Das minoische Kreta: Abriss einer bronzezeitlichen Inselkultur 9783170212695, 9783170250123, 9783170250130, 3170212699

Auf der Insel Kreta entstand um 2000 v. Chr. die erste Hochkultur auf europäischem Boden, die bei den modernen Betrachte

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German Pages 312 [313] Year 2021

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Deckblatt
Titelseite
Impressum
Inhalt
Vorwort
Einleitung
A. Grundzüge: Forscher, Raum und Zeit
1 ›Mythen‹ und archäologische Realität: Ein forschungsgeschichtlicher Überblick
Literatur
2 Das chronologische Gerüst
Literatur
3 Kreta als fordernde und fördernde Landschaft
Literatur
4 Etappen: Ein kurzer Abriss der minoischen Kulturentwicklung
Das dunkle Jahrtausend (FM I–MM I A)
Kreta als höfische Gesellschaft (MM I B–II B)
Die Zeit der knossischen Dominanz (MM III A–SM I A)
Die Krisenzeit (SM I B–II)
Kreta als Peripherie (SM III A:1–SM III B)
Niedergang (SM III B–SM III C)
Literatur
B. Ein anatomischer Blick auf die minoische Gesellschaft
5 Der Palast als Maß aller Dinge
Paläste oder Hofkomplexe: Eine anhaltende Debatte
Der Palast von Knossos
Jenseits von Knossos
Der Palast als höfische Institution
Literatur
6 Die ›Domestizierung‹ der Berge
Die Erschließung der bergigen Landschaft
Etappen
Literatur
7 Das Individuum
Das Körperbild
Geschlechterrollen
Erwachsenwerden
Sinne
Intimität
Individuum und Kollektiv
Literatur
8 Mensch und gebauter Lebensraum
Kühne Konzepte
Bautechnische Umsetzung
Gelebte Räume
Literatur
9 Mensch und Dinge
Die Faszination des Materials
Minoische Designkonzepte
Dinge und Bilder beleben sich gegenseitig
Das Leben der Dinge: Verwendung, Reparatur, Wiederverwendung, Deponierung, Zerstörung
Literatur
10 Medien der sozialen Interaktion
Bilder
Stil als Bedeutungsträger
Schrift
Literatur
11 Alltagswelten
Alltag im Bild
Das dörfliche und das ›städtische‹ Alltagsleben
Berufe und alltägliche Tätigkeiten
Ernährung
Literatur
12 Außeralltägliche Erfahrungen: Götter, heilige Orte und Feste
Götter und Dämonen: die großen Unbekannten
Sakrale (Tat-)Orte
Kult als Transzendenz
Heilige Dinge
Glanzvolle Feste
Literatur
13 Der Tod als prägende kollektive Erfahrung
Der Tod als Übergangszustand
Das Grab als ›Haus des Toten‹
Bestattungsritual
Wie lassen sich Veränderungen im Bestattungsritual erklären?
Literatur
14 Die Minoer und die Anderen
Die innerägäischen Kontakte
Die außerägäischen Kontakte
Die Zeugnisse
Literatur
Schlusswort und Ausblick
Handbücher zur minoischen Kultur
Abbildungsverzeichnis
Register
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Das minoische Kreta: Abriss einer bronzezeitlichen Inselkultur
 9783170212695, 9783170250123, 9783170250130, 3170212699

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Panagiotopoulos, Kreta 30.7.21

S. 1

Panagiotopoulos, Kreta 30.7.21

S. 2

Der Autor Diamantis Panagiotopoulos ist Professor für Klassische Archäologie an der Ruprecht-KarlsUniversität Heidelberg. Er hat Archäologie, Ägyptologie, Alte Geschichte, Geschichte und Kunstgeschichte an den Universitäten von Athen und Heidelberg studiert. Er promovierte in Heidelberg (1996) und habilitierte in Salzburg (2003). Seine Forschungsinteressen umfassen die Kulturen der bronzezeitlichen Ägäis – insbesondere ihre sozialen Strukturen, Administration und Bildsprache –, die kulturelle Interaktion im östlichen Mittelmeer des 2. Jahrtausends v. Chr., die Landschaftsarchäologie und moderne Strategien zur Bewahrung und Erschließung des kulturellen Erbes. Er hat an zahlreichen Grabungen in Griechenland teilgenommen, mehrere interdisziplinäre Forschungsprojekte geleitet und an verschiedenen Ausstellungen in Griechenland und Deutschland mitgewirkt. Derzeit leitet er ein langfristig angelegtes Feldprojekt im minoischen Koumasa (Südkreta).

Panagiotopoulos, Kreta 30.7.21

S. 3

Diamantis Panagiotopoulos

Das minoische Kreta Abriss einer bronzezeitlichen Inselkultur

Verlag W. Kohlhammer

Panagiotopoulos, Kreta 30.7.21

S. 4

Meinen Heidelberger Studentinnen und Studenten gewidmet für ihre Fragen und fragenden Blicke

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind. Es konnten nicht alle Rechtsinhaber von Abbildungen ermittelt werden. Sollte dem Verlag gegenüber der Nachweis der Rechtsinhaberschaft geführt werden, wird das branchenübliche Honorar nachträglich gezahlt.

Titelbild: Digitale Rekonstruktion des Stiersprungfreskos aus dem Palast von Knossos; Foto: Manfred Bietak/Nannó Marinatos/Clairy Palivou: Taureador Scenes in Tell el-Dab‘a (Avaris) and Knossos (2007), Abb. 104.

1. Auflage 2021 Alle Rechte vorbehalten © W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart Print: ISBN 978-3-17-021269-5 E-Book-Formate: pdf: ISBN 978-3-17-025012-3 epub: ISBN 978-3-17-025013-0 Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.

Panagiotopoulos, Kreta 30.7.21

S. 5

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

A.

Grundzüge: Forscher, Raum und Zeit

1

›Mythen‹ und archäologische Realität: Ein forschungsgeschichtlicher Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

19 35

2

Das chronologische Gerüst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

37 43

3

Kreta als fordernde und fördernde Landschaft . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

44 53

4

Etappen: Ein kurzer Abriss der minoischen Kulturentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das dunkle Jahrtausend (FM I–MM I A) . . . . . . . . . . . . . . . . . Kreta als höfische Gesellschaft (MM I B–II B) . . . . . . . . . . . . . Die Zeit der knossischen Dominanz (MM III A–SM I A) . . Die Krisenzeit (SM I B–II) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kreta als Peripherie (SM III A:1–SM III B) . . . . . . . . . . . . . . . Niedergang (SM III B–SM III C) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

55 55 71 83 91 96 101 103

5

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S. 6

Inhalt

B.

Ein anatomischer Blick auf die minoische Gesellschaft

5

Der Palast als Maß aller Dinge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Paläste oder Hofkomplexe: Eine anhaltende Debatte . . . . . . Der Palast von Knossos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jenseits von Knossos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Palast als höfische Institution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

107 108 112 120 124 129

6

Die ›Domestizierung‹ der Berge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Erschließung der bergigen Landschaft . . . . . . . . . . . . . . . Etappen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

130 131 131 140

7

Das Individuum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Körperbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Geschlechterrollen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erwachsenwerden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sinne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Intimität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Individuum und Kollektiv . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

142 143 147 151 152 153 154 155

8

Mensch und gebauter Lebensraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kühne Konzepte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bautechnische Umsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gelebte Räume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

157 160 164 166 170

9

Mensch und Dinge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Faszination des Materials . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Minoische Designkonzepte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dinge und Bilder beleben sich gegenseitig . . . . . . . . . . . . . . . Das Leben der Dinge: Verwendung, Reparatur, Wiederverwendung, Deponierung, Zerstörung . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

171 171 177 180

6

182 186

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S. 7

Inhalt

10

Medien der sozialen Interaktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stil als Bedeutungsträger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

187 188 200 201 206

11

Alltagswelten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Alltag im Bild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das dörfliche und das ›städtische‹ Alltagsleben . . . . . . . . . . . . Berufe und alltägliche Tätigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ernährung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

207 208 210 216 218 219

12

Außeralltägliche Erfahrungen: Götter, heilige Orte und Feste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Götter und Dämonen: die großen Unbekannten . . . . . . . . . . Sakrale (Tat-)Orte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kult als Transzendenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Heilige Dinge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Glanzvolle Feste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

221 223 227 235 239 243 248

13

14

Der Tod als prägende kollektive Erfahrung . . . . . . . . . . . . Der Tod als Übergangszustand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Grab als ›Haus des Toten‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bestattungsritual . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wie lassen sich Veränderungen im Bestattungsritual erklären? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

250 252 255 259 262 265

Die Minoer und die Anderen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die innerägäischen Kontakte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die außerägäischen Kontakte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Zeugnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

266 269 278 280 290

7

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S. 8

Inhalt

Schlusswort und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

292

Handbücher zur minoischen Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

299

Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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S. 9

Vorwort

Dieses Buch verdankt seine Entstehung dem Kohlhammer Verlag, der seine Urban-Taschenbuchreihe mit einem aktuellen deutschsprachigen Überblick zur minoischen Kultur ergänzen wollte. Diese ehrende Einladung habe ich sehr gern angenommen und nach einer großen Verzögerung – die vom Verlagsteam stoisch geduldet wurde – (m)eine Geschichte der Minoer geschrieben, die hoffentlich gleichermaßen Archäologen und Laien ansprechen wird. Folgenden Personen, die entscheidende Hilfe beim Gelingen dieses Buchprojektes geleistet haben, bin ich zu großem Dank verpflichtet: meinen Kollegen und Freunden Fritz Blakolmer und Pietro Militello, die das Buch gelesen, mir wertvolle Hinweise gegeben und mich vor einigen Fehlern bewahrt haben, Julia Kretschmer, die die Endversion des Manuskripts Korrektur gelesen hat, Peter Kritzinger vom Kohlhammer Verlag, der für eine sehr harmonische Zusammenarbeit gesorgt und geduldig auf das Endergebnis gewartet hat, und last but not least Ann-Katrin Fett für die hervorragende Redaktionsarbeit. Das Buch ist all denen gewidmet, die in den vergangenen Jahren meine Lehrveranstaltungen in Heidelberg besucht haben. Sie haben mir direkt oder indirekt immer wieder gezeigt, wie man die Geschichte der minoischen Kultur verständlich kommunizieren kann. Diese fruchtbare Interaktion hat Charakter, Schwerpunkte und Ziele dieses Taschenbuches entscheidend mitgeprägt.

