948–1962, München 2009, S. 50; Kraus, Hans-Christof: Fritz Hartung als Historiker des deutschen Parlamentarismus, in: Assemblées et Parlements dans le Monde, du Moyen Âge à nos Jours. 57e Conférence de la Commission Internationale pour l’Histoire des Assemblées d’État, Bd. 2, Paris 2010, S. 1431–1444. Burleigh, Michael: Germany turns eastwards: a study of Ostforschung in the Third Reich, Cambridge 1988, S. 43; Ingo Haar: „Volksgeschichte“ und Königsberger Milieu:
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sonal der nationalistisch bis offen völkisch agierenden Deutschen Hochschule für Politik, über die Eschenburg fast eine Stelle am „national-oppositionellen Politischen Kolleg“, einer reaktionären Hochburg der Politikwissenschaft in Berlin, erhalten hätte.84 Und auch Eschenburgs sonstiges Umfeld, etwa der nationalkonservative, enge Kontakte zum italienischen Faschismus pflegende Herrenclub, in dem er in Berlin regelmäßig verkehrte, war kein Sammelbecken für Republikaner.85 Bei den von Theodor Eschenburg mitbegründeten „Quiriten“ schließlich, einer nicht eindeutig zuzuordnenden „privaten Gelehrtenrunde“86 trat neben Axel August Gustav Johann Freiherr von Freytagh-Loringhoven, einem Reichstagsabgeordneten der DNVP/NSDAP, der dort seine antirepublikanischen, antisemitisch-völkischen Ansichten vertreten durfte87, auch der umstrittene Staatsrechtler Carl Schmitt regelmäßig in Erscheinung. Ihn verehrte Eschenburg sehr. In der Zeit, in der die Weimarer Republik bereits mit Notverordnungen regiert wurde, hielt Schmitt bei den Quiriten einen nach Meinung Eschenburgs „brillanten“ Vortrag über „das Problem, wie das parlamentarische System in ein präsidial-plebiszitäres umgewandelt werden könne und zwar ohne Änderung der Verfassung“. Die „kommissarische Diktatur“, die Schmitt in diesem Zusammenhang vorschlug, sei damals noch ganz „der Verteidigung der Weimarer Republik“ verpflichtet gewesen, heißt es in Eschenburgs Memoiren wenig überzeugend. Eschenburg selbst hatte nur eine Seite zuvor zugeben müssen, dass „sich die Kritik am Parlamentarismus“ zu dieser Zeit bereits „nachhaltig verschärft hatte“ und nun auch in den „Reihen überzeugter Demokraten“ salonfähig geworden war.88 Die Denkfigur der kommissarischen Diktatur hat Theodor Eschenburg Zeit seines Lebens umgetrieben. In seinen Memoiren hat er seine Affinität zur Schmittschen Diktatur auf Zeit allerdings als „Führerdemokratie“ à la Alfred Weber89,
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Forschungsprogramme zwischen Weimarer Revisionspolitik und nationalsozialistischer Vernichtungsplanung, in: Lehmann, Hartmut und Oexle, Otto Gerhard (Hg.): Nationalsozialismus in den Kulturwissenschaften. Bd. 1: Fächer – Milieus – Karrieren, Göttingen 2004, S. 169–209, hier S. 196. Lehnert, Detlef: Ursprünge und Entwicklungen der Deutschen Hochschule für Politik 1920 bis 1933. 80 Jahre Politikwissenschaft in Berlin, Teil I: Vortrag am 9. 2. 2001 anlässlich der Übergabe der Diplomurkunden (http://www.osi-club.de/w/files/dokumente/ lehnert_dhfp_bis_1933.pdf [letzter Zugriff 26. 11. 2011]); Göhler, Gerhard und Zeuner, Bodo (Hg.): Kontinuitäten und Brüche in der deutschen Politikwissenschaft, BadenBaden 1991. Schieder, Wolfgang: Das italienische Experiment. Der Faschismus als Vorbild in der Krise der Weimarer Republik, in: Historische Zeitschrift 262 (1996), S. 73–125. Hürter, Johannes: Wilhelm Groener: Reichswehrminister am Ende der Weimarer Republik (1928–1932), München 1993. Stolleis, Michael: Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Band 3: Staats- und Verwaltungsrechtswissenschaft in Republik und Diktatur 1914–1945, München 1999. Eschenburg, Theodor: Also hören Sie mal zu: Geschichte und Geschichten 1904 bis 1933, Berlin 1995, S. 262 und 263. Weber, Alfred: Die Krise des modernen Staatsgedankens in Europa, Berlin und Leipzig 1925. Hierbei handelte es sich um eine plebiszitär legitimierte, gleichwohl autoritative Herrschaftsvorstellung. Vgl. Mergel, Thomas: Führer, Volksgemeinschaft und Maschine. Politische Erwartungsstrukturen in der Weimarer Republik und dem Nationalsozialismus 1918–1936, in: Gangl, Manfred (Hg.): Das Politische. Zur Entstehung der Politikwissenschaft während der Weimarer Republik, Frankfurt a.M. 2008, S. 91–128.
Theodor Eschenburg
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Demokrat und Bruder des ungleich bekannteren Max Webers, ausgegeben.90 Wie sehr ihn der Gedanke gepackt hatte, ob er nun tatsächlich eine Diktatur oder eine zeitweise autoritative Demokratie favorisierte, zeigt ein Interview, das er Journalisten des Politmagazins Der Spiegel 1969 gab. Darin schlug er für die Bundesrepublik eine „Diktatur auf Zeit“ zur totalen Verfassungsrevision vor; auf die indignierte Nachfrage der Journalisten erklärte Eschenburg lediglich, man habe das Zitat aus dem Zusammenhang gerissen, er habe von einer „Aufräumungsdikatur“ gesprochen, die eine Demokratie von Zeit zu Zeit brauche, und – „bitte“ –, das Publikum der „schwäbischen Stadt“, in der er gesprochen habe, habe ihn schon verstanden.91 Diese Kontinuität der Denkmodelle, die in Weimarer Republik und Bundesrepublik mit je unterschiedlichen Inhalten gefüllt und an differierende Wertbezüge gekoppelt wurden, ist typisch nicht nur für das Denken Theodor Eschenburgs.92 Vor diesem Hintergrund wird die bislang kaum zur Kenntnis genommene Einschätzung Hans-Jürgen Döschers plausibler, Eschenburg habe zu jenen Anhängern Stresemanns gehört, „die nach dessen Tod (1929) allmählich in deutschnationales Fahrwasser gerieten und schließlich 1933 bei der NSDAP und SS Zuflucht suchten“.93 Tatsächlich ist Eschenburg der Motor-SS beigetreten – diese Tatsache hat er lange Zeit durch bewusste Unwahrheiten zu vertuschen versucht – und hat während der NS-Zeit, die er nach eigenen Angaben „entpolitisiert“ verbracht haben will,94 als Geschäftsführer einer Gruppe von mittelständischen Verbänden der Kurzwaren- und Elektroindustrie mindestens in einem Fall die Arisierungsfrage gestellt. Damit hat Eschenburg die Konfiskation jüdischen Eigentums in der NS-Diktatur – und sei es auch nur aus Opportunismus – unterstützt.95 Über Denken und Handeln Eschenburgs zwischen 1919 und 1933 sowie zwischen 1933 und 1945 ist allerdings bislang immer noch sehr wenig bekannt. Die meisten Aussagen über diese Periode stammen aus seiner eigenen Feder und sind – bis auf einzelne lobenswerte Ausnahmen – bisher nicht wirklich kritisch hinterfragt worden. Hier sollte man die Chance des zweiten Blicks (Hans Günter Hockerts) ergreifen und sich von der bislang dominierenden Erstdeutung befreien. Zudem fehlen Untersuchungen, die Eschenburgs Gedankenge90 91 92
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Eschenburg, Theodor: Also hören Sie mal zu: Geschichte und Geschichten 1904 bis 1933, Berlin 1995, S. 184. Für die Demokratie eine Diktatur auf Zeit. Spiegel-Gespräch mit dem Politik-Professor Theodor Eschenburg, in: Der Spiegel vom 17. 2. 1969, S. 36–50, hier S. 36. Das trifft für Eschenburg etwa zu hinsichtlich der politischen Bildung und seinem Institutionenbegriff, der so „modernisiert“ nicht war, wie das gerne angenommen wird. In allgemeiner Perspektive genau dazu vgl. Eckel, Jan und Etzemüller, Thomas (Hg.): Neue Zugänge zur Geschichte der Geschichtswissenschaft, Göttingen 2007. Döscher, Hans-Jürgen: Seilschaften. Die verdrängte Vergangenheit des Auswärtigen Amts, Berlin 2005. Lehmbruch, Gerhard: Lebenslauf von Theodor Eschenburg, in: Institut für Politikwissenschaft in Verbindung mit der Universität Tübingen (Hg.): Theodor Eschenburg (1904–1999): Tübinger Perspektiven. Katalog zur Ausstellung anlässlich seines 100. Geburtstages, Tübingen 2004, S. 8–11. Eisfeld, Rainer: Theodor Eschenburg: Übrigens vergaß er noch zu erwähnen… Eine Studie zum Kontinuitätsproblem in der Politikwissenschaft, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 59 (2011), S. 27–44.
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bäude ideengeschichtlich auf Kontinuitäten abklopfen und danach fragen, wie und ob sich Inhalte gewisser dominierender „Ideencontainer“ (bei Eschenburg: institutionelles Handeln, der Staatsbegriff, Zentralismus, politische Bildung und das Modell der „Diktatur auf Zeit“) über die Zeit gewandelt haben. Unbedingt wäre dabei auch an die Erschließung neuer Quellenbestände, etwa Korrespondenzen, zu denken, die Aufschluss über die politische Haltung des vor 1945 nur schwer fassbaren Mannes geben könnten. Wann und ob aus Theodor Eschenburg, der in Jugend, Schule und Studium so wenig demokratisch sozialisiert wurde, der 1923 den Aufstieg Hitlers bejubelte und noch Mitte der 1920er Jahre Vorsitzender einer völkisch-nationalen Hochschulvereinigung war, tatsächlich der „Vernunftrepublikaner“ wurde, als der er sich später darstellte, kann zwar aufgrund des bislang bekannten Materials nicht zweifelsfrei geklärt werden. Tatsache aber ist, dass Eschenburg erst nach 1945 wirklich zur Demokratie gefunden hat. Seine Verdienste beim Aufbau der Bundesrepublik werden dadurch nicht bestritten.
Weiterführende Literatur Eisfeld, Rainer: Theodor Eschenburg: Übrigens vergaß er noch zu erwähnen… Eine Studie zum Kontinuitätsproblem in der Politikwissenschaft, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 59 (2011), S. 27–44. Eschenburg, Theodor: Also hören Sie mal zu: Geschichte und Geschichten 1904 bis 1933, Berlin 1995. Eschenburg, Theodor: Letzten Endes meine ich doch. Erinnerungen 1933–1999, Berlin 2000. Hermann, Rudolph (Hg.): Den Staat denken. Theodor Eschenburg zum Fünfundachtzigsten, Stuttgart 1989.
Hinweise zu den Quellen Unterlagen zu Eschenburgs Wirken als Student in Tübingen finden sich ebenso wie solche zu seiner Zeit als Professor und Rektor im dortigen Universitätsarchiv. Material zu seiner Verbandstätigkeit im Dritten Reich liegt vor allem im Bundesarchiv Berlin. Für die Jahre nach 1945 sind unter anderem das Hausarchiv des IfZ in München und das Redaktionsarchiv der Zeit in Hamburg einschlägig.
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Das Lachen der Hannah Arendt (1906–1975) „Sie war einmal eine Deutsche“ Gesamtdarstellungen der Geschichte der Bundesrepublik erwähnen ihren Namen nicht. Aber in Uwe Johnsons Roman Jahrestage taucht Hannah Arendt als Gräfin Seydlitz auf, die am Riverside Drive in New York in einer zweistöckigen Wohnung lebt, in der sie, wie es heißt, in der Bibliothek „Studenten wie Professoren der schöngeistigen Fakultäten“, „Kunsthändler, Kommunisten, Angestellte des diplomatischen Dienstes“ sowie „die reichsdeutsche Emigration“ empfängt.1 „Sie war einmal eine Deutsche“, schreibt Johnson über Gräfin Seydlitz. Ihren richtigen Namen zu nennen, hat Arendt ihm verboten. Indes, Gräfin Seydlitz gefällt ihr ebenso wenig. „Aber, bitteschön, zur Gräfin machen Sie mich nicht!“ hat sie ihn brieflich gebeten und hinzugefügt: „Von allem anderen abgesehen, scheint es ihnen nicht aufgefallen zu sein, dass ich jüdisch bin.“2 Geändert hat Johnson trotz ihres Einwandes den einmal gewählten Namen nicht. „Jä. Dats n ganz niegn Kettl full Fisch“, antwortete er ihr ironisch-spöttisch: „Will die Dame nu wieder nich Gräfin wern.“3 Begegnet waren beide einander erstmals im Mai 1964, als Johnson, der mit Günter Grass eine Lesereise durch die USA unternahm, im New Yorker Goethe-Haus auftrat. Neben dem Autor der Blechtrommel war Johnson bis dahin, wo auch immer beide gelesen hatten, im Schatten geblieben, so dass er bisweilen auf die Frage „Und wer sind Sie?“ geantwortet hatte: „Ich bin der Fotograf von Herrn Grass.“ Am 21. Mai in New York verlief für Johnson alles anders. Hannah Arendt, die gemeinsam mit ihrem Ehemann Heinrich Blücher die Lesung besuchte, entwickelte, wie die Grass-Verlegerin Helen Wolf aufmerksam registrierte, „sofort eine starke und intensive Beziehung“ zu Johnson. Beide fanden sich, so Wolfs Erklärung, „auf norddeutschem Boden“.4 Sprache, Stil und Habitus des in Mecklenburg/Pommern geprägten Johnson zogen die im ostpreußischen Königsberg aufgewachsene Arendt an. Zwischen 1966 und 1968, den Jahren, in denen er in New York an seinen Jahrestagen schrieb, wurde Johnson, 28 Jahre jünger als Arendt, regelmäßiger Gast ihrer Wohnung. Während ihrer berühmten Samstagseinladungen traf er dort nicht nur auf die 1 2 3
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Johnson, Uwe: Jahrestage, I–IV, Frankfurt a.M. 1970–1983, hier Bd. II, S. 873–875. Hannah Arendt an Uwe Johnson, Brief vom 6. Juli 1979, in: Arendt, Hannah und Johnson, Uwe: Der Briefwechsel 1967–1975, Frankfurt a.M. 2004, S. 39–40, hier S. 39. Uwe Johnson an Hannah Arendt und Heinrich Blücher, Brief vom 8. Juli 1970, in: Arendt, Hannah und Johnson, Uwe: Der Briefwechsel 1967–1975, Frankfurt a.M. 2004, S. 41–45, hier S. 41. Die letzten beiden Zitate nach Wild, Thomas: „Ein Brief von Ihnen ist immer eine Freude. Ein Ersatz für ein Gespräch ist es allerdings nicht“, in: Arendt, Hannah und Johnson, Uwe: Der Briefwechsel 1967–1975, Frankfurt a.M. 2004, S. 301–332, hier S. 303–304.
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amerikanischen Schriftsteller W.H. Auden und Robert Lowell, den Literaturkritiker Eric Heller sowie die Autorin und Literaturkritikerin Susan Sontag, sondern im Dezember 1966 auch auf Jürgen Habermas. Es kam aber auch außerhalb des „Salons“ zu intensiven Gesprächen mit Arendt, die Johnson rückblickend mit den Worten kommentierte: „Ich bekam Seminare in Philosophiegeschichte, zeitgenössischer Politik, Zeitgeschichte, je nach Wunsch.“ 1971, nach dem Tod Heinrich Blüchers, lud Arendt ihn ein, während seines New York Aufenthaltes bei ihr zu wohnen. Johnson bezog das Zimmer Blüchers hoch über dem Hudson, „unablässig verwundert, warum da auf einer Kommode ein westdeutscher Groschen lag.“5 „Deutsch“, das war für Hannah Arendt: „die Muttersprache, die Philosophie und die Dichtung“.6 Zeit ihres Lebens verkehrte sie mit Schriftstellern.7 Die Beziehung zu Johnson war keine Ausnahme. „Dichterisch zu denken“, sah Arendt als Herausforderung an.8 1958 verlieh ihr der Senat der Hansestadt Hamburg den Lessing-Preis. „Ihr streitbares Bemühen, die Wechselwirkungen von Kultur und Politik darzustellen“, habe, so der Wortlaut der ihr überreichten Urkunde, „die zeitgeschichtliche Erkenntnis in hervorragender Weise gefördert.“ Arendts Untersuchungen wiesen „nach Form und Methode über den wissenschaftlichen Bereich hinaus“. Sie seien „in ihrer sprachlichen Durchbildung schriftstellerische Leistungen von hohem künstlerischen Rang.“9 Diese Auszeichnung entsprach ihrem Anspruch. Hatte sie doch 1945 an ihren akademischen Lehrer Karl Jaspers geschrieben, aus ihr sei „eine Art freier Schriftsteller geworden, irgend etwas zwischen einem Historiker und einem politischen Publizisten“.10 Senator Hans Biermann-Ratjen titulierte sie in seiner Lessing-Preis-Laudatio als „Jüdin“, „Europäerin“, „Weltbürgerin“ und fügte hinzu: „Wir wünschen Sie zu reklamieren als Unsrige [Deutsche], wenn Sie das erlauben, wobei es sich versteht, daß nicht Sie zu uns zurückgekehrt sind, sondern wir zu Ihnen.“11 Arendt antwortete ihm mit einem Verweis auf die deutsche Vergangenheit und einem Goethe-Zitat: „Bewältigen können wir die Vergangenheit so wenig, wie wir sie ungeschehen machen können. Wir können uns aber mit ihr abfinden. Die Form, in der dies 5
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Beide Zitate aus Johnson, Uwe: Nachruf auf Hannah Arendt, in: Arendt, Hannah und Johnson, Uwe: Der Briefwechsel 1967–1975, Frankfurt a.M. 2004, S. 163–167, hier S. 163. Hannah Arendt an Karl Jaspers, Brief vom 1. Januar 1933, in: Arendt, Hannah und Jaspers, Karl: Briefwechsel 1926–1969, München u.a. 2 2001, S. 52–53, hier S. 52. Vgl. dazu Wild, Thomas: Nach dem Geschichtsbruch. Deutsche Schriftsteller um Hannah Arendt, Berlin 2009. Vgl. zu „dichterisch denken“ Arendt, Hannah: Walter Benjamin, in: Arendt, Hannah: Benjamin, Brecht. Zwei Essays, München u.a. 1971, S. 7–62, hier S. 62; ferner Heuer, Wolfgang und Lühe, Irmela van der (Hg.): Dichterisch denken. Hannah Arendt und die Künste, Göttingen 2007. Die Urkunde ist dokumentiert in: Arendt, Hannah: Von der Menschlichkeit in finsteren Zeiten. Gedanken zu Lessing, Hamburg 1960, S. 15. Arendt an Jaspers, Brief vom 18. November 1945, in: Arendt, Hannah und Jaspers, Karl: Briefwechsel 1926–1969, München u.a. 2 2001, S. 59. Vgl. auch Schulin, Ernst: Hannah Arendt als Historikerin, in: ders.: Arbeit an der Geschichte. Etappen der Historisierung auf dem Weg zur Moderne, Frankfurt a.M. 1997, S. 192–211. Biermann-Ratjen, Hans: Laudatio, in: Arendt, Hannah: Von der Menschlichkeit in finsteren Zeiten. Gedanken zu Lessing, Hamburg 1960, S. 5–14, hier S. 13.
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geschieht, ist die Klage, die aus der Erinnerung steigt. Es ist, wie Goethe gesagt hat: Der Schmerz wird neu, es wiederholt die Klage / Des Lebens labyrinthisch irren Lauf.“12 Als ihr Buch Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft auf Deutsch erschien (1955), verlangte sie von ihrem Verleger, den schon gedruckten Klappentext auf dem Buchumschlag, der sie als Professorin vorstellte, einzustampfen und einen neuen zu drucken, auf dem sie als „Jüdin“ bezeichnet wurde, die „Deutschland verlassen“ hatte.13 In ihrer Rede zur Verleihung des dänischen Sonning-Preises, gehalten 1975 im Jahre ihres Todes, erklärte Arendt, dass sie „nie habe dazu gehören wollen, nicht einmal in Deutschland“. Und sie ergänzte: „Was für diejenigen, die um mich herum lebten, das Land, vielleicht eine Landschaft, ein festes Gefüge von Gewohnheiten und Traditionen und vor allem eine gewisse Mentalität war, das war für mich die Sprache. Und wenn ich je bewusst etwas für die europäische Zivilisation getan habe, so lag dies in nichts anderem als der ausdrücklichen Absicht, meine Muttersprache nicht gegen welch andere Sprache auch immer, ob sie zum Gebrauch angeboten oder aufgezwungen wurde, auszutauschen.“14 Deutsche Gedichte, die sie zu einem großen Teil auswendig kannte, „bewegten sich“ bei ihr, wie sie schrieb, „immer irgendwie im Hinterkopf“.15 Noch zweiunddreißig Jahre nachdem sie Deutschland verlassen hatte und über Frankreich in die USA emigriert war, behielt Hannah Arendt auch in ihren englischen Vorlesungen den deutschen Satzbau und Sprachduktus bei.16 Mit ihrer Königsberger Jugendfreundin, Anne Mendelsohn, die nach Heinrich Blüchers Tod (1970) zu ihr in die New Yorker Wohnung zog, sprach sie bis zu ihrem Tod am 4. Dezember 1975 Ostpreußisch. Über die Brüche der deutschen Geschichte hinweg blieb sie zwei deutschen Philosophen Zeit ihres Lebens verbunden: zum einen Karl Jaspers, ihrem Doktorvater, den sie in ihren Briefen als „Lieber Verehrtester“ anredete und den sie, obwohl er Schweizer Staatbürger geworden war, in der Rolle des Philosophen sah, der nahezu ein Vierteljahrhundert, von 1945 bis zu seinem Tod 1969, „das Gewissen Deutschlands“ gewesen war,17 zum anderen Martin Heidegger, ihrem ersten akademischen Lehrer und ihrer ersten Liebe. Wie sich Arendt, die seit 1951 über die amerikanische Staatsangehörigkeit verfügte, in die Tradition deutscher Demokratinnen und Demokraten, die in diesem Band vorgestellt werden sollen, einschrieb, soll in drei Szenen gezeigt werden. Das Portrait der deutschsprachigen Jüdin, Schriftstellerin, Zeithistorikerin und poli12 13
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Arendt, Hannah: Von der Menschlichkeit in finsteren Zeiten. Gedanken zu Lessing, Hamburg 1960, S. 42. Vgl. dazu Hannah Arendt an Kurt Blumenfeld, Brief vom 28. November 1955, in: Arendt, Hannah und Blumenfeld, Kurt: „… in keinem Besitz verwurzelt“. Die Korrespondenz, Hamburg 1995, S. 136. Arendt, Hannah: Die Sonning-Preis-Rede, in: Arnold, Heinz Ludwig (Hg.): Text und Kritik (166/167): Hannah Arendt, München 2005, S. 3–12, hier S. 4. Fernsehgespräch mit Günter Gaus, in: Arendt, Hannah: Ich will verstehen. Selbstauskünfte zu Leben und Werk, München 1996, S. 44–70, hier S. 58. Ludz, Ursula: Zur deutschen Übersetzung, in: Arendt, Hannah: Über das Böse. Eine Vorlesung zu Fragen der Ethik, München u.a. 2011, S. 173–176, hier S. 176. Arendt, Hannah: Ansprache anläßlich der öffentlichen Gedenkfeier der Universität Basel am 4. März 1969, in: Arendt, Hannah und Jaspers, Karl: Briefwechsel 1926–1969, München u.a. 2 2001, S. 719–720, hier S. 720.
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tischen Theoretikerin Hannah Arendt setzt mit der letzten großen öffentlichen Rede Arendts 1975 ein, um daraus retrospektiv ihre Bezugsgruppe im intellektuellen Feld der 1920er Jahre in Deutschland abzuleiten. Es wendet sich, zweitens, ausgehend von Interviews Arendts aus dem Jahr 1964, der Zeithistorikerin und politischen Theoretikerin in der Rolle der Intellektuellen zu, bevor es, drittens, vor dem Hintergrund von Arendts Totalitarismus-Analyse ihre Vision demokratischer Selbstorganisation am Beispiel ihrer Definitionen des öffentlichen Raums und des Politischen entfaltet.
Ein Bekenntnis Den Lesern ihrer Bücher möge es unglaubwürdig erscheinen, konstatierte Hannah Arendt in ihrer Dankesrede für den Sonning-Preis, verliehen in Kopenhagen 1975, aber aufgrund ihres Temperaments sowie ihrer Neigungen, mithin psychischer Merkmale, neige sie dazu, „den öffentlichen Raum zu meiden“, den sie in ihren Werken „gepriesen“, wenn nicht gar für politisches Reden und Handeln „glorifiziert“ habe.18 „Mary glaub mir“, hatte sie vor der Preisverleihung an ihre Freundin Mary McCarthy geschrieben, „die ganze Sache ist eine Plage“.19 In einem neuen Kleid, wie von McCarthy empfohlen, war sie schließlich zwar doch zur Preisverleihung erschienen. Aber sie wirkte fragil, unsicher und, wie Fernsehaufnahmen zeigen, „zitternd“, als sie ihre Dankesrede begann.20 Es war nicht der erste große Preis, den sie erhielt. Nach dem Lessing-Preis (1958) hatte sie den Sigmund Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt (1967) bekommen und den M. Carey Thomas Award des Bryn Mawr College (1971). Jedes Mal hatte sie eine Dankesrede gehalten. Es war die Kopenhagener Rede, die eine „Identitätskrise“ bei ihr auslöste. Warum? Nicht den Namensgeber des Preises wollte sie, wie in Hamburg 1958, ins Zentrum ihrer Rede stellen, sondern erstmals sich selbst. So stellte sie sich dem Publikum vor mit den Worten: „Ich bin, wie Sie wissen, eine Jüdin – ,feminini generis‘, wie sie sehen können –, geboren und erzogen in Deutschland, wie sie zweifellos hören können, und bis zu einem gewissen Grade geprägt von acht langen und eher glücklichen Jahren in Frankreich.“ Sie habe eine „kontemplative Lebensweise“ gewählt, als sie sich entschloss, Philosophie zu studieren, und damit „eine Absage an das Öffentliche“ erteilt. Philosophie, so ihre These, sei „ein einsames Geschäft“. Eine „öffentliche Figur“ habe sie nicht werden wollen. Sie sei durch „öffentliche Anerkennung“ in eine solche verwandelt worden.21 18 19
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Arendt, Hannah: Die Sonning-Preis-Rede, in: Arnold, Heinz Ludwig (Hg.): Text und Kritik (166/167): Hannah Arendt, München 2005, S. 3–12, hier S. 6. Hannah Arendt an Mary McCarthy, Brief vom 10. März 1975, in: Arendt, Hannah und McCarthy, Mary: Im Vertrauen. Briefwechsel 1949–1975, München 1995, S. 533–534, hier S. 534. Ludz, Ursula: „My trouble was that I had never wished to belong“. Mit einer SelbstReflexion dankt Hannah Arendt für den Sonning-Preis, in: Arnold, Heinz Ludwig (Hg.): Text und Kritik (166/167): Hannah Arendt, München 2005, S. 13–17, hier S. 13. Arendt, Hannah: Die Sonning-Preis-Rede, in: Arnold, Heinz Ludwig (Hg.): Text und Kritik (166/167): Hannah Arendt, München 2005, S. 3–12, hier S. 4 und S. 9.
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Ihre Absage an alles Öffentliche wurde im weiteren Verlauf der Rede von Arendt als Charakteristikum einer ganzen Generation diagnostiziert, die sie als „lost generation“ im Europa der zwanziger Jahre bezeichnete. Diese Generation sei eine „Minderheit“ gewesen, „je nach Einschätzung eine Avantgarde oder Elite“. Zahlenmäßig klein, sei sie jedoch nicht minder typisch für den Zeitgeist gewesen. Die Bedingungen, unter denen die „verlorene Generation“ sich in Deutschland formierte und Bedeutung für das Gesamtklima der Nachkriegszeit gewann, hatte Arendt vier Jahre zuvor in ihrem Essay über Bertolt Brecht (1971) entfaltet. Detailliert hatte sie darin dargelegt, was sie unter der „verlorenen Generation“ verstand, abweichend von Ernest Hemingway, der, den Begriff Gertrude Stein zuschreibend, in seinem Roman Fiesta darunter eine Gruppe amerikanischer Schriftsteller fasste, die während und nach dem Ersten Weltkrieg Zuflucht in Europa und vor allem in Paris suchten.22 Arendts Definition war, ohne dass sie dies explizit machte, durch Karl Mannheims Problematisierung der Rolle, Funktion und Wirkungsmacht von Generationen geprägt.23 Folgt man ihr, so war die „verlorene Generation“, als deren Repräsentanten sie Bertolt Brecht, geb. 1898, herausstellte, geprägt durch die Schützengräben und Materialschlachten des Ersten Weltkriegs, in denen die Welt sie in das Leben eingeführt habe. Im Frieden angekommen, hätten die Besten unter ihnen sich geweigert, das Grauen des Krieges zu vergessen, in die Normalität zurückzukehren und ihre Karriere fortzusetzen, als wäre nichts gewesen. „Wer sich als Glied einer ,verlorenen Generation‘ fühlte“, so Arendts These, sah angesichts des „Traditionsbruchs“ im Politischen, Ökonomischen und Kulturellen, der die aus dem Ersten Weltkrieg hervorgehende Welt auszeichnete, die „alten Gedankenwege, die alten Maßstäbe, die alten Wegweiser für Sitten und Gebräuche vernichtet.“ Mit der Versuchung kämpfend, sich selbst zu bemitleiden, habe die „verlorene Generation“ gegenüber der zerstörten Welt eine Haltung „stoisch-ironischer Gelassenheit“ gewählt.24 Exemplarisch habe Bertolt Brecht diese Haltung zum Ausdruck gebracht in seinem Gedicht Vom armen B.B., aus dem sie die Zeilen zitiert: „Bei den Erdbeben, die kommen werden, werde ich / hoffentlich / meine Virginia nicht ausgehen lassen durch Bitterkeit.“25 Als weitere charakteristische Elemente der „verlorenen Generationen“ arbeitete Arendt „eine außerordentliche Distanziertheit [zur Welt] mit der dazugehörigen Mischung von Stolz und Demut“ heraus sowie eine Neigung zu Anonymi22
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Vgl. dazu Brinnin, John Malcom: Die Dritte Rose. Gertrude Stein und ihre Welt, Stuttgart 1967, S. 250 ff.; ferner die Studie von Strauss, William und Howe, Neil: Generations. The History of America’s Future, 1584 to 2069, New York 1991, S. 247–260. Mannheim, Karl: Das Problem der Generation, in: ders.: Wissenssoziologie. Auswahl aus dem Werk, Darmstadt 1964. Arendt hatte Mannheim persönlich kennengelernt. Günter Stern, ihr erster Ehemann, war Assistent Mannheims. Bereits 1929 hatte sie Mannheims Buch „Ideologie und Utopie“ rezensiert. Vgl. Young-Bruehl, Elisabeth: Hannah Arendt. Leben, Werk und Zeit, Frankfurt a.M. 1991, S. 135–138. Arendt, Hannah: Bertolt Brecht, in: dies.: Benjamin, Brecht. Zwei Essays, München 1971, S. 63–107, hier S. 75. Brecht, Bertolt: Vom armen B.B., in: ders.: Die Gedichte von Bertolt Brecht in einem Band, Frankfurt a.M. 9 1995, S. 261–263, hier S. 263.
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tät und Normalität.26 Es war, legt man Mannheims Kategorien zugrunde, eine „Generationseinheit“ innerhalb eines „Generationszusammenhanges“, die sie als „verlorene Generation“ definierte und der sie zuschrieb, einen neuen Stil und eine neue Haltung, mit einem Wort „Generationsentelechien“, geprägt zu haben. Ihre Bedeutung für das Gesamtklima der Nachkriegszeit gewann diese, so Arendt, weil ihr „weitere ,verlorene Generationen‘“ folgten. Sie nennt eine, etwa zehn Jahre später, um 1908 geborene Generation [der sie selbst angehört, I.G.], die durch Revolution, Inflation und Arbeitslosigkeit in die Welt eingeführt worden und „so über die Brüchigkeit alles dessen belehrt“ worden sei, „was nach mehr als vier Jahren des Mordens in Europa noch in Takt geblieben war“, und schließlich eine um 1918 geborene Generation, „die sich gleichsam aussuchen konnte, ob sie ihre erste Welterfahrung in den Konzentrationslagern des Dritten Reichs oder im spanischen Bürgerkrieg oder an den Moskauer Prozessen machen wollte.“ Altersmäßig standen sich diese „drei Gruppen“, aus ihrer Sicht, nah genug, „um im Zweiten Weltkrieg in eine einzige zusammenzuschmelzen – als Soldaten oder als Flüchtlinge, als Mitglieder von Widerstandsbewegungen oder als Insassen von Internierungs- und Vernichtungslagern, als Zivilisten unterm Bombenhagel und Überlebende von Städten.“27 Im Rampenlicht der Öffentlichkeit stehend, rief Arendt in Kopenhagen sich und dem Publikum die Problematik der „verlorenen Generation“ in Erinnerung zurück und benannte zugleich das soziale Phänomen, von dem sie sich abgrenzte: die „Gesellschaft der Berühmten“ (Stefan Zweig). Literaturwissenschaftlern, Historikern und Sozialwissenschaftlern lastete sie an, dieses Phänomen bislang nicht untersucht zu haben. Eine Liste ihrer Mitglieder zusammenzustellen, sei, wie sie konstatierte, leicht, aber es würden unter ihnen keine gefunden werden, „die sich schließlich als die einflussreichsten Autoren der Zeit erwiesen“ hätten. Habe die „strahlende Macht des Ruhms“ sie doch nicht in die Lage versetzt, die „Katastrophe“ der dreißiger Jahre besser zu meistern als die vielen nicht-berühmten Menschen.28 Daraus folgt: Den hoch dotierten Sonning-Preis in Händen, den als erster Winston Churchill erhielt, zog Hannah Arendt zur Erläuterung ihres inneren Zwiespalts gegenüber öffentlichen Auszeichnungen die Einstellungen, Vorstellungen, Sicht- und Teilungskriterien einer Referenzgruppe in der Weimarer Republik heran. Eine „hommage“ an ihren Ehemann, wie der Literaturwissenschaftler Bernd Neumann urteilt?29 Heinrich Blücher, geb. 1899, gehörte zweifellos zu der von ihr skizzierten Generation. Nach seinen Erfahrungen als Soldat im Ersten Weltkrieg schloss er sich in der Revolution 1918/19 dem Spartakusbund 26 27
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Arendt, Hannah: Bertolt Brecht, in: dies.: Benjamin, Brecht. Zwei Essays, München 1971, S. 63–107, hier S. 79. Arendt, Hannah: Bertolt Brecht, in: dies.: Benjamin, Brecht. Zwei Essays, München 1971, S. 63–107, hier S. 75. Bereits 1950 hatte Arendt sich mit Brecht auseinandergesetzt, ohne allerdings das Generationsschema als analytische Kategorie zu benutzen. Vgl. Arendt, Hannah: Der Dichter Bertolt Brecht, in: Die Neue Rundschau, 61 (1950), S. 53– 67. Arendt, Hannah: Die Sonning-Preis-Rede, in: Arnold, Heinz Ludwig (Hg.): Text und Kritik (166/167): Hannah Arendt, München 2005, S. 3–12, hier S. 8. Neumann, Bernd: Hannah Arendt und Heinrich Blücher. Ein deutsch-jüdisches Gespräch, Berlin 1998, S. 181.
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an, war von 1919 bis 1928 Mitglied der KPD, wechselte aus Protest gegen den Stalinismus zur Kommunistischen Partei-Opposition und verließ 1933 aus Solidarität mit den vom NS-Regime Verfolgten Deutschland. Er traf 1934 in Paris mit Hannah Arendt zusammen in einem Kreis von emigrierten Intellektuellen, zu denen u.a. Walter Benjamin gehörte. Zieht man heran, dass Arendt ihre Aussage, sie habe „nie /…/ dazu gehören wollen, nicht einmal in Deutschland“, in Kopenhagen einleitete mit den Worten: „mein Problem war“, so lässt sich auch folgern, dass sie die Frage der Zugehörigkeit am Ende ihres Lebens existentiell beschäftigte und sie sich retrospektiv in Bezug auf diese anders entschied. Ihre Selbstzweifel angesichts der Auszeichnung mit dem Sonning-Preis in ihrer Dankesrede artikulierend, legte sie ihre existentielle Bindung an die kognitive Orientierung der „verlorenen Generation“ offen und nahm damit eine Selbstzuschreibung vor. Betrachtet man ihre Vorliebe für ein „Denken ohne Geländer“ sowie ihre ironisch-spöttische, distanzierte Sprach- und Schreibweise, gehörte sie seit langem dazu.
Das Lachen Den Status einer öffentlichen Person hatte Hannah Arendt in den sechziger Jahren gewonnen infolge ihres Berichts über den Eichmann-Prozess in Jerusalem, der 1964 in Deutschland erschien.30 Die Kontroverse, die das Buch, das zunächst auf Englisch publiziert worden war, unmittelbar nach seinem Erscheinen in den USA ausgelöst hatte, veranlasste ihren deutschen Verleger, Klaus Piper, die Veröffentlichung im deutschen Sprachraum medial vorzubereiten. Arendt gab zwei Fernsehinterviews und ein Radiointerview, die die Veröffentlichung flankierten. Sie war in der Sendung Panorama im Januar 1964 in einem Interview mit Thilo Koch zu sehen,31 in der Reihe Zur Person im ZDF im Gespräch mit Günter Gaus im Oktober 1964,32 und sie sprach im Südwestfunk-Radio, befragt von Joachim Fest am 9. November 1964.33 Im Fernsehinterview mit Günter Gaus gab sie auf dessen Feststellung, dass einige der Vorwürfe, die gegen ihr Buch erhoben worden seien, sich „auf den Ton“ gründeten, „in dem manche Passagen geschrieben sind“, zu Protokoll: „Sehen Sie, es gibt Leute, die nehmen mir die Sache übel, und das kann ich gewissermaßen verstehen: nämlich, daß ich da noch lachen kann. Aber ich war wirklich der Meinung, daß der Eichmann ein Hanswurst ist, und ich sage Ihnen: ich habe sein Polizeiverhör, 3600 Seiten, gelesen und sehr genau gelesen. Und ich weiß nicht, wie oft ich gelacht habe; laut gelacht! Diese Reaktion nehmen mir die Leute übel. 30 31 32 33
Arendt, Hannah: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht über die Banalität des Bösen, München 1964. Vgl. dazu Fernsehgespräch mit Thilo Koch, in: Arendt, Hannah: Ich will verstehen. Selbstauskünfte zu Leben und Werk, München 1996, S. 37–43. Fernsehgespräch mit Günter Gaus, in: Arendt, Hannah: Ich will verstehen. Selbstauskünfte zu Leben und Werk, München 1996, S. 44–70. Arendt, Hannah, Fest, Joachim: „Eichmann war von empörender Dummheit“. Die Rundfunksendung vom 9. November 1964, in: Arendt, Hannah und Fest, Joachim: Eichmann war von empörender Dummheit. Gespräche und Briefe, München 2011, S. 36–60.
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Dagegen kann ich nichts machen. Ich weiß aber eines: ich würde wahrscheinlich noch drei Minuten vor meinem sicheren Tod lachen. Und das, sagen sie, sei der Ton. Der Ton ist weitgehend ironisch, natürlich. Und das ist vollkommen wahr. Der Ton ist in diesem Fall wirklich der Mensch. Wenn man mir vorwirft, daß ich das jüdische Volk angeklagt hätte: das ist böswillige Propaganda und nichts weiter. Der Ton aber, das ist ein Einwand gegen mich als Person. Dagegen kann ich nichts tun.“34 Der ironische Ton löste den Vorwurf der „Schnoddrigkeit“, der „Gefühllosigkeit und Kälte“35 oder der „Pointen von schneidender Krassheit“ aus.36 Noch fast vierzig Jahre nach dem Erscheinen des Textes wurde der Autorin attestiert, „unerträglich arrogant, herrisch, voller Professorenherrlichkeit“ zu sein. Der Holocaust aber sei ein Thema, das sich für Ironie und Sarkasmus nicht eigne.37 Arendt wehrte sich entschieden gegen die Kritik der Ironie. So erklärte sie im Gespräch mit Fest: „Ich bin doch der Meinung, dass man lachen können muss, weil das Souveränität ist. Und dass all diese Einwände gegen Ironie irgendwie mir sehr unangenehm sind im Geschmackssinn, ja. Aber all das sind Fragen der Person. Ich bin ganz offenbar sehr vielen Leuten sehr unangenehm. Dagegen kann ich nichts machen. Was soll ich dagegen machen? Die mögen mich halt nicht. Denn der Stil, in dem äußert sich doch die Person – nämlich das, was man selbst nicht weiß.“38 Ironie war für Hannah Arendt, folgt man Marie Luise Knott, „ein Mittel, Erlebtes auf Distanz zu schieben, um es bedenken zu können“.39 Ihr Ton ließ, so Nina Grunenberg, nicht erkennen, welche Gefühle die Autorin als Person bewegten. Sarkastisch, distanziert, ironisch schreibend, wandelte sie vielmehr auf dem „Grat, auf dem das Grauenhafte in das Komische“ umschlug.40 Ihr leises Lachen der Ironie, das sich durch das ganze Buch zog, brachte, wie bereits Jaspers konstatiert hatte, das Komische zur Geltung, „um fühlbar zu machen, wo eigentlich der Ernst liegt.“41 Und dieser Ernst lag für Arendt darin, deutlich zu machen, dass in Jerusalem ein Täter vor Gericht stand, der einen neuen Typus des Massenmörders verkörperte. Adolf Eichmann, der Leiter des für die Organisation und Vertreibung der Juden verantwortlichen Reichssicherheitshauptamtes, erschien ihr, 34 35 36 37
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Fernsehgespräch mit Günter Gaus, in: Arendt, Hannah: Ich will verstehen. Selbstauskünfte zu Leben und Werk, München 1996, S. 44–70, hier S. 62. Rie, Robert: Literarisches Nachspiel zum Eichmann-Prozeß, in: Die Kontroverse. Hannah Arendt Eichmann und die Juden, München 1964, S. 33–38, hier S. 33. Holthusen, Hans E.: Hannah Arendt, Eichmann und die Kritiker, in: VfZ 13 (1965), S. 178–190, hier S. 182. Elon, Amos: Hannah Arendts Exkommunizierung, in: Smith, Gary: Hannah Arendt Revisited: „Eichmann in Jerusalem“ und die Folgen, Frankfurt a.M. 2001, S. 17–32, hier S. 24. Arendt, Hannah, Fest, Joachim: „Eichmann war von empörender Dummheit“. Die Rundfunksendung vom 9. November 1964, in: Arendt, Hannah und Fest, Joachim: Eichmann war von empörender Dummheit. Gespräche und Briefe, München 2011, S. 36–60, hier S. 60. Knott, Marie Luise: Verlernen. Denkwege bei Hannah Arendt, Berlin 2011, S. 18. Grunenberg, Antonia: Arendt, Freiburg 2003, S. 96. Jaspers, Karl: Hannah-Buch (Nachlass, DLA), hier zitiert nach Knott, Marie Luise: Verlernen. Denkwege bei Hannah Arendt, Berlin 2011, S. 24.
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weit davon entfernt, der Dämon und Satan zu sein, den der Generalstaatsanwalt zeichnete. „Das beunruhigende an der Person Eichmanns war“, wie sie im Epilog ihres Prozessberichtes notierte, „doch gerade, daß er war wie viele und daß diese vielen weder pervers noch sadistisch, sondern schrecklich und erschreckend normal waren und sind.“42 Nicht Ideologie, sondern bürokratischer Kadavergehorsam und Karrierestreben, so Arendts Thesen, hatten ihn angetrieben. Ihr Prozessbericht zeichnete einen Mann, der unfähig war zu denken, den ein pathologischer Mangel an Empathie ebenso auszeichnete wie ein absoluter Mangel an Vorstellungkraft, und der, wenn er sprach, sich nur in Stereotypen, Klischees, Phrasen oder in Amtssprachendeutsch auszudrücken vermochte. Mehrfach im Verlauf der Verhandlung zu einer verständlicheren Darstellungsweise aufgefordert, hatte er dem Richter geantwortet: „Amtssprache ist meine einzige Sprache“.43 Hannah Arendts Wahrnehmung des Angeklagten in Jerusalem deckte sich mit ihren Deutungen und Erklärungen des Völkermordes an den Juden als Paradigma eines neuartigen Verbrechens. Es fiel, so ihre Argumentation, aus der Geschichte der Pogrome gegen das jüdische Volk heraus, unterschied sich nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ von ihr. Es war, wie sie es nannte, „ein Verbrechen gegen die Menschheit, verübt am jüdischen Volk.“ Nur die Wahl der Opfer, nicht aber die Natur des Verbrechens ließ sich, so Arendts These, aus der langen Geschichte des Judenhasses und Antisemitismus herleiten. Die Vernichtungsmaschinerie wurde bedient von Deutschen, aber ähnliche Verbrechen konnten in Zukunft auch von anderen begangen werden.44 Gab es ihn, aus ihrer Sicht, doch überall, den Typus des Funktionärs, der zum Funktionieren gebracht wird. Bereits 1945 hatte sie ihn zu skizzieren versucht. Er sei entstanden, so ihre These in dem Artikel Organisierte Schuld, „aus der Verwandlung des Familienvaters aus einem an öffentlichen Angelegenheiten interessierten, verantwortlichen Mitglied der Gesellschaft in den Spießer, der nur an seiner privaten Existenz hängt und öffentliche Tugenden nicht kennt“. Der „Spießer“, wie sie in Ermangelung eines anderen Namens den „modernen Typus Mensch“ 1945 nannte, wurde von ihr definiert als abgeschnitten vom öffentlichen Leben. Er habe die Zweiteilung von privat und öffentlich, Familie und Beruf so weit getrieben, dass er, wenn sein Beruf ihn zwinge zu morden, sich nicht für einen Mörder halte, weil er es nicht aus Neigung getan habe, sondern beruflich.45 Zieht man in Betracht, dass der Völkermord an den Juden, aus Arendts Sicht, ein „Verwaltungsmassenmord“ war, der in Zukunft erneut begangen werden konnte, war, um eine Wiederholung zu verhindern, die Identifizierung des Tätertypus von größter Bedeutung. Auch in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (1955) hatte sie daher in Auseinandersetzung mit dem neuen Verbrechenstypus 42 43 44 45
Arendt, Hannah: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, Leipzig 1990, S. 425. Arendt, Hannah: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, Leipzig 1990, S. 130. Arendt, Hannah: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, Leipzig 1990, S. 416 und 420. Arendt, Hannah: Organisierte Schuld, in: dies.: In der Gegenwart. Übungen im politischen Denken II, München 2000, S. 26–37.
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den neuen Tätertypus zu zeichnen versucht: einen Täter, der zum Mörder nicht aus verbrecherischen Motiven wird, sondern aus Gedankenlosigkeit, fehlender Vorstellungskraft und mangelndem reflexivem Urteilsvermögen.46 In ihrem Jerusalemer Prozessbericht verwandte sie zu seiner Charakterisierung die Worte von der „Banalität des Bösen“.47 Dieser Ausdruck, geprägt von Heinrich Blücher,48 beschwor einen Sturm der Entrüstung herauf. Doch Arendt blieb dabei. Der Tätertypus, den Eichmann verkörperte, war in ihren Augen kein Richard III., kein Jago und kein Macbeth, sondern ein Täter, der in seiner Acht- und Gedankenlosigkeit ans Komische/Groteske grenzte.49 Was sie jenseits ihrer Wahrnehmungen als Prozessbeobachterin sowie ihres Wissens über die Funktionsmechanismen totalitärer Regime bei dieser Definition leitete, gab sie 1973 im französischen Fernsehen zu Protokoll. Sie erklärte im Interview, dass es, Eichmann in Jerusalem schreibend, eine ihrer Hauptabsichten gewesen sei, „die Legende von der Größe des Bösen, von dessen dämonischer Macht zu zerstören, den Leuten die Bewunderung, die sie für die großen Bösewichter wie Richard III. und so weiter hegen, zu nehmen.“ Sie erläuterte ihr Vorgehen unter Bezugnahme auf eine Bemerkung von Brecht. „Die großen politischen Verbrecher müssen preisgegeben werden,“ zitierte sie ihn, „insbesondere der Lächerlichkeit. Sie sind nicht große politische Verbrecher, sondern Menschen, die große politische Verbrechen zuließen, was etwas vollkommen anderes ist.“50 Die Brechtschen Zeilen „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch“, die sich in Brechts zeitkritischem Stück Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui finden, habe sie, wie sie erklärte, „damals nicht gelesen und gekannt“. Sie entsprachen aber ihrer Vorstellung von der potentiellen Wiederholbarkeit und Universalisierbarkeit des neuartigen Verbrechens. Daraus folgt: Hannah Arendt bezog sich in ihrer Schreibweise, in ihrem ironisch-sarkastischen Ton sowie in ihrer Typenbildung auf ein literarisches Vorbild, Bertolt Brecht, der für sie der Inbegriff der „verlorenen Generation“ war. Sie transferierte sprachlich, stilistisch einen Stil der Kritik, geprägt von einer Avantgarde in der Weimarer Republik, in die Bundesrepublik, in der, die Brecht-Boykotte weisen es aus, die Kontinuität dieser Kulturkritik nicht gegeben war. Sie ging mit ihrer Tätertypus-Bestimmung über die Rolle der bloßen Prozessberichterstatterin hinaus. Sie machte aus dem Fall Eichmann einen prinzipiellen Fall. Sie setzte ihr Prestige, das sie als Zeithistorikerin gewonnen hatte, ein, um, ausgehend vom Eichmann-Prozess, gestützt auf Kategorien, die sie u.a. in Elemente und 46 47 48
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Vgl. Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, Frankfurt a.M. 1962, S. 489–507, hier S. 505–507. Arendt, Hannah: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, Leipzig 1990, S. 57. Vgl. dazu Karl Jaspers an Hannah Arendt, Brief vom 13. Dezember 1963, in: Arendt, Hannah und Jaspers, Karl: Briefwechsel 1926–1969, München u.a. 2 2001, S. 576–578, hier S. 578. Einen anderen Typus zeigen, Eichmann untersuchend, die Studien von Cesarani, David: Eichmann. His Life and Crimes, London 1988 und Stangneth, Bettina: Eichmann vor Jerusalem, Hamburg 2011. Arendt, Hannah: Fernsehgespräch mit Roger Errera (Oktober 1973), in: Arendt, Hannah: Ich will verstehen. Selbstauskünfte zu Leben und Werk, München 1996, S. 114–132, hier S. 129.
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Ursprünge totaler Herrschaft zuvor entfaltet hatte, die Vergangenheit zu erklären und zu verhindern, dass diese sich wiederhole. Sie versuchte, Einstellungen, Vorstellungen und politisches Handeln in der Gegenwart und Zukunft dadurch zu verändern, dass sie etablierte Wahrnehmungsschemata (das Böse als Dämon) infrage stellte, neue Klassifikationsschemata der sozialen Welt (Tätertypus) entfaltete und nicht zuletzt durch ihren ironisch-sarkastischen Ton Reflexionsprozesse anzustoßen erstrebte. Es war die Rolle der Intellektuellen, die sie ausübte, ohne dass sie den Begriff für sich reklamierte.51
Die Definition des Politischen Von allem Intellektuellen hatte sie Abstand nehmen wollen, als sie 1933 Deutschland verließ, vor allem von der akademischen Welt. „Nie wieder! Ich rühre nie wieder irgendeine intellektuelle Geschichte an“, hatte sie sich, wie sie rückblickend konstatierte, damals geschworen. „Ich will mit dieser Gesellschaft nichts zu tun haben“. Ihre Enttäuschung über die Selbstgleichschaltung vieler Intellektueller zu Beginn der NS-Herrschaft – darunter enge Freunde wie Martin Heidegger und Benno von Wiese – saß tief und war noch nicht überwunden, als sie als erste Frau in der Reihe Zur Person Günter Gaus 1964 Rede und Antwort stand. Er wisse ja, was Gleichschaltung heiße, erklärte sie Gaus, geb. 1929, und fügte hinzu: „Was damals in der Welle von Gleichschaltung, die ja ziemlich freiwillig war, jedenfalls noch nicht unter dem Druck des Terrors vorging: das war als ob sich ein leerer Raum um einen bildete.“52 Entschlossen, Abstand zu nehmen vom intellektuellen Milieu, das, mit ihrer Entscheidung, Philosophie zu studieren, zunächst in Marburg (1924) und Freiburg (1925), später in Heidelberg (1926–1928) und Berlin (1929–1933) zu ihrer Heimat geworden war, wandte sie sich der praktischen Arbeit, der Sozialarbeit zu. Praktisch zu arbeiten, davon war sie überzeugt, war das, was die Zeit von ihr erforderte, und praktische Arbeit war für sie gleichbedeutend mit jüdischer Arbeit und politischer Arbeit. Hatte sie sich als Studentin und Doktorandin noch als unpolitisch definiert, war sie durch den anwachsenden Antisemitismus am Ende der Weimarer Republik politisiert und, unter dem Einfluss von Kurt Blumenfeld, aufnahmefähig für die Ideen des Zionismus geworden. Sie erkannte, wie sie später unter Rückgriff auf eine Maxime der neuen Frauenbewegung erklärte, dass das Private, ihre Zugehörigkeit zum Judentum, „rein politisch“ geworden war, und beschloss, sich erstmals politisch zu engagieren. Noch 51
52
Folgt man Pierre Bourdieu, der den Intellektuellen die Aufgabe zuschreibt, „sich in die Kämpfe um die Sicht- und Teilungskriterien der sozialen Welt, das heißt um Wahrnehmungs-, Denk- und Klassifikationsschemata, einzumischen und dafür Kräfte zu mobilisieren“, lässt sich Arendts Rolle in der Debatte um Eichmann in Jerusalem als diejenige einer Intellektuellen definieren. Vgl. Bourdieu, Pierre: Das politische Feld. Zur Kritik der politischen Vernunft, Konstanz 2011, S. 41–57, hier S. 51 sowie GilcherHoltey, Ingrid: Prolog, in: dies.; Zwischen den Fronten. Positionskämpfe europäischer Intellektueller im 20. Jahrhundert, Berlin 2006, S. 9–24. Beide Zitate nach Fernsehgespräch mit Günter Gaus, in: Arendt, Hannah: Ich will verstehen. Selbstauskünfte zu Leben und Werk, München 1996, S. 44–70, hier S. 56.
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in Deutschland verhalf sie vom NS-Regime Verfolgten, darunter auch Kommunisten, zur Flucht. In Frankreich arbeitete sie für zwei jüdische Organisationen, die Jugendliche und junge Erwachsene bei der Übersiedlung nach Palästina unterstützten. Vermittelt über ihren ersten Ehemann, Günter Stern [der unter dem Pseudonym Günter Anders schrieb], erhielt sie Zugang zum Kreis um den Hegel-Experten Alexandre Kojève, in dem auch Jean-Paul Sartre verkehrte, und traf in einem Pariser Kaffeehaus auf Bertolt Brecht. Über ihren zweiten Ehemann, Heinrich Blücher, lernte sie den Literaturkritiker und Schriftsteller Walter Benjamin sowie den Rechtsanwalt Erich Cohn-Bendit kennen, der, wie Blücher, am Ende der Weimarer Republik der Kommunistischen Partei-Opposition (KPD-O) angehört hatte. Kritisch verfolgte die kleine Gruppe der Exilierten, zu der auch der Maler Karl Heidenreich und der Mediziner und Psychologe Fritz Fränkel stießen, die ebenfalls Mitglieder des Spartakusbundes gewesen waren, die Entwicklung in Deutschland, Frankreich und der Sowjetunion. In ihrer Umgebung erschloss Arendt sich zwischen 1934 und 1941, in den „acht langen und eher glücklichen Jahren in Frankreich“, Marx und den Marxismus und damit neue Sicht- und Teilungskriterien der sozialen Welt. In einem Brief an ihren akademischen Lehrer Jaspers schrieb sie 1946, „daß ich dank meines Mannes politisch denken und historisch sehen gelernt habe und daß ich andererseits nicht davon abgelassen habe, mich historisch wie politisch von der Judenfrage her zu orientieren.“53 Parallel zu ihrem (sozial)politischen Engagement nahm Hannah Arendt im Pariser Exil schon bald ihre wissenschaftliche Arbeit wieder auf. Sie stellte die letzten zwei Kapitel ihrer durch die Flucht aus Deutschland abgebrochenen Habilitationsschrift Rahel Varnhagen. Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik 54 fertig und begann mit der Recherche zu einem Buch, das 1955, als es auf Deutsch erschien, den Titel Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft tragen sollte, zunächst aber firmierte unter Die drei Säulen der Hölle. Gezeigt werden sollten darin die destruktiven Strukturen, die das 20. Jahrhundert vom 19. Jahrhundert geerbt hatte: Antisemitismus, Imperialismus, Rassismus. Als Arendt das Buch in den Jahren 1946 bis 1949 in den USA schrieb, nahm der dritte Teil eine von der ursprünglichen Konzeption abweichende Gestalt an. Er erhielt die Überschrift Totalitäre Bewegung und totale Herrschaft und rückte das System der Konzentrations- und Vernichtungslager ins Zentrum der Analyse einer Herrschaftsform, die sie „totale Herrschaft“ nannte und auf das NS-Regime und den Stalinismus bezog. Die Gleichsetzung der Regime war im Pariser Freundeskreis bereits in den 1930er Jahren diskutiert worden. Eine Tagebuchaufzeichnung Walter Benjamins gibt Zeugnis davon. In Brechts Gedichtzyklus Lesebuch für Städtebewohner „kommunizierten“, wie Benjamin eine Deutung Heinrich Blüchers festhielt, „die schlechtesten Elemente der KP mit den skrupelosesten des Nationalsozialismus.“55 Als Elemente totaler Herrschaft, die das NS-Regime 53 54 55
Hannah Arendt an Karl Jaspers, Brief vom 29. Januar 1946, in: Arendt, Hannah und Jaspers, Karl: Briefwechsel 1926–1969, München u.a. 2 2001, S. 64–69, hier S. 67. Der Text erschien in deutscher Sprache im Piper Verlag in München 1959. Benjamin, Walter: Aufzeichnungen 1933–1939, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. VI, Frankfurt a.M. 1986, S. 540.
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und den Stalinismus gleichermaßen auszeichneten, machte Hannah Arendt im dritten Teil von Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft den unterschiedslosen Gebrauch des Terrors sowie die Entwicklung totalisierender Ideologien fest. Heinrich Blücher, dem das Buch gewidmet ist, unterstützte sie von der Recherche bis zur Fertigstellung des Manuskripts. Es gab im Kreis der Exilierten andere Wissenschaftler, die sich dem neuen Phänomen „totaler Herrschaft“ zuwandten, doch stellte niemand die Vernichtungslager so entschieden ins Zentrum wie Arendt.56 Nicht 1933 war für sie das entscheidende Jahr des 20. Jahrhunderts, sondern 1943: „der Tag an dem wir von Auschwitz erfuhren“, erklärte sie im Gespräch mit Gaus und fügte hinzu: „Dies hätte nie geschehen dürfen. Und damit meine ich nicht die Zahl der Opfer. Ich meine die Fabrikation von Leichen […] Dies hätte nie geschehen dürfen.“ Der „eigentliche Schock“ sei Auschwitz gewesen. „Da ist irgend etwas passiert, womit wir alle nicht mehr fertig werden“, konstatierte sie. Indes, vom Ort der extremsten Erfahrung aus versuchte sie, einen Blick auf das ganze 20. Jahrhundert zu werfen, und bezog dabei den Blick des dissidenten Kommunisten an ihrer Seite ein, dessen Augenmerk sich vor allem auf die Lagerwelt des Stalinismus richtete. Herausgefordert, ihre eigene Zeit zu deuten, sah sie sich mit einem doppelten Bruch konfrontiert: dem Versagen des „gesunden Menschenverstandes“, dessen Regeln, aus ihrer Sicht, „platt“ geworden waren, und der „Verstiegenheit der Ideologien“. Der Geschichtschreiber in dieser Konstellation musste lernen, so ihre Folgerung, „gleichsam ohne Geländer zu denken“.57 Und er musste Wege finden, Geschichte anders zu schreiben. Die Existenz von Auschwitz in der westlichen Zivilisation zwang, so Arendt, wider die traditionellen Grundregeln historischer Erzählung zu schreiben.58 Das hieß für sie, wie Seyla Benhabib aufgezeigt hat, zunächst und vor allem „die Kette der narrativen Kontinuität aufzubrechen, die Chronologie als natürliche Struktur der Erzählung zu zerstören, das Bruchstückhafte, die historischen Sackgassen, Fehlschläge und Brüche zu betonen.“59 War doch der Bruch des 20. Jahrhunderts mit der Tradition, aus Arendts Sicht, zu groß, als dass die Vergangenheit noch als eine zusammenhängende Erzählung wiedergegeben werden konnte. Sie entschied sich daher für eine „fragmentarische Geschichtsschreibung“ (Benhabib) und ließ sich dabei, so Benhabib, von Walter Benjamin inspirieren,60 dessen philosophische Betrachtungen Über den Begriff der Geschichte 61 sie auf ihrer Flucht aus Frankreich über Spanien und Portugal in die USA gerettet hatte. Indes, nicht 56
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59 60 61
Vgl. dazu Schulin, Ernst: Hannah Arendt als Historikerin, in: ders.: Arbeit an der Geschichte. Etappen der Historisierung auf dem Weg zur Moderne, Frankfurt a.M. 1997, S. 192–211, hier S. 204. Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, Frankfurt a.M. 1962, S. 15. Vgl. dazu Schulin, Ernst: Hannah Arendt als Historikerin, in: ders.: Arbeit an der Geschichte. Etappen der Historisierung auf dem Weg zur Moderne, Frankfurt a.M. 1997, S. 192–211, hier S. 202. Benhabib, Seyla: Hannah Arendt. Die melancholische Denkerin, Frankfurt a.M. 2006, S. 149. Benhabib, Seyla: Hannah Arendt. Die melancholische Denkerin, Frankfurt a.M. 2006, S. 159. Benjamin, Walter: Über den Begriff der Geschichte, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. I,2, Frankfurt a.M. 1974, S. 691–704.
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nur auf dem Gebiet der Geschichtsschreibung, sondern auch auf dem des politischen Denkens galt es, so Arendt, Konsequenzen aus dem Traditionsbruch des 20. Jahrhunderts zu ziehen, mithin überkommene Kategorien zu hinterfragen und neue Denkwege zu entdecken.62 Sie begann, zwischen Politik und dem Politischen zu unterscheiden, soll heißen: einen „politischen Bereich“ von dem der Herrschaft und des strategischen Handelns zu trennen. Systematisch verknüpfte sie historische Zeitdiagnose und politische Theorie. Was macht „das Politische“ bei Hannah Arendt aus? In Vita activa (1960) definierte sie „politisches Handeln“ als „Denken aus dem Sprechen“, als „das Finden des rechten Wortes im rechten Augenblick“, das „bereits Handeln ist“. Politisch in ihrem Sinne handelt demnach nicht derjenige, der sich durch Zwang oder Gewalt durchsetzt, sondern derjenige, der die anderen überzeugen kann.63 Das Politische von seiner Gleichsetzung mit dem Staat und seinen Institutionen lösend, knüpfte Arendt es an einen öffentlichen Raum, als dessen Grundlagen sie Freiheit und Pluralität definierte. „Öffentlicher Raum“ als Ort „öffentlicher Freiheit“ ist für sie dabei nicht notwendiger Weise ein zentraler öffentlicher Platz. Vielmehr kann das Politische auch an peripheren Orten entstehen, an denen Dissidenten sich versammeln, mithin in „alternativer“ oder „subalterner Öffentlichkeit“ (Nancy Fraser). In der Deliberation im öffentlichen Raum geht es, folgt man Arendt, weder um Erkenntnis, noch um Wahrheit, sondern „um das urteilende Begutachten und Bereden der gemeinsamen Welt und der Entscheidungen darüber, wie sie weiterhin aussehen und auf welche Weise in ihr gehandelt werden soll“.64 „Politik entsteht“, so folgerte sie daraus, „in dem Zwischen-den-Menschen“.65 Den Blick auf Dialoge und Austauschprozesse in öffentlichen Räumen lenkend, akzentuierte Arendt mit ihrer Definition des Politischen zentrale Elemente, um den Aporien totaler Herrschaft zu entkommen. Ermöglichten Sprechen und Handeln in öffentlichen Räumen doch, so ihre These, die Selbstorganisation der Gesellschaft in den Nischen autoritärer und totalitärer Staaten. Geht man davon aus, dass eine Vielzahl öffentlicher Räume „das Sinequanon einer unabhängigen und starken Zivilgesellschaft als Bestandteil demokratischer Kultur“ ausmacht, nahm Arendt, so das Fazit Seyla Benhabibs, mit ihren Reflexionen über das Politische und den öffentlichen Raum zentrale Elemente des Übergangs von autoritären und totalitären Gesellschaften zur Demokratie in Osteuropa am Ende des 20. Jahrhunderts vorweg. Aber nicht nur das. Kritisch verfolgte Hannah Arendt nach der Niederlage von Nationalsozialismus und Stalinismus die Entwicklung der westlichen Demokratien, in denen sie die Kontemplation des Allgemeinen in öffentlichen Räumen ebenso schwinden sah wie das Verantwortungsbewusstsein des Einzelnen für die Entwicklung der Welt. In Vita activa (1960) skizzierte sie den Rückzug des Animal laborans aus den öffentlichen Angelegenheiten als Charakteristikum der „Gesellschaft von Job62 63 64 65
Zit. nach Benhabib, Seyla: Hannah Arendt. Die melancholische Denkerin, Frankfurt a.M. 2006, S. 154. Arendt, Hannah: Vita activa oder Vom tätigen Leben, Stuttgart 1960, S. 29–30. Arendt, Hannah: Kultur und Politik (1958), in: dies.: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I, München 1994, S. 277–304, hier S. 300. Arendt, Hannah: Was ist Politik? Fragmente aus dem Nachlaß, München 1993, S. 11.
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holders“, in welcher der Einzelne, durch die Arbeitsgesellschaft zum „reibungslosen“ Funktionieren gebracht, sich lediglich noch um die Erhaltung des Eigenlebens sowie der Familie sorgt.66 Als in der Mitte der 1960er Jahre in den USA und Westeuropa der Mobilisierungsprozess einer Neuen Linken begann, die öffentliche Räume – Hörsäle, Universitätsgebäude, Theater, Straßen und Plätze – besetzte und partizipatorische Demokratie, Selbstverwaltung, Mitbestimmung forderte, verfolgte Arendt diese Bewegungen mit großer Aufmerksamkeit. Durch die Protestbewegungen, die weltweit 1968 kulminierten, kam, so Arendt, „für unsere Zeit neue Erfahrung ins Spiel der Politik“. Sie brachte diese Erfahrung auf den Begriff „public happiness“, „das Glück des Öffentlichen“, und erläuterte ihn mit den Worten, „daß sich dem Menschen, wenn er öffentlich handelt, eine bestimmte Dimension menschlicher Existenz erschließt, die ihm sonst verschlossen bleibt und die irgendwie zum vollgültigen ,Glück‘ gehört.“67 An Karl Jaspers schrieb sie im Juni 1968: „Über das Politische wäre viel zu sagen. Mir scheint, die Kinder des 21. Jahrhunderts werden das Jahr 1968 so lernen wie wir das Jahr 1848. Ich bin auch persönlich interessiert. Der ,rote Dany‘ Cohn-Bendit ist der Sohn sehr naher Freunde von uns, die beide gestorben sind, aus der Pariser Zeit.“ 68 An Daniel Cohn-Bendit sandte sie die Worte: „daß ich ganz sicher bin, daß Deine Eltern, und vor allen Dingen Dein Vater, sehr zufrieden mit Dir sein würde, wenn sie noch lebten“.69 Arendts Interesse an den Protestbewegungen resultierte nicht zuletzt aus der Überschneidung ihres Begriffs des Politischen mit den Praktiken der Demonstranten, die einen öffentlichen Raum eroberten und in einem kommunikativen Prozess zu einem Ort selbstbestimmten Handelns zu machen versuchten. Acting in concert, wie Edmund Burke es genannt hatte, gemeinsam zu sprechen, zu reflektieren und zu handeln, um neu zu beginnen, machte das Politische bei Hannah Arendt aus70 und charakterisierte zugleich ihren Machtbegriff. Macht bedeutete für sie nicht, „in einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen“.71 Unter Macht verstand sie vielmehr, wie sie in ihrer – in Reaktion auf die 68er Bewegung verfassten – Schrift Macht und Gewalt (1970) darlegte, „die menschliche Fähigkeit, sich mit anderen zusammenzuschließen und im Einvernehmen zu handeln.“72 Ihr Begriff des Politischen und ihr Machtbegriff waren assoziativ, auf Partizipation des Einzelnen in der Gruppe an den res publica, den öffentlichen Angelegenheiten, ausgerichtet. Um Partizipation zu ermöglichen, galt es, so ihre 66 67 68 69 70 71 72
Arendt, Hannah: Vita activa oder Vom tätigen Leben, Stuttgart 1960, S. 312 ff. Reif, Adalbert: Interview mit Hannah Arendt, in: dies.: Macht und Gewalt, München 1970, S. 107–133, hier S. 109. Hannah Arendt an Karl Jaspers, Brief vom 26. Juni 1968, in: Arendt, Hannah und Jaspers, Karl: Briefwechsel 1926–1969, München u.a. 2 2001, S. 715–716. Hannah Arendt an Daniel Cohn-Bendit, Brief vom 27. Juni 1968, hier zit. nach YoungBruehl, Elisabeth: Hanna Arendt. Leben. Werk und Zeit, Frankfurt a.M. 1991, S. 562. Arendt, Hannah: Freiheit und Politik (1958), in: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I, München 1994, S. 201–226, hier S. 224. Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, Tübingen 5 1976, S. 28. Arendt, Hannah: Macht und Gewalt, München 19 2009, S. 45.
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Ingrid Gilcher-Holtey
in Über die Revolution (1963) begründete Prämisse,73 direkte Formen der Demokratie, basis- oder rätedemokratische Foren, auf lokaler Ebene zu etablieren als Gegenmacht gegen die professionellen politischen Eliten und als Garant republikanischer Prinzipien in der modernen Gesellschaft, in der Arendt die Bereitschaft der Einzelnen zur politischen Verantwortung schwinden sah. In ihre Vision einer partizipatorischen Demokratie fügen sich Plebiszite auf kommunaler Ebene ebenso ein wie die landesweit ausgestrahlten Schlichtungsgespräche zu „Stuttgart 21“.
Weiterführende Literatur Young-Bruehl, Elisabeth: Hannah Arendt. Leben, Werk und Zeit, Frankfurt a.M. 1991. Neumann Bernd: Hannah Arendt und Heinrich Blücher. Ein deutsch-jüdisches Gespräch, Berlin 1998. Ettinger, Elzbieta: Hannah Arendt, Martin Heidegger: eine Geschichte, München 1993. Benhabib, Seyla: Hannah Arendt. Die melancholische Denkerin, Frankfurt a.M. 2006. Brunkhorst, Hauke, Hannah Arendt, München 1999. Canovan, Margaret: Hannah Arendt. A Reinterpretation of Her Political Thought, Cambridge 1992. Grunenberg, Antonia: Arendt, Freiburg 2003. Kristeva, Julia: Das weibliche Genie Hannah Arendt, Hamburg 2008.
Hinweise zu den Quellen Der Nachlass Hannah Arendts befindet sich in Kopien im Hannah Arendt Archiv des Hannah Arendt-Zentrums an der Universität Oldenburg.
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Arendt, Hannah: Über die Revolution, München 1963.
Heinrich Potthoff
Ein Leben für Freiheit und soziale Demokratie – Susanne Miller (1915–2008) Susanne Miller gehört nicht zu den politischen und gesellschaftlichen Persönlichkeiten, die einer breiten Öffentlichkeit wirklich bekannt sind. Herausragende politische Ämter hat sie nicht bekleidet und auch nicht mit spektakulären Taten Aufsehen erregt. Sie drängte sich nicht ins Rampenlicht, weder als Person noch durch ihr Tun. Ihr Wirken vollzog sich eher im Stillen, häufig abseits der großen politischen Bühne. Doch auch Menschen wie sie, die stetig und engagiert für Freiheit und Demokratie einstanden, prägen unsere politische Kultur und unsere demokratische Identität. Sie leisten einen wichtigen Betrag zu einer aufgeklärten zivilen Gesellschaft und verdienen Anerkennung und ehrendes Gedenken. In der Sozialdemokratie war Susanne Miller jedenfalls eine feste Größe und fast so etwas wie eine Institution. Doch auch außerhalb der Partei genoss sie bei historisch Interessierten und im Bereich der politischen Bildung Anerkennung und Respekt. Unter Fachkollegen wurde sie als Historikerin der politischen Arbeiterbewegung und besonders der deutschen Sozialdemokratie bekannt. Ihr Erstlingswerk „Das Problem der Freiheit im Sozialismus“1 zur Programmatik im 19. Jahrhundert und die beiden großen Monographien über die SPD im 1. Weltkrieg und zu Beginn der Weimarer Republik2 setzten Wegmarken. Weit über das Fachpublikum hinaus reichte die Wirkung der in vielen Auflagen erschienenen und stetig fortgeschriebenen „Kleinen Geschichte der SPD“, die auch in anderen Sprachen publiziert wurde.3 Doch die größte Wertschätzung erwarb sich Susanne Miller durch ihre Ausstrahlung, ihre Persönlichkeit und ihren nimmermüden Einsatz für andere Menschen, für historische Bildung und für eine humane, bessere Gesellschaft. „Sozialdemokratie als Lebenssinn“, lautete treffend der Titel eines Sammelbandes ihrer „Aufsätze zur Geschichte und Gegenwart der SPD“, der zu ihrem 80. Geburtstag erschien.4 Sie selbst hat einmal über die SPD gesagt, diese sei für sie wie eine Familie. Der Weg zur Sozialdemokratie war ihr jedoch nicht in die 1
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Als Dissertation lautete der Titel „Freiheit, Staat und Revolution in der frühen Programmatik der deutschen Sozialdemokratie 1863 bis 1890“, Bonn 1963; im Buchhandel unter dem Titel „Das Problem der Freiheit im Sozialismus. Freiheit, Staat und Revolution in der Programmatik der Sozialdemokratie von Lassalle bis zum Revisionismusstreit“, Frankfurt a.M. 1964. Burgfrieden und Klassenkampf. Die deutsche Sozialdemokratie im Ersten Weltkrieg, Düsseldorf 1974; Die Bürde der Macht. Die deutsche Sozialdemokratie 1918–20, Düsseldorf 1978. Miller, Susanne und Potthoff, Heinrich: Kleine Geschichte der SPD. Darstellung und Dokumentation, Bonn 1991; die 8. aktualisierte und erweiterte Auflage erschien 2002 mit dem Titel: Kleine Geschichte der SPD 1848–2002;die jüngste, noch weiter fortgeschriebene Fassung ist in englischer Sprache publiziert: The Social Democratic Party of Germany 1848–2005, Bonn 2006. Miller, Susanne: Sozialdemokratie als Lebenssinn. Aufsätze zur Geschichte und Gegenwart der SPD. Zum 80. Geburtstag hg. von Bernd Faulenbach, Bonn 1995.
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Heinrich Potthoff
Wiege gelegt. Ihr persönlicher, politischer und beruflicher Lebensweg verlief keineswegs geradlinig. Diese ganz ungewöhnliche Lebensgeschichte wurde gezeichnet und geprägt von Brüchen und Neuanfängen. Dennoch war es ein Leben von großer innerer Konsequenz und Konsistenz.