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S. 10

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S. 11

Einleitung

»Kreta ist etwas anderes. Kreta ist eine Wiege, ein Instrument, ein vibrierendes Reagenzglas, in welchem ein vulkanisches Experiment durchgeführt wurde. Kreta vermag den Geist zum Schweigen zu bringen, den Aufruhr der Gedanken zu stillen.« (Henry Miller)1

Kreta, am Südostende Europas gelegen, war die Wiege einer antiken Hochkultur, die den unvoreingenommenen Betrachter mit Staunen erfüllt. Auf der gebirgigen Insel entwickelte sich eine bronzezeitliche Gesellschaft, die auf den ersten Blick ganz anders erscheint als ihre zeitgleichen Kulturen in Ägypten und dem Vorderen Orient. Dieses Volk hat man – nach dem Namen ihres legendären Königs Minos – als ›Minoer‹ bezeichnet, doch in Wahrheit wissen wir nicht, wie sie sich selbst nannten, da die spärlichen schriftlichen Zeugnisse eine Entzifferung ihrer Schrift bisher nicht ermöglichten. Wir kennen lediglich die ägyptische Bezeichnung für die Minoer, nämlich ›Keftiu‹, die eine auffällige lautliche Entsprechung zu ›Kaphtor‹, dem biblischen Namen für die Insel, zeigt. Es ist allerdings völlig ungewiss, ob dieses Ethnikon von der minoischen Eigenbezeichnung übernommen wurde. Die minoische Kultur bleibt daher anonym und in gewisser Weise geschichtslos: Wir kennen keine Königs- oder Beamtennamen, keine historischen Ereignisse, nicht einmal die Namen der Götter und die konkrete Bedeutung der großen religiösen Feste. Die Spuren dieser Gesellschaft allerdings, die wir archäologisch fassen und mit großer Anstrengung – und kreativer Fantasie – rekonstruieren können, reichen aus, um Staunen hervorzurufen. Wie ist es möglich, dass sich auf dieser Mittelmeerinsel eine Kultur mit einem kosmopolitischen Flair entwickelte, das den modernen Men1 Miller, Henry 2017: Der Koloß von Maroussi, 38. Aufl., Reinbeck, S. 119.

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S. 12

Einleitung

schen viel mehr anspricht als die eindrucksvolle Dominanz von Göttern und Herrschern in Ägypten und Mesopotamien? Wie lässt sich der mondäne Charakter dieser Gesellschaft überhaupt begreifen? Wie gelang es ihr, die geografische Lage ihres Territoriums und dessen natürliche Ressourcen effektiver als jede andere Kultur in den nachfolgenden Perioden zu nutzen, große Baukomplexe auf erdbebengefährdetem Land zu errichten, ein anspruchsvolles administratives System aufzubauen und zeitlose Meisterwerke zu schaffen? Es sind Fragen über Fragen, die gleichermaßen Laien und Spezialisten bewegen. Auf der Suche nach Antworten stößt man auf mehrere Hindernisse, die vor allem aus einer lückenhaften Überlieferung resultieren. Ohne lesbare Texte wird jeder Versuch, eine vormoderne Kultur zu verstehen, zu einem sehr schwierigen Unterfangen. Der aufmerksame Besucher in Knossos stellt schnell fest, dass der Palast, den er voller Erwartungen betritt, in großen Teilen ein moderner Zementbau ist. Es fällt einem sehr schwer, die schlecht erhaltene originale Bausubstanz dieses Gebäudes unter den rigoros mit Zement ergänzten Räumen, Treppen und Säulen zu entdecken. Man muss erst die anderen Paläste besuchen, um echte minoische Ruinen sehen zu können. Im Heraklion-Museum ist unübersehbar, dass die meisten Wandmalereien sehr schlecht erhalten und größtenteils ergänzt sind. Die vollständig erhaltenen Meisterwerke der minoischen Kultur sind meistens Objekte in kleinem Format: Siegel, Siegelringe, Schmuck, Statuetten und Möbeleinlagen. Ein großer Teil der archäologischen Fakten bezieht sich eben auf solche Miniaturarbeiten. Trotz oder gerade wegen der vielen Interpretationsprobleme und offenen Fragen hat diese Inselkultur heute, über ein Jahrhundert nach ihrer Entdeckung, kaum an Attraktivität eingebüßt. Populärwissenschaftliche Bücher erzählen spannende Geschichten, die allerdings größtenteils auf späteren Mythen oder überholten Forschungsmeinungen beruhen. Die fachwissenschaftliche Literatur steht all diesen Mythen und Theorien heute sehr skeptisch gegenüber, kann allerdings an ihrer Stelle aufgrund der sehr fragmentarisch erhaltenen Quellen keine besseren Geschichten erzählen, die sich auf Fakten stützen. Welchen Sinn kann dann ein neues Handbuch zur minoischen Kultur haben? Die Archäologie ist keine exakte Wissenschaft und kann daher keine definitiven Antworten liefern, geschweige denn etwas bewei12

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S. 13

Einleitung

sen. Die Hauptaufgabe der Archäologen besteht eigentlich nicht darin, Antworten zu geben, sondern die richtigen Fragen an das Untersuchungsmaterial zu stellen und dadurch die wissenschaftliche Diskussion ständig voranzubringen; eine Diskussion, die zeigt, wie komplex und vielfältig die historische Realität war. Daher möchte ich den Lesern dieses Buches keine Antworten liefern, sondern all das, was wir über das minoische Kreta wissen oder zu wissen glauben, nicht als Wissensstand, sondern als Wissensprozess schildern. Im Fokus dieser Herangehensweise werden daher keine Rätsellösungen, sondern die großen Fragen und Probleme stehen, welche die Archäologen seit über einem Jahrhundert bewegen sowie ihre unermüdlichen Bemühungen, sie zu beleuchten. Die Gliederung dieser Synthese der minoischen Kultur beginnt auf ganz traditionelle Weise mit einem forschungsgeschichtlichen Überblick, der nicht nur die Geschichte der archäologischen Forschung in ihren wesentlichen Zügen zusammenfasst, sondern auch die modernen ›Mythen‹ über die Minoer den archäologischen Fakten gegenüberstellt (Kap. 1). Die drei anschließenden Kapitel befassen sich mit den Hauptparametern der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der minoischen Kultur, nämlich dem Chronologie-System der kretischen Bronzezeit (Kap. 2), der Insel als Lebensraum (Kap. 3) und den wichtigsten Etappen der kulturellen Entwicklung (Kap. 4). Gerüstet mit diesen grundlegenden Informationen kann sich dann der Leser dem zweiten Teil des Buches widmen, der einen anatomischen Blick auf die minoische Kultur ermöglicht. Dieser Teil weicht vom üblichen Schema vieler Handbücher ab, deren Kapitel einzelnen Gattungen der materiellen Hinterlassenschaften oder Aspekten einer Kultur, wie Architektur, Keramik, Kleinkunst, Schmuck sowie soziale Struktur, Religion, Wirtschaft und Handel gewidmet sind. Stattdessen wird hier einer Gliederung gefolgt, welche dem spezifischen Charakter der minoischen Gesellschaft angepasst ist und darüber hinaus nicht den abstrakten Begriff ›Kultur‹, sondern die Menschen als Akteure in den Vordergrund stellt. Dieser Überblick beginnt mit dem ›Herz‹ der minoischen Gesellschaft, nämlich dem Palast als imposantem Gebäude und Kern des politischen, sozialen und wirtschaftlichen Geschehens (Kap. 5). Hieran schließt sich das an, was die minoische Kultur aus diachroner (d. h. ihrer gesamten 13

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S. 14

Einleitung

historischen Entwicklung umfassenden) Sicht von allen anderen Kulturgruppen oder Mächten der Inselgeschichte unterscheidet, nämlich die Erschließung der Landschaft, welche als eine der größten Leistungen dieser bronzezeitlichen Gesellschaft betrachtet werden kann (Kap. 6). Die nächsten beiden Kapitel nehmen das Individuum in den Fokus der Auseinandersetzung mit den archäologischen Quellen und bemühen sich, die Menschen (Kap. 7), ihren gebauten Lebensraum (Kap. 8) sowie ihre Interaktion mit Dingen (Kap. 9) zu erfassen. Die letzten Kapitel sind den sozialen Praktiken gewidmet, die sich auf der Grundlage der archäologischen, ikonografischen und – spärlichen – schriftlichen Evidenz rekonstruieren lassen. Sie umfassen die Medien der symbolischen Kommunikation (Kap. 10), die Alltagswelten (Kap. 11), das Außeralltägliche (Zeremonien und Feste, Kap. 12), den Tod als prägende kollektive Erfahrung und zugleich archäologische ›Goldgrube‹ für die Rekonstruktion einer prähistorischen Gesellschaft (Kap. 13), und schließlich die Minoer in ihren vielfältigen Beziehungen zu anderen Kulturen (Kap. 14). In all diesen Fällen geht jede Betrachtung von den stummen archäologischen Zeugnissen (Architektur und Artefakte) aus. Dennoch strebt dieser Ansatz nicht danach, sich auf die Ebene der materiellen Zeugnisse zu beschränken, sondern sie als Quellen zu benutzen, um letztendlich die Individuen zu fassen und ihre Handlungsräume sowie Praktiken zu rekonstruieren. Durch diese Gliederung, die von den Quellen selbst determiniert ist, verfolgt das vorliegende Handbuch ein doppeltes Ziel: Es soll zum einen eine Einführung in die minoische Kultur bieten, die sowohl interessierte Laien als auch Studierende und hoffentlich auch Archäologen mit Gewinn lesen können. Die Absicht, einen Text zu schreiben, der sowohl an die Fachgemeinschaft als auch an die breite Öffentlichkeit adressiert ist, stellt sicherlich ein schwieriges Unterfangen dar, doch erscheint sie mir unumgänglich. In einer Zeit, in der die Archäologie und andere Altertumswissenschaften ihren Existenzgrund und ihre Bedeutung für die moderne Gesellschaft legitimieren müssen, ist es notwendig, sich zu öffnen und den eigenen Untersuchungsgegenstand auf eine Weise zu präsentieren, die das Interesse eines weiteren Leserkreises über die engen Grenzen des eigenen Faches hinaus wecken kann. Denn die bloßen archäologischen Fakten und die umsichtigen Interpretationsver14

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Einleitung

suche der Archäologen können viel spannender sein als die wilden Theorien der populärwissenschaftlichen Bücher, die in der Regel auf der Suche nach vermeintlichen Sensationen die Intelligenz ihrer Leser unterschätzen. Zum anderen soll dieses Buch den Leser dazu anspornen, Kreta zu besuchen und sich in die eindrucksvolle Naturkulisse der hier geschilderten archäologischen Geschichte zu begeben. Die Lektüre wird unvollständig bleiben, wenn man die minoischen Ruinen und Meisterwerke nicht mit eigenen Augen sieht und auf sich wirken lässt. Nicht in Knossos mit seiner durch die übermäßige touristische Entwicklung verunstalteten Umgebung, sondern in Phaistos, Ajia Triada, Palaikastro, Galatas, Monastiraki, Koumasa, Trypiti, Zominthos, Vathypetro, also dort, wo die minoischen Ruinen in eine atemberaubende und in manchen Fällen sogar noch unberührte Landschaft eingebettet sind, lohnt es sich, für eine Weile innezuhalten und den Ausblick zu genießen. Auch wenn man dadurch den Geheimnissen dieser Gesellschaft nicht näherkommen kann, ist es möglich, etwas von der ›Stimmung‹ einer Kultur zu spüren, die ein sehr harmonisches Verhältnis mit ihrer natürlichen Umwelt entwickelte und diesen Lebensraum auf eine eindrucksvolle Weise kulturell formte.

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Einleitung

Abb. 1: Kretische Landschaft südwestlich von Juchtas.

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»The first question which arose was what name should be given to this civilization and to the race who produced it. Many suggestions were made, but by tacit consent it was left to Dr. Arthur J. Evans as the doyen of Cretan excavators to settle the question …« (Richard Seager)2

Am unteren rechten Rand des monumentalen Gemäldes des Jüngsten Gerichts in der Sixtinischen Kapelle steht inmitten einer Gruppe von Dämonen ein grimmiger, von einer riesigen Schlange umwundener Minos. Inspiriert von Dantes Inferno verewigte Michelangelo in seinem apokalyptischen Bild den legendären kretischen König als gerechten Totenrichter. Ohne allerdings auch nur ein einziges Vorbild für seine Erscheinung gehabt zu haben, gab er ihm das Gesicht des von ihm verhassten Zeremonienmeisters Biagio da Cesena, der sich wiederholt beim Papst über die nackten Körper in Michelangelos Gemälde beschwert hatte. Und obwohl dies nichts anderes als ein Capriccio des genialen italienischen Malers war, hat die vom ihm erschaffene Gestalt auf ideale Weise die Ambivalenz des Minos in der griechischen Überlieferung bildlich festgehalten. Denn der kretische König wurde in verschiedenen Mythen nicht nur als gerechter Richter, sondern auch als blutrünstiger Herrscher dargestellt. In diesen widersprüchlichen Erzählungen verdichteten sich zweifellos diverse Fragmente der griechischen Erinnerung an dieses besondere Inselvolk und seinen Herrscher. Für mehrere Jahrhunderte boten sie die einzigen konkreten Bezugspunkte für Gelehrte, um die prä-historische Vergangenheit Kretas zu rekonstruieren, weil deren materielle Spuren von der kretischen Erde für 2 Seager, Richard B. 1912: Explorations in the Island of Mochlos, Boston – New York, S. 3.

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mehr als drei Jahrtausende unsichtbar bewahrt wurden. Erst mit der Befreiung der Insel von der osmanischen Herrschaft im vorletzten Jahr des 19. Jahrhunderts begann die systematische archäologische Erforschung auf Kreta, die nach und nach diese einzigartige bronzezeitliche Gesellschaft ans Licht brachte. Eine Auseinandersetzung mit der minoischen Kultur darf diese griechischen Mythen nicht ignorieren, sondern muss sich der brennenden Frage stellen, ob sie einen historischen Kern gehabt haben könnten. Generell galt Kreta in der antiken Überlieferung als Wiege von vielen kulturellen und technischen Errungenschaften, von der Gesetzgebung bis zur Viehzucht und Metallverarbeitung. Die Legenden, mit denen die griechischen Dichter, Chronisten und Philosophen die Insel umgaben, haben ihren größten Gott, Zeus, als Ausgangspunkt. Er soll auf Kreta geboren und gestorben sein. Zeus entführte in Gestalt eines weißen Stiers die schöne Königstochter Europa nach Kreta und zeugte dort mit ihr seine Söhne Minos, Rhadamanthys und Sarpedon. Die Informationen über diese und andere kretische Herrscher und ihre Geschlechter sind widersprüchlich. Die mythische Überlieferung kannte zwei Herrschergestalten mit dem Namen Minos: Der erste Herrscher war der Begründer der königlichen Dynastie auf der Insel, der zweite derjenige, der, wie wir in den homerischen Epen erfahren, die Insel unter seine Herrschaft brachte und sein Reich über Kreta hinaus ausdehnte. Sein Enkel Idomeneus hat als knossischer König am Trojanischen Krieg teilgenommen. Aus anderen Quellen, darunter Hesiod und später Diodor, erfahren wir, dass Minos als Abkömmling des göttlichen Zeus und »königlichster unter den sterblichen Königen«3 der erste Stifter einer geordneten Stadt (politeia) und frühester Gesetzgeber war. Minos stieg, wie ein zweiter Moses, auf den Berg Ida (Psiloritis), um sich mit seinem Gott und Vater zu treffen und von ihm belehrt zu werden. Der Ort dieser Begegnung, die alle acht oder neun Jahre stattfand, war die Idäische Zeus-Grotte, der Geburtsort des kretischen Zeus. Sogar der Begründer der Geschichtsforschung, Thukydides, erwähnt Minos in der Einleitung seiner Geschichte des Peloponnesischen Krieges als den ersten Herrscher, der die Piraten aus der Ägäis vertrieben und deren maritime Wege do3 Platon, Minos, 320d.

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miniert hat. Als gerechter Gesetzgeber wurde Minos zu einem der Totenrichter des Hades und in diesem würdevollen Amt hat man ihn oft in der griechischen Kunst dargestellt. Aber die griechische Überlieferung zeichnete zugleich ein ganz anderes Bild von ihm. Er soll ein Tyrann gewesen sein, der den Athenern einen unmenschlichen Tribut auferlegt hat. Alle neun Jahre mussten sie sieben Mädchen und sieben Knaben dem Minotaurus zum Fraß senden. Diese Bestie, halb Mensch, halb Stier, war der widernatürlichen Vereinigung der Königstochter Pasiphae mit einem weißen Stier entsprungen, der ursprünglich dem Poseidon geopfert werden sollte. Schauplatz dieses tragischen Menschenopfers war das Labyrinth, das in Minos’ Auftrag vom genialen Erfinder und Künstler Daidalos erbaut worden war. Erst dem athenischen Heroen Theseus gelang es, das Ungeheuer zu töten, während die in ihn verliebte Prinzessin Ariadne ihm einen Faden schenkte, durch den er den Weg aus dem Labyrinth fand. Die Frage nach dem eventuellen historischen Kern dieser Mythen, die ein recht widersprüchliches Bild des kretischen Herrschers zeichnen, ist mit zwei Problemen behaftet. Erstens klafft zwischen dem Ende der minoischen Kultur und der frühesten (schriftlichen) Fixierung der griechischen Mythen eine zeitliche Lücke von mehreren Jahrhunderten. Es gibt dabei keine Hinweise auf einen ununterbrochenen Erinnerungsstrom. Man muss hingegen mit erheblichen Brüchen, Rissen und Verzerrungen der Erinnerung rechnen. Zweitens sind diese Mythen, zumindest in der Form, in der sie uns überliefert sind, nicht auf Kreta selbst, sondern in den Zentren des griechischen Festlands entstanden und weitertradiert worden. Der Blick, den sie uns in die Geschichte der Minoer ermöglichen, wie Sokrates selbst im (pseudo-)platonischen Dialog Minos zugibt, ist daher ein Blick von außen, die Perspektive einer anderen Kultur. Ein solcher Blickwinkel könnte die sehr ambivalente Darstellung des Minos erklären. Man braucht nur an die zwiespältige Einstellung von modernen Völkern gegenüber Großmächten zu denken, welche zugleich bewundert und gehasst werden. Vielleicht besaßen die widersprüchlichen Mythen über Minos doch einen historischen Kern, indem sie die ferne Erinnerung der vermutlich von der minoischen Übermacht unterdrückten griechischen Bevölkerungsgruppen bewahrten. Nach über 100 Jahren intensiver archäologischer Forschung 21