Hinwendung zur Linken Susanne Miller wurde am 14. Mai 1915 in Sofia geboren. Sie war die Tochter des wohlhabenden jüdischen Bankiers Ernst Strasser, der überwiegend in Sofia und Wien tätig war, und seiner Ehefrau Margarete, geb. Radosi.5 Nach deren frühen Tod bekam Susanne bald eine Stiefmutter, die ihr eher gleichgültig war. Das Leben in dieser wohlhabenden bürgerlichen Familie, die im Kern sehr „konservativ gesinnt war“6, wurde geprägt durch großbürgerliche Konventionen und Riten. Kennzeichnend für diesen gehobenen Lebensstil waren Dienstboten, Gouvernanten und Hausmeister. Zu ihnen hielt man kühle Distanz, was die junge Susanne, die sich zu ihnen hingezogen fühlte, als abstoßend empfand.7 Die Abwendung von der gehobenen Bürgerlichkeit und die Hinwendung zu den einfachen Menschen und zur Linken setzten bei ihr schon in der Kinder- und Jugendzeit in Sofia und Wien ein. Dabei spielte der Protest gegen die bourgeoise Welt ebenso mit wie das konkrete Miterleben sozialer Nöte und Armut, besonders im Wien der 1920er und frühen 1930er Jahre. Häufig hat sie davon erzählt, wie tief sie der Anblick hungernder Menschen berührte, die bei Suppenküchen um Essen anstanden. Aus dem damals üblichen Rahmen fiel, dass Susanne Strasser von der Volksschule bis zum Abitur dauerhaft eine koedukative Ausbildung und Erziehung erfuhr, zunächst in Wien und dann ab 1928 im deutschen Reform-Realgymnasium in Sofia, an dem sie 1932 ihr Abitur ablegte. Diese Erfahrung des gemeinsamen Lernens von Mädchen und Jungen empfand sie als positiv und prägend. Zeit ihres Lebens verstand sie Männer und Frauen als gleichberechtigte Partner. Sie fühlte sich nie diskriminiert, sondern als vollwertig akzeptiert. Das erklärt auch, warum sie zu der feministischen Bewegung, die sich seit den 1970er Jahren artikulierte und formierte, keinen Zugang fand. Schon während ihrer Schulzeit kam sie in Sofia über ihren Philosophielehrer Zeko Torboff, einen Anhänger des ISK unter Leonard Nelson8 , und ihre ältere Cousine Edith Wagner in Kontakt zu sozialistischen Ideen. Es war für sie die Entdeckung eines „erstrebten neuen Lebensgefühls“ und der „Anfang einer stil5 6
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Die Mutter starb 1919 an der Spanischen Grippe. Der Vater heiratete bald danach eine Cousine Irene Freund. Autobiographische Erinnerungen – politisches Engagement – Wissenschaftlerin. Ein Gespräch mit Wolfgang Luthardt, wieder abgedruckt in: Miller, Susanne: Sozialdemokratie als Lebenssinn. Aufsätze zur Geschichte und Gegenwart der SPD. Zum 80. Geburtstag hg. von Bernd Faulenbach, Bonn 1995, S. 364–372, Zitat, S. 364. Siehe Miller, Susanne: „So würde ich noch einmal leben“. Erinnerungen. Aufgezeichnet und eingeleitet von Antje Dertinger, Bonn 2005, S. 22. Der Internationale Sozialistische Kampfbund unter dem Neu-Kantinaner Leonard Nelson vertrat einen ethisch begründeten Sozialismus und verkörperte einen ausgesprochen elitären sektenähnlichen Kreis.
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len Rebellion“ gegen die elterliche Lebenswelt.9 Ihre Abiturreise Ende 1932 nach Berlin nutzte sie zum Aufenthalt bei der Berliner Gruppe des ISK. Obwohl sie die strenge Gemeinschaftsordnung doch etwas befremdete, zweifelte sie dennoch nicht an der Richtigkeit des idealistischen Strebens und Tuns dieser überzeugten sozialistischen Neuerer. Dieser rigorose ethische Sozialismus, der verlangte, sein ganzes Leben und Handeln dem Dienst einer moralischen Idee von einer gerechten Gesellschaft zu widmen, fiel bei ihr auf fruchtbaren Boden. Er durchzog ihr ganzes Leben, auch als sie später über den engen Horizont des ISK hinauswuchs. An der Wiener Universität nahm sie ein Studium der Geschichte, Anglistik und Philosophie auf. Bis auf wenige Ausnahmen empfand sie das universitäre Angebot und Klima als enttäuschend. Obwohl ihre jüdische Herkunft für sie bisher keine Rolle spielte, registrierte sie doch wachsam, wie sich an der Universität der Antisemitismus breit machte. Dazu kam eine wachsende Schar von nationalsozialistischen Studenten aus dem Reich, die mit ihren weißen Socken als Erkennungssymbol und ihrem dominanten Auftreten die Universitätsszene beherrschten. Kurzzeitig schloss sich die junge Studentin dem Sozialistischen Studentenbund an, dem sie jedoch enttäuscht bald wieder den Rücken kehrte. Das politische prägende Ereignis dieser Wiener Jahre war der Februar-Aufstand der österreichischen Arbeiter gegen das Dollfuß-Regime im Jahre 1934, der von der Regierung blutig niedergeschlagen wurde.10 Es gab viele Tote, Todesurteile wurden verhängt und ein Konzentrationslager eingerichtet. Susanne, die die Kämpfe gebannt am Radio verfolgt hatte, engagierte sich nun mit großem Elan bei der Unterstützungsaktion für die Opfer dieses Aufstandes und ihre Familien. Das harsche Vorgehen der Dollfuß-Regierung und das nachfolgende Verbot der österreichischen Sozialdemokratie und der Gewerkschaften gaben einen Vorgeschmack auf die autoritäre Herrschaft. Diese Jugenderfahrungen in Wien haben bei Susanne Miller erkennbar nachgewirkt und sie für diktatorische Gefährdungen sensibilisiert. Sie schlugen sich auch darin nieder, dass bei ihr später ein besonderes historisches Interesse an der österreichischen Entwicklung im Vergleich zur deutschen Arbeiterbewegung sichtbar wurde.
In Großbritannien Der Weg in die Emigration verlief bei Susanne Strasser nicht geradlinig, sondern in verschiedenen Etappen. Zunächst ging sie jeweils im Sommer 1933 und 1934 nach London, um ihre englischen Sprachkenntnisse zu verbessern. Sie arbeitete, charakteristisch für ihr soziales Engagement, dort als Au-pair bei Fürsorgeeinrichtungen in Slums. Zwar führte sie anfänglich noch ihr Studium in Wien weiter, doch ab 1934/35 hielt sie sich zumeist in London auf. Sie suchte und fand 9 10
Miller, Susanne: „So würde ich noch einmal leben“. Erinnerungen. Aufgezeichnet und eingeleitet von Antje Dertinger, Bonn 2005, S. 36. Siehe dazu u.a. Miller, Susanne: Politische Führung und Spontaneität in der österreichischen Sozialdemokratie, wieder abgedruckt in: dies.: Sozialdemokratie als Lebenssinn. Aufsätze zur Geschichte und Gegenwart der SPD. Zum 80. Geburtstag hg. von Bernd Faulenbach, Bonn 1995, S. 159–169, hier S. 166–168.
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dort enge Kontakte zu deutschen Emigranten, insbesondere aus dem ISK. Der ISK glich einer ordensartigen, durchgängig politisierten Gemeinschaft mit sozialistischen Zielsetzungen. Er verpflichtete seine Mitglieder, die sich als eine Elite begriffen, zu einer strikt reglementierten Lebensweise, zu der u.a. Alkoholverbot, vegetarische Ernährung, Kirchenaustritt sowie eine rigorose „Parteisteuer“ und ein weitgehender Verzicht auf ein Privatleben gehörten. Susanne fügte sich trotz gelegentlicher Zweifel in dieses umfassende starre Zwangskorsett. Nach der Errichtung der Hitler-Diktatur war es für den ISK selbstverständlich, gegen dieses Unrechtsregime anzukämpfen. Während die in Deutschland verbliebenen ISK-Mitglieder fast durchgängig in den Widerstand gingen, versuchten die Emigranten, diese illegale Arbeit vom Ausland aus zu unterstützen. Zur Finanzierung dieser Tätigkeit betrieben ISK-Mitglieder seit 1934 ein vegetarisches Restaurant in London, in dem Susanne nun jahrelang als Kellnerin und Mädchen für alles arbeitete. Ihre politische Aufgabe sahen die ISK-Anhänger im Exil vor allem darin, über den Nationalsozialismus und den wahren Charakter dieses Regimes aufzuklären. Die Resonanz war eher dürftig und die Appeasement-Politik Neville Chamberlains für sie bitter und deprimierend. Mit Winston Churchill als neuem Premier und dem Kriegseintritt Großbritanniens kam eine Wende. Nun wurden die politischen Emigranten gezielt in die propagandistische Arbeit der Alliierten einbezogen, vor allem bei der BBC. Die junge Susanne sammelte in diesen Jahren ihre ersten sehr prägenden Erfahrungen als Vortragende und Referentin. Es waren vor allem Frauen aus der Genossenschaftsbewegung und dem Umfeld der Labour-Party, vor denen sie sprach. Sie versuchte sich einfach, verständlich und klar auszudrücken, so dass die Menschen das Gesagte auch verstanden. Auf diese ihr eigene Gabe war sie zu Recht stolz. In ihrem gesamten politischen und wissenschaftlichen Leben blieb sie diesem Stil treu, der verbunden mit ihrer Glaubwürdigkeit einen großen Anteil an ihrer Wirkung auf Zuhörer und Leser ausmachte. Doch war auch sie beeindruckt von britischen „Hausfrauen“. Ihre Bereitschaft zu politischen Veranstaltungen zu gehen und sich aktiv einzubringen, statt nach deutscher Art die „perfekte“ Hausfrau zu geben, empfand sie „als wahre Tugend“.11 Durch ihre Pro-forma-Heirat mit dem Labour-Politiker Horace Milton Sydney Miller am 25. September 193912 erhielt Susanne ein gesichertes Aufenthaltsrecht und die britische Staatsbürgerschaft sowie ihren Namen Miller, unter dem sie später bekannt wurde. Nach dem Krieg wurde diese Scheinehe am 15. Juli 1946 wieder geschieden.13 Die Jahre des Exils haben Susanne Miller stark geprägt. Zunächst bestimmte die Furcht vor dem scheinbar unaufhaltsamen Vordringen NS-Deutschlands und einer Invasion das Leben. Dazu kam der Luftkrieg mit seinen Ängsten und Schrecken. Mit der sich abzeichnenden Wende im Krieg gewan11 12 13
Miller, Susanne: „So würde ich noch einmal leben“. Erinnerungen. Aufgezeichnet und eingeleitet von Antje Dertinger, Bonn 2005, S. 84. Heiratsurkunde, in: Archiv der sozialen Demokratie, Nachlass Susanne Miller, Ordner ohne Beschriftung. Scheidungsurkunde des High Court of Justice in the County of Middlesex vom 15. 7. 1946, in: Archiv der sozialen Demokratie, Nachlass Susanne Miller, Ordner ohne Beschriftung
Susanne Miller
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nen dann Überlegungen an Relevanz, wie sich die Emigranten bei einem künftigen demokratischen Neuaufbau in Deutschland einbringen könnten. Im Jahr 1944 gab Susanne Miller schließlich ihre Tätigkeit im Restaurant auf und konzentrierte sich nun hauptsächlich auf die politische Arbeit, überwiegend als Mitarbeiterin von Willi Eichler, dem Exilleiter des ISK. Über die „Union deutscher sozialistischer Organisationen in Großbritannien“14 kam sie nun häufiger mit anderen Sozialdemokraten in Kontakt. Damit weitete sich ihr politischer Horizont. Eine gewichtige Rolle spielten auch die Erfahrungen mit einer reformorientierten, nicht vorwiegend ideologisch fixierten Arbeiterpartei (Labour Party) und einer funktionierenden parlamentarischen Demokratie. Sie wuchs damit aus der engen, rigorosen Welt des ISK heraus und lernte den Wert einer politischen Streitkultur wie die Regeln eines parlamentarischen Systems schätzen. Zeit ihres Lebens sprach sie mit großer Hochachtung und Respekt von den Briten, die sie mit ihrer Art des menschlichen Umgang und des politischen Stil beeindruckten. Für sie verkörperte sich darin so etwas wie ein wahres „civilized country“, was bei ihr nachhaltige Spuren hinterließ.
Demokratischer Neuaufbau nach dem Krieg Wie für viele andere politische Emigrantin – wenn auch nicht für alle – war es ihr ein dringendes Anliegen, nach dem Sturz der NS-Herrschaft bei einem friedlichfreiheitlichen demokratischen Wiederaufbau mitzuwirken. Nach Wien zurück zu gehen kam für sie aus persönlichen Gründen nicht in Betracht. Den Ausschlag gab die enge Bindung zu ihrem Mentor und Lebensgefährten Willi Eichler. In Köln hatte die dortige Sozialdemokratie beschlossen, die ehrwürdige „Rheinische Zeitung“ wieder aufleben zu lassen und Eichler zum Chefredakteur zu berufen. Im Frühjahr 1946 folgte sie ihm, versehen mit ihrem britischem Pass, nach. Gerne und oft hat sie davon erzählt, welches Erstaunen es auf dem Meldeamt hervorrief, dass jemand freiwillig aus England ins total zerstörte Köln kam. Wie die meisten anderen früheren ISK-Mitglieder schloss auch sie sich nun der SPD an. In der Kölner Sozialdemokratie fühlte sie sich schnell zu Hause und war dankbar für die Hilfen im Alltag und die praktizierte Solidarität. Sie stürzte sich in die politische Arbeit und machte in der Partei bald Karriere. Sie wurde zunächst in den Kölner Unterbezirksvorstand und anschließend auch in den Bezirksvorstand gewählt. In der Sache engagierte sie sich vorrangig in der Frauenarbeit. Sie hielt zahlreiche Vorträge – zumeist vor einfachen Menschen, organisierte Frauenkonferenzen auf regionaler und bald auch auf internationaler Ebene, wurde Vorsitzende der SPD-Frauen im Bezirk Mittelrhein und kam über dieses Amt auch in den zentralen Frauenausschuss der Partei. So lernte sie die damals besonders prominenten Frauenpolitikerinnen der SPD, wie etwa Elisabeth Selbert, Luise Albertz und Louise Schröder kennen. Einige von ihnen hat sie später porträtiert und dane14
Zu ihr hatten sich die verschiedenen sozialitischen deutschen Exilorganisationen unter Einschluss des ISK, aber unter Abgrenzung zu den Kommunisten, zusammen geschlossen.
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ben auch die Behandlung der Frauenfrage in der Sozialdemokratie des 19. und 20. Jahrhunderts thematisiert.15 Für die spätere starke feministische Bewegung in der SPD, die allzu sehr an den Verdiensten der früheren Frauenbewegung vorbeischaute, hatte sie dagegen wenig Sympathie und Verständnis und wahrte zu ihr erkennbar Distanz. Nach der Wahl von Willi Eichler zum besoldeten Parteivorstandsmitglied der SPD (1952) kam auf Susanne Miller eine neue Aufgabe zu. Eichler war zuständig für Kultur und Bildungsarbeit im Parteivorstand und sie arbeitete von nun an als seine Sekretärin. Daneben betätigte sie sich jedoch weiter in der Frauenarbeit und zusehends auch in einer neu gegründeten Sozialistischen Bildungsgemeinschaft. Zusammen mit den Initiatoren Professor Gerhard Weisser von der Universität Köln und dem Ehepaar Marianne und Heinz Kühn, dem späteren Ministerpräsidenten, prägte sie deren Arbeit und Profil. Die Bildungsgemeinschaft zielte darauf ab, über die engen Grenzen der SPD hinaus zu wirken und neue Horizonte zu erschließen. So fanden etwa Veranstaltungen mit bekannten Dominikanerpatern statt oder auch mit Wolfgang Leonhard, dem Autor des bekannten Buches „Die Revolution entlässt ihre Kinder“. Es war ein früher Versuch, die Kluft zwischen der Sozialdemokratie und den Kirchen zu überbrücken, der allerdings erst nach Godesberg und mit der zusehenden Säkularisierung der Gesellschaft wirklich trug. Als die SPD auf ihrem Berliner Parteitag von 1954 Willi Eichler zum Vorsitzenden einer Programmkommission berief, stand sie ihm erneut zur Seite. Sie wurde Sekretärin der Programmkommission. Aus dieser Zeit stammte ihre Wertschätzung für den damaligen Parteivorsitzenden Erich Ollenhauer und ihre Aversion gegen Herbert Wehner, die häufig bei ihr durchschlag, sei es mit Worten und Wertungen oder durch Nichterwähnung. Den langjährigen Diskussionsund Beratungsprozess, an dessen Ende schließlich das Godesberger Programm von 1959 stand, begleitete sie als Organisatorin und „selbstständige“ Protokollantin. Sie schrieb die verschiedenen Entwürfe, arbeitete an ihnen mit und nahm wohl auch Einfluss auf einige Formulierungen.16 Später hat sie mit großer Verve als Zeitzeugin und Historikerin ihre Sicht der Entstehungsgeschichte des Programms und der beteiligten Akteure dargelegt. Wichtig war ihr vor allem der Verzicht auf Dogmen und verbindliche Theorien und das Bekenntnis zu einem demokratischen Sozialismus als „dauernder Aufgabe – Freiheit und Gerechtigkeit zu erkämpfen, sie zu bewahren und sich in ihnen zu bewähren“. „Godesberg“ mit seinem unzweideutigen Bekenntnis zu individueller Freiheit, Menschen- und 15
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So etwa: Frauenfrage und Sexismus in der deutschen Sozialdemokratie, in: Horn, Hannelore (Hg.): Sozialismus in Theorie und Praxis. Festschrift für Richard Löwenthal, Berlin und New York 1978, S. 542–571; Frauenrecht ist Menschenrecht, in: Brandt, Willy (Hg.): Frauen heute. Jahrhundertthema Gleichberechtigung, Frankfurt a.M. 1978, S. 52– 72; Die sozialdemokratischen Parlamentarierinnen der ersten Generation, in: Huber, Antje (Hg.): Verdienst die Nachtigall Lob, wenn sie singt: Die Sozialdemokratinnen, Stuttgart und Herford 1984, S. 41–79. Vgl. dazu auch das vom Parteivorstand für sie ausgestellte Arbeitszeugnis vom 14. 12. 1960, in: Archiv der sozialen Demokratie, Nachlass Susanne Miller, Ordner ohne Beschriftung.
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Bürgerrechten, Menschenwürde und sozialer Gerechtigkeit war und blieb für sie gleichsam die Krönung sozialdemokratischer Programmatik und Identität.
Die Historikerin Das sozialdemokratische Geschichtsbewusstsein dieser Zeit war, so empfand es jedenfalls Susanne Miller, merkwürdig schwach ausgeprägt. Im Frühjahr 1960 schied sie beim Parteivorstand aus und nahm, inzwischen Mitte vierzig, ihr Geschichtsstudium wieder auf. Bei dem renommierten Bonner Politikwissenschaftler und Zeithistoriker Karl-Dietrich Bracher wurde sie in kürzester Zeit über die frühe Programmgeschichteder SPD promoviert.17 Ihre exzellente Studie mit dem Titel „Das Problem der Freiheit im Sozialismus“ kam zu dem Ergebnis, dass der klassenbezogene Freiheitsbegriff der frühen Sozialdemokratie das eigentliche Freiheitsproblem verfehlt hatte. In dem kollektivistischen Ansatz erkannte sie, sensibilisiert durch die eigene Lebenserfahrung, die Gefahr eines potentiell totalitären Politikverständnisses. Zugleich wies sie aber darauf hin und hat dies auch später immer wieder betont, dass die Sozialdemokratie in der Praxis stets für demokratische Rechte und Freiheiten eingetreten sei und dass sie dabei zu wenig Mitstreiter in Staat und Gesellschaft gefunden habe. Bei der angesehenen Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien wirkte sie seit 1964 als äußerst produktive Historikerin, die bis zu ihrem Ausscheiden im Jahr 1978 Ansporn und Vorbild für andere war. Zunächst erarbeitete sie zwei Editionen zur Kriegs- und Revolutionszeit 1914– 1919 und, zusammen mit Gerhard A. Ritter, einen Dokumentenband zur deutschen Revolution 1918/19.18 In ihren beiden nachfolgenden großen Monographien „Burgfrieden und Klassenkampf“ (1974) und „Die Bürde der Macht“ (1978) entwarf sie ein differenziertes Bild der Sozialdemokratie im 1. Weltkrieg und in den Anfangsjahren der Republik. Sie versuchte, den verschiedenen Positionen und Strömungen mit Umsicht und nüchterner Abwägung gerecht zu werden, sparte jedoch auch Kritik nicht aus. Ihr negatives Votum über eine Parteidisziplin als Selbstzweck implizierte zugleich ein Plädoyer für eine offene demokratische Kultur in der Gegenwart. Die Entwicklungen in dieser schwierigen, strittigen Umbruchzeit haben Susanne Miller in vielen weiteren Studien beschäftigt. Ihre Sicht auf die Politikgeschichte der SPD in dieser Phase wie auf die in späteren Zeiten war keineswegs unkritisch, doch stets fair und bemüht, der Partei im Kontext der jeweiligen Epoche Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Sie war bei all ihrer Verbundenheit 17
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Das Problem der Freiheit im Sozialismus. Freiheit, Staat und Revolution in der Programmatik der Sozialdemokratie von Lassalle bis zum Revisionismusstreit, Frankfurt a.M. 1964. Das Kriegstagebuch des Reichstagsabgeordneten Eduard David 1914–1918, Düsseldorf 1966; Die Regierung der Volksbeauftragten 1918/19. Eingeleitet von Erich Matthias, bearbeitet von Susanne Miller unter Mitwirkung von Heinrich Potthoff, 2 Teile, Düsseldorf 1969; Die deutsche Revolution 1918/19. Dokumente, hg. von Gerhard A. Ritter und Susanne Miller, Frankfurt a.M. 1968.
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mit der SPD eben keine „Parteihistorikerin“, weder in ihren populär angelegten Schriften noch in ihren rein wissenschaftlichen Werken. In einer Fülle von Aufsätzen behandelte sie wichtige Problemfelder im Längsschnitt, so etwa zur Programmgeschichte, zur Frauenfrage, zum Verhältnis von Sozialdemokratie und Liberalismus, zu Widerstand und Exil und zur Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus. Es ging dabei vor allem um die Abklärung historischer Vorgänge und um politische Geschichte gerade auch im Blick auf die Gegenwart. An Theorien und Strukturen war sie weniger interessiert. Im Vordergrund standen für sie nüchterne Fakten, Politik und handelnde Personen. Ihre Studien und Analysen konzentrierten sich vor allem auf die Auslotung geschichtlicher Prozesse und die Frage, in wieweit die Akteure ihre Spielräume genutzt haben. In ihrem Gesamtwerk fällt die Fülle biographischer Skizzen besonders auf. Ihr Augenmerk galt vorrangig den „Menschen in ihrem Denken und Handeln“, ihren „Leistungen“ und ihrem „Versagen“, den „Menschen als politischmoralische Persönlichkeiten“.19 Viele ihrer Artikel und Aufsätze richteten sich weniger an die Historikerzunft, mehr an ein breiteres historisch-politisches Publikum. Das galt ebenso für die mit dem Autor zusammen verfasste „Kleine Geschichte der SPD“, die weite Verbreitung fand, zahlreiche Auflagen erlebte und auch in mehreren anderen Sprachen erschien. Ihre Darstellung der Entwicklung der SPD nach 1945 profitierte davon, dass Susanne Miller die Nachkriegspartei und ihre Politiker nicht nur aus Akten, sondern aus eigenem Erleben kannte. Ein unprätentiöser, fast nüchterner Stil, eine klare, verständliche Sprache und die gute Lesbarkeit trugen dazu bei, dass Susanne Millers Arbeiten und Aussagen zum Teil erhebliche Resonanz fanden. In Anerkennung ihrer wissenschaftlichen Leistungen und Verdienste auf dem Gebiet der Geschichte verlieh das Land Nordrhein-Westfalen ihr 1985 den Professoren-Titel.
Historisch-politische Bildungsarbeit Schon in der Emigration und in der Nachkriegszeit kümmerte sie sich intensiv um die Vermittlung von historisch-politischem Wissen und Bildung. Sie unterstützte u.a. Willi Eichler bei der Herausgabe der Zeitschrift „Geist und Tat“ und führte nach dessen Tod den Arbeitskreis früherer ISK-Mitglieder mit ihren jährlichen Pfingsttagungen weiter. Das mangelhafte Geschichtsbewusstsein auch in der alten Traditionspartei SPD war für sie ein wichtiger Grund, ihr Studium wieder aufzunehmen und als Historikerin zu arbeiten. Damit stand sie, die bisher stets an der Seite Willi Eichlers wirkte und ihn 1965 heiratete, nun beruflich auf eigenen
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Faulenbach, Bernd: Sozialdemokratie als Lebensinn. Zu Biographie und Geschichtsschreibung Susanne Millers, in: Miller, Susanne: Sozialdemokratie als Lebenssinn. Aufsätze zur Geschichte und Gegenwart der SPD. Zum 80. Geburtstag hg. von Bernd Faulenbach, Bonn 1995, S. 21.
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Beinen.20 Die Arbeits- und Lebensgemeinschaft mit Eichler, die in ihrem Leben eine Schlüsselrolle spielte, ging weiter, nur ihre Tätigkeitsfelder änderten sich. Bis zu seinem Tode am 17. Oktober 1971 waren sie nicht ohne einander zu denken. Seit den 1960er und verstärkt seit den 1970er Jahren hat sich Susanne Miller auf verschiedenen Feldern für die Weckung und Stärkung des Geschichtsbewusstseins in und außerhalb der Sozialdemokratie eingesetzt. Neben vielen eigenen Aufsätzen und Vorträgen gab sie in Kooperation mit anderen Autoren Sammelwerke zur Förderung von Geschichtskenntnissen und historischem Denken heraus. Im Jahr 1984 veröffentlichte sie zusammen mit Thomas Meyer und Joachim Rohlfes ein Lern- und Arbeitsbuch zur deutschen Arbeiterbewegung.21 Die gleiche Intention verfolgte auch das Lexikon des Sozialismus, dass sie 1986 zusammen mit Karl-Heinz Klär, Thomas Meyer, Klaus Novy und Heinz Timmermann herausbrachte.22 In den 1970er und 1980er Jahren wirkte sie engagiert im Beirat der Bundeszentrale für politische Bildung mit. Besonders wichtig waren ihr die Arbeit des Institutes für internationale Schulbuchforschung in Braunschweig, die Kontakte mit dem Institut für deutsche Geschichte in Tel Aviv und der Universität Haifa sowie die sogenannte Linzer Konferenz der Historiker der Arbeiterbewegung, die sie für ihre langjährigen Verdienste 1992 zur Ehrenpräsidentin ernannte. Später hat sie aktiv und mit vielerlei Hilfen auch den Aufbau und Ausbau des Jüdischen Historischen Instituts in Warschau gefördert. Diese grenzüberschreitenden und Grenzen überwindendenden Kontakte und Kooperationen lagen ihr besonders am Herzen. Weit über die kollegiale Zusammenarbeit in einem Geist der Fairness und des Bemühens um wechselseitiges Verständnis hinaus erwuchsen daraus oft persönliche Freundschaften wie etwa mit Felix Tych in Warschau. Für ihn verkörperte sie die wahre deutsche Sozialdemokratie. Über viele Jahrzehnte engagierte sie sich in der Arbeit der Friedrich-EbertStiftung. Das geschah auf ganz unterschiedlichen Feldern: als Vortragende und Referentin, Leiterin von Seminaren, bei der Anbahnung und der Pflege internationaler Kontakte sowie als Vertrauensdozentin für die Stipendiaten der FES und als Mitglied des Auswahlausschusses. Sie nahm ihre Aufgabe, Beurteilungsgespräche mit den Bewerbern um die Stipendien zu führen und Gutachten über sie anzufertigen, überaus ernst. Dankbar erinnern sich viele Stipendiaten an diese Begegnungen. Sie waren beindruckt von ihrer Persönlichkeit, ihrer warmherzigen Anteilnahme und von der Schlichtheit der bescheidenen Wohnung im Saarweg 6 in Bonn, in der sie ihre Gäste empfing. Auch sie selbst empfand diese Gespräche,
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Durch ihre Heirat mit Willi Eichler am 26. 10. 1965 erwarb sie 1967 nach einigen bürokratischen Verzögerungen, die sie ärgerten, die deutsche Staatsbürgerschaft.Unterlagen in: Archiv der sozialen Demokratie, Nachlass Susanne Miller, Ordner ohne Bezeichnung. Meyer, Thomas, Miller, Susanne und Rohlfes, Joachim (Hg.): Lern- und Arbeitsbuch deutsche Arbeiterbewegung. Darstellung, Chroniken, Dokumente, 3 Bd., Bonn 1984, 2. Aufl. in 4 Bd. 1988. Meyer, Thomas, Klär, Karl-Heinz, Miller, Susanne, Novy, Klaus und Timmermann, Heinz (Hg.): Lexikon des Sozialismus, Köln 1986.
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insonderheit mit ausländischen Studenten aus abgelegenen Weltengegenden als Gewinn.23 Als der Parteivorstand der SPD auf Anregung des damaligen Bundesgeschäftsführers Peter Glotz eine Historische Kommission berief, war dies auch ihrem stillen Wirken zu verdanken. Das Vorhaben hatte den Segen des Parteivorsitzenden Willy Brandt. Susanne Miller wurde zur Vorsitzenden dieses Gremiums bestellt. Sie war die Richtige für diese Aufgabe. Sie war in der Partei verwurzelt und kannte den Apparat, hatte als Historikerin bedeutende Beiträge zur Sozialdemokratie geschrieben, setzte sich schon seit langem für mehr Geschichtsverständnis in der Partei ein, lebte in Bonn und verfügte mir ihren Erfahrungen und ihrer liebenswürdigen wie beharrlichen Art über die Gabe zu integrieren und zu motivieren. Das ihr anvertraute Amt hat sie von 1981 bis 1989 mit Umsicht, Geduld und großem Engagement ausgefüllt. Sie prägte den kollegialen Stil der Beratungen wie den pragmatisch-zielorientierten Kurs der Arbeit und verstand es, Brücken zwischen Wissenschaft und Partei zu bauen. Die Kommission erhielt rasch ihr eigenes unverwechselbares Profil und dies trug maßgeblich dazu bei, deren hohes Ansehen zu begründen. Bis zu ihrem Tode hielt Susanne Miller der Kommission als Mitglied die Treue. Vor allem durch ihre großen, bewusst pluralistisch angelegten Foren hat die Kommission öffentliche Aufmerksamkeit erregt, so etwa 1985 über „Geschichte in der demokratischen Gesellschaft“ und 1988 zum 125jährigen Parteijubiläum der SPD. Ein denkwürdiges Ereignis war die historische Veranstaltung mit DDRHistorikern zum Thema „Erben deutscher Geschichte“ (1987).24 Dazu gab die Kommission stark beachtete und geschätzte Materialien zur historisch-politischen Bildungsarbeit, häufig aus Anlass von Gedenktagen, sowie methodische Handreichungen zur Geschichtsarbeit „vor Ort“ heraus.25 Die Förderung von historischen Kenntnissen und Denken mit dem Ziel der kritischen Aneignung von Tradition war ein besonderes Anliegen der Vorsitzenden und ihrer Mitstreiter. So formulierte Susanne Miller 1985, „Aufgabe der Kommission sei es, das Geschichtsbewusstsein der sozialdemokratischen Mitglieder zu wecken und zu pflegen, und zwar nicht nur im Hinblick auf die Parteigeschichte, Gedächtnislücken zu schließen und der Partei Anregungen für die 23 24
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Miller, Susanne: „So würde ich noch einmal leben“. Erinnerungen. Aufgezeichnet und eingeleitet von Antje Dertinger, Bonn 2005, S. 160–169, bes. S. 165 f. Miller, Susanne (Hg.): Geschichte in der demokratischen Gesellschaft, Düsseldorf 1985; Miller, Susanne und Ristau, Malte (Hg.): Gesellschaftlicher Wandel – Soziale Demokratie – 125 Jahre SPD. Historische Erfahrungen, Gegenwartsfragen – Zukunftskonzepte. Forum der Historischen Kommission, Köln 1988; Miller, Susanne und Ristau, Malte (Hg.): Erben deutscher Geschichte. DDR-BRD: Protokoll einer Historischen Begegnung, Hamburg 1988. 1933 – Fünfzig Jahre danach. Vorgelegt von der Historischen Kommission beim Parteivorstand der SPD, Bonn 1982; Die Sozialdemokratie und der 20. Juli 1944. Vorgelegt von der Historischen Kommission beim Parteivorstand der SPD, Bonn 1984; Ein Denktag. 8. Mai 1985, Bonn 1985; Die Pogrom-Nacht vom 9./10. November 1938. Vorgelegt von der Historischen Kommission beim Parteivorstand der SPD, Bonn 1988; Historische Spurensuche in der politischen Praxis für Ortsvereine und Arbeitsgemeinschaften. Vorgelegt im Auftrag der Historischen Kommission beim SPD-Parteivorstand, Bonn 1987.
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Behandlung von Geschichte zu geben.“26 Eine Welle stärker erwachten historischen Interesses in der Gesellschaft und die produktive Arbeit der Kommission bedingten dabei einander. Im Jahr 1986 konstatierte die Vorsitzende mit Befriedigung, „dass der Mangel an geschichtlicher Kenntnis und an geschichtlichem Bewusstsein innerhalb der SPD einigermaßen überwunden worden“ sei.27 Ob dies jedoch generell und dauerhaft zutrifft, erscheint fraglich. Gewiss hatte die jüngere Geschichte in der Sozialdemokratie der damaligen Zeit einen beachtlichen Stellenwert. Er gründete sich zum einen auf die vielen Initiativen von unten, die sich um die Aufarbeitung der lokalen Parteihistorie und der NS-Vergangenheit vor Ort kümmerten. Zum anderen lag es aber auch daran, dass mit Willy Brandt und Hans-Jochen Vogel zwei Politiker an der Spitze der Partei standen, die sich engagiert für die Befassung mit der Vergangenheit als Teil der Identität der Partei und der Demokratie einsetzten. In den späteren Jahren ist das Bewusstsein für die Bedeutung von Geschichte jedoch wieder merklich verblasst und ihr Stellenwert auch in der Sozialdemokratie ganz erheblich gesunken.
Grundwertekommission und Kooperation mit dem Osten Neben der Historischen Kommission hat sich Susanne Miller mit großer Hingabe an der Arbeit der Grundwertekommission der Partei beteiligt. Sie sah darin in gewisser Weise eine Art Fortsetzung ihrer früheren Befassung mit der Entstehung des Godesberger Programms, die sie mit großer Befriedigung erfüllte. Ihr fiel oft die Aufgabe zu, die historischen Passagen zu den thematischen Broschüren der Grundwertekommission zu verfassen. Weit größeres Aufsehen erregten freilich die Gespräche und Kontakte der Grundwertekommission mit der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim Zentralkomitee der SED, die zu einem intensiven kritischen Diskurs führten. Susanne Miller spielte dabei neben Erhard Eppler, dem Vorsitzenden der Grundwertekommission, und Thomas Meyer, dem Programmtheoretiker, einen äußerst aktiven Part, vor allem wenn es um relevante historische Geschehnisse und Streitfragen ging. Diese Kooperation mit einer Institution der kommunistischen Staatspartei der DDR war nicht unumstritten, auch nicht in der SPD. Erst recht galt dies für das im August 1987 vorgestellte gemeinsame Dokument „Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit“, das im Vorfeld des Honecker-Besuches in Bonn besonders in der DDR Aufsehen erregte. Susanne Miller begrüßte und förderte diese Kontakte mit den DDR-„Sozialisten“ vor allem mit Blick auf eine davon erhoffte Auflockerung des SED-Systems. Sie hatte keine Berührungsängste, denn sie sah sich selbst als überzeugte und kon26
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Miller, Susanne: Zum Selbstverständnis der Historischen Kommission der SPD, in: dies. (Hg.): Geschichte in der demokratischen Gesellschaft, Düsseldorf 1985, S. 11–15, hier S. 13. Autobiographische Erinnerungen, in: Miller, Susanne: Sozialdemokratie als Lebenssinn. Aufsätze zur Geschichte und Gegenwart der SPD. Zum 80. Geburtstag hg. von Bernd Faulenbach, Bonn 1995, S. 372.
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sequente Antikommunistin. Sie hat dies häufig mit Nachdruck betont. So hieß es etwa in ihren Erinnerungen: „Was ich den Kommunisten am meisten verübele und unter keinen Umständen irgendwie abmildern kann, ist, dass sie den Gedanken des Kommunismus diskreditiert haben, dass sie es waren, die die Arbeiterbewegung in ein schiefes Licht gebracht, Millionen überzeugter Sozialisten gequält, in ihrer Existenz vernichtet und ermordet haben.“28 Trotz dieses eindeutigen Verdikts verdammte sie die sozialistisch-kommunistische Version allerdings nicht in toto. So fiel in ihren Aussagen auf, dass sie den verbrecherischen totalitären Weg der kommunistischen Regime jedenfalls nicht auf eine Stufe mit dem NS-System gestellt sehen wollte. Ein Spur von Verständnis für ein fehlgeleitetes sozialistisches Experiment schimmerte gelegentlich durch, sodass eine enge Weggefährtin wie Annemarie Renger, die einen rigideren Antikommunismus vertrat, doch leise Zweifel an Susanne Millers sozialdemokratischer Standhaftigkeit hegte und auch andere ihre gelegentliche Nachsicht vorsichtig monierten. Diese lag wohl auch darin begründet, dass sie von einem sozialistischen Idealismus geprägt war und sie durch ihre Ostkontakte viele Wissenschaftler und Funktionsträger aus den „realsozialistischen“ Ländern kannte und sie als Partner sah. Das prägte auch ihre Einschätzung der Kooperation der Grundwertekommission mit der Akademie des Zentralkomitees der SED und den dabei beteiligten Akteuren aus dem Osten. Sie stand zu dem SPD-SED-Papier gerade mit Blick auf seine Wirkung in der DDR. So konstatierte sie noch 2005, „den Versuch, den Menschen in Ostdeutschland auf dieser Basis eine Brücke gebaut zu haben“, halte sie „bis heute für gerechtfertigt“. Nur von dem Passus, dass beide Seiten ihre „Existenzberechtigung“ hätten und beide „Systeme reformfähig“ seien, hat sie sich im Nachhinein distanziert.29 Wie stark auf DDR-Seite dieser „Dialog“ von Erich Honecker über seinen Adlatus Otto Reinhold als Chef dieser SED-Gruppe gesteuert wurde, hat sie wohl unterschätzt. Erst die negativen Erfahrungen aus den weiteren Gesprächen lehrten sie, dass der Versuch „zu einer Verständigung mit den DDR-Kollegen zu gelangen“, zum Scheitern verurteilt und eine Fortsetzung des „Dialogs“ zwecklos war. Auch als Vorsitzende der Historischen Kommission, bei den Linzer Konferenzen und in ihrer Tätigkeit für die FES besaßen die Kontakte zu Kollegen und Kooperationspartnern aus den kommunistischen Ländern für Susanne Miller einen hohen Stellenwert. Sie setzte auf die Kraft und Wirkung des kritischen Dialogs auch mit der Welt der Diktaturen. Es war der durchaus ambitionierte Versuch, auf – wenn auch bescheidene – Weise zu einer Zivilisierung und Auflockerung dieser Systeme beizutragen. Im Kern ging es dabei um eine Art zweite Ostpolitik auf gesellschaftlicher Ebene im Gefolge und Geist von Helsinki. Die Implosion des Sowjetimperiums kam auch für sie wie für die allermeisten im Westen überraschend. Zu den friedlichen Revolutionären in der DDR, deren Mut sie würdigte und schätzte, fand sie jedoch keinen direkten Zugang und diese 28 29
Miller, Susanne: „So würde ich noch einmal leben“. Erinnerungen. Aufgezeichnet und eingeleitet von Antje Dertinger, Bonn 2005, S. 178 f. Miller, Susanne: „So würde ich noch einmal leben“. Erinnerungen. Aufgezeichnet und eingeleitet von Antje Dertinger, Bonn 2005, S. 179 f.
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auch nicht zu ihr. Aber durch die „Kleine Geschichte der SPD“ war und wurde sie für viele Sozialdemokraten aus der DDR zu einem Begriff. Die Bürde, die durch die Diskreditierung des „Sozialismus“ durch die kommunistischen Diktaturen auch mit auf der SPD lastete und ihre politischen Chancen schmälerte, war ihr vollauf bewusst. Unter diesen Vorzeichen sprach manches dafür, die tradierte Zielorientierung der Sozialdemokratie treffender unter dem Terminus „soziale Demokratie“ zu fassen. Doch Susanne Miller mochte den vertrauten Begriff des „demokratischen Sozialismus“ ungern preisgeben. Denn auch in einer sich wandelnden Welt blieb für sie die Grundanliegen des „demokratischen Sozialismus“, Menschenwürde, Bürgerrechte, soziale Gerechtigkeit, Frieden und Völkerverständigung, aktuell.30
Neue Aufgaben und Herausforderungen Das Jahr 1989 bedeutete auch für Susanne Miller persönlich einen Einschnitt. Sie gab den Vorsitz der Historischen Kommission auf, nahm aber pflichtbewusst weiter an deren Sitzungen und Debatten teil. Von 1982 bis 1990 übte sie den Vorsitz in der Philosophisch-Politischen Akademie aus, mit der frühere ISK-Mitglieder und Sympathisanten versuchten, den Zusammenhalt und ihre Traditionen zu bewahren. Dazu blieb sie auf vielen anderen Feldern politisch-gesellschaftlich aktiv, als Mitglied einer Reihe von Gremien (so etwa bei der Deutsch-Israelischen Gesellschaft), als Autorin, Rednerin und verstärkt nun auch als Augenzeugin. Die vielen ehrenamtlichen Tätigkeiten, die sie ausübte, waren nie bloß repräsentativer Art, sondern stets zeit- und arbeitsintensive Aufgaben. Sie füllte sie pflichtbewusst, standhaft, engagiert und mit großem Respekt für die Menschen aus, mit denen sie zusammen arbeitete. Sie beherrschte die Kunst, abgehobene Gedankengebäude mit einfachen praktischen Argumenten zu hinterfragen und das Geschehen wieder auf den Boden der Tatsachen zu bringen. Trotz ihrer fortschreitenden Erblindung führte sie bis ins hohe Alter ein selbstbestimmtes Leben und schaltete sich engagiert in historisch-politische Debatten ein. Der Widerstand und das Exil in der NS-Zeit waren für Susanne Miller stets persönlich bewegende Themen. Das Bild von Sophie Scholl über ihrem Schreibtisch gehörte dazu. Die Bedeutung von Freiheit und Selbstbestimmung wie von Unfreiheit und Diktatur hatte sie ganz elementar und nachhaltig prägend erfahren. Der Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft zu gedenken und die Erinnerung an den Widerstand zu wahren und zu pflegen, war für sie eine selbstverständliche Pflicht. Dass Kurt Schumacher kaum darüber sprach und darauf verzichtete, diese Gegner des NS-Regime irgendwie auszuzeichnen, empfand sie als widersprüchlich und schwer verständlich.31 Sie selbst hat sich jedoch auch erst seit den 1980er Jahren in einer Reihe von Aufsätzen und Vorträgen mit Aspekten 30
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Siehe Miller, Susanne: Sozialismus – Deutungen und Missdeutungen, in: Gorholt, Martin und Ristau, Malte (Hg.): Demokratischer Sozialismus. Beiträge zur Verständigung, Marburg 1991, S. 12–23. Siehe dazu u.a. Miller, Susanne: Die Behandlung des Widerstands gegen den Nationalsozialismus in der SPD nach 1945, in: Büttner, Ursula (Hg.): Das Unrechtsregime. Inter-
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des sozialdemokratischen Widerstands und Exils während der NS-Zeit befasst. In ihre Beiträge und Analysen flossen dabei stark die eigenen Erlebnisse und Erfahrungen ein. Auch in der Arbeitsgemeinschaft verfolgter Sozialdemokraten, die mit großem Einsatz von Heinz Putzrath geleitet und geprägt wurde, spielte Susanne Miller als Ratgeberin und Expertin eine wichtige Rolle. Vor allem beschäftigte sie die Frage, warum die Leiden der Verfolgten und Kämpfer gegen das NS-Regime so lange zu wenig Beachtung fanden – auch in der SPD. Auf ihre Anregung widmete sich eine Tagung ausschließlich diesem Thema. Die überlebenden sozialdemokratischen NS-Verfolgten waren sich weitgehend einig, dass sie selbst ihre grauenvollen Erfahrungen hatten möglichst vergessen und verdrängen wollten. Doch, so fügten einige hinzu, es wollte auch niemand davon hören. Dies änderte sich später gravierend. Nun waren die ehemals Verfolgten, wie der von Susanne Miller hoch geschätzte Ludwig Gehm, als Zeitzeugen besonders bei jungen Menschen gefragt. Durch den plötzlichen Tod von Heinz Putzrath, dem Motor der AvS, im Jahr 1996 kam auf Susanne Miller eine neue Aufgabe zu. In der AvS war man sich einig, dass die Arbeit fortgeführt werden müsste, und mit besonderer Verve wurde dies von Hans-Jochen Vogel, dem Vorsitzenden von „Gegen Vergessen – für Demokratie“ unterstützt. Ebenso einhellig votierten alle dafür, dass Susanne Miller den Vorsitz übernehmen müsse. In der Folge kam in die AvS sogar neuer Schwung: sie öffnete sich nun auch für Verfolgte der kommunistischen Diktatur, suchte verstärkt den Kontakt mit den Gedenkstätten und ihren Mitarbeitern, veranstaltete öffentliche Foren32 und engagierte sich für die Entschädigung der Zwangsarbeiter. Mit ihrem neu gestalteten „Info“33 erzielte sie wachsende Resonanz. Doch durch Alter und Tod, wachsende Finanznöte und ein Desinteresse in Teilen der Parteiführung der SPD kam die Tätigkeit der AvS schließlich zum Erliegen, obwohl Susanne Miller noch lange an ihr festhielt. Es entsprach ihrem ausgeprägten Pflichtbewusstsein, dennoch nicht aufzugeben und zu resignieren, so lange noch Verfolgte der NS-Zeit lebten. Bis ins hohe Alter von über 90 Jahren sprach sie noch auf Veranstaltungen und beindruckte die Zuhörer mit ihrer Schnörkellosigkeit, ihren profunden Kenntnissen, ihrem lebenserfahrenem „Common sense“ und ihren fundierten Urteilen.
Glaubwürdigkeit und Persönlichkeit Susanne Miller bestätigte sich auf vielen Feldern als Autorin und Dozentin, als historisch-politische Pädagogin und in einer Fülle von Gremien in und außerhalb der Sozialdemokratie. Es gab nicht das eine herausragende Gebiet und auch nicht
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nationale Forschung über den Nationalsozialismus, Bd. 2; Verfolgung – Exil – belasteter Neubeginn, Hamburg 1986, S. 407–420. So im Jahr 1997 zum Thema „Der 9. November in der Geschichte der Deutschen“, hg. von der AvS, Bonn 1998. Der genaue Titel lautete: AvS-Informationsdienst. Arbeitsgemeinschaft ehemals verfolgter Sozialdemokraten – AvS.
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die eine politisch-gesellschaftliche Funktion, die sie zu einer öffentlichen Größe machten. Dennoch genoss sie hohes Ansehen und Bewunderung weit über „ihre“ SPD hinaus. Schon ihr ungewöhnlicher Lebensweg, in dem sich die wechselvolle jüngere Geschichte spiegelte, erheischte Respekt und beindruckte vor allem jüngere Menschen. Es war ein Leben mit vielen äußeren Brüchen und doch von einer bemerkenswerten inneren Geradlinigkeit und Konsequenz. Sie strahlte eine Glaubwürdigkeit aus, die überzeugte und sich so wohltuend abhob von den glatten Typen, die das politische Geschäft dominierten. Mit ihrem ganzen Wirken, durch ihre Persönlichkeit und ihren eigenen Stil verkörperte sie eine Spielart demokratischen Engagements und Handelns, die aus dem üblichen Rahmen fiel und gerade deshalb Zeichen setzte. Die große Wertschätzung, die ganz unterschiedliche Menschen aus verschiedenen Kreisen für sie hegten, gründete in ihrem beeindruckenden Leben und Wesen, ihren fachlichen Leistungen, ihrem profundem Wissen, ihrer praktischen Vernunft, der Gabe zu kommunizieren und ihrem Einsatz für eine lebendige Demokratie und eine Verständigung über innere und äußere Grenzen hinweg. Susanne Miller war ein Markenzeichen, in der Sozialdemokratie, bei Kollegen und in der historisch-politischen Bildung. Doch für ihre Freunde und Bekannten war sie zumeist einfach Susi. Dies sagt viel über ihren Charakter und ihre Persönlichkeit aus. Sie pflegte treue Freundschaften, strahlte menschliche Wärme aus und liebte den Kontakt mit anderen, gerade auch mit jungen Menschen. In der bescheiden-schlichten Wohnung in Bonn wurde nicht nur über Politik und Geschichte debattiert, anstehende Projekte erörtert und zielorientiert gearbeitet. Es war auch ein Ort herzlicher Gastlichkeit. Menschen suchten dort ihren Rat und ihre Hilfe, fanden ein offenes Ohr, erfuhren Solidarität und verständnisvolle, mitfühlende Anteilnahme. Vielen Menschen und Weggefährten war Susanne Miller eine gute Freundin. Ihre lebensbejahende Persönlichkeit wie ihre Herzlichkeit und ihr Großmut beeindruckten tief. Sie verbanden sich mit einem ausgeprägten Gespür für Gerechtigkeit und Fairness. Sie war geradlinig und kritisch, pflichtbewusst, unabhängig, lebensklug, großzügig und bescheiden. Aber sie war auch nicht frei von Eitelkeit. Sie wusste, wer sie war und kannte ihren Ruf. Sie konnte, wenn nötig, durchaus bestimmt sein und verstand es, für ihre Anliegen, Ziele und Zwecke mit Hartnäckigkeit und taktischem Geschick einzutreten. Ihr ganzes Leben und Wirken war geprägt von einer tiefen Verbundenheit mit der Sozialdemokratie, die für sie wie eine Heimat war, und dem unermüdlichen Einsatz für eine aufgeklärte demokratische Kultur, Freiheit und soziale Gerechtigkeit. Sie rebellierte früh gegen die bourgeoise Welt, kümmerte sich in ihrer Wiener Jugend um die Opfer eines autoritären Regimes, arbeitete und kämpfte im Exil gegen die NS-Diktatur, baute im zerstörten Nachkriegsdeutschland demokratische Strukturen mit auf, engagierte sich für Frauen und politische Bildung und wurde in „ihrer“ Sozialdemokratie zu einer Institution. Sie stand für die Verpflichtung zu Menschenwürde und individuellen Freiheiten, für eine Verantwortung aus der Geschichte und für den kritischen Diskurs in einer pluralistischen Gesellschaft. Über die verschiedenen politischen Systeme, die sie erlebte, hinweg verfolgte sie unbeirrt ihren Weg zu einer humanen Welt. Leider konnte sie
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sich nicht dazu durchringen, obwohl sie dazu gedrängt wurde, ihre Lebenserinnerungen zu schreiben. Die im hohen Alter von Antje Dertinger aufgezeichneten sehr subjektiven Erzählungen sind kein Ersatz, sondern wie Susanne Miller selbst betonte „Episoden, keine Memoiren.“34 Susanne Miller, so einfach und bescheiden sie auftrat, war eine geachtete und verehrte Persönlichkeit des öffentlichen Lebens. Sie kokettierte gern damit, man solle nicht so viel Aufsehens um sie machen. Aber dennoch hat sie die Feiern und Veranstaltungen, die zu ihren Ehren stattfanden, dankbar und freudig genossen. Bei ihrem 70. Geburtstag würdigte Willy Brandt, den sie achtete und der sie schätzte, sie u.a. mit dem Satz: „Glaubwürdiges Engagement in der Sache und echte persönliche Anteilnahme, sorgfältige Recherche und behutsam abwägendes Urteil, die klare Sprache – das ist es, womit sie Einfluss und Eindruck gerade auf junge Leute ausübt“.35 Das blieb so bis ins hohe Alter und es sagt treffend, was sie so besonders auszeichnete. Ihr Weg in die Sozialdemokratie und ihr Einsatz für eine menschenwürdige Welt waren ihr nicht in die Wiege gelegt. Sie entschied sich freiwillig und bewusst für ein Leben als „ethische Sozialistin“ und aufrechte Demokratin, nahm Nöte und Entbehrungen in Kauf und half mit, nach 1945 ein neues demokratisches Deutschland zu gestalten. Sie lebte vor wofür sie einstand, eine von Werten geprägte Kultur des nimmermüden Einsatzes für eine freiheitlich-soziale aufgeklärte Demokratie und Gesellschaft wie für die Menschen, die sie tragen und prägen. Eine lebendige Demokratie braucht neben funktionsfähigen Institutionen und qualifizierten Politiker gerade auch Menschen wie Susanne Miller, die abseits der großen Bühne durch ihre Werke, ihr Tun und ihr Vorbild für sie wirken und einen eigenständigen, wertvollen Beitrag für sie leisten. Susanne Miller wollte bis an ihr Lebensende ein eigenständiges, selbstbestimmtes Leben führen. Trotz ihrer Erblindung ist ihr dies lange gut gelungen. Sie blieb Herrin ihrer Entscheidungen und der Art ihres Lebens. Gewiss brauchte sie dazu einige Unterstützung, und sie dankte es auf ihre Weise. In den letzten, von Krankheit und zunehmender Schwäche geprägten Monaten war sie, die so gerne anderen half, zunehmend auf Hilfe angewiesen. Susanne Miller war es schließlich vergönnt, am 1. Juli 2008 sanft und in Würde zu Hause in ihrer Wohnung zu entschlafen.
Weiterführende Literatur Miller, Susanne: So würde ich noch einmal leben. Erinnerungen. Aufgezeichnet und eingeleitet von Antje Dertinger, Bonn 2005. Miller, Susanne: Sozialdemokratie als Lebenssinn. Aufsätze zur Geschichte und Gegenwart der SPD. Zum 80. Geburtstag herausgegeben von Bernd Faulenbach, Bonn 1995. 34
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Dertinger, Antje: Vorbemerkung zu einer Lebensgeschichte für die Arbeiterbewegung, in: Miller, Susanne: „So würde ich noch einmal leben“. Erinnerungen. Aufgezeichnet und eingeleitet von Antje Dertinger, Bonn 2005, S. 8. Rede von Willy Brandt anlässlich ihres 70. Geburtstags, in: Miller, Susanne: Sozialdemokratie als Lebenssinn. Aufsätze zur Geschichte und Gegenwart der SPD. Zum 80. Geburtstag hg. von Bernd Faulenbach, Bonn 1995, S. 373–375, Zitat. S. 375.
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Susanne Miller. Personalbibliographie zum 75. Geburtstag. Zusammengestellt von Hermann Rösch-Sondermann und Rüdiger Zimmermann, Bonn 1990. Gratulationen. Susanne Miller zum 80. Geburtstag. Hg. von der Friedrich-Ebert-Stiftung. Akademie der politischen Bildung, Bonn 1995. Dowe, Dieter (Hg.), Begegnungen. Susi Miller zum 90. Geburtstag, Bonn 2006.
Hinweise zu den Quellen Der Nachlass von Susanne Miller befindet sich im Archiv der sozialen Demokratie in Bonn. Er ist noch nicht erschlossen. Die Ordner, die schon zu ihren Lebzeiten an das Archiv abgegeben wurden, tragen die ursprünglichen Beschriftungen, die Unterlagen, die nach ihrem Tode dazu kamen, sind ungekennzeichnet und ungeordnet. Materialien zu ihrem Wirken finden sich zudem in den Akten der Historischen Kommission beim Parteivorstand der SPD und der Arbeitsgemeinschaft ehemals verfolgter Sozialdemokraten, den Beständen des Parteivorstandes zur Entstehung des Godesberger Programm sowie im Nachlass Willi Eichler, alle ebenfalls im Archiv der sozialen Demokratie.
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Vom Ethos und Pathos der Freiheit – Werner Maihofer (1918–2009)
Als Werner Maihofer 1976 in einer Diskussionsrunde als „Bundessicherheitsminister“ tituliert wurde, warf er ein: „Freiheitsminister!“1 In der Tat: Der seit 1974 als Bundesinnenminister amtierende Professor des Strafrechts und der Rechtsphilosophie zählt zu den markanten Vordenkern jener Grundtendenz der westdeutschen Geschichte, für die sich die Bezeichnung „Liberalisierung als Lernprozess“ einzubürgern beginnt.2 Von der Erfahrung der nationalsozialistischen Diktatur aufgerüttelt, war er davon überzeugt, dass der Grundwert der Freiheit im demokratischen Staat allen anderen Prinzipien übergeordnet werden müsse. In dubio pro libertate lautete daher sein Leitmotiv. So dezidiert wie kaum ein anderer Politiker seiner Zeit verkörperte er jedoch eine besondere Variante des liberalen Denkens: den Sozialen Liberalismus, verstanden als Aufruf, die Verhältnisse so zu gestalten, dass jeder Einzelne eine reale Chance zum Gebrauch der Freiheit hat. Daraus folgerte er die Notwendigkeit einer aktiven, gesellschaftsgestaltenden Sozialpolitik, verbunden mit einer – wie er gern sagte – „konstitutionellen Einhegung des Kapitalismus“. Diese Grundhaltung verband Werner Maihofer mit einer weiten historischen Perspektive und einer koalitionspolitischen Pointe: Es ging ihm um ein Bündnis der geistigen Kräfte, die zu Beginn der Revolution von 1848 auf derselben Seite der Barrikade gestanden hatten. Um dieses „historische Bündnis“ zu aktualisieren, warb er für einen neuen Schulterschluss von Bürgern und Arbeitern, von Liberalismus und Sozialdemokratie. Seine große politische Stunde kam, als die FDP 1968/69 den Koordinatenraum des Parteiensystems von rechts nach links durchquerte und mit der SPD Willy Brandts die erste sozial-liberale Bundesregierung bildete. Hatte Maihofer sich bisher als Rechtsphilosoph und Strafrechtsreformer einen Namen gemacht, so trat er nun ins Rampenlicht der Parteipolitik. Rasch avancierte er zum intellektuellen Star der FDP – ähnlich dem Senkrechtstart des professoralen Quereinsteigers Ralf Dahrendorf. Doch während dieser „unstete, hochfliegende Zugvogel“3 die Bonner Szene bald wieder verließ, zeigte Maihofer mehr Ausdauer und Stehvermögen. Seit Anfang 1969 Mitglied der FDP, stieg er 1970 ins Parteipräsidium auf und wurde Vorsitzender der Programmkommission. So gewann er maßgeblichen Einfluss auf das Grundsatzprogramm, mit dem der Freiburger Parteitag 1971 die linksliberale Wende der FDP besiegelte („Freiburger Thesen“). Im Herbst 1972 in den Bundestag gewählt, trat Maihofer im Dezember 1972 als Bundesminister für besondere Aufgaben in das Kabinett Willy Brandts ein. Nach dem Kanzlerwechsel 1974 stand er vier Jahre lang an der Spitze des Bundesinnenministeriums, 1 2
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Gorschenek, Günter (Hg.): Grundwerte in Staat und Gesellschaft, München 1977, S. 108. Herbert, Ulrich: Liberalisierung als Lernprozess, in: Ders. (Hg.): Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belastung, Integration, Liberalisierung 1945–1980, Göttingen 2002, S. 7–49. Baring, Arnulf: Machtwechsel. Die Ära Brandt-Scheel, Stuttgart 1982, S. 294.
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eines Mammutressorts mit den vielfältigsten Aufgaben und Zehntausenden von Bediensteten in nachgeordneten Behörden. Dabei rückte die Herausforderung durch den Terrorismus der RAF zunehmend in den Vordergrund seiner Amtsführung. Im Juni 1978 übernahm er die politische Verantwortung für Pannen in der Fahndung nach den Entführern von Hanns Martin Schleyer und erklärte seinen Rücktritt. Zu seiner Verabschiedung im Casino des Ministeriums erschien auch Bundeskanzler Helmut Schmidt, was in den Medien als Zeichen der Wertschätzung vermerkt wurde. Die Mitarbeiter des Hauses dankten dem scheidenden Minister mit lang anhaltenden Ovationen. Und doch hatte dieser Abschied einen bitteren Beigeschmack. Der Personalratsvorsitzende deutete in seiner Dankesrede an, dass es „eine rücksichtslose Hatz durch Medien und einige Gruppen“ gegen den Minister gegeben habe.4 Tatsächlich lagen die Gründe des Rücktritts nicht primär in jenen Fahndungspannen, die dem Minister kaum anzulasten waren. Schwerer wog der Klimasturz, den ein „Lauschangriff“ auf den Atomwissenschaftler Klaus Traube im Jahr zuvor ausgelöst hatte. Da der Minister diese Abhöraktion billigte, die sich hart an der Grenze des verfassungsrechtlich Zulässigen bewegte, hagelte es seither Kritik: Er sei von seinen eigenen Idealen abgerückt und ein Wegbereiter des Überwachungsstaats geworden. Traf dieser Vorwurf wirklich zu? Oder hing der Rücktritt vielmehr mit einem Wandel der politischen Gesamtkonstellation zusammen, der die Reformära der Bonner Republik beendete und die Position des Ministers im Gefüge der Regierungskoalition unterhöhlte? Wir werden es sehen.
Eine Jugend in Diktatur und Krieg Man schrieb den 20. Oktober 1918, das Ende des Ersten Weltkriegs stand kurz bevor, als Werner Maihofer in Konstanz geboren wurde. Der Vater, bäuerlicher Herkunft, war nach einer Ratsschreiberlehre in der Stadtverwaltung tätig und arbeitete sich in den 1920er Jahren zum Finanzoberinspektor der Stadt Konstanz empor. Dem Klischee eines Finanzbeamten entsprach jedoch weder seine Sportbegeisterung (er wird als „Luis-Trenker-Typ“ geschildert), noch sein Engagement in der Freireligiösen Gemeinde. An humanitären, aber nicht christlich gebundenen Werten orientiert, lehnte der Vater die Taufe seines Sprösslings ab. Die Mutter entstammte einer Handwerkerfamilie, pflegte jedoch alles andere als einen konventionellen Lebensstil. Mehr und mehr richtete sie ihr Leben auf den Sport aus, den sie dann auch zum Beruf machte: Sie wurde Tennislehrerein und gab Eislaufunterricht. So nimmt es nicht wunder, dass Werner Maihofers Jugend betont sportlich geprägt war. Eine Weile sah es sogar so aus, als liege seine Zukunft im Hochleistungssport. Er war ein erfolgreicher Regattasegler, stach aber vor allem im Eiskunstlauf so virtuos hervor, dass er in die Vorbereitungsmannschaft für die Olympischen Spiele 1936 aufgenommen wurde. Zwei Winter lang war er dafür 4
Bericht über die Abschiedsfeier in: BGS. Zeitschrift des Bundesgrenzschutzes 5 (1978) Nr. 6, S. 4–7.
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von der Schule beurlaubt. Erst 18 Jahre alt, gelangte er dann jedoch nicht in die Endauswahl des Teams. Neben dem Sport spielte die Musik im Elternhaus eine große Rolle. Werner Maihofer erhielt Geigenunterricht und musizierte sein Leben lang in Mußestunden als Bratschist im Quartett. Mit seinem jüngeren Bruder, einem begabten Pianisten, verband ihn ein inniges Verhältnis. Umso tiefer war der Schock, als der Bruder im Dezember 1941 vor Moskau fiel. Das Abitur legte Maihofer 1937 am Oberrealgymnasium in Konstanz ab. Es folgten siebeneinhalb Jahre Arbeitsdienst, Militärdienst, Kriegsdienst. Maihofer gehörte somit zu jener Kriegsgeneration, die von der Schulbank an bis nahe ans 30. Lebensjahr die Uniform nicht mehr los wurde. Während des Krieges war er durchgängig in Nachrichtentruppen eingesetzt, zuletzt im Offiziersrang. Er lernte, wie man Hochfrequenzgeräte bedient und Kabel verlegt, wie man Funksprüche abhört und sich in Voraustrupps verhält. Im Frankreichfeldzug erhielt er – gerade 21 Jahre alt – für das Verlegen einer besonders waghalsigen Nachrichtenverbindung das Eiserne Kreuz II. Klasse. Ab Juni 1941 erlebte er den Krieg im Osten – in der Ukraine, auf der Krim, am Don, wo er im Nachrichtenzentrum der Heeresgruppe Manstein die letzten Funksprüche aus Stalingrad auffing, später in Ungarn. Nach kurzer amerikanischer Gefangenschaft kam er im Sommer 1945 in seine alemannische Heimat zurück. „Wie völlig hilflos wir geistig waren“. Als Werner Maihofer im hohen Alter Sebastian Haffners Erinnerungen las, unterstrich er diesen Satz mit dickem Stift. Darin erkannte er sein eigenes Geschick. Vom 14. bis zum 27. Lebensjahr, also in einer besonders aufnahmefähigen Lebensphase, war er der hämmernden Propaganda und dem allgegenwärtigen Sog des NS-Regimes ausgesetzt. Das Elternhaus vermittelte humanitäre Werte, doch auch den Geist eines Nationalpatriotismus und einer Staatsgläubigkeit, der den Aufbau einer Kontra-Stellung hemmte. So hatte er keine große Chance, sich den nationalsozialistischen Parolen und Heilsbotschaften zu entziehen. Im Gegenteil: Die Tilgung der Schmach von Versailles, die egalitäre Verheißung der Volksgemeinschaft, Deutschlands Mission zur Rettung Europas, der Krieg als heroische Bewährungsprobe – all diese Schlagworte drangen in sein Denken ein. Hinzu kam wohl auch ein Hang zum jugendlichen Übermut, so dass der Krieg zu Beginn fast wie eine Extremsportart erschien. Erste Risse erhielt das gläubige Vertrauen jedoch bereits in der Zeit des Arbeitsdienstes, für die ein ständiges, zuweilen sehr aufmüpfiges Hinterfragen bezeugt ist. Der Zwiespalt wuchs, als er – acht Monate lang in Bordeaux stationiert und sehr gut französisch sprechend – die faszinierende Kultur der angeblich „dekadenten Nation“ kennenlernte. In Russland verstärkten persönliche Begegnungen seine Zweifel am Propagandabild des „Untermenschen“ und weckten ein lebhaftes Interesse an den Klassikern der russischen Literatur. Vor allem aber trieb das Erschrecken über die ungeheure Brutalität des Krieges die innere Ablösung voran. Allein auf sich gestellt, ohne Rückhalt in einer oppositionellen Gruppe, verlief der Einstellungswandel nicht schnell und in gerader Linie, sondern allmählich und zwiespältig. In Momenten der Illusionsbewahrung fiel es schwer, die ganze Tragweite der Einsichten zu ermessen, die der Verstand zu erschließen begann. Doch am Ende stand der radikale Bruch: Dass das gesamte Hitler-Regime eine wahnhafte Verirrung war, mit inhumanen Prämissen und verbrecherischen Fol-
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gen, davon war Werner Maihofer nun zutiefst überzeugt. Und er war entschlossen, daraus weit reichende Konsequenzen zu ziehen. Wie viele seiner Alterskohorte hatte Werner Maihofer das Gefühl, um seine Jugend betrogen worden zu sein, einer verratenen und verkauften Generation anzugehören. Aber in der Radikalität der intellektuellen Umkehr ging er entschieden weiter als der Durchschnitt: Dass „alles neu und anders werden“ müsse, stand für ihn außer Frage.5 Ebenso, dass es beim Aufbau des Neuen auf ihn und seinesgleichen ankommen werde. Darin sah er eine gewaltige Herausforderung, die er als eine persönliche Verpflichtung, aber voller Wagemut auch als begeisternde Befreiung empfand. Umso stärker machte sich nun der Bildungshunger bemerkbar, die Wissbegier, die ihn schon in den Kriegsjahren umgetrieben hatte. Der beantragte Studienurlaub war ihm damals versagt geblieben. Daher hatte er alle möglichen Seitenwege und Gelegenheiten genutzt, um sich Kenntnisse und Fähigkeiten anzueignen. Er hatte die Dolmetscherprüfung in Französisch und Englisch abgelegt und mit Eifer gelesen, was er an klassischer Literatur in die Hände bekam. Er hatte sich von zu Hause ein Lehrbuch der Rhetorik zusenden lassen und in der Einsamkeit eines Wasserwerks praktische Übungen gemacht. Aber ein solches autodidaktisches Herumstochern genügte ihm ganz und gar nicht. Umso stärker zog es ihn nun zum systematischen Studium an die Universität. Er wählte Jura – nicht als Brotstudium, sondern als Basis für das Reflektieren und Handeln in öffentlichen Angelegenheiten. Auch biographische Brüche werden von Verbindungslinien vielfältiger Art überwölbt. Welche Vorprägungen der Jugendjahre wirkten in Werner Maihofers Leben nach 1945 weiter? Dazu kann man sich ohne intime Kenntnis nur mit Vorsicht äußern. Mit Sicherheit gehört jedoch ein ungewöhnlich hohes Maß an Selbstdisziplin und Leistungswillen zu seinen charakteristischen Eigenschaften. Diesen Habitus hatte er sich als junger Hochleistungssportler erworben. Vielleicht beeinflusste ihn darüber hinaus jene Mobilisierung des „Leistungsfanatismus“, die – folgt man einer These Hans-Ulrich Wehlers – zu den fortdauernden Wirkungen des NS-Regimes zählt.6 Besonders bemerkenswert könnte eine Linie sein, die sein Denken in Kategorien des sozialen Ausgleichs bis in die Jugendjahre zurückverfolgt. Den Eltern war zwar der Aufstieg aus sehr beengten Verhältnissen gelungen, doch hatte das Familiengedächtnis die Erfahrung bedrückender Not und gesellschaftlicher Diskriminierung intensiv gespeichert. Gerade deshalb war er wohl nicht unempfänglich für die Parole der „Volksgemeinschaft“, die jeden Standesdünkel und alle Klassendiskriminierung zu überwinden versprach. Jedenfalls wird berichtet, dass es ihm seit seiner Jugend ein Anliegen war, die Schranken der Kasten und Klassen wie überhaupt jeder ungerechten Sozialschichtung zu durchbrechen. Es könnte daher sein, dass er diese Intention zunächst auf die „Volksgemeinschaft“ projizierte. Nach dem radikalen Bruch brachte er diese Vorprägung dann in ein neues Bezugssystem und verknüpfte sie auf einer höheren Reflexionsstufe mit dem Liberalen und Demokratischen. 5 6
Werner Maihofer, in: Hilgendorf, Eric (Hg.): Die deutschsprachige Strafrechtswissenschaft in Selbstdarstellungen, Berlin 2010, S. 391–410, hier S. 392. Wehler, Hans-Ulrich: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 5: Bundesrepublik und DDR 1949–1990, München 2008, S. 435.
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Im Ganzen überwog jedoch die Diskontinuität. Werner Maihofer war nun immunisiert gegenüber jedweder ideologischen Verheißung und totalitären Versuchung. Mit ihm und seinesgleichen sollte eine so fatale Entwicklung nicht mehr möglich sein. Daher war er entschlossen, die geistige Hilflosigkeit mit aller Kraft zu überwinden: kritisches Urteilsvermögen zu gewinnen, die Dinge von allen Seiten zu betrachten und die Ordnungsfragen der Gesellschaft von Grund auf neu zu bedenken. Seinen Denkstil, der stets das Element des Fragens und Zweifelns, auch des Zögerns einschloss, prägte fortan die Maxime, „dass man eigentlich überhaupt keinen einzigen politischen Gedanken fassen darf, den man nicht auch von der anderen Seite her durchdacht hat“.7
Studium, Rechtsphilosophie, Strafrechtsreform Im Sommer 1946 schrieb sich Werner Maihofer an der Universität Freiburg zum Jurastudium ein. Ein günstiges Angebot, in die Firma Funkstrahl/Konstanz (später Telefunken) einzutreten (von Funkverbindungen verstand er ja etwas!) konnte ihn davon nicht abhalten, obwohl er sich – seit Juni 1942 verheiratet und inzwischen Vater zweier Töchter – in einer wirtschaftlich prekären Lage befand. In der Universität fiel sein wissenschaftliches Talent so deutlich auf, dass er 1948 in die soeben neugegründete Studienstiftung des deutschen Volkes aufgenommen wurde. So kam er auch einem der drei Professoren nahe, die ihm besonders viel bedeuteten: dem Romanisten Fritz Pringsheim. 1946 aus dem britischen Exil zurückgekehrt, lehrte Pringsheim seither abwechselnd in Freiburg und Oxford – er wurde Maihofers Vertrauensdozent. Bei den beiden anderen Mentoren handelt es sich um den Strafrechtler Adolf Schönke, der seine Dissertation betreute, und den Rechtsphilosophen Erik Wolf, der die Habilitation förderte. Mit seiner Dissertation (1950) griff Maihofer in die strafrechtliche Diskussion über den „Handlungsbegriff im Verbrechenssystem“ ein. Dabei entwarf er einen eigenen „sozialen Handlungsbegriff“, der unter anderem die Kategorie der „Verletzung von Sozialgütern“ einbezog. Drei Jahre später legte er die Habilitationsschrift „Recht und Sein“ vor – ein erstaunlich wagemutiges Werk. Wie der Titel andeutet, ging es um nichts Geringeres als den Versuch, Martin Heideggers Existenzphilosophie („Sein und Zeit“) erstmals für die Rechtswissenschaft fruchtbar zu machen – mit Seitenblicken auf die existentialistische Philosophie von Karl Jaspers und Jean Paul Sartre. Was ihn zu Heideggers Denken hinzog, war der „Absprung“ aus aller „vermeintlichen Geborgenheit“: das „neue Wissenwollen und damit Lernenkönnen“ beim Ergründen des „Sinns von Sein“.8 Aber der Leser erkennt rasch, dass der Habilitand dem Großmeister, vor dem damals so viele in Ehrfurcht erstarrten, auch kräftig auf die Finger klopfte. Er warf ihm vor, das „eigentliche Dasein“ so gut wie ganz auf das „Selbstsein“ zu beziehen 7
8
Kirste, Stephan und Sprenger Gerhard (Hg.): Menschliche Existenz und Würde im Rechtsstaat. Ergebnisse eines Kolloquiums für und mit Werner Maihofer aus Anlass seines 90. Geburtstages, Berlin 2010, S. 80. Maihofer, Werner: Recht und Sein. Prolegomena zu einer Rechtsontologie, Frankfurt a.M. 1954, S. 40 und 72. Daraus auch die folgenden Zitate.
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und daher den Bezirk des Rechts, wenn überhaupt, nur in einer Verfallsform des „Selbst“ wahrzunehmen: in der „Verfallenheit an das Man“. Damit bleibe Heidegger nicht nur hinter Kants Erkenntnis zurück, dass das Recht eine „Bedingung der Möglichkeit der Freiheit“ sei; er verkenne auch, dass jeder Mensch sich immer nur in der Dialektik von „Einzelperson“ und „Sozialperson“ entfalten könne. Sein und Sinn bestimme sich daher immer auch „vom Sozialstandpunkt der Andern“ her. Dem „Selbstsein“ stellte Maihofer folglich ein „gleichursprüngliches Existenzial“ zur Seite, das er „Alssein“ nannte. Darunter verstand er die Existenz des Menschen als Sozialperson im Relationsgefüge der Lebenslagen und Lebensrollen. Wie Maihofer – schwer befrachtet mit Heideggers eigenwilliger Terminologie – von diesem Ausgangspunkt den Seins-Grund des Rechts entfaltet, sei hier nicht weiter vertieft. Festzuhalten bleibt eine Denkfigur, die für Maihofers Rechtsverständnis künftig charakteristisch blieb: Das Recht dient „der Individualentfaltung des Einzelnen im Mitdasein mit Andern“, wobei die „fundamentale Antinomie unseres Menschseins“ zwar die unablässige Bemühung um Ausgleich erfordert, aber keine „reinen Lösungen“ zulässt. 1955 folgte Maihofer einem Ruf an die Universität Saarbrücken, wo er bis 1970 Strafrecht und Rechtsphilosophie lehrte. In dieser Zeit gewann er als Wissenschaftler, aber auch als „Public Intellectual“ eine weit ausstrahlende Reputation. Drei Linien seien hervorgehoben: sein Beitrag zur Naturrechtsdebatte, seine Auseinandersetzung mit dem Marxismus sowie sein Engagement in der Strafrechtsreform. Die Renaissance des Naturrechts im Jahrzehnt nach 1945 war eine Reaktion auf das Versagen von Recht und Juristen im Nationalsozialismus. Daher konnte die Rückkehr zu einem traditionell christlich geprägten Naturrechtsdenken in der Bundesrepublik zunächst kräftig an Boden gewinnen. Diese Lehre leitete das Maß und den Grund unwandelbarer, zeitlos geltender Rechte aus theologischen Normen ab. Als Hüter und Deuter dieser Normen gewannen die Kirchen eine starke gesellschaftliche Stellung. Maihofer erteilte einem solchen Naturrechtsverständnis jedoch eine scharfe Absage. Dabei ging es ihm nicht nur um die Abwehr kirchlicher oder religiöser Suprematieansprüche im weltlichen Bereich, sondern auch um die Wahl eines völlig anderen Ausgangspunkts. In seiner existenzphilosophisch imprägnierten Sprache definierte Maihofer das „Naturrecht“ als „Existenzrecht des Selbstseins im Alssein“9 . Gemeint ist das individuelle Recht auf Selbst-Entfaltung unter Bedingungen, die auch die Entfaltung als „Sozialperson“ ermöglichen. An diesem Bedeutungskern hielt Maihofer immer fest, auch als er ihn später in die Terminologie der allgemeinen Menschenrechte übersetzte und – mit Bezug auf Artikel 1 des Grundgesetzes – den Begriff der „Menschenwürde“ in den Mittelpunkt rückte. So trugen seine Reden und Schriften zu jener grundlegenden Wende im Staatsverständnis bei, mit der die deutsche Tradition der Staatsverherrlichung überwunden wurde: Der Staat galt nun nicht mehr als eine Art höheres Wesen außerhalb oder oberhalb der Gesellschaft, sondern wurde in den Dienst der Grundrechte und der Wahrung der Menschenwürde gestellt. 9
Maihofer, Werner: Vom Sinn menschlicher Ordnung, Frankfurt a.M. 1956, S. 71.
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Erkennbar wird ein strikt anthropozentrisches Weltbild (worin sich wohl auch eine Spur der freidenkerischen Erziehung im Konstanzer Elternhaus bemerkbar macht): Die Menschen müssen selbst entscheiden, wie sie „in der Welt ihr Wesen treiben“. Dabei können sie auf nichts zurückgreifen, was „eine schon von Anfang vorgegebene“ oder „eine am Ende feststehende Bestimmung des Menschen“ ist.10 Daher lehnte Maihofer mit Nachdruck jede Gesamtwelterklärung ab und erst recht jegliche Tendenz zur Zwangsbeglückung. Umso stärker hielt er jedoch an jener „eisernen Ration von gesicherten Werten“11 fest, die er in zahlreichen Schriften als „ethisches Minimum“ bezeichnete. Nichts wäre falscher als darin einen Aufruf zum moralischen Minimalismus zu sehen. Es ging ihm vielmehr darum, die Vielfalt der möglichen Lebensentwürfe nur in dem Maße einzuschränken, das für das Zusammenleben in einer pluralen Gesellschaft unter dem Dach eines säkularisierten Staats unbedingt erforderlich ist. Desto weiter sollten die Freiheitsräume für die Individuen und Gruppen, auch für Abweichler und Minderheiten gespannt sein. Dass es im Reich der Freiheit immer auch mit harten Bandagen und konträren Interessen zugeht, stand für ihn außer Frage. Gerade daraus, so argumentierte Maihofer, entspringe die eigentliche Aufgabe des Rechts: im Spannungsfeld der Konflikte und Kollisionen für „Ausgleich“ zu sorgen, und dies bedeute immer auch, die „Rolle und Lage des Andern“ zu berücksichtigen.12 Am Anfang stand die Existenzphilosophie – aber dann entfaltete sich Maihofers Rechtsdenken vor allem im Reflexionshorizont der westeuropäischen Aufklärung. Ziemlich treffend konnte man daher nach seinem Sprung in die Politik lesen: „Von allen deutschen Politikern dieser Tage verkörpert wohl Werner Maihofer am reinsten den Typ des Aufklärers“.13 Die Gesamtausgabe von Kants Werken stand immer griffbereit in seinem Arbeitszimmer. Zur großen Garde der Fortschrittsdenker, mit denen er sich eingehend befasste, zählt auch Hegel. Auf dem Prager Kongress der Internationalen Hegel-Gesellschaft 1966 trat Maihofer als einer der Hauptredner auf. Noch mehr beschäftigten ihn jedoch zwei HegelSchüler: Ludwig Feuerbach, in dessen Anthropologie er viel Gemeinsames fand, und der junge Karl Marx. Das Adjektiv ist hier wichtig. Denn was der ältere Marx über die Entwicklungsgesetzlichkeit des Kapitalismus geschrieben hatte, hielt Maihofer für unzutreffend. Der demokratische Staat habe ja genügend Möglichkeiten, den Kapitalismus zu bändigen. Und die Annahme einer welthistorischen Mission des Industrieproletariats überzeugte ihn so wenig wie jede andere Gesamtwelterklärung. Aber es lag ihm sehr daran, das Denken des jungen Marx – des Rousseauisten, Humanisten und Demokraten – neu zu entdecken und für die Auseinandersetzungen in der Gegenwart fruchtbar zu machen. Somit rückte Maihofer von dem schroffen Antimarxismus ab, der im westdeutschen Frontstaat des Kalten Krieges den Ton angab. Den kommunistischen 10 11
12 13
Maihofer, Werner: Naturrecht als Existenzrecht, Frankfurt a.M. 1963, S. 40. Kaufmann, Arthur: Recht und Rationalität. Gedanken beim Wiederlesen der Schriften von Werner Maihofer, in: Kaufmann, Arthur u.a. (Hg.): Rechtsstaat und menschliche Würde. Festschrift für Werner Maihofer zum 70. Geburtstag, Frankfurt a.M. 1988, S. 11– 39, hier S. 26. Maihofer, Werner: Was ist Recht?, in: Juristische Schulung 3 (1963), S. 165–171. Zundel, Rolf: Menschen unserer Zeit: Werner Maihofer, Bonn 1976, S. 1.
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Parteiideologen näherte er sich dabei keineswegs. Wohl aber trat er in einen vielbeachteten Dialog mit Ernst Bloch ein, der – in Leipzig zwangsemeritiert – 1961 in die Bundesrepublik übergesiedelt war. Dieser philosophische Querkopf vertrat eine sehr unorthodoxe Spielart des Marxismus, die aus den verschiedensten Strömungen des humanitären Menschheitserbes eine „Philosophie der Hoffnung“ schöpfte. Auf Blochs Schrift „Naturrecht und menschliche Würde“ (1961) antwortete Maihofer mit der Abhandlung „Rechtsstaat und menschliche Würde“ (1968). In den Darmstädter Gesprächen – damals eines der großen Foren des intellektuellen Disputs – hielten Bloch und Maihofer 1963 Vorträge über „Angst und Hoffnung in unserer Zeit“. Als Bloch 1967 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhielt, übernahm Maihofer die Rolle des Laudators. Während Bundespräsident Lübke ein Glückwunschtelegramm sandte, das distanzierter kaum sein konnte, rühmte Maihofer den „freien Geist eines großen Mannes“. Vor allem hob er Blochs Bestreben hervor, „Welten des Geistes“ miteinander zu vermitteln, die „durch einen Abgrund von Fremdheit und Feindschaft getrennt“ seien: Idealismus und Materialismus, Christentum und Atheismus, Sozialutopie und Naturrecht, Sozialismus und liberale Demokratie. Maihofer ließ viel Sympathie für ein solches Denken im „kühnen Überschritt über Grenzen“ erkennen, da dies „für den geistigen Fortschritt der Menschheit unerlässlich“ scheine. Doch warnte er auch deutlich vor dem im „Dogmatismus erstarrten Sozialismus“ und der „Verknechtung des siegreichen Proletariats durch seine eigene etablierte Bürokratie“. Dass diese Kritik nicht zuletzt dem ostdeutschen Konkurrenzstaat galt, war dem Publikum in der Paulskirche, aber auch allen, die sich die Fernsehübertragung nicht entgehen ließen, völlig klar.14 In der westdeutschen Geschichte bilden die 1960er Jahre ein Umbruchsjahrzehnt, in dem sich eine „kritische Öffentlichkeit als Vierte Gewalt“15 etablierte. In dieses Dezennium fällt auch Maihofers Übergang von der Theoriereflexion zum politischen Engagement. Wir begegnen ihm als Anwalt der Pressefreiheit in der Spiegel-Affäre 1962 und als Redner auf dem Bonner Kongress gegen die Notstandsgesetze im Mai 1965. Vor allem aber trat er in einer Reformdebatte hervor, für die er als Strafrechtsprofessor besonders gewappnet war. Der Bundesjustizminister legte 1962 einen Entwurf für eine Gesamtreform des Strafrechts vor, der auf langjährigen Beratungen einer Großen Strafrechtskommission beruhte. Er atmete jedoch einen Geist, den eine Reihe von Strafrechtlern der jüngeren Generation als viel zu restriktiv, überlebt und rückständig empfand. Mit einigen gleichgesinnten Kollegen kam Maihofer auf die Idee, nicht bloß Einspruch zu erheben, sondern der Regierungsvorlage mit einem eigenen, vollständig ausformulierten Gesetzentwurf entgegenzutreten. So entstand ein Arbeitskreis, der am Ende sechzehn „Alternativprofessoren“ umfasste und den in der deutschen Rechtsgeschichte berühmt gewordenen „Alternativentwurf eines Strafgesetzbuches“ ausarbeitete. Der Allgemeine Teil wurde 1966 veröffentlicht, dann folgten Schlag auf Schlag besondere Teile, darunter zum Politischen Strafrecht und zum 14 15
Bloch, Ernst: Vier Ansprachen anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, Frankfurt a.M. 1967, S. 25–44. Wehler, Hans-Ulrich: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 5: Bundesrepublik und DDR 1949–1990, München 2008, S. 267.
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Sexualstrafrecht. Die Grundtendenz lag in einer durchgreifenden Liberalisierung, verbunden mit der restlosen Tilgung der Vergeltungstheorie. An ihre Stelle trat die Leitidee der Resozialisierung. Im Rückblick hat Maihofer diese Reformarbeit als „irre Strapaze“ bezeichnet, aber auch als „unglaubliches Erfolgserlebnis“.16 Denn es gelang den Alternativprofessoren nicht nur, in der Öffentlichkeit Furore zu machen, sondern auch den Gang der Gesetzgebung ganz wesentlich zu beeinflussen. An den publizistischen Initiativen der Reformer war Maihofer ebenso kräftig beteiligt wie an ihren Vorstößen im politisch-parlamentarischen Raum. So vertrat er den Alternativentwurf unter anderem auch vor den Bundestagsfraktionen von SPD und FDP. Die FDP-Fraktion war von dem Allgemeinen Teil so angetan, dass sie ihn Ende 1967 als förmlichen Gesetzentwurf in den Bundestag einbrachte. Damit erlangte das Professoren-Werk den gleichen parlamentarischen Rang wie die Regierungsvorlage, und in der Serie der fünf Strafrechtsreformgesetze, die von 1969 bis 1974 verabschiedet wurden, hinterließ das Werk eine markante Spur. Dass man als Wissenschaftler in der Politik so viel bewirken kann, war für Maihofer eine ungemein motivierende Erfahrung. Sie erklärt mehr als alles andere, warum er sich bald noch viel stärker auf das politische Geschäft einließ.
Rektor in Zeiten der Studentenrevolte Maihofer lehrte, wie gesagt, von 1955 bis 1970 an der Universität Saarbrücken. Kurz nach der Habilitation hatte er sich zwischen Saarbrücken und Würzburg entscheiden können. Er zog die junge, 1948 in französischer Regie gegründete Universität des Saarlandes vor, weil er sie als deutsch-französische Begegnungsstätte mit europäischer Perspektive für besonders entwicklungsfähig hielt. Als das Saarland 1957 in die Bundesrepublik eingegliedert wurde, beteiligte sich Maihofer – inzwischen bereits Dekan – intensiv an der Ausarbeitung eines neuen Universitätsgesetzes. Es gelang, mit diesem Gesetz eine damals „einzigartige Universitätsautonomie“ zu verankern.17 Seine fortwährende Bemühung um den Brückenschlag nach Frankreich wurde 1968 mit der Ehrendoktorwürde der Universität Nancy honoriert. In der heißen Phase der Studentenrevolte finden wir Maihofer an exponierter Stelle: als Rektor seiner Universität (1967 bis 1969) und Vizepräsident der Westdeutschen Rektorenkonferenz (1968 bis 1971). Über sein Verhältnis zur „Revolte der Jugend“ gibt ein Vortrag Auskunft, den er in diesen Jahren mancherorts hielt und der mehrfach nachgedruckt wurde.18 Er sah in dem Protest einen seismographischen Hinweis auf einen epochalen Wertewandel in der Gesellschaft. Diesen 16
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Kirste, Stephan und Sprenger Gerhard (Hg.): Menschliche Existenz und Würde im Rechtsstaat. Ergebnisse eines Kolloquiums für und mit Werner Maihofer aus Anlass seines 90. Geburtstages, Berlin 2010, S. 133. Maihofer, Werner: Vom Universitätsgesetz 1957 bis zur Verfassungsreform 1969. Persönliche Erinnerungen an eine bewegte Zeit der Universität des Saarlandes, in: Jahrbuch für westdeutsche Landesgeschichte 22 (1996), S. 373–403, hier S. 381. Maihofer, Werner: Die Revolte der Jugend für die Evolution der Gesellschaft in Ost und West, in: Club Voltaire. Jahrbuch für kritische Aufklärung IV, Reinbek 1970, S. 94–111.
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beobachtete er voller Sympathie. Denn darin liege die Chance, „mit unserem Staat als einer liberalen und sozialen Demokratie wahrhaft ernst zu machen“. Dabei komme es auch und gerade auf die intelligenten Köpfe der revoltierenden Jugend an – „diese politische Elite von morgen“. Maihofer schlug ihnen eine Art Generationenvertrag vor: Die politisch engagierte Jugend habe es mit Erwachsenen zu tun, die als „erste Nachkriegsgeneration nach 1945 in unsere Universitäten einzog“ und die ja „nicht minder politisch engagiert“ sei. Ganz offensichtlich hatte Maihofer sich und seinesgleichen vor Augen, wenn er daraus das Angebot ableitete, in „wechselseitiger Berichtigung und Ergänzung“ den „fairen Kompromiss“ zu suchen. Das Angebot wollte er aber nicht als Anbiederung verstanden wissen. Keinesfalls dürfe die Gesellschaft der „ungeduldigen Jugend je nach der Stärke des Drucks und Lautstärke des Krachs nachgeben“ oder sich gar dem „Diktat oder Terror einzelner Gruppen“ beugen. Das für die „Evolution der Gesellschaft“ hoch erwünschte Miteinander im Gegeneinander könne nur gelingen, wenn die rebellierende Jugend sich von ihrem Hang zur „repressiven Intoleranz“ und zum „utopischen Irrealismus“ verabschiede. In dieser Hinsicht sei kein “bequemes Nachgeben“ gestattet, sondern „aktiver Widerpart“ geboten. Besonders scharf zog Maihofer die Grenze zwischen jeglichem revolutionären Anrennen gegen „unser Grundgesetz“ und der Entfaltung der liberalen und sozialen Verfassungsprinzipien auf dem Wege der Reform, Schritt für Schritt und sozusagen von innen heraus. Dem einen bot er die Stirn, zu dem anderen rief er mit Nachdruck auf. Dutschke und Dahrendorf im Streitgespräch auf einem Autodach – diese Szene aus dem Januar 1968 hat sich in das deutsche Bildgedächtnis eingeprägt. Kaum weniger bemerkenswert ist jedoch ein öffentlicher Disput, den Maihofer einen Monat später mit Rudi Dutschke, Ernst Bloch und Ossip K. Flechtheim führte.19 Auch hier zog er eine klare Grenze zwischen Angebot und Abwehr. Die Auflehnung gegen „autoritäre, antidemokratische Tendenzen in unserer Gesellschaft“ begrüßte er lebhaft; darin spiegelte sich ja sein eigener Grundimpuls. Doch plädierte er für „Aktivierung“ statt „Negierung“ des Parlamentarismus, für „Humanisierung“ statt „Liquidierung“ des Kapitalismus und vor allem: gegen jede Gewalttätigkeit als Mittel zur Durchsetzung politischer Ziele. Die Freiheit des Anderen müsse eben auch dann respektiert werden, wenn der Andere sich nicht sozialistisch, sondern „liberal und demokratisch, progressiv oder konservativ“ engagiere. Zur Hochschulreform bemerkte er, Professoren vom Katheder zu zerren und Türen einzutreten, sei mit Sicherheit der falsche Weg. Es sei an der Zeit, die Phase der spektakulären Aktionen zu beenden und zur „produktiven Diskussion“ überzugehen. An der Universität Saarbrücken eskalierten die Auseinandersetzungen weniger als anderswo. Das lag zum Teil am bodenständigen Grundzug der Studentenschaft (wie sie sich ohne geschlechtsspezifische Differenzierung noch selbst nannte), großenteils aber auch an der Politik des Dialogs, die Maihofer zum Markenzeichen seines Rektorats machte. An der neuen Universitätsverfassung, die das Konzil im November 1968 verabschiedete, wirkte er maßgeblich mit. Diese 19
Der Spiegel vom 4. 3. 1968 dokumentierte diese Debatte, die in der Evangelischen Akademie Bad Boll am 11. Februar 1968 stattfand.
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Novelle erweiterte die Mitwirkungsrechte der sog. Nichtordinarien, der akademischen Mitarbeiter und der Studierenden wesentlich – jedoch nicht im Sinne der „Drittelparität“. Alle Universitätsgremien mit je einem Drittel Professoren, Assistenten und Studenten zu besetzen – diese Forderung hatte sich der radikale Flügel der Studentenbewegung auf die Fahne geschrieben. Maihofer trat ihr mit dem Argument entgegen, die Repräsentation der Gruppen müsse je nach dem Aufgabenbereich, um den es geht, unterschiedlich gewichtet werden. So kam es auch in Saarbrücken zu militanten Protestaktionen, gegen die sich Maihofer, sobald die Grenze zur Nötigung überschritten wurde, vehement wehrte. Als eine Rektoratsbesetzung drohte, ließ er Fenster und Türen verbarrikadieren und stellte sich – untergehakt mit dem Prorektor – am Eingang quer in den Weg (glücklicherweise blieb es bei einer verbalen Konfrontation). Als sich abzeichnete, dass die Schlussberatung der Universitätsverfassung durch Störaktionen verhindert werden sollte, ließ Maihofer insgeheim eine Autokolonne bereitstellen, die das Beschlussgremium kurz vor Sitzungsbeginn in ruhigere Gefilde brachte. In der Zeit der 68er-Bewegung zählte Maihofer also weder zu den Professoren, die sich duckten oder wendig anpassten, noch zu denen, die verbittert oder verletzt reagierten. Man gewinnt vielmehr den Eindruck, dass er diese Zeit voller Diskussionslust und Kampfesfreude erlebte. Dabei bewegte er sich nicht primär auf einer defensiven Linie – wie andere, die in dem Proteststurm mehr Schäden als Chancen ausmachten und im Gegensteuern gleichfalls Mut bewiesen. Maihofer setzte den Akzent anders: Er hob die reformpolitischen Chancen des sozialkulturellen Umbruchs hervor und war bereit, sie nach Kräften zu nutzen.
Sozialliberalismus als Programm: Die „Freiburger Thesen“ der FDP Über die „Revolte der Jugend“ sprach Maihofer auch auf dem Düsseldorfer Eisenhüttentag im November 1968. Im Publikum saß Walter Scheel, der zu Beginn dieses Jahres den Parteivorsitz der FDP übernommen hatte. Wie sich Maihofer später erinnerte, kam Scheel nach dem Vortrag voller Zustimmung auf ihn zu („Sie sind einer der Unsrigen“) und lud ihn zum nächsten Dreikönigstreffen der Liberalen ein. Dort beschworen ihn im Januar 1969 vor allem Vertreter der Jugendorganisation („Jungdemokraten“), der Partei beizutreten, was Maihofer nach einiger Bedenkzeit dann auch tat. Im März 1969 nahm er als FDP-Wahlmann an der Bundesversammlung teil, die Gustav Heinemann zum Bundespräsidenten kürte – eine Wahl, mit der die FDP-Führung ihre Wendung zur SPD vorbereitete. Bei der Bundestagswahl im Herbst 1969 erhielt der neue Kurs zwar kräftige publizistische Schützenhilfe (insbesondere von den Blättern Rudolf Augsteins und Henry Nannens); die Partei verlor jedoch mehr Stammwähler als sie neue Wähler gewann. So kam sie nur knapp über die Fünf-Prozent-Hürde, und Maihofer, der eine Bundestagskandidatur angenommen hatte, verfehlte den Einzug ins Parlament über die Landesliste an der Saar. Umso rascher stieg er in der Partei auf. Dafür hatte der Bonner Parteitag von Juni 1970 entscheidende Bedeutung. Denn nun verloren die letzten Geg-
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ner des von Scheel eingeschlagenen Kurses ihre Positionen in der Parteiführung, während Maihofer nicht nur ins Präsidium gewählt wurde, sondern auch den Vorsitz in einer strategisch wichtigen Kommission erhielt: Diese sollte ein gesellschaftspolitisches Grundsatzprogramm entwerfen und einen ProgrammParteitag vorbereiten. Besonders die Jungdemokraten, die etwa ein Drittel der Delegierten stellten, unterstützten Maihofers Rangschub nach oben. Mit dem Kommissionsvorsitz übernahm er freilich eine sehr heikle Aufgabe. Denn gerade in gesellschaftspolitischer Hinsicht machten sich starke innerparteiliche Spannungen bemerkbar. In der FDP-Bundestagsfraktion dominierten in dieser Hinsicht nach wie vor bürgerlich-konservative Kräfte, wohingegen der Zuzug neuer, meist junger Mitglieder den linksliberalen Flügel in der Partei stärkte. Zu den Protagonisten der Wendung nach links gehörte auch eine einflussreiche Gruppe um die Zeitschrift „liberal“ – voran Karl-Hermann Flach. Der Parteivorstand bildete in diesem Spannungsfeld eine Art „pragmatischer Mitte“.20 So war es eher erstaunlich, dass die mit Kontrahenten besetzte Kommission nach etlichem Tauziehen einen Entwurf zustande brachte, der weitgehend einvernehmlich getragen und im Oktober 1971 vom Freiburger Parteitag unter dem Titel „Freiburger Thesen der FDP zur Gesellschaftspolitik“ verabschiedet wurde. Dass dies gelang, verdankte die Partei nicht zuletzt der „als außerordentlich geschickt zu bezeichnenden Verfahrensstrategie“ des Kommissionsvorsitzenden.21 Aber auch die Grundgedanken und die Ausformulierung des Programms beeinflusste Maihofer – zusammen mit Karl-Hermann Flach – maßgeblich. Und in Freiburg trat er mit einem Eröffnungsvortrag hervor, der die programmatische Wende zum „Modernen oder Sozialen Liberalismus“ mit weiten historischen Bezügen intellektuell untermauerte.22 Dabei mutete er den Delegierten einen theoretischen Höhenflug zu, der heutzutage wohl auf jedem Parteitag im Gemurmel unterginge, damals aber in einem betont wissenschaftsoptimistischen Zeitklima – mit breitem Einzug wissenschaftlicher Experten in die Politikberatung – eher aufhorchen ließ. Von Kant und Humboldt über John Stuart Mill und Lorenz von Stein bis Friedrich Naumann und John Maynard Keynes: mit zahlreichen Quellenzitaten entfaltete Maihofer die Denktraditionen des Liberalismus, und er zog dabei einen welthistorischen Bogen von den demokratischen Revolutionen in Amerika und Frankreich am Ende des 18. Jahrhunderts bis zur „zweiten Phase der demokratischen Revolution“, die um die Mitte des 20. Jahrhunderts weltweit in Gang gekommen sei und den Aufgabenkatalog der Gegenwart bestimme. Zum klassischen Kernbestand des Liberalismus rechnete er „Individualität und Pluralität“, worunter er die Kombination möglichst großer individueller Freiheitsräume mit der „Kraft des Widerstreits und Wettstreits“ in einer pluralistischen Gesellschaft verstand. Beides zusammen – „Eigenheit und Mannigfaltigkeit“ – 20
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Vorländer, Hans: Der Soziale Liberalismus der FDP. Verlauf, Profil und Scheitern eines soziopolitischen Modernisierungsprozesses, in: Holl, Karl u.a. (Hg.): Sozialer Liberalismus, Göttingen 1986, S. 190–226. Vorländer, Hans: Der Soziale Liberalismus der FDP. Verlauf, Profil und Scheitern eines soziopolitischen Modernisierungsprozesses, in: Holl, Karl u.a. (Hg.): Sozialer Liberalismus, Göttingen 1986, S. 209. Flach, Karl-Hermann, Maihofer, Werner und Scheel, Walter: Die Freiburger Thesen der Liberalen, Reinbek 1972, S. 25–54.
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halte jenen dynamischen Prozess in Gang, der allein Evolution, Emanzipation und Fortschritt verbürgen könne. Dass es dabei immer auch um „die genaueste Bestimmung und Sicherung der Grenzen dieser Freiheit“ gehe, damit die Freiheit des einen nicht die des anderen erdrückt: dies betonte Maihofer wie stets so auch hier. Die Hauptbotschaft lag jedoch darin, den Liberalismus nicht mehr nur oder primär im Sinne von Abwehrrechten gegenüber der Staatsmacht und der Durchsetzung demokratischer Prinzipien im Staat zu definieren. Es sei vielmehr an der Zeit, die verschütteten Traditionen des sozialen Liberalismus neu zu beleben, also die Frage der sozialen Ermöglichung individueller Freiheit in den Mittelpunkt zu rücken. Der Liberalismus sei daher aufgerufen, der dem Kapitalismus innewohnenden Tendenz zur Vergrößerung der sozialen Ungleichheit entgegenzutreten, das Sozialstaatsprinzip aufzuwerten und mehr Teilhabe- und Mitbestimmungsrechte in Wirtschaft und Gesellschaft zu verankern. Es kennzeichnet den Veränderungswillen der Freiburger Thesen, dass sie diese als „Reform des Kapitalismus“ und „Demokratisierung der Gesellschaft“ bezeichnete Leitidee nicht nur abstrakt entfalteten und in wahlkampftaugliche Slogans übersetzten („Fortschritt durch Vernunft“), sondern auch in konkrete Reformvorhabenüberführten. Diese betrafen die Beteiligung breiter Schichten am Zuwachs des Produktivvermögens, die Einführung einer Bodenwertzuwachssteuer, um die Bodenspekulation einzudämmen, die Erweiterung betrieblicher Mitwirkungsrechte und den Ausbau der Mitbestimmung auf Unternehmensebene sowie die Intensivierung des Umweltschutzes, da der „Raubbau an der Natur“ eine „menschenwürdige Umwelt“ bedrohe. Als der neuralgischste Punkt hatte sich im Vorfeld die Frage der Mitbestimmung in den Aufsichtsräten der großen Kapitalgesellschaften erwiesen. Man konnte sich zwar darauf einigen, die leitenden Angestellten als Faktor „Disposition“ neben den Faktoren Kapital und Arbeit gesondert einzubeziehen, aber das Zahlenverhältnis blieb strittig. Maihofer setzte sich dafür ein, Anteilseigner, leitende Angestellte und Arbeitnehmer mit dem Schlüssel 4:2:4 zu beteiligen. Sein Vorschlag fand in der Programmkommission viel Anklang, wurde jedoch von seiten der Fraktion und des Präsidiums abgeblockt. Dort favorisierte man den Schlüssel 6:2:4, für den sich der nordrhein-westfälische Wirtschaftsminister Riemer stark machte, weil damit eine Majorisierung der Anteilseigner auf jeden Fall ausgeschlossen war. So kam es im Freiburger Parteitagsplenum zu einer Kampfabstimmung. Maihofers Modell unterlag – aber nur mit dem hauchdünnen Abstand einer einzigen Stimme (188:189). Davon abgesehen feierte die Vorlage der Programmkommission einen geradezu triumphalen Abstimmungserfolg. Handelte es sich bei den Freiburger Thesen um ein radikales Programm? Gemessen am herkömmlichen Zuschnitt der Partei – nationalliberal, wirtschaftsliberal, vorwiegend von Wählern aus dem alten Mittelstand der Selbständigen getragen – brach das Programm zweifellos einige Tabus. Erich Mende, der Vorgänger Scheels im Parteivorsitz, verließ die FDP daher im Sommer 1971 geradezu fluchtartig. Als Signal zur Richtungsänderung, als Zeichen der Umprofilierung zur sozialliberalen Reformpartei gewannen die Freiburger Thesen einen so hohen Symbolwert, dass sie als „lieu de mémoire“ in die deutsche Parteiengeschichte eingegangen sind. Die konkret ausformulierten Vorhaben waren jedoch keines-
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wegs radikal, sondern eher moderat. Das konnte auch nicht anders sein. Denn der innerparteiliche Spielraum für Kompromisse ließ auch dann, wenn man ihn – wie es Maihofer tat – so weit wie möglich ausreizte, kaum einen Eingriff in bestehende Besitzstände zu. Die verteilungspolitischen Reformvorschlägewaren daher so austariert, dass es nicht um die Umschichtung von Beständen, sondern um die Verteilung künftiger Zuwächse ging, und auch dies nur in gemäßigten Schritten. Ebenso veränderte das Mitbestimmungsmodell die Macht in den großen Unternehmen nicht mit scharfen Schnitten. Dafür ist die von den Liberalen erfundene Zwischenschaltung des Faktors „Disposition“, also des Managements, sehr bezeichnend. Im Ganzen handelt es sich um ein betont evolutionär angelegtes Programm – ein „Langzeitprogramm“, das „erst über Generationen hinweg eine Veränderung der gesellschaftlichen Strukturen zur Folge haben“ konnte, allerdings auch haben sollte.23 Maihofer hatte diese langfristige Perspektive ebenso im Auge wie ein koalitionspolitisches Kalkül: Die Freiburger Thesen formten die FDP zum Koalitionspartner der SPD um. Denn sie holten etwas nach, was die FDP beim Eintritt in die sozialliberale Koalition 1969 noch nicht vorzuweisen hatte: ein gesellschaftspolitisches Programm, das die Koalition auch dann zusammenhalten konnte, wenn die Neue Ostpolitik „abgehakt“ war, die 1969 die Klammer bildete. Fortan setzte sich Maihofer mehr als jeder andere FDP-Politiker intern und öffentlich dafür ein, dieses Regierungsbündnis nicht nur pragmatisch, sondern auch programmatisch zu sehen: als ein „geschichtliches Bündnis“ von „Arbeitern, die nicht mehr zu Proletariern deklassiert sind, mit Bürgern, die nicht mehr zu Bourgeois denaturiert sind“.24
Ministerjahre Während die Bundestagswahl von 1969 der Regierung Brandt/Scheel nur eine knappe und brüchige Mehrheit beschert hatte, endete die auf den Herbst 1972 vorgezogene Neuwahl mit einem klaren Sieg der Koalitionsparteien: Mit 45,8 Prozent der Stimmen wurde die SPD zum ersten – und einzigen – Mal in der Geschichte der Bonner Republik die stärkste Partei im Bundestag, und auch die FDP konnte ihr Ergebnis deutlich verbessern: von 5,8 auf 8,4 Prozent. Bei der Regierungsbildung gelang es ihr, nicht mehr nur drei, sondern fünf Ministerposten zu besetzen. Walter Scheel (Außenminister), Hans Dietrich Genscher (Innenminister) und Josef Ertl (Minister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten) behielten ihre Ressorts. Hinzu kam nun das Wirtschaftsministerium, an dessen Spitze Hans Friderichs trat, ein wirtschaftsbürgerlicher Liberaler. Als Exponent der Linksliberalen kam Werner Maihofer ins Kabinett, allerdings als Minister ohne Geschäftsbereich. So zog die FDP mit der SPD gleich, die mit Egon Bahr ebenfalls einen Minister ohne Geschäftsbereich stellte. 23 24
Flach, Karl-Hermann, Maihofer, Werner und Scheel, Walter: Die Freiburger Thesen der Liberalen, Reinbek 1972, S. 19. Maihofer, Werner: Liberalismus 1974, in: liberal 16 (1974), S. 85–99, hier S. 95.
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Als Sonderminister kümmerte sich Maihofer vor allem um zwei Reformvorhaben: Vermögensbildung und Mitbestimmung. Auf beiden Feldern berührten sich die Freiburger Thesen mit sozialdemokratischen Initiativen, aber es gab auch Zündstoff. Nach einigem Kompetenzgerangel übernahm Maihofer im August 1973 die Leitung eines „Kabinettsausschusses für Vermögensbildung“, und im Januar 1974 zeichnete sich ein veritabler Durchbruch ab. Einer der engsten Mitarbeiter des Bundeskanzlers hielt in seinem Tagebuch fest, wie er Maihofer in dieser Situation persönlich erlebte: „Er war ein wenig euphorisch beschwingt“, das Gesicht „fröhlich in Bewegung“, mit Augen, die „hinter den Brillengläsern hervorzufunkeln“ einen guten Grund hatten: Denn Maihofer habe soeben „die Mitbestimmung und die Vermögensbildung in der entscheidenden Koalitionsrunde über die Bühne gebracht. Auf seiten der Freien Demokraten hat er die entscheidende Arbeit geleistet.“25 In der Tat: Zusammen mit dem sozialdemokratischen Bundesarbeitsminister, Walter Arendt, hatte Maihofer die Grundlinien eines Gesetzes zur überbetrieblichen Ertragsbeteiligung entworfen, die nun auch regierungsoffiziell präsentiert werden konnten. Im Kern ging es darum, dass die westdeutschen Unternehmen ab einem bestimmten Steuerbilanzgewinn verpflichtet werden sollten, eine jährliche Gewinnabgabe zu leisten, gestaffelt bis zu 10 Prozent, und zwar möglichst in Form von Aktien oder Anteilsscheinen. Die Abgabe sollte in überbetriebliche Beteiligungsfonds fließen, verwaltet von Banken, Sparkassen oder gemeinwirtschaftlichen Geldinstituten. Das Aufkommen sollte auf alle Erwerbstätigen unterhalb einer bestimmten Einkommensgrenze verteilt werden, wobei die Bezugsberechtigten den Fonds frei wählen, über ihre Zertifikate aber erst nach einer Sperrfrist von sieben Jahren frei verfügen konnten. In diesem Modell sah Maihofer gleich drei große Vorteile: Es wirke der gewaltigen Konzentration des Kapitalbesitzes entgegen, dämpfe den allein über Lohnsteigerungen ablaufenden Verteilungskampf, und biete eine Chance, die „heutige Fremdheit, wenn nicht gar Feindschaft zwischen den Sphären Kapital und Arbeit zu überwinden“.26 Aber er betonte auch, dass dieses Modell nicht „das gewachsene“, sondern nur das „zuwachsende Vermögen“ antaste und auch dies nur im Sinne eines „Langzeitprogramms“. Da das Aufkommen auf rund 212 DM pro Berechtigten und Jahr geschätzt wurde, war das Volumen tatsächlich nicht atemberaubend, aber es ging um die Implantation eines neuen Prinzips der Sozialreform. Umso größer war Maihofers Enttäuschung, als das Projekt steckenblieb und 1975 begraben wurde. Gewiss, es gab einige ernsthafte Schwierigkeiten (wie das Problem der Bewertung nicht börsennotierter Anteile), aber die Ursachen lagen tiefer. Differenzen im Regierungslager, Gegendruck von Arbeitgeberseite und eine gewandelte politische Großwetterlage, von der noch die Rede sein wird, wirkten hier zusammen. Dass auch die IG Metall nach Kräften zum Scheitern beitrug, weil sie befürchtete, die Ertragsbeteiligung werde ihren Spielraum in der Tarifpolitik und in der Mitbestimmungskampagne verkleinern, wird man schwerlich zu 25 26
Harpprecht, Klaus: Im Kanzleramt. Tagebuch der Jahre mit Willy Brandt, Reinbek 2000, S. 464 (Eintrag vom 24. 1. 1974). Der Spiegel vom 11. 03. 1974 („Ohne Wagnis keinen Fortschritt. Sonderminister Werner Maihofer über das sozialliberale Modell zur Vermögensbildung“).
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den Ruhmesblättern der größten deutschen Gewerkschaft rechnen können. Man darf vielmehr mit Bedauern festhalten: Der Einstieg in ein System der Gewinnbeteiligung, das für breite Schichten die Chance eröffnet hätte, dass zu den Lohneinkommen ein Kapitaleinkommen hinzutritt, war mit dem Fehlschlag von 1974/75 auf Dauer verbaut. In der Unternehmensmitbestimmung lagen die Ausgangspunkte von FDP und SPD ziemlich weit auseinander. Die SPD wollte die 1951 eingeführte MontanMitbestimmung auf alle großen Unternehmen ausdehnen: Parität von Anteilseignern und Arbeitnehmern in den Aufsichtsräten, Wahl eines neutralen Vorsitzenden, der nicht gegen den Mehrheitswillen einer der beiden Seiten berufen werden kann, starke Stellung der Spitzenorganisationen der Gewerkschaften. Die Freiburger Thesen sahen dagegen die gesonderte Vertretung des Managements vor und lehnten eine Entsendung „externer Vertreter“ (sprich: betriebsfremder Gewerkschafter) in den Aufsichtsrat ab, ebenso die Institution eines „neutralen Mannes“. Aber auch in dieser Hinsicht gelang dem Duo Maihofer/Arendt ein Kompromiss. Er ging in einen Gesetzentwurf ein, den die Bundesregierung im Februar 1974 billigte und im Mai 1974 dem Bundestag zuleitete. Einige Punkte wie die besondere Rolle der leitenden Angestellten ließen Maihofers Handschrift erkennen, andere wie die Berücksichtigung der im Unternehmen vertretenen Gewerkschaften verweisen auf Arendts Position. Die legislatorischen Beratungen zogen sich lange und konfliktreich hin. Erst 1976 trat das neue Mitbestimmungsgesetz in Kraft, das im Grundzug bis heute gilt. Da sowohl die Unionsmehrheit im Bundesrat als auch der wirtschaftsliberale Flügel der FDP weitere Korrekturen im Sinne der Anteilseigner durchgesetzt hatten, entsprach das Ergebnis kaum noch Maihofers Erwartungen: Rückblickend sprach er von einer „auf halbem Wege stehen“ gebliebenen Reform.27 Den Höhepunkt seiner politischen Laufbahn erreichte Maihofer im Mai 1974, als mit dem Kanzlerwechsel von Willy Brandt zu Helmut Schmidt eine Kabinettsumbildung anstand. Da Walter Scheel – im selben Monat zum Bundespräsidenten gewählt – als Außenminister ausschied und Hans Dietrich Genscher dessen Ressort übernahm, stand das Innenministerium zur Disposition. Schmidt bot der FDP an, stattdessen das Justizressort zu wählen.28 Dafür wäre Maihofer geradezu prädestiniert gewesen. Doch hielt die FDP an dem gewichtigeren Innenressort fest, und Maihofer übernahm die Nachfolge Genschers im Amt des Bundesinnenministers. Seine Amtsführung ist bisher noch nicht eingehend und auf angemessener Quellenbasis untersucht worden. Daher sollte man sich vor flinken Urteilen hüten. Gewiss hatte er Mühe, mit dem Riesenapparat dieses Ressorts fertig zu werden, zumal er ohne große administrative Vorerfahrung ins Amt kam. Bei genauem Hinsehen wird man jedoch viele Beispiele für geschicktes und erfolgreiches Agieren entdecken können – von den Tarifverhandlungen mit der ÖTV bis 27
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Maihofer, Werner: Abschließende Äußerungen, in: Ders., Benda, Ernst und Vogel, Hans-Jochen (Hg.): Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Berlin und New York 1983, S. 1381–1416, hier S. 1404. Soell, Hartmut: Helmut Schmidt. 1969 bis heute. Macht und Verantwortung, München 2008, S. 334.
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zur Umweltpolitik, insbesondere auch in der Kultur- und Sportförderung. Dass Maihofer sich in der Sportförderung besonders stark engagierte, lässt einen Bezug zur eigenen Biographie erkennen, was übrigens auch für seine Mitwirkung am ersten Gesetzesentwurf für eine Künstler-Sozialversicherung gilt: Dabei kam ihm die Geigenlehrerin in den Sinn, die ihn in seiner Jugend – sozial ganz ungesichert – unterrichtet hatte. Im historischen Gedächtnis wird seine Innenminister-Zeit aber vor allem mit der Herausforderung durch den links-anarchistischen Terrorismus verbunden. Terroristische Gruppen, voran die zweite Generation der „Roten Armee Fraktion“ (RAF), begannen 1974 mit einer Serie von Entführungen und Mordanschlägen, die 1977 in der Ermordung des Generalbundesanwalts Buback, des Bankiers Ponto, des Arbeitgeberpräsidenten Schleyer sowie der Entführung eines Lufthansa-Flugzeugs mit 86 Passagieren gipfelte. Auch Chauffeure und begleitende Polizeibeamte wurden Opfer der mörderischen Militanz. Kaum im Amt traf Maihofer eine sprachpolitische Entscheidung: Er ließ im Verfassungsschutzbericht den Begriff „Radikalismus“ durch „Extremismus“ ersetzen.29 Radikalismus, so begründete er, sei verfassungskonform möglich und erlaubt. Beispielsweise sei der Ruf nach einer Vergesellschaftung der Produktionsmittel zwar radikal, aber im Blick auf Artikel 15 des Grundgesetzes nicht ohne weiteres verfassungsfeindlich. Extremismus hingegen richte sich gegen den Kernbestand der Verfassung, er stelle sich außerhalb des Bodens „unseres Grundgesetzes“. Auf diese Unterscheidung legte Maihofer größten Wert, weil er das eine zu verteidigen, das andere umso stärker zu bekämpfen entschlossen war. In einem 1975 publizierten Artikel erläuterte er seine Grundkonzeption für die Abwehr der bedrohlichsten Form des Extremismus: des Terrorismus. Dabei ist es höchst bezeichnend, dass nicht die Staatsräson, sondern die Menschenrechte den Angelpunkt seiner Argumentation bildeten. Von den Terroristen drohe keine existentielle Gefahr für den Staat, dazu fehle der Rückhalt in der Bevölkerung, doch drohe eine „ernsthafte Gefahr für Leben und Freiheit der von ihnen mit brutalem Terror bedrohten Bürger“. Terror dürfe auf keinen Fall als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln gelten, sondern nur als das, „was er wahrhaft ist: ein Verbrechen gegen Menschen, ihr Leben, ihre Gesundheit, ihre Freiheit“. Daher bleibe dem „freiheitlichen Rechtsstaat, bei allem Verstehen von Ursachen, keine andere Wahl als die, sich mit seinen äußersten Mitteln gegen solche Herausforderung zur Wehr zu setzen“. Dem menschenrechtlichen Grundansatz widerspricht nicht, dass es Maihofer auch um die Festigkeit des Staates ging, den er nicht „gedemütigt“ sehen wollte, sondern stark genug, um seine Funktion als Schutzinstanz auch wirksam zu erfüllen. Auch hier macht sich eine biographisch geprägte Erfahrung bemerkbar: die Erinnerung an den schwachen Staat von Weimar, der zum Spielball in den Händen der Nationalsozialisten geworden war. Zugleich warnte Maihofer jedoch vor staatlichen „Überreaktionen“. Damit würde man die terroristische Strategie der Gewalteskalation nur fatal unterstützen, die ja darauf abziele, „das reforme-
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Backes, Uwe: Politische Extreme. Eine Wort- und Begriffsgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart, Göttingen 2007, S. 198.
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rische Potential in unserer Gesellschaft zwischen den eskalierenden Fronten zu zerreiben“.30 Sich mit den „äußersten Mitteln“ des „freiheitlichen Rechtsstaats“ zu wehren: So motiviert trug Maihofer die Antiterrorgesetze der sozialliberalen Koalition mit, die 1974 bis 1978 das Strafrecht und das Strafprozessrecht deutlich verschärften.31 Ob ihr dabei die Gratwanderung zwischen Gefahrenabwehr und „Überreaktion“ gelang, ist heute eine akademische Streitfrage, damals wühlte sie die öffentliche Meinung auf. In einer aufgeheizten Atmosphäre polarisierten sich die Meinungslager. Hardliner forderten eine viel resolutere Aufrüstung der Staatsmacht (bis hin zur Einführung der Todesstrafe). Dagegen grassierte im linksintellektuellen Milieu eine Mischung aus Vorwurf und Verdacht: Die Bundesregierung durchlöchere den liberalen Rechtsstaat und sei drauf und dran, die Republik in einen Polizeistaat zu verwandeln. Zwar lag die Federführung bei den Antiterrorgesetzen nicht in der Hand Maihofers, sondern in der des Bundesjustizministers HansJochen Vogel. Aber er war daran aktiv beteiligt und geriet so mehr und mehr ins kritische Visier der progressiven Linken. Die „Abhöraffäre Traube“ brachte ihn dann vollends ins Kreuzfeuer der Kritik. Diese Affäre ist eine verwickelte Geschichte. Je nachdem wie man sie rahmt, erhält sie eine etwas andere Kontur. Aus Maihofers Sicht stellte sie sich folgendermaßen dar. Seit Sommer 1975 observierte der Verfassungsschutz den Atomwissenschaftler Klaus Traube, der als Geschäftsführer der Firma Interatom für die Entwicklung des „Schnellen Brüters“ zuständig war. In seinem Bekanntenkreis waren Personen aufgetaucht, die sich in der Sympathisantenszene des Terrorismus bewegten. Einer von ihnen, Hans-Joachim Klein, beteiligte sich im Dezember 1975 an dem Überfall auf die OPEC-Konferenz in Wien, der von dem international gesuchten Terroristen „Carlos“ angeführt wurde. Im Halbjahr zuvor standen Traube und Klein im privaten Kontakt, zuweilen hatte Klein auch in Traubes Haus gewohnt. Nach Einschätzung des Verfassungsschutzes trafen somit brisante Gefahrenmomente zusammen: ein wichtiger Mann der deutschen Atomindustrie war möglicherweise in einem Beziehungsnetz des Terrorismus. Auf diesem Informationsstand sah der Innenminister eine „äußerste Gefährdungslage“. Denn nun schien die Vorbereitung eines Anschlags mit nuklearen Folgen denkbar – mit dem Ziel, die in Stammheim einsitzenden RAF-Häftlinge freizupressen, wie es bereits im April 1975 mit einem terroristischen Überfall auf die deutsche Botschaft in Stockholm versucht worden war. Seit Mai 1975 gab es in Frankreich eine Reihe von Anschlägen auf kerntechnische Anlagen, als deren Urheber sich Kommandos mit Namen aus der deutschen Terroristenszene meldeten. Andererseits hatte die (rechtmäßig angeordnete) Telefon- und Postkontrolle nichts erbracht, was gegen Klaus Traube polizeilich oder gerichtlich verwertbar gewesen wäre. Um Klarheit zu schaffen und gegebenenfalls präventiv tätig werden zu können, billigte 30 31
Maihofer, Werner: Politische Kriminalität, in: Meyers Enzyklopädisches Lexikon, Bd. 14, Mannheim 1975, S. 365–369. Vgl. den Überblick bei Hürter, Johannes: Anti-Terrorismus-Politik der sozialliberalen Bundesregierung 1969–1982, in: Ders. und Rusconi, Gian Enrico: Die bleiernen Jahre. Staat und Terrorismus in der Bundesrepublik Deutschland und Italien 1969– 1982, München 2010, S. 9–20.
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der Minister einen „Lauschangriff“ (wie es in der Aktensprache hieß): Beamte des Verfassungsschutzes drangen in der Nacht vom 1./2. Januar 1976 in Traubes Wohnung ein und installierten ein Abhörgerät. Als sich in den folgenden zwei Monaten nichts Belastendes ergab, wurde die „Wanze“ wieder entfernt. Gab es dafür eine rechtliche Grundlage, obwohl das Grundgesetz die Unverletzlichkeit der Wohnung ausdrücklich schützt? Der Verfassungsschutz war seit 1972 gesetzlich ermächtigt, „nachrichtendienstliche Mittel“ anzuwenden, wobei die Bestimmung der zulässigen Mittel dem Bundesinnenminister oblag. Im Zusammenhang mit der Observation Traubes war das Ministerium zum ersten Mal mit der Frage konfrontiert, ob das Eindringen in eine Privatwohnung zulässig sein könne. Maihofer entschied, dies sei in diesem Fall in Anbetracht der „äußersten Gefährdungslage“ zulässig. Dabei berief er sich auf Artikel 13, Absatz 3, wonach das Grundrecht der Unverletzlichkeit der Wohnung durch richterlichen Durchsuchungsbefehl und „im übrigen nur zur Abwehr einer gemeinen Gefahr oder einer Lebensgefahr für einzelne Personen“ eingeschränkt werden dürfe. Eine solche „gemeine Gefahr“ sah Maihofer als gegeben an. Zudem berief er sich mit Paragraph 34 des Strafgesetzbuchs auf einen „rechtfertigenden Notstand“.32 Der Spiegel gelangte in den Besitz der Verfassungsschutz-Akten und machte den Vorgang im Februar und März 1977 mit drei Titelgeschichten publik.33 Die Resonanz war gewaltig. Über Wochen und Monate erregte kaum ein anderes Thema die politische Öffentlichkeit mehr als die „Abhöraffäre Traube“ oder – mit der Schlagzeile der dritten Titelgeschichte – der „Fall Maihofer“. Der vom Spiegel vorgegebenen Deutung „Verfassungsschutz bricht Verfassung“ stimmten viele Kritiker zu, teils umstandslos, teils mit dem gewichtigen Argument, dass es ja nicht um die Abwehr einer – akuten, konkreten, nachweislichen – gemeinen Gefahr gegangen sei, sondern um die Klärung, ob sich ein konkreter Tatverdacht gegen Traube überhaupt erhärten lasse. Günther Nollau, der frühere Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz, den Maihofer wegen seiner undurchsichtigen Rolle in der Guillaume-Affäre und beim Rücktritt Brandts in den einstweiligen Ruhestand versetzt hatte, nutzte die Gelegenheit für einen kleinen Racheakt, indem er im Spiegel nicht ohne Bosheit erklärte: „Wenn die Geheimpolizisten von Diktaturstaaten gelegentlich solche Akte begehen, so ist das individueller Terror, aber kein Nachrichtendienst“.34 Im Streit um die Rechtmäßigkeit tauchte bald eine neue Frage auf: War der Minister überhaupt Herr des Verfahrens gewesen? Tatsächlich war Maihofer erst nachträglich unterrichtet worden. Als er die Lauschoperation genehmigte, lief sie schon seit zwei Wochen. Zwischen dem Leiter der Abteilung Terrorismus32
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Bericht Maihofers vor dem Innenausschuss des Bundestages am 1. 3. 1977 sowie Regierungserklärung Maihofers vor dem Bundestag am 16. 3. 1977. Vgl. Verhandlungen des Deutschen Bundestages, 8. Wahlperiode, 17. Sitzung, S. 957–961 und 985–988. Zu Klaus Traubes eigener Deutung vgl. seinen Beitrag „Lehrstück Abhöraffäre“ in: Narr, WolfDieter (Hg.): Wir Bürger als Sicherheitsrisiko. Berufsverbot und Lauschangriff. Beiträge zur Verfassung unserer Republik, Reinbek 1977, S. 61–78. Der Spiegel vom 28. 2. 1977, 7. 3. 1977 und 14. 3. 1977. Der Spiegel vom 14. 3. 1977 („Ex-Verfassungsschutzchef Günther Nollau über den Lauschangriff gegen Dr. Traube“).
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Bekämpfung im Bundesamt für Verfassungsschutz und dem Leiter der Abteilung öffentliche Sicherheit im Bundesinnenministerium hatte es eine schwere Kommunikationspanne gegeben. Da der Mann aus dem Bundesamt dafür primär verantwortlich war, hätte Maihofer allen Grund gehabt, ihn zu „feuern“. Intern ließ er durchblicken, dass er dies wohl hätte tun müssen (wobei es sich pikanterweise um einen Vertrauten Nollaus handelte). Er entließ ihn jedoch nicht, und als die Affäre publik wurde, stellte er sich öffentlich sofort und uneingeschränkt vor „seine Leute“. Seine ersten Erklärungen klangen sogar so, als sei er von vornherein einbezogen gewesen, denn er wollte den Eindruck vermeiden, dass er die Verantwortung auf Andere abzuschieben suche. Immerhin hatte er seinem Staatssekretär bereits im Dezember 1975 erklärt, nun sei „das Äußerste“ notwendig, um die Beziehungen Traubes zur Terrorismus-Szene rasch aufzuklären; daher verlor die Frage der nachträglichen Billigung in seinen Augen ihr Gewicht. Die Affäre schlug so hohe Wellen, dass eine Regierungserklärung im Bundestag erforderlich wurde. Maihofer legte darin seine Sicht der Dinge dar und resümierte: Den Grundsatz „Im Zweifel für die Freiheit“, den er in allen Regelfällen vertrete, habe er in diesem „äußersten Grenzfall“ nicht gelten lassen können. Zugleich bestätigte er nun jedoch ausdrücklich die Unschuld des Observierten: Es bestünden „gegen Herrn Dr. Traube keine Verdachtsmomente mehr“. Sprecher der Regierungsfraktionen unterstützten den Minister – jedoch mühsam und eher halbherzig. Der Tenor lautete, man halte die Aktion im Blick auf ihren „absoluten Ausnahmecharakter“ für „vertretbar“. Einzelne FDP-Abgeordnete schlossen sich dieser Auffassung allerdings nicht an, sondern gaben zu Protokoll, der Lauschangriff sei rechtswidrig gewesen. Noch viel aufgebrachter reagierte die linksintellektuelle Szene der Republik. Sie akzeptierte den Minister nun nicht mehr als einen der ihren, sondern behandelte ihn wie einen Abtrünnigen – als wäre er eine leibhaftige Bestätigung ihrer „tief gehenden Furcht vor einer autoritären Verselbständigung des Staates“.35 Mitglieder des PEN-Zentrums, dem Maihofer seit 1971 angehörte, bereiteten einen Ausschlussantrag vor, dem Maihofer mit einer Austrittserklärung zuvorkam. Die Humanistische Union stieß ihn aus ihren Reihen aus. Bei den Linksliberalen, die ihn politisch bislang entscheidend getragen hatten, geriet er in Misskredit. „Ein Idol ist zerstört“, so fasste ein kundiger Beobachter die Zeichen des Reputationsverlusts zusammen, fügte freilich hinzu, „daß viele Kritiker des Ministers den Mund nicht nur aus Sorge um den Rechtsstaat so voll nehmen. Bei Verbrennungen bedeutender Politiker stellt sich immer ein Heer von politischen Opportunisten ein, die sich am Scheiterhaufen die Füße wärmen.“ Sein Befund, dass die Koalition sich nur in „mühsamer Solidarität“ um ihn gruppiere, traf zu. Ebenso die Prognose: „Er ist, wenn nicht ein Wunder geschieht, zur Strecke gebracht. Es kann Halali geblasen werden.“36 35
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Diese Furcht diagnostizieren (ohne Bezug auf Maihofer) Geppert, Dominik und Hacke, Jens: Einleitung, in: Dies. (Hg.): Streit um den Staat. Intellektuelle Debatten in der Bundesrepublik 1960–1980, Göttingen 2008, S. 9–22, hier S. 9. Zundel, Rolf: Maihofer – ein Idol ist zerstört. Nur die Koalitions-Solidarität rettet ihn, in: Die Zeit vom 18. 3. 1977.
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Einige Monate später, im Herbst 1977, erreichte der Terrorismus seinen Gipfelpunkt. Um die RAF-Häftlinge in Stammheim freizupressen, wurde im September Hanns Martin Schleyer entführt, dann im Oktober die LufthansaMaschine „Landshut“. Damit waren 86 Passagiere und fünf Besatzungsmitglieder als Geiseln in der Hand von Terroristen. In den für das Krisenmanagement der Bundesregierung geschaffenen Gremien der „Kleinen Lage“ und des „Großen Krisenstabs“ war Maihofer unermüdlich tätig, ohne dass sich bisher – mangels Quellenzugangs – viel Genaues darüber sagen ließe. Die Vorstellung, dass er dort „orientiert an einem autoritären Staatsverständnis“ agiert habe,37 ist jedoch sehr unwahrscheinlich und durch nichts zu belegen. Eher dürfte die Beobachtung Richard von Weizsäckers zutreffen, wonach „niemand“ sich damals „mehr abverlangt“ habe „im Kampf um das Leben von Hanns Martin Schleyer und um den Schutz der Bürger als Maihofer“.38 Er selbst hat seinen riskantesten und wichtigsten Beitrag darin gesehen, dass er den Leiter der GSG 9 angewiesen habe, „ein Flugzeug zu chartern und hinter dieser entführten Lufthansa-Maschine herzufliegen“ und wo immer sie lande, „sich bereit zu halten, den Angriff zu wagen“. Natürlich wusste er, dass dies zu einem Debakel führen konnte. Daher bezeichnete er es als eine zentrale Erfahrung seiner politischen Karriere, dass es Situationen gibt, in denen man „für alles, was man eigentlich nicht verantworten kann, das Risiko tragen und die Verantwortung übernehmen“ muss. Und in denen sich die eigentlich unbeantwortbare Frage stellt: „Was heißt in einer solchen Situation Liberalität?“39 Bekanntlich gelang es, die Passagiere in Mogadischu zu befreien, wohingegen Schleyer ermordet wurde. Fatalerweise war bei der Fahndung nach seinem Versteck eine heiße Spur unbeachtet geblieben. Ein Untersuchungsbericht klärte die Verkettung von Umständen, die zu dieser Panne geführt hatte, und übte Kritik an einigen Aspekten der Gesamtkoordination der beteiligten Institutionen. Diesen Bericht nahm Maihofer zum Anlass, um im Juni 1978 seinen Rücktritt zu erklären. Die Erwartung, dass andere – wie der nordrhein-westfälische Innenminister Burkhard Hirsch (FDP) – im Blick auf ihren eigenen Verantwortungsbereich ebenfalls zurücktreten würden, erfüllte sich nicht. Maihofers Rücktritt ist jedoch nicht nur in dem bisher geschilderten Zusammenhang zu sehen, sondern auch vor dem Hintergrund eines Konstellationswandels, der sich in seiner Partei, in der Koalition und in der politischen Großwetterlage seit längerem angebahnt hatte.40 In der Partei verlor Maihofer mit dem frühen Tod des Generalsekretärs Karl-Hermann Flach (1973) und dem Wechsel 37
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Weinhauer, Klaus: Terrorismus in der Bundesrepublik der Siebzigerjahre. Aspekte einer Sozial- und Kulturgeschichte der Inneren Sicherheit, in: Archiv für Sozialgeschichte 24 (2004), S. 219–242, hier S. 237. Weizsäcker, Richard von: Ein Mann wie Maihofer, in: Allgemeine Zeitung Mainz vom 10./11. 6. 1978. Kirste, Stephan und Sprenger Gerhard (Hg.): Menschliche Existenz und Würde im Rechtsstaat. Ergebnisse eines Kolloquiums für und mit Werner Maihofer aus Anlass seines 90. Geburtstages, Berlin 2010, S. 92 f. Einige Hinweise bei Schulz, Frauke: Werner Maihofer – im Zweifel für die Freiheit, in: Lorenz, Robert und Micus, Matthias (Hg.): Unkonventionelle Politiker-Karrieren in der Parteiendemokratie, Wiesbaden 2009, S. 61–80.
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von Scheel zu Genscher im Parteivorsitz (1974) zwei Unterstützer. Als Meister in der Kunst, „Nähe und Distanz der FDP zu den beiden großen Parteien nach taktischem Kalkül zu variieren“41 machte Genscher kein Hehl daraus, dass er Maihofers Vision eines „historischen Bündnisses“ mit der Sozialdemokratie ablehnte; sogar der Begriff „sozialliberal“ bereitete ihm daher „Probleme“.42 Dass Maihofers Rückhalt in der Partei zu schwinden begann, deutete sich 1974 auch bei einer Kampfabstimmung über das Amt des stellvertretenden Parteivorsitzenden an: Er unterlag, wenn auch nur knapp, dem Kandidaten des wirtschaftsliberalen Flügels, Hans Friderichs. Die Rivalität setzte sich fort, als 1975 zwei Programmkommissionen ihre Arbeit aufnahmen: eine „Wirtschaftskommission“ unter Friderichs und eine „Perspektivkommission“ unter Maihofer. Der Kompromiss, den ein Parteitag in Kiel 1977 schnürte, ließ vom Reform-Impetus der Freiburger Thesen kaum noch einen Hauch verspüren.43 Anders als 1971 in Freiburg war 1977 in Kiel nicht mehr Maihofer, sondern Otto Graf Lambsdorff der Star des Parteitags. Auch der Kanzler-Wechsel von Brandt zu Schmidt schwächte Maihofers Position. Dies gilt sowohl für das persönliche Verhältnis als auch – und vor allem – für die Schwerpunkte der Regierungs-Agenda. Brandt und Maihofer schätzten sich wechselseitig sehr. Dass Maihofer bei der Verabschiedung Brandts aus dem Kanzleramt mit einer schwarzen Krawatte erschien, ist dafür ebenso bezeichnend wie Brandts lebhaftes Interesse an Maihofers Idee eines „historischen Bündnisses“. Dagegen war das Verhältnis zwischen Schmidt und Maihofer beiderseits eher kühl und distanziert. Schmidt vermisste bei Maihofer den energischen Stil des straffen Organisators, Maihofer bei Schmidt jeglichen gesellschaftspolitischen Reform-Elan. Zu den Unterschieden im Persönlichkeitsprofil traten also gravierende Divergenzen im politischen Erwartungshorizont. Im Zeichen der Ölpreiskrise und des Wandels der gesamtwirtschaftlichen Rahmenbedingungen steuerte Schmidt die Regierungstätigkeit um: An die Stelle ambitionierter Reformvorhaben trat eine pragmatische Stabilisierungspolitik unter krisenhaften Bedingungen. Dass kaum noch etwas im Sinne der Freiburger Thesen zu bewirken war, bekam Maihofer rasch zu spüren: Das Mitbestimmungsgesetz blieb hinter seinen Erwartungen zurück; die überbetriebliche Ertragsbeteiligung, für die er sich so schwungvoll eingesetzt hatte, blieb völlig stecken, und was die Bodenrechtsreform betrifft, so geschah nichts, was in seinen Augen diesen Namen wirklich verdiente. „Maihofer hätte sich wundervoll in das erste Kabinett Willy Brandts eingefügt, das dem reformerischen Aufbruch der Republik entsprach“, erkannten zeitgenössische Kommentatoren.44 So gesehen personifizierte er in der Regierung Schmidt fast schon eine versunkene Zeit. Maihofers Rücktritt ist somit als Schlusspunkt eines Prozesses zu verstehen, der ihn mehr und mehr ins politische Abseits rückte. Die Räson der Regierung 41 42 43 44
Kielmansegg, Peter: Nach der Katastrophe. Eine Geschichte des geteilten Deutschlands, Berlin 2000, S. 301. Genscher, Hans-Dietrich: Erinnerungen, Berlin 1995, S. 446. Jäger, Wolfgang und Link, Werner: Republik im Wandel 1974–1982. Die Ära Schmidt, Stuttgart und Mannheim 1987, S. 28. Die Zeit vom 28. 2. 1975.
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Schmidt bot für seine eigentlichen Reformziele kaum noch Spielraum. Die Parteilinke rückte im Zuge seiner Anti-Terrorismus-Politik von ihm ab; das Vertrauen des Wirtschaftsflügels hatte er ohnehin nie besessen. Und das Gespann Genscher/Lambsdorff fasste bereits die Möglichkeit eines Koalitionswechsels ins Auge, wobei der Vordenker des sozial-liberalen Bündnisses nur stören konnte. Der Rücktritt ist vor diesem gesamten Hintergrund zu sehen. Den Ausschlag gab jedoch der Entschluss, die politische Verantwortung für eine Fahndungspanne zu übernehmen, ohne die Hanns Martin Schleyer womöglich überlebt hätte. In der Abschiedsrede vor den Mitarbeitern seines Ministeriums ließ er anklingen, dass er „den Widerspruch und Widerstreit aus den eigenen Reihen der Koalition und Fraktion“ nur dank des „spürbaren Rückhalts bei den Bürgern draußen“ bis an „eine äußerste Grenze tragen und ertragen“ konnte, und schloss mit der Maxime: „Jeder kann sein Bestes nur leisten, wenn er sich selbst treu bleibt!“45
Der „wiedererstandene Professor“ 1970 hatte Maihofer einen Ruf auf den Lehrstuhl für Strafrecht und Strafprozessrecht, Rechtsphilosophie und Rechtssoziologie an der Universität Bielefeld angenommen und dort auch am Aufbau des Zentrums für interdisziplinäre Forschung mitgewirkt. Nach den Ministerjahren kehrte er im Herbst 1978 nach Bielefeld zurück – als „wiedererstandener Professor“, wie er sich nun heiter und gelöst bezeichnete. Vier Jahre später wechselte er nach Florenz, wo er in der Nachfolge des Niederländers Max Kohnstamm die Präsidentschaft des Europäischen Hochschulinstituts übernahm (1982–1988). Diese Zeit, in der er gesamteuropäische Konferenzen und Projekte in Gang bringen konnte, empfand Maihofer rückblickend als „die schönste Zeit meines akademischen und politischen Lebens überhaupt“.46 Auf Maihofers Wirken in Bielefeld und Florenz kann an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden. Doch sei eine Frage hervorgehoben, die ihn nun besonders beschäftigte: Wie kann die Parteiendemokratie zur „künftigen Bürgerdemokratie“ weiterentwickelt werden? Darunter verstand er die Ergänzung repräsentativer Formen durch partizipative Muster. Solche Erwägungen bezog er auch in das „Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland“ ein, das er mit Ernst Benda und Hans-Jochen Vogel 1983 herausgab. Aus seiner Feder stammen die voluminösen Abschnitte „Prinzipien freiheitlicher Demokratie“ und „Kulturelle Aufgaben des modernen Staates“ sowie eine kritische Gesamtbetrachtung aller Beiträge des Bandes. Damit legte er gleichsam die Summe seines staats- und verfassungsrechtlichen Denkens vor, auch seiner praktischen Erfahrungen. Wenn man sein programmatisches Vermächtnis sucht – hier findet man es.47 45 46 47
BGS. Zeitschrift des Bundesgrenzschutzes 5 (1978) Nr. 6, S. 2. Werner Maihofer, in: Hilgendorf, Eric (Hg.): Die deutschsprachige Strafrechtswissenschaft in Selbstdarstellungen, Berlin 2010, S. 391–410, hier S. 410. Benda, Ernst, Maihofer, Werner und Vogel, Hans-Jochen Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Berlin und New York 1983, 2. erweiterte Aufl. 1994.
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Sein Bundestagsmandat behielt Maihofer bis 1980 bei. Als der Bundestag im März 1979 über die Verjährung von Mord beriet, trat Maihofer mit einem denkwürdigen Debattenbeitrag hervor. Er wandte sich dagegen, die Mordverjährung generell aufzuheben und plädierte dafür, die Unverjährbarkeit ausschließlich für Völkermord vorzusehen. Denn die „Verjährbarkeit auch schwerster Taten unterhalb der Schwelle des Völkermords“ sei „eine der besten Errungenschaften unseres Rechtsstaates“. Einem erregten Zwischenrufer antwortete er: „Über Mord wächst irgendwann einmal Gras, und zwar im Regelfall schon nach einer Generation. Über Auschwitz aber wächst nie Gras, noch nicht einmal nach 100 Generationen“.48 Die Parlamentsmehrheit folgte ihm jedoch nicht, sondern ebnete den Unterschied ein und hob jede Mordverjährung auf. Nach 1980 zog sich Maihofer von der politischen Bühne so gut wie ganz zurück. Er engagierte sich jedoch weiterhin im Kuratorium der Friedrich-Naumann-Stiftung und wirkte nochmals mit, als sich die FDP 1997 ein neues Programm gab. Aus Anlass seines 90. Geburtstags trafen Rechtsphilosophen, Straf- und Verfassungsrechtler zu einem Kolloquium zusammen und erlebten staunend die Frische seiner Kommentare. Doch wenige Tage vor seinem 91. Geburtstag starb Werner Maihofer am 6. Oktober 2009 in Bad Homburg. Die Familie wählte für die Todesanzeige einen Leitspruch, den sich Werner Maihofer aus Goethes Wilhelm Meister zu eigen gemacht und auf dem Tisch neben seinem Lehnsessel verwahrt hatte: „Des Menschen größtes Verdienst bleibt wohl, wenn er die Umstände soviel als möglich bestimmt und sich so wenig als möglich von ihnen bestimmen lässt.“
Weiterführende Literatur Kaufmann, Arthur u.a. (Hg.): Rechtsstaat und menschliche Würde. Festschrift für Werner Maihofer zum 70. Geburtstag, Frankfurt a.M. 1988. Kirste, Stephan und Sprenger, Gerhard (Hg.): Menschliche Existenz und Würde im Rechtsstaat. Ergebnisse eines Kolloquiums für und mit Werner Maihofer aus Anlass seines 90. Geburtstages, Berlin 2010.
Hinweise zu den Quellen Ein Text von Maihofer über sein eigenes Wirken findet sich in dem von Eric Hilgendorf herausgegebenen Band „Die deutschsprachige Strafrechtswissenschaft in Selbstdarstellungen“ (Berlin 2010, S. 391–410). Die Akten zu Maihofers Amtsführung als Bundesminister befinden sich im Bundesarchiv Koblenz (Bundesministerien für besondere Aufgaben, B 135, Bundesministerium des Innern, B 106), die Akten seiner Tätigkeit in Parteifunktionen der FDP im Archiv des Deutschen Liberalismus, Gummersbach. Frau Bettina Schmidt-Pinnekamp, Groß Köris, und Frau Prof. Dr. Andrea Maihofer, Basel, danke ich sehr herzlich für hilfreiche Hinweise und vielfältige Auskünfte.
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Verhandlungen des Deutschen Bundestages, 8. Wahlperiode, 145. Sitzung, S. 11 596– 11 601, hier S. 11 599 f.
Horst Möller
Machtpolitik im Schafspelz – Walter Scheel (Jg. 1919) als Parteipolitiker und Staatsmann Einleitung Selten ist die Zwienatur eines Politikers so oft verkannt worden wie im Falle Walter Scheels. Nachdem der Düsseldorfer Sangesbruder mit seinem Lied „Hoch auf dem gelben Wagen“ als Sänger Popularität erlangt hatte, wurden seine rheinische Frohnatur, seine Konzilianz und Eleganz zu Markenzeichen. Der Liebhaber (und Kenner) von Champagner und Havanna-Zigarren, der sich ebenso ungezwungen wie gern in prominenter Gesellschaft, auch der Künstler, Journalisten und des „Geldadels“ bewegte, Golf spielte, Leichtigkeit ausstrahlte und humorvoll erschien, war allzu offensichtlich ein Bonvivant und entsprach keineswegs den gängigen Stereotypen, die in der Öffentlichkeit über Politiker die Regel waren. Weniger bekannt war Walter Scheels Liebe zur klassischen Musik, zur Kunst und zur schönen Landschaft. Der Träger des „Ordens wider den tierischen Ernst“ des Aachener Karnevals – übrigens der einzigen Karnevalsveranstaltung, an der er je teilgenommen hat, weil er laute Veranstaltungen nicht mochte – schien mehr der Heiterkeit als dem seriösen Ernst und der harten politischen Arbeit zugeneigt. Das ihm aufgeklebte Etikett „Bruder Lustig“ störte ihn nicht, wie er später bekannte: „Als sauertöpfisch zu gelten wäre schlimmer. Denn Miesmacher haben in der Politik noch nie etwas bewegt“1 . So attestierte man ihm allenfalls, durch seine gewinnende Art auf Menschen zu- und einzugehen, ein geborener Diplomat zu sein. Dies ist er tatsächlich, hat er doch als Außenminister und später als Bundespräsident in verbindlich-freundlicher Form unbeirrt und fest Sachpositionen vertreten. Scheel hat stets die Notwendigkeit harter politischer Auseinandersetzungen in der Demokratie betont, zugleich aber dabei auf einen sachlichen Ton gedrängt. Er „setzt auf die Macht der Vernunft. Er wirbt für Toleranz“ schrieb Helmut Kohl zu seinem 65. Geburtstag.2 Scheel vermied es, politische Gegner zu verletzen und bemühte sich auch über Partei- und Koalitionsgrenzen hinweg um ein persönlich gutes Verhältnis zu Politikern der Gegenseite, so etwa zu dem später mit ihm befreundeten Rainer Barzel oder zu Richard Stücklen. Auch als Bundespräsident warnte er davor, notwendige politische Auseinandersetzungen durch provokative Reizwörter wie etwa „soziale Demontage“ zu emotionalisieren. Schärfe vermeiden bedeutete für Scheel jedoch nicht mangelnder Biss. Als Kurt Georg Kiesinger einmal über das neue, durch Punkte angereicherte F.D.P.-Logo 1 2
Scheel, Walter (im Gespräch mit Jürgen Engert): Erinnerungen und Einsichten, Stuttgart und Leipzig 2004, S. 227. Genscher, Hans-Dietrich (Hg.): Heiterkeit und Härte. Walter Scheel in seinen Reden und im Urteil von Zeitgenossen, Stuttgart 1984, S. 15.
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spottete, erwiderte Scheel trocken, er habe ja auch nichts dagegen, wenn die CDU hinter ihre Buchstaben drei Kreuze setze.
Aufstieg aus „einfachen Verhältnissen“ Schon die äußeren Marksteine der politischen Laufbahn von Walter Scheel zeigen, dass er nicht allein ein von der Pike auf gelernter Profi ist, sondern beweisen eine außergewöhnliche politische Durchsetzungskraft, die die Entwicklung der Bundesrepublik mehr als einmal entscheidend mitgeprägt hat. Eine politische Kraftnatur wie Helmut Kohl hat Scheel einen „eisenharten Willen“ bescheinigt. Hinzufügen muss man, dass der später immer wieder von Schicksalsschlägen getroffene Walter Scheel, der durch den Krebstod sowohl seiner ersten als auch seiner zweiten Frau verwitwete, der durch eine äußerst schmerzhafte, auch während seiner Amtszeiten wiederholt auftretende Nierensteinerkrankung geplagt wurde, Lebenswillen und äußerste Selbstdisziplin bewies. Bereits Walter Scheels Lebensweg vor der politischen Laufbahn zeigt Zielstrebigkeit und Aufstiegswillen, machte ihn, wie Arnulf Baring bemerkt hat, prototypisch für die Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Scheel ist stolz darauf, sich seine Erfolge selbst erarbeitet zu haben und an jeder der entscheidenden Wegmarken selbst entschieden zu haben, statt sich von anderen zu Entscheidungen drängen zu lassen. Als Sohn eines Stellmachers am 8. Juli 1919 bei Solingen geboren, bestand Scheel 1938 das Abitur, was seinerzeit für sich genommen bereits einen sozialen Aufstieg darstellte, absolvierte nach eineinhalb Jahren Lehre die Prüfung als Bankkaufmann und wollte danach studieren, doch ereilte ihn das Schicksal aller Jahrgangsgenossen: Er wurde im Oktober 1939 zur Wehrmacht eingezogen und musste dann bis zum Kriegsende 1945 fünfeinhalb Jahre Kriegsdienst leisten. Als Oberleutnant der Luftwaffe und Nachtflieger beendete er seine gefährliche militärische Laufbahn und trat 1945 bis 1953 als Geschäftsführer in die erheblich zerstörte Stahlwarenfabrik seines Schwiegervaters ein, deren Wiederaufbau er erfolgreich betrieb. Danach wurde er selbstständiger Wirtschaftsberater und gründete zwei ebenfalls gut reüssierende mittelständische Unternehmen. Auf diese Weise erlangte er wirtschaftliche Selbstständigkeit und organisatorische Erfahrung.
Als „Jungtürke“ in der nordrhein-westfälischen FDP Seine politische Laufbahn war keine Verlegenheitsentscheidung, sondern entsprang dem praktischen politischen Gestaltungswillen eines liberalen Wirtschaftsbürgers, nicht aber theoretischen Reflexionen über den Liberalismus, wie das für viele derjenigen galt, die sich wie etwa – von Scheel gefördert – Ralf Dahrendorf seit 1968 der FDP anschlossen. Allerdings kennt auch Scheel die Grundwerke des Liberalismus und besitzt in seiner privaten Bibliothek beispielsweise die 1. Auflage des berühmten Staatslexikons von Rotteck und Welcker.