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sind wir nun in der Lage, diese Frage sehr nüchtern anzugehen, indem wir die Fakten zur minoischen materiellen Kultur mit dem Stoff der mythischen Erzählungen vergleichen. Packen wir dieses Problem vom Kopf her an und beginnen wir mit einem kurzen Abriss der Forschungsgeschichte. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der kretischen Vergangenheit in der Neuzeit wurde durch Expeditionen oder Reisen von Gesandten und Gelehrten eingeleitet. Gebildete Europäer entdeckten bei ihren Wanderungen auf der Insel reiche materielle Überreste vergangener Perioden, die an fast jeder Ecke der kretischen Landschaft an die Oberfläche ragten. Die meisten Reisenden konnten der Versuchung nicht widerstehen, die sichtbaren Ruinen mit einem der in der mythischen oder historischen Überlieferung erwähnten Orte in Beziehung zu setzen. Die Berichte der Italiener Cristoforo Buondelmonti, der Kreta 1414 und 1415 besuchte, und Onorio Belli (1583–1599), des Niederländers Olfert Dapper (1688), der wohlgemerkt die Insel nie betreten hat, der Franzosen Joseph Pitton de Tournefort (1700), Philippe de Bonneval und Mathieu Dumas (1783) und Victor Raulin (1845), des Österreichers Franz Wilhelm Sieber (1817), der Engländer Richard Pockocke (1739), Robert Pashley (1834) und Thomas A. B. Spratt (1851–1853) und vieler anderer sind sehr hilfreiche Bestandsaufnahmen der kretischen Geologie, Geografie, Fauna und Flora, Denkmäler, Bevölkerung und Sitten, die den Archäologen auch heute noch eine sehr wertvolle Informationsquelle bieten. Diese Berichte haben allerdings nichts zur Erhellung der bronzezeitlichen Vergangenheit der Insel beitragen können. Bereits im späten 18. Jahrhundert beklagte sich William Mitford in seiner Geschichte Griechenlands, dass uns die Materialien zu einer vollständigen Geschichte Kretas fehlen. Mit dieser Beobachtung leitete Karl Hoeck 1823 sein Buch über Kreta ein, in dem er den ersten systematischen Versuch unternahm, auf der Grundlage von Mythen und historischen Texten die Ära des Minos zu rekonstruieren. In der Mitte des 19. Jahrhunderts, also einige Jahrzehnte vor dem Beginn der ersten archäologischen Grabungen auf der Insel, erblickte die moderne Welt zum ersten Mal das Antlitz eines Minoers und zwar nicht auf Kreta, sondern in Ägypten. In den Privatgräbern von wichtigen Beamten der 18. Dynastie, die allmählich in den Nekropolen von 22

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Theben-West ans Licht kamen, waren Gesandte eines Fremdvolkes zu sehen, die, mit sehr eleganter Frisur und Kleidung versehen, die kostbare Gaben als diplomatische Geschenke zum ägyptischen König brachten. Ohne sichere Anhaltspunkte gehabt zu haben, da zu diesem Zeitpunkt noch keine materiellen Überreste der minoischen Kultur bekannt waren, identifizierte der Ägyptologe Heinrich Brugsch diese Gesandten bereits im Jahre 1858 – und zwar korrekt – mit der bronzezeitlichen Kultur Kretas: eine geniale Pionierleistung. Auf Kreta selbst begann die archäologische Erforschung der minoischen Kultur bereits vor der Befreiung der Insel aus der osmanischen Herrschaft. Nach einer bemerkenswerten Fügung des Schicksals trug der erste Entdecker des minoischen Palastes von Knossos den Namen des mythischen Königs, der hier residiert haben soll: Es war der gebildete kretische Kaufmann Minos Kalokairinos, der 1878 oder 1879 die erste – und sehr kurze – Grabungskampagne auf dem Hügel Kephala durchführte. Dort legte er zwei Magazinräume des Palastes frei, die mit großen Vorratsgefäßen gefüllt waren. Nach einem Versuch von Heinrich Schliemann, eine Grabungskonzession für Knossos zu erlangen, die an den hohen finanziellen Forderungen der türkischen Behörden scheiterte, gelang es dem Archäologen Arthur Evans, das Gelände von Kephala zu erwerben. Evans, der in den vorangegangenen Jahren die Insel auf der Suche nach Zeugnissen uralter Schriften durchkämmt hatte, war – wie vor ihm auch Kalokairinos – überzeugt, dass an dieser Stelle der Sitz des legendären kretischen Königs Minos lag. Die systematischen Grabungen in Knossos unter Evans’ Leitung begannen am 23. März 1900. Binnen sechs Jahren wurden der gesamte Palastkomplex und mehrere Bauten in dessen unmittelbarer Umgebung freigelegt. Die meisten Räume des Palastes enthielten keine kostbaren Gegenstände, weil sie offensichtlich vor der endgültigen Aufgabe des Gebäudes entfernt worden waren. Dennoch reichten die Architektur und luxuriöse Ausstattung dieser Megastruktur allein, um Archäologen und Laien gleichermaßen in Staunen zu versetzen. Vor den Augen der westlichen Welt entfaltete sich eine antike Kultur, die in ihrer Verfeinerung, Natur- und Lebensfreude fast wie eine utopische Welt wirkte, eine Welt, die in scharfem Kontrast zu der von Krisen erschütterten Welt des beginnenden 20. Jahrhunderts stand. In den darauffolgenden 23

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Jahren haben griechische, britische, italienische, französische und amerikanische Archäologen in verschiedenen Regionen der Insel weitere minoische Paläste sowie Villen, Siedlungen, Nekropolen und Heiligtümer entdeckt. Diese Pioniere kamen vor allem aus Großnationen mit einem starken Interesse an der Insel, die in einem geopolitischen Spannungsbereich lag. Zu diesem internationalen Kreis der ersten Archäologen, die auf der Insel tätig waren, gehörten neben Arthur Evans die Griechen Iosif Hatzidakis und Stephanos Xanthoudides, die Italiener Federico Halbherr, Roberto Paribeni, Enrico Stefani und Luigi Pernier, die Briten John Myres, David George Hogarth, Robert Carr Bosanquet und Richard MacGillivray Dawkins, der Amerikaner Richard Seager und, last but not least, die Amerikanerinnen Harriet Boyd-Hawes und Edith Hall, welche bedeutende Grabungsprojekte geleitet und publiziert haben und zwar in einer Zeit, in der Frauen eine derart verantwortungsvolle Rolle meist verwehrt blieb. Ein besonderer Glücksfall in der Erforschung der minoischen Kultur war ferner die Tatsache, dass die intensiven archäologischen Untersuchungen erst nach dem Ende der osmanischen Herrschaft begannen. Bereits vor der politischen Autonomie Kretas und der späteren Vereinigung mit Griechenland war die Heraklion Gesellschaft zur Förderung von Bildung gegründet worden (1878), deren primäres Ziel in dem Studium und der Erhaltung des kretischen kulturellen Erbes bestand. Dadurch blieben nahezu alle Funde der großen europäischen und amerikanischen Grabungen weiterhin auf der Insel. Im Gegensatz zum bitteren Schicksal des Parthenonfrieses, des Pergamonaltars oder der Nofretete-Büste musste keines der Meisterwerke der minoischen Kultur auf legalen – oder scheinbar legalen – Wegen seine Heimat verlassen. Dies ist größtenteils den heroischen Bemühungen der Mitglieder dieser Gesellschaft zu verdanken. Georges Clemenceau, der 1904, vor seiner Amtszeit als französischer Premierminister, Kreta besuchte, um die kretischen Altertümer und das kretische Volk zu studieren, bezeichnete ihren Vorsitzenden, Iosif Hatzidakis, sehr treffend als die »wütende Archäologie« (l’archéologie enragée)4. Durch diese kämpferische Haltung einer kleinen Gruppe von begeisterten Pionieren 4 Hatzidakis, Iosif 1931: Ιστορία του Κρητικού Μουσείου και των αρχαιολογικών ερευνών εν Κρήτη, Athen, S. 9, Anm. 1.