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Seit 1946 Mitglied der FDP, wurde Scheel 1948 zum Stadtverordneten in Solingen gewählt, 1950 wurde er Landtagsabgeordneter in Nordrhein-Westfalen, 1952 Landesschatzmeister seiner Partei und 1953 Mitglied des Deutschen Bundestags, dem er dann bis 1974 angehörte. 1955 entsandte ihn seine Fraktion zudem in das Europa-Parlament, wo er 1958 Vorsitzender des Ausschusses für Entwicklungshilfe wurde. Diese Jahrzehnte währende parlamentarische Laufbahn beruhte auf der Überzeugung des Angehörigen der Kriegsgeneration, verantwortlich am Wiederaufbau eines demokratisch-parlamentarischen Rechtsstaats und der sozialen Marktwirtschaft mitwirken zu müssen. Sein parlamentarisches Engagement entsprach aber auch dem traditionellen Selbstverständnis eines bürgerlichen Liberalen, den gesellschaftliches Verantwortungsgefühl leitete, was persönliche Interessen aber nicht aus-, sondern einschloss. Walter Scheel gewann in den ersten beiden Jahrzehnten auf kommunaler, Länder-, Bundes- und europäischer Ebene vielfältige praktische Erfahrungen mit dem die politische Entscheidungsbildung und politische Karrieren prägenden Subsidiaritätsprinzip. Und nicht zuletzt erfuhr er die praktische Politik aus der doppelten und kontradiktorischen Perspektive von Koalitions- sowie Oppositionsfraktionen. Dazu gehörte jedoch auch, dass er die Differenz zwischen der von Streit geprägten Außenansicht der Politik und der vielfältigen Kooperation im parlamentarischen Alltag erkannte, die seinem Naturell entgegenkam. Den ersten politischen Paukenschlag seiner Laufbahn bedeutete der Sturz des nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Karl Arnold und der CDUgeführten Regierung am 21. Februar 1956: Damals zählte Scheel neben Wolfgang Döring und Willi Weyer zu den führenden Vertretern der FDP-Fronde gegen die Landesregierung – den sog. Jungtürken. Diese innerparteiliche Opposition kann als linksliberale Wendung gegenüber dem traditionell – etwa im Vergleich zum starken württembergisch-badischen Landesverband – nationalliberalen FDPFlügel in NRW gewertet werden, der um den Landesvorsitzenden Friedrich Middelhauve diesen Landesverband dominierte3. Über diese Rechtstendenz der nordrhein-westfälischen FDP mokierte sich Theodor Heuss am 7. Februar 1956 in seinem Brief an Toni Stolper: „Tolle Wirrnis: in Nordrhein-Westfalen wollen die Nazi-FDP mit den Soz.dem. und Zentrum den CDU-Arnold stürzen, der einen ausgezeichneten (protestantischen) Kultusminister hat; dieser Gruppe scheint das Außenbild, das sie damit schaffen, ziemlich wurst zu sein“4 . Doch konnte Heuss hiermit kaum die Nationalliberalen in der FDP meinen, wollten diese doch den Kurswechsel nicht bzw. nur zeitweise wegen einer Kontroverse mit der BundesCDU über das Wahlrecht. Die „Jungtürken“ setzten sich schließlich im Machtkampf gegen Middelhauve durch und vollzogen damit einen Generations- und zugleich einen Koalitionswechsel. Die neue Führungsriege forcierte auch die Deutschlandpolitik der FDP: Sichtbar wurde dies u.a. in den deutsch-deutschen Gesprächen, die Erich Mende 3 4
Vgl. Buchna, Kristian: Nationale Sammlung an Rhein und Ruhr. Friedrich Middelhauve und die nordrhein-westfälische FDP 1945–1953, München 2010. Heuss, Theodor: Tagebuchbriefe 1955/1963. Eine Auswahl, hg. und eingeleitet von Eberhard Pikart, Stuttgart und Tübingen 4 1970, S. 143.
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und Walter Scheel zunächst im Sommer 1956 in Garmisch-Partenkirchen und dann im Oktober 1956 in Weimar mit der LDPD führten. Wenngleich Scheel in anderen Zusammenhängen auch an Verhandlungen mit dem BHE beteiligt und somit nicht einseitig orientiert war, gehörte es doch zu den Konsequenzen des Generationswechsels im stärksten Landesverband der FDP, eine Zusammenarbeit mit der SPD anzuvisieren: Die Jungtürken, deren drei führende Mitglieder alle 1919 geboren wurden, also Mitte Dreißig waren, dachten in die Zukunft und fürchteten sich vor der wachsenden Abhängigkeit ihrer Partei von der CDU. Nach ihrer Einschätzung hätte eine solche Entwicklung die FDP in die politische Bedeutungslosigkeit geführt. Da Konrad Adenauer den Vorstoß zur Änderung des Bundestagswahlrechts 1956 (das sog. Grabenwahlrecht) zurücknahm, sah jedoch eine starke Gruppe der Bundestagsfraktion keinen Anlass mehr für einen Koalitionswechsel. Willi Weyer wies diese Meinung der bisherigen FDP-Führung entschieden zurück, als er im Bundesvorstand am 3. Februar 1956 erklärte: Die FDP habe Anlass, der CDU keinen Glauben mehr zu schenken, die CDU betreibe ein Doppelspiel, Ministerpräsident Arnold habe bereits Sondierungsgespräche mit der SPD geführt: „Das Ziel der CDU war die Integration der FDP, das erstrebte Satellitenverhältnis sollte legitimiert werden. Nicht nur ein Zweiparteiensystem droht, nein, ein Einparteiensystem. Wir ringen aber um ein Dreiparteiensystem, und zwar um eines, wo nicht der eine Partner abgestempelt ist, dass er nie mit dem anderen gehen darf. Unser Ziel ist die unabhängige FDP. Wir haben in Nordrhein-Westfalen gegenüber der SPD einmal einen völlig anderen Standpunkt vertreten, und wir haben aus diesem Fehler gelernt. Wir haben eingesehen, dass eine zu große Festlegung nach einer Seite falsch ist.“5 . Auch wenn Scheel selbst diese Zielsetzung seinerzeit öffentlich nicht so formulierte, teilten er und Döring – in diesem Trio die treibende Kraft6 – Weyers Einschätzung durchaus: Hier lagen Indizien für Scheels spätere Koalitionspolitik, die in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre auf Bundesebene eine Zusammenarbeit mit der SPD als sinnvoll erscheinen ließ: Das Misstrauensvotum gegen Ministerpräsident Karl Arnold 1956 und die so herbeigeführte sozialliberale Koalition unter Johannes Steinhoff führte zwar nicht zwangsläufig zur Entscheidung von 1969. Aber es handelt sich eben doch um fortwirkende Denkmuster und eine prinzipielle Alternative zu einer christlich-liberalen Regierung. Nicht unähnlich war 1956 und 1969 auch die Beurteilungsgrundlage: Mit dem zum sozialpolitischen Flügel der CDU gehörigen Arnold erschien eine Große Koalition mit der SPD durchaus realistisch, hatte er doch schon bei der Regierungsbildung auf Bundesebene 1949 in diese Richtung argumentiert, sich damit
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FDP-Bundesvorstand. Die Liberalen unter dem Vorsitz von Thomas Dehler und Reinhold Maier. Sitzungsprotokolle 1954–1960. Bearb. von Udo Wengst, Düsseldorf 1991, S. 139. Vgl. dazu Wengst, Udo: Einleitung, in: FDP-Bundesvorstand. Die Liberalen unter dem Vorsitz von Thomas Dehler und Reinhold Maier. Sitzungsprotokolle 1954–1960, Düsseldorf 1991, S. XII, XXIII.
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aber nicht gegen Adenauer durchsetzen können7. Die Große Koalition musste aber Mitte der 1950er wie Mitte der 1960er Jahre für die FDP ein Schreckgespenst sein. Anders als Weyer, der als Landesvorsitzender dem herausgedrängten Middelhauve folgte und Finanzminister sowie Stellvertretender Ministerpräsident in der sozialliberalen Regierung in Düsseldorf wurde, sah Scheel 1956 seine politische Zukunft nicht in der Landespolitik, war er doch bereits Bundestagsabgeordneter. Sein weiterer Aufstieg führte in Bonn zunächst trotz der Fraktionsspaltung der FDP8 weiterhin über die Zusammenarbeit mit der CDU – auch darin wird deutlich, dass die ,Jungtürken‘ sich zur Wahrung der Selbständigkeit ihrer Partei beide Koalitionsoptionen offen halten wollten und die Entscheidung von 1956 in Düsseldorf pragmatisch und machtpolitisch begründet war und nicht etwa in ideologischer Nähe zur SPD lag, die zu diesem Zeitpunkt außen-, wirtschafts- und gesellschaftspolitisch auch noch einen weiten Weg vor sich hatte. Scheel war zu keiner Zeit ein Ideologe. Auch zählten zu denjenigen, die den Generationswechsel in der FDP betrieben hatten, eben nicht allein Sozialliberale, sondern auch Liberalkonservative wie der spätere Parteivorsitzende Erich Mende. Obwohl Scheel, anders als Weyer also nicht ins Düsseldorfer Kabinett wollte und auch nicht wie Döring, der nach der neuen Koalitionsbildung 1956 Fraktionsvorsitzender der FDP im Landtag wurde, nicht im Zentrum der künftigen Landespolitik stand, war er doch an allen entscheidenden Weichenstellungen beteiligt. Scheels Wohnung in Düsseldorf wurde während dieser Tage „so etwas wie ein konspirativer Treff“ der FDP. Scheel wurde Mitglied der Verhandlungsdelegation mit der SPD9 .
Als Abgeordneter und erster Minister für Entwicklungshilfe in Bonn Es blieb nicht das letzte Mal, dass Walter Scheel am Sturz einer Regierung wesentlich beteiligt war und damit politische Weichen für die Zukunft stellte. Dies war auch beim Bruch der christlich-liberalen Koalition 1966 der Fall, als die vier FDPBundesminister Mende, Bucher, Dahlgrün und Scheel – nach dessen Initiative – am 27. Oktober auf Beschluss der FDP-Bundestagsfraktion zurücktraten, weil die CDU/CSU-Fraktion die Steuern erhöhen wollte. Diese offizielle Begründung war indes nur die halbe Wahrheit, da die FDP schon seit längerem auf Profilierung gegenüber dem liberalen CDU-Bundeskanzler Ludwig Erhard bedacht und aus Furcht, zum bloßen Anhängsel der Union zu werden, zu einem schwierigen 7
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Vgl. Auftakt zur Ära Adenauer. Koalitionsverhandlungen und Regierungsbildung 1949. Bearb. von Udo Wengst, Düsseldorf 1985 sowie Schwarz, Hans-Peter: Adenauer. Der Aufstieg: 1876–1952, Stuttgart 1986, S. 619 ff. Vgl. Wengst, Udo: Thomas Dehler 1897–1967, München 1997, S. 260 ff., 279 ff. Wortmann, Michael: Der Sturz der Regierung Arnold, in: Karl Arnold – NordrheinWestfalens Ministerpräsident 1947 bis 1956, hg. vom Präsidenten des Landtags Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf 2001, S. 139–169, speziell 158; Düding, Dieter: Parlamentarismus in Nordrhein-Westfalen 1946–1980, Düsseldorf 2008, S. 378 f.
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Koalitionspartner geworden war.10 Aus diesem Grund kündigte die FDP schließlich die langjährige Koalition mit der CDU auf. Allerdings trugen die Liberalen lediglich Mitverantwortung für das Ende der Koalition, war doch der größere Regierungspartner, die CDU/CSU, zerstritten und stellte durch Grabenkämpfe mehrerer miteinander konkurrierender Gegenkandidaten Erhards Kanzlerschaft in Frage, wobei Franz Josef Strauß eine treibende Kraft war. Strauß betrieb auch einen eindeutigen Konfrontationskurs gegenüber der FDP, die es seit der SpiegelAffäre abgelehnt hatte, ihn als Bundesminister zu akzeptieren. Gegen die FDP agierte auch Rainer Barzel, während Erhard und Mende nur einen begrenzten Konflikt unter Fortführung der Koalition wollten.11 Für die FDP drohte der von ihnen angepeilte Kompromiss zum Debakel zu werden, weil sie kurz vor zwei wichtigen Landtagswahlen damit wiederum als „Umfallerpartei“ attackiert worden wäre. Daher war die Fraktionsmehrheit entschieden gegen die Fortführung der Koalition. Es drohte eine erneute Parteispaltung. In dieser Situation handelte Scheel als einziger der FDP-Minister ebenso entschlossen wie schnell und trat zurück: Dieser Schritt setzte die anderen FDPMinister unter Zugzwang, worauf zunächst Erich Mende, dann die beiden anderen, Rolf Dahlgrün und Ewald Bucher, folgten. Zu diesem Zeitpunkt besaß Scheel bereits erhebliches Ansehen in der FDPFührung. Seine innerparteiliche Rolle hatte sich sukzessive verstärkt, seit er im April 1956 auf Vorschlag Thomas Dehlers gemeinsam mit Ewald Bucher und Wolfgang Mischnik in den Parteivorstand der FDP gewählt worden war. Scheels bundespolitisches Gewicht wuchs weiter, nachdem er 1961 Bundesminister für Entwicklungshilfe im letzten Kabinett Adenauer geworden war, damals mit 42 Jahren der jüngste Bundesminister. Er war der erste Entwicklungsminister der Bundesrepublik und hatte bis zu seinem Rücktritt 1966 wesentlichen Anteil am Auf- und Ausbau dieses Ressorts, auch wenn er viele selbst gesteckte Ziele aufgrund vor allem haushaltspolitischer Widerstände nicht erreichte. Seine Berufung durch Adenauer erfolgte übrigens gegen die Bedenken Ludwig Erhards12, vermutlich weil die Entwicklungshilfe bis dahin im Wirtschaftsressort in Kooperation mit dem Auswärtigen Amt betreut worden war. Im Kabinett Adenauer wurde Scheel zudem Sprecher der (mit ihm) fünf FDPMinister für allgemeine Koalitionsfragen, und das hieß, gegenüber dem Bundeskanzler FDP-Interessen zu vertreten. Dies bedeutete Erfahrung mit der überlegenen Führungspersönlichkeit Adenauers, den Scheel zeitlebens hoch schätzte. Für die Lösung divergierender Positionen der Koalitionspartner habe Adenauer,
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Der Keim hierfür lag bereits im Wahlergebnis, weil die FDP bei der Bundestagswahl 1965 von 12,8% auf 9,5% zurückgefallen war und ein Teil der Wähler zur CDU zurückgekehrt war, was unter anderem auch auf das mit der FDP konkurrierende liberale Image des CDU-Bundeskanzlers zurückgeführt werden konnte. Vgl. Koerfer, Daniel: Die FDP in der Identitätskrise. Die Jahre 1966–1969 im Spiegel der Zeitschrift „liberal“, Stuttgart 1981, S. 20–36 sowie Hildebrand, Klaus: Von Erhard zur Großen Koalition 1963–1969, Stuttgart und Wiesbaden 1984, S. 218 ff., 231–240. Scheel, Walter (im Gespräch mit Jürgen Engert): Erinnerungen und Einsichten, Stuttgart und Leipzig 2004, S. 43 f.
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der virtuos im Umgang und ein genauer Kalkulierer gewesen sei, immer nur eine Minute gebraucht, Erhard dagegen später mindestens eine Woche13. Scheel, der als Vorsitzender des Ausschusses für Entwicklungspolitik des Europa-Parlaments und bei Afrika-Reisen Erfahrung gesammelt hatte, wurde der Protagonist der frühen deutschen Entwicklungspolitik und besaß Konzeption und Zukunftsperspektive14 . Er förderte nicht allein staatliche Politik, sondern auch privatwirtschaftliches Engagement, vor allem der deutschen Exportindustrie. Scheel wollte, wenngleich er dies nicht konkretisierte, Handlungsfelder identifizieren, in denen sich das deutsche Eigeninteresse mit dem der Entwicklungsländer kreuze, wie er im Bundestag am 10. April 1962 erklärte15. In den Folgejahren, stärker noch im Kabinett Erhard als zu Adenauers Zeiten, hatte Scheel immer wieder gegen Kürzungen seiner Haushaltsansätze zu kämpfen, wobei er sich persönlich in die Haushaltsverhandlungen einschaltete. Doch trotz Unterstützung von Außenminister Gerhard Schröder gelang es ihm nicht, im Bundestag seine finanziellen Vorstellungen durchzusetzen, wobei es auch zu persönlichen Querelen mit dem Vorsitzenden der CSU-Landesgruppe im Bundestag, Franz Josef Strauß, kam, den er in wiederholten Anläufen zu überzeugen versuchte16. Dabei scheute Strauß vor Brüskierungen des Koalitionspartners Scheel nicht zurück und beantwortete selbst persönliche Briefe Scheels monatelang nicht, bevor er seinen persönlichen Referenten schreiben ließ. Dieses Verhalten hätte selbst im Umgang mit Oppositionsabgeordneten als ausgesprochen rüde gegolten, umso mehr innerhalb einer Koalition. In seinen „Erinnerungen“ erwähnt Strauß Scheel überhaupt nicht, seine Ressentiments waren offensichtlich stark und spielten auch 1979 noch einmal eine Rolle. Scheel, dem auch die Unterstützung von Bundeskanzler Erhard fehlte, machte während der letzten Koalitionsjahre mit der Union unerfreuliche Erfahrungen: Gemessen an seinen Ansprüchen, vor allem aber an seinem umfassenden, an die Öffentlichkeit gerichteten Reformkonzept von 1965, erreichte er die eigenen Ziele nur partiell. Allerdings widerfuhr auch seinem Nachfolger in der Großen Koalition, Hans Jürgen Wischnewski, während der Haushaltsverhandlungen 1967 Vergleichbares. Scheels Versuch, wenigstens verwaltungsorganisatorisch und in bezug auf die unklaren Kompetenzabgrenzungen nach Bildung des Kabinetts Erhard einen Neuanfang zu erreichen, konnte er gegenüber dem Auswärtigem Amt etwas stärker, gegenüber dem Wirtschaftsministerium kaum durchsetzen17. Unterstützung erhielt er allerdings – wenn auch wirkungslos – aus der SPD-Fraktion. Doch sollte man solche Misserfolge für die Gesamtbilanz dieser fünf Ministerjahre nicht überschätzen: Walter Scheel besitzt das Verdienst, die Bildung des Entwicklungsministeriums durchgesetzt zu haben, in der Anfangszeit gegen viele Widerstände 13 14
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Scheel, Walter (im Gespräch mit Jürgen Engert): Erinnerungen und Einsichten, Stuttgart und Leipzig 2004, S. 44 ff. Vgl. Bohnet, Michael: Walter Scheel. Der erste Entwicklungsminister der Bundesrepublik Deutschland (1961–1966). Die Anfänge deutscher Entwicklungspolitik, Bonn 2009; Scheel, Walter: Neue Wege deutscher Entwicklungspolitik, Bonn 1966. Vgl. Hein, Bastian: Die Westdeutschen und die Dritte Welt, München 2006, S.38. Vgl. Hein, Bastian: Die Westdeutschen und die Dritte Welt, München 2006, S. 105 ff. u.ö. Hein, Bastian: Die Westdeutschen und die Dritte Welt, München 2006, S. 112 ff.
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Leitlinien entworfen, die praktische Arbeit begonnen und für die Zukunft ein weitgreifendes Reformkonzept für die Entwicklungshilfe entwickelt zu haben, die ihm, wie spätere Reden zeigen, auch als Bundespräsident ein Anliegen blieb. In seinem Konzept wurden ökonomische Eigen- und Fremdinteressen berücksichtigt und die Entwicklungspolitik in die deutsche Außenpolitik eingebettet, zum Beispiel hinsichtlich der Konkurrenz zu kommunistischen Staaten und der Beziehungen zur DDR. Schließlich hat die deutsche Entwicklungspolitik zum Ansehen der Bundesrepublik in der Dritten Welt beigetragen. Dass es in solchen Aufbauphasen nicht so sehr auf das detailorientierte Aktenstudium ankam, in dem weder Scheels Neigungen, noch seine Stärken lagen, entwertete seine aufs große Ganze abzielende Politik im Vergleich zum Politikstil von Nachfolgern wie Erhard Eppler, die mehr aufs Detail eingingen, nicht. Jedoch liegt hier ein grundsätzliches Problem der politischen Biographie Scheels: Da er kein Freund persönlicher Aktennotizen war, ist seine Spur nicht immer klar rekonstruierbar, das gilt auch für seine Zeit als Außenminister. Jedenfalls konnten seine Nachfolger als Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit, wie das Ministerium offiziell hieß, auf den von Scheel gelegten Fundamenten aufbauen. Eine von ihnen, Heidemarie Wieczorek-Zeul, würdigte seine Pionierleistung 2009 ausdrücklich und nannte ihn den „Gründungsvater“ der deutschen Entwicklungspolitik. Um mehr zu erreichen, hätte Scheel Mitte der 1960er Jahre gegenüber dem größeren Koalitionspartner CDU und CSU am längeren Hebel sitzen müssen. Dies aber war nicht der Fall – nicht zuletzt deshalb dürfte sich die Grundmaxime seiner parteipolitischen Orientierung, der FDP Handlungsoptionen zu eröffnen, verstärkt haben.
Architekt der sozialliberalen Koalition Die Chance für eine neue und eigenständige Rolle begann für die FDP paradoxerweise 1966 mit dem Gang in die Opposition, obwohl die kommenden Jahre für die Partei zu einer harten Bewährungsprobe wurden, die sie jedoch auch zur Sacharbeit am eigenen Profil nutzte. Welche Politik betrieb nun die FDP-Parteiführung am Ende dieser Phase, welche Rolle spielte Walter Scheel im Schlüsseljahr 1969? Würde die Partei die von ihm zielstrebig seit 1966 betriebene politische Wende in der deutschen Politik überleben? Würde Scheel sein Ziel, die bisherige Koalitionspolitik seiner Partei umzudrehen, erreichen? Die erste Probe aufs Exempel bedeutete die Wahl des Bundespräsidenten 1969, später von Gustav Heinemann als „Machtwechsel“ bezeichnet: Dies war keine angemessene Charakterisierung, übt der Bundespräsident doch keine politische Macht im strengen Sinn aus, doch leitete diese Wahl tatsächlich den Machtwechsel auf Regierungsebene ein und bildete insofern ein Schlüsselereignis. Die Probeabstimmung der FDP-Wahlmänner ging trotz intensiver Überzeugungsarbeit des Vorsitzenden Scheel mit 83 Stimmen für den SPD-Kandidaten Heinemann gegen 23 aus. Dieses Ergebnis reichte weder für eine Mehrheit, noch für ein geschlossenes Bild der FDP: Dies aber war nicht allein für die öffentliche Meinung wichtig, sondern für die künftigen Optionen: Nur wenn die FDP das Image der
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„Umfallerpartei“ los wurde und als verlässlicher Verhandlungspartner potentieller Koalitionäre auftrat, besaß sie eine Chance auf künftige Regierungsbeteiligung. Nach der ersten internen Abstimmung erklärte Scheel ebenso scharf wie illusionslos: „Einige Freunde scheinen den Fall doch noch nicht begriffen zu haben. Wenn wir morgen so in die Wahl gehen wollen, können wir jetzt gleich hier von oben aus dem Fenster springen. Dann ist die Partei kaputt.“18 Nach außen aber blieb der Parteivorsitzende gelassen und erklärte den Journalisten wiederholt: „Wir stimmen geschlossen“. Am Ende setzte sich Scheel durch – getreu seiner Devise, eine liberale Partei könne man nur mit Argumenten, nicht aber autoritär führen: Er verließ sich also wie stets während seines Mandats als FDP-Vorsitzender auf Überzeugungskraft. Im 3. Wahlgang wurde Gustav Heinemann mit 512 gegen 506 Stimmen für den CDU-Kandidaten Gerhard Schröder gewählt – beide waren Bundesminister in der Großen Koalition. Einen anderen CDU-Kandidaten – Richard von Weizsäcker – hätte die FDP vermutlich gewählt, wie innerparteiliche Diskussionen zeigen, worüber auch die CDU-Führung informiert war19. Doch hätte dies nicht gut in das Kalkül von Scheel gepasst, der tatsächlich ein Zeichen für die Neuorientierung der bisherigen FDP-Politik setzen wollte. Heinemann indes, der vom ersten CDU-Innenminister Konrad Adenauers zum „Abtrünnigen“, schließlich scharfen Adenauer-Kritiker und dezidiert sozialliberalen Justizminister geworden war und Kontakte zur studentischen Protestbewegung von 1968 unterhielt, war für die Unionsparteien buchstäblich ein „rotes Tuch“. Wollte Scheel die Provokation? Wohl kaum, das passt nicht zu seiner Persönlichkeit. Doch sein Kalkül war offensichtlich: Er beabsichtigte den Weg zur sozialliberalen Koalition zu öffnen, die er nach der nur wenige Monate später anstehenden Bundestagswahl für möglich hielt. Auch wenn die Wahl denkbar knapp ausging, bewies er doch einmal mehr ein feines Gespür für künftige Entwicklungen. Der Wunsch Heinrich Lübkes, die Wahl seines Nachfolgers aus der Bundestagswahl herauszuhalten, ging nicht in Erfüllung. Tatsächlich bildete die Präsidentenwahl – die stets in der Geschichte der Bundesrepublik eine politische Wahl gewesen ist – den Auftakt für die Bundestagswahl und die anschließende Regierungsbildung. Der Preis für Scheels doppelten Erfolg war hoch: Zahlreiche Austritte von FDP-Parteimitgliedern folgten der Wahl Heinemanns; bei der Bundestagswahl am 28. September 1969 rutschte die FDP von 9,5% der Stimmen 1965 auf nur noch 5,8% und schrammte damit gerade eben über die 5%-Hürde. So groß hatte Scheel das Risiko der Wende vermutlich nicht eingeschätzt, ob er es sonst eingegangen wäre, ist offen. Doch war er keineswegs ein „imponierender Hasardeur“, wie ein amerikanischer Diplomat meinte, sondern ein kühl kalkulierender Politiker, der zwar Risiken nicht ausschloss, aber sie doch zu minimieren suchte. Als er noch in der Wahlnacht die telefonische Anfrage von Willy Brandt erhielt, ob die FDP gegebenenfalls bereit sei, eine Koalition mit der SPD einzugehen, antwortete 18 19
Zit. bei Schneider, Hans-Roderich: Walter Scheel. Handeln und Wirken eines liberalen Politikers, Stuttgart 1974, S. 104 Kiesinger: „Wir leben in einer veränderten Welt.“ Die Protokolle des CDU-Bundesvorstands 1965–1969. Bearb. von Günter Buchstab, Düsseldorf 2005, S. 1274.
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er mit einem knappen „ja“.20 Tatsächlich wurde Brandt mit 3 Stimmen Mehrheit zum Bundeskanzler gewählt – auch dies eine Risikokoalition, zumal angesichts der weitreichenden ost- und deutschlandpolitischen Ziele der ersten sozialliberalen Regierung. Diesen Doppelschlag Scheels, der damit wie nur wenige Politiker die Entwicklung der Bundesrepublik mitgeprägt hat, vergaßen Teile der CDU/CSU ihm nie – das war verständlich, aber doch in der Sache kein Grund für persönliche Animosität. Auch Helmut Kohl stellte rückblickend fest: „So bitter diese Erfahrung auch war, sie brach nicht aus heiterem Himmel über uns herein. Manche aus der Führungscrew der damaligen Regierungspartei sind auf Bundesebene alles andere als politisch klug und weitsichtig mit der FDP umgegangen. Dazu gehörten auch die gemeinsam mit der SPD unternommenen, letztlich aber mißlungenen Anstrengungen meiner Partei, der FDP mit der Änderung des Wahlrechts den Todesstoß zu versetzen.“21 In Scheel sieht Kohl den „Architekten der sozialliberalen Koalition“, der nach seiner Einschätzung seit der Wahlentscheidung für Gustav Heinemann 1969 nicht allein zielstrebig, sondern auch weitblickend bis zur eigenen Bundespräsidentenwahl 1974 agiert habe. Ein solches Kalkül hat Scheel hingegen immer bestritten22 . Aber wenn es so gewesen wäre, hätte es sich nicht allein um eine meisterhafte Planung, sondern um ein außergewöhnliches Durchsetzungsvermögen gehandelt – einmal abgesehen davon, dass persönlicher Ehrgeiz in der Politik ebenso selbstverständlich ist wie in anderen Hochleistungsberufen. Hatte Scheel 1969 überhaupt eine andere Wahl als die Koalition mit der SPD, wollte er nicht selbst unglaubwürdig werden? Zumindest für die Regierungsbildung kaum. Auch wollte er diese Regierung aus politisch-inhaltlichen Motiven – diese kann man je nach politischer Überzeugung für falsch halten, konsequent aber war Scheels Vorgehen zweifellos. Das zeigt bereits die Ausgangsposition der Partei: Seit der Bildung der Großen Koalition – an der natürlich die FDP aufgrund ihres Rückzugs aus der christlich-liberalen Koalition ihrerseits nicht unschuldig war – war sie mit knapp zehn Prozent die einzige Oppositionspartei. Die Große Koalition hatte ernsthaft, wenngleich ohne Ergebnis, an einem Mehrheitswahlrecht gebastelt, das die FDP aus dem Bundestag herauskatapultiert hätte, da sie nie Direktkandidaten in den Bundestag hat bringen können: Für irgendwelche Rücksichtnahmen auf die beiden großen Parteien hatte die FDP also keinerlei Grund, überdies drohte für sie die Gefahr einer Fortsetzung der Großen Koalition, die innerhalb der SPD beispielsweise Herbert Wehner, aber auch Helmut Schmidt – also zwei der drei Mitglieder der SPD-Troika – bevorzugten. Die FDP als kleine und vermutlich immer kleinere Opposition wäre in solchem Fall mehr und mehr marginalisiert worden. 20
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Vgl. dazu auch Brandt, Willy: Erinnerungen, Berlin und Frankfurt a.M. 1989, S. 185 ff., 269; Scheel, Walter (im Gespräch mit Jürgen Engert): Erinnerungen und Einsichten, Stuttgart und Leipzig 2004, S. 120 f.; zum Ganzen v.a. Baring, Arnulf (in Zusammenarbeit mit Manfred Görtemaker): Machtwechsel, Die Ära Brandt-Scheel, Stuttgart 1982, S. 148 ff., S. 169 f. Kohl, Helmut: Erinnerungen 1930–1982, München 2004, S. 267. So z.B. in dem Interview mit dem „Stern“ am 25. September 1975, in: Scheel, Walter: Reden und Interviews 2, hg. vom Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Bonn 1976, S. 246.
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Die Alternative bestand also darin, der FDP ein neues Profil zu geben: Schon deshalb musste sie sich in der Konsequenz ihrer Politik seit 1966 als unabhängige Partei darstellen, die mehrere – und das heißt neue – koalitionspolitische Optionen besaß. Und schließlich: Wenn die Union mit der SPD koalieren durfte, warum sollte dies der FDP versagt sein? Genau in diese Richtung dachte Walter Scheel und nicht erst seit 1969. Entscheidend neben solchen strategischen und taktischen Überlegungen war aber vor allem: Scheel verfolgte politische Inhalte, von denen er überzeugt war, dass er sie nicht mehr mit der Union, wohl aber mit der von Willy Brandt geführten SPD realisieren konnte. Diese Ziele verfolgte er schon längst vor dem Schlüsseljahr 1969. Er brachte sie unter anderem beim Freiburger Parteitag der FDP am 30. Januar 1968 auf den Punkt – einem Parteitag, der vom Zeitgeist dieser Jahre, von der Unzufriedenheit mit dem Bestehenden, von Aufbruchsstimmung und Reformeuphorie geprägt war. Auf Vorschlag Erich Mendes und die einstimmige Empfehlung des Bundesvorstands hin mit 248 Ja- gegen 8 Nein-Stimmen zu dessen Nachfolger gewählt23, gab Scheel in seiner Antrittsrede Bilanz und Ausblick. Unmittelbar vor der Bundestagswahl 1969 bekräftigte er seine Position nochmals, so dass eigentlich niemand von der koalitionspolitischen Entscheidung der Wahlnacht überrascht sein konnte. Auch die CDU-Führung schätzte ihn richtig ein, wobei sie Genscher für weniger festgelegt hielt als Scheel24. Um persönlichen Ehrgeiz ging es bei der Koalitionsentscheidung Scheels für die SPD jedoch nicht: Auch in einer CDUgeführten Regierung Kiesinger hätte er Außenminister und Vizekanzler werden können, wenn die FDP das zur Bedingung für eine Koalition gemacht hätte25. In der sog. Elephantenrunde der Parteivorsitzenden im Fernsehen mit Kiesinger, Brandt und Strauß drei Tage vor der Bundestagswahl, hatte Scheel zur Empörung Kiesingers bemerkt: „Ich bin der Überzeugung, dass die CDU als die führende Partei in der Bundesrepublik in zwanzig Jahren Herrschaft Verschleißerscheinungen zeigt und dass es gut wäre, wenn die CDU die Kraft haben würde, selbst in die Opposition zu gehen.“ Natürlich war das Wahlkampf, natürlich wusste Scheel nur zu gut, dass die stärkste Partei, welche auch immer, nicht freiwillig in die Opposition gehen würde. Doch andererseits war die FDP, wenn auch als der kleine Koalitionspartner der Union, diesen Weg der „Erneuerung in der Opposition“ unter dem Einfluss Scheels selbst gegangen. Und logisch war seine Replik auf Kiesinger durchaus, als er bemerkte, es sei die „Stoßrichtung der Oppositionspartei, dass wir darauf hinarbeiten müssen, die Regierungspartei, und die führende Regierungspartei ist die CDU, in die Opposition zu bringen“.26 Natürlich hätte Kiesinger antworten können, auch die SPD sei Regierungspartei – doch sie war eben nicht die führende. 23 24
25 26
FDP-Bundesvorstand. Die Liberalen unter dem Vorsitz von Erich Mende. Sitzungsprotokolle 1960–1967. Bearb. von Reinhard Schiffers, Düsseldorf 1993, S. 754, 767. Vgl. Kiesinger: „Wir leben in einer veränderten Welt.“ Die Protokolle des CDU-Bundesvorstands 1965–1969. Bearb. von Günter Buchstab, Düsseldorf 2005, 15. November 1968 bzw. 6. März 1969, S. 1279, 1350 ff. Vgl. Kohl, Helmut: Erinnerungen 1930–1982, München 2004, S. 266. Zitate bei Schneider, Hans-Roderich: Walter Scheel. Handeln und Wirken eines liberalen Politikers, Stuttgart 1974, S. 106.
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Wie immer man die folgende sozialliberale Regierungsbildung beurteilt, ganz falsch war Scheels Einschätzung nicht, die außerparlamentarische Opposition (APO) sowie die NDP-Erfolge bei Landtagswahlen seien eine Wirkung der Großen Koalition. Mit Sicherheit war dies aber nicht der einzige Grund, und Scheel hätte konsequent folgern müssen, dass die Opposition der FDP im Bundestag offenbar als unbefriedigend empfunden wurde. Tatsächlich wäre eine schärfere Kritik angemessen gewesen, war eine „außerparlamentarische“ Opposition doch systemwidrig. Und auch die NPD stand nicht auf dem Boden des Grundgesetzes. Die sozialliberale Regierung besaß jenseits der Kontroverse über ihre politischen Ziele allein durch die bloße Tatsache ihrer Bildung Bedeutung für die politische Kultur der Bundesrepublik: Sie bewies, dass alle drei damals im Bundestag verbliebenen Parteien prinzipiell miteinander koalitionsfähig waren, die jeweilige Opposition also nicht – wie so oft in der Weimarer Republik – obstruktiv, sondern konstruktiv war. Diese Regierungsbildung dokumentierte, dass der Wechsel demokratischer Parteien in Regierung und Opposition ein normaler parlamentarischer Vorgang ist.27 Scheel, der immer ein entschiedener Liberaler war, lehnte sowohl Sozialismus als auch Konservativismus ab. Insofern konnte er auf Bundesebene mit der SPD nach dem Godesberger Programm 1959 und dem 1960 erfolgten Einschwenken auf Konrad Adenauers außenpolitischen Kurs der Westintegration koalieren. Obwohl er ein Bewunderer Konrad Adenauers war und blieb,28 sah er dagegen die CDU in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre als konservative Partei, mit der die nach seiner Einschätzung notwendigen Reformen und eine neue Deutschlandpolitik nicht zu bewerkstelligen seien. Natürlich wusste er selbst, dass dieses Bild für Wahlkampfzwecke vereinfacht war, wusste vermutlich auch, was Brandt später betonte,29 dass schon Adenauer eine Neuorientierung der Ostpolitik für notwendig gehalten hatte. Andererseits sah Scheel den Generationswandel und die Epochenwende, die das Ende der Ära Adenauer bedeutete. Adenauer selbst beschrieb er in seiner Rede zu dessen 100. Geburtstag im Deutschen Bundestag nicht mit der Kategorie konservativ, im Gegenteil nahm er seine außen- und deutschlandpolitischen Initiativen für die eigene sozialliberale Ostpolitik in Anspruch. Adenauer habe in vierzehn Regierungsjahren unseren Staat nicht nur regiert, sondern „gefestigt und ihm seinen Platz in Europa und der Welt gesichert“. Adenauer „war ein Idealist und Realist, ein Machtpolitiker und ein von moralischen Grundsätzen bestimmter Staatsmann“, das von ihm „Erreichte war mehr, als die größten Optimisten es nach Kriegsende hatten erwarten können“.30 Das einfühlsame Adenauer-Porträt, das Scheel hier zeichnete, war selbstverständlich eine Festansprache und doch mehr: Es verrät nicht nur viel über den 27 28 29 30
Vgl. auch Scheel, Walter (im Gespräch mit Jürgen Engert): Erinnerungen und Einsichten, Stuttgart und Leipzig 2004, S. 122. Vgl. Scheel, Walter (im Gespräch mit Jürgen Engert): Erinnerungen und Einsichten, Stuttgart und Leipzig 2004, S. 48 ff. Brandt, Willy: Erinnerungen, Berlin und Frankfurt a.M. 1989, S. 43, 48 ff. u.ö. Scheel, Walter: Konrad Adenauer, in: ders.: Vom Recht des Anderen. Gedanken zur Freiheit, Düsseldorf 1977, S. 123–138, hier S. 126, 128.
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Gerechtigkeitssinn Scheels, sondern auch darüber, was er selbst vom ersten Bundeskanzler, dessen jüngster Minister er 1961 bis 1963 gewesen war, gelernt hatte. Vor allem aber charakterisiert Scheel Adenauer in einer Weise, die ein Stück weit die eigenen Maßstäbe enthüllt: Ein Verantwortungsethiker, kein Pathetiker, ein Praktiker, kein Theoretiker, ein zäher Kämpfer, der warten konnte, bis die Umstände für eine Entscheidung reif waren, dann aber beherzt zupackte, ein Mann, für den Freiheit den höchsten und sozialer Friede den zweitwichtigsten politischen Stellenwert hatte, ein „von Grund auf ziviler Mensch“, ein „Bürger und Demokrat“, der „nichts anderes als seine Pflicht tun“ wollte.31 Doch bei allen Verdiensten, die er Konrad Adenauer attestierte, die Gesellschaft der Bundesrepublik bedurfte nach Scheels Einschätzung in den 1960er Jahren neuer Orientierungen, Adenauer selbst habe dies mit Erschrecken gesehen und sie weder dem Liberalismus noch der Sozialdemokratie zugetraut. Den eigenen Neuaufbruch sah Scheel also in zwei Sektoren, der politischen Kultur der Bundesrepublik sowie der Deutschland- und Außenpolitik, die Scheel, der überzeugte Europäer, nicht im Gegensatz zu Adenauers Konzeption, sondern in seiner Fortentwicklung sah. Hinzu kam für Scheel, den kommunikativen, diskussionsfreudigen Politiker, die Rolle der Persönlichkeit: „Das Persönliche, die Persönlichkeit ist immer das Entscheidende. Was braucht man, um zu führen? Erstens einmal muß ich natürlich eine Vorstellung von dem haben, was ich will. Zweitens muß ich ein Gefühl dafür haben, zu welcher Zeit ich in einer Demokratie welche Entscheidung am besten durchsetzen kann. Und dann brauche ich eine hervorragende Menschenkenntnis, um mir die zu suchen, die die jeweiligen Sektoren beackern […]“32. Adenauer und Brandt, den er für eine „einzigartige Persönlichkeit“ hielt, beeindruckten Scheel von allen Politikern in der Bundesrepublik am meisten. Und dies spielte eine Rolle: Mit Brandt verstand sich Scheel ausgezeichnet, mit Kiesinger nicht. Die in seinen Augen notwendige Neuorientierung sprach Scheel in seiner Antrittsrede vor dem Bundesparteitag der FDP am 31. Januar 1968 offen an: „Die Nachkriegszeit ist zu Ende – ja, für uns, aber der deutsche Bürger ist davon noch nicht benachrichtigt. Er sieht, wie zwei unbewegliche Kolosse auf tönernen Füßen sich beim Regieren gegenseitig behindern […]“. Dieses Urteil Scheels ist angesichts der Tatsache, dass gerade die Große Koalition Kiesinger/Brandt eine ganze Reihe wegweisender Reformen in Angriff genommen und auch realisiert hat, im Rückblick unangemessen und natürlich auch eine politische Rechtfertigung der Oppositionspolitik seiner eigenen Partei, die die gewaltige parlamentarische Mehrheit der Regierung von 90 Prozent verständlicherweise als Problem der Demokratie begreifen musste und im Falle der Fortsetzung der Großen Koalition eine weitere Stärkung der antidemokratischen linken und rechten Ränder befürchtete. Auch sah Scheel die Große Koalition, eben weil sie CDU-geführt war, noch in der bisherigen Tradition: „Am Anfang der sozialdemokratischen 31 32
Scheel, Walter: Konrad Adenauer, in: ders.: Vom Recht des Anderen. Gedanken zur Freiheit, Düsseldorf 1977, S. 137. So zu Engert: Scheel, Walter (im Gespräch mit Jürgen Engert): Erinnerungen und Einsichten, Stuttgart und Leipzig 2004, S. 48.
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Regierungsbeteiligung stand das Verlangen nach einer Bankrottäußerung der bisherigen Politik. Uns war schon damals klar, dass mit dieser CDU eine neue Politik unmöglich war. Aus dieser Erkenntnis haben wir durch den Auszug aus der Regierung unsere Konsequenz gezogen. Aber die SPD?“ Dann wurde Scheel noch grundsätzlicher und stellte fest: „Wer gegen die politische Unruhe ist, ist im Grunde kein Demokrat. Es gehört zum Wächteramt der Opposition – und gerade einer liberalen Opposition –, diese Unruhe zum Nutzen der Demokratie politisch umzusetzen.“33
Mitgestalter der Neuen Ostpolitik Die ost- und deutschlandpolitische Neuorientierung begann Scheel, indem er den noch zu Zeiten seines Vorgängers Mende vorgelegten Plan von Wolfgang Schollwer aktualisierte und damit erheblich provozierte. Dieser Vorgang zeigt, dass der spätere Außenminister Scheel auf diesem Feld kein Anhängsel oder Getriebener von Willy Brandt und Egon Bahr war. Unabhängig von unterschiedlichen Auffassungen über Verfahrensfragen in den Verhandlungen bzw. das Ausmaß der Konzessionen stimmte ihre Zielrichtung überein. Schon seit dem Mauerbau verstärkte sich in SPD und FDP, in geringerem Maße auch innerhalb der Union die resignative Einsicht, dass eine Fortsetzung der bisherigen Außenpolitik mit der Hallstein-Doktrin zur Stagnation der Deutschlandpolitik führen würde. In der FDP begann dieser Prozess bereits Ende der 1950er Jahre,34 aber auch die Außenpolitik Gerhard Schröders in der Mitte der 1960er Jahre, schließlich die ostpolitischen Initiativen der Großen Koalition wiesen in diese Richtung, von Konrad Adenauers Versuchen einer Auflösung von Blockaden der sowjetischen Deutschlandpolitik einmal abgesehen: Wie unterschiedlich solche Überlegungen im Detail auch waren, zweifelsfrei war: Die Deutschland- und Ostpolitik waren seit Beginn der 1960er Jahre in Bewegung. Die deutschlandpolitischen Konzeptionen der FDP und die außenpolitischen Ziele Walter Scheels gehören in diesen Kontext, seine von 1969 bis 1974 betriebene Außenpolitik war insofern die konsequente Realisierung vorheriger Überlegungen. Zwar befürchtete der in Moskau verhandelnde Staatssekretär Bahr 1970, dass Scheel gegenüber der sowjetischen Position nicht genügend Verständnis aufbringe und sich auf Gromyko nicht hinreichend einstelle, andererseits aber informierte Bahr den Außenminister pflichtgemäß über die einzelnen Schritte der Moskauer Verhandlungen.35 Die Position Scheels war eindeutig. So sagte er am 8. April 1970 in Rom zum italienischen Ministerpräsidenten Rumor, es müsse eine europäische Friedensordnung erreicht und alle Möglichkeiten zur Entspannung 33 34 35
Abgedruckt bei Schneider, Hans-Roderich: Walter Scheel. Handeln und Wirken eines liberalen Politikers, Stuttgart 1974, S. 83–92. Vgl. Schiffers, Reinhard: Einleitung, in: FDP-Bundesvorstand. Die Liberalen unter dem Vorsitz von Erich Mende. Sitzungsprotokolle 1960–1967, Düsseldorf 1993, S. LIV ff. Vgl. zahlreiche Drahtberichte von Bahr an Scheel in: Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland. Hg. im Auftrag des Auswärtigen Amtes vom Institut für Zeitgeschichte, Jg. 1970, München 2001 (im Folgenden zit. als AAPD).
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zwischen West und Ost genutzt werden, um zu einer Art Kooperation zu kommen: „Dies sei die einzige Politik, mit der die eigenen nationalen Probleme der Deutschen gelöst werden können. Heute sehe man die Dinge nicht mehr nationalstaatlich, sondern im Rahmen einer europäischen politischen Entwicklung. Dabei gelte es, die folgenden fundamentalen Grundsätze zu verteidigen: 1) Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes, 2) Wahrung der Einheit der Nation, 3) Berücksichtigung der internationalen Verpflichtungen von den Potsdamer Vereinbarungen über den Deutschlandvertrag bis zu den Bündnisverpflichtungen, d.h. es könne mit keinem Land ein Gewaltverzichtsabkommen abgeschlossen werden, wenn dadurch das politische Ziel der Einigung der Deutschen aufgegeben werden müßte: Dieses Ziel müsse als legitimes Ziel aufrechterhalten und von den Partnern respektiert werden. Auch könne kein Gewaltverzichtsabkommen ohne Garantie der Position Berlins unterzeichnet werden, wobei nicht nur der freie Zugang, sondern auch die Bindungen zwischen der Bundesrepublik und Berlin gewährleistet werden müßten“.36 Ähnlich äußerte er sich am 3. Juli 1970 auch gegenüber dem französischen Außenminister Schumann.37 Am 21. Mai erteilte Außenminister Scheel Staatsekretär Bahr in Moskau Weisung: „Ich bitte Sie, bei Ihrem morgigen Gespräch mit Gromyko über Punkt 3 auf keinen Fall über den mit Falin am 20. Mai vereinbarten Text hinauszugehen, und diesem auch nur dann zuzustimmen, wenn Gromyko sich mit dem in dem Delegationsbericht Nr. 10 erwähnten Brief einverstanden erklärt. Dabei muß sichergestellt werden, dass die Sowjets diesem Brief, der hier veröffentlicht werden würde, in keiner Form widersprechen.“38 Bei diesen Fragen ging es um die Unantastbarkeit der Grenzen – mit der aber eben keine völkerrechtliche Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze verbunden sei: Diese könne, so die deutsche Rechtsposition, die Bundesregierung allein schon wegen der Zuständigkeit der Vier Mächte gemäß den Potsdamer Abmachungen bzw. dem Deutschlandvertrag von 1952 bzw. 1954 gar nicht aussprechen. Wesentlich für die Wahrung dieser Auffassung war der hier erwähnte und später sog. Brief zur deutschen Einheit, den Scheel in einer Kabinettssitzung am 7. Juli 1970 ankündigte. In ihm wollte er für die Bundesregierung erklären, dass die Verträge keine Aufgabe des Anspruchs der Deutschen auf Selbstbestimmung oder des Ziels der Wiedervereinigung bedeuteten. Auch die CDU/CSU-Fraktion wurde am 7. Juni 1970 von Scheel und Bahr über den Stand der Moskauer Verhandlungen und die Hindernisse für ein Abkommen unterrichtet. Dabei erklärte Scheel, es müsse augenblicklich noch offen bleiben, ob offizielle Verhandlungen mit der Sowjetunion aufgenommen werden könnten39. Nach den sehr eingehenden Vorverhandlungen durch Egon Bahr beschloss das Bundeskabinett am 23. Juli 1970 die Aufnahme formeller Verhandlungen durch den Bundesaußenminister auf der Grundlage der Gesprächsergebnisse Bahrs und der durch Scheel bzw. das Auswärtige Amt vertretenen deutschen Rechtsposition.40 Auch der Staatssekretär im Auswärtigen Amt, Paul Frank, war an der For36 37 38 39 40
AAPD 1970, S. 578. AAPD 1970, S. 1081 ff. AAPD 1970, S. 849. AAPD 1970, S. 919. AAPD 1970, S. 1222–1224.
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mulierung des Vertragstextes beteiligt.41 Es ist also nicht so, dass die Moskauer Verhandlungen an Scheel oder dem Auswärtigen Amt vorbei geführt wurden. Vielmehr waren sie eng mit ihm abgesprochen und wurden wesentlich von ihm beeinflusst. Am 30. Juli 1970 teilte Scheel Bundeskanzler Brandt nach mehreren Verhandlungsrunden mit Gromyko aus Moskau mit, es sei diesem klar gemacht worden, dass die deutsche Seite zu den Ergebnissen des „Meinungsaustausches [!] zwischen STS Bahr und AM Gromyko Präzisierungen und Ergänzungen einzuführen wünscht, die der verfassungsrechtlichen und völkerrechtlichen Lage der BRD entsprechen“. Bahr war mit Scheels Verhandlungsführung völlig unzufrieden: Dieser habe leider keinen Kontakt zu seinem Partner Gromyko gefunden, schrieb er am 1. August 1970 in einem sehr kritischen persönlichen Brief an Brandt, in dem er diesen darum bat, auf Scheel einzuwirken. Scheel z.B. wolle die Berlin-Frage behandeln, was Gromyko aber ablehne.42 Brandt jedoch teilte Bahrs Einschätzung nicht, schrieb er doch an Scheel: „Es scheint mir unumgänglich, daß Sie in einem geeignet erscheinenden Zeitpunkt und in geeigneter Umgebung mit Gromyko über Berlin und unsere Auffassung dazu sprechen.“43 Später hat Herbert Wehner in seiner Moskauer Attacke auf Willy Brandt auch das Auswärtige Amt und Walter Scheel massiv kritisiert und ihm vorgeworfen, gegenüber der Sowjetunion in frühere Verhaltensweisen und „rechthaberische“ Positionen zurückgefallen zu sein. Dies bezog sich besonders auf Scheels (und Brandts) Rechtswahrung in der Berlin-Frage. Scheel war es, der das Junktim zwischen den Ostverträgen und der Sicherheit Berlins ganz entschieden vertrat, ja als dessen „Erfinder“ galt. Auch hier zeigte sich, dass Scheel alles andere als ein Erfüllungsgehilfe ostpolitischer Illusionen war, sondern die deutschen Interessen gegenüber der Sowjetunion dezidiert vertrat. Wesentliche Verbesserungen erreichte Scheel nachdem die Verhandlungen in Moskau festgefahren schienen und er prophylaktisch bereits das Flugzeug bestellt hatte, nach einer Einladung in die Datscha vom Gromyko am Sonntag, den 2. August 1970.44 Am 4. und 5. August trafen sich Scheel und Gromyko erneut, bevor Scheel schließlich die deutschen Botschafter in London, Paris und Washington unterrichtete, damit diese die dortigen Regierungen über den schließlich ausgehandelten Vertragstext informieren konnten. Es ist hier nicht der Ort, die ganze Geschichte des Moskauer Vertrags und der Ostpolitik darzustellen, deutlich aber ist die eingehende und selbständige Beteiligung des Bundesaußenministers: Ohne demonstrative Akte, doch im Kern eindeutig, drang er darauf, die deutsche Rechtsposition zu wahren und dem von ihm als „sachlich, aber hart“ beschriebenen Gromyko ein ebenbürtiger Widerpart zu sein. Dabei griff Scheel durchaus auf die von Bahr erzielten Absprachen zurück, bestand aber darauf, sie in einzelnen essentiellen Punkten zu verbessern. Den Moskauer Erfolg benötigte Walter Scheel dringend, zum einen wegen sei41 42 43 44
AAPD 1970, S. 1296, 1319 u.ö. AAPD 1970, S. 1335 ff. AAPD 1970, S. 1341 ff., hier S. 1343. Das Gedächtnisprotokoll Scheels dazu in: AAPD 1970, S. 1337–1341, vgl. dort auch die ergänzenden Gespräche zwischen Falin und Staatsekretär Frank, S. 1351–1357.
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ner innerparteilichen Schwierigkeiten aufgrund des Eindrucks, er sei ein schwacher Außenminister, der völlig von Brandt und Bahr abhängig sei, zum anderen wegen schlechter Landtagswahlergebnisse der FDP. Tatsächlich gewann Scheel nach anfänglichen Schwierigkeiten in dem neuen Amt erheblich an Statur. Wie so oft in seiner Laufbahn war er von seinen Kritikern unterschätzt worden: Mit stoischer Ruhe hatte er auf die ihn umgebende Hektik reagiert und sich wieder einmal als Langstreckenexperte erwiesen.45
Die Jahre in der Villa Hammerschmidt War es Walter Scheel gelungen, in seiner politischen Laufbahn als Abgeordneter, Parteivorsitzender und Bundesminister 1956, 1961, 1966 und 1969, bis 1974 als Außenminister nicht allein in den Gang der bundesdeutschen Politik einzugreifen, sondern sie zu verändern, also machtpolitisch zu agieren und zu wirken, so gelangte er als Bundespräsident 1974 in ein eher repräsentatives Amt: Wie alle Vollblutpolitiker, die zum Bundespräsidenten gewählt wurden, machte er sich Gedanken über eine stärker politisch akzentuierte Rolle des Staatsoberhaupts. Und schließlich war seine Kandidatur und seine Wahl ein politischer Akt und bewies einmal mehr seine Fähigkeit zum machtpolitischen Kalkül und zur Durchsetzungskraft, allerdings wiederum auch zur Fairness: Es war nicht er, der eine erneute Kandidatur und folglich die Wiederwahl Gustav Heinemanns verhinderte. Vielmehr wollte dieser selbst – den kranken Heinrich Lübke in dessen zweiter Amtszeit als Bundespräsident vor Augen – keine zweite Amtszeit. Als dies klar war und auch Willy Brandt eine Kandidatur ablehnte, griff Scheel indes beherzt zu. 1974 stand eine doppelte Wahl an, die unvorhergesehene für die Nachfolge Willy Brandts und die gleichsam ,normale‘ für diejenige Gustav Heinemanns. Die SPD wollte erst den Bundeskanzler wählen lassen, dagegen opponierte die FDP in der Befürchtung, dass die Verwerfungen innerhalb der SPD nach Brandts Rücktritt dazu führen könnten, dass sich über die SPD-Führung um Wehner enttäuschte Abgeordnete bei der zweiten Wahl nicht an die Absprachen halten würden. Einige SPD-Abgeordnete hatten in der Tat gedroht, bei der Bundespräsidentenwahl statt Scheel Brandt auf den Wahlzettel zu schreiben. Tatsächlich war das Wahlverhalten unkalkulierbarer als im Bundestag, weil von den Landtagen vorgeschlagene Wahlberechtigte in der Bundesversammlung mitwählen, darunter evtl. auch Nichtpolitiker. Scheel bestand deshalb mit Erfolg darauf, dass die Bundespräsidentenwahl vor der Kanzlerwahl stattfand.46 Erneut bewies Scheel Durch-
45
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Vgl. zu den Einzelheiten Baring, Arnulf (in Zusammenarbeit mit Manfred Görtemaker): Machtwechsel, Die Ära Brandt-Scheel, Stuttgart 1982, S. 307 ff., 314 ff., über die Moskauer Verhandlungen Scheels und ihre innenpolitischen Wirkungen S. 332–355. Vgl zur Außenpolitik Scheels auch Scholtyseck, Joachim: Walter Scheel – Wiederaufnahme älterer Leitbilder oder Auftakt zu einer neuen liberalen Tradition in der Außenpolitik?, in: Jahrbuch für Liberalismus-Forschung 22 (2010), S. 47–66. Vgl. auch Soell, Hartmut: Helmut Schmidt 1969 bis heute, München 2008, S. 337.
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setzungsfähigkeit und wurde im ersten Wahlgang mit 530 Stimmen gegen den CDU-Kandidaten Richard von Weizsäcker gewählt, der 498 Stimmen erhielt. Gab es schon während der gemeinsamen Ministerzeit gelegentlich Spannungen zwischen Schmidt und Scheel, die u.a. auf Ressortzuständigkeiten, vor allem jedoch auf der Betonung von FDP-Positionen durch Scheel beruhten und bei denen Brandt vermitteln musste, so wiederholte sich dies in der Präsidentenzeit. Tatsächlich war Scheel alles andere als ein unpolitischer Bundespräsident. Dies betraf zum einen seinen anhaltenden Einfluss in der FDP. In dieser Hinsicht übertraf er vermutlich sogar Heuss, neben ihm der einzige Spitzenmann einer Partei, der Bundespräsident wurde – alle anderen Bundespräsidenten kamen nicht als Parteivorsitzende ins Amt. Das bezog sich aber auch auf seine Amtsführung, die Überparteilichkeit und Politik miteinander verband. Als am 14. Januar 1976 der CDU-Politiker Ernst Albrecht vermutlich mit Stimmen der FDP zum niedersächsischen Ministerpräsidenten gewählt wurde, gab es in der SPD Empörung. Nicht zwangsläufig hätten die Äußerungen des Bundespräsidenten auf diesen Vorgang bezogen werden müssen, die da lauteten: Koalitionen seien befristete Bündnisse, die Rede von einem „historischen Bündnis“ von SPD und FDP sei „eine Gefahr für die Funktionsfähigkeit der Demokratie“.47 Diese Einschätzung war jedenfalls keine neue Position Scheels, sondern die konsequente Bekräftigung der Unabhängigkeit der FDP. Kam für den Bundespräsidenten hinzu, dass er möglicherweise bei der bevorstehenden Bundestagswahl 1976 Spielraum oder gar Handlungsbedarf bei der Regierungsbildung sah, wenn der Wahlausgang zu knapp oder mehrere Optionen möglich schienen? Wollte er sich neue Optionen für eine Wiederwahl 1979 erschließen? Kaum zufällig erschien es auch, das der Chef des Bundespräsidialamts, Staatssekretär Paul Frank, ein Spiegel-Interview über die politische Bedeutung des Amtes gegeben hatte und intern tatsächlich die Auffassung vertrat, das Amt des Bundespräsidenten bedürfe größerer politischer Kompetenzen: Die Weimarer Lösung hielt Frank durchaus für angemessen, während Scheel auf vergleichbare Fragen von Journalisten in Interviews nicht einging. Bundeskanzler Schmidt kommentierte die in den Medien kolportierte Bemerkung Scheels am 5. April 1976 im „Spiegel“ folgendermaßen: Er halte es für ungewöhnlich, dass „ein Bundespräsident sich zu Koalitionsfragen öffentlich äußert. Mehr will ich dazu nicht sagen.“48 Scheel selbst wies noch im Krankenhaus – nach einer Operation „kaum aus der Narkose erwacht“49 – Staatsekretär Frank an, Schmidt zu schreiben: Der Bundespräsident habe nicht die Absicht, in die Diskussion über Koalitionsbildungen einzugreifen. Natürlich hinderte dies weder Scheel selbst noch seine Parteifreunde, informelle Gespräche zu führen. Der Einfluss des Bundespräsidenten 47 48 49
Vgl dazu verkürzt und ohne den tatsächlichen Zeitpunkt der Bemerkungen Scheels: Soell, Hartmut: Helmut Schmidt 1969 bis heute, München 2008, S. 569 f. Zit. bei Soell, Hartmut: Helmut Schmidt 1969 bis heute, München 2008, S. 1017, Anm. 125. Scheel, Walter: Reden und Interviews 2, hg. vom Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Bonn 1976, S. 291.
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darauf konnte also indirekt durch persönlichen Einfluss auf die FDP, nicht aber verfassungsmäßig begründet werden. Immer wieder auf sein Amtsverständnis angesprochen, betonte Scheel, das Amt des Bundespräsidenten sei ein „zutiefst politisches Amt“, Einfluss könne man argumentativ ausüben, deshalb spreche er mit verantwortlichen Politikern aller Parteien gegebenenfalls auch über Gesetzesvorhaben, deren Inhalt jedoch selbstverständlich nicht der Bundespräsident bestimme. Über Koalitionsfragen aber rede er mit seinem Freund Genscher nicht, der als Parteivorsitzender allein für derartige Entscheidungen die Verantwortung trage. Eine solche Askese eines Vollblutpolitikers wie Scheel gegenüber der eigenen Partei erscheint wenig wahrscheinlich – auch wenn seine Mitgliedschaft während seiner Amtszeit als Bundespräsident ruhte. Tatsächlich basierte die Skandalisierung von Scheels Bemerkungen auf einer zweckbezogenen Falschmeldung, sie war ein Konstrukt der Medien, die partout einen Zusammenhang mit einer möglichen erneuten Kandidatur Scheels 1979 konstruieren wollten. Dies wurde deutlich, als Friedrich Nowottny und Klaus-Dieter Lueg am 5. März 1976 im Bericht aus Bonn den Bundespräsidenten interviewten und ihn mehrfach während des Gesprächs in diese Falle locken wollten, was ihnen jedoch misslang. Die zitierten Sätze zum Charakter von Koalitionen hatte Scheel gar nicht, wie behauptet wurde, 1976, sondern schon vor der Wahl 1972 gemacht. Damals hatte er improvisiert in einem Gespräch mit Journalisten gesagt: „Es ist nun einmal das Schicksal von Koalitionen, die ja auf einem bestimmten Maß von gemeinsamen Überzeugungen aufbauen, daß sie bei erfolgreicher Zusammenarbeit diese politischen Gemeinsamkeiten sozusagen aufarbeiten, und es bleibt am Ende wenig übrig. Und deswegen sind Koalitionen Bündnisse, die durch eine natürliche Entwicklung einmal enden müssen.“50 Zweifellos war Walter Scheel ein politischer Bundespräsident und wollte es sein – doch nicht durch Ausweitung verfassungsrechtlich gezogener Grenzen, sondern durch Überzeugungsarbeit und die Nutzung der Möglichkeiten der parteienstaatlich-parlamentarischen Struktur. Ein politischer Präsident war der Außenpolitiker Scheel auch durch die Vertretung deutscher Interessen im Ausland, obwohl er das Mittel von Staatsbesuchen sehr viel sparsamer einsetzte als seine Vorgänger, insbesondere Heinrich Lübke. Auch verstand er sich auf symbolische Gesten und machte seinen ersten Staatsbesuch in Paris, den zweiten in Washington und erst den dritten, mit Abstand, in Moskau – bemerkenswert für den Ostpolitiker der sozialliberalen Koalition. Die Kritik, er betone als Bundespräsident zu sehr das Protokollarische, wies er mit Hinweis auf dessen praktischen Nutzen zurück – das Protokoll sei kein Selbstzweck, sondern erleichtere unter anderem den zwischenstaatlichen Verkehr. Das ausgeprägte Stilempfinden Scheels mag diese Einschätzung mitbeeinflusst haben, entscheidend war aber für ihn die politische Bedeutung protokollarischer Regeln. Scheel selbst hatte sich in Interviews schon vor der Wahl Ernst Albrechts und wiederholt zu seinem Amtsverständnis geäußert und dabei die Notwendigkeit einer parteipolitischen Neutralität betont. Darin lag kein Widerspruch: 50
Das gesamte aufschlussreiche Interview in: Scheel, Walter: Reden und Interviews 2, hg. vom Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Bonn 1976, S. 291–301.
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Wenn der Bundespräsident auch kein „Hüter der Verfassung“ im Sinne Carl Schmitts war, so war er doch als oberstes Verfassungsorgan dazu berufen, nicht nur auf den Buchstaben, sondern den Geist der Verfassung zu achten. Äußerungen zur Funktionstüchtigkeit der Demokratie gehörten somit auch zu den Aufgaben eines überparteilichen Präsidenten. Insofern bewegte sich Scheels Bemerkung zu Koalitionen durchaus im grundgesetzlichen Rahmen – aber natürlich wusste der gewiefte Politiker auch, wie eine allgemeine Reflexion über Koalitionen in einer spezifischen Situation politisch wirken konnte – und sollte. Scheel antwortete auf eine einschlägige Frage, er wolle durchaus politischen Einfluss im Rahmen der Verfassung ausüben, tue dies jedoch nicht in eine politische Richtung; ihm gehe es um „Einfluss, der dem allgemeinen Wohl zugute kommen soll. Und wenn ich zu einer politischen Tagesfrage Stellung nehme, nicht um die Parteien auseinanderzutreiben, sondern um es ihnen zu erleichtern, eine gemeinsame Position zu erreichen in Fragen, in denen es nötig scheint.“51 Fragt man nach der öffentlich sichtbaren Wirkung eines Bundespräsidenten, so ist es mehr noch als die Interviews vor allem die präsidiale Rede, die ihn charakterisiert. So gehörten auch zu Scheels Amtszeit eine ganze Reihe großer Reden. Unter anderem hat er darin die jeweiligen Grundanliegen seiner Vorgänger Revue passieren lassen. Auch wenn er, ohne das so deutlich zu sagen, zum ersten Amtsinhaber, dem liberalen Bildungsbürger Theodor Heuss, wohl eher in einem distanzierten Verhältnis stand, so besaß dieser doch mit dem liberalen Wirtschaftsbürger Walter Scheel Gemeinsamkeiten. Nach Einschätzung von Scheel war Theodor Heuss der rechte Mann zur rechten Zeit. Er verkörperte jedoch, wie es Kiesinger einmal ausgedrückt hat, „wenn auch liebenswürdig, das 19. Jahrhundert“. Walter Scheel aber verkörperte die Moderne, seine politische Laufbahn konnte erst nach 1945 beginnen, sie ist untrennbar mit der Geschichte der Bundesrepublik verbunden, während Heuss durch ein langes politisches Engagement seit dem Kaiserreich geprägt war. Ohne die Vergangenheit zu ignorieren, lebte Scheel viel mehr in der Gegenwart und für die Zukunft: Das Vorleben demokratischer Spielregeln gehörte ebenso zu den Gemeinsamkeiten mit Heuss wie das Ziel einer Entkrampfung. Wie Heuss wollte er ein entspanntes Verhältnis zum eigenen Staat, wollte Autoritätsgläubigkeit abbauen, doch dem Amt eine natürliche Würde geben. Pathos war Scheel fremd, kritische Sympathie zum demokratischen Rechtsstaat, der zugleich ein Sozialstaat war, vermittelte er. Der Kontext seiner Bemühungen hatte sich gegenüber der Amtszeit von Heuss jedoch völlig verändert. Auf ganz andere Weise als Heuss verstand er mit Eleganz, formvollendet, aber gelassen die Bonner Republik zu repräsentieren, ohne dass diese Darstellung Selbstzweck gewesen wäre: Der Stil ist der Mensch – diese Annahme galt für den Bundespräsidenten Scheel wie selbstverständlich. Dabei stand die Bundesrepublik gerade während seiner Amtszeit vor großen Herausforderungen, wie insbesondere der Gefährdung durch den Terrorismus. Verfassungspatriotismus, wie es Dolf Sternberger genannt hat, war auch seine Maxime, zugleich war er ein welt51
22. September 1975, Fernsehinterview, Monitor, in: Scheel, Walter: Reden und Interviews 2, hg. vom Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Bonn 1976, S. 239.
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läufiger, überzeugter Europäer, dem jede nationalistische Verengung ein Graus blieb. An der Wiedervereinigung als Postulat deutscher Politik hielt Scheel in Ausübung seiner grundgesetzlichen Pflicht als personifiziertes oberstes Verfassungsorgan fest, wenngleich er sie so wenig wie andere auf einer naheliegenden Tagesordnung der europäischen Politik sah. Zweimal hielt er Reden zum 17. Juni 1953, als Bundespräsident 1978, als Alt-Bundespräsident 1986. Die erste dieser Reden stellte er unter das Motto: „Die deutsche Einheit als europäisches Friedensziel“. Immer wieder sprach er über Freiheit, über den demokratischen Staat, über die Spielregeln der Demokratie, über ein demokratisches Geschichtsbild, aber auch über gesellschaftliche Herausforderungen wie die Integration von Ausländern – hier ging er durch die Adoption eines Jungen aus Lateinamerika mit gutem Beispiel voran – über den Umgang mit Behinderten, über Entwicklungspolitik und anderes mehr. Wenn dabei auch die Reden des Bundespräsidenten in der Regel von einem Team, der von Scheel so genannten Gruppe „Geist und Wort“, vorbereitet wurden, so waren es doch seine Reden. Das Grundmuster liberaler Politik wurde stets erkennbar. Über die „Grenzen der Zukunft“ sprach er nicht nur, sondern ließ sog. Zukunftsgespräche mit Philosophen, Soziologen, Naturwissenschaftlern und Politikern im Bundespräsidialamt organisieren, an denen er selbst oft teilnahm. Er lud Schriftsteller und Künstler zu Abendveranstaltungen ein und den Politikwissenschaftler Arnulf Baring zu einem dreijährigen Gastaufenthalt im Bundespräsidialamt, aus dem ein mit Manfred Görtemaker verfasstes Buch über den „Machtwechsel“, „Ära Brandt-Scheel“, hervorging – nicht ohne Selbstzweck, wie er augenzwinkernd bemerkte. Andererseits schreibt er keine Memoiren. Die unter dem Titel „Erinnerungen und Einsichten“ veröffentlichten Texte sind Gespräche, die er Jahrzehnte nach seinem Ausscheiden aus politischen Ämtern mit dem Journalisten Jürgen Engert geführt hat. Fast nebenbei bemerkte er einmal, die Historiker würden später das Richtige schon herausfinden. Verglichen mit den beiden Vorgängern Lübke (den er gegen Kritik und Spott in Schutz nahm)52 und Heinemann sowie seinem Nachfolger Karl Carstens handelte es sich bei Scheel um eine im besten Sinne natürliche, gelöste und zukunftsoffene Präsidentschaft. Sie wirkte stilbildend in die Gesellschaft der Bundesrepublik und über ihre Grenzen hinaus. Dies gilt trotz der terroristischen Herausforderung, auf die er immer wieder mit großem Ernst einging – so in der Traueransprache für Hanns Martin Schleyer – und trotz der im Bonner Regierungsviertel selbst für die Angehörigen des Amtes spürbaren ständigen Sicherheitsvorkehrungen. Jedoch verstand es der hervorragend bewachte Bundespräsident gelegentlich, eine Lücke im eng geknüpften Sicherheitsnetz zu finden – zur höchsten Beunruhigung seiner Bewacher. Auch seine persönliche Freiheit wollte Walter Scheel nicht mehr als unbedingt nötig einschränken lassen. 52
Vgl. Scheel, Walter (im Gespräch mit Jürgen Engert): Erinnerungen und Einsichten, Stuttgart und Leipzig 2004, S. 143 f: Lübke sei in seiner ersten Amtszeit ein würdiger Präsident gewesen, der Deutschland gerade in der Dritten Welt sehr gut vertreten habe, die zweite Amtszeit sei aufgrund seiner Erkrankung tragisch gewesen. Sie sei auf Drängen Herbert Wehners, kaum auf Wunsch Lübkes zustande gekommen: „Wehner behandelte Menschen als Instrumente für seine politischen Zwecke“.
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Horst Möller
Ob und welche Chancen Walter Scheel – für dessen erneute Amtszeit sich damals 71 Prozent der Bundesbürger aussprachen – für eine Wiederwahl 1979 gehabt hat, bleibt umstritten. Er selbst hatte von Beginn an betont, eine zweite Amtszeit solle grundsätzlich zwar nicht ausgeschlossen werden, aber auch keine Selbstverständlichkeit sein. Er sah für eine Wiederwahl durchaus Chancen. In der Union, die inzwischen die Mehrheit in der Bundesversammlung hatte, sei er aber als Exponent und Symbolfigur der sozialliberalen Koalition nicht vermittelbar gewesen, meinte Helmut Kohl, der wohl eine zeitlang gewisse Sympathie dafür gehabt zu haben scheint.53 Sicher dürfte sein, dass aufgrund der ausgeprägten Animosität von Franz Josef Strauß gegen die FDP die CSU ihn nicht gewählt hätte – und damit die Chance für ein Signal zum Machtwechsel nach dem Vorbild von 1969 vertan hat. Wie dem auch sei, Walter Scheel stellte sich diesem Risiko nicht, er war kein Glücksspieler, sondern ein kühl kalkulierender Realist. Und vor allem: Er wollte sein politisches Schicksal nicht von anderen abhängig machen, sondern wie stets in seinem Leben, darüber selbst entscheiden.
Weiterführende Literatur Baring, Arnulf: Walter Scheel. Mr. Bundesrepublik, in: Kroneck, Friedrich J. (Hg.): Im Dienste Deutschlands und des Rechtes, Baden-Baden 1981, S. 17–37. Genscher, Hans-Dietrich (Hg.): Heiterkeit und Härte. Walter Scheel in seinen Reden und im Urteil von Zeitgenossen, Stuttgart 1984. Scheel, Walter (im Gespräch mit Engert, Jürgen): Erinnerungen und Einsichten, Stuttgart u.a. 2004. Schneider, Hans-Roderich: Walter Scheel. Handeln und Wirken eines liberalen Politikers, Stuttgart 1974.
Hinweise zu den Quellen Der Vorlass Walter Scheels ist auf zwei Institutionen verteilt: Ein Teil liegt im Archiv des deutschen Liberalismus in Gummersbach (A33, A35, N82), ein anderer im Bundesarchiv Koblenz (N 1417). Hier liegen auch die Akten aus Scheels Amtszeit als Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit (B 213) bzw. als Bundespräsident (B 122). Diejenigen aus den Jahren im Auswärtigen Amt werden dagegen in dessen Politischem Archiv in Berlin aufbewahrt.
53
Vgl. die widersprüchlichen Einschätzungen von Kohl, Helmut: Erinnerungen 1930– 1982, München 2004, S. 415, 518; Scheel, Walter (im Gespräch mit Jürgen Engert): Erinnerungen und Einsichten, Stuttgart und Leipzig 2004, S. 54; Carstens, Karl: Erinnerungen und Erfahrungen. Hg. von Kai von Jena und Reinhard Schmoeckel, Boppard a. Rhein 1993, S. 521 ff.; vgl. dazu auch Szatkowski, Tim: Karl Carstens, Weimar und Wien 2007, S. 311.
Günther Heydemann
Ein Liberaler der ersten Stunde – Wolfgang Natonek (1919–1992) Einleitung Erst nach der Wiedervereinigung ist das Leben und Wirken eines Mannes wieder einer breiteren Öffentlichkeit bekannt geworden, der sich noch als Student durch sein Eintreten für liberale Demokratie, soziale Gerechtigkeit und die Einheit Deutschlands in der Sowjetischen Besatzungszone einen Namen gemacht hatte: Wolfgang Natonek. Seine unerschütterlichen politischen und moralischen Grundüberzeugungen, seine beispielhafte Führung als gewählter erster Vorsitzender des Leipziger Studentenrats und sein Einfluss auf die Studenten in Mitteldeutschland über die Alma mater Lipsiensis hinaus erschienen der sowjetischen Besatzungsmacht und der SED als so gefährlich, dass er im November 1948 ohne jegliche Rechtsgrundlage auf offener Straße verhaftet wurde. Wenige Monate später wurde er, erneut in völliger Willkür, zu 25 Jahren Zuchthaus „verurteilt“, von denen er acht Jahre, teilweise unter schlimmsten Bedingungen, in einem Dresdener Untersuchungsgefängnis des sowjetischen Geheimdienstes sowie in den berüchtigten Haftanstalten Bautzen und Torgau „abbüßte“. Wolfgang Natonek gehört zu jener Generation junger Liberaler aus Mitteldeutschland, die ausgesprochene politische Talente waren, wie z.B. Wolfgang Mischnick (1921–2002)1 und Hans-Dietrich Genscher (geb. 1927)2 , denen noch rechtzeitig die Flucht aus der SBZ/DDR gelang und die in der späteren Bundesrepublik politische Spitzenämter einnehmen sollten. Letzteres blieb Natonek durch seine Verhaftung und darauf folgende Verurteilung versagt. Darüber hinaus scheint es fraglich, ob er solch hohe politische Positionen tatsächlich angestrebt hätte. Fest steht indes, dass er nach seiner Freilassung und Übersiedelung aus der DDR in die Bundesrepublik im Jahre 1956, die allerdings eher einer Flucht gleichkam, mehrfache Bitten und Aufforderungen, als ehemaliges aktives Mitglied der LDP nunmehr in der FDP politisch aktiv zu werden, beharrlich abgelehnt hat. Berufliche, private und nicht zuletzt gesundheitliche Probleme ließen ihn diese Entscheidung treffen, obwohl ihm erneut eine große politische Karriere 1
2
Vgl. Mischnick, Wolfgang: Von Dresden nach Bonn. Erlebnisse – jetzt aufgeschrieben, Stuttgart 1991; dort zu seinem Weg in die LDP, in die er bereits Mitte September 1945 als Jugendreferent für Dresden eingetreten war. Nach hauptamtlicher politischer Tätigkeit für die LDP in Sachsen musste er am 4. 4. 1948 die SBZ verlassen, um einer drohenden Verhaftung zu entgehen (S. 204–295). Mischnick erwähnt ausdrücklich die Verhaftung Wolfgang Natoneks, zusammen mit weiteren jungen LDP-Mitgliedern wie Horst Schüppel, Inge Peez, Hubert Blechschmidt, Konrad Brettschneider und dem Dresdener Dietrich Hübner, der erst nach 16 Jahren nach mehrfacher Intervention seitens der Bundesrepublik, initiiert von Thomas Dehler, wieder die Freiheit erlangte (S. 276). Vgl. Genscher, Hans-Dietrich: Erinnerungen, Berlin 1995; dort zu seinem Weg in die LDP, deren Mitglied er am 30. 1. 1946 wurde (S. 56). Auch Genscher entging der drohenden Verhaftung nur durch Flucht am 20. 8. 1952 aus der DDR (S. 65).