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begannen allmählich die ersten spektakulären Funde, welche die kretische Erde freigab, die Magazine des neugegründeten Heraklion-Museums zu füllen, das sich sehr schnell als viel zu klein erwies, um den unaufhörlichen Strom an minoischen Kunstwerken zu beherbergen. Wenige Jahre nach dem Ende der Grabungen im Palast von Knossos und während weitere Neufunde von anderen minoischen Fundorten von der westlichen Welt mit Begeisterung aufgenommen wurden, begann Evans mit seiner Rekonstruktionsarbeit, der er einen großen Teil seines Ruhmes verdankt. Diese Rekonstruktion war eine doppelte: eine bauliche und eine gedankliche. Evans entschied sich, die freigelegten baulichen Überreste des Palastes, der überwiegend nur in seinen Erdund Untergeschossen erhalten war, mit Stahlbeton, dem neuen Wundermaterial seiner Zeit, zu rekonstruieren. Bei der Realisierung dieses Plans gingen er und seine Mitarbeiter zugegebenermaßen sehr rigoros vor. Sie ergänzten und restaurierten nicht nur, sondern bauten teilweise den Palast neu. Säulen, Fassaden, Treppen wurden anhand des Vorbilds von Architekturdarstellungen auf der minoischen Bausubstanz errichtet und haben sie stellenweise völlig überdeckt. Was wir heute sehen, ist eigentlich nicht nur Minos’, sondern auch Evans’ Palast, welcher in vielen Fällen keinen architektonischen Tatsachen, sondern den Vorstellungen dieser großen Forscherpersönlichkeit und ihrer Zeit entspricht. Die moderne Forschung, die generell Evans’ Rekonstruktionen verurteilt, übersieht, dass die Kritik an diesem Vorhaben bereits in der Zeit seiner Entstehung und Durchführung begann, da Evans nicht in einer britischen Kolonie, sondern in einem unabhängigen Staat mit einer strengen Gesetzgebung zum kulturellen Erbe agierte. Eine nähere Auseinandersetzung mit der Rolle der griechischen Archäologen und Behörden bei diesem spannenden Kapitel der minoischen Archäologie, die seitdem ausgeblieben ist, würde viele Facetten des knossischen Restaurationsprojektes, seiner Hintergründe und seiner unmittelbaren Rezeption beleuchten. Die zweite Rekonstruktion, die Evans für die minoische Archäologie unsterblich machte, war die gedankliche. Nach zwanzigjähriger Arbeit vollendete er sein vierbändiges Monumentalwerk The Palace of Minos at Knossos. Auf über 2800 Seiten hat er nicht nur die Ergebnisse seiner Arbeiten in Knossos vorgelegt, sondern eine Enzyklopädie über das Wer25

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den und Wesen der minoischen Kultur geschrieben. Alle modernen ›Mythen‹ über die Minoer haben ihren Ursprung in dieser, in Umfang und Einfluss unübertroffenen Arbeit, die man bis in die 1980er-Jahre nicht ohne Grund als ›Bibel der minoischen Archäologie‹ bezeichnete. Sie stellt allerdings keine echte Publikation des Palastes dar, wie die kurz darauf erschienene, nüchterne Studie der italienischen Archäologen Luigi Pernier und Luisa Banti über Phaistos, sondern eine Gesamtvision der minoischen Kultur, in der sich archäologische Fakten mit kühnen Vermutungen, aber auch mit wilden und unhaltbaren Hypothesen vermischten. Diese umfassende Synthese der minoischen Kultur mit den unzähligen darin enthaltenen Deutungen, den Begriffen, die Evans eingeführt hat, und nicht zuletzt seinem Chronologie-System haben alle nachfolgenden Generationen von Archäologen vor eine riesige Herausforderung gestellt und prägen noch immer ganz entscheidend das Profil dieser archäologischen Teildisziplin. Es gibt vielleicht kein anderes altertumswissenschaftliches Fach, in dem die Gestalt und das Werk des Begründers in aktuellen Debatten noch immer so präsent sind, wie die minoische Archäologie. In The Palace of Minos erzählt Evans die Geschichte einer Inselgesellschaft, die, begünstigt durch ihre geografische Lage zwischen drei Kontinenten, den Reichtum und die Vielfalt ihrer natürlichen Ressourcen und nicht zuletzt durch die Kreativität ihrer Menschen im frühen zweiten Jahrtausend v. Chr., den Sprung zu einer Hochkultur schaffte: Auf einer vergleichsweise kleinen territorialen Basis hat man nach einem eigenständigen Modell Paläste monumentaler Dimensionen errichtet, mehrere Schriftsysteme entwickelt, einen komplexen Verwaltungsapparat aufgebaut und viele Zweige des Kunsthandwerks zu einer erstaunlichen Blüte gebracht. Im Palast von Knossos residierten Priesterkönige, die ihre politische Legitimation aus der sakralen Dimension ihrer Herrschaft schöpften. Die Minoer sollen mit ihrer Flotte den größten Teil der Ägäis beherrscht und Kontakte mit den Nachbarländern im östlichen Mittelmeer gepflegt haben, wo sie in Diplomatie und Handel als ebenbürtige Partner der großen orientalischen Reiche aufgetreten sind. An der Spitze ihres Pantheons stand eine große Göttin, die von einem jugendlichen Gott begleitet war, welcher aber bloß eine Nebenrolle spielte. Die Frauen genossen eine ganz besondere soziale Stellung und scheinen mindestens ebenso wichtig wie 26

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die Männer gewesen zu sein. Ein sehr markanter Aspekt dieser minoischen Erfolgsgeschichte war unter anderem das kosmopolitische Flair dieser Hochkultur, das sich in ihrer lichtdurchfluteten Architektur, den feinen Erzeugnissen des Kunsthandwerks und den friedvollen Themen ihrer Bilderwelt manifestierte.

Abb. 2: Siegelabdruck aus dem Palast von Knossos mit der Darstellung einer weiblichen Gottheit (Mother of the Mountain).

Dies waren die Hauptkomponenten von Evans’ Vorstellungen über das minoische Kreta. Auch wenn die rezente Forschung mit einer gewissen Vehemenz versucht, Evans als einen Gelehrten darzustellen, dessen Ideen viel zu stark seinem sozialen Hintergrund und konkreter dem viktorianischen England geschuldet waren, ist die Realität wesentlich komplexer, wenn man tatsächlich seine monumentale Publikation liest – was man über einige seiner Kritiker nicht mit Sicherheit behaupten kann. Denn hier tritt vor unsere Augen ein belesener Archäologe, welcher der fragmentarischen Überlieferung mithilfe von orientalischen 27

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Vorstellungen, ja sogar von Vorbildern der italienischen Renaissance, Sprache verleihen wollte. Seine Vermutung einer klaren Segregation der Geschlechter im Palast von Knossos, die Rekonstruktion eines piano nobile (Beletage) im Obergeschoss des Ostflügels desselben Gebäudes und viele andere Hypothesen haben nichts mit seinem britischen Hintergrund zu tun. Dieses aus diversen persönlichen Erfahrungen, Lektüren und Recherchen gespeiste Bild der Minoer, das Evans oft ohne wissenschaftliche Stringenz kompiliert hat, ist in den meisten älteren Fachpublikationen und aktuellen populärwissenschaftlichen Büchern reproduziert worden. Die brennende Frage ist allerdings, was von diesem modernen Mythos tatsächlich wahr ist – einem Mythos, der auf den Hypothesen eines Forschers, seiner Zeitgenossen und seiner unmittelbaren Nachfolger aufbaut. Haben die darauffolgenden Jahrzehnte intensivster archäologischer Forschung auf Kreta dieses gedankliche Konstrukt verändert oder nicht? War Evans so genial, dass er das meiste richtig erfassen und die großen Lücken in der Überlieferung mit plausiblen Vermutungen füllen konnte? Was darf man letztendlich von dieser traditionellen Rekonstruktion der minoischen Kultur heute noch glauben? Bevor man versucht, diese Frage zu beantworten, ist es sinnvoll, einen näheren Blick auf die Geschichte der minoischen Archäologie nach der Zeit der Pioniere zu werfen. Die ersten Jahrzehnte der Erforschung des minoischen Kreta bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges sind, wie bereits betont, ganz eindeutig von Evans’ Gestalt und Wirken dominiert. Neben ihm und seinen bereits erwähnten Kollegen muss man die wichtigsten Persönlichkeiten der zweiten Forschergeneration zumindest namentlich erwähnen, weil sie mit ihrem Wirken vor und nach dem Zweiten Weltkrieg die Entwicklung dieser Disziplin im 20. Jahrhundert entscheidend geprägt haben: die Griechen Spyridon Marinatos und Nikolaos Platon, die Franzosen Fernand Chapoutier, Jean Charbonneaux und Pierre Demargne, die Italiener Doro Levi und Luisa Banti, der Belgier Henri van Effenterre und schließlich der Brite John Pendlebury, jener großartige Archäologe, Sportler und Abenteurer, der über mehrere Jahre die Insel zu Fuß durchstreifte, Grabungen auf Kreta und in Ägypten durchführte und den ersten systematischen Überblick über die minoische Kultur publizierte, bevor er 1941 mit 36 Jahren beim Kampf um Kreta von den Deutschen 28

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hingerichtet wurde. Deutsche Archäologen, wie Friedrich Matz, haben wesentliche Beiträge zum Verständnis der minoischen materiellen Kultur geleistet, ohne allerdings – wegen der politischen ›Großwetterlage‹ – je die Gelegenheit gehabt zu haben, selbst auf der Insel durch Grabungen aktiv zu sein. Nur während der deutschen Besatzung der Insel (1941–1944) haben sie kleinere Grabungen an verschiedenen Orten durchgeführt. Nach dem Zweiten Weltkrieg und während die Insel und ganz Griechenland versuchten, die tiefen Wunden zu heilen, welche die deutsche Besatzung und der anschließende Bürgerkrieg hinterlassen hatten, wurde allmählich die systematische archäologische Erforschung auf Kreta wieder aufgenommen. Neben den griechischen Archäologen arbeiteten weiterhin sehr intensiv britische, italienische und französische Kollegen, die nicht nur Grabungen, sondern auch Oberflächenbegehungen in verschiedenen Regionen der Insel durchführten. In den ersten drei Jahrzehnten nach Evans’ Tod (1941) haben die neuen Funde und Forschungen sein Theoriegebäude nicht radikal verändern können. Die beiden entscheidenden Wendepunkte in der Entwicklung der minoischen Archäologie kamen erst später. Der erste war 1967 die Entdeckung und systematische Untersuchung der Siedlung von Akrotiri auf Thera (Santorin), die gegen Mitte des 16. Jahrhunderts v. Chr. von einer verheerenden Vulkaneruption verschüttet worden war. Diese Entdeckung verdanken wir einer der großen Gestalten der minoischen Archäologie, Spyridon Marinatos, der lange Zeit auf Kreta tätig war und bereits vor dem Zweiten Weltkrieg vermutete, dass die Vulkaneruption von Thera ein einschneidendes Ereignis in der Geschichte der minoischen Kultur gewesen sein musste. Die Debatte über den genauen Zeitpunkt der Vulkaneruption im Rahmen der minoischen absoluten Chronologie und vor allem über ihre Auswirkungen auf die minoische Palastkultur dauert bis heute an. Der zweite wichtige Wendepunkt war die Bewegung der ›New Archaeology‹ (seit den 1960er-Jahren), welche die archäologischen Disziplinen revolutionierte und auch die Methoden und Ziele der minoischen Archäologie radikal veränderte. Die wichtigste Prämisse dieses Forschungsansatzes war, dass man sich durch Anleihen aus anderen Disziplinen, wie z. B. der Soziologie, Ethnologie und Geschichte, das Ziel setzte, neue, möglichst objektive und wissenschaftliche Methoden für die Interpretation von archäolo29