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Günther Heydemann
möglich gewesen wäre, stellt man sein enormes Rednertalent, seine große Überzeugungskraft und nicht zuletzt seine unprätentiöse, menschliche Art in Rechnung. Wer also war Wolfgang Natonek?
In der Umbruchsituation nach dem Zweiten Weltkrieg Wer sich ein Bild von seinem Leben, Wirken und Leiden verschaffen will, hat naturgemäß zunächst die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen und nicht zuletzt die Atmosphäre der unmittelbaren Nachkriegszeit zu berücksichtigen. Politische Diskussionen nahmen in Alltag und Freizeit der Studenten, wie bei der Bevölkerung insgesamt, in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg breiten Raum ein. Der eben erst vergangene Krieg, der so massiv in das eigene Leben und das von Familienangehörigen, Verwandten und Bekannten eingegriffen hatte, der Zusammenbruch der NS-Diktatur und die völlige moralische Diskreditierung des Nationalsozialismus, die darauf folgende Besetzung und Besatzung, das Verhalten des sowjetischen Militärs, die Politik der SMAD und der von ihr gestützten KPD/SED, das in Zonen aufgeteilte Deutschland und dessen sich abzeichnende Spaltung im Zeichen des Kalten Krieges – all das und vieles mehr bot ausreichend Stoff für Diskussionen, Meinungsstreit und die Suche nach eigener Positionierung. Das bestätigt in der Rückschau auf diese Zeit auch HansDietrich Genscher, der bis 1949 an der Leipziger Universität Rechtswissenschaften studierte: „Es wurde sehr viel politisch diskutiert. Die Frage, wie nach der Katastrophe des Dritten Reiches 1945 der Neuanfang aussehen sollte, beschäftigte uns mehr als alles andere.“3 Mochte das politische Interesse bei den Studenten je nach persönlicher Einstellung auch unterschiedlich ausgeprägt sein, der politischen Debatte entging niemand. Schon der von der KPD/SED und der sowjetischen Besatzung mit wachsendem Abstand zum Kriegsende immer stärker propagierte Sozialismus als angeblich einzige politische Lösung für die Zukunft Deutschlands trug direkt wie indirekt zu einer steten Intensivierung der damaligen politischen Diskussion besonders in der Sowjetischen Besatzungszone bei. Es verwundert daher auch nicht, dass die frühe Bildung politischer Studentengruppen an den mitteldeutschen Universitäten rasch zu einer Polarisierung führte.4
3
4
In: 600 Jahre Universität Leipzig. Jubiläumsbeilage der Leipziger Volkszeitung vom 20. 5. 2009, S. 15 (aus einem Interview mit dem früheren Vizekanzler und Bundesminister des Auswärtigen); mit fast gleich lautender Aussage s. auch Genscher, Hans-Dietrich: Erinnerungen, Berlin 1995, S. 55. Vgl. hierzu Thüsing, Andreas: Der Leipziger Studentenrat 1947–1948, in: Hehl, Ulrich von (Hg.): Sachsens Landesuniversität in Monarchie, Republik und Diktatur. Beiträge zur Geschichte des Universität Leipzig vom Kaiserreich bis zur Auflösung des Landes Sachsen 1952, Leipzig 2005, S. 497–522; dort besonders S. 502 f.
Wolfgang Natonek
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Vorsitzender des neuen, demokratisch gewählten Leipziger Studentenrats Auch an der Universität Leipzig hatte sich nahezu unmittelbar nach Kriegsende ein „bürgerliches“ und ein „linkes“ Lager unter den Studenten herausgebildet. Als entscheidende Streitpunkte kristallisierten sich dabei zwei Probleme heraus, die auch in der Folge brisant blieben: die Frage der konkreten Durchführung der Entnazifizierung und das Problem der Immatrikulation, insbesondere der Zulassung sogenannter „Arbeiter- und Bauernstudenten“. Trotz dieser von Anfang an bestehenden politischen Gegensätze konnte indes Ende des Jahres 1945 eine „Arbeitsgemeinschaft demokratischer Studenten“ (AdS) an der Universität Leipzig gegründet werden. Damit wurde ein studentisches Gremium geschaffen, das trotz interner Spannungen angesichts der immensen wirtschaftlichen und sozialen Probleme anfangs durchaus sachorientiert arbeitete. Dazu trug sicherlich bei, dass die politischen Kräfteverhältnisse in etwa ausgewogen waren: Bei insgesamt 35 Mitgliedern des AdS gehörten 17 Studenten der KPD an, zehn der CDU und sieben der LDP; ein Mitglied war parteilos. Nachdem auf einer Tagung des Zentralrats der FDJ im September 1946 die Bildung von Studentenräten an den Universitäten und Hochschulen gefordert worden war, um, wie es hieß, „den Formierungsprozess der demokratischen Kräfte unter den Studenten zu aktivieren“,5 wurden am 6. Februar 1947 auch in Leipzig Wahlen zum 21-köpfigen Studentenrat mit einer Wahlbeteiligung von 80,9 % durchgeführt, die jedoch – für SED und FDJ unerwartet – zu einer „bürgerlichen“ Mehrheit im Rat führten: Den jeweils sechs studentischen Vertretern aus den Reihen von CDU und LDP standen nur acht aus der SED gegenüber; zusammen mit einem parteilosen Vertreter verfügten CDU und LDP mit 13 zu 8 Stimmen über eine klare Mehrheit.6 Wolfgang Natonek, der bereits in der Philosophischen Fakultät II mit dem zweithöchsten Stimmenanteil von 27,4% in den Studentenrat gewählt worden war, wurde mit den Stimmen der „bürgerlichen“ Vertreter auch zu dessen Vorsitzendem gewählt.7 Der Ausgang der Studentenratswahlen bedeutete für die SED und die FDJ einen herben Rückschlag, hatte sie doch ihre eigenen Kandidaten massiv unterstützt und eine entsprechende Wahlpropaganda betrieben, ganz abgesehen von der Initiierung der Studentenräte durch die FDJ. Es fiel ihr daher schwer, akzeptieren zu müssen, dass sie nicht die Mehrheit erlangt hatte. Entsprechend weigerte sie sich, die Wahl Natoneks zum Vorsitzenden anzuerkennen, und brachte das Argument vor, dass der Vorsitzende von der größten Fraktion im Studentenrat 5 6 7
Zit. nach Buchholz, Annett: Der Studentenrat an der Universität Leipzig 1945–1951, in: Das Hochschulwesen 1 (1990), S. 50–55; dort S. 51. Die Wahl fand auch in der Stadt Leipzig große Aufmerksamkeit; vgl. die Sammlung von Zeitungsausschnitten, in: Stadtarchiv Leipzig, StVuR, Nr. 1483, Bl. 4.7. Natonek war zwei Monate nach Gründung der LDP der Partei beigetreten, im November 1946 Mitglied des geschäftsführenden Vorstands im Bezirksverband Leipzig und im Herbst 1947 Mitglied des geschäftsführenden Landesvorstandes Sachsen geworden. Zum Motiv für seine Kandidatur vgl. Schulte, Volker: Der Fall Natonek – ein Fall SED. Im Gespräch mit dem Studentenratsvorsitzenden von 1947/48, in: Universität Leipzig. Mitteilungen und Berichte 4 (1992), S. 5 f.
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gestellt werden müsse – also von ihr. Da es sich jedoch um eine Personal- und nicht um eine Listenwahl gehandelt hatte, war diese Argumentation unhaltbar. Nur widerstrebend erklärten sich daher die SED-Mitglieder zur Mitarbeit bereit. Allein die Konstituierung des Leipziger Studentenrats zeigte somit, welch starke politischen Spannungen in ihm von Anfang an existent waren. Auch der sowjetischen Besatzungsmacht und den kommunistischen Kadern in der Landesverwaltung blieb die „bürgerliche“ Dominanz im Studentenrat ein Dorn im Auge. Mit Missfallen beobachteten die sowjetischen Besatzungsbehörden, dass der Studentenrat aufgrund seiner bürgerlichen Mehrheit nicht die gewünschte sozialistische „Erziehungsarbeit“ betrieb.
Couragierter Kritiker der kommunistischen Hochschulpolitik Zunächst indes konnte der Studentenrat seinen eigentlichen Aufgaben unbehelligt nachgehen, welche vor allem in der Verbesserung der materiellen Lage der Studierenden, der Förderung ihres Studiums sowie der Pflege des geistigen und kulturellen Lebens an der Universität bestanden.8 Entsprechend war der Studentenrat in verschiedene Referate aufgeteilt, die sich um einzelne Sachgebiete kümmerten (Sozial-, Gesundheits-, Rechts-, Politik-, Sport-, Kultur-, Außen-, Presseund Rundfunkreferat).9 Angesichts der zum Teil enormen wirtschaftlichen und sozialen Notlage der Studenten hatte das Sozialreferat die mit Abstand größte Aufgabe zu bewältigen. Allerdings ließ sich die Politik nicht völlig ausklammern, vielmehr wurde sie erneut zum entscheidenden Konfliktpunkt. Es war vor allem die Frage des „Arbeiter- und Bauernstudiums“ – und damit das Problem der Immatrikulationsrichtlinien und ihrer Handhabung –, die zu einem tief greifenden Dissens führte. Die kontroverse Debatte darüber im Studentenrat verlief parallel zu den entsprechenden Auseinandersetzungen zwischen Rektorat und Senat sowie der Berliner Zentral- und Landesverwaltung. Es war vor allem das grundsätzliche Problem der Studienplatzreservierungen für sogenannte „Arbeiterstudenten“ und deren automatische Immatrikulation nach erfolgreichem Abschluss der Vorstudienausbildung, welche von der Mehrheit der Studenten ebenso wie der des Studentenrates abgelehnt wurde. Wogegen man dabei ankämpfte, war die pauschale Privilegierung von „Arbeiter- und Bauernstudenten“ und die damit verbundene Ideologisierung durch die SED und FDJ, die in der Tat auf eine „Gegenprivilegierung“ hinauslief. Bereits seit längerem ein strittiges Thema nicht nur unter Leipziger Studenten, sondern auch an allen anderen Universitäten der SBZ, war es Wolfgang Natonek, der sich bei einer Rede im Juni 1947 erstmals öffentlich gegen einseitige Privilegien für „Arbeiterstudenten“ wandte, wodurch nach seiner Ansicht keine „historische Gerechtigkeit“ geschaffen, sondern altes Unrecht durch neues 8 9
Vgl. Universitätsarchiv Leipzig, Studentenrat 3, Bl. 1. Vgl. Universitätsarchiv Leipzig, Studentenrat 3, Bl. 5a und b.
Wolfgang Natonek
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ersetzt werden würde. Stattdessen hätten die Universitäten zwei Ziele zu verfolgen: einerseits die „demokratische Umerziehung“ zu bewirken und andererseits das „Niveau unserer Hochschulen“ zu heben. Das sei schon deshalb notwendig, um an den „Arbeiterstudenten etwas gutzumachen“. Das dürfe aber nicht bedeuten, die Anforderungen an den Hochschulen zu senken, um Arbeiterkindern das Studium zu erleichtern. Vielmehr müsse das Niveau erhöht werden, zumal es um die Auslese und Förderung von Begabten aus allen gesellschaftlichen Schichten ginge: „Nicht weil einer ein Arbeiterkind ist, kommt er zu uns, sondern weil seine Begabung überdurchschnittlich ist.“ 10 Abgesehen vom Inhalt muss diese Aussage den sowjetischen Besatzungsbehörden und den kommunistischen Funktionären in der Zentral- und Landesverwaltung stark missfallen haben, zumal Natonek seine Äußerungen auf der ersten gesamtdeutschen Studentenkonferenz in Halle (19.–22. Juni 1947) gemacht hatte.11 Damit wurde die sowjetische bzw. kommunistische Bildungspolitik in der SBZ in einem entscheidenden Punkt massiv kritisiert und letztlich diskreditiert. Nur vier Wochen später fand eine vom Leipziger Studentenrat organisierte Allgemeine Studentenversammlung statt (23. Juli 1947), auf der die Immatrikulationsbestimmungen vom September und Dezember 1945 der Deutschen Verwaltung für Volksbildung diskutiert wurden, welche „Arbeiter- und Bauernstudenten“ den Zugang zur Hochschule erleichtert hatten. Auf der Versammlung wurde kritisiert, dass die Absolventen der Vorstudienanstalten automatisch immatrikuliert würden, während reguläre Bewerber nur nach Maßgabe ihrer Abiturnoten und in Abhängigkeit vom bewilligten Studienplatzkontingent Aufnahme an der Universität fänden. Vor allem die in der erregten Debatte provokante und zugleich unqualifizierte Bemerkung des Studenten Edgar Plätzsch, „er befürworte grundsätzlich das Arbeiterstudium. Würde man aber das Zulassungsprinzip entsprechend der sozialen Schichtung des Volkes anwenden, so müssten wir neben den Arbeitern auch 5% Schwachsinnige an die Universität“ lassen, führte zu einem Eklat.12 Da Natonek nach einem Mehrheitsbeschluss der Versammlung dem Kommilitonen Plätzsch nicht das Wort entzogen hatte, sondern ihn um eine Richtigstellung seiner Äußerung ersuchte, zogen die SED- und FDJ-Mitglieder unter den Studenten aus und bildeten eine eigene Versammlung. Der Vorfall zog sofort weite Kreise: Einer Unterschriftenliste von Studenten, die Plätzsch weiterhin ihr Vertrauen aussprachen, setzte die FDJ eine Resolution entgegen, in der Natonek scharf kritisiert wurde; zudem fand der Vorfall nicht nur in der Leipziger Presse großen Widerhall, sondern auch in der gesamten SBZ.13 10
11 12
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Zitat nach John, Jürgen (Hg.): „Steckt alles Trennende zurück!“ Eine Quellenedition zum „Wartburgtreffen der Deutschen Studentenschaft Pfingsten 1948“ in Eisenach, Stuttgart 2010, S. 69. Zitiert nach Feige, Hans-Uwe: Die Leipziger Studentenopposition (1945–1948), in: DA 26 (1993); H. 9, S. 1057–1068; dort S. 1062. Vgl. Blecher, Jens und Wiemers, Gerald (Hg.): Studentischer Widerstand an der Universität Leipzig 1945–1955, 2. ergänzte und verbesserte Auflage, Beucha 1998, S. 103–105; dort S. 103. Vgl. die entsprechenden Dokumente, in: Blecher, Jens und Wiemers, Gerald (Hg.): Studentischer Widerstand an der Universität Leipzig 1945–1955, 2. ergänzte und verbesserte Auflage Beucha, 1998, S. 106 und S. 110–112.
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Durch die Auseinandersetzungen in der Studentenschaft wurde Natonek den Mitgliedern und Anhängern der SED bzw. FDJ zunehmend suspekt; der Konflikt im Studentenrat bereitete aber auch Rektorat und Senat der Universität Leipzig Probleme.14 Nach längerer Diskussion im Senat erhielt Plätzsch einen Verweis mit der Begründung: „Jeder Student, der zu hochschulpolitischen Fragen öffentlich Stellung nimmt, ist verpflichtet, die politische Lage innerhalb der Studentenschaft zu bedenken und alles zu vermeiden, was den Arbeitsfrieden innerhalb der Studentenschaft gefährdet.“15 Doch damit war das Problem der bestehenden Immatrikulationsbestimmungen nicht vom Tisch; vielmehr war es nun erst recht zum beherrschenden Diskussionsthema an der Universität geworden, verbunden mit einer breiten Kritik an der einseitigen Zulassungspraxis seitens der Deutschen Verwaltung für Volksbildung in Berlin und des Sächsischen Bildungsministeriums in Dresden. Natonek geriet erneut in die Schusslinie, als er auf einem Parteitag der LDP in Bad Schandau im Dezember 1947 die Feststellung traf: „Es gab einmal eine Zeit, in welcher der verhindert war zu studieren, der eine nichtarische Großmutter hatte. Wir wollen nicht eine Zeit, in der es dem verhindert wird zu studieren, der nicht über eine proletarische Großmutter verfügt.“ In der inzwischen mehrheitlich von der SED kontrollierten Leipziger Zeitung wurde diese Äußerung scharf kritisiert: „Herr Natonek ist um Lippenbekenntnisse für die Demokratie selten verlegen, aber seine wahre, dem Volksstudium geradezu feindliche Ideologie lässt sich noch besser durch seine wörtlichen Ausführungen [belegen; G.H.]. […] Herr Natonek schämt sich also nicht, die Zeit der barbarischen, faschistischen Rassenhetze mit der vom Standpunkt der Demokratie durchaus einwandfreien und berechtigten Förderung des Volksstudiums in einem Atemzug zu nennen.“16 Ganz abgesehen davon, dass Natoneks Kritik an den damals praktizierten Richtlinien völlig berechtigt war, die in der Tat zu einer Gegenprivilegierung führten, hatte er selbst aus eigener, bitterer Erfahrung gesprochen. Die Nationalsozialisten hatten seinen jüdischen Vater in die Emigration gezwungen und der Familie das gesamte Vermögen gesperrt, so dass er seine Schulbildung nur unter größten Schwierigkeiten im Jahre 1938 an einem Leipziger Gymnasium hatte abschließen können. Als Werkstudent hatte er sodann zwei Semester Veterinärmedizin studiert, danach jedoch wieder abbrechen müssen, weil er als „Halbarier“ nicht zum Examen zugelassen wurde. 1940 zur Wehrmacht eingezogen, wurde er bereits ein Jahr später wieder aus dem gleichen Grund als „wehrunwürdig“ entlassen und arbeitete dann als Hilfsarbeiter bei einer Leipziger Autowerkstatt bis zum Kriegsende; der Aufforderung, dem Volkssturm beizutreten, war er nicht nachgekommen.17 14
15 16 17
Vgl. das Protokoll der Sitzung des Senats am 20. 8. 1947, in: Universitätsarchiv Leipzig, R 1, Bl. 114 ff. Zur Sitzung wurden die Studentenratsvorsitzenden Natonek und Zastrow in der Angelegenheit Plätzsch gehört. Vgl. Blecher, Jens und Wiemers, Gerald (Hg.): Studentischer Widerstand an der Universität Leipzig 1945–1955, 2. ergänzte und verbesserte Auflage, Beucha 1998, S. 109. Blecher, Jens und Wiemers, Gerald (Hg.): Studentischer Widerstand an der Universität Leipzig 1945–1955, 2. ergänzte und verbesserte Auflage, Beucha 1998, S. 107. Vgl. das Faksimile seines Lebenslaufes, in: Blecher, Jens und Wiemers, Gerald (Hg.): Studentischer Widerstand an der Universität Leipzig 1945–1955, 2. ergänzte und ver-
Wolfgang Natonek
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Zweifellos verkörperte Wolfgang Natonek in hohem Maße den menschlich und politisch früh gereiften Studententyp, der für die Studentengeneration der Nachkriegszeit im damaligen Deutschland oftmals charakteristisch gewesen ist. Hinzu kam allerdings noch seine persönliche Ausstrahlung; ruhig und sachlich zugleich, vertrat er klare politische Grundprinzipien und verfügte zudem über ein enormes Rednertalent. Das verschaffte ihm bei seinen Mitstudenten rasch hohes Ansehen. „Wenn ich eine Schlussfolgerung aus der schlimmen Zeit des Nationalsozialismus ziehen wollte“, so seine innerste Überzeugung, „in der ich, Sohn des emigrierten Schriftstellers Hans Natonek, als ,staatenlos‘ eingestuft war und mit meiner Mutter bittere Not litt, dann war es die, Zivilcourage zu zeigen, damit sich so etwas ähnliches nicht wiederholt. Aber Zivilcourage, das war mir klar, konnte ich nicht von anderen, sondern nur von mir selbst fordern.“18
Ein Studentenvertreter von überregionaler Bekanntheit Inzwischen hatte sich die Lage an der Leipziger Universität weiter zugespitzt, denn bei den am 12. Dezember 1947 stattfindenden Studentenratswahlen musste die SED eine noch schlimmere Niederlage einstecken als noch ein gutes halbes Jahr zuvor. In dem inzwischen auf 30 Sitze vergrößerten Studentenrat erhielt die LDP elf, die CDU neun und die SED acht Sitze; zwei Mitglieder waren parteilos. Damit hatte die LDP, deren Vorsitzender Natonek ebenfalls war, ihren Anteil nahezu verdoppelt, aber auch die CDU drei Sitze hinzugewonnen, während die SED stagnierte. Natoneks Wiederwahl zum 1. Vorsitzenden des Studentenrats wurde mit „anhaltendem Trampeln“ begrüßt.19 Auf einer Sitzung der SED-Landesleitung im Februar 1948 zur Auswertung der Leipziger Studentenratswahlen mussten deren Teilnehmer selbstkritisch eingestehen, „dass diese von je höherer Stelle umso katastrophaler beurteilt worden sind, d.h. am kritischsten vom Zentralsekretariat, etwas milder von Landesvorstand. […] Wir haben geglaubt, die Universität von unten herauf erobern zu können.“ Nun müsse jedoch eine Änderung der Strategie erfolgen, um die Macht im Studentenrat zu erlangen: „Wir werden sowohl im Studentenrat, als auch bei der Ausgestaltung unserer Wandzeitung die Hauptaufgabe darin sehen, einen Kampf zu führen, wie ihn Genosse Ackermann als zugespitzte ideologische Auseinandersetzung mit den faschistischen Elementen nannte. Es wird unsere Aufgabe sein,
18
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besserte Auflage, Beucha 1998, S. 90 f. Siehe ausführlich zu seinem und dem Lebenslauf seines Vaters, des Journalisten und Schriftstellers Hans Natonek (1892–1963) Böttger, Steffi (Hg.): Hans Natonek – Wolfgang Natonek. Briefwechsel 1946–1962, Leipzig 2008, S. 7–25 bzw. S. 25–47. Vgl. Schulte, Volker: Der Fall Natonek – ein Fall SED. Im Gespräch mit dem Studentenratsvorsitzenden von 1947/48, in: Universität Leipzig. Mitteilungen und Berichte 4 (1992), S. 5. Vgl. hierzu den Tagebucheintrag des Zeitzeugen und Kommilitonen Natoneks, Gerhard Schulz, später Zeithistoriker in Tübingen, in: Wengst, Udo (Hg.): Gerhard Schulz: Mitteldeutsches Tagebuch. Aufzeichnungen aus den Anfangsjahren der SED-Diktatur 1945–1950, München 2009, S. 137 f.
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solche Elemente festzustellen und die entsprechende Säuberung vorzunehmen.“20 Bereits in der Wortwahl kam die angestrebte, verschärfte Auseinandersetzung seitens der SED mit den „bürgerlichen“ Studenten zum Ausdruck, wurden diese doch nun mit „faschistischen Elementen“ gleichgesetzt. Vorderhand besaß allerdings die „bürgerliche“ Mehrheit, demokratisch gewählt und dadurch entsprechend legitimiert, nach wie vor die Vormacht im Studentenrat. Natonek sah keinen Anlass, seine Grundüberzeugungen zu revidieren. Inzwischen hatte er auch über Leipzig hinaus einen gewissen Bekanntheitsgrad erreicht. Daher wurde er auch zum „3. Wartburgtreffen der Deutschen Studentenschaft“ im Mai 1948 in Eisenach eingeladen, das von der FDJ (!) organisiert worden war, um dort als Vertreter für die Studenten aus den Westzonen und der SBZ die Hauptrede zu halten. Um das ohnehin nicht ganz spannungsfreie gesamtdeutsche Studententreffen nicht weiter zu belasten, behandelte er in seiner Rede das Problem der „Arbeiter- und Bauernstudenten“ nur am Rande und ging stattdessen wiederholt auf die zu diesem Zeitpunkt bereits gefährdete Einheit Deutschlands ein. So stellte er fest: „Auch jene Frage, die vielleicht das primärste Anliegen der Gesellschaft ist, möchte ich nicht unerwähnt lassen. Es ist die Frage, die bereits vor 100 Jahren auf der Wartburg erhoben worden ist, die Frage nach der Einheit des Vaterlandes, dessen Träger wir sind. Diese Frage kann nur beantwortet werden mit einem unnachgiebigen ,Ja‘ zu dieser Einheit […].“ 21 Natonek war es auch, dem es gelang, einen öffentlichen Aufruf der Studenten so zu formulieren, dass ihn Studenten aus den westlichen Besatzungszonen und aus der SBZ unterzeichnen konnten: „Deutsche Studenten! 1817 wie 1848 waren Freiheit, Ehre und ein geeintes Vaterland die Forderungen, die Studenten aller Teile Deutschlands auf der Wartburg erhoben. Sie hatten erkannt, dass Studium und Belange des Volkes nicht zu trennen sind. 100 Jahre später fehlt uns die politische und wirtschaftliche Einheit; das kulturelle Band, das uns noch verbindet, droht zerrissen zu werden. Auch 1948 müssen daher die Forderungen derer, die sich erstmalig auf der Wartburg trafen, mit Nachdruck erhoben werden. Freiheit von Furcht und Unterdrückung, Freiheit für ein demokratisch geeintes Deutschland sind daher Postulate, die die auf der Wartburg versammelten Studenten ihren Kommilitonen in Ost und West, in Nord und Süd zurufen. Stellt alles Trennende zurück! Es geht um den Bestand des Vaterlandes, es geht um die Arbeitsmöglichkeit unserer Wissenschaft, deren Ergebnisse dem gesamten Volk und im Zusammenwirken mit der wissenschaftlichen Forschung in aller Welt der Menschheit einen Weg in eine bessere Zukunft öffnen sollen. 20
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Protokoll der Sekretariatssitzung am 14. 2. 1948 zu dem Punkt: Die Studentenratswahlen und die Lage an der Universität Leipzig, in: Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden, SED-Landesleitung 11 856, Nr. A/558, Bl. 009 f. Wortlaut der Rede Natoneks bei John, Jürgen (Hg.): „Steckt alles Trennende zurück!“ Eine Quellenedition zum „Wartburgtreffen der Deutschen Studentenschaft Pfingsten 1948“ in Eisenach, Stuttgart 2010, S. 266–271.
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Seid Euch bewusst, dass Studium zugleich Verpflichtung ist, für die Belange des Volkes einzutreten. Wartburgtreffen der deutschen Studentenschaft, Pfingsten 1948.“22 Diese Proklamation zustande gebracht zu haben, stellte keine geringe Leistung dar; letztlich rettete sie das Wartburgtreffen vor dem offenen Bruch, zumal die rund 100 Studenten aus den Westzonen bereits eine Erklärung abgegeben hatten, dass man beim Gebrauch des Wortes „Einheit“ ein anderes Verständnis habe als „der Osten“ – gemeint waren vor allem Mitglieder und Anhänger der SED bzw. FDJ. Diese wiederum konnten sich nur schwer mit einem Text anfreunden, der demokratisch-gesamtdeutsch ausgerichtet war und nicht auf eine Wiedervereinigung unter sozialistischem Vorzeichen abzielte.23
Der wachsende Unmut der neuen Machthaber Gleichwohl hatte das Problem der Zulassungsbedingungen nicht seine Brisanz verloren – im Gegenteil: Im Sommersemester 1948 kam es darüber erneut zu heftigen Auseinandersetzungen im Leipziger Studentenrat, die schließlich zu dessen Spaltung führten. Nachdem die „bürgerliche“ Mehrheit von Studenten in einer Resolution an das Dresdener Volksbildungsministerium sich erneut für faire und dementsprechend ausgewogene Zulassungskriterien ausgesprochen hatte, ohne im Übrigen sogenannte „Arbeiter- und Bauernstudenten“ abzulehnen, waren die SED- bzw. FDJ-Mitglieder aus Protest dagegen ausgezogen und hatten einen eigenen Studentenrat konstituiert. Die Spaltung des bisherigen Studentenrats ließ sich nicht mehr überbrücken, obwohl sich gerade Natonek als 1. Vorsitzender intensiv darum bemühte, dessen Einheit wieder herzustellen.24 Auf seine Initiative hin hatte der „bürgerliche“ Studentenrat noch einmal ausdrücklich in einer Erklärung betont: „Wenn vorgeschlagen ist, dass die Begabtesten aller Volksschichten zum Studium zugelassen werden sollen, so sind damit ganz selbstverständlich auch und ganz besonders die begabtesten Arbeiter- und Bauernkinder gemeint.“25 22
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John, Jürgen (Hg.): „Steckt alles Trennende zurück!“ Eine Quellenedition zum „Wartburgtreffen der Deutschen Studentenschaft Pfingsten 1948“ in Eisenach, Stuttgart 2010, S. 319 f. Vgl. hierzu auch den Tagebucheintrag von Gerhard Schulz, in: Wengst, Udo (Hg.): Gerhard Schulz: Mitteldeutsches Tagebuch. Aufzeichnungen aus den Anfangsjahren der SED-Diktatur 1945–1950, München 2009, S. 156: „Sicher wäre ein offener Riß das Ergebnis dieser Tage gewesen, wäre nicht Natonek in die Bresche gesprungen. Binnen einer Stunde gelang es ihm, eine Entschließung zu verfassen, hinter die sich alle vertretenen Hochschulen stellten. Sie brachte wenigstens nach außen hin das Bekenntnis zur Einheit.“ Vgl. Böttger, Steffi (Hg.): Hans Natonek – Wolfgang Natonek. Briefwechsel 1946–1962, Leipzig 2008, S. 33 f. Universitätsarchiv Leipzig, Rektorat 119, Bl. 50–55, hier Bl. 52; zit. nach Thüsing, Andreas: Der Leipziger Studentenrat 1947–1948, in: Hehl, Ulrich von (Hg.): Sachsens Landesuniversität in Monarchie, Republik und Diktatur. Beiträge zur Geschichte der
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Längst hatten die Auseinandersetzungen im Leipziger Studentenrat indes überregionale politische Bedeutung gewonnen, auch und nicht zuletzt, weil dieser nach wie vor eine demokratisch legitimierte Alternative zur angestrebten sozialistischen Transformation der Universitäten und Hochschulen seitens der SED verkörperte. Die berechtigte Kritik einer breiten Mehrheit von Studenten an der einseitigen „Brechung des bürgerlichen Bildungsprivilegs“ diskreditierte nicht nur die Hochschulpolitik der SED, sondern auch die SED selbst. An eine umfassende politisch-ideologische Erziehung der gesamten Studentenschaft im Sinne des Marxismus-Leninismus war daher nicht zu denken; vielmehr verloren FDJ und SED zunehmend an Rückhalt unter der Studentenschaft, ebenso auch an Mitgliedern. Auch politisch war der Kampf gegen die „bürgerliche“ Mehrheit im Studentenrat im Moment nicht zu gewinnen; denn weder verfügten FDJ oder SED im Hinblick auf das „Arbeiter- und Bauernstudium“ über hinreichend überzeugende Argumente, noch standen in ihren Reihen Persönlichkeiten, die Natonek Paroli bieten konnten. Aus Sicht der Partei musste daher bei den anstehenden Wahlen zum Studentenrat im Dezember 1948 eine erneute, womöglich noch größere Niederlage befürchtet werden – mit unübersehbaren Folgen für die Akzeptanz der SED bzw. FDJ unter der Studentenschaft und die Fortsetzung ihrer Hochschulpolitik. Da eine politische Lösung auf demokratischem Wege jedoch nicht realisierbar schien, blieb nur noch eine brachiale. Ohnehin hatte die Partei bereits seit Herbst 1947 in Zusammenarbeit mit der Sowjetischen Militäradministration eine härtere Gangart eingeschlagen, die unverkennbar im Zeichen des Stalinismus stand.26
Die Beseitigung des Widerstands gegen die „sozialistische Hochschule“ Seit seiner Wiederwahl im Dezember 1947 war Natonek angesichts seiner Popularität unter der Leipziger Studentenschaft von der örtlichen Sowjetischen Militäradministration genau beobachtet worden, wie wir inzwischen auch aus sowjetischen Quellen wissen, die seit 1990 eingesehen werden konnten.27 Ihm wurde vorgeworfen, die Jugend „reaktionär“ zu missbrauchen. In der Nacht vom 12. 26
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Universität Leipzig vom Kaiserreich bis zur Auflösung des Landes Sachsen 1952, Leipzig 2005, S. 497–522, hier S. 518, Anm. 117. Schon im September 1947 war der Kreis um den Vorsitzenden der Leipziger Hochschulgruppe der CDU, Dr. Hermann Mau, verhaftet worden; vgl. Schmeitzner, Mike: Im Schatten der FDJ. Die „Junge Union“ in Sachsen 1945–1950, Göttingen 2004, S. 95 und 151 f. Vgl. Quartalsbericht für das 4. Quartal 1947 des Leiters der Informationsabteilung der SMA Leipzig, Oberstleutnant Schipkov, an den Leiter der Informationsabteilung der SMAS, Oberstleutnant Kuzminov, vom 25. 12. 1947, zit. nach Schmeitzner, Mike: Im Schatten der FDJ. Die „Junge Union“ in Sachsen 1945–1950, Göttingen 2004, S. 95, Anm. 248. Seine Überwachung durch das NKWD und die K 5 (Vorläufer des MfS) wird auch durch seine Akte bei der BStU Leipzig bestätigt. Hier liegen dienstliche Schreiben der Kriminal-Direktion Leipzig mit der Bitte um „evtl. vorliegende Angaben“, datiert vom 4. 11. 1947 und 4. 12. 1947, erstmals zu Wolfgang Natonek im Zusammenhang mit dem auf dem Landesparteitag der LDP in Sachsen gewählten Vorstand (Natonek war
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zum 13. November 1948 wurde Natonek daher auf offener Straße, zusammen mit 20 weiteren Studenten, meist Mitgliedern der LDP-Hochschulgruppe, verhaftet.28 Viele Jahre später schilderte er noch einmal den Ablauf seiner Verhaftung: „Was sich unter dem NKWD abspielte, ist der Öffentlichkeit völlig unbekannt gewesen, und es ist dies vielleicht auch heute noch so. – Ich kam eines Nachts von den Eltern meiner Frau nie zu Hause an. Vor der dunklen Haustür wurde ich von einem auffallend sächsisch sprechenden kleinen Mann abgefangen. Dieser kleine Mann, vor dem ich zurückschreckte, sagte im unverstellten Sächsisch: ,Erschrecken se man nicht, ich bin’n schüchterner Liebhaber.‘ Ich war so müde in dieser Nacht nach Vorlesungen und Besprechungen […] Aber nun wurde ich wach. Ich wandte mich zur Haustür, nahm meine Schlüssel, und da standen statt des einen drei Mann. Und ich mache Ihnen nichts vor, ich sagte: ,Aber das sind nun bestimmt keine schüchternen Liebhaber!‘ Ich erkannte die Situation sofort, die langen Regenmäntel, es war nicht zu verkennen. Ich solle die Schnauze halten, das seien russische Offiziere, was auch ich erkannte. Und ich musste noch das Treppenlicht anschalten. Sie zeigten mir Ausweise und standen mit geladenen Pistolen vor mir. Sie brachten mich um die Hausecke in sowjetische Fahrzeuge, die dort standen. Danach entwickelten sich die Umstände, die andere ebenso erlebt haben.“29 Auch dem neu gewählten Rektor der Universität, Johannes Friedrich, seit Anfang November im Amt, der am nächsten Morgen nach der Festnahme Natoneks sofort zum Leipziger Polizeipräsidenten geeilt war, um sich nach dessen Verbleib und nach den übrigen Studenten zu erkundigen, wurde keine Auskunft erteilt.30 Stattdessen marschierten noch am gleichen Tag Polizeikolonnen mit Gewehren und roten Fahnen, begleitet von Schalmeikapellen, durch die Leipziger Innenstadt, um zu demonstrieren, dass Gegner der SED mit harten Maßnahmen zu rechnen hatten.31 Die Vorgehensweise der SMAD und der SED stellte nicht nur
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zum Beisitzer des Bezirksvorstandes gewählt worden), vor; vgl. Außenstelle Leipzig des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen, AP 2537/63, Bl. 65–67. Im Bericht zu seiner Verhaftung durch das Kriminalamt Leipzig, Kommissariat – K 5 – vom 12. 11. 1948 heißt es: „Am 11. 11. 1948 gegen 22.30 Uhr wurde von einem sowj. Capitän [sic!], Lt. Schamanow und dem Unterzeichneten der 1. Vorsitzende des Leipziger Studentenrates und LDP-Mitglied Natonek, Wolfgang […] vorl. festgenommen (an seinem Wohnhaus) und der Kdtr. Windscheidstr. überführt. Bei der nach der Zuführung vorgenommenen Wohnungsdurchsuchung wurden von den sowj. Offz. verschiedene Schriftstücke und Briefe sichergestellt und beigezogen. Weiter wurde auf Anweisung dieser Offz. der im Zimmer N. stehende Fernsprechapparat abmontiert und den sowj. Offz. übergeben. Mangels Vorhandensein von Sicherstellungsprotokollen konnte keine [sic!] solches ausgefüllt werden. Die Mutter des N. war bei dieser Durchsuchung zugegen.“ Vgl. Außenstelle Leipzig des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen, AP 2537/63, Bl. 60. Interview mit Wolfgang Natonek vom 1. 9. 1992; zit. nach Heinemann, Manfred (Hg.): Hochschuloffiziere und Wiederaufbau des Hochschulwesens in Deutschland 1945– 1949, Berlin 2000, S. 229. Vgl. Böttger, Steffi (Hg.): Hans Natonek – Wolfgang Natonek. Briefwechsel 1946–1962, Leipzig 2008, S. 37. Vgl. Blecher, Jens und Wiemers, Gerald (Hg.): Studentischer Widerstand an den mitteldeutschen Universitäten 1945 bis 1955. Von der Universität in den GULAG. Studentenschicksale in sowjetischen Straflagern 1945 bis 1955, 2. durchgesehene und erweiterte Auflage, Leipzig 2005, S. 47.
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einen Akt völliger staatlicher Willkür, sondern auch einen Bruch jeglicher rechtsstaatlicher Prinzipien dar – letztlich war sie ein Offenbarungseid, weil man weder mit politischen noch demokratischen Mitteln in der Lage war, die anstehenden Studentenratswahlen in Leipzig zu gewinnen. Die jeder rechtlichen Grundlage entbehrenden Festnahmen zwangen allerdings auch die Studenten in den Widerstand. Nur einen Tag nach der Verhaftung kursierte bereits ein anonymes Flugblatt an der Universität, das – unterzeichnet von der „ersten Widerstandsgruppe der Universität Leipzig“ – die eigentlichen Ursachen für das Vorgehen der sowjetischen und deutschen Kommunisten präzise erfasste. Unter der Überschrift „Quo usque tandem?“ hieß es: „In Anbetracht der bevorstehenden Studentenratswahlen liegt die Vermutung nahe, dass die verhafteten Kommilitonen, insbesondere der Kommilitone Natonek, ausgeschaltet worden sind, um zu verhindern, dass bei den Studentenratswahlen erneut eine freiheitliche Mehrheit im Vorstand entsteht. Es ist ebenfalls naheliegend, dass diese neue Verhaftungswelle den Zweck verfolgt, den bisherigen passiven Widerstand der Mehrzahl aller Studenten der Universität Leipzig zu brechen und alle wahrhaft demokratischen Regungen noch mehr zu unterdrücken.“ Couragiert wurde weiter festgestellt: „Wir freiheitlichen Studenten nehmen von diesem neuen Willkürakt mit lodernder Empörung Kenntnis und erklären, dass wir alle Akte grausamer Verschleppung, gewaltsamer Unterdrückung und Freiheitsberaubung auf das schärfste verurteilen!“ Und an die Adresse der SED gewandt hieß es: „Allen Kommilitonen aber, die aus egoistischen Gründen, aus Verblendung, aus Unwissenheit oder ,Idealismus‘ der SED beigetreten sind, rufen wir zu: Denkt nach über die Versprechungen, die man Euch macht, denkt nach über die hinter uns liegende Zeit der Nazi-Diktatur! Vergleicht die Terrormethoden von einst und jetzt!“32 Natürlich änderte das nichts am nun eingeschlagenen Kurs unnachsichtiger politischer Repression. Schon am 18. November 1947 wurde Rektor Friedrich zusammen mit dem 2. Vorsitzenden des Studentenrats zur sowjetischen Kommandatur einbestellt, wo ihnen mitgeteilt wurde, dass „an der Universität Vorkommnisse geschehen seien, die die schärfste Missbilligung der Kommandatur hervorriefen. Es sollte unbedingt dafür gesorgt werden, dass derartige Dinge nicht wieder geschehen.“33 Gemeint war nicht die Verhaftung, sondern die LDPHochschulgruppe. Über den Verbleib von Wolfgang Natonek und der übrigen Studenten erhielten sie keinerlei Auskunft. Die erste und einzige Nachricht, welche über den Verhafteten veröffentlicht wurde, erschien erst am 24. Februar 1949 im Presseorgan der SMAD, der „Täglichen Rundschau“, in einem Artikel zur „Dritten Zonenkonferenz der LDP“, in dem ausgeführt wurde: „Die unverantwortliche Haltung der früheren LPD-Führung in der Frage der Reinhaltung der Partei führte dazu, dass in der LDP unsaubere Geschäftemacher und Agenten 32
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Vgl. Blecher, Jens und Wiemers, Gerald (Hg.): Studentischer Widerstand an den mitteldeutschen Universitäten 1945 bis 1955. Von der Universität in den GULAG. Studentenschicksale in sowjetischen Straflagern1945 bis 1955, 2. durchgesehene und erweiterte Auflage, Leipzig 2005, S. 115 (zit. nach Faksimile). Zit. nach Böttger, Steffi (Hg.): Hans Natonek – Wolfgang Natonek. Briefwechsel 1946– 1962, Leipzig 2008, S. 36.
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des anglo-amerikanischen Spionagedienstes Unterschlupf fanden. Die Entlarvung Natoneks als Spion und seine Verhaftung in Leipzig sowie die Überführung und Verhaftung einer ganzen Reihe von Funktionären und Mitgliedern der LDP in Görlitz, Niesky und anderen Orten sind ein unwiderleglicher Beweis dafür.“34 Vor dem Hintergrund dieser dramatischen Ereignisse verliefen die Wahlen zum Leipziger Studentenrat am 9. Dezember 1948 im Sinne der SED. Ohnehin hatte der SED-Landesvorstand beim sächsischen Volksbildungsministerium schon zuvor eine Änderung des Wahlstatuts erwirkt, der zufolge die Fakultäten nur noch jeweils drei Vertreter stellen durften. Das verschaffte der SED den Vorteil, dass die großen Fakultäten, die von SED und FDJ als „bürgerlich“ einschätzt wurden, nun erheblich weniger Kandidaten in den Studentenrat entsenden durften. Doch damit nicht genug. Nach der Verhaftung Natoneks35 hatte man umgehend (20. November 1948) die Hochschulgruppe der LDP mit ihren rund 600 Mitgliedern aufgelöst und jenen Studenten unter ihnen, die bisher Stipendien bezogen, diese aberkannt, was für viele faktisch das Ende des Studiums bedeutete. Aber auch der seit Mitte Oktober 1948 im Amt befindliche Kurator der Universität, ohnehin nur ein Handlanger der Partei, verbot vier „bürgerlichen“ Studenten die Kandidatur zum Studentenrat, für die ausnahmslos SED-Mitglieder nachrückten.36 Kein Wunder, dass all das die erwünschte Wirkung zeigte und die SED die absolute Mehrheit im Studentenrat mit 16 Vertretern im insgesamt 27 Sitze umfassenden Studentenrat erhielt.37 Damit hatte der Studentenrat als demokratisch gewähltes Gremium aufgehört zu existieren, obwohl er gerade in der Zeit vom Februar 1947 bis November 1948 eine enorme demokratische Vitalität und Aktivität entfaltet hatte. Allerdings war er gerade deswegen zum Stein des Anstoßes für die SMAD und die SED geworden. Dass die brachialen Maßnahmen, wie beabsichtigt, einschüchternde Wirkung zeitigten, kam auch in einer Erklärung zum Ausdruck, die Rektor Friedrich und der 2. Vorsitzende des Studentenrates gemeinsam herausgaben; dort hieß es: „Rektor, Senat und Studentenrat der Universität haben mit wachsender Sorge von 34
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Vgl. Böttger, Steffi (Hg.): Hans Natonek – Wolfgang Natonek. Briefwechsel 1946–1962, Leipzig 2008, S. 36. Allerdings stammt der Artikel nicht vom 21. 2., wie Böttger feststellt, sondern vom 24. 2. 1949 (Hinweis von Prof. Dr. Kurt Reinschke, Dresden). Siehe den Haftbefehl Wolfgang Natoneks in: Blecher, Jens und Wiemers, Gerald (Hg.): Studentischer Widerstand an den mitteldeutschen Universitäten 1945 bis 1955. Von der Universität in den GULAG. Studentenschicksale in sowjetischen Straflagern 1945 bis 1955, 2. durchgesehene und erweiterte Auflage, Leipzig 2005, S. 116 (Faksimile). Vgl. hierzu Thüsing, Andreas: Der Leipziger Studentenrat 1947–1948, in: Hehl, Ulrich von (Hg.): Sachsens Landesuniversität in Monarchie, Republik und Diktatur. Beiträge zur Geschichte des Universität Leipzig vom Kaiserreich bis zur Auflösung des Landes Sachsen 1952, Leipzig 2005, S. 497–522; hier S. 519 f. Das Wahlergebnis hinsichtlich der bürgerlichen Studentenvertreter kann nicht mehr eindeutig rekonstruiert werden; nach unterschiedlichen Angaben erhielt die CDU entweder 6 oder 8 Sitze, die LDP 2 oder 3 Sitze, Parteilose 1 bzw. 2 Sitze; vgl. Thüsing, Andreas: Der Leipziger Studentenrat 1947–1948, in: Hehl, Ulrich von (Hg.): Sachsens Landesuniversität in Monarchie, Republik und Diktatur. Beiträge zur Geschichte des Universität Leipzig vom Kaiserreich bis zur Auflösung des Landes Sachsen 1952, Leipzig 2005, S. 497–522, hier S. 520, Anm. 127.
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dem verantwortungslosen Treiben vereinzelter Gruppen Kenntnis genommen, die in den letzten Wochen das friedliche Einvernehmen der aufbauwilligen demokratischen Kräfte und das Verhältnis vertrauensvoller Zusammenarbeit der Universität mit der Besatzungsmacht zu stören versuchen. Gewiss ist diese offenkundig im Dienste außenstehender Kräfte in die Öffentlichkeit getragene Hetze das Werk verantwortungsloser Einzelgänger und daher von vorneherein zum Scheitern verurteilt.“38 Dass dies eine völlige Verunglimpfung Natoneks und der LDPHochschulgruppe darstellte und die Tatsachen auf den Kopf stellte, muss kaum hervorgehoben werden. Ganz eindeutig hatte sich auch das Rektorat inzwischen dem Druck gebeugt. Zudem erließ das Ministerium für Volksbildung in der DDR bereits am 30. Dezember 1949 eine neue Wahlordnung für studentische Vertretungen, in denen die Wahlausschüsse für die Kandidatenaufstellung nur noch aus Vertretern der Massenorganisationen bestanden. Schließlich beschlossen die Vorsitzenden der Studentenräte in der DDR am 1. August 1950 ihre eigene Auflösung, zumal ihre Aufgaben nun von den Hochschulgruppen der FDJ übernommen wurden.39 Jedwede politische Opposition war zu diesem Zeitpunkt an den Universitäten der DDR nur noch im Geheimen möglich, was im Übrigen inzwischen für die gesamte DDR galt.
Politischer Häftling in SBZ und DDR Wolfgang Natonek durchlitt inzwischen das Schicksal vieler Tausender politisch Verfolgter in der SBZ/DDR. Zunächst in ein Gefängnis des NKWD in Dresden verbracht, fiel es der sowjetischen Besatzungsmacht schwer, ihm ein „strafwürdiges“ Vergehen anzulasten. Wie üblich wurden die Verhöre nachts durchgeführt, um die Inhaftierten physisch und psychisch zu zermürben. Das bewegte sich nicht nur an der Grenze zur Folter, tatsächlich wurde dabei auch häufig systematisch gefoltert. Schließlich führte ein Zufall zur erwünschten „Begründung“ einer Straftat: In einem vertraulichen Gespräch hatte ein Bekannter, der inzwischen wegen angeblicher Spionage verurteilt worden war, Natonek gegenüber geäußert, dass auf der Leipziger Messe weniger Aussteller vertreten gewesen seien, als offiziell seitens der SED verkündet worden war. Zudem hatte er von Natonek eine vergünstigte Berechtigung für Bahnfahrten erhalten.40 Das 38
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Vgl. Blecher, Jens und Wiemers, Gerald (Hg.): Studentischer Widerstand an den mitteldeutschen Universitäten 1945 bis 1955. Von der Universität in den GULAG. Studentenschicksale in sowjetischen Straflagern1945 bis 1955, 2. durchgesehene und erweiterte Auflage, Leipzig 2005, S. 114 (Faksimile). Vgl. Thüsing, Andreas: Der Leipziger Studentenrat 1947–1948, in: Hehl, Ulrich von (Hg.): Sachsens Landesuniversität in Monarchie, Republik und Diktatur. Beiträge zur Geschichte des Universität Leipzig vom Kaiserreich bis zur Auflösung des Landes Sachsen 1952, Leipzig 2005, S. 497–522, hier S. 520 f. Es handelte sich um Dieter Rackwitz, der nach seiner Verhaftung in die Sowjetunion verschleppt worden war und erst im Januar 1956 aus einem sibirischen Zwangsarbeiterlager in die Heimat entlassen wurde; vgl. Verband ehemaliger Rostocker Studenten (VERS) (Hg.): Namen und Schicksale der von 1945 bis 1962 in der SBZ/DDR verhafte-
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bedeutete für den NKWD die Unterlassung einer Anzeige sowie die Begünstigung von Spionagetätigkeit, worauf Natonek von einem Sowjetischen Militärtribunal zu 25 Jahren Arbeitslager verurteilt wurde.41 Das Urteil basierte auf dem berühmt-berüchtigten § 58, Abs. 10 des Strafgesetzbuches der RSFSR, mit dem bereits Millionen von sowjetischen und anderen Staatsbürgern verurteilt worden waren. Es entbehrte jeglicher rechtlichen Grundlage, das Prozessverfahren selbst war eine Farce. Daher war es auch nicht überraschend, dass die oben genannte Notiz in der „Täglichen Rundschau“ über Natoneks bereits erfolgte Verurteilung schon am 24. Februar 1949 erschien, obwohl das „Urteil“ selbst erst fünf Wochen später, am 30. März 1949, verkündet wurde. Jahre danach schilderte Natonek in einem Brief an seinen in die USA emigrierten Vater erstmals die Umstände seiner Verhaftung und Verurteilung: „Zu meiner Inhaftierung: die wirklichen Gründe waren rein politischer Natur. Es war, vom Standpunkt des SED-Systems gesehen, untragbar, dass die Führung der Studentenschaft der größten mitteldeutschen Universität noch länger in nichtkommunistischer Hand lag. Wir waren damals keineswegs blinde oder fanatische Gegner des bolschewistischen Systems. Aber wir fühlten uns aufgerufen, offensichtliches Unrecht – zum Beispiel böswillige Verleumdung von Professoren, die nie dem nazistischen Regime Unterstützung gewährt hatten – oder die gewaltsame Infiltration ausschließlich marxistischen Gedankenguts in die Universität zu verhindern. Zulassungsbestimmungen zum Studium, Lehrplangestaltung, Stipendienverteilung usw. waren damals heißumstrittene Fragen, ebenso Freiheit von Lehre und Forschung und die Frage der demokratischen Umerziehung der akademischen Jugend. Zur Bestürzung der SED, die monatelang zuvor gegen uns heftig intrigiert hatte, wurde ich im Dezember 1947 von einer überwältigenden Mehrheit wiedergewählt. Als man mich im Herbst 1948 festnahm, wussten die sowjetischen Vernehmungsoffiziere eigentlich nichts Rechtes mit mir anzufangen. Man ,suchte‘ nach Gründen. Da unser Wirken legal war, fiel es schwer, etwas zu finden. Schließlich wurde ich, nach vielen Monaten in GPU-Kellern, beschuldigt, einen ehemaligen Kommilitonen nicht angezeigt (!) zu haben, der angeblich wirtschaftliche Meldungen nach Westdeutschland weitergegeben hatte. (Natürlich hatte ich ihn nicht angezeigt, und hätte es auch nicht getan, wenn ich etwas davon gewusst hätte.) Das reichte aus, um mich zu 25 Jahren Zwangsarbeit zu verurteilen. Ich war glücklich, dass es gelang, anderen Kameraden der Studentenführung, die stark gefährdet waren, ein gleiches Schicksal zu ersparen. […] Du siehst, von ,handfesten Terrorakten‘ war nicht einmal bei den Russen die Rede. Man hatte mich ,unschädlich‘ gemacht, ein ,Fall‘ war konstruiert, wobei es allerdings seltsam war, dass man sich mit einer solchen Bagatelle begnügte (denn ich habe Hunderte von Fällen erlebt, wo Menschen, die nie mit einem Amerikaner zusammengekommen waren, sich selbst der unwahrscheinlichsten Spionage beschul-
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ten und verschleppten Professoren, Rostock 1962, S. 138. (Hinweis von Prof. Dr. Kurt Reinschke, Dresden) Vgl. Blecher, Jens und Wiemers, Gerald (Hg.): Studentischer Widerstand an den mitteldeutschen Universitäten 1945 bis 1955. Von der Universität in den GULAG. Studentenschicksale in sowjetischen Straflagern 1945 bis 1955, 2. durchgesehene und erweiterte Auflage, Leipzig 2005, S. 16.
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digten, nur um der Qual physischer und psychischer Zermürbung ein Ende zu bereiten) – aber schließlich reicht ja auch die ,Unterlassung einer Anzeige‘ aus, um mich für Jahre verschwinden zu lassen. Ich weiß, dass sich um die damaligen Vorfälle viele Legenden gebildet haben, die ich nun auf die – zuweilen ernüchternde – Wirklichkeit reduziere.“42 Was er in diesen knapp acht Jahren seiner Haft erlebte und erlitt, verschwieg er seinem Vater. Nach seiner Verurteilung wurde Natonek in das sowjetische Speziallager Bautzen, das berüchtigte „Gelbe Elend“, verbracht. In den völlig überfüllten Zellen mit ca. 7000–8000 Gefangenen waren die hygienischen Umstände ebenso katastrophal wie die medizinische Versorgung; zudem war die Ernährung durchweg völlig unzureichend. Typhus, Hungerödeme und Verwahrlosung waren daher eine häufige „Begleiterscheinung“.43 Nach Überführung der durch die Sowjetischen Militärtribunale Verurteilten (sog. „SMT-Verurteilte“) in die Aufsicht der Volkspolizei Anfang 1950 wurden die Essensrationen noch einmal gekürzt, was zu zwei Hungerstreiks im März 1950 führte. Der zweite Streik am 31. März 1950 wurde von der Volkspolizei brutal niedergeschlagen: „Unterkünfte unter Wasser gesetzt, Wehrlose und Kranke niedergeschlagen, [die] mit zum Teil schweren Verletzungen bewusstlos liegen [blieben], die Haftanstalt Bautzen wurde von Hundertschaften umstellt.“44 Erst zwei Jahre nach seiner Verhaftung, im November 1950, erhielt Christa Göhring, Wolfgang Natoneks Verlobte und spätere Ehefrau, die in unerschütterlicher Treue zu ihm hielt, erstmals die Erlaubnis, ihn zu besuchen; von da an war dies einmal im Vierteljahr jeweils für eine halbe Stunde möglich. Seine Überführung in die Haftanstalt Torgau, ebenfalls zuvor ein sowjetisches Speziallager, im Mai 1951, führte keineswegs zu einer Verbesserung der Haftbedingungen, vielmehr wurden diese noch einmal durch weitere Schikanen verschärft (Sträflingskleidung, eingeschränkter Postverkehr). Immerhin wurde seine Haftzeit auf acht Jahre verkürzt. Doch zu den zwei großen Amnestien im Jahre 1954, zum ersten Todestag Stalins und zum 5. Jahrestag der Gründung der DDR, gehörte er nicht. Schließlich führten mehrere Gnadengesuche an den Präsidenten der DDR, Wilhelm Pieck, am 10. März 1956 zu seiner Entlassung. Nach Leipzig zurückgekehrt, heiratete er zwei Wochen später seine Verlobte Christa Göhring. Da er jedoch als Staatenloser entlassen worden war, verlangten die Behörden der DDR von ihm eine „befristete und ständig neu einzuholende Aufenthaltsgenehmigung“45; somit widerfuhr ihm ein Schicksal, das schon sein Vater unter den Nationalsozialisten erlitten hatte. Aufgrund dessen konnte Wolfgang Natonek seine Absicht, sein Studium in Leipzig abzuschließen, nicht umsetzen. 42 43
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Böttger, Steffi (Hg.): Hans Natonek – Wolfgang Natonek. Briefwechsel 1946–1962, Leipzig 2008, S. 134 f. Siehe hierzu detailliert: Hunger – Kälte – Isolation. Erlebnisberichte und Forschungsergebnisse zum sowjetischen Speziallager Bautzen 1945–1950, Dresden 1997, sowie Kassiber aus Bautzen. Heimliche Briefe von Gefangenen aus dem sowjetischen Speziallager 1945–1950, Dresden 2004. Vgl. Böttger, Steffi (Hg.): Hans Natonek – Wolfgang Natonek. Briefwechsel 1946–1962, Leipzig 2008, S. 41. Vgl. Böttger, Steffi (Hg.): Hans Natonek – Wolfgang Natonek. Briefwechsel 1946–1962, Leipzig 2008, S. 41–47.
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Natonek stieß auch bei Hans Mayer auf völliges Unverständnis für seine Lage, als er ihn in einem Gespräch darum bat, sich dafür einzusetzen, sein Studium an der Alma mater Lispiensis fortsetzen zu können: „Seine (Hans Mayers) Worte habe ich noch sehr deutlich in Erinnerung, nicht weil sie mich verbittert haben, sondern weil ich sie schon wieder komisch fand: Wir ziehen einen Schlussstrich. Sie ziehen einen Schlussstrich unter das Kapitel. Unser Angebot ist: Sie bleiben in der DDR. Sie gehen nach Berlin. In Berlin wird etwas für sie getan. Unter einer Bedingung: Sie dürfen nicht den Eindruck erwecken, ein Märtyrer zu sein.“46
„Flüchtling“ und Gymnasiallehrer in Westdeutschland Angesichts solcher Auspizien und Umstände zog Wolfgang Natonek es im Juni 1956 vor, mit seiner Frau nach Göttingen zu „fliehen“, das sich zunehmend zu einem Zentrum von Studenten entwickelt hatte, welche die SBZ/DDR aus den verschiedensten, meist jedoch politischen Gründen hatten verlassen müssen. Inzwischen 37 Jahre alt, konnte er an der dortigen Universität sein Studium der Germanistik und Philosophie fortsetzen und 1962 mit ausgezeichnetem Ergebnis abschließen. In Göttingen bleibend, wurde er Lehrer am dortigen Max-PlanckGymnasium bis zu seiner Pensionierung im Jahre 1984. Selbstredend hat Wolfgang Natonek seine achtjährige Haftzeit nie vergessen, ebenso wenig die seiner zahlreichen Mitgefangenen. Nachdem bereits in den Jahren der gemeinsamen Haft in Torgau 1952/53 zusammen mit Kurt Pförtner Überlegungen aufgekommen waren, die vielen Gedichte, die von Mitgefangenen in jener Zeit verfasst wurden, zu sammeln und durch Natonek als hoch begabten Germanisten herauszugeben, fassten beide den Plan, die besten davon in einer Anthologie zu veröffentlichen, um auf diese Weise der inzwischen verstorbenen und der mit ihnen inhaftierten Gefangenen zu gedenken. Die Gedichtsammlung stellt ein erschütterndes Zeugnis für das Schicksal der Inhaftierten dar. Gleichzeitig ist erstaunlich, welch hohe literarische Qualität einige Gedichte besitzen – nicht zuletzt Natoneks eigene Gedichte. Nur eines sei hier herausgegriffen: „Nächtliche Reise“ Mein Herz geht nächtlich auf die Reise; Wenn alles schläft, dann bricht es auf. Es löscht den Tag in sich ganz leise Und steigt zu seiner Nacht hinauf. Es geht sich seltsam leicht und heiter Auf ihren Wegen, heimatwärts. Und wie der Hufschlag später Reiter, so schlägt auf diesem Gang mein Herz. 46
Böttger, Steffi (Hg.): Hans Natonek – Wolfgang Natonek. Briefwechsel 1946–1962, Leipzig 2008, S. 45 f.; zit. nach Serke, Jürgen: Böhmische Dörfer. Wanderungen durch eine verlassene literarische Landschaft, Wien 1987, S. 129.
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An seinem Ziel verweilt es lauschend, wie eine Mutter bei dem Kind, an seinem Zauber sich berauschend, verstummt es mit dem Morgenwind. Bei Tagesanbruch muß es scheiden Von dort, wo nächtlich es geweilt, muß einen langen Tag erleiden, den erst die nächste Reise heilt. Bautzen 1950.“47 Eindringlicher lässt sich der Versuch, den alltäglichen, unmenschlichen Strafvollzug zumindest in Nacht und Schlaf zu vergessen, lyrisch kaum ausdrücken.
Späte Anerkennung Natonek ließ der abstruse Spionagevorwurf, der Teil seiner „Verurteilung“ war, bis an sein Lebensende nicht los. Eineinhalb Jahre vor seinem Tod äußerte er dazu: „Woran ich noch interessiert bin? Mein Urteil in die Hand zu bekommen. Mir stellt sich das so dar: Hast du den R. [= Dieter Rackwitz; G.H.], hast du den angezeigt? Nein, ich habe ihn nicht angezeigt. Na, dann bist du fällig. Nach § 58, 10: Mitwisserschaft und unterlassene Anzeige. – Spionage ist mir gar nicht vorgeworfen worden. Und das ist das einzige, was mich, alt geworden und im großen zeitlichen Abstand zu diesen Vorgängen, eigentlich noch ein wenig beschäftigt. Das möchte ich nicht sozusagen noch auf die Kinder oder Enkel übertragen: Euer Opa war ein Spion.“48 Leider ist es ihm nicht mehr vergönnt gewesen, seine Rehabilitierung noch zu erleben. Erst ein Jahr nach seinem Tod am 21. Januar 1994 gelang es seiner Ehefrau, Christa Natonek, seine Rehabilitierung durch die Russische Föderation über das Auswärtige Amt der Bundesrepublik Deutschland zu erwirken.49 Immerhin konnte er noch erleben, dass sein mutiges Eintreten für Freiheit und die Autonomie von Lehre und Forschung nicht vergessen war, obwohl die SED alles daran gesetzt hatte, sein Wirken an der Leipziger Universität bis 1990 vergessen zu machen. Im Oktober 1992, zwei Jahre nach der Wiedervereinigung, wurde ihm während der Immatrikulationsfeier für das Wintersemester 1992/93 der Titel „Professor“ gemäß § 57 des Sächsischen Hochschulerneuerungsgesetzes (SHEG) an der Alma mater Lipsiensis, seiner Heimatuniversität, verliehen. 1996 gab die Friedrich-Naumann-Stiftung ihrer ersten Bildungsstätte in den neuen Bundesländern seinen Namen. 47 48 49
Vgl. Pförtner, Kurt und Natonek, Wolfgang: Ihr aber steht im Licht. Eine Dokumentation aus sowjetischem und sowjetzonalem Gewahrsam, Tübingen 1962, S. 103. Heinemann, Manfred (Hg.): Hochschuloffiziere und Wiederaufbau des Hochschulwesens in Deutschland 1945–1949, Berlin 2000, S. 235 f. Vgl. Böttger, Steffi (Hg.): Hans Natonek – Wolfgang Natonek. Briefwechsel 1946–1962, Leipzig 2008, S. 47.
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Zweifellos markierte Wolfgang Natoneks Verhaftung im November 1948 eine Zäsur in der Geschichte der Universität Leipzig, aber auch darüber hinaus. Nur mit brutaler Gewalt, die auch nicht vor Schaden an Leib und Leben der Betroffenen Halt machte, konnten völlig legitime Bestrebungen nach Demokratie, Rechtstaatlichkeit und der Freiheit von Wissenschaft und Forschung unterdrückt werden.50 Dass Natonek den Zusammenbruch des SED-Regimes und die darauf folgende Überwindung der Spaltung Deutschlands noch erleben konnte, dürfte ihn mit besonderer Genugtuung erfüllt haben. Noch wichtiger scheint jedoch Eines: Wolfgang Natonek hat jene Zivilcourage gelebt, von der so oft und leicht gesprochen wird und die gerade in einer Diktatur so schwer zu praktizieren ist.
Weiterführende Literatur Blecher, Jens und Wiemers, Gerald (Hg.): Studentischer Widerstand an der Universität Leipzig 1945–1955, 2. ergänzte und verbesserte Auflage, Beucha 1998. Blecher, Jens und Wiemers, Gerald (Hg.): Studentischer Widerstand an den mitteldeutschen Universitäten 1945 bis 1955. Von der Universität in den GULAG. Studentenschicksale in sowjetischen Straflagern 1945 bis 1955, 2. durchgesehene und erweiterte Auflage, Leipzig 2005. Böttger, Steffi (Hg.): Hans Natonek – Wolfgang Natonek. Briefwechsel 1946–1962, Leipzig 2008 (mit längeren biografischen Skizzen zu den beiden Protagonisten). Klose, Joachim (Hg.): Ohnmacht der Studentenräte? Wolfgang Natonek und die Studentenräte nach 1945 an der Universität Leipzig, Leipzig 2010. Pförtner, Kurt und Natonek, Wolfgang: Ihr aber steht im Licht. Eine Dokumentation aus sowjetischem und sowjetzonalem Gewahrsam, Tübingen 1962.
Hinweise zu den Quellen Neben den oben genannten bzw. zitierten Quelleneditionen finden sich Unterlagen zu Natonek und seiner Tätigkeit in mehreren Leipziger Archiven, so z.B. im Stadtarchiv, im Universitätsarchiv und in der Außenstelle des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen. Ein Nachlass Wolfgang Natoneks existiert nicht, der seines Vaters Hans liegt im Bundesarchiv Berlin.
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Hierzu jüngst Schröder, Benjamin und Staadt, Jochen (Hg.): Unter Hammer und Zirkel. Repression, Opposition und Widerstand an den Hochschulen der SBZ/DDR, Frankfurt a.M. u.a. 2011, passim.
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Das Gewissen der Nation? – Günther Grass (Jg. 1927) als politischer Intellektueller Einleitung Als Günter Grass 1999 den Literaturnobelpreis erhielt, war er auf dem Gipfel seines Ruhms angekommen. Die „Nobilitierung“ seiner schriftstellerischen Leistung färbte auch auf die Stellungnahmen ab, die er häufig als – wie er selbst es 1973 bescheiden ausgedrückt hatte – „Bürger“ mit „partieller Intellektualität“ in aktuellen gesellschaftlichen und politischen Debatten abzugeben pflegte. Selbst die zum Springer-Konzern gehörende und Grass nicht immer wohlgesonnene Welt räumte ein, dass seine Stimme jetzt ähnliches Gewicht habe wie die des Bundespräsidenten. Spätestens als 2006 das gut 600seitige Buch Günter Grass unter den Deutschen erschien, in dem Grass als „einer der Gründungsväter dieses geistig renovierten Deutschlands“ und als „Nationalpädagoge“ bezeichnet wurde, war er zum lebenden Denkmal eines politisch engagierten Intellektuellen geworden.1 Der Sturz von diesem Sockel erfolgte nur wenige Monate später, als Grass selbst im Vorfeld der Publikation seines autobiografischen Werks Beim Häuten der Zwiebel einräumte, 1944/45 nicht, wie man bisher angenommen hatte, in der Wehrmacht, sondern in der Waffen-SS gedient zu haben. Während Historiker betonten, dass das nicht bedeutete, dass Grass sich freiwillig zur SS gemeldet hätte, da in den letzten Kriegsjahren auch die Waffen-SS junge Männer zwangsweise einziehen durfte, ging ein Rauschen durch den deutschsprachigen Blätterwald. Die linke Berliner taz fragte empört „Hat Günter Grass uns betrogen?“, die liberale NZZ griff Grass als allzu „selbstgewissen und von Eitelkeit nicht freien Moralisten“ an und der konservative Publizist Joachim Fest urteilte gar, er „würde nicht mal mehr einen Gebrauchtwagen von diesem Mann kaufen“. Als Grass im folgenden Jahr seinen 80. Geburtstag feierte, rieten SZ wie Welt unisono, sich nicht mehr auf den politisch aktiven Zeitgenossen Grass zu konzentrieren, sondern auf den Literaten und sein Werk.2 Dieser Aufsatz folgt ihrer Empfehlung nicht. Vielmehr soll versucht werden, den gesellschaftskritischen Intellektuellen Günter Grass in historischer Perspek1
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Grass, Günter: Der Schriftsteller als Bürger. Eine Siebenjahresbilanz, Wien 1973, S. 14; Welt vom 17. 1. 2003: „Auf Agentur“; Zimmermann, Harro: Günther Grass unter den Deutschen. Chronik eines Verhältnisses, Göttingen 2006, S. 9 und 207. Zu politischen Intellektuellen in der deutschen Zeitgeschichte s. Hanuschek, Sven u.a. (Hg.): Schriftsteller als Intellektuelle. Politik und Literatur im Kalten Krieg, Tübingen 2000 und Hertfelder, Thomas u.a. (Hg.): Kritik und Mandat. Intellektuelle in der deutschen Politik, Stuttgart u.a. 2000. TAZ vom 15. 8. 2006: „Hat Günter Grass uns betrogen?“; FAZ Online-Ausgabe vom 14. 8. 2006: „Debatte um Grass wird hitziger“ [Zugriff am 26. 7. 2010]; SZ vom 15. 10. 2007: „Der Mann mit der goldenen Gans“; Welt vom 16. 10. 2007: „Grass, Bürgerschreck im besten Sinne“; vgl. auch Gries, Britta: Die Grass-Debatte. Die NSVergangenheit in der Wahrnehmung von drei Generationen, Marburg 2008.
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tive noch einmal und abwägender in den Blick zu nehmen, als das bisher in Überhöhung wie Verriss geschehen ist. Dabei soll zunächst seine politische Sozialisation skizziert und dann die zentralen Themen untersucht werden, für bzw. gegen die sich Grass im Lauf von nahezu fünf Jahrzehnten politischer Dreinrede engagierte.
Heranwachsender im Dritten Reich und aufstrebender Künstler nach 1945 1927 wurde Grass als Sohn einer katholischen Kaschubin und eines evangelischen Westpreußen in Danzig geboren. Sein Vater betrieb einen bescheidenen Kolonialwarenladen und trat 1936 der NSDAP bei. Während Grass die Enge des kleinbürgerlichen Elternhauses, das strenge Schulleben im Gymnasium und den Dienst als katholischer Ministrant, den er seiner Mutter zuliebe tat, innerlich mehr und mehr ablehnte, genoss der junge Günter die vermeintliche Freiheit, die ihm die HJ unter dem Motto „Jugend führt Jugend“ bot. Zwar ödete ihn die gebetsmühlenartige ideologische Schulung an. Jedoch verfingen die auch affektiv, in Liedern und Ritualen dargebotenen Inhalte zumindest insoweit, dass Grass sich als deutscher „Volksgenosse“ empfand, negative Aspekte wie die auch in Danzig praktizierte zunehmend harte Judenverfolgung ausblendete und sich als 15jähriger freiwillig zum Kriegsdienst meldete. Diesen leistete er dann bis 1945 als Flakhelfer, beim Reichsarbeitsdienst und eben bei der 10. SS-Panzerdivision „Frundsberg“. Genau am Tag der bedingungslosen Kapitulation des Deutschen Reiches wurde Grass von amerikanischen Truppen aufgegriffen. Bis April 1946 saß er in einem Kriegsgefangenenlager fest, ohne zu wissen, ob seine Schwester und seine Eltern den Einmarsch der Roten Armee und die Vertreibung der Deutschen nach Westen überlebt hatten. Obwohl er die anschaulichen Beweise für die grauenhaften deutschen Kriegsverbrechen, mit denen er im Reeducation-Programm konfrontiert wurde, anfangs nicht wahrhaben wollte, ergriff ihn eine tiefe Desillusionierung. Die Lehre, die er aus seinen Erfahrungen zog, hat er rückblickend so ausgedrückt: „Es galt, den absoluten Größen, dem ideologischen Weiß oder Schwarz abzuschwören, dem Glauben Platzverweis zu erteilen und nur noch auf Zweifel zu setzen, der alles und selbst den Regenbogen graustichig werden ließ.“3 Grass war zum Mitglied der „skeptischen Generation“ bzw. der „45er“ geworden, die wohl die prägendste politische Generation in der Geschichte der „alten“, der Bonner Bundesrepublik darstellten.4 Nach seiner Freilassung zog es ihn jedoch nicht in die Politik. Vielmehr entschloss er sich, aus einem seiner größten Talente, der Zeichnerei, einen Beruf zu machen und Künstler zu werden. Während er in Düsseldorf in die Lehre als Stein3
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Rede „Schreiben nach Auschwitz“ an der Universität Frankfurt a.M., gehalten im Februar 1990, in: Grass, Günter: Werkausgabe, Bd. 16. Essays und Reden III, Göttingen 1997, S. 242. Schelsky, Helmut: Die skeptische Generation. Eine Soziologie der deutschen Jugend, Düsseldorf u.a. 1957; Moses, Anthony Dirk: Die 45er. Eine Generation zwischen Faschismus und Demokratie, in: Neue Sammlung 40 (2000), S. 233–263.
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metz und Bildhauer ging und anschließend die Kunstakademie besuchte, setzte er sich intensiv und gewissermaßen nachholend mit der im Dritten Reich verfemten modernen Kunst und Literatur auseinander. Politik war für ihn eher ein Randthema. Seine vage linke Haltung war wohl recht typisch für die Bohemekreise, in denen er verkehrte: „Als gebranntem Kind reichte es mir, mehr aus Instinkt als mit Argumenten gegen den ersten Bundeskanzler Konrad Adenauer, gegen den neureichen Mumpitz des beginnenden Wirtschaftswunders, gegen die christlich verheuchelte Restauration, natürlich gegen die Wiederbewaffnung, selbstverständlich gegen Adenauers Staatssekretär Globke, seinen Stasispezialisten Gehlen und weitere Schweinereien des rheinischen Großpolitikers zu sein.“5 Sein zweites politisches Schlüsselerlebnis hing damit zusammen, dass er, der mittlerweile auch zu schreiben begonnen hatte, 1953 nach Westberlin zog. Hier wurde er zum Augenzeugen, als am 17. Juni sowjetische Panzer dem Aufstand gegen die SED-Diktatur im Ostteil der Stadt ein gewaltsames Ende bereiteten. Er war schockiert über die Tatsache, dass die kommunistischen Machthaber ausgerechnet diejenigen brutal unterdrückten, die zu vertreten sie beanspruchten: die Arbeiter. Grass betonte anschließend stets, dass es sich beim 17. Juni um einen „Arbeiter-“ und nicht um einen, wie die offiziöse Erinnerungskultur der Bundesrepublik seiner Meinung nach fälschlich behauptete, „Volksaufstand“ gehandelt habe.6 Damit hatte sich auch die zweite Großideologie des 20. Jahrhunderts in seinen Augen endgültig desavouiert, Grass war anti-totalitär geworden. Die Tatsache, dass er auch die aus seiner Sicht schon wieder allzu selbstherrliche Phraseologie ablehnte, mit der die Bürger des westlichen Teils der „Frontstadt Berlin“ zum „Durchhalten“ ermutigt wurden, führte jedoch zu einer besonderen Justierung des Grassschen Anti-Totalitarismus. „Auf dem rechten Auge“ war er nicht nur Antifaschist, sondern Gegner eines von ihm wahrgenommenen westlichen Ideologie-Mix aus Konservatismus, Privatkapitalismus und doktrinärem Antikommunismus.