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gischen Funden und Befunden zu entwickeln. Diese neuen Methoden sollten die einfachen, erfahrungsbezogenen Argumente vergangener Archäologengenerationen durch ein gemeinsames methodisches Instrumentarium ersetzen, das eine solide analytische Grundlage für das Fach formen konnte. Diese Bewegung löste eine sehr intensiv geführte Theoriediskussion aus, die auch die Schwächen des eigenen Ansatzes offenbarte und zu einer Weiterentwicklung, Erweiterung und Verbesserung ihrer ursprünglichen Prämissen führte. Nach einigen Jahrzehnten von Diskursen zur archäologischen Theorie und Methode kann man heute objektiv feststellen, dass das Profil der Archäologie während dieser Zeit eine entscheidende Umwandlung durchgemacht hat. Die Auswirkung dieses Veränderungsprozesses auf die einzelnen archäologischen Disziplinen ist allerdings unterschiedlich ausgefallen. Die Klassische Archäologie, Vorderasiatische Archäologie und Ägyptologie haben sich diesem radikalen Richtungswechsel eher zögernd angenähert. Offensichtlich lag der Grund dieser langsameren Reaktion in der Fülle von materiellen, bildlichen und epigrafischen Zeugnissen in diesen Kulturen, die noch immer nicht leicht zu bewältigen sind. Die minoische Archäologie und viele andere prähistorische Archäologien haben allerdings die Notwendigkeit einer intensiven Auseinandersetzung mit theoretischen Erklärungsmodellen rasch erkannt und sie für die Interpretation von Funden und Befunden auf vielfältige Weise angewendet. Der besondere Beitrag dieser Bewegung für die Erforschung des minoischen Kreta besteht vor allem darin, dass sie den auf der Insel tätigen Archäologen geholfen hat, sich von vielen traditionellen Ansichten oder modernen Konstrukten zu befreien und die dort ansässige Kultur mit anderen Augen zu sehen. Nicht Homer und das antike Griechenland, sondern andere vormoderne Kulturen wurden nun – zumindest für einen Teil der Fachgemeinschaft – die wichtigsten Referenzpunkte für die Auswertung und vor allem die Interpretation der archäologischen Daten. Zahlreiche neue Themen, Herangehensweisen und Erklärungsmodelle haben die Debatten über die großen Fragen zur minoischen Kultur wesentlich belebt. Die Bedeutung dieser neuen Methoden und Theorien wird ersichtlich, wenn man bedenkt, dass sie mittlerweile als Kern der akademischen Ausbildung von Studierenden an britischen und zum Teil auch an nordamerikanischen Universitäten betrachtet werden. Eine wesentli31

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che Rolle bei der dynamischen Entwicklung der minoischen Archäologie in den letzten Jahrzehnten hat schließlich das Institute for Aegean Prehistory (INSTAP) gespielt, das von Malcolm Wiener gegründet wurde. INSTAP hat durch die jährliche großzügige Finanzierung von unzähligen Grabungen, Oberflächenbegehungen und Forschungsprojekten maßgeblich zur Vielfalt, Dynamik und internationalen Sichtbarkeit dieser archäologischen Disziplin beigetragen. Wo stehen wir heute nach über 120 Jahren intensiver Forschungen auf und über Kreta? Die systematische archäologische Arbeit auf der Insel und auch außerhalb Kretas hat eine große Fülle an Zeugnissen der materiellen Kultur der Minoer geliefert: Neue imposante Gebäude, darunter auch neue Paläste, kamen ans Licht. Das Datierungssystem wurde seit Evans’ Zeit wesentlich verfeinert. Minoisch aussehende Fresken wurden außerhalb Kretas, ja sogar außerhalb der Ägäis (Ägypten) entdeckt. Man kann heute von einer weitaus günstigeren Überlieferungslage als zu Evans’ Zeit ausgehen. Und dennoch kann man immer noch die großen offenen Fragen zur minoischen Kultur nicht leicht beantworten. Die moderne archäologische Forschung kann zwar Zweifel an den alten Thesen äußern, diese jedoch nur selten durch plausiblere Modelle ersetzen. Auch in der Zukunft wird es den Archäologen nur schwer gelingen, die Minoer wirklich zu verstehen. Solange wir keine umfangreichen, lesbaren schriftlichen Quellen haben, ist es unmöglich, in die Mentalität und die intellektuellen Leistungen dieser Kultur einzudringen. Auch wenn die minoischen Schriften (›Kretische Hieroglyphen‹ und Linear A) irgendwann entziffert werden, ist es wahrscheinlicher, dass uns die spärlichen erhaltenen Texte weniger Antworten, als vielmehr neue schwierige Fragen mit auf den Weg geben werden. Die oben erwähnte intellektuelle Bewegung der ›New Archaeology‹ und konkreter die neue Fülle an Interpretationsmodellen sowie die Bereitschaft für interdisziplinäre Zusammenarbeit haben Themen, Methoden und Ziele der minoischen Archäologie neu definiert. Diese archäologische Disziplin begreift sich nun stärker nicht als Kunst-, sondern als Kulturgeschichte der Antike. Wir interessieren uns nicht mehr nur für die typologischen, stilistischen und chronologischen Aspekte von Bauresten, Bildern und Artefakten, sondern auch für die Menschen, die sie geschaffen, wahrgenommen und benutzt haben. Wir betrachten die ma32

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teriellen Spuren dieser Kultur nicht als Selbstzweck – in anderen Worten: um ihrer selbst willen –, sondern als Mittel zum Zweck. Und dieser Zweck kann kein anderer sein, als kulturelle Praktiken zu rekonstruieren. Wir bemühen uns, eine konkretere Vorstellung von den Wahrnehmungs- und Verwendungskontexten zu gewinnen, in denen gebaute Räume, Bilder und Artefakte ihren konkreten sozialen Sinn erfüllten. Wir streben nach einer Rekonstruktion minoischer Realitäten, die nicht nur die Bereiche der traditionellen Forschung, sondern auch neue Themenfelder erfassen. Es geht nicht nur um soziale und politische Strukturen, Architektur, Kunst, Handwerk, Religion, Administration, Außenbeziehungen etc., sondern auch um Alltag, wirtschaftliche und symbolische Strategien, kulturelle Identität von Individuen und Kollektiven, Konsum, Wahrnehmung von Natur- und Tierwelt, Architektur, Menschen und Dinge, Materialität der Bilder und Artefakte, soziale Ordnungen von Räumen und Dingen, Feste, Geschlechter sowie ihre sozialen Konstruktionen und Rollen, Körper und Sinne. Bei all diesen Bemühungen soll unser Hauptaugenmerk stets nicht auf Prozessen und abstrakten Konzepten, sondern auf den Akteuren selbst liegen, den minoischen Menschen, denen alle materiellen Spuren dieser Kultur ihren Existenzgrund verdanken. Die neuen Konzepte, Methoden und Themen dürfen die traditionellen Fragestellungen nicht verdrängen, sondern nur erweitern und dadurch ein möglichst differenziertes und umfassendes Bild von minoischen Realitäten bieten. Denn die großen Fragen, welche die Forscher von Beginn an beschäftigten, sind noch unbeantwortet und stellen uns weiterhin vor große wissenschaftliche Herausforderungen: Wie und wann entstanden und endeten die minoischen Paläste? Was war ihre eigentliche Funktion? Wie wirkte sich der Vulkanausbruch von Thera auf die kulturelle Entwicklung Kretas aus? Was für eine Sprache oder Sprachen stecken hinter den minoischen Schriftsystemen? Wie lassen sich politische und soziale Strukturen rekonstruieren? Durch neue spektakuläre Entdeckungen und durch die geduldige Arbeit von Archäologen auf dem Feld, in den Museumsmagazinen und am Schreibtisch entstehen immer mehr neue Fragen. Das Bild, das wir von der minoischen Kultur haben, wird dabei eigentlich nicht klarer, sondern immer komplexer. Evans’ evolutionistisches Denken und kon33