Für die (Sozial)Demokratie Noch stand aber sein eigener künstlerischer Werdegang im Zentrum seines Denkens. Nachdem er 1955 erstmals mit Lyrik-Vorlesungen im Kreis der Gruppe 47 auf sich aufmerksam gemacht hatte, ging er 1956 nach Paris, wo er den Roman Die Blechtrommel verfasste, der ihn 1959 schlagartig zum literarischen Star machte. Wie wenig sogar sein engeres Umfeld Grass zu diesem Zeitpunkt als homo poli5
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Rede „Schreiben nach Auschwitz“ an der Universität Frankfurt a.M., gehalten im Februar 1990, in: Grass, Günter: Werkausgabe, Bd. 16. Essays und Reden III, Göttingen 1997, S. 238. Tatsächlich war es wohl so: Der 17. Juni 1953 begann als Arbeiterprotest und weitete sich dann in über 700 Städten der DDR zum Volksaufstand aus; vgl. Knabe, Hubertus: 17. Juni 1953. Ein deutscher Aufstand, Berlin 2003; Kowalczuk, Ilko-Sascha: 17. Juni 1953 – Volksaufstand in der DDR. Ursachen – Abläufe – Folgen, Bremen 2003; zur geschichtspolitischen Dimension Wolfrum, Edgar: Geschichtspolitik und deutsche Frage. Der 17. Juni im nationalen Gedächtnis der Bundesrepublik (1953–89), in: Geschichte und Gesellschaft 24 (1998), S. 382–411.
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ticus wahrnahm, zeigt sich daran, dass der Mentor der Gruppe 47 und GrassFörderer, Hans Werner Richter, zunächst gar nicht an diesen dachte, als er begann, einen Sammelband linker Intellektueller zur Unterstützung der SPD im Bundestagswahlkampf 1961 zu organisieren.7 Doch drei Erlebnisse seit dem Frühjahr 1961 motivierten Grass, sich nun doch erstmals politisch zu Wort zu melden. Erstens hatte er im Mai an einem Schriftstellerkongress in Ostberlin teilgenommen und den dort auftretenden SED-Kulturkadern ins Gesicht gesagt, dass er sie nicht ernst nehme, solange sie es für nötig hielten, kritischen Literaten das Wort zu verbieten. Dafür hatte er in der westdeutschen Presse viel Lob erhalten. Zweitens hatte Grass, inzwischen aus Paris zurück in Westberlin, den Mauerbau persönlich miterlebt. Und drittens empörte ihn der unfaire Wahlkampf, den Konrad Adenauer mit Anspielungen auf die uneheliche Herkunft und den EmigrantenStatus des SPD-Kanzlerkandidaten Willy Brandt führte. Grass’ dann doch zustande gekommener Beitrag zu dem von Martin Walser herausgegebenen Sammelband Die Alternative oder Brauchen wir eine neue Regierung? stellte seine erste gewichtige politische Stellungnahme dar, auch wenn sie mit seiner Empfehlung, die Menschen sollten „die rührende ungeschickte, die laue brave muffige SPD“ als „das kleinere Übel“ wählen, noch etwas halbherzig ausfiel. Dass ausgerechnet sein Text in voller Länge in der Zeit abgedruckt wurde, zeigte jedoch, dass der Status als literarisches Wunderkind seinem Wort von Anfang an besonderes Gewicht verlieh.8 Als 1965 erneut ein Sammelband zur Unterstützung der SPD publiziert wurde, fiel nicht nur dessen Titel Plädoyer für eine neue Regierung oder Keine Alternative viel entschiedener aus, sondern auch Grass’ Text, von dem vor allem ein Zweizeiler anhaltende Berühmtheit erlangt hat: „Glaubt dem Kalender, im September beginnt der Herbst, das Stimmenzählen; ich rat Euch, Es-Pe-De zu wählen.“9 Wirklich Furore machte Grass aber nicht damit, sondern indem er auf eine selbst organisierte Wahlkampf-Tour ging. In insgesamt 52 Städten lieferte Grass „brilliante Formulierungen am Fließband und ein etwas verschwommenes Plädoyer für die SPD“.10 Sein erklärtes Hauptziel war es, tätig dafür zu appellieren, dass Bonn im Gegensatz zu Weimar eine Republik mit Republikanern sein müsse. Entsprechend entlieh er das etwas abgehobene Motto seiner Tournee dem amerikanischen Dichterheroen Walt Whitman: „Dich singe ich, Demokratie“.11 Für Aufsehen sorgte er 1965 auch, indem er zwei nassforsche Forderungen erhob, die deutlich über das offizielle Wahlprogramm der SPD hinausgingen. Zum einen wünschte er eine radikale Entkriminalisierung der Abtreibung, da die damalige Fassung des § 218 seiner Meinung nach tausende Frauen in die Hände von Kurpfuschern und damit in Lebensgefahr trieb. Zum anderen verlangte er die 7 8 9 10 11
Richter an Grass vom 31. 5. 1961, in: Richter, Hans Werner: Briefe, München 1997, S. 344–345. Zeit vom 23. 6. 1961: „Herr Bundeskanzler, wählen Sie SPD!“. Grass, Günter: Gesamtdeutscher März, in: Richter, Hans Werner (Hg.): Plädoyer für eine neue Regierung oder Keine Alternative, Reinbek 1965, S. 16. Zeit vom 9. 7. 1965: „Wahlhelfer Grass“. Zum Folgenden vgl. Münkel, Daniela: Intellektuelle für die SPD. Die Sozialdemokratische Wählerinitiative, in: Hertfelder, Thomas u.a. (Hg.): Kritik und Mandat. Intellektuelle in der deutschen Politik, Stuttgart u.a. 2000, S. 222–238.
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einseitige Anerkennung der Oder-Neiße-Linie, wozu er sich als Vertriebener aus der Einsicht heraus berechtigt sah, dass die Deutschen die alten Ostgebiete durch den Hitler-Stalin-Pakt, den Krieg und die von ihnen selbst an Polen und anderen verübten Vertreibungen moralisch verspielt hätten. Nicht minder vehement machte sich Grass aber auch dafür stark, die altostdeutsche Kultur viel intensiver zu pflegen, als dass die von ihm wenig geschätzten und viel geschmähten Vertriebenenverbände taten. Deren von der Union unterstützter Versuch, die Hoffnung auf Rückkehr und ein „Recht auf Heimat“ am Leben zu halten, erschien Grass als realitätsferner und demagogischer Betrug an den Betroffenen.12 Die neue, offene Liebe von Grass zur SPD bzw. zu Willy Brandt wurde schon 1966 auf eine harte Probe gestellt, als dieser sich gegen den Rat, den der Schriftsteller ihm in Form zweier offener Briefe erteilte, auf eine Große Koalition einließ. Dennoch widerstand Grass der Versuchung, sich auf die Seite der „Außerparlamentarischen Opposition“, die sich gegen die neue Regierung formierte, bzw. der Studentenrevolte der „68er“ zu schlagen. Zwar erkannte er deren rebellischen Elan als Bruch mit dem deutschen Untertanengeist an und kritisierte die sie anfeindende Springer-Presse ebenso wie die überreagierende Staatsmacht. Auch appellierte er an die SPD, mit der Jugend im Dialog zu bleiben. Andererseits jedoch griff er radikale Sprecher der APO wie Rudi Dutschke oder Horst Mahler bissig für ihren „absoluten Wahrheitsanspruch“, ihren „Jargon […], den kein Arbeiter verstehen kann“ und ihr ungeklärtes Verhältnis zur Gewalt an, woraufhin Dutscke die „politische Bekämpfung von Grass“ durch den SDS als höchste Priorität bezeichnete.13 Umso vehementer setzte sich Grass 1969 für einen Wandel im Rahmen der parlamentarischen Demokratie ein, die die revolutionär gestimmten „68er“ in Frage stellten. Seine Wahlkampagne betrieb er nicht mehr als Solist, sondern im Rahmen der neu gegründeten „Sozialdemokratischen Wählerinitiative“ zusammen mit einer Vielzahl von Prominenten, die er und seine Mitstreiter angeworben hatten. Mit von der Partie waren unter anderem die Historiker Eberhard Jäckel und Golo Mann, der Politologe Kurt Sontheimer, der Kabarettist Dieter Hildebrandt, der Journalist Günther Gaus und die Schauspieler Inge Meysel und Horst Tappert. Das Vorhaben war diesmal auch mit dem SPD-Präsidium abgestimmt und wurde von der Partei finanziell unterstützt, so dass es möglich war, 1,5 Millionen Exemplare von zwei selbst angefertigten Wahlkampfbroschüren mit dem Titel dafür zu verteilen. Das wichtigste Zugpferd war erneut Grass selbst, der in einem eigens angeschafften VW-Bus durch die Republik tourte, drei bis vier Mal pro Woche, insgesamt rund 100 Mal vor durchschnittlich 700–800 Personen auftrat und sich dabei vielfach einen veritablen Zweifrontenkrieg mit rechten und linken Störern von JU bzw. SDS lieferte. Inhaltlich verzichtete Grass diesmal auf polarisierende 12
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Spiegel vom 15. 9. 1965: „Ich will auch der SPD einiges zumuten“; FAZ vom 16. 7. 1965: „SPD-Kritik an Grass“. Zu späteren Grass-Aussagen zu Vertreibung und Vertriebenen s. u.a. Spiegel vom 28. 9. 1970: „Kalte Heimat“ und Geo 11/2004: „Das Thema war lange reif “. Spiegel vom 6. 5. 1968: „Gewalttätigkeit ist wieder gesellschaftsfähig“; Spiegel vom 11. 8. 1969: „Sowas durchmachen“.
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Extratouren, wenn man davon absieht, dass er noch offener als die SPD selbst für einen klaren „Machtwechsel“, d.h. die Kanzlerschaft Brandts in einer kleinen Koalition mit der FDP, eintrat, wie sie schon bei der Wahl Gustav Heinemanns zum Bundespräsidenten erprobt worden war. Offensichtlich sprang der Funke auf die Bevölkerung über. Es entstanden ca. 100 lokale, selbst organisierte Bürgerinitiativen zur Unterstützung Brandts. Schließlich kam, wenn auch knapp, bei der Bundestagswahl 1969 eine sozialliberale Mehrheit zustande. In der Regierung Brandt übernahm Grass trotz damals umgehender Gerüchte kein Amt. Er war für zwei Ministerposten gehandelt worden. Den für Entwicklungshilfe behielt jedoch Erhard Eppler, das Vertriebenenressort wurde aufgelöst. Vielmehr kam Grass nun eine Position zu, die er selbst 1966 ironisch als „schreibender Hofnarr“ skizziert hatte, d.h. die eines unabhängigen intellektuellen Beraters und Kritikers mit privilegiertem Zugang zu den Mächtigen.14 Neben regelmäßigen Treffen im kleinen Kreis um Brandt trat er, weiterhin ohne Parteimitglied zu sein, 1970 auf dem SPD-Parteitag auf und hielt 1971 eine Rede vor der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion. Dabei äußerte er sich durchaus unbequem, beispielsweise indem er forderte, in Bezug auf Umweltschutz oder Mitbestimmung das Reformtempo zu erhöhen, die Partei grundsätzlich zu reformieren und die Listenaufstellung transparent zu gestalten. Als Kritiker der griechischen Militärdiktatur stellte er bei einem Athenbesuch öffentlich den westdeutschen Botschafter bloß und mokierte sich über die allzu große Rücksichtnahme „seiner“ Regierung im Umgang mit dem NATO-Partner auf rechten Abwegen. Häufiger jedoch trat Günter Grass als streitbarer Advokat des sozialliberalen Projekts auf. Als einige Abgeordnete der FDP und der SPD, denen die „Neue Ostpolitik“ zu weit ging, zur Union wechselten und 1972 vorgezogene Neuwahlen anstanden, erreichte die Wählerinitiative noch einmal ganz neue Dimensionen. Nicht weniger als 350 örtliche Basisgruppen trugen das Ihre dazu bei, dass die „Willy-Wahl“ zum Triumph für den Kanzler wurde. Mit seitdem nie mehr erreichten 45,8 Prozent liefen die Sozialdemokraten der Union den Rang als größte Volkspartei ab und stellten erstmals die stärkste Bundestagsfraktion. Da nach der Ratifikation der Ostverträge jedoch das wichtigste gemeinsame sozialliberale Vorhaben abgearbeitet war und vor allem in der SPD hitzige Flügelkämpfe zwischen linken Jusos und rechten „Kanalarbeitern“ entbrannten, begann der Reformmotor kurz darauf zu stottern. Als die Ölkrise ihm den fiskalischen Treibstoff entzog und mit dem Sturz Brandts über die Guillaume-Affäre 1974 auch noch der charismatische Chauffeur abhanden kam, erkaltete Grass’ Enthusiasmus merklich. Mit der hanseatisch-spröden Art Helmut Schmidts konnte er ebenso wenig anfangen wie mit dessen radikalpragmatischem „Macher“-Ansatz in zunehmend unklarer Weltlage, die Krisenmanagement statt Reformpolitik zum Gebot der Stunde werden ließ. Zwar setzten sich Grass und die schrumpfende Wählerinitiative auch noch 1976 und 1980 für die SPD ein, jedoch – wie schon 1961 – eher unter dem Motto des „kleineren Übels“. Zum offenen Bruch mit 14
Rede „Vom mangelnden Selbstvertrauen der schreibenden Hofnarren unter Berücksichtigung nicht vorhandener Höfe“ an der Universität Princeton, gehalten im April 1966, in: Grass, Günter: Werkausgabe, Bd. 14. Essays und Reden I, Göttingen 1997, S. 167–172.
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Schmidt kam es in der Frage des NATO-Doppelbeschlusses, da Grass die darin enthaltene Option der nuklearen Nachrüstung auf dem Gebiet der Bundesrepublik als unerträglichen Bruch mit der Entspannungs- und Friedenspolitik Brandtscher Prägung empfand.15 Erst nachdem Schmidt 1982 über den Seitenwechsel der FDP und das konstruktive Misstrauensvotum gestürzt war, das Helmut Kohl zum Kanzler machte, kam Grass der SPD wieder näher. Als Akt der Solidarität trat er der Partei bei und setzte sich als Genosse energisch für eine Revision des Godesberger Programms ein. Dabei sollten seiner Ansicht nach die Akzente auf Umweltschutz, Friedenspolitik und dem Kampf gegen wirtschaftliche Liberalisierung, Rationalisierung und steigende Arbeitslosigkeit liegen. Als führenden Kopf der Partei empfahl er den von ihm als visionär empfundenen Erhard Eppler.16 Als sich seine Ideen nicht oder zumindest für seinen Geschmack nicht genug durchsetzen konnten und zudem sein apokalyptischer Endzeitroman Die Rättin böse verrissen wurde, äußerte sich der sonst unentwegte Günter Grass erstmals resigniert: „Nach einem ins dritte Jahrzehnt gehenden Engagement weiß ich nicht mehr weiter.“ Ein Licht am Horizont sah er allenfalls in den Grünen, die Ende der 1970er, Anfang der 1980er Jahre im Umfeld der Neuen Sozialen Bewegungen entstanden waren, welche man wiederum in die Traditionslinie der basisorientierten Grassschen Wählerinitiative stellen kann. Diese noch junge Partei legte der Schriftsteller der SPD als neuen Wunschpartner ans Herz, bevor er 1986 die Bundesrepublik für längere Zeit in Richtung Indien bzw. Portugal verließ. Er empfahl, „eine rot-grüne Koalition, wo immer es geht“.17 Auch nach seiner Rückkehr blieb Grass unzufrieden mit dem aus seiner Sicht vielfach zu laschen Oppositionskurs der Sozialdemokraten gegen die Regierung Kohl. Als die SPD sich 1992 auf einen Kompromiss einließ, mit dem das Grundrecht auf Asyl eingeschränkt wurde, im Kern jedoch erhalten blieb, trat Günter Grass unter Protest aus der Partei aus. Parteipolitische Begeisterung äußerte er erst wieder, als sich 1997 die rot-grüne Koalition abzuzeichnen begann, für die er 1998 ein weiteres Mal in den Wahlkampf zog. Anfangs gab er sich noch skeptisch in Bezug auf den neuen Kanzler Gerhard Schröder, den er tendenziell wie schon Schmidt als zu pragmatisch, zu gouvernemental und zu wenig auf das rote Profil der Sozialdemokratie bedacht beurteilte. Spätestens das entschiedene Schrödersche Nein zum amerikanischen Appell, in die „Koalition der Willigen“ einzutreten und in den Irak-Krieg zu ziehen, machte aus Grass jedoch einen „Kanzler-Freund“ und „Schröder-Vertrauten“, der sich auch als nunmehr unübersehbar „älterer Herr“ immer wieder im Wahlkampf verausgabte.18 Die politische Entwicklung nach dem Sturz Schröders stieß bei Grass erwartungsgemäß auf wenig Begeisterung. Weder die neuerliche Bildung einer Großen 15 16
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Vgl. den offenen Brief Grass’ an Schmidt, in: FR vom 18. 4. 1980 und den offenen Brief Grass’ an die Abgeordneten des Bundestags, in: Zeit vom 18. 11. 1983. Rede „Die Zukunft des demokratischen Sozialismus. Plädoyer für eine Revision des Godesberger Programms“ bei einer SPD-Tagung in Saarbrücken, gehalten im Mai 1983, in: Grass, Günter: Werkausgabe, Bd. 16. Essays und Reden III, Göttingen 1997, S. 88–99. Stern vom 19. 6. 1986: „Nun aber raus!“. Spiegel vom 25. 8. 2003: „Siegen macht dumm“; Spiegel vom 2. 8. 2004: „Wir brauchen eine neue Ideologie“.
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Koalition unter christdemokratischer Führung 2005, noch die Rückkehr einer bürgerlichen Regierung 2009 waren nach seinem Geschmack. Wie schon 1966 und 1982 sprang Grass der SPD in einer aus seiner Sicht unverdienten Krise kämpferisch bei. Gerade der Aufstieg der SED-PDS-Nachfolgepartei Die Linke unter dem ehemaligen SPD-Vorsitzenden Oskar Lafontaine sowie die zwischenzeitliche Renaissance der wirtschaftsliberal ausgerichteten FDP unter Guido Westerwelle brachten den Schriftsteller in Rage. Nachdem Grass die Entwicklung der PDS noch 2001 durchaus wohlwollend kommentiert hatte, fiel die Die Linke für ihn durch das von Lafontaine induzierte „demagogische Element“ als potenzieller Koalitionspartner im neuen Fünf-Parteien-System zumindest auf Bundesebene aus. Der Erfolg des „großmäuligen Schaumschlägers“ Westerwelle machte ihn fassungslos. In einer für ihn beängstigenden Situation erneuerte Günter Grass im Sommer 2009 ein weiteres Mal sein Bekenntnis: „Das politische Engagement für die Sozialdemokratie ist kein Auslaufmodell.“19
Wider die christlich-konservative Union Das Gegenstück zu Günter Grass’ wechselhaftem Freund-Verhältnis zur SPD stellte sein eindeutiges und konstantes Feind-Verhältnis zur Union dar. Hatte er ihr, wie beschrieben, schon früh distanziert gegenüber gestanden und sie instinktiv als restaurativ-reaktionäre Kraft wahrgenommen, so war er seit 1961 so gut wie gar nicht mehr gewillt, ein gutes Haar an den Christdemokraten bzw. den Christsozialen zu lassen. Alle unter ihrer Führung erreichten Aufbauleistungen wie die Errichtung und Stabilisierung der bundesdeutschen demokratischen Institutionen oder soziale Errungenschaften wie die Integration der Millionen Vertriebenen und die Rentenreform zur Bekämpfung der Altersarmut traten für Grass hinter den „Schulden unserer während 17 Jahren zum CDU-Staat verfälschten Demokratie“20 zurück. Nach 1969 nahm er die CDU als einseitig polarisierende und demagogische Kraft und gefährliche Fundamentalopposition wahr, der er vielfach Nähe zum Rechtsradikalismus unterstellte. Den Wechsel zurück zu einer bürgerlichen Koalition aus FDP, CDU und CSU unter Helmut Kohl nannte er 1983 einen „Rückfall in finstere Reaktion“, 1988 konstatierte er „allerorts […] Stillstand und Rückschritt“ und 1998 mahnte er im Wahlkampf eindringlich, 16 Jahre „lähmende Mittelmäßigkeit“ seien nun wirklich genug.21 Sein unzweideutiges Verhältnis zur Union lässt sich am klarsten herausarbeiten, wenn man seine bissigen Wertungen zu deren politischem Führungspersonal durch die Jahrzehnte nachverfolgt. Wie negativ er Adenauer sah, wurde daran 19 20 21
Die Woche vom 14. 9. 2001: „Die PDS soll ruhig mitregieren“; Spiegel vom 6. 9. 2009: „Grass attackiert Westerwelle und Lafontaine“. Spiegel vom 6. 5. 1968: „Gewalttätigkeit ist wieder gesellschaftsfähig“. Rede „Die Zukunft des demokratischen Sozialismus. Plädoyer für eine Revision des Godesberger Programms“ bei einer SPD-Tagung in Saarbrücken, gehalten im Mai 1983, in: Grass, Günter: Werkausgabe, Bd. 16. Essays und Reden III, Göttingen 1997, S. 88– 99; SZ vom 1. 2. 1988: „,Eine Bankrotterklärung‘, Günter Grass zu den Ereignissen in Ostberlin“; FR vom 2. 9. 1998: „Wer dreimal lügt …“.
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deutlich, dass er 1967 vom alten Grundsatz abwich, dass man über gerade Verstorbene nil nisi bene sagen sollte. Grass’ Nachruf im Stern vom 7. 5. 1967 „würdigte“ den Altkanzler hingegen als Verhinderer der deutschen Einheit und einer echten deutschen Demokratie. Wenig besser erging es Ludwig Erhard, den Grass im Wahlkampf 1965 nicht nur als „Banausen“ und „Spießbürger“ titulierte. Als kurz vor der Wahl auf Grass’ Berliner Wohnung ein Brandanschlag verübt wurde, der glücklicherweise nur einen geringfügigen Sachschaden anrichtete, verstieg sich Grass dazu, eine Art persönliche Verantwortung Erhards für diesen Vorfall zu konstruieren. Am Wahlabend versuchte der Schriftsteller, in Begleitung eines Kamerateams ins Palais Schaumburg vorzudringen, um den ungeliebten Wahlsieger dort persönlich zur Rede zu stellen.22 Noch bedeutend härter ging Grass Kurt Georg Kiesinger an, den er 1966 in einem relativ maßvollen und „Noch in Hochachtung“ unterzeichneten offenen Brief dazu aufforderte, angesichts seiner von 1933 bis 1945 bestehenden NSDAPZugehörigkeit von der Kanzlerschaft zu lassen. Als dieser wenig überraschenderweise nicht auf den Schriftsteller hörte, war es mit der Hochachtung schnell vorbei. Kurz darauf war aus dem „Mitläufer“ der „Altnationalsozialist“ Kiesinger geworden, den Grass bewusst und perfide in einem Atemzug mit dem verurteilten KZ-Mörder Oswald Kaduk nannte.23 Warum er Kiesinger als badenwürttembergischen Ministerpräsidenten eben noch, als Bundeskanzler auf gar keinen Fall mehr statthaft fand, muss ebenso offen bleiben wie die Frage, warum Grass glaubte, um so vieles strenger urteilen zu müssen als Brandt oder Wehner, die beide Widerstand gegen den Nationalsozialismus geleistet hatten und im Dritten Reich ins Exil gezwungen worden waren. Aus den von Grass geschmähten Gegnern der sozialliberalen Jahre sei nur Karl Carstens, zunächst Unionsfraktionsvorsitzender, dann Bundestagspräsident und schließlich Bundespräsident herausgegriffen. Ihn nannte Grass, sich der invozierten historischen Parallelen sicherlich bewusst, 1976 „die Karikatur eines Herrn von Papen“ und „deutschnational bis auf die Knochen“.24 Mit ähnlich abwegigen, harschen Vergleichen belegte Grass nach der Wende den langjährigen CDU-Innenminister Friedrich Zimmermann. Am 30. 1. 1983 kommentierte er dessen Politik im Rahmen einer Frankfurter Gedenkveranstaltung an die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler mit dem Satz „Auch das ist Machtergreifung“, gegen die er zum gewaltlosen Widerstand aufrief. 1988 behauptete er, man könne Zimmermann jederzeit problemlos mit dem DDR-Innenminister Friedrich Dickel austauschen: „Die würden gar keine Schwierigkeiten haben, ihr Werk fortzusetzen.“ Ein besonders innig gepflegtes Feindbild galt schließlich Helmut Kohl, den er einerseits als „fleischgewordene Null-Lösung“, als Figur ohne jedes Format der Lächerlichkeit preiszugeben suchte, andererseits 22
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Spiegel vom 15. 9. 1965: „Ich will auch der SPD einiges zumuten“; Spiegel vom 31. 3. 1969: „Danziger Allerlei“; Zimmermann, Harro: Günther Grass unter den Deutschen. Chronik eines Verhältnisses, Göttingen 2006, S. 167–170. Offener Brief an Kurt Georg Kiesinger vom 30. 11. 1966, in: Grass, Günter: Werkausgabe, Bd. 14. Essays und Reden I, Göttingen 1997, S. 191–192; Spiegel vom 30. 1. 1967: „Außerdem hat der Mann Verdienste“. Zeit vom 1. 10. 1976: „Freiheit ist schnell verspielt – Ein Interview mit Günter Grass“.
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als einen lähmenden „Koloss“ wahrnahm, dem scheinbar nicht zu entkommen war.25 Am Ende dieser Aufzählung, die ein Gesamtbild ergibt, das für den Schmähenden noch weniger schmeichelhaft ist als für die Geschmähten, muss indes erwähnt werden, dass Grass seinerseits vielfach von Unionspolitikern scharf angegriffen wurde. Um nur das bekannteste Beispiel zu nennen: Überrascht und verletzt von der Tatsache, dass so viele Intellektuelle, um deren Gunst er seit 1963 mehrfach öffentlich geworben hatte, etwa mit einer Einladung an die „schöpferischen Menschen in der Bundesrepublik zur Mitarbeit in diesem Staate“, sich so klar zu seinen Ungunsten aussprachen, reagierte Ludwig Erhard wenig souverän. Bei einer Wahlveranstaltung in Köln griff er Rolf Hochhuth als „ganz kleinen Pinscher an, der in dümmster Weise kläfft“ und nannte kurz darauf explizit auch Günter Grass als Beispiel derart verfehlten Verhaltens. Er und alle anderen Autoren des SPDfreundlichen Sammelbands waren für Erhard nur mehr „Banausen und Nichtskönner, die über Dinge urteilen, von denen sie einfach nichts verstehen“.26
Auf der Suche nach dem „Dritten Weg“ Bis zur Ölkrise und dem Rücktritt „seines“ Kanzlers Willy Brandt blieb Günter Grass mit bewundernswerter Hartnäckigkeit beim gerade von der „Neuen Linken“ angefeindeten Bekenntnis zu demokratischem „Kleinkram“ und dem mühsamen Kampf im Schneckentempo um konkrete Kompromisse und Mehrheiten.27 Danach begann auch er, öffentlich nach einem Überbau zu suchen, mit dessen Hilfe sich der politische Kompass in der neuen Unübersichtlichkeit „nach dem Boom“ ausrichten ließ.28 Dazu schaltete sich der Schriftsteller in die Debatte um die Definition des „demokratischen Sozialismus“ als „drittem Weg“ zwischen westlichem Privat- und – wie Grass es nannte – kommunistischem „Staatskapitalismus“ ein. Seine grundsätzlich-theoretischen Gedanken gab er z.B. im Februar 1974 in Bièvres bei Paris und im Mai 1983 in Saarbrücken zum Besten. Er bekannte sich zu den Überlegungen von Eduard Bernstein, Otto Bauer und Rosa Luxemburg bzw. der Protagonisten des Prager Frühlings und der polnischen Gewerkschaftsbewegung Solidarnosc. Allerdings blieben Grass’ Ausführungen dazu, wie konkret eine demokratisch kontrollierte Wirtschaftsform funktionieren sollte, wie 25
26 27
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Zeit vom 4. 2. 1983: „Vom Recht auf Widerstand“; SZ vom 1. 2. 1988: „,Eine Bankrotterklärung‘, Günter Grass zu den Ereignissen in Ostberlin“; Zimmermann, Harro: Günther Grass unter den Deutschen. Chronik eines Verhältnisses, Göttingen 2006, S. 413; FR vom 2. 9. 1998: „Wer dreimal lügt …“. SZ vom 12. 7. 1965: „Taten der CDU, Worte der SPD“; Spiegel vom 21. 7. 1965: „Im Stil der Zeit“. Rede „Vom mangelnden Selbstvertrauen der schreibenden Hofnarren unter Berücksichtigung nicht vorhandener Höfe“ an der Universität Princeton, gehalten im April 1966, in: Grass, Günter: Werkausgabe, Bd. 14. Essays und Reden I, Göttingen 1997, S. 167–172; Grass, Günter: Aus dem Tagebuch einer Schnecke, Neuwied u.a. 1972. Zu einem Problemabriss der zunehmend komplexen Weltlage vgl. Doering-Manteuffel, Anselm und Raphael, Lutz: Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 2008.
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die Eigentums- und Lohnverhältnisse gestaltet werden könnten, ausgesprochen vage. Seine Ausführungen von 1983 schloss er mit einem sehr allgemein gehaltenen Appell: „Stellen wir uns tätig auf die Seite der Abhängigen und Behinderten, der Verfolgten und Unterdrückten, auch auf die Seite der Jungen, die wie ohne Zukunft sind, auch auf die Seite der Alten, deren Leben Mühe und Arbeit gewesen ist, seien wir demokratisch und sozialistisch, indem wir solidarisch handeln.“29 Im Zusammenhang mit der Suche nach Konkretionen des „dritten Weges“ stehen zwei der strittigsten Aktionen Günter Grass’. 1982 reiste er zusammen mit den Publizisten Franz Alt und Johano Strasser nach Nicaragua. Dort hatten 1979 die sozialistischen Sandinisten nach einem mehrjährigen Bürgerkrieg die Macht übernommen und einerseits Bildungs- und Landreformen eingeleitet, andererseits mehrere tausend politische Gegner interniert und das Indianervolk der Miskito zwangsweise umgesiedelt. Die Einladung an die westdeutschen Gäste war von der Regierung gekommen. Die Rundreise, die auch in Haftlager und Ansiedlungsdörfer führte, war offiziell organisiert worden. Nach der Rückkehr zeichnete Grass ein überwiegend positives Bild der Lage in Nicaragua. Die von ihm eingeräumten harten Maßnahmen schrieb er vor allem der dauernden Bedrohung seitens der imperialistischen Supermacht USA zu. Nicht ganz zu unrecht musste sich Grass daraufhin vorwerfen lassen, dass die Vorstellung naiv sei, sich bei vom Regime organisierten Haftinspektionen ein realistisches Bild machen zu können. Die Kritik, auch Grass sei nun vom „Fellow-Traveller-Syndrom“ befallen, bei dem deutsche Linke ihr Seelenheil in jeweils neuen, noch scheinbar unbelasteten DritteWelt-Sozialismen suchten, war nicht von der Hand zu weisen. Er selbst hatte in einem ähnlichen Fall in den 1960er Jahren Hans Magnus Enzensberger wegen dessen Begeisterung für Castros Kuba noch scharf kritisiert.30 Den zweiten umstrittenen Komplex bildeten Grass’ Stellungnahmen im Wiedervereinigungsprozess. Ende der 1980er Jahre begann das SED-Regime infolge von Gorbatschows Perestroika und ostdeutscher Bürgerrechtsbewegung in sich zusammenzufallen. Als sich 1989/90 der Slogan „Wir sind das Volk“ in „Wir sind ein Volk“ wandelte und sich die schnelle deutsche Wiedervereinigung durch den Beitritt neuer Bundesländer abzeichnete, erhob Günter Grass zornig die Stimme.31 Diese Entwicklung lehnte er aus vier Gründen vehement ab: Erstens sah er in einem vereinigten Deutschland eine Machtballung in der Mitte Europas, die 29
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Rede „Sieben Thesen zum demokratischen Sozialismus“ in Bièvres bei Paris, gehalten im Februar 1974, in: Grass, Günter: Werkausgabe, Bd. 15. Essays und Reden II, Göttingen 1997, S. 339–343; Rede „Die Zukunft des demokratischen Sozialismus. Plädoyer für eine Revision des Godesberger Programms“ in Saarbrücken, gehalten im Mai 1983, in: Grass, Günter: Werkausgabe, Bd. 16. Essays und Reden III, Göttingen 1997, S. 88–99. Zeit vom 1. 10. 1982: „Im Hinterhof “; Welt vom 3. 9. 1982: „Günter Grass lächelt dazu“; Welt vom 13. 9. 1982: „Pankraz, G. Grass und der rebellische Rest“. Spiegel vom 20. 11. 1989: „Viel Gefühl, wenig Bewusstsein“; Rede „Lastenausgleich“ auf dem Berliner Parteitag der SPD, gehalten im Dezember 1989, in: Grass, Günter: Werkausgabe, Bd. 16. Essays und Reden III, Göttingen 1997, S. 225–229; Rede „Schreiben nach Auschwitz“ an der Universität Frankfurt a.M., gehalten im Februar 1990, in: Grass, Günter: Werkausgabe, Bd. 16. Essays und Reden III, Göttingen 1997, S. 255–256; Augstein, Rudolf und Grass, Günter: Deutschland, einig Vaterland. Ein Streitgespräch, Göttingen 1990; Grass, Günter: Ein Schnäppchen namens DDR, Frankfurt a.M. 1990.
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für alle Nachbarn inakzeptabel und eine Bedrohung der europäischen Integration sowie des Weltfrieden sei. Zweitens hätten die Deutschen mit dem Zivilisationsbruch des Holocaust ihr Selbstbestimmungsrecht moralisch verwirkt. Das von Bismarck geeinte Deutschland sei eine der wesentlichen Voraussetzungen für Auschwitz gewesen und daher nicht mehr legitim. Drittens drohe mit einer allzu schnellen Vereinigung ein Ausverkauf Ostdeutschlands an die ökonomisch überlegenen Westdeutschen und eine Entwertung der ostdeutschen Biographien. Stattdessen müsse der DDR und ihren Bürgern durch einen umfassenden, bedingungslosen neuen Lastenausgleich zuerst die Chance gegeben werden, wirtschaftlich zu gesunden, bevor man auf Augenhöhe miteinander verhandeln könne. Viertens hoffte er, dass sich in einer weiterhin unabhängigen DDR ein demokratischer Sozialismus entwickeln würde, von dem nötige Reformimpulse auf die kapitalistische und unter einem Widerspruch zwischen Verfassung und Verfassungswirklichkeit leidende Bundesrepublik ausgehen könnten. Grass plädierte ein weiteres Mal für einen „dritten Weg“ zwischen völliger Zweistaatlichkeit und deutschem „Einheitsstaat“. Bundesrepublik und DDR sollten sich als deutsch-deutsche Konföderation verbinden und dabei vor allem die Einheit als „Kulturnation“ ins Zentrum stellen. Zahlreiche Punkte, die für den schließlich unter der Führung der Christdemokraten Lothar de Maizière und Helmut Kohl eingeschlagenen Weg sprachen, fielen für Grass nicht ins Gewicht, so die Tatsache, dass die Chance zur Stabilisierung der ostdeutschen Freiheit durchaus prekär erschien. Ein Sturz Gorbatschows in Moskau und eine Rückkehr kommunistischer Hardliner im ganzen Ostblock war zumindest nicht völlig auszuschließen. Auch waren die ostdeutschen Betriebe angesichts der Tatsache, dass ihre Produkte selbst im eigenen Land niemand mehr haben wollte und die Westprodukte dank der Reisefreiheit jederzeit und leicht zu haben waren, kaum zu stabilisieren. Schließlich sprach sich im März 1990 in freien Volkskammer-Wahlen eine Mehrheit der Ostdeutschen für eine schnelle Wiedervereinigung aus, was auch der westdeutsche Intellektuelle Grass, der glaubte, es besser zu wissen als die Betroffenen, als demokratisches Faktum zu akzeptieren hatte. In seiner Befürchtung, dass Kohls „blühende Landschaften“ nicht so schnell zu erreichen seien und ein Teil der Ostdeutschen angesichts der damit geweckten Erwartungshaltungen später bitter enttäuscht sein würden, hat Grass leider recht behalten,32 in seiner Angst vor der Gefährdung Europas und des Weltfriedens durch das geeinte Deutschland zum Glück nicht.
Fazit Lässt man, wie es hier versucht wurde, die nahezu 50jährige Dreinrede Günters Grass’ in politischen und gesellschaftlichen Fragen Revue passieren, so nötigt diese einem zuallererst großen Respekt für die bewiesene Beharrlichkeit ab. Ohne dass er davon selbst unmittelbar profitiert hätte, hat Grass etwa in seinen Wahl32
Vgl. Cadenbach, Christoph und Obermayer, Bastian: „Geschlossene Gesellschaft“, in: SZ-Magazin 30/2010.
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kampagnen enorme Mühen auf sich genommen und sich erheblichen Anfeindungen ausgesetzt. Die bisweilen geäußerte Mutmaßung, Grass melde sich immer dann spektakulär zu Wort, wenn er gerade ein neues Buch bewerben wolle, ist eine zynische Unterstellung. Der Zusammenhang zwischen dem politischen Intellektuellen und dem Literaten stellt sich vielmehr umgekehrt da: Grass Werke wurden häufig von Erfahrungen inspiriert und geprägt, die er im Rahmen seiner politischen Sozialisation bzw. seines Engagements machte. So spiegelt beispielsweise die Danziger Trilogie die NS- und Kriegserfahrung, das Drama Die Plebejer proben den Aufstand die Verarbeitung des 17. Juni 1953, Örtlich betäubt die Auseinandersetzung mit den „68ern“, das Tagebuch einer Schnecke den Wahlkampf für Willy Brandt und Die Rättin den Protest gegen das nukleare Wettrüsten und die Umweltzerstörung wider. Reflektiert man das schiere Ausmaß des Grassschen Aktivismus, so drängen sich zwei Fragen auf: Bei welchem heute zwischen dreißig- und vierzigjährigem Star aus dem Kulturbetrieb wäre denkbar, dass er sich freiwillig „schweißtreibenden“ und „detailverstrickten“ Situationen „inmitten Bierdunst“ aussetzt, wie sie Grass 1973 im Rückblick auf drei Wahlkämpfe beschreibt?33 Und wäre nicht ein solch mutiges Engagement gerade heute, angesichts des vom TV-Zeitalter noch befeuerten Starrummels ein probates Mittel gegen Politikverdrossenheit und sinkende Wahlbeteiligung? Andererseits erscheint im historisch abwägenden Rückblick der Status als „Staatsdichter“, „Nationalpädagoge“ oder gar „Gewissen der Nation“, der Grass zugeschrieben worden ist, verfehlt. Dazu agierte der Schriftsteller zu einseitig, zu polemisch und – eine zugegebenermaßen wohlfeile, weil retrospektive Feststellung – zu oft im Irrtum. Beim abschließenden Urteil im Hinblick auf die Themenfrage gilt es aber zu bedenken, dass der Status als „das inoffizielle Gewissen Deutschlands“ Grass von außen angetragen wurde, er selbst ihn dagegen immer wieder ausdrücklich als anmaßend und unpassend abgelehnt hat.34 Somit bleibt Günter Grass neben Walter Jens und Jürgen Habermas einer der wichtigsten linken Intellektuellen in der Geschichte der Bundesrepublik. Angesichts der Tatsache, dass er aufgrund seiner im Vergleich zu diesen weniger elitären, direkteren und klareren Ausdrucksweise eine größere Breitenwirkung entfalten konnte, war und ist er vielleicht der wichtigste. Ein Vertreter der ganzen Nation war Grass nie und wollte es auch nicht sein.
Weiterführende Literatur Beutin, Wolfgang: Der Fall Grass. Ein deutsches Debakel, Frankfurt a.M. u.a. 2008. Jürgs, Michael: Bürger Grass. Biografie eines deutschen Dichters, München 2002. Mayer-Iswandy, Claudia: Günter Grass, München 2002. Pietsch, Timm N.: Wer hört noch zu? Günter Grass als politischer Redner und Essayist, Essen 2006. Zimmermann, Harro: Günter Grass unter den Deutschen. Chronik eines Verhältnisses, Göttingen 2006. 33 34
Grass, Günter: Der Schriftsteller als Bürger. Eine Siebenjahresbilanz, Wien 1973, S. 20. Z. B. im Spiegel vom 11. 8. 1969: Grass, Günther: „Unser Grundübel ist der Idealismus“.
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Hinweise zu den Quellen Die wichtigsten politischen Reden und Essays bis zur Mitte der 1990er Jahre sind in der 18bändigen Werkausgabe enthalten, die 1997 im Göttinger Steidl-Verlag erschienen ist. Unveröffentlichtes Material wie Arbeitstagebücher, Kalender, Korrespondenzen etc. findet sich im Vorlass, den Grass im Archiv der Akademie der Künste Berlin deponiert hat.
Franziska Fronhöfer
Die Vision der „Soziokultur“ – Hermann Glaser (Jg. 1928) Einführung Es hat viel mit dem politischen Wirken von Hermann Glaser zu tun, wenn auf einer Tagung im Münchener Literaturhaus am 8. November 2010 zu dem Thema „Fundraising – Förderer für die Kultur“ der Projektleiter der Allianz Kulturstiftung, Martin Bach, das Engagement der Stiftung so definierte: „Vielleicht stellen Sie sich vor, wir stellen ein Streichquartett auf die Bühne und fördern dieses dann. Dies wäre ja recht und gut, aber es entspricht nicht unserem Kulturbegriff, denn: Kultur ist alles.“ Für dieses Verständnis, dass „Kultur“ sämtliche Lebensformen einer Gesellschaft als kulturell-zivilisatorischen Gesamtorganismus umfasse, setzte sich der SPD-Politiker Hermann Glaser über Jahrzehnte intensiv ein.1 Der Schwerpunkt seines heute noch umstrittenen Wirkens für eine „neue, wahrhaft demokratische Kultur“ liegt in den sechziger, siebziger und achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Von 1964 bis 1990 war Hermann Glaser Kulturreferent der Stadt Nürnberg. Dadurch, dass die SPD die größte Fraktion im Stadtrat stellte und bis zum Jahr 1978 sogar über die absolute Mehrheit verfügte, war es ihm in dieser über ein Vierteljahrhundert währenden Zeitspanne möglich – auch gegen manche Widerstände aus der eigene Partei – das kulturelle Leben in Nürnberg maßgeblich zu prägen. Glasers Aktionsradius beschränkte sich jedoch nicht auf das politische Geschehen in Nürnberg: In seiner Funktion als Vorsitzender des Kulturausschusses des Deutschen Städtetages beeinflusste er von 1975 bis 1990 auch den bundesweit geführten Diskurs über die „Neue Kulturpolitik“. Darüber hinaus trat er seit den sechziger Jahren als Publizist mit einer Vielzahl von Büchern an die Öffentlichkeit. Da einigen seiner kontrovers diskutierten Schriften große Aufmerksamkeit in den Medien zuteil wurde, avancierte Glaser zu einem der wenigen von einer breiteren Öffentlichkeit wahrgenommenen Kulturpolitiker seiner Zeit. Neben seiner schriftstellerischen Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit und den politischen Verhältnissen in der Bundesrepublik Deutschland entwickelte er in mehreren Schriften auch theoretische Grundlagen für die von ihm geforderte „Neue Kulturpolitik“, so dass er nicht nur als Praktiker, sondern auch als Theoretiker einer der „Väter“ der sogenannten „Soziokultur“ ist. Zwar sind seine theoretischen Reflexionen weniger stringente wissenschaftliche Analysen als vielmehr weitausgreifende, assoziationsreiche Diskurse, die für die heutige Kulturpolitik kaum Relevanz haben. Doch mit den vielfältigen seiner Vision verpflichteten Projekten, die zumindest im An1
Der vorliegende Aufsatz fußt auf der Dissertation der Verfasserin Knöpfle, Franziska: Im Zeichen der Soziokultur. Hermann Glaser und die kommunale Kulturpolitik in Nürnberg, Nürnberg 2007.
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satz modellartig umgesetzt wurden, gelang es Glaser, Nürnberg zu einem Vorreiter für die Soziokultur zu machen, der dann auch stark auf die Kulturlandschaft der Bundesrepublik ausstrahlte. Vor allem aber hat der von Glaser propagierte neue Kulturbegriff unser Verständnis von Kultur bis heute nachhaltig verändert.
Frühe Prägung durch das Dritte Reich Der am 28. August 1928 geborene Hermann Glaser gehört zu der Generation der sogenannten „45er“, die den Übergang vom Dritten Reich zur Bundesrepublik Deutschland bewusst erfahren und nach ihrem Selbstverständnis die Lehren aus der Vergangenheit als Auftrag für die Gestaltung der Zukunft verstanden haben.2 Das Erleben das Pogroms gegen die Juden im Jahr 1938 hinterließ bei dem damals Zehnjährigen einen unauslöschlichen Eindruck. Von den Fenstern der elterlichen Wohnung aus, so erinnerte sich Glaser, beobachtete die Familie das nächtliche Szenario von in den Hof heruntergeworfenem Geschirr und Mobiliar, verängstigt schreienden Menschen und grölenden Stimmen aus den Reihen der SA.3 In einem Interview mit der „Zeit“ aus dem Jahr 1990 betonte Glaser die Bedeutung dieses Eindrucks während des Dritten Reiches für sein späteres politisches Wollen: „Mein negatives Bildungserlebnis war das Reichspogrom im November 1938. Es hat mich und mein Weltverständnis für alle Zeiten bestimmt. Ich verstehe demokratische Kultur als großen Gegenentwurf, als Hoffnung gegenüber dem völligen Zusammenbruch dessen, was man deutschen Geist, deutsche Gesittung und Gesinnung genannt hat.“4 Glaser stellte immer wieder die Bedeutsamkeit dieses „entscheidenden, traumatischen ,Bildungserlebnisses‘“ heraus: So bekannte er in seiner Dankesrede anlässlich der Verleihung des Waldemar-von-Knoeringen-Preises im Jahr 1985, dass das Erleben der Reichspogromnachtsein Bewusstsein dahingehend gebildet habe, dass er sich bewusst sei, dass „Anstand, Rechtsgefühl, Treu und Glauben sehr leicht und sehr rasch verlorengehen, sehr schwer erhalten werden können; […] Einmal könnte es doch sein, meinte mein Vater die Jahre hindurch, dass uns eine demokratische, eine republikanische Chance geboten wird. Sie kam – nicht von innen, sondern von außen bewirkt. Ich bin dankbar, dass die Deutschen, die sich selbst die schlimmsten Feinde waren, Feinde hatten, die das Deutsche Reich […] zerschlugen. Damit aus der Asche und den Trümmern, aus geistig-sittlicher Verwahrlosung, eine Republik entstehen konnte, die wir immer wieder neu erwerben müssen, um sie zu erhalten.“5 2 3 4
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Vgl. Moses, Dirk: Die 45er. Eine Generation zwischen Faschismus und Demokratie, in: Neue Sammlung 40 (2000), S. 211–233. Waldemar-von-Knoeringen-Preis 1985, Rede des Preisträgers Dr. Hermann Glaser, S. 14–25, hier S. 18. Kultur ist alles das, was nicht ist. Über die panische Nachkriegszeit, leere Bildungsfassaden und Kultur als Farbigkeitsbedarfsdeckung. Ein Gespräch mit Hermann Glaser, in: Die Zeit vom 4. 5. 1990, S. 56. Waldemar-von-Knoeringen-Preis 1985, Rede des Preisträgers Dr. Hermann Glaser, S. 14–25, hier S. 18.
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Die Wurzeln des leidenschaftlichen Eintretens Hermann Glasers für demokratische Prinzipien liegen in seiner Prägung durch das geistige Klima im Elternhaus während des Dritten Reiches. Vor allem sein Vater, der Nürnberger Oberstudiendirektor Otto Glaser, den Glaser als feinen, kunstsinnigen und belesenen Menschen charakterisiert, war die für ihn prägende Figur.6 Glaser dankte später seinen Eltern dafür, dass „sie in der Zeit des Dritten Reiches – ohne dass sie die Kraft und den Mut zum aktiven Widerstand aufbrachten –, mir etwas von der Notwendigkeit des Bemühens um bessere Begriffe, reinere Grundsätze, edlere Sitten vermittelt haben“.7 Dieses Bemühen um „bessere Begriffe“ benannte Glaser stets als die Grundmotivation für sein politisches Denken und Handeln.
Spätere Prägung durch den links-intellektuellen Zeitgeist Damit stellte sich für Glaser die Frage, wie dieser Anspruch auf „bessere Begriffe und reinere Grundsätze“ eingelöst werden könnte. Glaser schien dazu eine öffentliche, wache und kritische Auseinandersetzung mit den demokratischen Prinzipien und das Aufspüren eventueller Gefährdungen geboten zu sein. In dieser Intention verfasste der junge Glaser, der in die Fußstapfen seines Vaters getreten und von 1953 bis 1964 als Lehrer in Nürnberg im höheren Schuldienst tätig war, einige Schriften, in denen er nach Gründen für den Kulturverfall während des Dritten Reiches und nach Lehren für die Gegenwart suchte. Im Jahr 1961 erschien sein Buch „Das Dritte Reich. Anspruch und Wirklichkeit“8, mit dem er auch einen Beitrag zur Trauerarbeit leisten wollte. Mit seiner 1964 erschienenen Publikation „Spießerideologie. Von der Zerstörung des deutschen Geistes im 19. und 20. Jahrhundert“9 versuchte sich Glaser an einer Erklärung der Entstehungszusammenhänge des Dritten Reiches. Er formulierte hier die These eines Zusammenhangs zwischen dem sich im 19. Jahrhundert ausbreitenden Provinzialismus einer doppelbödigen Kleinbürgermoral, eben der „Spießerideologie“, und dem politischen Massenverhalten der Menschen im Dritten Reich. Diese Schrift provozierte heftige Reaktionen: In den Feuilletons, auch der überregionalen Zeitungen, wurde das höchst umstrittene Buch besprochen, das somit Glasers Durchbruch als politischer Publizist mit sich brachte. Ein Jahr später, 1965, versuchte Glaser die aktuellen politischen Verhältnisse in seiner Publikation „Die Bundesrepublik zwischen Restauration und Rationalismus“10 zu analysieren. Der Begriff „Restauration“ war von Walter Dirks mit 6 7 8 9 10
Glaser, Hermann: Und du meinst so bliebe es immer. Spurensuche in Franken und anderswo, Cadolzburg 2001, S. 10. Waldemar-von-Knoeringen-Preis 1985, Rede des Preisträgers Dr. Hermann Glaser, S. 14–25, hier S. 17 f. Glaser, Hermann: Das Dritte Reich. Anspruch und Wirklichkeit, Freiburg 1961. Glaser, Hermann: Spießer-Ideologie. Von der Zerstörung des deutschen Geistes im 19. und 20. Jahrhundert, Freiburg 1964. Glaser, Hermann: Die Bundesrepublik zwischen Restauration und Rationalismus. Analysen und Perspektiven, Freiburg 1965.
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seinem 1950 erschienenen Aufsatz „Der restaurative Charakter der Epoche“11 auf die aktuelle politische Situation übertragen worden. Im Jahr 1952 griff Eugen Kogon den Begriff in seinem Beitrag „Die Aussichten der Restauration“12 auf. Die Restaurations-These war damals noch eine links-intellektuelle Randposition, die sich gegen die unter Adenauer und Erhard erfolgte Einführung der sozialen Marktwirtschaft und die Restituierung der bürgerlichen Gesellschaft aussprach.13 Im Gegensatz dazu hätte, so Dirks und Kogon, ein „echter demokratischer Aufbau“ der Bundesrepublik nach sozialistischen Prinzipien durch die Einführung der Planwirtschaft und die Umgestaltung der Gesellschaft im Zeichen egalitärer und solidarischer Zielsetzungen gekennzeichnet sein müssen. Der Terminus „Restauration“ wurde im Laufe der sechziger und siebziger Jahre immer mehr zum pauschalen Sammelbegriff für das im linken Spektrum zunehmend an Gewicht gewinnende und in einer wahren Flut von Schriften artikulierte Missfallen an der vermeintlich fehlerhaften politischen Weichenstellung in der Bundesrepublik seit der Adenauerzeit.14 Das gemeinsame Substrat dieser vielfältigen Ansätze war die Kritik am vorherrschenden Demokratiebegriff: Zwar seien die politischen Verhältnisse in der Bundesrepublik formal demokratisch, tatsächlich seien unter Adenauer jedoch einzelne Gruppierungen privilegierende Rahmenbedingungen geschaffen worden, die eine aktive politische Teilhabe aller Mitglieder der Gesellschaft unmöglich werden ließen. Die Bundesrepublik von diesem vermeintlichen Zustand einer „bloß formalen“ in den einer „konkret inhaltlichen“ Demokratie zu überführen war das Ziel sämtlicher oft neo-marxistischer Gesellschafts- und Demokratielehren, die häufig auf revolutionstheoretischen Schriften der zwanziger und frühen dreißiger Jahre fußten. Sie forderten unter dem Schlagwort „Basisdemokratisierung“ die Politisierung aller Gesellschaftsbereiche und die Aufhebung sämtlicher Herrschafts- und Abhängigkeitsstrukturen. Dazu wurden Reformen in allen Bereichen für dringend nötig erachtet. In diesem Kontext sind auch die Reformbestrebungen Hermann Glasers für den Kulturbereich seit Mitte der sechziger Jahre zu verstehen. Die Theorie der Restauration fand auf der Linken zunächst immer mehr Anhänger, sie wird von der neueren Zeitgeschichtsforschung aber stark in Frage gestellt. Aus der Retrospektive wird nämlich deutlich, dass die Impulse für die Reformbestrebungen der sechziger und frühen siebziger gerade daher rührten, dass die fünfziger Jahre keineswegs eine „Restauration“ einläuteten, sondern im Gegenteil vor allem seit der zweiten Hälfte des Jahrzehnts eine „Periode aufregender Modernisierung“ waren.15 Anfang der achtziger Jahre formulierte Hans-Peter Schwarz sein Verständnis von den fünfziger Jahren als „Epochenzäsur“, welche 11 12 13 14 15
Dirks, Walter: Der restaurative Charakter der Epoche, in: Frankfurter Hefte 9 (1950), S. 942–954. Kogon, Eugen: Die Aussichten der Restauration, in: Frankfurter Hefte 3 (1952), S. 165– 177. Vgl. zu den folgenden Ausführungen Schwarz, Hans-Peter: Die Ära Adenauer. Gründerjahre der Republik. 1949–1957, Stuttgart 1981, S. 446 ff. Vgl. Bracher, Karl-Dietrich u.a.: Republik im Wandel. 1969–1974. Die Ära Brandt, Stuttgart 1986, S. 313 ff. Schwarz, Hans-Peter: Die Ära Adenauer. Gründerjahre der Republik. 1949–1957, Stuttgart 1981, S. 382.
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die Welt von gestern von unserer heutigen Gegenwart trenne. In ihnen sei es zu einem Quantensprung hinsichtlich der Lebensformen und Wertsysteme gekommen, die sich von denen, die im Deutschland der Zwischenkriegszeit und selbst im Dritten Reich sowie der ersten Nachkriegsperiode noch weithin vorgeherrscht hätten, fundamental unterschieden. Insbesondere in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre habe eine Entwicklung eingesetzt, die zur Überwindung der vorindustriellen Reste und zur Herausbildung einer typischen modernen westlichen Industrie- und Konsumgesellschaft geführt habe. Dieser Befund der Modernisierung in den fünfziger Jahren und ihrer weiteren Dynamisierung in den sechziger Jahren, fand in der Zeitgeschichtsforschung ein positives Echo. Die den politischen Standpunkten entsprechende Einteilung der Zeit vor „1968“ als entweder „restaurativ“ oder „wertstabil“ kann inzwischen als überwunden gelten. Entsprechend wird heute auch die Phase nach „1968“ nicht mehr als „aufgeklärt-tolerante Liberalisierung“ oder als Phase des „geistigmoralischen Verfalls“ interpretiert.16 Die Betrachtungsweise der Entwicklungen in den Jahrzehnten vor und nach „1968“ hat die Erkenntnis gebracht, dass die Aufbruchstimmung der frühen siebziger Jahre mit ihrer Reformeuphorie gerade auf der „Modernisierung unter konservativen Auspizien“17 der vorangegangenen Jahrzehnte beruhte.18 Die junge Generation konnte, gerade weil die Anstrengungen der Nachkriegszeit und des Wiederaufbaus überwunden waren, das demokratische System fest verankert und die materielle Konsolidierung geglückt war, nun ihre Energien stärker auf die geistige Befindlichkeit legen. Daher verlagerte sich in den sechziger Jahren der Akzent zunehmend von der Diskussion über die demokratischen Institutionen selbst hin zur ideellen Ausgestaltung der demokratischen Gesellschaft und ihres sozial normativen Wertesystems.19
Theoretische Prämissen der „Soziokultur“ Als eine Facette dieses Wunsches nach politischer Ausgestaltung des ideellen Selbstverständnisses der Bundesrepublik ist Glasers Idee der sogenannten Soziokultur zu verstehen. Glaser gehörte der jungen Politikergeneration an – als er im Jahr 1964 zum Schul- und Kulturreferenten der Stadt Nürnberg berufen wurde, war er mit 36 Jahren der jüngste Referent der Bundesrepublik –, die in den sechziger Jahren auf der Linken antrat, um mit großem Idealismus Demokratisierungs16 17
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Vgl. Schildt, Axel u.a. (Hg.): Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften, Hamburg 2000, S. 11. Kleßmann, Christoph: Ein stolzes Schiff und krächzende Möwen. Die Geschichte der Bundesrepublik und ihre Kritiker, in: Geschichte und Gesellschaft 11 (1985), S. 476–494, hier S. 485. Vgl. Schönhoven, Klaus: Aufbruch in die Sozialliberale Ära. Zur Bedeutung der 60er Jahre in der Geschichte der Bundesrepublik, in: Geschichte und Gesellschaft 25 (1999), S. 123–145, hier S. 144. Vgl. Doering-Manteuffel, Anselm: Westernisierung. Politisch-ideeller und gesellschaftlicher Wandel in der Bundesrepublik bis zum Ende der 60er Jahre, in: Schildt, Axel u.a. (Hg.): Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften, Hamburg 2000, S. 285–406, hier S. 285.
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reformen anzugehen. Gemeinsam mit zunächst nur wenigen anderen sozialdemokratischen Kulturpolitikern wie dem Frankfurter Kulturdezernenten Hilmar Hoffmann, dem Dortmunder Amtskollegen Alfons Spielhoff und dem Beigeordneten für Schule und Kultur des Deutschen Städtetages, Dieter Sauberzweig, war es seine Absicht, demokratische Prinzipien tief im kulturellen Leben zu verankern. Freilich gab es zu keinem Zeitpunkt ein geschlossenes Gedankengebäude zur Soziokultur, vielmehr kristallisierte sich ihr Erscheinungsbild erst im Laufe der Jahre durch das Zusammenspiel der eher abstrakten, vagen Vision und vieler verschiedener Ansätze zu ihrer Realisierung heraus. Dennoch versuchte Glaser im Jahr 1972 in seinem Aufsatz „Vom Unbehagen in der Kulturpolitik“20 einige Grundzüge der Soziokultur zu skizzieren. Im Jahr 1974 vertiefte Glaser gemeinsam mit dem Berliner Kommunikationswissenschaftler Karl-Heinz Stahl diese Theorie in der Programmschrift „Die Wiedergewinnung des Ästhetischen“21 . Glaser und Stahl hatten den Begriff Soziokultur, den sie in die bundesrepublikanische Diskussion einführten, dem europäischen Diskurs über eine neue Bildungs- und Kulturpolitik entlehnt. Dort wurde er jedoch eher in der adjektivischen Form verwendet, zum Beispiel als „animation socio-culturelle“. Das Präfix „Sozio-“ sollte auf die angestrebte Gesellschaftsbezogenheit der Kultur verweisen. Die Ausführungen Glasers und Stahls fußen auf Herbert Marcuses im Jahr 1937 in seinem Aufsatz „Über den affirmativen Charakter der Kultur“22 artikulierter Kritik am traditionellen bürgerlichen Kulturbegriff. Marcuse kritisierte das Verhältnis von Kultur und Politik in der bürgerlichen Gesellschaft: Durch die sich bereits seit dem 18. und 19. Jahrhundert herausbildende begriffliche Trennung des „Zweckmäßigen und Notwendigen“ vom „Schönen und vom Genuß“ sei in der bürgerlichen Gesellschaft die Vorstellung entstanden, dass die Kultur ein geistiges Refugium höherer Ideale sei, das naturgemäß im Kontrast zu den Niederungen der auf Profit orientierten Wirtschaftsordnung und der Politik stehe. Diese Abgrenzung habe die Kultur in den rein geistigen Raum verwiesen und sie damit jeglicher aktiven politischen Einflussnahme entzogen. Ihre Ideale des „Wahren, Schönen, Guten“ würden seither ohne politische Relevanz von der bürgerlichen Gesellschaft in einem „Akt der Feierstunde“ ausschließlich zum Zweck der „Erhebung“ zelebriert. „Was in der Kunst geschieht, verpflichtet zu nichts“, so das Fazit Marcuses. In letzter Konsequenz habe die Suggestion der Gegensätzlichkeit der beiden Bereiche dazu geführt, dass die geschichtliche Form der gesellschaftlichen Arbeitsteilung und Klassenschichtung als eine Art – von der Kultur nicht zu beeinflussende – Gesetzmäßigkeit erscheine. So werde die reale Politik von ethischen Maximen dispensiert und zugleich von der politisch unwirksam gemachten, nur mehr ideellen Kultur befestigt. In diesem Sinne beschrieb Marcuse die 20
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Glaser, Hermann: Vom Unbehagen in der Kulturpolitik. Fragwürdigkeiten, Bedenklichkeiten, neue Perspektiven, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung „Das Parlament“ 52 (1972), S. 3–21. Glaser, Hermann und Stahl, Karl-Heinz: Die Widergewinnung des Ästhetischen. Perspektiven und Modelle einer neuen Soziokultur, München 1974. Marcuse, Herbert: Über den affirmativen Charakter der Kultur, in: Kultur und Gesellschaft I, S. 56–101.
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Kultur in der bürgerlichen Gesellschaft als „affirmativ“, also das System bestätigend. Auf diese Argumentation bezogen sich Glaser und Stahl, wenngleich ihre Stoßrichtung eine andere war: Während Marcuse in den ökonomischen Gegebenheiten die Ursache der von ihm kritisierten gesellschaftlichen Verhältnisse sah und seine Kritik darauf hinauslief, die Systemfrage zu stellen, schienen Glaser und Stahl die gesellschaftlichen Hierarchien durch die ungleichen Möglichkeiten zur Teilhabe an der politischen Willensbildung bedingt zu sein. Sie kritisierten, dass das „politische System eine seiner hervorragendsten Legitimationsgrundlagen“ vernachlässige, nämlich „die Entwicklung der Menschen zu mündigen, sich selbst bestimmenden Staatsbürgern“. Die „gemeinsame emanzipatorische Teilhabe verständiger Individuen an politischer Praxis“ bleibe ein in vielem noch unerfülltes Versprechen.“23 Hier setzten ihre Reformambitionen an: Die Kultur sollte nicht länger im „Elfenbeinturm“ der von der Realität abgehobenen Sphäre geistiger Ideale der Hochkultur und ihren Institutionen wie Theater und Museum verharren, sondern sich auf den Alltag der Menschen beziehen und in ihm fruchtbar werden. Sie sollte nicht bloß als „verpflichtungsfreies Genussmittel“ verstanden werden, sondern durch ihre „Gesellschaftsrelevanz“ qualifiziert sein. Neben ihrem schöngeistigen Potential wurde der Kultur also zusätzlich ein politischer Auftrag zur Vermittlung demokratischer Werte zugeschrieben. In diesem Sinne definierten Glaser und Stahl als Ziel der Soziokultur, die Trennung zwischen der „reinen“ Welt des Geistes und den Niederungen der Realität (eben der politischen und sozialen Verhältnisse) zu durchbrechen, „um auf diese Weise die deutschbürgerliche Mentalität in eine staatsbürgerliche umzuwandeln, welche die Integration von Kultur in den gesellschaftlichen Gesamtraum bejaht.“24 Glaser und Stahl schränkten die Notwendigkeit der Politisierung von Kultur insofern ein, als damit „weder Agitation noch Ideologisierung“ gemeint sei, sondern ausschließlich der Versuch, „Kunst als Kommunikationsmedium zu begreifen – als eine und zwar sehr gewichtige Möglichkeit, die plurale (und damit auch in viele Einzelinteressen, Interessenkonflikte, Verständigungsbarrieren zerklüftete) Gesellschaft auf der ,kommunikativen Ebene‘ zusammenzubringen. Kunst vermittelt dabei weniger Inhalte für Kommunikation (wohl auch diese); sie stellt vielmehr kommunikative Strukturen bereit.“25 Hier wird der enge Zusammenhang zwischen dem kunsttheoretischen Verständnis von Glaser und Stahl mit der „Kritischen Theorie“, die in der Kunst die Chance zu authentischer kritischer Bewusstseinsbildung erblickte, deutlich. Aus der Idee, dass sich das Kulturelle auf den Alltag beziehen solle, ergab sich die Forderung nach einer inhaltlich breiteren Definierung dessen, was der Kultur zuzurechnen sei. Glaser und Stahl beschränkten sie nicht auf die traditionell 23 24 25
Glaser, Hermann und Stahl, Karl-Heinz: Die Widergewinnung des Ästhetischen. Perspektiven und Modelle einer neuen Soziokultur, S. 102 f. Glaser, Hermann und Stahl, Karl-Heinz: Die Widergewinnung des Ästhetischen. Perspektiven und Modelle einer neuen Soziokultur, S. 24. Glaser, Hermann und Stahl, Karl-Heinz: Die Widergewinnung des Ästhetischen. Perspektiven und Modelle einer neuen Soziokultur, S. 25 f.
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der Hochkultur zugeordneten Sparten Darstellende Künste, Bildende Künste und Musik, sie wollten auch ganz neue Bereiche wie die Alternativ- und Stadtteilkultur sowie Laienkünste gleichberechtigt berücksichtigt wissen. Schließlich sollten nicht nur die Inhalte, sondern auch die Möglichkeiten zur Teilhabe am kulturellen Leben erweitert, sprich „demokratisiert“ werden. So schwebte den Autoren statt der tradierten Vorstellung einer – von einer gebildeten, privilegierten schmalen Gesellschaftsschicht getragenen – Hochkultur die Utopie einer – verschiedenste Ausdrucksformen umfassenden, von allen Mitgliedern der Gesellschaft auf vielfältige Weise gelebten – demokratischen Kultur vor.
Ansätze zur Realisierung der „Soziokultur“ in Nürnberg a) Neuansätze im traditionell der „Hochkultur“ zugeordneten Museumsbereich Nachdem Hermann Glaser im Jahr 1964 zum Kulturreferenten der Stadt Nürnberg bestellt worden war, lagen seine ersten kulturpolitischen Aktivitäten zunächst noch weitgehend im Bereich der traditionellen Institutionen der Hochkultur. Um das politische Ziel seiner Pläne zu veranschaulichen, seien hier beispielhaft einige richtungweisende Neuerungen in der Nürnberger Museumslandschaft skizziert. Unter der durch Hilmar Hofmanns Buch bekannt gewordenen Losung „Kultur für alle“26 strebten die progressiven sozialdemokratischen Kulturpolitiker in den sechziger Jahren zuerst einmal die „Öffnung“ der bereits bestehenden kulturellen Institutionen für breite Bevölkerungskreise an. Ein wesentlicher Schritt in diese Richtung gelang Glaser mit dem im Jahr 1968 gegründeten Kunstpädagogischen Zentrum im Germanischen Nationalmuseum.27 Das Konzept dieses Zentrums orientierte sich an den Vorbildern der neuen amerikanischen Museumspädagogik. Mit ihrer Hilfe wollte man die auf Bildungsunterschieden beruhenden Hemmschwellen abbauen und der rein konsumptiven und unkritischen Rezeption der im Museum ausgestellten Objekte entgegenwirken. Unter Berücksichtigung von Alter und Bildung vermittelten die Mitarbeiter des Kunstpädagogischen Zentrums den Besuchern also nicht bloß eine kunsthistorische Erläuterung, sondern lehrten sie die Einordnung von Ausstellungsgegenständen in einen breiteren historischen Kontext, so dass Kunst als Zeugnis der Lebenswirklichkeit einer bestimmten Zeit und als Ausdruck einer politischen, wirtschaftlichen und sozialen Konstellation begreifbar wurde. Die pädagogischen Bemühungen zielten darauf ab, durch das Begreifbarmachen der Zusammenhänge zwischen Vergangenheit und Gegenwart einen Beitrag zur politischen Bewusstseinsbildung der Bürger zu leisten. Das Kunstpädagogische Zentrum in Nürnberg war das erste museumspädagogische Projekt dieser Art in der Bundesrepublik, das in den siebziger Jahren für mehrere Jahre mit staatlichen Mitteln bezuschusst wurde. Mit seiner gruppenspezifischen Arbeit in den Vor- und Grundschulen, Berufs- und Fachschulen sowie 26 27
Hoffmann, Hilmar: Kultur für alle. Perspektiven und Modelle, Frankfurt a.M. 1979. Vgl. Knöpfle, Franziska: Im Zeichen der „Soziokultur“. Hermann Glaser und die kommunale Kulturpolitik in Nürnberg, Nürnberg 2007, S. 136–142.
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seinen Fortbildungs- und Sonderveranstaltungen erreichte es systematisch vor allem Kinder und Jugendliche ganzer Jahrgänge. Es gelang Glaser mit dem Kunstpädagogischen Zentrum, das Modellcharakter hatte und heute noch existiert, in der Museumspädagogik neue Maßstäbe zu setzen. Mit der Gründung eines Spielzeugmuseums im Jahr 1966 und vor allem mit dem im Jahr 1979 ins Leben gerufenen Museum Industriekultur wollte Glaser einen Schritt weiter gehen und nicht nur breitere Schichten an die Institution Museum heranführen, sondern auch der Forderung nach einer „Demokratisierung“ der Museumsinhalte nachkommen. Mit dem breit angelegten, interdisziplinären Projekt zur Industriekultur in Nürnberg, bei dem auch die Bevölkerung aufgefordert wurde, die Speicher nach geeigneten Objekten für das neue Museum zu durchforsten, setzte Glaser bewusst einen Gegenakzent zum Germanischen Nationalmuseum, dem er vorwarf, eine auf die Erscheinungen der Hochkultur beschränkte Kulturgeschichtsvermittlung zu betreiben. Im Gegensatz zur musealen Vermittlung von Geschichte als primär derjenigen der sie gestaltenden mächtigen Einzelpersönlichkeiten und der verfeinerten Kultur einer Zeit stand hier die Alltagswelt der industriellen Massengesellschaft im Mittelpunkt. Dieser Perspektivwechsel zur kultur- und sozialgeschichtlichen Betrachtung „von unten“ stand auch im Kontext der Hinwendung der Geschichtswissenschaft zur Sozialgeschichte. Vom Wissen über die politischen und sozialen Konflikte im 19. Jahrhundert versprach Glaser sich Einsichten der Besucher zum Wert der Errungenschaften der Demokratie. Das Projekt hatte den erzieherischen Auftrag, zur politischen, republikanischen Identitätsbildung beizutragen. In diesem Sinne formulierte Glaser: „Realistische Vorstellungen von der sinnvollen Verbesserung der Lebensformen in unserer Zeit sind erst möglich, wenn wir wissen, wie die Menschen vor uns ihr Leben bewältigten. In einer auf Selbstbestimmung beruhenden demokratischen Gesellschaft kommt solchem aufklärenden Zugang zur Geschichte eine grundlegende kulturpolitische Bedeutung zu.“28 Das Projekt ist als ein Erfolg Glasers zu werten: Nach zehnjähriger Sammeltätigkeit wurde das Museum im Jahr 1988 in der von der Stadt angekauften Schraubenfabrik des ehemaligen Nürnberger Eisenwerks eröffnet. Im Jahr 2000 wurden zahlreiche neue Objekte in das Museum aufgenommen und seine Ausstellungsfläche auf fast 6000 Quadratmeter vergrößert. Seinen Wurzeln blieb es bis heute treu, wie das breite pädagogische Angebot zeigt, das vom „Lern & Spaßlabor“ zum Anfassen und Experimentieren bis zu Führungen, Vorträgen und dem Ausrichten von Kindergeburtstagen reicht. b) Neue Formen der Soziokultur Während in den sechziger Jahren der Akzent von Glasers Tätigkeit noch stark auf der Öffnung der traditionellen Kulturinstitutionen „für alle“ lag, wurden in den siebziger Jahren die Prioritäten immer mehr in die Richtung der Erprobung neuer Ausdrucksformen „von allen“ verschoben. Die zwei maßgeblichen Großprojekte, die Glaser in dieser Intention verwirklichte, waren die Gründung des Kommuni28
Glaser, Hermann: Maschinenwelt und Alltagsleben. Industriekultur in Deutschland vom Biedermeier bis zur Weimarer Republik, Frankfurt a.M. 1981, S. 7.
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kationszentrums „KOMM“ und die Eröffnung von rund zehn in verschiedenen Problemzonen der Stadt angesiedelten „Kulturläden“. Das „KOMM“ entstand im Jahr 1973 aus der Idee, das leerstehende, leicht verfallene ehemalige Künstlerhaus provisorisch bis zu einem weiteren Entscheid über dessen Sanierung, für Jugendliche als Ort zur Begegnung und zur kreativen Betätigung zu öffnen.29 Glasers Vorbild war die Hamburger „Fabrik“, die 1971 auf private Initiative im Hamburger Arbeiterviertel Altona eröffnet worden war und deren stark stadtteilorientiertes kulturelles Programm Kreise anzog, welche die traditionellen Kultureinrichtungen nicht besuchten. Ein breites Angebot sah vor, dass jeder, der Interesse hatte, an den Musikveranstaltungen, Theaterabenden, Filmvorführungen, Diskussionsrunden und Ausstellungen aktiv mitwirken konnte. Daneben spielte die Schaffung von Orten zur Begegnung, wie einer Imbissecke, einer Teestube oder einem Kinderladen, eine wichtige Rolle. Die Entwicklung der Fabrik verlief jedoch so, dass sie nicht zu einem von breiten Kreisen aufgesuchten Treffpunkt in der Stadt wurde, sondern dass sie innerhalb weniger Monate vielmehr eine Auffangfunktion für Jugendliche aus meist sozial schwachen und zerrütteten Elternhäusern wahrnahm. Seit 1972 wurde die „Fabrik“ wegen ihrer Bedeutung für den Bereich der Sozialarbeit von der Stadt Hamburg mitfinanziert. Glaser war also die Problematik einer solchen Institution bewusst, als er sie ins Leben rief. Doch gerade die Verquickung von Kultur- und Sozialpolitik entsprach ja seiner Vorstellung von einer im Alltag der Menschen pädagogisch fruchtbar werdenden Kultur. So sollte das „KOMM“ dem passiven Konsumverhalten entgegenwirken und die Jugend lehren, ihre freie Zeit eigenverantwortlich und kreativ zu nutzen. Dieses Nutzungskonzept wurde von allen Parteien im Kulturausschuß des Stadtrates von 1973 bis 1975 mehrmals einstimmig bestätigt. Im Juli 1973 öffnete das „KOMM“ seine Pforten. Es gab eine Teestube, ein Kino, ein Kinderzentrum, verschiedene Werkstätten und ein breites Angebot an Unterhaltungsveranstaltungen wie Konzerten und Theatervorführungen. Auch städtische Dienststellen wie die Stadtbibliothek, die Volkshochschule und das Institut für Moderne Kunst wirkten mit. Doch ähnlich wie die „Fabrik“ wurde auch das „KOMM“ in kürzester Zeit von verschiedenen, der jugendlichen Subkultur angehörenden Gruppierungen okkupiert. Gemeinsam war diesen einander nicht freundlich gesinnten Gruppen ein latent aggressives Auftreten, das nicht dazu angetan war, das Haus für breite Kreise attraktiv zu machen. Ein Teil dieser Gruppierungen, nämlich die sogenannte „Politfraktion“, die sich aus Anhängern mehrerer linksradikaler „K-Gruppen“ zusammensetzte, schloss sich kurz nach Eröffnung des Hauses zu einem Politischen Arbeitskreis (PAK), zusammen. Ziel des PAK, der keine bloß der Erholung dienende Freizeitgestaltung akzeptierte, sondern im „KOMM“ politische Schulung betreiben wollte, war eine von der Stadt komplett unabhängige Trägerschaft des „KOMM“. Dass ein Weiterbestehen des „KOMM“ unabhängig von einer kommunalen Aufsicht illusorisch war, erkannten die Mitglieder der von der beginnenden Alter29
Zur Geschichte des „KOMM“ vgl. Röbke, Thomas: Das Nürnberger Kommunikationszentrum KOMM (1973–1990). Ein Beitrag zur Geschichte der Basisdemokratie, Frankfurt a.M. und New York 1991.