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kreter die Vorstellung von einem Prozess der ständigen Entwicklung bis zum Ende einer Kultur bildet sicherlich eine allzu vereinfachte Darstellung der historischen Realität, in der Stabilität und Fortschritt mit Brüchen und Rezessionen alternieren. In den vergangenen Jahrzehnten ist die Geschichte der minoischen Kultur mit einem viel zu starken Fokus auf Knossos behandelt worden. Obwohl dieses Zentrum tatsächlich den Kern dessen bildet, was wir als minoische Kultur fassen und verstehen, dürfen wir keinesfalls vergessen, dass wir uns nicht mit der Geschichte eines einzelnen Ortes, sondern der gesamten Insel auseinandersetzen müssen. Jeder Blick auf das minoische Kreta macht notwendig, dass man nicht nur eine, sondern mehrere lokale Geschichten erzählt, die je nach Periode konvergieren oder divergieren können und als Ganzes die ›minoische Kultur‹ ausmachen. Die Grabungen der letzten Jahrzehnte haben mehrere Gebäude in Archanes, Petras, Galatas und vielleicht auch Pretoria/Damantri freigelegt, die man als Paläste bezeichnen könnte. Ein weiterer Palast wird in Chania vermutet. Die Vielzahl an Palastbauten und das Fehlen von eindeutigen Herrscherdarstellungen gaben Anlass zu einer neuen Deutung dieser monumentalen Strukturen, die von der traditionellen Vorstellung von Königen und königlichen Residenzen deutlich Abstand genommen hat. Trotz der beiden nicht leicht zu vereinbarenden Positionen trägt die Debatte, die dadurch entfacht wurde, wesentlich zu einer Schärfung unseres analytischen Blickes und letztendlich zu einem besseren Verständnis der sozialen Strukturen dieser Kultur bei. Diese und andere Fragen werden uns in den nächsten Jahrzehnten sicherlich weiterhin begleiten. Die minoische Archäologie ist bestens gewappnet, um solchen großen Herausforderungen zu begegnen. Das traditionelle archäologische ›Handwerk‹ wurde in den letzten Jahrzehnten durch neue Dokumentationstechniken und Methoden erweitert und bietet uns heute ein sehr vielfältiges Instrumentarium. Neben den zahlreichen kulturtheoretischen Konzepten, die die minoische Archäologie aus anderen geisteswissenschaftlichen Disziplinen übernahm, hat sie sehr intensiv mit den Naturwissenschaften zusammengearbeitet. Die verschiedenen Methoden zur absoluten Chronologie (Radiokarbonmethode, Dendrochronologie, Eiskernanalyse), die petrografischen, spektroskopischen und chemischen Analysen zur Bestimmung der Zusam34

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mensetzung und Herkunft von verschiedenen Materialien, die Anwendung von elektronischen Mikroskopen, diverse Methoden für die Untersuchung von menschlichen und tierischen Knochen sowie pflanzlichen Überresten und schließlich geologische und geografische Methoden haben der minoischen Archäologie, wie auch vielen anderen archäologischen Disziplinen, ein ganz neues Profil und neue Möglichkeiten gegeben. Hinzu kamen in den letzten Jahren die digitalen Dokumentationsund Visualisierungstechniken (GIS-Systeme, 3D-Laserscanner, Totalstationen etc.), welche die archäologische Arbeit revolutioniert haben. Dadurch ist es noch deutlicher geworden, dass der Archäologe kein Schatzsucher, sondern ein ›Forensiker der Antike‹ ist. Sein Ziel ist es nicht, Objekte zu finden und zu bergen, sondern antike ›Tatorte‹ mit einem eindrucksvollen Aufgebot an archäologischen, digitalen und naturwissenschaftlichen Methoden zu sichern und genauestens zu dokumentieren, damit er Handlungen, Lebensweisen und Prozesse rekonstruieren kann. Vor uns steht eine sehr spannende Zeit. Die kretische Erde, die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts den suchenden Archäologen mit spektakulären Entdeckungen belohnte, hat immer noch sehr viel zu bieten. Das zeigen die überraschenden Funde der letzten Jahre, die weiterhin Staunen hervorrufen. Dabei versprechen die neuen Methoden und Herangehensweisen, die ständig weiterentwickelt werden, die historische Aussagekraft von alten und neuen Funden voll auszuschöpfen. Das Wissensabenteuer geht weiter!

Literatur Brown, Ann 1983: Arthur Evans and the Palace of Minos, Oxford Evans, Joan 1943: Time and Chance. The Story of Arthur Evans and his Forebears, London/New York, S. 309–396 Hatzidakis, Iosif 1931: Ιστορία του Κρητικού Μουσείου και των αρχαιολογικών ερευνών εν Κρήτη, Athen Horwitz, Sylvia 1981: The Find of a Lifetime: Sir Arthur Evans and the Discovery of Knossos, New York

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A. Grundzüge: Forscher, Raum und Zeit

Huxley, Davina (Hg.) 2000: Cretan Quests. British Explorers, Excavators and Historians, London Huxley, George 1968: Minoans in Greek Sources. A Lecture, Belfast Karadimas, Nektarios 2015: The Unknown Past of Minoan Archaeology. From the Renaissance until the Arrival of Sir Arthur Evans in Crete, in: Cappel, Sarah u. a. (Hgg.): Minoan Archaeology: Perspectives for the 21st Century, Louvain-la-Neuve, S. 3–15 Karo, Georg 1959: Greifen am Thron. Erinnerungen an Knossos, Baden-Baden McDonald, William/Thomas, Carol 1990: Progress into the Past. The Discovery of Mycenaean Civilization, 2. Auflage, Bloomington – Indianapolis Marinatos, Nanno 2015: Sir Arthur Evans and Minoan Crete. Creating the Vision of Knossos, London/New York Muhly, James/Sikla, Evangelia (Hgg.) 2000: One Hundred Years of American Archaeological Work on Crete, Athens Niemeier, Wolf-Dietrich 1995: Die Utopie eines verlorenen Paradieses: Die Minoische Kultur als neuzeitliche Mythenschöpfung, in: Stupperich, Reinhard (Hg.) 1995: Lebendige Antike. Rezeptionen der Antike in Politik, Kunst und Wissenschaft der Neuzeit, Mannheim, S. 195–206 Scuola Archeologica Italiana di Atene (hg. Institution) 1984: Creta Antica. Cento anni di archeologia italiana (1884–1984), Rom

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Das chronologische Gerüst

»Study problems, not periods.« (Lord Acton)5

Der wichtigste Ausgangspunkt der archäologischen Arbeit besteht in der Aufgabe, die vergangene Zeit in Perioden zu gliedern, welchen man dann die materiellen Zeugnisse einer antiken Kultur systematisch zuweisen und sie dadurch datieren kann. Je präziser dieses System der aufeinanderfolgenden Phasen (relative Chronologie) ist, desto genauer wird die Rekonstruktion des Entwicklungsablaufs einer Kultur. Die relative Chronologie des minoischen Kreta geht auf Sir Arthur Evans zurück, der Anfang des 20. Jahrhunderts ein dreigeteiltes ChronologieSystem für die Entwicklung dieser Kultur einführte. Die drei Hauptperioden (Früh-, Mittel- und Spätminoikum) entsprechen mehr oder weniger den drei wichtigsten historischen Perioden der ägyptischen Kultur (Altes, Mittleres und Neues Reich). Sie sind in jeweils drei Phasen unterteilt, die mit den römischen Zahlen I, II und III bezeichnet werden. Die Grundlage für die Definition der Perioden und Phasen bot, wie es bei den meisten Chronologie-Systemen prähistorischer Kulturen der Fall ist, die Keramik. Sie ist die einzige archäologische Gattung, anhand der man den Lauf der Zeit aufgrund ihrer Fülle und des ständigen Wechsels in Tonart, Form und Dekor in feinere Zeitabschnitte gliedern kann. Das Evans’sche System wurde später für die relative Datierung der Kulturentwicklung in den beiden anderen ägäischen Regionen übernommen (griechisches Festland und Kykladen). Trotz seines sehr 5 Acton, John Emerich Edward Dalberg 1906: Inaugural Lecture on the Study of History. Delivered at Cambridge, June 1895, in: Figgis, John Neville/Vere Laurence, Reginald (Hgg.): John Emerich Edward Dalberg, Lord Acton, Lectures on Modern History, London, S. 1–31.

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A. Grundzüge: Forscher, Raum und Zeit

schablonenhaften Charakters, den bereits Evans selbst erkannt hatte, ist es bis heute gültig geblieben, obwohl man schnell festgestellt hat, dass die Etappen der minoischen Kulturentwicklung, die sicherlich nicht symmetrisch zueinander verliefen, nicht so einfach an die starre, zweifache Dreiteilung dieser Chronologie angepasst werden konnten. Die nachfolgenden Archäologengenerationen haben lediglich versucht, ›kosmetische‹ Korrekturen an Evans’ Chronologie-Gebäude vorzunehmen, indem sie die neun Phasen seines Systems je nach Bedarf in zwei oder drei Subphasen unterteilten (z. B. Mittelminoisch II A und B oder Spätminoisch III A, III B, III C). In einigen Fällen wurden nach intensiven Untersuchungen der relevanten Keramikgruppen auch diese Subphasen in kleineren Zeitabschnitten gespalten (z. B. Spätminoisch III A:1 und III A:2). Dadurch hat man ein etwas präziseres chronologisches Instrument mit Subphasen erhalten, deren Dauer in einigen Fällen nur ein paar Jahrzehnte umfasst. Auch wenn mit diesen Eingriffen eine strukturelle Schwäche der Evans’schen Chronologie teilweise behoben wurde, müssen wir immer noch mit einem weiteren und noch schwierigeren Problem kämpfen. Dieses besteht darin, dass die Zäsuren der einzelnen Zeitabschnitte in vielen Fällen mit keinen archäologisch greifbaren Ereignissen (z. B. Zerstörungshorizonten) zusammenfallen und daher beliebig nach oben oder nach unten verschoben werden können. Zwischen der letzten Phase des Neolithikums und dem Beginn der Bronzezeit geschieht, abgesehen von langsamen sozialen Prozessen, nichts, was man als konkretes Ereignis archäologisch fassen kann. Dasselbe gilt für die fiktiven Zäsuren zwischen den Perioden FM und MM sowie zwischen MM und SM und auch zwischen vielen Subphasen. Diese Perioden, die sich eigentlich nur durch besondere Keramikwaren identifizieren lassen, gehen in vielen Fällen ohne erkennbare Brüche oder Veränderungen ineinander über. Will man nun die chronologische Entwicklung tabellarisch darstellen, wäre es eigentlich sinnvoller, die einzelnen Perioden nicht durch Linien zu trennen, die Zäsuren angeben, sondern durch Farbe, die sich in der Mitte verdichtet und an ihren jeweiligen Rändern (Beginn bzw. Ende) verblasst (s. Abb. 3). Ein weiteres Problem dieses Datierungssystems stellt die Tatsache dar, dass es im Prinzip auf der Grundlage von knossischen Befunden erarbeitet wurde und nicht ohne Weiteres als ein 38