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nativbewegung geprägten sogenannten „Kulturfraktion“, die im „KOMM“ eher individualistische Selbstverwirklichungsabsichten verfolgten. Bei der im Januar 1974 abgehaltenen Vollversammlung, auf der über die künftige Struktur des „KOMM“ abgestimmt wurde, votierten sie für den Vorschlag Glasers, dem „KOMM“ eine weitgehende Selbstbestimmung im organisatorischen Bereich zu belassen, während die letzte juristische Verantwortung bei der Stadt lag. Obwohl das Organisationsamt der Stadt befand, dass die Verbindung von Elementen der Selbstverwaltung mit einer städtischen Trägerschaft juristisch nicht haltbar sei, wurde das „KOMM“ in dieser strittigen rechtlichen Form einer intern selbstverwalteten städtischen „Dienststelle besonderer Art“ weitergeführt. Nicht nur die Konstruktion, sondern vor allem die weitere Entwicklung waren jedoch ausgesprochen problematisch: Das Haus wurde immer stärker von unterschiedlichen Problemgruppen aus dem nahegelegenen Bahnhofsviertel frequentiert, was zur Folge hatte, dass Kleinkriminalität und Schlägereien bald zur Tagesordnung gehörten und dass das „KOMM“ zum Drogenumschlagplatz der lokalen Rauschgiftszene wurde. Der bald schlechte Ruf bei der Nürnberger Bevölkerung ging nicht zuletzt darauf zurück, dass vor dem Haus, also an der prominenten Stelle zwischen Bahnhof und Fußgängerzone, immer wieder Passanten belästigt wurden, dass dort gebettelt wurde und sich oft der Unrat häufte. Auch die städtischen Institutionen und die fünf städtischen Mitarbeiter zogen sich – mit Ausnahme des Leiters Michael Popp – allesamt im Laufe des ersten Jahres wieder aus dem „KOMM“ zurück. Seit 1975 wurde dieses dann immer mehr zum Streitpunkt im Stadtrat. Die konservativen Stadträte plädierten für eine Schließung. Ihrer Ansicht nach war es verantwortungslos, Kriminalität, Drogenmissbrauch und die linksextreme Szene mit städtischen Mittel zu fördern und damit dieses Milieu noch zu stärken. Dem stellte Glaser die These entgegen, dass das „KOMM“ nicht Verursacher, sondern vielmehr Seismograph für die gesellschaftlichen Fehlentwicklungen wie der seit Mitte der siebziger Jahre sprunghaft ansteigenden Jugendarbeitslosigkeit sei, die ihrerseits die Drogenproblematik und Kriminalität verstärke. Diese Phänomene seien auch in Schulen und Diskotheken zu beobachten, würden dort aber verschwiegen, während das „KOMM“ die Chance böte, den tieferen Ursachen der Probleme entgegenzuwirken. Die Schließung käme einer Kapitulation vor diesen politischen Herausforderungen gleich und die Probleme würden sich dann an anderer Stelle umso massiver Bahn brechen. Bis zum Jahr 1997, als die Selbstverwaltung aufgelöst und die Institution nach dem Wahlsieg der CSU geschlossen wurde, blieb das Haus ein ständiger Quell der Auseinandersetzungen, deren öffentlich wahrgenommener Höhepunkt die „Nürnberger Massenverhaftung“ von 141 Personen nach einem abendlichen Demonstrationszug im März 1981 bildete. Glaser selbst beurteilte das „KOMM“ rückblickend als „eines der gelungensten Projekte, die wir hier in Nürnberg und stellvertretend für viele andere geleistet haben, weil man ohne Freiheitsspielraum nicht wirklich eine Einführung junger Menschen in das politisch aktive Leben erreichen wird.“30 Tatsächlich konnte das 30
„Man kann nichts vom Kopf auf die Füße stellen, wenn man zu wenig im Kopf hat!“, in: Bruckner, Dieter: Was war los in Nürnberg 1950–2000, Erfurt 2002, S. 69–78, hier S. 73.
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„KOMM“ aber die von Glaser gesetzten Hoffnungen nicht erfüllen. Auch wenn es den radikalen Kräften nicht gelang, die hausinterne Meinung zu majorisieren, war das „KOMM“ doch zu keinem Zeitpunkt ein Ort, der Jugendliche unterschiedlicher Herkunft und Einstellung anzusprechen vermochte. Binnen kürzester Zeit gehörte das Haus der politisch links orientierten Nürnberger Jugendszene, so dass der von Glaser intendierte pluralistische, breitgefächerte Diskurs nicht zustande kam. Auch der dauerhaft schwelende öffentliche Dissens über die Institution trug wohl eher zur Verfestigung der politischen Fronten in Nürnberg als zu einem Ausgleich bei. Neben all den anderen Problemen im Haus, wie Drogenproblematik und Kriminalität, krankte auch die zunächst so vehement erstrittene weitgehende Selbstverwaltung an der Kompromisslosigkeit der Jugendlichen bei Entscheidungsfindungen wie auch an ihrem fehlenden Engagement und ihrem Konsumdenken. Die erhebliche Lücke, die zwischen dem theoretischen Anspruch und den Realitäten im „KOMM“ klaffte, musste also den von Glaser für so wertvoll erachteten erzieherischen Impuls eines radikaldemokratischen „Spielraums“ für Jugendliche weitgehend ins Reich der Illusionen verweisen. Eine deutlich positivere Bilanz kann das sogenannten „Kulturladen-Projekt“ verbuchen, das Glaser seit 1975 verfolgte.31 Mit ihm schuf Glaser eine Reihe von neuartigen, kulturellen Begegnungszentren in sozial schwächeren Stadtvierteln, um den Menschen dort nachbarschaftliche Begegnung und kreative Betätigung im weitesten Sinne zu ermöglichen. Diese Politik entsprach auch den Vorgaben des Deutschen Städtetages, in dem Glaser seit 1970 aktiv war, und der sich in den frühen siebziger Jahren nachdrücklich dafür einsetzte, der Zerstörung kleinteiliger, gewachsener räumlicher und sozialer Strukturen entgegenzuwirken. Der Städtetag beklagte, dass die Innenstädte immer stärker auf den Kommerz reduziert und die sozial schwächeren Schichten in standardisierte Betonhochburgen an die Peripherie gedrängt worden seien, was zu massiven Problemen wie Identitätsverlust, Vereinsamung und Frustrationsaggressivität der Menschen in den städtischen Problemvierteln geführt habe.32 Hier setzte Glasers Kulturladenidee der Schaffung einer „menschengerechten Umwelt“ an, die ohne Konsumzwang Möglichkeiten zur „Sozialisation, Kommunikation und Kreativität für alle“ anbieten sollte. In der Rückschau beantwortete Glaser die Frage, was damals sein „Maßstab für Kultur“ gewesen sei, so: „Unsere Wirklichkeit in den sechziger Jahren waren die unwirtlichen Städte. Unser Leitmotiv war damals, dass in den Nischen sich Gegenbilder entfalten sollten. Das war das dinglich-konkrete Element unseres Kulturbegriffs.“33 Ursprünglich plante Glaser, rasch eine Reihe von Kulturläden verteilt über das gesamte Stadtgebiet zu realisieren. Nachdem das Bayerische Kultusministerium es aber abgelehnt hatte, den von Glaser eingereichten Antrag „Kulturpädagogische Gesamtplanung“ zur Erlangung von staatlichen Zuschüssen an die Bund31 32 33
Vgl. Knöpfle, Franziska: Im Zeichen der „Soziokultur“. Hermann Glaser und die kommunale Kulturpolitik in Nürnberg, Nürnberg 2007, S. 261–284. Vgl. Deutscher Städtetag (Hg.): Wege zur menschlichen Stadt, Köln 1973. Kultur ist alles das, was nicht ist. Über die panische Nachkriegszeit, leere Bildungsfassaden und Kultur als Farbigkeitsbedarfsdeckung. Ein Gespräch mit Hermann Glaser, in: Die Zeit vom 4. 5. 1990, S. 56.
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Länder-Kommission weiterzuleiten, war aus finanziellen Gründen nur mehr an eine kleine, langsam aufzubauende Variante des dezentralen Kulturladennetzes zu denken. Im Jahr 1975 konnte Glaser einen ersten Kulturladen in einem sanierungsbedürftigen Altbauhaus in der Rothenburger Straße, den sogenannten „Ku-Ro“, eröffnen. Mit seinem breiten Programm wurde er von der Bevölkerung sehr gut angenommen und bald zu einer festen Größe im Leben des Stadtteils St. Leonhard. Die Schwerpunkte des Programms waren die Ausländer-, Kinder-, Jugendund Seniorenarbeit: Er bot Deutschkurse für Ausländer an und lud seit 1984 zum deutsch-türkischen Dialog ins türkische Teehaus „Merhaba“ im zweiten Stock ein. Da die Situation in St. Leonhard wegen ihres hohen Verkehrsaufkommens, kaum vorhandenen Grünflächen und vielen kleinen, sanierungsbedürftigen Wohnungen, in denen große Familien auf engem Raum lebten, ausgesprochen kinderunfreundlich war, bedeutete es einen Gewinn für das Viertel, dass die Kinder im Hinterhof des Kulturladens unter Beaufsichtigung herumtoben, malen und spielen konnten. Eine wegen der großen Nachfrage fest angestellte Erzieherin betreute jeden Nachmittag rund zwanzig Kinder bei den Hausaufgaben. Für Jugendliche bis vierzehn Jahren wurde ab 1981 ein eigenes Stockwerk als Treffpunkt hergerichtet und eine pädagogische Betreuung angeboten. Die Senioren trafen sich wöchentlich zum Kaffeekränzchen. Außerdem wurde handwerkliche und künstlerische Betätigung in Töpfer-, Mal-, Foto- und Theatergruppen gepflegt, und es gab darüber hinaus einen Schach-Club und eine Kegelrunde. Der Maßstab für das, was Glasers Ansicht nach gefördert werden sollte, war also weit gefasst. Es war die Frage nach der Dienlichkeit für die Entfaltung des Menschen als „kulturellem Wesen“, allerdings nicht im Sinne von Förderung des Kunstsinns oder der Kultiviertheit einer Person nach traditionellem Verständnis. Gemeint war vielmehr die Heranbildung eines „selbstbewussten, mündigen Selbstbestimmtseins“. Hier sollten die Kulturläden pädagogische, psychologische und praktische Hilfestellungen im Alltag leisten. Wegen dieses Ansatzes einer sozialpolitisch motivierten Kulturpolitik widersprach die CSU-Fraktion 1977 im Stadtrat dem weiteren Ausbau der Kulturladen-Kette. CSU-Stadtrat Helmut Bühl meinte, „wenn man in einer Stadt aus Mangel an Geld etwa gerade die bildende Kunst beinahe am ausgestreckten Arm verhungern lässt, dann sehe ich nicht ein, dass man gleichzeitig mit vollen Händen Geld ausgibt, um ein neues, stark im Bereich des Experimentellen liegendes Projekt über das ganze Stadtgebiet durchzuziehen.“34 Gegen die Stimmen der CSU wurde 1977 jedoch der weitere Ausbau der Kulturladen-Kette beschlossen, so dass in den folgenden Jahren neben drei, von privaten Vereinen getragenen, von der Stadt jedoch mitfinanzierten Kulturläden weitere elf in städtischer Hand entstanden, die bis heute existieren. Das Nürnberger Kulturladenmodell wurde auch von anderen Städten übernommen.
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Sitzung und Beilage zur Sitzung des Stadtrats vom 9. 11. 1977, in: Stadtarchiv Nürnberg, C 85/III, Nr. 174.
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Was bleibt von der „Soziokultur“? „Glaser hat sich mehr und mehr zum Papst der Nürnberger Kultur- und Jugendszene entwickelt. Auf ihn hört man, er ist der eigentliche Vater der nach unserer Auffassung verqueren und schädlichen Entwicklung speziell auf dem Gebiet von Kultur, Schule und Jugendpolitik“35, so das Urteil des Nürnberger Stadtrats Georg Holzbauer von der CSU im April 1981 im „Bayernkurier“. Was war die seiner Ansicht nach verquere und schädliche Entwicklung auf dem Gebiet der Kultur, und was blieb von ihr? Der Kern des bis heute bestehenden Dissenses über die Glasersche Politik ist ein unterschiedlicher Kulturbegriff und die aus diesem resultierende differierende Vorstellung von Kulturpolitik. Auf konservativer Seite wurde an dem im 19. Jahrhundert entstandenen traditionellen, bürgerlichen Verständnis von Kultur im Sinne der Hochkultur einer Gesellschaft festgehalten. Dementsprechend sollte Kulturpolitik die möglichst freie Entfaltung der Künste garantieren und ihre Pflege und Förderung innerhalb der etablierten Institutionen wie den Opernhäusern, Orchestern und Museen betreiben. Im Gegensatz dazu entwickelte Glaser gemeinsam mit einigen anderen sozialdemokratischen Kulturpolitikern einen neuen, stark verbreiterten Kulturbegriff und die Vision einer breiten, neue Bereiche erschließenden Kulturpolitik. Maßgeblich geprägt war dieser Kulturbegriff von der damals auf der Linken vehement propagierten Forderung nach einer „Demokratisierung“ aller gesellschaftlichen Bereiche. So war die Forderung nach einer Kultur und Kulturpolitik, die das Kulturelle im engeren Sinne sprengen und durch ihren pädagogischen Auftrag vielmehr gesamtgesellschaftliche Veränderungen bewirken sollte, die dem großen Reformvorhaben zugrundeliegende utopische Idee. Gerade diese idealistische Überfrachtung, die typisch für viele Reformansätze der sechziger und siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts war, zeigt, wie sehr die Soziokultur Kind ihrer Zeit war. Auf Dauer standen jedoch die kommunalen Zuständigkeiten einer Kulturpolitik entgegen, die das Ziel hatte, gleichzeitig auch als Jugend-, Familien- und Sozialpolitik wirksam zu werden. Hinzu kam, dass die frühen soziokulturellen Reformbestrebungen von der Wachstumsdynamik der sechziger und siebziger Jahre ausgingen. Die vielfältigen Projekte entstanden in der Regel zusätzlich und wurden durch die überproportional wachsenden Kulturetats finanziert. Als die öffentlichen Ressourcen in den neunziger Jahren knapper wurden, hob eine Diskussion über die „Neue Kulturpolitik“ an, in der die Förderungswürdigkeit vieler Projekte in Frage gestellt wurde. Vor allem aber ist es eine der Ironien der Soziokultur, dass gerade sie, die sich stets gegen das Kulturverständnis der deutschen Klassik im Sinne der Veredelung des Geistes durch die Beschäftigung mit dem „Wahren, Guten und Schönen“ wandte, auf der Vorstellung von der Erziehbarkeit des Menschen zu hehren, in diesem Falle demokratischen Ideen, gründete.
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Oberbürgermeisterwahl in Nürnberg. Schluß mit linken Experimenten. BayernkurierGespräch mit Georg Holzbauer, in: Bayernkurier vom 4. 4. 1981, S. 3.
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Hier stießen die pädagogischen Bemühungen sehr schnell an die Grenzen ihrer Möglichkeiten. Doch auch wenn die neu geschaffenen Realitäten im Kulturbereich sich an den Ansprüchen der Theorie der Soziokultur gemessen bescheiden ausnehmen, so hat sich doch das Kulturverständnis seit den siebziger Jahren grundlegend gewandelt. Die in einem Zeitraum von 25 Jahren ergriffenen Maßnahmen zur Umgestaltung des Kulturlebens der Stadt Nürnberg haben dieses maßgeblich verändert: Den Museen wurden durch die Arbeit des Kunstpädagogischen Zentrums neue Besuchergruppen erschlossen. Mit dem Museum Industriekultur wurde ein ganz neuer Museumstypus geschaffen. Vor allem aber die Kulturläden verankerten das Glasersche Kulturverständnis tief im Leben der Stadt. Denn mit diesen Institutionen wurden sowohl verschiedenste Ansätze der Laienkunst als auch einfach Orte zur Begegnung, die hauptsächlich sozial schwächere Schichten anzogen und ohne jegliche künstlerische Ambition aufgesucht wurden, städtisch subventioniert. Als Motiv für eine solche Politik definierte Glaser den Auftrag, zur „Linderung der Probleme des spätkapitalistischen Gesellschaftssystems und seiner vom Profit geprägten Stadtentwicklung“ beizutragen. Wegen der genannten Projekte nahm Nürnberg – gemeinsam mit Frankfurt und Dortmund – eine Vorreiterrolle für diese neue Kulturpolitik ein. Hinzu kam die starke Medienpräsenz Glasers, die es ermöglichte, dass seine publizistischen Äußerungen bundesweit wahrgenommen wurden, was ebenfalls Einfluss auf den Wandel des Kulturbegriffs hatte. Insgesamt konnte sich der von Glaser angestrebte erweiterte Kulturbegriff im Laufe der Zeit weitgehend durchsetzen, was sich schon darin zeigt, dass im Jahr 1987 ein „Fonds Soziokultur“ als zusätzlicher selbstverwalteter Fonds auf Bundesebene eingerichtet wurde. Auch die Antwort der CDU-geführten Bundesregierung auf die Große Anfrage der SPD-Bundestagsfraktion im Jahr 1990 bestätigt diesen Befund. In der Stellungnahme hieß es: „Die Soziokultur ist in den letzen Jahren zu einer festen Größe im kulturellen Leben der Bundesrepublik Deutschland geworden.“36 Die Beurteilung dieser Entwicklung ist freilich bis heute umstritten. Die Kritiker der Soziokultur beklagen, dass Kulturpolitik seither nicht länger ihrer primären Aufgabe nachkomme, sondern dass die Politik selbst die ureigensten Interessen und Möglichkeiten der Kunst durch deren Instrumentalisierung zu politischen und sozialen Zwecken bedrohe. In den neunziger Jahren wurde in einer öffentlich geführten Diskussion über die allgemein konstatierte Verflachung des stark expandierten Kulturbetriebs die Kritik zugespitzt, dass die Soziokultur einen Prozess in Gang gesetzt habe, der durch Popularisierung, Nivellierung und schließlich Trivialisierung von Kunst und Kultur insgesamt zu einem Niveauverlust geführt habe. Ohne Zweifel ist die inhaltliche Beliebigkeit eine nicht unproblematische Folge der so starken Erweiterung des Kulturbegriffs. Dieter E. Zimmer beklagte in diesem Sinne, dass inzwischen überall separate Kulturen am sprießen seien, „teilweise neuerfunden, teilweise aus dem Ruhestand reaktiviert: objektbezogene wie 36
Antwort der Bundesregierung auf die große Anfrage der SPD-Bundestagsfraktion zur Soziokultur, abgedruckt in: Röbke, Thomas (Hg.): Zwanzig Jahre Neue Kulturpolitik. Erklärungen und Dokumente 1972–1992, Essen 1993, S. 172.
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die ,Musikkultur‘, die ,Sprachkultur‘; gruppenbezogene wie die ,Jugendkultur‘, die ,Angestelltenkultur‘; tätigkeitsbezogene wie die ,Briefkultur‘, die ,Bestattungskultur‘; gastronomische wie die ,Eßkultur‘ oder die ,Bierkultur‘ oder die ,Butterkultur‘ (im Gegensatz zur ,Olivenölkultur‘)“37. Diese „völlige Diffusion“ habe fatalerweise dazu geführt, dass im subventionierten Kulturbetrieb kein Qualitätsanspruch mehr gelten dürfe: „Seit langem besteht Einigkeit, dass Kulturpolitik nur den Rahmen bereitzustellen, sich aber um die Inhalte nicht zu kümmern hat. Dieses so weit vernünftige Prinzip wurde erweitert: Es soll möglichst auch nicht mehr gefragt werden, welchen Dingen da der Rahmen hingestellt wird. Wer trotzdem fragte, müsste sich vorhalten lassen, er sei kein Demokrat“. Die von der Soziokultur geforderte „Entgrenzung des Ästhetischen zum Alltag“ habe schließlich, so die Kritik, die auch Ulrich Greiner formulierte, einerseits zu einer „Ästhetisierung des Boulevards“, andererseits aber auch zur „Boulevardisierung der Ästhetik“ geführt.38 Auch Gerhard Schulze analysierte in seinem kultursoziologischen Bestseller über die „Erlebnisgesellschaft“, dass mit dem Aufkommen der „inszenierten Kultur“ die Ablösung des Wertes der „Erfahrung“ durch eine Fokussierung auf das „Erlebnis“ und das „Ereignis“ einhergegangen sei.39 Davor, dass in diesem Kulturbetrieb mit all seiner Geschäftigkeit die neue Kulturseligkeit in Kunstfeindschaft umzuschlagen drohe, warnte auch Lothar Baier. Denn in der Beliebigkeit des vom Feuerwerk übers Laientheater bis zur Mahler-Sinfonie reichenden „Kulturrummels“ gehe nicht nur das Spezifische der Kunst verloren, sondern werde auch Nachdenklichkeit durch Betriebsamkeit ersetzt.40 Kritik an der Vordergründigkeit des Kulturbetriebs wurde in den neunziger Jahren sogar von den Protagonisten der Soziokultur geübt. Diese sahen jedoch nicht ihren theoretischen Ansatz, sondern die Entdeckung von Kultur als Standort-, Image- und Wirtschaftsfaktor seit den achtziger Jahren als ursächlich dafür an. Sie konstatierten den Qualitätsverlust, führten ihn aber darauf zurück, dass beispielsweise die spezifischen Stadtteilaktivitäten oder große Ausstellungsprojekte zunehmend auf ihren Werbeeffekt hin geplant und schließlich kommerzialisiert worden seien. So habe die modernisierungsorientierte Politik die emanzipatorischen Zielsetzungen durch funktionalistische Beziehungen abgelöst, was schließlich zur Entideologisierung der Kulturpolitik geführt habe.41 Glaser beklagte in einem Interview im Jahr 1990, dass Kulturpolitik nicht mehr auf das Prinzip Aufklärung ziele, sondern Kultur nur mehr als „Farbigkeitsbedarfsdeckung“ verstehe.42 37
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Zimmer, Dieter E.: Kultur ist alles. Alles ist Kultur. Über die sinnlose Erweiterung des Kulturbegriffs und was dies bedeutet für die öffentlichen Etats, in: Die Zeit vom 4. 12. 1992, S. 67. Zit. nach Sievers, Norbert und Wagner, Bernd (Hg.): Blick zurück nach vorn. Zwanzig Jahre Neue Kulturpolitik, Essen 1994, S. 132. Schulze, Gerhard: Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt a.M. und New York 1992. Baier, Lothar u.a.: Die Linke neu denken. Acht Lockerungen, Berlin 1984, S. 29–39. Vgl. Sievers, Norbert und Wagner, Bernd (Hg.): Blick zurück nach vorn. Zwanzig Jahre Neue Kulturpolitik, Essen 1994, S. 131–135. Kultur ist alles das, was nicht ist. Über die panische Nachkriegszeit, leere Bildungsfassaden und Kultur als Farbigkeitsbedarfsdeckung: ein Gespräch mit Hermann Glaser, in: Die Zeit vom 4. 5. 1990, S. 56.
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Freilich scheint der Anteil der Soziokultur daran, dass die bürgerliche Kultur aus den Angeln gehoben wurde und an ihre Stelle ein qualitativ sehr gemischter „Kulturzirkus“ mit Mammutausstellungen und einer durch „Festivals“ geprägten „Eventkultur“ trat, höher zu sein, als der der späteren Entdeckung der sogenannten „weichen Standortfaktoren“. Denn die Beliebigkeit des Kulturbegriffes war eine Konsequenz des expliziten Ziels der Soziokultur, den Kulturbegriff aufzuweichen. Wenn man die Erosion des Kulturbegriffs beklagt, ist dem Einfluss des „american way of life“ im Verhältnis zu den soziokulturellen Ideen und Maßnahmen einiger deutscher Kommunalpolitiker allerdings ein noch viel größeres Gewicht beizumessen. Die Einbindung der Bundesrepublik in die westliche Wertegemeinschaft führte seit Beginn des „Kalten Krieges“ zur Übernahme kultureller Vorbilder von den westlichen Nachbarn, insbesondere aus den USA. Die auf politischer Ebene in den fünfziger Jahren manifestierte Westorientierung wurde nun auch gesellschaftlich auf breiter Basis vollzogen. Nicht zuletzt diese sich flächendeckend durchsetzende standardisierte, am Profit orientierte Massenalltagskultur nach amerikanischem Vorbild ebnete die Reste bildungsbürgerlicher, ambitionierter Kulturformen zugunsten der weitgehenden Egalisierung des Kulturbetriebs ein. Bei all ihren Schwächen in der theoretischen Fundierung und in der Überdehnung des Kulturbegriffs hat sich die Soziokultur aber unzweifelhaft erhebliche Verdienste in der Förderung vor allem auch bildungsferner und sozial schwächerer Bevölkerungsgruppen erworben. Dies ist nicht zuletzt dem Wirken von Hermann Glaser zu verdanken.
Weiterführende Literatur Glaser, Hermann und Stahl, Karl-Heinz: Die Widergewinnung des Ästhetischen. Perspektiven und Modelle einer neuen Soziokultur, München 1974. Knöpfle, Franziska: Im Zeichen der „Soziokultur“. Hermann Glaser und die kommunale Kulturpolitik in Nürnberg, Nürnberg 2007. Röbke, Thomas: Das Nürnberger Kommunikationszentum KOMM (1973–1990). Ein Beitrag zur Geschichte der Basisdemokratie, Frankfurt a.M. und New York 1991. Sauberzweig, Dieter, Wagner, Bernd und Röbke, Thomas (Hg.): Kultur als intellektuelle Praxis. Hermann Glaser zum 70. Geburtstag, Bonn 1998.
Hinweise zu den Quellen Die wichtigsten Quellen zu Glasers langjährigem Wirken in Nürnberg befinden sich im dortigen Stadtarchiv. Innerhalb seiner Bestände sind vor allem die Protokolle der Sitzungen des Kulturausschusses und des Plenums des Stadtrates sowie die Archivalien des für das Kulturwesen zuständigen Referats IV von Bedeutung.
Hermann Wentker
Von der Friedens- und Menschenrechtsbewegung zur friedlichen Revolution – Ulrike Poppe (Jg. 1953)
Gefeierte Revolution – vergessene Revolutionäre? Anders als die Französische und die Russische Revolution hat die friedliche Revolution von 1989 in der DDR keine Führungsfiguren hervorgebracht. Die Darstellungen, die 2009 zum zwanzigjährigen Revolutionsjubiläum erschienen, verdeutlichen vor allem eines: „Das Volk“ war der entscheidende Akteur im Herbst 1989. Die Bürgerrechtler, die sich im letzten Jahrzehnt der DDR zusammengefunden hatten und die ab September 1989 regen Zulauf erhielten, spielten zwar zeitweilig ein wichtige Rolle als Kristallisationspunkte, da sie als erste Forderungen nach Reformen, Rechtsstaatlichkeit und Demokratisierung formulierten. Doch als die Revolution in ihre nationale Phase trat, wandten sich die Massen von ihnen ab, da sie nicht schnell genug zu Befürwortern einer raschen Wiedervereinigung wurden. Hinzu kam, dass es zwar auf lokaler Ebene einzelne Führungsfiguren gab, dass die meisten Bürgerrechtler allerdings stets in Gruppen und Initiativen auftraten, so dass ihre individuellen Züge oft nur schwer erkennbar sind. Vor diesem Hintergrund und angesichts der Tatsache, dass die meisten von ihnen noch leben, gibt es, abgesehen von eher lexikalischen Werken mit knappen Artikeln zu Einzelpersönlichkeiten1 , so gut wie keine biographischen Studien zu den „Revolutionären“ von 1989.2 Dennoch sind Biographien über prominente Protagonisten der Revolution von 1989 notwendig: Denn die Entscheidung, sich zu engagieren, um bestimmte Vorstellungen umzusetzen, ist immer eine persönliche und abhängig von individuellen Prägungen, auch wenn der Mensch als „animal sociale“ meist in Gruppenzusammenhängen handelt.
In der FDJ – aber keineswegs „auf Linie“ Das gilt auch für Ulrike Poppe, eine prominente Persönlichkeit aus der DDROpposition, die zur Mitgründerin von „Demokratie Jetzt“ wurde, einer der wichtigsten Bürgerrechtsgruppen im Herbst 1989. Sie war damals erst 36 Jahre alt, hatte jedoch bereits zahlreiche Erfahrungen in der Opposition gegen den Staat gesammelt und war fest entschlossen, die Demokratisierung der Gesellschaft vor1 2
Kowalczuk, Ilko-Sascha und Sello, Tom (Hg.): Für ein freies Land mit freien Menschen. Opposition und Widerstand in Biographien und Fotos, Berlin 2006. Eine Ausnahme ist das einfühlsame Porträt von Neubert, Ehrhart: Gesicht und Stimme der Revolution: Bärbel Bohley, in: Henke, Klaus-Dietmar (Hg.): Revolution und Wiedervereinigung 1989/90. Als in Deutschland die Realität die Phantasie überholte, München 2009, S. 238–248.
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anzutreiben. Die ersten Prägungen erfuhr das am 26. Januar 1953 in Rostock als Ulrike Wick geborene und in Hohen-Neuendorf bei Berlin aufgewachsene Mädchen in einem bildungsbürgerlichen Elternhaus. Ihre Eltern, Peter und Brigitte Wick, hatten beide in Rostock studiert und sich im dortigen Slawistenchor kennengelernt. Während ihr Vater seit 1954 als Historiker zunächst im Museum für Deutsche Geschichte und danach am Institut für Deutsche Geschichte der Akademie der Wissenschaften in Ost-Berlin arbeitete – später gab er dort die Jahresberichte für deutsche Geschichte heraus –, war die Mutter als Übersetzerin tätig. Den Erinnerungen Ulrike Poppes zufolge war ihr Vater 1946 aus Idealismus in die SED eingetreten, aber alles andere als ein begeistertes Parteimitglied. Beide Eltern blieben zwar in der evangelischen Kirche, waren aber keine aktiven Christen: Daher ließen sie ihre Tochter auch gewähren, als diese die Christenlehre – als einzige aus ihrer Klasse – nicht länger besuchen wollte. Wichtiger als diese eher rudimentären Bindungen an die Kirche war für die persönliche Entwicklung Ulrikes, dass beide Eltern Wert darauf legten, dass ihre Kinder sich ein eigenes Urteil bildeten, auch über politische Themen, über die in der Familie oft gesprochen wurde.3 Ulrike Wick durchlief eine normale DDR-Schullaufbahn. Sie wurde Mitglied der Pionierorganisation und später der FDJ, in der sie auch Funktionen übernahm. Das hielt sie jedoch nicht davon ab, mit 15 Jahren zusammen mit einem Mitschüler und einer Mitschülerin einen Brief an die Volkskammer zu schreiben, in dem unter anderem gefragt wurde, warum man einerseits zwar für die Wiedervereinigung eintrete, andererseits aber die Kontakte zwischen Westdeutschen und Ostdeutschen erschwere. Die drei zeigten den Brief herum, so dass die Angelegenheit über den Vater eines Mitschülers zum Kreisschulrat gelangte, woraufhin es zu Aussprachen mit dem Direktor und dem Parteisekretär der Schule kam. Die beiden Schülerinnen durften, da ihre Väter der SED angehörten, in der Schule bleiben. Der in der Jungen Gemeinde tätige Mitschüler hingegen musste, obwohl Klassenbester, gehen, da seine Eltern parteilos waren. Gleichzeitig – das Jahr 1968 warf seine Schatten bis nach Hohen Neuendorf – war Ulrike Wick fasziniert von der westlichen Studentenbewegung und vom Prager Frühling als Versuch, einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz zu errichten. Sie sammelte Zeitungsausschnitte über Streiks und Demonstrationen in Paris, blickte voller Erwartung nach Lateinamerika und hängte ein Poster von Che Guevara in ihr Kinderzimmer. Parallel dazu wuchsen pubertätsbedingt die Spannungen mit ihren Eltern, so dass sie, unmittelbar nach dem Abitur an der Erweiterten Oberschule in Oranienburg 1971 ihr Elternhaus im Streit verließ, um ein Studium in Ost-Berlin aufzunehmen.4
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Vgl. Gespräch mit Ulrike Poppe am 15. 12. 2010, für das ich ganz herzlich danke. Vgl. neben diesem Gespräch auch Kowalczuk, Ilko-Sascha: Ulrike Poppe, in: ders. und Sello, Tom (Hg.): Für ein freies Land mit freien Menschen. Opposition und Widerstand in Biographien und Fotos, Berlin 2006, S. 310; Poppe, Ulrike: „Gesperrt für sämtlichen Reiseverkehr bis zum 31. 12. 1999“, in: Jesse, Eckhard (Hg.): Eine Revolution und ihre Folgen. 14 Bürgerrechtler ziehen Bilanz, Berlin 2000, S. 211; Poppe, Ulrike: Trotzdem immer neue Hoffnung, in: Lindner, Bernd (Hg.): Für ein offenes Land mit freien Menschen, Leipzig 1994, S. 175.
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Anders leben – die Kulturszene vom Prenzlauer Berg Ulrike Wick hätte gern Malerei studiert, war sich aber nicht sicher, ob ihr Talent dazu ausreichte. In ihrer Unentschlossenheit wurde sie für ein Lehramtsstudium geworben mit Kunsterziehung als Hauptfach und Geschichte als Nebenfach. Genauso wichtig wie das Studium wurde für sie eine neue Lebensform: Begeistert tauchte sie in die „Szene“ im Prenzlauer Berg ein, wo sie auch wohnte. Bereits in ihrer Schulzeit hatte sie in Ferien- und Wochenendarbeit im Stahlwerk Henningsdorf Psychologiestudenten kennengelernt, über die sie in dem neuen Milieu rasch heimisch wurde. Doch genoss sie nicht nur das ungebundene, ausschweifende Leben, sondern kam auch mit aus politischen Gründen relegierten Studenten und Außenseitern in Kontakt. Über diese erhielt sie in der DDR verbotene Literatur über den Stalinismus, unter anderem die Erinnerungen Jewgenija Ginsburgs und Margarete Buber-Neumanns über die Gulag-Erfahrungen beider Frauen. 1973 gelangte sie infolge studienbegleitender Praktika an Berliner Neubauschulen zu der Erkenntnis, dass sie nicht für den Lehrerberuf geschaffen war. Doch der angestrebte Wechsel zur Psychologie schlug fehl. Sie erhielt zwar das Einverständnis des zuständigen Professors und der Sektionsleitung, aber die FDJ-Leitung der Humboldt-Universität legte ihr Veto ein. Der Lehrerberuf, so die Begründung, sei „eine gesellschaftliche Verpflichtung“; außerdem dürfe man keine Präzedenzfälle schaffen. Ulrike Wick ließ sich daraufhin auf eigenen Wunsch exmatrikulieren, in der Hoffnung, sich nach einer gewissen Zeit erneut zu bewerben. Da ein entsprechender Versuch in Jena erfolglos blieb, schlug sie sich mit Gelegenheitsarbeiten durch. Jeweils ein knappes Jahr war sie als Hilfspflegerin in der Nervenklinik der Charité und als Hilfserzieherin im Durchgangsheim Alt-Stralau tätig. Mit ihren 22 Jahren war sie zwar menschlich den Anforderungen dieser Einrichtung für Kinder und Jugendliche aus sozial problematischen Verhältnissen nicht gewachsen; sie erhielt dadurch jedoch „einen Einblick in einen der tabuisierten Randbereiche der Gesellschaft“. Um ihren Lebensunterhalt zu verdienen, wurde sie infolge der Fürsprache ihres Vaters ab 1976 als Assistentin im Museum für Deutsche Geschichte eingestellt. Als ungelernte Kraft arbeitete sie zunächst im Kunstmagazin und später im Plakatmagazin.5 Das private Umfeld, in dem sich Ulrike Wick bewegte, war die seit den 1970er Jahren entstehende Kulturszene vom Prenzlauer Berg. Sie war von Menschen bevölkert, die anders leben wollten als die etablierten DDR-Bürger, und ähnelte damit dem gar nicht so weit entfernten Kreuzberg im Westteil Berlins. Gewiss stand dabei nicht der Wille zu politischer Opposition im Vordergrund: Hinterzimmerausstellungen, Hinterhofbands, Lesungen in Privaträumen dienten vor allem „künstlerischer Ausdrucksmöglichkeit und kultureller Vergemeinschaftung“. Jedoch wäre es falsch, zwischen einer solchen kulturellen 5
Vgl. – erneut neben dem Hintergrundgespräch – Poppe, Ulrike: Es blieb wenig Zeit für uns selbst, in: Felsmann, Barbara und Gröschner, Annett (Hg.): Durchgangszimmer Prenzlauer Berg. Eine Berliner Künstlersozialgeschichte in Selbstauskünften, Berlin 1999, S. 360–363, die Zitate S. 362, 363; Poppe, Ulrike: Trotzdem immer neue Hoffnung, in: Lindner, Bernd (Hg.): Für ein offenes Land mit freien Menschen, Leipzig 1994, S. 175 f.
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Abwendung von der DDR und politischer Dissidenz einen scharfen Gegensatz zu sehen6 : Gerade das Beispiel Ulrike Poppe zeigt, dass die Grenzen zwischen beidem fließend waren. Denn in den 1970er Jahren kam sie bereits in Kontakt zu konspirativ arbeitenden, staatskritischen, meist marxistischen Kreisen, in denen abstrakt über Gesellschaftsmodelle diskutiert wurde. Es ging dabei auch um das 1977 erschienene Buch des DDR-Regimekritikers Rudolf Bahro „Die Alternative“, was die Stoßrichtung dieser Diskussionen verdeutlicht: Kritik an der DDR von einem dezidiert sozialistischen Standpunkt aus. Ulrike Poppes Verhältnis zu diesen Gruppen war freilich ambivalent: Einerseits war sie dem staatskritischen Ansatz gegenüber aufgeschlossen, andererseits fühlte sie sich dort nicht richtig zu Hause: „Ich habe die Beteiligten im Nachhinein zum Teil als autoritär, intellektuell überheblich und mit Verschwörermiene erlebt.“ Diese konspirativen Zirkel, die aufgrund ihrer Abgeschlossenheit kaum Wirkung entfalteten, wurden bis zum Ende des Jahrzehnts stark dezimiert: Einige entschieden sich „für den Weg durch die Institutionen“ und einen Parteieintritt, andere gingen in den Westen und wieder andere schlossen sich der Friedensbewegung an. Sehr viel sympathischer waren Ulrike Poppe dagegen offenere Gesprächskreise, in denen nicht so abstrakt, sondern sehr viel konkreter Themen der DDR-Realität im Mittelpunkt standen, die man schrittweise verändern wollte. Im Rückblick führt sie einen Gesprächskreis bei einem Architekten in Berlin-Karlshorst an, in dessen ausgebauter Dachwohnung etwa über mögliche Reformen im Gesundheitswesen, in der Volksbildung und in der Wohnungspolitik gesprochen wurde.7
Erste Aktionen und zunehmende Politisierung Doch Ulrike Poppe beließ es nicht bei Diskussionen, sondern wurde selbst aktiv. Dabei gingen Privates und Öffentliches ebenso ineinander über wie Kultur und Politik. Mit Beginn ihrer Tätigkeit im Museum für Deutsche Geschichte reaktivierte sie ihre FDJ-Mitgliedschaft, um über die FDJ-Gruppe des Museums kulturelle Veranstaltungen im dortigen Kinosaal zu organisieren. Es ging dabei zunächst vor allem darum, Künstlern aus ihrem Freundeskreis eine Auftrittsmöglichkeit zu ermöglichen. Als jedoch der oppositionelle Dichter Frank-Wolf Matthies im Januar 1978 dort seine staatsfeindlichen Gedichte vortrug, schritt die Museumsleitung ein: Am Tag danach wurden Ulrike Poppe und der Techni6
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So aber weitgehend Mergel, Thomas: Zweifach am Rande. Die Dissidenten vom Prenzlauer Berg, in: ZeitRäume. Potsdamer Almanach des Zentrums für Zeithistorische Forschung 2009, S. 108–117, das Zitat S. 108. Vgl. Poppe, Ulrike: Trotzdem immer neue Hoffnung, in: Lindner, Bernd (Hg.): Für ein offenes Land mit freien Menschen, Leipzig 1994, S. 175; Poppe, Ulrike: „Gesperrt für sämtlichen Reiseverkehr bis zum 31. 12. 1999“, in: Jesse, Eckhard (Hg.): Eine Revolution und ihre Folgen. 14 Bürgerrechtler ziehen Bilanz, Berlin 2000, S. 210 (erstes Zitat); Poppe, Ulrike: Es blieb wenig Zeit für uns selbst, in: Felsmann, Barbara und Gröschner, Annett (Hg.): Durchgangszimmer Prenzlauer Berg. Eine Berliner Künstlersozialgeschichte in Selbstauskünften, Berlin 1999, S. 367 (zweites Zitat); Gespräch mit Ulrike Poppe am 15. 12. 2010.
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ker des Kinosaals zu Aussprachen mit der Museumsleitung sowie mit der Berliner SED- und FDJ-Leitung zitiert und mussten sich für künftige Veranstaltungen strengen Zensurregeln unterwerfen. Doch als für den 28. März ein Abend geplant wurde, an dem Ekkehard Maaß Lieder des oppositionellen sowjetischen Dichters und Chansonniers Bulat Okudschawa singen sollte, verbot der Direktor auf Beschluss der SED-Bezirksleitung die Veranstaltung.8 Da das Museum an dieser strikten Linie festhielt und ähnliche Auftritte in staatlichen Klubhäusern ebenfalls rasch untersagt wurden, blieb nur der Ausweg, diese in Privatwohnungen stattfinden zu lassen. Dazu griffen Ulrike Poppe und ihr Mann Gerd Poppe immer wieder auf ihre Privatwohnung in der Rykestraße zurück.9 Die beiden waren seit Mitte der 1970er Jahre liiert; nachdem sie zusammengezogen waren, heirateten sie im August 1978. Gerd Poppe, Jahrgang 1941, war Diplomphysiker, gegen den 1976 infolge seines Protestschreibens an Honecker wegen der Ausbürgerung von Wolf Biermann ein faktisches Berufsverbot verhängt worden war, so dass er ab 1977 als Maschinist in einer Schwimmhallearbeitete. Er war mit Biermann ebenso befreundet wie mit Robert Havemann, den Ulrike Poppe nach Beendigung seines Hausarrests 1979 ebenfalls kennenlernte. Durch ihren Mann erhielt Ulrike Poppe folglich weitere Kontakte nicht nur zur kulturellen, sondern auch zur politischen Dissidentenszene Ost-Berlins.10 Eine weitere Aktivität Ulrike Poppes in dieser Zeit, die ihre Wurzeln in ihren privaten Bedürfnissen hatte, aber unter den Bedingungen der Diktatur durchaus öffentliche Wirkung entfaltete, war die Gründung des ersten und einzigen Kinderladens in der DDR. Als Ulrike Poppe schwanger wurde, entstand im Kreis einiger gleichgesinnter, ebenfalls schwangerer Frauen die Idee – nach westlichem Vorbild! – einen Kinderladen zu gründen, da keine von ihnen ihr Kind in eine staatliche Krippe geben wollte. Denn sie lehnten „die repressiven Erziehungspraktiken dieser staatlichen Einrichtungen ab, die Normierung, den Sauberkeitszwang, den Streß“. Als Freunde der Poppes aus dem Bezirk fortzogen, stellten sie ihre Berliner Ladenwohnung zur Verfügung, die daraufhin in Eigenarbeit renoviert und eingerichtet wurde. Ab Oktober 1980 nahm der Kinderladen seine Arbeit auf; anfangs waren dort sechs, später acht Kinder untergebracht, darunter auch Jonas und Johanna Poppe (geboren 1979 und 1981). Zum Politikum wurde der Kinderladen, als dessen Betreiber im Oktober 1982 aufgefordert wurden, die Wohnung zu räumen, da sie zweckentfremdet genutzt würde. Die Pop8
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Abt. XX/2, 30. 3. 1978, Operative Information: Veranstaltung im Museum für Deutsche Geschichte am 28. 3. 1978, in: Robert-Havemann-Archiv, BStU-Kopie OV „Zirkel“, Bd. 8, Bl. 184. Vgl. Poppe, Ulrike: Es blieb wenig Zeit für uns selbst, in: Felsmann, Barbara und Gröschner, Annett (Hg.): Durchgangszimmer Prenzlauer Berg. Eine Berliner Künstlersozialgeschichte in Selbstauskünften, Berlin 1999, S. 363–365. Zu Gerd Poppe vgl. Kowalczuk, Ilko-Sascha: Gerd Poppe, in: ders. und Sello, Tom (Hg.): Für ein freies Land mit freien Menschen. Opposition und Widerstand in Biographien und Fotos, Berlin 2006, S. 297–301; Poppe, Ulrike: Trotzdem immer neue Hoffnung, in: Lindner, Bernd (Hg.): Für ein offenes Land mit freien Menschen, Leipzig 1994, S. 175 f. Ulrike Poppe hatte ebenfalls in einer Eingabe an Honecker die Aberkennung der Staatsbürgerschaft von Wolf Biermann als „schädigend für das Ansehen der DDR“ und als ungerechtfertigt bezeichnet: vgl. HA II, 23. 11. 1976, Vorlage Nr. B/05/76, in: RobertHavemann-Archiv, BStU-Kopie OV „Zirkel“, Bd. 8, Bl. 106.
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pes wehrten sich, führten unter anderem am 26. Juli 1983 ein Gespräch mit dem Bezirksbürgermeister und dem Stadtrat für Bildung von Prenzlauer Berg und luden die Anwohner zu einem „Tag der Offenen Tür“ ein. Die Bezirksverwaltung führte indes einen regelrechten Kleinkrieg mit den Betreibern des Kinderladens, bis die Polizei schließlich, zwei Tage nach der Inhaftierung Ulrike Poppes am 12. Dezember 1983, diesen auf martialische Weise räumte und für immer schloss.11 Schon früh war Ulrike Poppe bewusst, dass die Szene auf dem Prenzlauer Berg vom Ministerium für Staatssicherheit (MfS) eng überwacht wurde. 1975 versuchte das MfS, sie anzuwerben. Sie weigerte sich die Verschwiegenheitserklärung zu unterschreiben. Als sie nach dem Treffen ihren Freunden darüber erzählte, sich also dekonspirierte, wurde sie für die Staatssicherheit wertlos, so dass diese keine weiteren Anwerbeversuche unternahm.12 Sie blieb jedoch, spätestens ab 1976, zusammen mit ihrem Mann unter enger Beobachtung des MfS, das einen umfangreichen Operativen Vorgang („Zirkel“) über beide anlegte.13
Bei den „Frauen für den Frieden“ Bis Anfang der 1980er Jahre beschränkte sich Ulrike Poppes Engagement letztlich auf ihr unmittelbares Umfeld: Die Aktivitäten in ihrem Nahbereich konnten zu Konfrontation mit dem Staat und seinen Einrichtungen führen, stellten aber nicht per se oppositionelles Handeln dar. Dies wandelte sich 1982 grundlegend mit ihrem Engagement bei den „Frauen für den Frieden“ in der DDR. Bereits seit 1980 existierten in der westdeutschen Friedensbewegung einzelne gleichnamige Gruppen; eine Unterschriftenaktion „Anstiftung der Frauen zum Frieden“ begann am 25. Februar desselben Jahres in West-Berlin.14 Größere Wirkung entfaltete diese Bewegung in der DDR jedoch vorerst nicht. Erst die Verabschie11
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Vgl. Ulrike Poppe an den Rat des Stadtbezirks Prenzlauer Berg, Abt. Gesundheitsund Sozialwesen, 28. 7. 1981, in: Robert-Havemann-Archiv, Materialien Ulrike Poppe, UP 022 (hier auch weitere Schreiben zu dem Kinderladen); Poppe, Ulrike: Es blieb wenig Zeit für uns selbst, in: Felsmann, Barbara und Gröschner, Annett (Hg.): Durchgangszimmer Prenzlauer Berg. Eine Berliner Künstlersozialgeschichte in Selbstauskünften, Berlin 1999, S. 378 f., das Zitat auf S. 378. Zu dem Anwerbeversuch vgl. zwei Schriftstücke in: Robert-Havemann-Archiv, BStUKopie, OV „Zirkel“, Bd. 8, Bl. 82–92; die Akten widersprechen z.T. den Darlegungen von Poppe, Ulrike: Es blieb wenig Zeit für uns selbst, in: Felsmann, Barbara und Gröschner, Annett (Hg.): Durchgangszimmer Prenzlauer Berg. Eine Berliner Künstlersozialgeschichte in Selbstauskünften, Berlin 1999, S. 367. Vgl. Poppe, Ulrike: Es blieb wenig Zeit für uns selbst, in: Felsmann, Barbara und Gröschner, Annett (Hg.): Durchgangszimmer Prenzlauer Berg. Eine Berliner Künstlersozialgeschichte in Selbstauskünften, Berlin 1999, S. 367; Kowalczuk, Ilko-Sascha: Ulrike Poppe, in: ders. und Sello, Tom (Hg.): Für ein freies Land mit freien Menschen. Opposition und Widerstand in Biographien und Fotos, Berlin 2006, S. 311. Der Operative Vorgang befindet sich in Kopie auch im Robert-Havemann-Archiv. Vgl. Kukutz, Irena: Die Bewegung „Frauen für den Frieden“ als Teil der unabhängigen Friedensbewegung der DDR, in: Deutscher Bundestag (Hg.): Materialien der EnqueteKommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“, Bd. VII,2, Baden-Baden 1995, S. 1291.
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dung des ostdeutschen Wehrdienstgesetzes am 25. März 1982, das in § 3, Absatz 5 die Möglichkeit eröffnete, im Mobilmachungs- und Verteidigungsfall auch weibliche Bürger in die allgemeine Wehrpflicht einzubeziehen, gab den Anstoß zu einer Reihe von Eingaben von Frauen an die Volkskammer, den Staatsrat und an Honecker. Da die Reaktionen darauf aus Sicht der Frauen unbefriedigend blieben, verfielen Bärbel Bohley und Katja Havemann (die sich Pfingsten 1982 ebenfalls der westdeutschen Frauen-Unterschriftenaktion angeschlossen hatten) darauf, eine gemeinsame Petition an den Staatsratsvorsitzenden zu verfassen. Neben diesen beiden sammelte auch Ulrike Poppe Unterschriften für die Eingabe, in der die Einbeziehung von Frauen in die Wehrpflicht abgelehnt und „eine gesetzlich verankerte Möglichkeit der Verweigerung“ gefordert wurde.15 Durch die Unterschriftensammlung, so Ulrike Poppe im Nachhinein, wurde „endlich die notwendige Diskussion“ hergestellt16: Durch den Austausch über Sinn und Zweck dieser Aktion, bei der man immerhin rund 150 Unterschriften sammelte, wurde der Anstoß zur Bildung einer nicht nur auf Ost-Berlin konzentrierten Gruppierung gegeben, die sich, ähnlich wie in der Bundesrepublik, „Frauen für den Frieden“ nannte und 1983 vermehrt an die Öffentlichkeit trat. Ulrike Poppe, die dem MfS neben Bärbel Bohley und Katja Havemann als eine der Hauptorganisatorinnen erschien, engagierte sich nachhaltig in dieser Gruppe, die für sich „das Recht auf Einmischung in die Politik reklamierte“. Wenngleich das Friedensthema für sie wie für die anderen Frauen zentral blieb, diskutierten sie etwa auch über Meinungsfreiheit und die Rolle der Frauen in der DDR-Gesellschaft. Im Rahmen eines Gemeindetags der Auferstehungskirche am 17. September 1983 in BerlinFriedrichshain engagierte sich Ulrike Poppe z.B. in der Arbeitsgruppe „Kindererziehung und gesellschaftliche Zwänge“.17 Wenngleich es sich bei den „Frauen für den Frieden“ um eine überschaubare Gruppierung von einigen Hundert Personen handelte, hatten diese bereits 1983 relativ umfangreiche Kontakte zur westdeutschen Friedensbewegung sowie zu ausländischen und internationalen Friedensorganisationen. Dazu trug wesentlich eine Konferenz der END-Bewegung (European Nuclear Disarmament) in West-Berlin im Mai 1983 bei, von wo auch Verbindung zu den „Frauen für den Frieden“ im Ostteil der Stadt aufgenommen wurde. Diese internationale Ver15
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Das Wehrdienstgesetz in: Gesetzblatt der DDR, Teil I, 1982, S. 221–229, hier 222; vgl. Kukutz, Irena: Die Bewegung „Frauen für den Frieden“ als Teil der unabhängigen Friedensbewegung der DDR, in: Deutscher Bundestag (Hg.): Materialien der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“, Bd. VII,2, Baden-Baden 1995, S. 1297–1299; die Eingabe an Honecker vom 12. 10. 1982 hier auf S. 1351 f. Das Zitat in: Bohley, Bärbel: Wir wollten schlau sein wie die Schlangen, in: dies., Praschl, Gerald und Rosenthal, Rüdiger (Hg.): Mut. Frauen in der DDR, München 2005, S. 37. Vgl. Poppe, Ulrike: Es blieb wenig Zeit für uns selbst, in: Felsmann, Barbara und Gröschner, Annett (Hg.): Durchgangszimmer Prenzlauer Berg. Eine Berliner Künstlersozialgeschichte in Selbstauskünften, Berlin 1999, S. 368 f., das Zitat auf S. 368; Kukutz, Irena: Die Bewegung „Frauen für den Frieden“ als Teil der unabhängigen Friedensbewegung der DDR, in: Deutscher Bundestag (Hg.): Materialien der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“, Bd. VII,2, Baden-Baden 1995, S. 1356 f. (VVS des MfS vom 11. 11. 1982) und S. 1361–1366 (Information über Gemeindetag am 17. 9. 1983).
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netzung sollte für Ulrike Poppe Fluch und Segen zugleich werden. Denn am 7. Dezember 1983 traf sie sich zu einer lockeren abendlichen Gesprächsrunde mit Bärbel Bohley, Jutta Seidel, Irena Kukutz und der Neuseeländerin Barbara Einhorn, die für END eine Publikation über die Situation der Frauen in der DDR vorbereitete. Bei Einhorns Rückkehr nach West-Berlin wurde sie jedoch mit ihren Aufzeichnungen festgenommen. Am 12. Dezember folgte die Festnahme der vier „Friedensfrauen“ in Ost-Berlin; ein Ermittlungsverfahren wegen Verstoß gegen § 99, Absatz 1 des Strafgesetzbuches wegen landesverräterischer Nachrichtenübermittlung wurde gegen sie eröffnet, Bärbel Bohley und Ulrike Poppe wurden im Stasi-Untersuchungsgefängnis in Berlin-Hohenschönhausen in Untersuchungshaft genommen. Jetzt, unmittelbar nachdem der Bundestag den Nachrüstungsbeschluss gefasst hatte und das Thema aus den Schlagzeilen verschwand, schlug das MfS zu: Ziel war es, die „Frauen für den Frieden“ einzuschüchtern und zu zerschlagen.18 Zunächst glaubte Ulrike Poppe, die Haftanstalt rasch wieder verlassen zu können. Nach vier Wochen rechnete sie jedoch mit einem Prozess, der mit einer Verurteilung von zwei bis zehn Jahren Haft enden konnte. Sie wusste zwar, dass sie dann wahrscheinlich freigekauft werden würde; jedoch wollte sie eigentlich nicht in die Bundesrepublik, sondern in der DDR bleiben, um dort etwas zu verändern. Die Verhaftung der beiden Frauen löste eine wahre Flut von Eingaben an Honecker sowohl aus der DDR als auch aus der Bundesrepublik und dem westlichen Ausland aus. Am wichtigsten war dabei der offene Brief von Vertretern von Friedensorganisationen aus aller Welt, die anlässlich des Beginns der Konferenz über Vertrauensbildende Maßnahmen und Abrüstung in Europa (KVAE) in Stockholm zu einem Treffen zusammengekommen waren. Der Brief, der am 17. Januar 1984 der DDR-Botschaft in Stockholm übergeben und am selben Tag veröffentlicht wurde, stellte zuerst das gemeinsame Interesse der westlichen Friedensbewegung und Honeckers gegen die Stationierung von Mittelstreckenwaffen in Europa heraus, bevor er „im Interesse der Abrüstung in Europa“ die Freilassung von Bärbel Bohley und Ulrike Poppe forderte. Honecker, der nicht zuletzt auf der KVAE – DDR-Außenminister Otto Winzer sprach dort als erster Vertreter der sozialistischen Staaten – das Image der DDR als „Friedensstaat“ untermauern wollte, gab nach: Am 24. Januar wurden die beiden Frauen freigelassen, und Ulrike Poppe durfte sogar ihre Arbeit im Museum für Deutsche Geschichte wieder aufnehmen.19 Eine wichtige Lektion hatte sie gelernt: Der enge Kontakt mit Menschen und Organisationen aus dem Westen zahlte sich aus, da diese inter18
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Vgl. Kukutz, Irena: Die Bewegung „Frauen für den Frieden“ als Teil der unabhängigen Friedensbewegung der DDR, in: Deutscher Bundestag (Hg.): Materialien der EnqueteKommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“, Bd. VII,2, Baden-Baden 1995, S. 1309; Poppe, Ulrike: Es blieb wenig Zeit für uns selbst, in: Felsmann, Barbara und Gröschner, Annett (Hg.): Durchgangszimmer Prenzlauer Berg. Eine Berliner Künstlersozialgeschichte in Selbstauskünften, Berlin 1999, S. 374–376; Information zu den Ermittlungsverfahren gegen die Bürgerinnen der DDR Bärbel Bohley und Ulrike Poppe, o.D., in: Robert-Havemann-Archiv, BStU-Kopie, OV „Zirkel“, Bd. 17, Bl. 32 f. Vgl. Poppe, Ulrike: Es blieb wenig Zeit für uns selbst, in: Felsmann, Barbara und Gröschner, Annett (Hg.): Durchgangszimmer Prenzlauer Berg. Eine Berliner Künstlersozialge-
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national Öffentlichkeit herstellen konnten, die wiederum einen Schutz auch für Dissidenten in der DDR darstellte. Das ermutigte sie, ihren eingeschlagenen Weg in die Opposition fortzusetzen. Am intensivsten war der Kontakt, den Ulrike Poppe und ihr Freundeskreis mit führenden Persönlichkeiten der Grünen, insbesondere mit Petra Kelly, Gert Bastian und Lukas Beckmann unterhielten. Zum ersten Mal lernte sie diese am Abend des 31. Oktober 1983 in der Wohnung von Pfarrer Rainer Eppelmann kennen. Am selben Tag war eine Grünen-Delegation von Honecker empfangen worden, der versucht hatte, sie für seine „Friedenspolitik“ zu vereinnahmen. Im Unterschied zu anderen westdeutschen Politikern, die damals nur das Gespräch mit der DDR-Führung suchten, traten diese Vertreter der Grünen auch in Kontakt mit den von staatlicher Seite unterdrückten unabhängigen ostdeutschen Friedensgruppen. Ulrike Poppe und ihren Mitstreitern gefiel deren offene, gegenüber der DDR-Führung provokative Art, die bei Petra Kelly besonders ausgeprägt war: Sie trug ein T-Shirt mit dem in der DDR verbotenen Aufdruck „Schwerter zu Pflugscharen“. Kelly interessierte sich besonders für die „Frauen für den Frieden“ in der DDR, so dass sie mit Ulrike Poppe am folgenden Tag plante, am 4. November einen „Offenen Brief an die Völker der UdSSR und der USA“ in den jeweiligen Botschaften zu überbringen – eine Aktion, die das MfS zu verhindern wusste.20 Kelly und Bastian spielten auch in den folgenden Jahren eine zentrale Rolle für Ulrike Poppe und ihre Freunde: Bis zum Herbst 1989 besuchten sie 20 bis 25 Mal Ost-Berlin und brachten Schreibutensilien, Bücher, Zeitungen, Zeitschriften und Informationsmaterial. Kelly und Bastian, die zu Freunden der Poppes wurden, stellten – neben Westpaketen und Fernsehsendungen – eine wichtige Verbindung nicht nur zur weltweiten Friedensbewegung, sondern auch zum Westen dar, wohin zu reisen Ulrike Poppe und ihren Freunden verwehrt war. Mit beiden stand sie auch in der friedlichen Revolution in Kontakt. Es ist bezeichnend für die Ähnlichkeit der Anschauungen von Ulrike Poppe und Kelly und Bastian, dass sie in dieser für Deutschland schicksalhaften Zeit am 6. Dezember gemeinsam mit anderen Mitgliedern der Bürgerbewegung im Bonhoeffer-Haus in OstBerlin den Dalai Lama empfingen. Durch die Kontakte zu den Grünen sahen sich Ulrike Poppe und ihre Freunde nicht nur darin bestärkt, zu ähnlichen Aktionsformen wie die Grünen zu greifen, sondern unter diesen Bedingungen konnte es auch nicht ausbleiben, dass sie deren äußerst kritische Einstellung gegenüber der Bundesrepublik übernahmen.21 Sobald diese jedoch für die Aufrechterhaltung der DDR eintraten und sich als deutschlandpolitische „Tabubrecher“ profilieren wollten, wurde Ulrike Poppe zornig. Als sie etwa hörte, dass der damalige hessische Umweltminister Joschka Fischer in einer Diskussionsrunde geäußert habe,
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schichte in Selbstauskünften, Berlin 1999, S. 376 f. Der offene Brief unter dem Titel „Wir dringen auf Freilassung“ in: Frankfurter Rundschau vom 17. 1. 1984. Zu diesem Treffen vgl. die Information vom 2. 11. 1983, in: Robert-Havemann-Archiv, BStU-Kopie, OV „Zirkel“, Bd. 16, Bl. 99–103. Vgl. Poppe, Ulrike: „Die Unterstützung, die wir brauchten.“ Petra Kelly und die Oppositionellen in der DDR, in: Heinrich-Böll-Stiftung (Hg.): Petra Kelly. Eine Erinnerung, Berlin 2007, S. 70–73; Poppe, Ulrike: „Gesperrt für sämtlichen Reiseverkehr bis zum 31. 12. 1999“, in: Jesse, Eckhard (Hg.): Eine Revolution und ihre Folgen. 14 Bürgerrechtler ziehen Bilanz, Berlin 2000, S. 214 f.
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„man müßte im Zweifelsfalle Flüchtlinge aus der DDR zurückschicken“ und überdies „das System der DDR anerkennen“, verlangte sie, dass sich dieser öffentlich entschuldigen müsse.22
Von der Friedens- zur Menschenrechtsaktivistin Verbindung hielten Ulrike Poppe und ihre Freunde nicht nur in den Westen, sondern auch in den Osten, insbesondere zur Charta 77, die Anfang 1977 angesichts des bevorstehenden KSZE-Nachfolgetreffens in Belgrad in der Tschechoslowakei gegründet worden war, um „die Aufmerksamkeit auf verschiedene individuelle Fälle zu lenken, in denen Menschen- und Bürgerrechte verletzt“ wurden. Ein zentraler Gedanke der Charta 77 wurde unter anderen auch für zahlreiche Bürgerrechtler in der DDR bedeutsam: die Interdependenz von Frieden auf der einen und der Einhaltung von Menschenrechten auf der anderen Seite. Nur wenn in den Staaten selbst Frieden herrsche, also die Menschenrechte geachtet würden, sei auch „wahrer Frieden“ zwischen den Nationen möglich.23 Dieser Grundgedanke der Charta 77 wurde von Teilen der Grünen, unter anderem von Petra Kelly, übernommen, aber auch von einer kleinen, im Dezember 1985 gegründeten Gruppe in Ost-Berlin, zu deren Gründungsmitgliedern Gerd und Ulrike Poppe, Bärbel Bohley und Katja Havemann zählten: der Initiative Frieden und Menschenrechte (IFM). Wie die Gruppe insgesamt, so vertrat auch Ulrike Poppe die Auffassung: „Der untrennbare Zusammenhang zwischen Abrüstung und Verwirklichung der Menschenrechte weist auf deren Bedeutung für das Überleben der Menschheit hin.“24 Die IFM, die mit ihrem öffentlichen Eintreten für die Einhaltung der Menschenrechte zur ersten Helsinki-Gruppe der DDR wurde, unterschied sich von den anderen Gruppen, da sie sich als von der Kirche unabhängig verstand. Zwar nutzte auch sie kirchliche Räume für ihre Veranstaltungen und unterhielt enge Beziehungen zu einer Reihe von Pfarrern und kirchlichen Mitarbeitern – insbesondere zu Rainer Eppelmann von der Samaritergemeinde und zu der von Ulrike Poppe besonders geschätzten Christa Sengespeick von der Auferstehungsgemeinde. Über die Amtskirche war Ulrike Poppe jedoch desillusioniert,25 22
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Information über ein Treffen zwischen Poppe, Gerd und Ulrike mit einem Vertreter der Partei „Die Grünen“/BRD, 7. 6. 1986, in: Robert-Havemann-Archiv, BStU-Kopie, OV „Zirkel“, Bd. 22, Bl. 13 f. Vgl. Müller, Benjamin: Von der Konfrontation zum Dialog. Menschenrechte und „Samtene Revolution“ in der Tschechoslowakei, in: Altrichter, Helmut und Wentker, Hermann (Hg.): Der KSZE-Prozess. Vom Kalten Krieg zu einem neuen Europa 1975 bis 1990, München 2011, S. 100 f., 104. Vgl. Templin, Wolfgang und Weißhuhn, Reinhard: Die Initiative Frieden und Menschenrechte, in: Kuhrt, Eberhard (Hg.): Opposition in der DDR von den 70er Jahren bis zum Zusammenbruch der SED-Herschaft, Opladen 1999, S. 172–174, 178; das Zitat aus einer handschriftlichen, undatierten Aufzeichnung Ulrike Poppes mit der Überschrift „Frauen-Kirchentag“ (vermutlich vom Oktober 1987), in: Robert-Havemann-Archiv, Materialien Ulrike Poppe, UP 021. So sagte sie gegenüber einem IM, die Kirche „sei in institutioneller Begrenztheit, Bürokratie und Hierarchie verhaftet, eine konservative Institution, die man nicht, auch nicht
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wofür sich zwei plausible Gründe anführen lassen. Zum einen hatte die BerlinBrandenburgische Kirchenleitung Meldungen westlicher Nachrichtenagenturen ausdrücklich dementiert, dass sie nach der Verhaftung Bohleys und Poppes im Dezember 1983 in einem Schreiben an die DDR-Führung deren Freilassung verlangt habe. Und zum anderen hatte Konsistorialpräsident Manfred Stolpe Anfang 1984 nach der Schließung des Kinderladens auf die Anfrage, ob nicht ein kirchlicher Raum dafür zur Verfügung gestellt werden könne, zwar grundsätzlich seine Hilfsbereitschaft signalisiert; Ulrike Poppe bezweifelte aber die Ernsthaftigkeit dieser Zusage.26 Für die IFM wurde daher der indirekte Schutz durch ihre Prominenz auch im Westen Deutschlands von zentraler Bedeutung. Welche Ziele verfolgte Ulrike Poppe in diesen Jahren und auf welchen Wegen wollte sie diese verwirklichen? Die hier skizzierten Vorstellungen sind eine Rekonstruktion aufgrund nachträglicher Aussagen von Ulrike Poppe; außerdem waren es nicht allein ihre Überlegungen und Vorstellungen, sondern die einer ganzen Reihe von Personen, insbesondere aus der IFM. Nach einem geschlossenen Konzept sucht man bei ihr vergeblich. Anders als in den 1970er Jahren, war in dem folgenden Jahrzehnt, so Ulrike Poppe, die „Zeit der großen Entwürfe, der großen Utopien […] offensichtlich vorbei“. Gleichwohl hielten sie und ihre Kreise an einer Reihe von Zielperspektiven fest. Eines dieser Ziele lautete Frieden, wobei dieser Frieden nicht, wie von weiten Teilen der westlichen Friedensbewegung vertreten, nur durch weltweite Abrüstung unter Aufrechterhaltung des weltpolitischen Status quo erreicht werden sollte. Im Gegenteil: Die Blockkonfrontation, die zutreffend als die Ursache der Spannungen erkannt wurde, musste beseitigt werden, um den Frieden sicher zu machen. Nicht nur Abrüstung, sondern auch der Abbau von Feindbildern und Demokratisierung waren aus ihrer Sicht dazu erforderlich. Demokratisierung sollte daher zum einen „einer gerechteren innerstaatlichen Ordnung“ dienen und galt zum anderen „als friedensfördernder Faktor, der zu mehr Berechenbarkeit und Glaubwürdigkeit führen und zur Aufhebung der europäischen Teilung beitragen könne“. Neben Frieden und Demokratie pochten Ulrike Poppe und ihre Freunde auf die kompromisslose Einhaltung der Menschenrechte sowie auf „die Umwandlung des Machtstaates in einen Rechtsstaat“.27
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mit Gewalt zu einer fortschrittlichen Kraft machen könne.“ HA XX/2, 30. 10. 1983, Information über eine Zusammenkunft von Personen des politischen Untergrundes mit einer Person aus dem Operationsgebiet am 23. 10. 1985 in der Wohnung des Poppe, in: Robert-Havemann-Archiv, BStU-Kopie, OV „Zirkel“, Bd. 21, Bl. 113. Vgl. Poppe, Ulrike: Es blieb wenig Zeit für uns selbst, in: Felsmann, Barbara und Gröschner, Annett (Hg.): Durchgangszimmer Prenzlauer Berg. Eine Berliner Künstlersozialgeschichte in Selbstauskünften, Berlin 1999, S. 369 f., 379 f.; Meldung des Evangelischen Pressedienstes Berlin/West, 21. 12. 1983, in: Kukutz, Irena: Die Bewegung „Frauen für den Frieden“ als Teil der unabhängigen Friedensbewegung der DDR, in: Deutscher Bundestag (Hg.): Materialien der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“, Bd. VII,2, Baden-Baden 1995, S. 1375 f. Vgl. Poppe, Ulrike: „Der Weg ist das Ziel“. Zum Selbstverständnis und der politischen Rolle oppositioneller Gruppen der achtziger Jahre, in: Poppe, Ulrike, Eckert, Rainer und Kowalczuk, Ilko-Sascha (Hg.): Zwischen Selbstbehauptung und Anpassung. Formen des Widerstandes und der Opposition in der DDR, Berlin 1995, S. 246, 251 (hier auch die Zitate). Zur Bedeutung der Menschenrechte vgl. auch Brief an die Charta 77, Januar
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Zur Verwirklichung dieser Ziele sollten vor allem drei Wege beschritten werden: Durch die Herstellung von Öffentlichkeit wollte man, erstens, das staatliche Informationsmonopol aufbrechen, Transparenz auf allen Ebenen herstellen und Druck auf die Machthaber ausüben. Zweitens sollte der angestrebte Wandel nur gewaltfrei und auf evolutionärem Wege erfolgen. Dazu plädierte Ulrike Poppe, drittens, für „mehr Dialog und Zusammenarbeit mit Menschen verschiedenster gesellschaftlicher Ebenen“, was Funktionäre „auf den mittleren Ebenen“ einschloss. In letzterem unterschied sie sich von den meisten anderen aus ihrem Freundeskreis.28 Bei all dem hatte der Alltag Ulrike Poppe und ihre Familie fest im Griff. Zu der für eine ostdeutsche Frau üblichen Mehrfachbelastung durch Berufstätigkeit, Kinder und Haushalt (bei geringem Einkommen) kamen allabendliche Treffen mit den unterschiedlichsten Menschen, oft in der eigenen Wohnung hinzu, was zu einem permanenten Erschöpfungszustand führte. So blieb, wie sie rückblickend bemerkte, „wenig Zeit für uns selbst, viel zu wenig Zeit für die Kinder“. Überdies mussten sie ständig mit der Stasi leben. Sie wurden beobachtet von Stasi-Mitarbeitern vor dem Wohnhaus, ihre Gespräche wurden abgehört – 1981 entdeckte Gerd Poppe eine Wanze in ihrer Wohnung29 –, und eine Reihe von Informellen Mitarbeitern aus ihrem Freundeskreis hielt das MfS über alles, was sich bei ihnen ereignete, auf dem Laufenden. Damit nicht genug, hatten sie ständig Angst, verhaftet zu werden. Insgesamt 13 Mal wurde Ulrike Poppe nach ihrer Erinnerung festgenommen und „zugeführt“. Problematisch dabei war, dass sie und ihr Mann gleichzeitig verhaftet werden konnten: Um zu verhindern, dass in einem solchen Fall ihre Kinder in ein Heim gegeben wurden, schrieben sie Vollmachten für ihre Eltern und die Nachbarn, die Jonas und Johanna gegebenenfalls zu den Großeltern bringen sollten.30 Das MfS setzte gerade bei der Ehe und den Kindern an, um die Poppes entweder politisch zu „neutralisieren“ oder zur Ausreise zu drängen. So wurde etwa 1987 ein Richter des Ost-Berliner Stadtgerichts als „Romeo“ auf Ulrike Poppe angesetzt, um ein „intimes Verhältnis“ zu ihr aufzubauen und ihre Ehe zu destabilisieren – allerdings ohne Erfolg.31 Als
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1987: „Menschenrechte können nicht erhandelt oder zum Gegenstand diplomatischen Schacherns in Geheimverhandlungen gemacht werden.“ (in: Templin, Wolfgang und Weißhuhn, Reinhard: Die Initiative Frieden und Menschenrechte, in: Kuhrt, Eberhard (Hg.): Opposition in der DDR von den 70er Jahren bis zum Zusammenbruch der SEDHerschaft, Opladen 1999, S. 195). Vgl. Templin, Wolfgang und Weißhuhn, Reinhard: Die Initiative Frieden und Menschenrechte, in: Kuhrt, Eberhard (Hg.): Opposition in der DDR von den 70er Jahren bis zum Zusammenbruch der SED-Herschaft, Opladen 1999, S. 254 f., 259 f.; Poppe, Ulrike: Neue Wege?, in: Kowalczuk, Ilko-Sascha (Hg.): Freiheit und Öffentlichkeit. Politischer Samisdat in der DDR 1985–1989, Berlin 2002, S. 172 (Erstabdruck des Beitrags in: Grenzfall 11–12/1987). HA XX/2, 21. 4. 1981: Mündlicher Bericht des IM „Monika“ zum Treff am 12. 4. 1981, in: Robert-Havemann-Archiv, BStU-Kopie OV „Zirkel“, Bd. 6, Bl. 195. Vgl. Poppe, Ulrike: Es blieb wenig Zeit für uns selbst, in: Felsmann, Barbara und Gröschner, Annett (Hg.): Durchgangszimmer Prenzlauer Berg. Eine Berliner Künstlersozialgeschichte in Selbstauskünften, Berlin 1999, S. 371–374, das Zitat S. 371. Vgl. Alexander Fröhlich, Der Romeo von der BBG. Ausgerechnet in Brandenburg trifft die Stasi-Beauftragte Ulrike Poppe auf einen früheren Spitzel, in: Potsdamer Neueste Nachrichten vom 25. 11. 2010.
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ihr Sohn Jonas eingeschult wurde, hatte die Stasi in der Schule die Lehrer vor der staatsfeindlichen Familie Poppe gewarnt, so dass Ulrike Poppe Angst bekam, „die Kinder müssten ,ausbaden‘, was die Eltern sich an Widerspenstigkeit leisteten“. Die Lehrerinnen ließen sich durch diese Warnungen offensichtlich jedoch nicht beeindrucken, was an der Behandlung der Kinder deutlich wurde. Vor diesem Hintergrund stellte sich für das Ehepaar Poppe immer wieder die Frage, ob sie nicht doch die DDR verlassen sollten. Mehrfach berichteten die IMs ihren Führungsoffizieren, dass die Stimmung bei Ulrike Poppe auf dem Nullpunkt angekommen sei und sie sich ernsthaft mit dem Gedanken trage, in den Westen auszureisen. Andererseits blieb Ulrike Poppe grundsätzlich optimistisch und setzte vor allem darauf, das sich der Kurs Gorbatschows, der für sie und die Bürgerbewegung zum Hoffnungsträger wurde, letztlich auch in der DDR durchsetzen werde. Dabei arbeitete das MfS auch mit Verlockungen, um die unbequemen Eheleute loszuwerden. So unterbreitete im Spätsommer 1988 der Domkapitular von Coventry Cathedral, Paul Oestreicher, diesen den Vorschlag, gemeinsam mit ihren Kindern zu einem einjährigen Studienaufenthalt nach England zu gehen – ein Angebot, das auf eine Absprache zwischen der DDR-Führung und der anglikanischen Kirche zurückging. Jedoch lehnten sie ab, weil sie im eigenen Land bleiben und dort Reformen voranbringen wollten.32 1988, als Johanna Poppe eingeschult wurde, beantragte ihre Mutter, verkürzt zu arbeiten – ein Antrag, der normalerweise bewilligt wurde. Nicht so im Fall von Ulrike Poppe. Denn die Museumsleitung hatte eine Anweisung von der Staatssicherheit, sie weiter zu beschäftigen, um sie auch kontrollieren zu können. Erst als diese Order aufgehoben wurde, ließ man Ulrike Poppe gehen, die im Herbst 1988 kündigte.33
In der friedlichen Revolution Damals begann es bereits spürbar in der DDR zu rumoren, ohne dass man freilich mit einem Zusammenbruch des ostdeutschen Staates rechnete. Neu waren vereinzelte Demonstrationen. Der Olof-Palme-Friedensmarsch vom 1. bis 18. September 1987, an dem sowohl die staatliche als auch Teile der unabhängigen Friedensbewegung der DDR teilnahmen, wurde sogar genehmigt – Hintergrund war der zur gleichen Zeit stattfindende Honecker-Besuch in der Bundesrepublik, aus dessen Anlass die DDR sich als offenes Land präsentieren wollte. Gleichsam im Schatten dieses Großereignisses fand am 5. September eine nicht genehmigte Demonstration von rund 1000 Menschen zwischen der Zionskirche und der Gethsemanekirche in Ost-Berlin statt, an der auch Ulrike Poppe teilnahm.34 Von größerer Bedeutung für ihr späteres Engagement in der friedlichen Revolu32
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Vgl. Poppe, Ulrike: Luftholen für die Revolution, in: Brummer, Arnd (Hg.): Vom Gebet zur Demo. 1989 – Die Friedliche Revolution begann in den Kirchen, Frankfurt a.M. 2009, S. 160–162, das Zitat S. 161. Vgl. Poppe, Ulrike: Trotzdem immer neue Hoffnung, in: Lindner, Bernd (Hg.): Für ein offenes Land mit freien Menschen, Leipzig 1994, S. 179. Vgl. Neubert, Ehrhart: Geschichte der Opposition in der DDR 1949–1989, Berlin 1997, S. 690–692; Statement von Ulrike Poppe, in: Deutscher Bundestag (Hg.): Materialien der Enquete-Kommission, Bd. VII,1, Baden-Baden 1995, S. 274.
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tion war ihre Kontaktaufnahme mit dem Gründerkreis der Initiative Absage an Praxis und Prinzip der Abgrenzung (IAPPA). Diese wurde nach dem 25-jährigen Jahrestag des Mauerbaus am 13. August 1986 gegründet, als sowohl der Bischof von West-Berlin, Martin Kruse, als auch der von Ost-Berlin, Gottfried Forck, sich in einem öffentlichen Briefwechsel zum Status quo als Ergebnis des Zweiten Weltkriegs bekannten. Dagegen wehrte sich unter anderem Hans-Jürgen Fischbeck, der im April 1987 auf der Synode der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg einen Antrag zur „Absage an Praxis und Prinzip der Abgrenzung“ einbrachte. Er richtete sich gegen die Politik der Abgrenzung, die die DDR-Führung gegenüber dem Westen, aber auch gegenüber Polen praktizierte. Die Synoden machten sich die entsprechenden Standpunkte zwar nicht zu eigen, diskutierten aber darüber und eröffneten damit eine gesellschaftliche Debatte. Nach eigenem Bekunden kam Ulrike Poppe „relativ spät“ zu diesem Kreis, dessen Ideen sie vollständig teilte.35 Außerdem wurde sie in dem bedeutendsten Netzwerk oppositioneller Gruppen unter der Schirmherrschaft der evangelischen Kirchen, „Frieden konkret“, tätig, das seit 1983 jährlich ein DDR-weites Treffen veranstaltete. Um organisatorische Defizite auszugleichen, wählte man auf dem dritten Treffen im März 1985 einen Fortsetzungsausschuss, „der zukünftige Seminare vorbereiten und die Kontaktarbeit verbessern sollte“. Ulrike Poppe, die an den Treffen regelmäßig teilnahm, war 1987/88 Regionalvertreterin von Berlin-Brandenburg in diesem Ausschuss.36 Durch ihre verschiedenen Tätigkeiten in der Opposition stand sie auch im November 1987 im Visier des MfS, das damals den Plan entwickelte, die Initiative Frieden und Menschenrechte zu liquidieren. Dazu wollte es Oppositionelle beim Druck der illegalen Zeitschrift der IFM, des „Grenzfalls“, festnehmen. Doch als das MfS-Kommando in der Nacht vom 24. auf den 25. November die „Umweltbibliothek“ überfiel, druckte man dort nicht den „Grenzfall“, sondern die als innerkirchliche Druckschrift geltenden „Umweltblätter“. Proteste aus dem Inund Ausland und eine Solidarisierung mit den oppositionellen Gruppen in der DDR waren die Folge. Im Zuge der Stasi-Aktivitäten gegen die IFM wurde Vera Wollenberger festgenommen; neben Bärbel Bohley und Regina Templin stand auch Ulrike Poppe zeitweise unter Hausarrest.37 Einschüchtern ließ sie sich dadurch jedoch nicht. Nachdem einige Berliner Oppositionelle im Januar 1989 einen Aufruf veröffentlicht hatten, für die im Mai anstehenden Kommunalwahlen unabhängige Kandidaten zu nominieren, versuchten Ulrike Poppe und Stephan Bickhardt (IAPPA), dies durch Vorsprechen 35
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Vgl. Statement von Ulrike Poppe, in: Deutscher Bundestag (Hg.): Materialien der Enquete-Kommission, Bd. VII,1, Baden-Baden 1995, S. 256; Mehlhorn, Ludwig: Initiative Absage an Praxis und Prinzip der Abgrenzung, in: Veen, Hans-Joachim u.a. (Hg.): Lexikon Opposition und Widerstand in der SED-Diktatur, Berlin und München 2000, S. 183–185. Neubert, Ehrhart: Konkret für den Frieden, in: Veen, Hans-Joachim u.a. (Hg.): Lexikon Opposition und Widerstand in der SED-Diktatur, Berlin und München 2000, S. 221–226, das Zitat S. 222; Biographie Ulrike Poppe, in: http://www.hdg.de/lemo/html/ biografien/PoppeUlrike/index.htm [23. 6. 2011]. Vgl. Kowalczuk, Ilko-Sascha: Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR, München 2009, S. 257–261.
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beim Rat des Stadtbezirks Prenzlauer Berg in die Tat umzusetzen, scheiterten damit jedoch erwartungsgemäß.38 Als sich die DDR-Führung nach der Niederschlagung der chinesischen Studentenbewegung auf dem Platz des himmlischen Friedens am 4. Juni 1989 mit der Führung in China solidarisierte, schlossen Ulrike und Gerd Poppe sowie Reinhard Weißhuhn von der IFM daraus, „dass auch die DDR-Führung im Falle von Demonstrationen mit Waffengewalt vorgehen könnte“. Dies hielt Ulrike Poppe jedoch nicht davon ab, am 21. Juni zusammen mit einigen anderen vor der chinesischen Botschaft in Berlin-Pankow zu demonstrieren. Die Polizei schlug heftig zu, verfrachtete die Demonstranten auf Lkws und sperrte diese zunächst in der Garage eines Polizeipräsidiums ein. Die Festgenommenen kamen mit einer Geldstrafe davon, die sie indes aufgrund der friedlichen Revolution im Herbst nicht mehr zahlen mussten.39 Darin spielte Ulrike Poppe von Anfang an eine wichtige Rolle, wenngleich sie nicht an vorderster Front stand. Da sie sich schon seit einiger Zeit bei der IAPPA engagierte, gehörte sie auch zu dem daraus hervorgehenden Gründerkreis von Demokratie Jetzt, der zu Beginn des Jahres 1989 bereits „eine arbeitsfähige, aufeinander eingespielte Gruppe“ darstellte. Nachdem das Neue Forum am 9. September gegründet worden war, trat Demokratie Jetzt (DJ) als zweite Gruppierung mit einem „Aufruf zur Einmischung in eigener Sache“ an die Öffentlichkeit. Zusammen mit dem auch von Ulrike Poppe unterschriebenen Aufruf verbreitete DJ „Thesen für eine demokratische Umgestaltung der DDR“. Diesen Thesen zufolge trat DJ für Demokratie und Rechtsstaat, die Ablösung der „politbürokratischen Kommandowirtschaft“ durch eine am Gemeinwohl orientierte wirtschaftliche Rahmenplanung und die Einführung eines effektiven Umweltschutzes ein. DJ äußerte sich darin auch zum deutsch-deutschen Verhältnis, das „von ideologischen Vorurteilen befreit und in Geist und Praxis ehrlicher und gleichberechtigter Nachbarschaft gestaltet“ werden sollte. Auch die Deutschen in der Bundesrepublik wurden eingeladen, „auf eine Umgestaltung ihrer Gesellschaft hinzuwirken, die eine neue Einheit des deutschen Volkes in der Hausgemeinschaft der europäischen Völker ermöglichen könnte. Beide deutsche Staaten sollten sich um der Einheit willen aufeinander zu reformieren.“40 Dass die Bundesrepublik letztlich als genauso reformbedürftig angesehen wurde wie die DDR, verweist auf das negative Bild, das den Unterzeichnern des Aufrufs vor allem durch die engen Kontakte zu Vertretern der Grünen vermittelt worden war. 38 39
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Vgl. Kowalczuk, Ilko-Sascha: Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR, München 2009, S. 319. Das Zitat bei Kowalczuk, Ilko-Sascha: Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR, München 2009, S. 340; Poppe, Ulrike: Luftholen für die Revolution, in: Brummer, Arnd (Hg.): Vom Gebet zur Demo. 1989 – Die Friedliche Revolution begann in den Kirchen, Frankfurt a.M. 2009, S. 163; Statement von Ulrike Poppe in: Gutzeit, Martin, Heidemeyer, Helge und Tüffers, Bettina (Hg.): Opposition und SED in der Friedlichen Revolution. Organisationsgeschichte der alten und neuen politischen Gruppen 1989/90, Düsseldorf 2011, S. 73. Mehlhorn, Ludwig: „Demokratie Jetzt“, in: Kuhrt, Eberhard (Hg.): Opposition in der DDR von den 70er Jahren bis zum Zusammenbruch der SED-Herschaft, Opladen 1999, S. 576 (hier das erste Zitat); der Aufruf und die Thesen in: Rein, Gerhard (Hg.): Die Opposition in der DDR. Entwürfe für einen anderen Sozialismus, Berlin (West) 1989, S. 59–64, die Zitate S. 63, 62.
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Anders als etwa das Neue Forum lehnte DJ zwar die Führungsrolle der SED von Anfang an ab. Wie Ulrike Poppe jedoch im November 1989 schrieb, verstand sich DJ nicht als Partei oder Vereinigung „mit festen Mitgliedschaften“: „,Demokratie jetzt‘ will mit Aktionen, Aufrufen und zur Diskussion gestellten Reformvorschlägen die öffentliche Willensbildung und die Selbstorganisation gesellschaftlicher Kräfte anregen und fördern.“ Ihr Ziel war also nicht der Ersatz der Ein-Parteidiktatur durch eine pluralistische Parteiendemokratie, sondern eine von der Kraft der Basis genährte Zivilgesellschaft. Schon im Sommer 1989 hatte sie Markus Meckels Idee, in der DDR eine sozialdemokratische Partei zu gründen, für verfrüht angesehen.41 Auch an dieser negativen Einstellung zu einer von Parteien getragenen Demokratie lässt sich der Einfluss der Grünen ablesen, die sich ja als „Antiparteien-Partei“ bezeichnet hatten. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass Ulrike Poppe zusammen mit anderen Bürgerrechtlern am 26. November den Aufruf „Für unser Land“ unterzeichnete, in dem zur Entwicklung einer solidarischen Gesellschaft innerhalb einer eigenständigen DDR aufgefordert, gleichzeitig aber vor einem „Ausverkauf unserer materiellen und moralischen Werte“ und einer Vereinnahmung der DDR durch die Bundesrepublik gewarnt wurde.42 Gemeinsam mit Wolfgang Ullmann saß sie als Vertreterin von DJ am Zentralen Runden Tisch der DDR, der vor allem die Wahlen vorzubereiten hatte und bis zum Wahltermin die DDR-Regierung kontrollieren sollte. Hier setzte sich Ulrike Poppe bereits in der ersten Sitzung am 7./8. Dezember nachdrücklich für die Auflösung des „Amts für Nationale Sicherheit“ ein – der Nachfolgeorganisation des MfS, die von der Regierung Modrow ins Leben gerufen worden war.43 Mit der Volkskammerwahl vom 18. März 1990, die der Listenvereinigung Bündnis 90 – ein Zusammenschluss von IFM, DJ und Neuem Forum – eine vernichtende Niederlage bescherte, war für Ulrike Poppe die Revolution beendet. Gleichwohl, so Ulrike Poppe im Nachhinein, sah sie sich und ihre Mitstreiter „nicht, wie viele, als Verlierer an“: Denn sie konnte sich und ihren Freunden zugute halten, diese freien Wahlen und damit die Demokratie in der DDR ermöglicht zu haben.44
Nach der Politik? – Die Mitwirkung an der Aufarbeitung des DDR-Unrechts Es entspricht dem Charakter von Ulrike Poppe, dass sie nach 1990 – nachdem sie bis zur Wiedervereinigung als Mitarbeiterin der Volkskammerfraktion von Bündnis 90 gearbeitet hatte – die Politik nicht zum Beruf machte. Sie sei, so 41
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Der Beitrag von Poppe gekürzt in: Kuhrt, Erhard (Hg.): Opposition in der DDR von den 70er Jahren bis zum Zusammenbruch der SED-Herrschaft, Opladen 1999, S. 592; Poppe, Ulrike: Luftholen für die Revolution, in: Brummer, Arnd (Hg.): Vom Gebet zur Demo. 1989 – Die Friedliche Revolution begann in den Kirchen, Frankfurt a.M. 2009, S. 169. Der Aufruf in: Judt, Matthias (Hg.): DDR-Geschichte in Dokumenten. Beschlüsse, Berichte, interne Materialien und Alltagszeugnisse, Berlin 1997, S. 544 f. Thaysen, Uwe (Bearb.): Der Zentrale Runde Tisch der DDR. Wortprotokoll und Dokumente, Bd. I: Aufbruch, Wiesbaden 2000, S. 66–88. Gespräch mit Ulrike Poppe, 15. 12. 2010.
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äußerte sie sich einige Jahre nach dem Umbruch, „eigentlich kein politikfähiger Typ“.45 Zur Politik kam sie erst durch die SED-Diktatur, in der sie sich mit ihren zunächst alles andere als revolutionären Vorstellungen unterdrückt sah. Aufgrund ihres geradlinigen, mitunter etwas störrischen Charakters widersetzte sie sich den Zumutungen des Regimes und geriet – gefördert durch ein entsprechendes Umfeld – immer mehr in Opposition zur Diktatur, indem sie für Demokratie, Rechtsstaat und Menschenrechte eintrat. Mit der Wiedervereinigung und der Verwirklichung dieser Werte auch in Ostdeutschland war ihr wichtigstes Ziel erreicht. Gleichwohl zog sie für ihr berufliches Leben Konsequenzen aus ihren Erfahrungen in der DDR. Mit ihrer Arbeit als Studienleiterin der Evangelischen Akademie Berlin-Brandenburg ab Januar 1991 leistete sie einen Beitrag zur politischen Bildung und damit zur Festigung der Werte, zu denen sie sich schon in der DDR bekannt hatte. Überdies wurde sie in den unterschiedlichsten Funktionen und Ämtern im Rahmen der Aufarbeitung der DDR-Geschichte tätig – eine Aufgabe, die seit kurzem zu ihrem Hauptberuf geworden ist. Denn am 17. Dezember 2010 wählte der brandenburgische Landtag sie zur Landesbeauftragten zur Aufarbeitung der Folgen der kommunistischen Diktatur in Brandenburg. Aufgrund dieser eminent geschichtspolitischen Aufgabe ist sie der Politik im wiedervereinigten Deutschland wieder näher gerückt.
Weiterführende Literatur Kowalczuk, Ilko-Sascha: Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR, München 2009. Kuhrt, Eberhard (Hg.): Opposition in der DDR von den 70er Jahren bis zum Zusammenbruch der SED-Herrschaft, Opladen 1999. Poppe, Ulrike, Eckert, Rainer und Kowalczuk, Ilko-Sascha (Hg.): Zwischen Selbstbehauptung und Anpassung. Formen des Widerstandes und der Opposition in der DDR, Berlin 1995.
Hinweise zu den Quellen Neben den veröffentlichten Materialien gibt es im Berliner Archiv der Robert-HavemannGesellschaft einen Bestand Ulrike Poppe, der zahlreiche Unterlagen insbesondere aus den 1980er Jahren enthält. Hier ist ebenfalls eine fast vollständige Kopie des „OV Zirkel“ vorhanden, den das MfS über Ulrike und Gerd Poppe anlegte. Das Original liegt im Archiv des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdiensts der ehemaligen DDR.
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Poppe, Ulrike: Trotzdem immer neue Hoffnung, in: Lindner, Bernd (Hg.): Für ein offenes Land mit freien Menschen, Leipzig 1994, S. 180.
Elisabeth Zellmer
Der lange Weg zur Kanzlerin – Frauen und Politik im Spiegel der deutschen Zeitgeschichte
Frauen gelten in Führungspositionen der Politik bis heute als un- und außergewöhnlich. Als der Deutsche Bundestag am 22. November 2005 erstmals eine Frau an die Spitze der Exekutive wählte, war dies auch in den Pressemeldungen zu spüren. In seltener Einmütigkeit verkündeten tags darauf Frankfurter Allgemeine und Süddeutsche Zeitung, Die Welt und Frankfurter Rundschau auf ihren Titelseiten: „Angela Merkel Kanzlerin“, „Angela Merkel ist Kanzlerin“, „Angela Merkel als Kanzlerin vereidigt“ und „Angela Merkel die erste Bundeskanzlerin“. Für die Geschichte der deutschen Demokratie war die Wahl der CDU-Politikerin zur Regierungschefin in der Tat ein bedeutendes Ereignis. Der weiblichen Bevölkerung steht das Recht zu wählen und gewählt zu werden seit rund 100 Jahren zu. Doch die Macht haben die Geschlechter deshalb noch lange nicht geteilt. Das Gegenteil ist der Fall: Frauen sind in den Parlamenten und Regierungen immer noch unterrepräsentiert. Politikerinnen stellten lange eher die Ausnahme als die Regel dar und nahmen darüber hinaus häufiger auf den Hinterbänken Platz als an den Schaltstellen der politischen Arena. Kurzum: Die Politik der Bundesrepublik Deutschland wurde bis weit in die 1980er Jahre nahezu ausschließlich von Männern geprägt. Diese Schieflage spiegelt sich in der Zeitgeschichtsschreibung, insbesondere in der Biografik. Wie Udo Wengst treffend bemerkte, porträtieren Politikerbiografien bis auf wenige Ausnahmen das Leben von Männern.1 Es sind offenbar nach wie vor hauptsächlich Männer, die Geschichte machen. Die Auseinandersetzung mit dem altbekannten Diktum Treitschkes wird aber umso spannender, wenn man den Weg der Außenseiterinnen in diese Geschichte verfolgt, die männlichen Gepflogenheiten gehorchte. Da sich die Spuren davon auch in der Geschichtsschreibung finden, liegt zudem die Frage auf der Hand, ob und wie es gelingt, politisch aktive Frauen und ihre Leistungen vor dem (biografischen) Vergessen zu bewahren.
Vom Ausschluss aus der Politik zur Kanzlerschaft Die weibliche Bevölkerung trat erstmals bei den Wahlen zur Nationalversammlung im Januar 1919 an Deutschlands Wahlurnen. Dies war ein einschneiden1
Wengst, Udo: Machen Männer wieder Geschichte? Der Stellenwert von Politikerbiografien in der Geschichtsschreibung über die Bundesrepublik Deutschland, in: Hildebrand, Klaus, Wengst, Udo und Wirsching, Andreas (Hg.): Geschichtswissenschaft und Zeiterkenntnis. Von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Festschrift für Horst Möller, München 2008, S. 627–639, hier S. 637 f.
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der verfassungsrechtlicher Wandel, denn bis dahin hatten Frauen keine oder nur sehr eingeschränkte Möglichkeiten, auf die Politik einzuwirken, ja es war ihnen sogar lange verboten: Bis 1908 war es dem preußischem Vereinsgesetz gemäß „Frauenpersonen, Geisteskranken, Schülern und Lehrlingen“2 untersagt, politische Versammlungen zu besuchen und politischen Vereinen anzugehören. Erst das neue Reichsvereinsgesetz gestattete es den Angehörigen weiblichen Geschlechts, am öffentlichen politischen Leben teilzunehmen und Mitglieder von Parteien zu werden. Dieser Etappensieg war nicht zuletzt der Frauenbewegung zu verdanken, die seit den 1880er Jahren das Frauenwahlrecht propagierte und es dabei nicht selten mit Gegnern zu tun hatte, die sich auf die althergebrachte Ordnung, auf Gott und die Natur beriefen, um die untergeordnete Stellung von Frauen zu rechtfertigen.3 Das Frauenwahlrecht schuf nach 1918 neue Realitäten4 , denen sich viele – unter ihnen bürgerliche Parteien, aber auch konservative und konfessionelle Frauenorganisationen – nur notgedrungen beugten. Fraueninteressen im engeren Sinne spielten im Wahlkampf im Januar 1919 eine geringe Rolle. Auf den Listen besetzten die Kandidatinnen eher die hinteren Plätze. Oft hatten sie nur eine Alibifunktion gegenüber den Wählerinnen und den Frauen in der eigenen Partei. Dennoch war die Wahlbeteiligung unter der weiblichen Bevölkerung hoch. Über 80 Prozent machten am 19. Januar 1919 von dem neuen Recht Gebrauch. In die Nationalversammlung zogen schließlich 41 Politikerinnen ein; dies entsprach einem Anteil von knapp zehn Prozent der Abgeordneten. Dabei waren die Parlamentarierinnen vor allem bei den Parteien linker Coleur anzutreffen, die sich bereits im Kaiserreich für die weibliche Gleichberechtigung ausgesprochen hatten; bei den bürgerlichen und rechten Fraktionen waren Politikerinnen eine noch seltenere Erscheinung. Marie Juchacz, eine führende Sozialdemokratin, ergriff im Februar als erste Frau im Parlament das Wort. Als Reaktion auf ihre Anrede „Meine Damen und Herren!“ vermerkte das Protokoll „Heiterkeit“. Aber Juchacz stellte fest, „und zwar ganz objektiv, dass es die Revolution gewesen ist, die auch in Deutschland die alten Vorurteile überwunden hat. Durch die politische Gleichberechtigung ist nun meinem Geschlecht die Möglichkeit zur vollen Entfaltung seiner Kräfte gegeben.“5 Die Politikerin war hoffnungsfroh, doch verweist das Zitat auch auf die Benachteiligung der weiblichen Bevölkerung, die es noch zu überwinden galt – ein schwieriges Unterfangen, vor allem im Hinblick auf Artikel 109 der Weimarer Verfassung: Dieser sprach Männern und Frauen nur „grundsätzlich“ die gleichen Rechten und Pflichten zu und legitimierte auf diese Weise weiterhin Diskriminierungen auf Grundlage des Geschlechts. Die Partizipation von Frauen an der 2 3
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Verordnung über die Verhütung eines die gesetzliche Freiheit und Ordnung gefährdenden Missbrauchs des Versammlungs- und Vereinigungsrechts, Berlin 1850. Zur „alten“ Frauenbewegung, die um die Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzte, zwischen 1933 und 1945 aber von jeder weiteren Wirkungsmöglichkeit abgeschnitten war, allgemein: Schaser, Angelika: Frauenbewegung in Deutschland. 1848–1933, Darmstadt 2006. Vgl. zum Folgenden ausführlicher: Lauterer, Heide-Marie: Parlamentarierinnen in Deutschland 1918/19–1949, Königstein/Taunus 2002. Rede von Marie Juchacz vom 19. 2. 1919, in: Verhandlungen der Verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung. Stenographische Berichte, Berlin 1919.
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Politik der Weimarer Republik hielt sich in den folgenden Jahren in engen Grenzen. Frauenpolitik und Wählerinnen hatten für die Parteien keine Priorität. Der Anteil der weiblichen Abgeordneten ging bei den nächsten Wahlen kontinuierlich zurück. Ministerinnen gab es in der Weimarer Republik noch nicht, der Staatsapparat blieb in der Hand der männlichen Beamten. Obwohl das Wahlrecht zweifellos einen Meilenstein für die Geschichte der weiblichen Emanzipation markierte, war die „Frauenfrage“ noch lange nicht gelöst, auch wenn der weiblichen Bevölkerung der „Marsch in die Institutionen“ theoretisch möglich war. Auch in der zweiten deutschen Demokratie stellten Politikerinnen zunächst Exotinnen dar. Die männlichen Kollegen schien das nicht im geringsten zu stören, zumindest wenn man dem Mitglied des Parlamentarischen Rates und Präsidenten des bayerischen Landtages Michael Horlacher glaubt. „Als Einzelne“, da war sich der CSU-Politiker Ende der 1940er Jahre sicher, „wirkt die Frau wie eine Blume im Parlament, aber in der Masse wie Unkraut.“6 Allerdings bildeten die wenigen Parlamentarierinnen in den Abgeordnetenkammern bisweilen eine nicht zu unterschätzenden Minderheit. So setzte sich vor allem die Sozialdemokratin Elisabeth Selbert dafür ein, dass die rechtliche Gleichstellung der Geschlechter zum Verfassungsgrundsatz avancierte. Die promovierte Juristin zählte neben Frieda Nadig (SPD), Helene Weber (CDU) und Helene Wessel (Zentrum) zu den vier „Müttern des Grundgesetzes“. Im Parlamentarischen Rat rang Selbert den 61 „Vätern“, aber auch ihren skeptischen Kolleginnen den Art. 3 Abs. 2 Grundgesetz ab, in dem es ohne Wenn und Aber heißt: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt.“7 Dieser neue Grundsatz verlangte danach, all jenen rechtlichen Bestimmungen den Garaus zu machen, die das Verhältnis der Geschlechter einseitig (zugunsten der Männer) gestalteten. In der Praxis kam der Bundestag dem allerdings nur zögerlich nach. Es dauerte bis in die 1970er Jahre, bis gerade im Ehe- und Familienrecht – zumindest dem Buchstaben des Gesetzes nach – alle Hoheitsrechte des Ehemanns und Vaters getilgt und die Paragrafen geschlechtsneutral formuliert waren. Die Gleichberechtigung der Geschlechter genoss keine besonders große Aufmerksamkeit. Dies hing auch damit zusammen, dass die Politik bis in dieses Jahrzehnt hinein eine „männliche Domäne“8 blieb. Der Anteil weiblicher Abgeordneter lag in den ersten Wahlperioden des Bundestages sogar noch unter dem Niveau der Weimarer Republik und sank zwischen 1957 und 1972 von 9,2 auf 5,8 Prozent. In den Länder- und Kommunalparlamenten sah die Situation nicht sehr viel anders aus. Es liegt nahe, dass allein diese Randexistenz Probleme mit sich brachte, was die Wahrnehmung oder die Durchsetzungsfähigkeit von Politikerinnen und ihrer Ideen anging. Das politische Geschäft richtete sich an der männlichen Mehrheit aus. Die SPD etwa konnte trotz ihrer expliziten Betonung
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Zit. nach: Mabry, Hannelore: Unkraut ins Parlament. Die Bedeutung weiblicher parlamentarischer Arbeit für die Emanzipation der Frau, Gießen 2 1974. Vgl. ausführlicher: Böttger, Barbara: Das Recht auf Gleichheit und Differenz. Elisabeth Selbert und der Kampf der Frauen um Art. 3 II Grundgesetz, Münster 1990. Hoecker, Beate: 50 Jahre Frauen in der Politik: späte Erfolge, aber nicht am Ziel, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 24–25 (2008), S. 10–18, hier S. 11; die nachfolgenden Zahlen ebd.
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der Gleichberechtigung9 die weiblichen Kandidaten unter den männlichen subsumieren, als sie 1969 mit dem Motto „Wir haben die besseren Männer“ in den Bundestagswahlkampf zog.10 Einige Frauen gelangten trotz ihres Minderheitendaseins bereits in der frühen Bundesrepublik vereinzelt in politische Spitzenpositionen. Auf kommunaler und Länderebene ist die langjährige FDP-Politikerin Hildegard Hamm-Brücher zu nennen, die neben ihrem Engagement im Münchner Stadtrat Mandate im Bayerischen Landtag und im Bundestag innehatte, 1966 als erste weibliche Staatssekretärin ins hessische Kultusministerium und ab 1969 ins Bundesbildungsministerium einzog und von 1976 bis 1982 schließlich Staatsministerin im Auswärtigen Amt wurde. Auf Bundesebene wurde, nachdem der Widerstand des Bundeskanzlers Konrad Adenauer infolge des Einwirkens von CDU-Frauen und Frauenverbänden überwunden war, 1961 mit Elisabeth Schwarzhaupt (CDU) erstmals eine Frau ins Bundeskabinett berufen; sie stand bis 1966 an der Spitze des Gesundheitsministeriums. Ihr folgte unter der Regierung Kiesinger/Brandt die Sozialdemokratin Käte Strobel; Bundesfamilienministerin wurde Aenne Brauksiepe (CDU). In der sozial-liberalen Koalition leitete Käte Strobel das Ministerium für Jugend, Familie und Gesundheit, das von 1972 bis 1976 von Katharina Focke (SPD) übernommen wurde. Ihr folgte bis 1982 Antje Huber (SPD) und kurzzeitig Anke Fuchs (SPD); zwischen 1976 und 1980 war Marie Schlei (SPD) Ministerin für Wirtschaftliche Zusammenarbeit. Zeitgleich brach sich seit den 1960er Jahren der gesellschaftspolitische Wandel Bahn, der nicht zuletzt die weibliche Bevölkerung betraf. Auch bei den eben genannten Politikerinnen zeigte sich, dass sie diese Entwicklungen mittrugen, wenn sie sich – je nach Ressort und mit unterschiedlichem Erfolg – etwa für den Ausbau des Bildungswesens, die Reform des Unehelichenrechts, die Teilzeitarbeit, die Kinderbetreuung oder die sexuelle Aufklärung einsetzten. Bildungsexpansion und zunehmende Erwerbstätigkeit, die Veränderung des generativen Verhaltens oder auch die Urbanisierung und mit ihr die Lösung tradierter sozialer und religiöser Bindungen führten gerade bei jüngeren Frauen dazu, dass sich neue Lebenswege eröffneten und das politische Engagement zunahm.11 Dies beförderte auch eine neue Frauenbewegung, die sich mit lautstarkem Protest darüber echauffierte, dass es ungeachtet der formalen Gleichberechtigung der Geschlechter realiter die Männer seien, die die Macht in Händen hielten, und es deshalb zu wenige und vor allem keine feministisch gesinnten Politikerinnen gebe. Demnach konnte die neue Frauenbewegung zum Beispiel der Pionierleistung von Annemarie Renger (SPD), die 1972 als erste Bundestagspräsidentin das zweithöchste Amt der Republik übernahm, wenig abgewinnen. Die Handvoll Frauen in der Politik, davon war die Münchner Feministin Hannelore 9
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Im Gegensatz zu den anderen Parteien forderte die SPD bereits seit dem Godesberger Programm aus dem Jahr 1959, die Gleichberechtigung der Frauen zu verwirklichen und ihnen die „gleichen Möglichkeiten für Erziehung und Ausbildung, für Berufswahl, Berufsausübung und Entlohnung“ zu eröffnen. Vgl. Schönhoven, Klaus: Wendejahre. Die Sozialdemokratie in der Zeit der Großen Koalition 1966–1969, Bonn 2004, v.a. S. 533. Vgl. Hoecker, Beate: Frauen in der Politik. Eine soziologische Studie, Opladen 1987, S. 93–102.
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Mabry überzeugt, seien nichts weiter als „Feigenblätter“, mit denen die patriarchale Gesellschaft die Unterdrückung von Frauen verdecke. Mabry zufolge blieb den Frauen nur ein Ausweg, den sie als Replik auf Michael Horlacher nicht darin sah, dass Frauen vereinzelt wie Blumen die Abgeordnetenkammern schmückten. Die Parole lautete vielmehr: „Unkraut ins Parlament!“12 Weder die gesellschaftspolitischen Veränderungen noch die Forderungen der neuen Frauenbewegung schlugen sich unmittelbar auf den institutionalisierten Ebenen nieder. Dennoch verbesserte sich seit den 1980er Jahren die Teilhabe von Frauen am öffentlichen Leben zusehends. Dies ist auch darauf zurückzuführen, dass man der weiblichen Gleichberechtigung langsam einen höheren Stellenwert beimaß und einige Parteien dazu übergingen, die Kandidatur von Frauen verbindlich zu fördern. Während die Grünen dabei bereits seit den 1980er Jahren die Geschlechterparität hochhielten, verfügten SPD und CDU seit den 1990er Jahren über Quoten- und Quorumsregelungen von 40 Prozent bzw. einem Drittel. Die Repräsentation von Frauen nahm damit zu, fällt aber nach wie vor je nach Fraktion sehr unterschiedlich aus. Insgesamt begann die Zahl der weiblichen Abgeordneten seit der zweiten Hälfte der 1970er Jahre in den Parlamenten auf kommunaler, Landes- und Bundesebene zu wachsen. Nach dem Tiefstand von 1972 erhöhte sich der Frauenanteil im Deutschen Bundestag ab 1976 schrittweise, bis er 1987 mit 15,3 Prozent erstmals im zweistelligen Bereich lag. Nach den Bundestagswahlen von 1990 und 1994 waren gut ein Fünftel bzw. gut ein Viertel aller Volksvertreter weiblich. 1998 wurde schließlich die 30-Prozentmarke erreicht, die im Großen und Ganzen bis heute gültig ist.13 Dieser „Aufbruch von Frauen in die Politik“14 wird mit Blick auf die Regierungsbeteiligung noch deutlicher, zumindest was die 1990er und 2000er Jahre anbelangt: Konnte in der alten Bundesrepublik eine Bundesministerin bestenfalls auf eine weitere Kollegin hoffen, saßen nach der Wiedervereinigung drei oder vier Frauen am Kabinettstisch. Als ab 1998 Rot-Grün die Regierungsgeschäfte lenkte, kletterte der Frauenanteil in der Regierung auf gut 30 und 2002 schließlich auf 40 Prozent, da fünf bzw. sechs Frauen ein Ressort bekamen – eine Tradition, die Angela Merkel auch nach 2005 sowohl in der Großen als auch in der schwarzgelben Koalition beibehalten hat. An dieser Stelle ist jedoch anzumerken, dass diese quantitative Steigerung vor allem einer Diversifizierung bestimmter Politikfelder geschuldet ist. Was einerseits von der wachsenden Bedeutung bestimmter Themen zeugt, ist andererseits zugleich ein Hinweis darauf, dass die Ressortvergabe nach wie vor geschlechtsspezifischen Mustern folgt. So halten Frauen meist Ministerposten, die mit weiblich konnotierten Politikfeldern zusammenhängen und – je nach Zuschnitt des Ressorts – um Begriffe wie Jugend, Familie, Frauen, Senioren und Gesundheit kreisen. Während in den Kabinetten Helmut Kohls zwischen 1982 und 1998 die Christdemokratinnen Rita Süssmuth, Ursula Lehr, Hannelore Rönsch, Angela 12 13 14
Mabry, Hannelore: Kein Unkraut – keine Blumen – Nur Feigenblätter im 7. Deutschen Bundestag, in: Information des Frauenforums München 2 (1973) 1, S. 8. Die Zahlen aus Hoecker, Beate: 50 Jahre Frauen in der Politik: späte Erfolge, aber nicht am Ziel, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 24–25 (2008), S. 10–18, hier S. 12. Ebd.
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Merkel, Gerda Hasselfeldt und Claudia Nolte für diese Bereiche verantwortlich zeichneten, wurden unter Bundeskanzler Gerhard Schröder Christine Bergmann (SPD) bzw. Renate Schmidt (SPD) zur Familienministerin, Andrea Fischer (Grüne) und Ulla Schmidt (SPD) zur Gesundheitsministerin ernannt. Letztere behielt in der Großen Koalition nach 2005 ihre Funktion; Ursula von der Leyen (CDU) übernahm das Familienministerium. Gelegentlich gelangten auch andere – ebenfalls tendenziell eher „weiche“ Ressorts – unter weibliche Führung. So berief Helmut Kohl in den 1990er Jahren sein „Mädchen“ Angela Merkel nicht nur als Ministerin für Frauen und Jugend, sondern auch für Umwelt. Bereits ab 1982 stand Dorothee Wilms (CDU) dem Bildungsministerium und zwischen 1987 und 1990 dem Ministerium für Innerdeutsche Beziehungen vor. In den Kabinetten Schröders übernahm die Sozialdemokratin Edelgard Buhlmahn die Leitung des Bildungsministeriums, in der sie ab 2005 von Annette Schavan (CDU) abgelöst wurde. Für „Wirtschaftliche Zusammenarbeit“ war von 1998 bis 2009 Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD) zuständig. Unter Rot-Grün setzte sich Renate Künast (Grüne) für Verbraucherschutz ein, unter Schwarz-Gelb seit 2008 Ilse Aigner (CSU). Einzig zwei männlich konnotierte Bereiche hatten bisher Ministerinnen an der Spitze: Kurzfristig das Bauwesen, das 1990 bis 1994 von Irmgard Adam-Schwaetzer (FDP) geleitet wurde, und offensichtlich längerfristig das Justizministerium, dem 1994 bis 1996 (und erneut seit 2009) Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) und unter der rot-grünen und der Großen Koalition Herta Däubler-Gmelin (SPD) und Brigitte Zypries (SPD) vorstanden.15 Allem Anschein nach ist es für Frauen nach wie vor schwierig, in bestimmte männerdominierte Bereiche wie die Innen-, Außen, Verteidigungs- oder Finanzpolitik vorzudringen. Gleiches trifft für andere ebenso verantwortliche wie prestigeträchtige Positionen zu: Heide Simonis (SPD), die von 1993 bis 2005 die Regierungsgeschäfte in Schleswig-Holstein inne hatte, war die einzige Ministerpräsidentin der Republik, bis 2009 Christine Lieberknecht (CDU) in Thüringen diese Funktion übernahm. Und auch beim höchsten Amt des Staates, dem des Bundespräsidenten, haben es Frauen noch nicht über den Kandidatinnenstatus hinaus gebracht. Dennoch: Die Tatsache, dass Frauen mittlerweile einen Anteil von etwa 30 Prozent der Abgeordneten im Bundestag und sogar von rund 40 Prozent der Kabinettsmitglieder stellen, die der Richtlinienkompetenz einer Bundeskanzlerin unterliegen, zeigt: Im Gegensatz zu den Zuständen vor gut 100 Jahren führt heute in der Politik kein Weg mehr an den Frauen vorbei.
Politikerinnen im 20. Jahrhundert – Tendenzen der Forschung Wie geht nun die Zeitgeschichtsschreibung mit dem skizzierten Befund um? In der Literatur zur historischen Geschlechterforschung liest man regelmäßig von 15
Zusammengestellt nach Hoecker, Beate: Lern- und Arbeitsbuch Frauen, Männer und die Politik, Bonn 1998, S. 294 und der aktuellen Ausgabe des Datenhandbuchs des Bundestages (zu finden unter: www.bundestag.de/dokumente/datenhandbuch/index.html).
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großen Forschungslücken, sobald das Verhältnis von Frauen und Politik thematisiert wird. Dies führt zu der weitverbreiteten wie berechtigten Klage darüber, dass die (Zeit-)Geschichtsschreibung vom „Desinteresse am Thema ,Politikerinnen‘“16 gekennzeichnet sei. Die Kritik bezieht sich unter anderem auf ein bestimmtes Genre der Historiografie, stehe doch, so die Diagnose, der Renaissance der Biografik seit den 1980er Jahren „das weitgehende Fehlen von Frauenbiografien“17 gegenüber. Für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts gerät dieser Befund allerdings allmählich ins Wanken, zumindest wenn man das politische Vorfeld betrachtet, auf dem Frauen angesichts mangelnder bzw. gerade erst errungener Mitbestimmungsrechte bevorzugt tätig wurden. Denn es sind Protagonistinnen der alten Frauenbewegung, die in jüngster Zeit vermehrt ins Zentrum geschichtswissenschaftlicher Betrachtung rückten. So wurden seit dem Jahr 2000 zum Beispiel die führenden Vertreterinnen der bürgerlichen Frauenbewegung Helene Lange (1848–1930) und Gertrud Bäumer (1873–1954) sowie Agnes von Zahn-Harnack (1884–1950), die Stimmrechtsaktivistinnen Anita Augspurg (1857–1943) und Marie Stritt (1855–1928) sowie die Gründerin des Jüdischen Frauenbundes Bertha Pappenheim (1859–1936) in Monografien porträtiert.18 Freilich bleibt weibliches Engagment nicht allein auf (geschlechter-)demokratische Ansinnen wie Mädchenerziehung und Frauenbildung, das Recht zur Wahl oder religiös und sozialpolitisch motivierte Emanzipationsarbeit beschränkt, die im Falle Marie Stritts und Gertrud Bäumers auch dazu führten, sich in den politischen Institutionen der Weimarer Republik als Repräsentantinnen liberaler Politik zu engagieren.19 Das Scheitern der ersten deutschen Demokratie lenkt die Aufmerksamkeit zwangsläufig auf die politische Rechte. In diesem Zusammenhang fragt man mittlerweile verstärkt nach der Beteiligung von weiblichen Anhängern und Aktivisten, worauf hier allerdings nicht ausführlicher eingegangen werden kann.20 16 17
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Lauterer, Heide-Marie: Parlamentarierinnen in Deutschland 1918/19–1949, Königstein/Taunus 2002, S. 16. Schaser, Angelika: Bedeutende Männer und wahre Frauen. Biographien in der Geschichtswissenschaft, in: Querelles. Jahrbuch für Frauenforschung, Bd. 6: Biographisches Erzählen, Stuttgart und Weimar 2001, S. 137–152, hier S. 141. Schaser, Angelika: Helene Lange und Gertrud Bäumer. Eine politische Lebensgemeinschaft, Köln 2 2010; Bauer, Gisa: Kulturprotestantismus und frühe bürgerliche Frauenbewegung in Deutschland. Agnes von Zahn-Harnack (1884–1950), Leipzig 2006; Kinnebrock, Susanne: Anita Augspurg (1857–1943). Feministin und Pazifistin zwischen Journalismus und Politik. Eine kommunikationshistorische Biographie, Herbolzheim 2005; Schüller, Elke: Marie Stritt – Eine „kampffrohe Streiterin“ in der Frauenbewegung (1855–1928), Königstein 2005; Konz, Britta: Bertha Pappenheim (1859–1936). Ein Leben für jüdische Tradition und weibliche Emanzipation, Frankfurt a.M. 2005. Gertrud Bäumer gehörte zu den Gründungsmitgliedern der Deutschen Demokratischen Partei (DDP), für die sie in die Nationalversammlung einzog und durchgängig bis 1932 im Reichstag saß. Marie Stritt war Anfang der 1920er Jahre ebenfalls für die DDP im Dresdner Stadtrat tätig. Vgl. dazu z.B. Streubel, Christiane: Literaturbericht. Frauen der politischen Rechten, in: H-Soz-u-Kult, 10. 06. 2003, http://geschichte-transnational.clio-online.net/ rezensionen/2003-2-141. Als biografischen Beitrag dazu exemplarisch Streubel, Christiane: Lenore Kühn (1878–1955). Neue Nationalistin und verspätete Bildungsbürgerin, Berlin 2007.
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Während sich die Weimar-Forschung gerade daran macht, über die „Lebensläufe, die Handlungsspielräume und das politische Wirken von Frauen“ die „sich verändernden politischen Einflussmöglichkeiten und Begrenzungen für das ,andere Geschlecht‘“21 aufzuarbeiten, verhält sich die Historiografie zur Bundesrepublik Deutschland der Frauen- und Geschlechtergeschichte gegenüber „merklich ruhig“22. Wer sich auf die Suche nach Biografien von Politikerinnen begibt, wird kaum fündig, was selbstverständlich auch damit zusammenhängt, dass der messbare Vormarsch von Frauen in die Politik erst sehr jungen Datums ist. Gleichwohl erfährt das Leben und Wirken von Politikerinnen publizistische Aufmerksamkeit, auch wenn monografisch angelegte und forschungsorientierte Untersuchungen (noch) an einer Hand abzuzählen sind. Auf das Gleichberechtigungsgebot des Grundgesetzes drängend präsentierten zunächst Frauenverbände wie der Deutsche Akamikerinnenbund, aber auch die Parteien Mitglieder aus den eigenen Reihen und deren Bemühungen, der weiblichen Bevölkerung zu ihrem Recht zu verhelfen. So sollte etwa in einem Sammelband aus dem Jahr 1984 „anhand der politischen Biographien herausragender liberaler Politikerinnen“, die von Aktivistinnen der alten Frauenbewegung wie Gertrud Bäumer oder Agnes von Zahn-Harnack bis hin zu in der Bundesrepublik engagierten FDP-Politikerinnen wie Marie-Elisabeth Lüders (1878– 1966) und Berta Middelhauve (1893–1988) reichten, gezeigt werden, „daß die Frauen längst unter Beweis gestellt haben, daß sie in der Gesellschaft die gleichen Aufgaben wie die Männer zu erfüllen vermögen und durch ihren eigenständigen Beitrag neue Aspekte zur Lösung gesellschaftlicher Probleme einbringen.“23 Ebenfalls seit gut drei Jahrzehnten haben Darstellungen populärwissenschaftlicher oder journalistischer Provenienz Konjunktur, in deren Mittelpunkt die „große“ und „außergewöhnliche“ Frau steht. Den Anfang machten dabei zum Beispiel Elisabeth Selbert (1896–1986), die „das Morgen gestalten“ half, Elisabeth Schwarzhaupt (1901–1986) als „erste Ministerin“ der Republik, die SPDBundestagsabgeordnete jüdischen Glaubens Jeanette Wolff (1888–1976) oder „eine der eigenständigsten Frauen der bundesdeutschen politischen Szene“ Hildegard Hamm-Brücher (geb. 1921).24 21 22
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Schaser, Angelika: Helene Lange und Gertrud Bäumer. Eine politische Lebensgemeinschaft, Köln 2 2010, S. 11. So der Tenor in: Paulus, Julia u.a. (Hg.): Teilhabe oder Ausgrenzung? Perspektiven der bundesdeutschen Geschlechtergeschichte zwischen Nachkriegszeit und „Strukturbruch“ (1949–1989), Frankfurt a.M. und New York 2012 (in Vorbereitung). Huffmann, Ursula, Frandsen, Dorothea und Kuhn, Annette (Hg.): Frauen in Wissenschaft und Politik. Sammelband anläßlich des 60jährigen Bestehens des Deutschen Akademikerinnenbundes e.V., Düsseldorf 1987; Hellwig, Renate (Hg.): Die Christdemokratinnen. Unterwegs zur Partnerschaft, Stuttgart und Herford 1984; Huber, Antje (Hg.): Die Sozialdemokratinnen: Verdient die Nachtigall Lob, wenn sie singt? Stuttgart 1984; das Zitat bei Funcke, Liselotte (Hg.): Die Liberalen. Frei sein, um andre frei zu machen, Stuttgart und Herford 1984, S. 11. Dertinger, Antje: Elisabeth Selbert. Eine Kurzbiographie, Wiesbaden 1989, das Zitat S. 3; Saletin, Ursula: Elisabeth Schwarzhaupt – erste Ministerin der Bundesrepublik. Ein demokratischer Lebensweg, Freiburg u.a. 1986; Lange, Gunter: Jeanette Wolff. 1888 bis 1976. Eine Biographie, Bonn 1988; Salentin, Ursula: Hildegard Hamm-Brücher. Der Lebensweg einer eigenwilligen Demokratin. Freiburg 1987, das Zitat S. 7.
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Dass sich derartige Veröffentlichungen zu politisch aktiven Frauen gerade in den 1980er Jahren zu häufen begannen, deutet auf ein allgemein gestiegenes Interesse an der „Frauenfrage“ und der Gleichberechtigung der Geschlechter hin und kann als indirekte Reaktion auf die neue Frauenbewegung verstanden werden. Diese etablierte in ihrem Einsatz gegen weibliche Diskriminierung auch eine Frauengeschichte, die in ihren Anfängen stark davon geprägt war, Leistungen von Frauen in der Vergangenheit sichtbar zu machen. Das Webportal zur Frauenbiografieforschung Fembio, das auf das Engagement der feministischen Schriftstellerin und Linguistin Luise F. Pusch zurückgeht, verfolgt den Ansatz der „Aufklärung der Gesellschaft über ihre bessere Hälfte“ bis heute.25 Gleichzeitig entwickelte sich die Frauengeschichte „mit und gegen die Sozialgeschichte“26, mit der sie die Betonung der Strukturanalyse und damit die Skepsis gegenüber der Biografik teilte, die mit ihrem Fokus auf das Individuum im Allgemeinen und die „großen Männer“ im Besonderen nicht nur den Traditionen einer männlich dominierten Geschichtswissenschaft huldige, sondern kaum Erkenntnisgewinne zu einem der zentralen Wirkmechanismen in der Gesellschaft – der Kategorie Geschlecht – erzielen könne.27 Trotz dieser Kritik hat sich Frauen- und Geschlechtergeschichte dem biografischen Ansatz nicht völlig verschlossen. Allerdings sind es weniger monografische Studien als vielmehr Lebensbilder in Sammelbänden oder Gruppenbiografien, die sich mit dem Leben und Wirken von Politikerinnen auseinandersetzen. Zum einen ist dies einer oftmals desolaten Quellenlage zuzuschreiben, die es erschwert, sich einer Einzelnen biografisch zu nähern. So berichten Christl Wickert, die den Lebensläufen sozialdemokratischer Parlamentarierinnen in der Weimarer Republik nachspürte, und Gisela Notz, die Gleiches für SPD-Politikerinnen im Parlamentarischen Rat und im Bundestag von 1948/49 bis 1969 tat, einmütig, dass sich die Suche nach Material als „außerordentlich langwierig und schwierig“ erwiesen habe.28 Den Verfasserinnen zufolge handelt es sich dabei um ein prinzipielles Problem der Frauengeschichte, das bei ihrem auf Demokratinnen zentrierten Forschungsinteresse infolge der Konfiszierung und Zerstörung von Unterlagen in der Zeit des Nationalsozialismus sowie des Mangels an einschlägigen Nachlässen und Deposita noch verstärkt aufgetreten sei. Auf den Umstand, dass diese Lücken und Schwierigkeiten in der Überlieferungspraxis mitunter auch mit dem 25 26
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www.fembio.org/biographie.php. Griesebner, Andrea: Geschlecht als soziale und als analytische Kategorie. Debatten der letzten drei Jahrzehnte, in: Gehmacher, Johanna und Mesner, Maria (Hg.): Frauen- und Geschlechtergeschichte. Positionen/Perspektiven, Innsbruck u.a. 2003. S. 37–52, hier S. 39. Zur Kritik der Geschlechtergeschichte an der Biografik vgl.: Schissler, Hanna: Geschlechtergeschichte. Herausforderung und Chance für die Sozialgeschichte, in: Hettling, Manfred u.a. (Hg.): Was ist Gesellschaftsgeschichte? Positionen, Themen, Analysen, München 1991, S. 22–30. Wickert, Christl: Unsere Erwählten. Sozialdemokratische Frauen im Reichstag und im Preußischen Landtag 1919 bis 1933, 2 Bde., Göttingen 1986; Notz, Gisela: Frauen in der Mannschaft. Sozialdemokratinnen im Parlamentarischen Rat und im Deutschen Bundestag 1948/49–1957. Mit 26 Biografien, Bonn 2003; Notz, Gisela: Mehr als bunte Tupfen im Bonner Männerclub. Sozialdemokratinnen im Deutschen Bundestag 1957–1969. Mit 12 Biographien, Bonn 2007, das Zitat S. 15.
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Geschlecht der jeweiligen Person zu tun haben, hebt Heide-Marie Lauterer ab. Für ihre Untersuchung über Parlamentarierinnen in Deutschland zwischen 1918 und 1949 habe sie die Nachlässe von Politikerinnen im Gegensatz zu den männlichen Pendants „in der Regel völlig ungeordnet“ vorgefunden.29 Zum anderen werden die Bücherregale kaum mit Biografien von Politikerinnen der jüngeren Zeitgeschichte bestückt, weil die Bundesrepublik lange Zeit weit von einer quantitativ vergleichbaren Teilhabe beider Geschlechter an der Macht entfernt war und die Rechte von Frauen eine nachrangige Rolle spielten: Politikerinnen stellten eine Minorität dar, deren Einfluss sich in engen Grenzen hielt, selbst wenn es um (vermeintlich) weibliche Angelegenheiten ging. Der kritische Hinweis Udo Wengsts, dass auch einige Politiker lediglich im Hintergrund gewirkt, „aber trotzdem ihre Biografen gefunden“ hätten30, mag als Indiz dafür dienen, dass neben dem Archivwesen auch die Geschichtsschreibung die Zeitläufte eher durch die Brille der Männer und ihrer Politik betrachtet hat. Dem setzten Historikerinnen indes die weibliche Sicht der Dinge in Form von Studien entgegen, die über gruppenbiografischen Ansätze dem Phänomen nachgehen, wie Frauen ihr Ausnahmedasein in der Politik gestalteten und was dies in Bezug auf die Beharrlichkeit bzw. den Wandel von (geschlechter-)politischen Einstellungen bedeutete. Petra Holz nimmt dafür in ihrer Dissertation die immerhin 158 Christdemokratinnen in den Blick, die zwischen 1945 und 1957 Staats- und Parteiämter übernahmen, freilich mit deutlicher Betonung zweier prägender Gestalten auf Bundesebene: Helene Weber und Elisabeth Schwarzhaupt. Der Beitrag der CDU-Vertreterinnen zur Auseinandersetzung über die Stellung der Frau in Staat und Gesellschaft lässt sich dabei wie folgt zusammenfassen: Die erste Generation weiblicher CDU-Politikerinnen lavierte zusätzlich zu den Schwierigkeiten, die die bescheidene weibliche Präsenz im öffentlichen Leben mit sich brachte, zwischen dem Eintreten für das traditionelle christlich-konservative Frauenbild und der eigenen, dem offensichtlich nicht entsprechenden Stellung. Diesen Zwiespalt versteht die Autorin als „Teil der Geschichte der Modernisierung und Demokratisierung der Bundesrepublik“, der zeige, wie beschwerlich solche Entwicklungen von statten gegangen und wie die Frauen sich dabei „häufig selbst im Wege“ gestanden seien. Dennoch habe die Beteiligung von Frauen am politischen Prozess den „Stachel der Veränderung“ in sich getragen.31 Wie sich diese Veränderung vollzog, hat Birgit Meyer in ihrer Studie „Frauen im Männerbund“ an Politikerinnen in Führungspositionen in der Bundesrepublik von 1949 bis Anfang der 1990er Jahre untersucht, unter ihnen Frauen der „älteren Generation“ wie die CDU-Sozialpolitikerin und ab 1972 erste Ministe29 30
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Lauterer, Heide-Marie: Parlamentarierinnen in Deutschland 1918/19–1949, Königstein/ Taunus 2002, das Zitat S. 21. Wengst, Udo: Machen Männer wieder Geschichte? Der Stellenwert von Politikerbiografien in der Geschichtsschreibung über die Bundesrepublik Deutschland, in: Hildebrand, Klaus, Wengst, Udo und Wirsching, Andreas (Hg.): Geschichtswissenschaft und Zeiterkenntnis. Von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Festschrift für Horst Möller, München 2008, S. 627–639, hier S. 630. Holz, Petra: Zwischen Tradition und Emanzipation. CDU-Politikerinnen in der Zeit von 1945 bis 1960, Königstein/Taunus 2004, die Zitate S. 285 f.
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rin in Baden-Württemberg Annemarie Griesinger (geb. 1924) und Frauen jüngerer Jahrgänge wie Herta Däubler-Gmelin (geb. 1943), die im Untersuchungszeitraum Mitglied des Bundestags, dort Vorsitzende des Rechtsausschusses und stellvertretende Bundesvorsitzende der SPD war. Meyers Resümee ist zunächst wenig optimistisch: Trotz des wachsenden Frauenanteils hätten sich parlamentarische Regeln und Strukturen sowie Rekrutierungsmechanismen nicht grundlegend gewandelt. Auch berichteten Politikerinnen unabhängig von der Parteizugehörigkeit von Widerständen, denen sie als Frau in der Politik nach wie vor begegneten. Zudem könne man kein besonderes „frauenspezifisches Politikverständnis“ ausmachen, obwohl das Handeln von Politikerinnen „in einem starken Maße“ von einem praxis- und personenbezogenen Stil und der Nähe zur Alltagspolitik geprägt werde. Gleichzeitig sei manches selbstverständlicher und auch anders geworden: Politisch aktive Frauen würden explizit gefördert. Ihre vermehrte Präsenz in einem männlich dominierten Raum lasse die klassische Arbeitsteilung der Geschlechter aufbrechen und das Interesse der Politik daran wachsen, wie die Sphären öffentlich und privat besser als bisher zu vereinbaren seien. Nicht zuletzt träten gerade jüngere Politikerinnen „autonomer und unabhängiger von männlicher Wertschätzung“ auf.32 Allerdings wird man dem Engagement von Frauen nicht gerecht, wenn man allein das Umfeld der klassischen (Partei-)Politik beobachtet. Für diese Überlegung steht die Arbeit Elke Schüllers, die für die Nachkriegszeit „Wege der Politik von Frauen“ in Frankfurt am Main nachzeichnete und dabei weibliche Aktivitäten zum Vorschein brachte, der mit einem engen Politikbegriff rund um Institutionen und Strukturen nicht zu fassen wäre: In außerparlamentarischen Verbänden und überparteilichen Frauenausschüssen organisierten Frauen den Alltag der Kommune und trugen damit zum Aufbau eines demokratischen Staatswesens bei, auch indem sie wie Ulla Illing versuchten, eine eigene Frauenpartei zu gründen, der freilich kein langfristiger Erfolg beschieden war.33 Nun offenbart der Blick nach Hessen noch mehr: Denn offensichtlich liegt den Hessen viel daran, Frauen und ihre Geschichte zur Geltung zu bringen und einer patriarchal geprägten Geschichtsschreibung Mores zu lehren. Bereits Ende der 1980er Jahre beschloss der Landtag auf einen Antrag seiner weiblichen Angehörigen hin, das Leben und die politische Arbeit hessischer Frauen in den Parlamenten, Kreisausschüssen, Magistraten und Frauenorganisationen der unmittelbaren Nachkriegszeit bis 1955 von Historikerinnen erforschen zu lassen und die Ergebnisse in zum Teil mehrbändigen Publikationen einer breiteren LeserInnenschaft zugänglich zu machen.34 Im Rahmen der Öffentlichkeitsarbeit der Landesregie32 33 34
Meyer, Brigitte: Frauen im Männerbund. Politikerinnen in Führungspositionen von der Nachkriegszeit bis heute, Frankfurt a.M. und New York 1997, hier v.a. S. 358 ff. Schüller, Elke: „Frau sein heißt politisch sein.“ Wege der Politik von Frauen in der Nachkriegszeit am Beispiel Frankfurt / Main (1945–1956), Königstein/Taunus 2005. Langer, Ingrid: Zwölf vergessene Frauen. Die weiblichen Abgeordneten des Volksstaates Hessen. Ihre politische Arbeit, ihr Alltag, ihr Leben, Frankfurt a.M. 1989; Wischermann, Ulla, Schüller, Elke und Gerhard, Ute (Hg.): Staatsbürgerinnen zwischen Partei und Bewegung. Frauenpolitik in Hessen 1945 bis 1955, Frankfurt a.M. 1993; Langer, Ingrid, Ley, Ulrike und Sander, Susanne (Hg.): Alibi-Frauen? Hessische Politikerinnen, Bde. 1–3, Frankfurt a.M. 1994 ff.
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rung wurden darüber hinaus den hessischen Landeskindern Elisabeth Schwarzhaupt und Elisabeth Selbert historische Biografien gewidmet.35 Das große Interesse an Letzterer als „Anwältin der Gleichberechtigung“ führt in den Bereich der Monografien, die ein Beleg dafür sind, dass die Biografik in der Geschichtsschreibung nach der Krise in den 1970er Jahren mittlerweile wieder an Reputation gewonnen hat und auch in Bezug auf Politikerinnen einen Aufwärtstrend verzeichnet. Nicht nur deshalb, weil es sich um Qualifikationsschriften handelt. Vielmehr geht es ihnen längst nicht mehr allein darum, das Leben einer „Heldin“ zu beschreiben, sondern Teilaspekte ihres Lebens und Werkes in einem größeren Zusammenhang und unter bestimmten Fragestellungen zu diskutieren. Barbara Böttger wählte für ihre Dissertation Elisabeth Selbert, um den Kampf um Frauenrechte von der Mitte des 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts zu rekonstruieren, und legte dabei ein besonderes Augenmerk auf die Kontroversen, die um die Gleichheit bzw. die Differenz der Geschlechter tobten.36 Elisabeth Friese fragte in ihrem Buch zu Helene Wessel (1898–1969) und deren Einsatz im Zentrum, der Gesamtdeutschen Volkspartei und der SPD nach Positionen, die der politische Katholizismus nach 1945 im Kontext von persönlichem Glauben und äußerem Umbruch hervorbrachte, die sich aber als Alternativen zu den Konzepten der sich etablierenden CDU nicht durchsetzen konnten.37 Ihre Biografie zu Jeanette Wolff versteht Brigit Seemann als einen Beitrag zum „Denken und Handeln einer bewusst jüdischen Politikerin“, der Rückschlüsse auf das „jüdische Frauenengagment in Deutschland nach der Shoa“ ermögliche.38 Inzwischen erstreckt sich das biografische Metier nicht mehr ausschließlich auf Politikerinnen, die ihre politische Sozialisation noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erfahren haben. Auch eine Bewegungsaktivistin und GrünenPolitikerin wurde kürzlich in den Mittelpunkt einer Dissertation gestellt, in der Saskia Richter die Motive, Schwerpunkte und Handlungsräume Petra Kellys (1947–1992) auslotete. Dabei wurden die Ideen, aber auch die politische Kultur, die das links-alternative Milieu, die Neuen Sozialen Bewegungen und die Grünen über Inszenierungen und Symboliken prägten, in die Geschichtsschreibung zur Bundesrepublik der 1970er und 1980er Jahre eingereiht.39 An den Biografien fällt eines auf: Der Hinweis darauf, dass das Forschungsinteresse auch davon angeregt worden sei, eine politisch aktive Frau aus dem Schatten der Vergessenheit zu holen, tritt zunehmend in den Hintergrund. Saskia Richter, schließlich, deren Arbeit 2010 publiziert wurde, beschäftigt sich überhaupt nicht mit der Frage nach der besonderen Biografiewürdigkeit ihrer Protagonistin 35
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Hessische Landesregierung (Hg.): Elisabeth Schwarzhaupt (1901–1986). Portrait einer streitbaren Politikerin und Christin, Freiburg u.a. 2001; Hessische Landesregierung (Hg.): Ein Glücksfall für die Demokratie. Elisabeth Selbert (1896–1986). Die große Anwältin der Gleichberechtigung, Frankfurt a.M. 1999. Böttger, Barbara: Das Recht auf Gleichheit und Differenz. Elisabeth Selbert und der Kampf der Frauen um Art. 3 II Grundgesetz, Münster 1990. Friese, Elisabeth: Helene Wessel (1898–1969). Von der Zentrumspartei zur Sozialdemokratie, Essen 1993. Seemann, Birgit: Jeanette Wolff. Politikerin und engagierte Demokratin. (1888–1976), Frankfurt a.M. 2000, die Zitate S. 8. Richter, Saskia: Die Aktivistin. Das Leben der Petra Kelly, München 2010.
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als Frau. Offenbar bedarf es dafür mittlerweile keiner eingehenderen Begründung mehr. Sind die Frauen also in der Geschichtswissenschaft angekommen? Auf alle Fälle gibt es Grund zur Hoffnung: Der Weg der weiblichen Bevölkerung vom Politikverbot zum Kanzleramt dauerte rund 100 Jahre. In der Geschichtswissenschaft lassen die Frauen aber vermutlich kein weiteres Jahrhundert mehr auf sich warten.
Weiterführende Literatur Hoecker, Beate: Frauen in der Politik. Eine soziologische Studie, Opladen 1987. Lauterer, Heide-Marie: Parlamentarierinnen in Deutschland 1918/19–1949, Königstein/ Taunus 2002. Meyer, Brigitte: Frauen im Männerbund. Politikerinnen in Führungspositionen von der Nachkriegszeit bis heute, Frankfurt a.M. und New York 1997. Schaser, Angelika: Frauenbewegung in Deutschland. 1848–1933, Darmstadt 2006.
Hinweise zu den Quellen Die Quellenlage zu Frauenbiografien ist, wie beschrieben, meist stark fragmentarisch. Unterlagen zu einzelnen Politikerinnen müssen daher in der Regel in mühevoller Kleinarbeit aus den entsprechenden Partei- und Parlamentsarchiven zusammengesucht werden. Größere und gut geordnete Deposita und Nachlässe, wie z.B. der von Hildegard HammBrücher im Archiv des Instituts für Zeitgeschichte, stellen eher die Ausnahme als die Regel dar. Zum gesellschaftspolitischen Engagement von Frauen außerhalb von Parteien und Parlamenten gibt es mittlerweile eine ganze Reihe einschlägiger, in der Regel aber nichtstaatlicher Archive, wie beispielsweise den Kölner „FrauenMediaTurm“.
Autorinnen und Autoren Prof. Dr. Helmut Altrichter, emeritierter Ordinarius für Osteuropäische Geschichte an der Universität Erlangen-Nürnberg; ehemaliger Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirats des IfZ; veröffentlichte u.a. Russland 1917. Ein Land auf der Suche nach sich selbst (Paderborn u.a. 1997), Kleine Geschichte der Sowjetunion 1917–1991(München 3 2007), Russland 1989. Der Untergang des sowjetischen Imperiums (München 2009). Prof. Dr. Anselm Doering-Manteuffel, Ordinarius und Direktor des Seminars für Zeitgeschichte an der Universität Tübingen; veröffentlichte u.a. Wie westlich sind die Deutschen. Amerikanisierung und Westernisierung im 20. Jahrhundert (Göttingen 1999), Ordnung durch Terror. Gewaltexzesse und Vernichtung im nationalsozialistischen und im stalinistischen Imperium (mit Jörg Barberowski, Bonn 2 2007), Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte nach 1970(mit Lutz Raphael, Göttingen 2 2010). Dr. Franziska Fronhöfer, Schülerin von Udo Wengst; veröffentlichte u.a. Im Zeichen der „Soziokultur“. Hermann Glaser und die kommunale Kulturpolitik in Nürnberg (Nürnberg 2007). Prof. Dr. Ingrid Gilcher-Holtey, Ordinaria für Allgemeine Geschichte unter besonderer Berücksichtigung der Zeitgeschichte an der Universität Bielefeld; veröffentlichte u.a. Das Mandat des Intellektuellen. Karl Kautsky und die Sozialdemokratie(Berlin 1986), Eingreifendes Denken. Die Wirkungschancen von Intellektuellen (Weilerswist 2007), 1968. Eine Zeitreise (Frankfurt a.M. 2008). PD Dr. Bastian Hein, Schüler von Udo Wengst; Privatdozent für Neueste Geschichte und Zeitgeschichte an der Universität Regensburg; veröffentlichte u.a. Die Westdeutschen und die Dritte Welt. Entwicklungspolitik und Entwicklungsdienste zwischen Reform und Revolte 1959–1974 (München 2006), Hitlers Elite? Die Allgemeine SS und ihre Mitglieder 1925–1945(München 2012). Prof. Dr. Günther Heydemann, Ordinarius für Neuere und Zeitgeschichte an der Universität Leipzig; Direktor des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung in Dresden; veröffentlichte u.a. Geschichtswissenschaft im geteilten Deutschland. Entwicklungsgeschichte, Organisationsstruktur, Funktionen, Theorie- und Methodenprobleme in der Bundesrepublik Deutschland und in der DDR (Frankfurt a.M. u.a. 1980), Konstitution gegen Revolution. Die britische Deutschland- und Italienpolitik1815–1848(Göttingen u.a. 1995), Die Innenpolitik der DDR(München 2003). Prof. Dr. Hans Günter Hockerts, emeritierter Ordinarius für Neueste Geschichte und Zeitgeschichte an der Universität München; veröffentlichte u.a. Die Sittlich-
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Autorinnen und Autoren
keitsprozesse gegen katholische Ordensangehörige und Priester 1936/37. Eine Studie zur nationalsozialistischen Herrschaftstechnik und zum Kirchenkampf (Mainz 1971), Sozialpolitische Entscheidungen im Nachkriegsdeutschland. Alliierte und deutsche Sozialversicherungspolitik 1945 bis 1957 (Stuttgart 1980), Der deutsche Sozialstaat. Entfaltung und Gefährdung seit 1945(Göttingen 2011). Prof. Dr. Manfred Kittel, Direktor der Stiftung „Flucht, Vertreibung und Versöhnung“ in Berlin; Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Regensburg; veröffentlichte u.a. Provinz zwischen Reich und Republik. Politische Mentalitäten in Deutschland und Frankreich 1918–1933/36(München 2000), Vertreibung der Vertriebenen? Der historische deutsche Osten in der Erinnerungskultur der Bundesrepublik (1961–1982)(München 2007), Marsch durch die Institutionen? Politik und Kultur in Frankfurt nach 1968(München 2011). Dr. Helge Kleifeld, Archivleiter des IfZ; veröffentlichte u.a. „Wende zum Geist“? Bildungs- und hochschulpolitische Aktivitäten der überkonfessionellen studentischen Korporationen an westdeutschen Hochschulen 1945–1961 (Köln 2002), Die Stellung der öffentlichen Archive im politischen System der Bundesrepublik Deutschland(Essen 2008). Dr. Peter März, ehemaliger Leiter der Bayerischen Landeszentrale für politische Bildungsarbeit; veröffentlichte u.a. Die Bundesrepublik zwischen Westintegration und Stalin-Noten. Zur deutschlandpolitischen Diskussion 1952 in der Bundesrepublik vor dem Hintergrund der westlichen und der sowjetischen Deutschlandpolitik (Frankfurt a.M. u.a. 1982), Der Erste Weltkrieg. Deutschland zwischen dem langen 19. Jahrhundert und dem kurzen 20. Jahrhundert (Stamsried 2 2008), Mythen, Bilder, Fakten. Auf der Suche nach der deutschen Vergangenheit(München 2010). Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Horst Möller, ehemaliger Direktor des IfZ; emeritierter Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität München; veröffentlichte u.a. Aufklärung in Preußen. Der Verleger, Publizist und Geschichtsschreiber Friedrich Nicolai(Berlin1974), Parlamentarismus in Preußen 1919–1932 (Düsseldorf 1985), Europa zwischen den Weltkriegen (München 2 2000), Die Weimarer Republik. Eine unvollendete Demokratie (München 9 2008). Prof. Dr. Dr. h. c. Rudolf Morsey, emeritierter Professor für Neuere Geschichte an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer; veröffentlichte u.a. Heinrich Lübke. Eine politische Biographie (Paderborn u.a. 1996), Die Bundesrepublik Deutschland. Entstehung und Entwicklung bis 1969 (München 4 2000), Die Görres-Gesellschaft zur Pflege der Wissenschaft. Streiflichter ihrer Geschichte (Paderborn u.a. 2009). Dr. Heinrich Potthoff, ehemaliger wissenschaftlicher Mitarbeit der Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien; veröffentlichte u.a. Gewerkschaften und Politik zwischen Revolution und Inflation (Düssel-
Autorinnen und Autoren
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dorf 1979), Im Schatten der Mauer. Deutschlandpolitik1961 bis 1990(Berlin 1999), Kleine Geschichte der SPD 1848–2002(mit Susanne Miller, Bonn 8 2002). Dr. Anne Rohstock, Schülerin von Udo Wengst; wissenschaftliche Mitarbeiterin der Universität Luxemburg; veröffentlichte u.a. Von der „Ordinarienuniversität“ zur „Revolutionszentrale“? Hochschulreform und Hochschulrevolte in Bayern und Hessen 1957–1976(München 2010). Dr. Martin Schumacher, ehemaliger Generalsekretär der Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien; veröffentlichte u.a. Mittelstandsfront und Republik. Die Wirtschaftspartei – Reichspartei des deutschen Mittelstandes 1919–1933(Düsseldorf 1972), Land und Politik. Eine Untersuchung über politische Parteien und agrarische Interessen 1914–1923(Düsseldorf 1978). Prof. Dr. Dr. h. c. Hans-Peter Schwarz, emeritierter Ordinarius für Wissenschaft von der Politik und Zeitgeschichte an der Universität Bonn; ehemaliger Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirats des IfZ; veröffentlichte u.a. eine zweibändige Adenauer-Biographie (Stuttgart 1986 und 1991), Das Gesicht des Jahrhunderts. Monster, Retter und Mediokritäten (Berlin 1998), Axel Springer. Die Biografie (Berlin 2008). Dr. Petra Weber, wissenschaftliche Mitarbeiterin des IfZ; veröffentlichte u.a. Carlo Schmid. Eine Biographie (München 1996), Justiz und Diktatur. Justizverwaltung und politische Strafjustiz in Thüringen 1945–1961 (München 2000), Gescheiterte Sozialpartnerschaft – Gefährdete Republik? Industrielle Beziehungen, Arbeitskämpfe und der Sozialstaat. Deutschland und Frankreich im Vergleich 1918–1933/39(München 2011). Prof. Dr. Klaus Wengst, emeritierter Ordinarius für evangelische Theologie an der Universität Bochum; veröffentlichte u.a. Pax Romana. Anspruch und Wirklichkeit. Erfahrungen und Wahrnehmungen des Friedens bei Jesus und im Urchristentum(München 1986), Jesus zwischen Juden und Christen(Stuttgart 2 2004), Das Regierungsprogramm des Himmelreichs. Eine Auslegung der Bergpredigt in ihrem jüdischen Kontext(Stuttgart 2010). Prof. Dr. Hermann Wentker, wissenschaftlicher Mitarbeiter des IfZ; Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Leipzig; veröffentlichte u.a. Zerstörung der Großmacht Rußland? Die britischen Kriegsziele im Krimkrieg (Göttingen 1993), Justiz in der SBZ/DDR 1945–1953. Transformation und Rolle ihrer zentralen Institutionen(München 2001), Außenpolitik in engen Grenzen. Die DDR im internationalen System 1949–1989(München 2007). Prof. Dr. Andreas Wirsching, Direktor des IfZ; Ordinarius für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität München; veröffentlichte u.a. Vom Weltkrieg zum Bürgerkrieg. Politischer Extremismus in Deutschland und Frankreich 1918–1933/39. Berlin und Paris im Vergleich (München 1999), Abschied vom
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Autorinnen und Autoren
Provisorium. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland 1982–1990 (München 2006), Die Weimarer Republik. Politik und Gesellschaft(München 2 2008). Dr. Elisabeth Zellmer, Schülerin von Udo Wengst; Koordinatorin des Promotionsprogramms „Umwelt und Gesellschaft“ am Rachel Carson Center in München; veröffentlichte u.a. Töchter der Revolte? Frauenbewegung und Feminismus der 1970er Jahre in München (München 2011).