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2 Das chronologische Gerüst

zuverlässiges Kriterium für die chronologische Gliederung von Perioden in allen anderen Inselregionen betrachtet werden kann. Ein alternatives Datierungssystem, das vom griechischen Archäologen Nikolaos Platon in den 1950er-Jahren vorgeschlagen wurde, bietet zwar eine sehr überlegenswerte Möglichkeit der parallelen Datierung, ist allerdings mit einer großen Schwäche behaftet. Platons zeitliche Gliederung orientiert sich nicht an der Keramik, sondern an der Baugeschichte der Paläste. Dadurch wird die Entwicklung der minoischen Kultur in vier große Perioden unterteilt: Vor-, Alt-, Neu- und Spätpalastzeit. Diese großen Perioden haben ganz klare Zäsuren, die teilweise auch archäologisch fassbar sind. Dies betrifft jedoch weniger die dunklen Anfänge der Paläste, als vielmehr die einander abwechselnden Episoden von Zerstörung und Wiederaufbau, die sehr konkrete Spuren hinterlassen haben. Diese Zäsuren bieten zugleich wichtige Wendepunkte in der minoischen Kulturabfolge. Die Hauptschwäche des alternativen Datierungssystems ist allerdings offensichtlich: Platons vier Perioden bestehen aus zu langen und zu unpräzisen Zeitabschnitten, um die minoische Kulturentwicklung zu strukturieren und Prozesse, Bauten oder Artefakte zu datieren. Für eine feinere Unterteilung dieser Perioden ist die Forschung immer noch auf Evans’ schablonenhaftes Gliederungsschema angewiesen: Tab. 1: Perioden der minoischen Kulturgeschichte Vorpalastzeit

Frühminoisch (FM) I – Mittelminoisch (MM) I A (ca. 3100–1950 v. Chr.)

Altpalastzeit

Mittelminoisch I B – Mittelminoisch II B (ca. 1950–1750 v. Chr.)

Neupalastzeit

Mittelminoisch III A – Spätminoisch (SM) I B (ca. 1750–1450 v. Chr.)

Spätpalastzeit

Spätminoisch II–III B (ca. 1450–1200 v. Chr.)

Auch die Geschichte der Paläste bietet also keine sichere Grundlage für die Gliederung der historischen Zeit in Perioden mit klaren zeitlichen Grenzen, da man immer noch über die endgültige Zerstörung des Pa39

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A. Grundzüge: Forscher, Raum und Zeit

lastes von Knossos (in der frühen SM III A:2- oder am Ende der SM III B-Periode) debattiert. Darüber hinaus ist der Begriff ›Nachpalastzeit‹ für die Periode nach SM I B nicht ganz korrekt, da mindestens ein Palast (Knossos) für mindestens ein paar Generationen oder sogar Jahrhunderte weiter existierte. Der sich langsam etablierende Begriff ›Spätpalastzeit‹ als Definition dieses Zeitabschnitts entspricht daher besser den archäologischen Tatsachen. Rezente Funde aus der Altstadt von Chania, darunter auch Linear-B-Täfelchen, machen sogar die Existenz eines zweiten kretischen Palastes bzw. eines administrativen Zentrums in dieser spätpalastzeitlichen Periode sehr wahrscheinlich, das erst am Ende der SH III B-Periode zerstört wurde. Dadurch wird der Begriff ›Nachpalastzeit‹ eigentlich obsolet, denn er bezeichnet eine Periode, in der mindestens ein Palastzentrum noch existierte. Die beiden obengenannten Systeme werden nun seit einiger Zeit parallel nebeneinander verwendet: Das präzisere Evans’sche System als chronologisches Instrument für Datierungen, Platons System als chronologisches Gerüst für die Differenzierung der wichtigsten Entwicklungsetappen der minoischen Kultur. In der Zukunft könnte man sich eventuell auf eine konsequentere Kombination beider Systeme einigen. Es erscheint sehr sinnvoll, dass man Platons architektonische Periodenbezeichnungen mit sehr klaren Zäsuren als Grundlage nimmt und sie für eine feinere Datierung in Phasen der Keramikchronologie unterteilt, wie z. B. Altpalastzeit I, II, III. Diese Unterteilung sollte nicht nach einem symmetrischen Prinzip, wie in Evans’ System, erfolgen, das heißt durch eine erste Dreiteilung in Phasen und eine zweite in Subphasen, sondern sich nur an tatsächlich erkennbaren, unterschiedlichen Phasen der Keramikentwicklung orientieren. Die Vorpalastzeit könnte z. B. fünf, die Altpalastzeit drei und die Neupalastzeit vier Phasen haben. Sehr hilfreich wäre dabei die Methode der vergleichenden Stratigrafie, deren Ziel darin besteht, die stratigrafischen Abfolgen (d. h. die übereinander liegenden Schichten verschiedener Besiedlungsphasen) wichtiger minoischer Fundorte miteinander zu synchronisieren. Erst wenn wir eine umfassende Vorstellung gewinnen, wie sich lokale Keramikabfolgen zueinander verhalten, können wir Phasen einer gesamtkretischen – d. h. minoischen – Chronologie festlegen. Erste Versuche einer vergleichenden Stratigrafie sind bereits von mehreren Seiten unternommen 40

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2 Das chronologische Gerüst

worden. Was noch fehlt, ist eine Bündelung dieser Untersuchungen in einem neuen Chronologie-Modell. Es versteht sich von selbst, dass dieses Unternehmen nicht die Leistung einer einzelnen Person, sondern eher eine kollektive Anstrengung sein muss, die bis heute leider noch aussteht.

3100

2450 III B

II

Zerstörungshorizont

Erbauung der Paläste IB III A

Zerstörung der alten Paläste

IIII B III IA

II III

Zerstörung der neuen Paläste Zerstörung von Knossos (?)

II B Fr F üh ü h III Früh III II B Spät II Sp S ät ät IIIII III II C

II III

Zerstörung von Chania und Knossos

I II A II B III A:1 III A:2 III B Früh III B Spät III C

Späthelladisch

IB II II IIII A A::1 A:1 III II A:2 II A:2 III

I

I

Vulkaneruption von Thera

1550

1250 1200

I

II

III

Spätkykladisch

III B IIII II A III

Spätminoisch

Spätpalastzeit

Neupalastzeit

Altpalastzeit

IA

Mittelminoisch

2050 1950

III

III

Mittelkykladisch

II II III

Mittelhelladisch

2250

1450 1400 1360 1320

II

Frühkykladisch

III A

Frühhelladisch

Frühminoisch

Vorpalastzeit

2650

1850 1800 1750 1700 1650

I

I

IA AA-I -I B

1100

Abb. 3: Systematische Chronologie

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Die minoische absolute Chronologie ist mit ihren eigenen Problemen behaftet. Sie wurde für lange Zeit ausschließlich durch die traditionelle historisch-archäologische Methode ermittelt, deren Grundlage die Synchronismen der ägäischen Kulturen mit den besser zu datierenden Kulturen Ägyptens und des Vorderen Orients bildeten (traditionelle oder niedrige Chronologie). Erst seit den 1970er-Jahren werden systematisch naturwissenschaftliche Datierungsmethoden (in erster Linie die Radiokarbonmethode und die Dendrochronologie) eingesetzt, die für eine wesentlich höhere absolute Datierung einzelner Phasen der ägäischen Kulturen, insbesondere vor der Mitte des zweiten Jahrtausends v. Chr., sprechen (neue oder hohe Chronologie). Die zeitliche Diskrepanz zwischen den beiden Systemen ist in einzelnen Phasen beträchtlich und kann über ein Jahrhundert betragen. Dreh- und Angelpunkt der hohen absoluten Chronologie stellt der Vulkanausbruch auf Thera (Santorin) dar. Eine Serie von 14C-Daten (Radiokarbonmethode) und insbesondere die Datierung des Astes eines in der Bimssteinschicht entdeckten Olivenbaumes etwa sieben Kilometer von Akrotiri entfernt um 1613 v. Chr. (± 13 Jahre) schien zunächst eindeutig für die hohe Chronologie zu sprechen. Mehrere Forscher haben allerdings die Zuverlässigkeit dieser Datierung, die einige methodische Schwachpunkte aufweist, angezweifelt. Das größte Problem der hohen absoluten Chronologie ist ihre Unvereinbarkeit mit archäologischen Synchronismen und insbesondere ihre deutliche Diskrepanz zum System der aufgrund von naturwissenschaftlichen und archäologischen Zeugnissen solideren ägyptischen Chronologie. Der Begriff ›archäologischer Synchronismus‹ bezieht sich auf die Feststellung von zeitlich übereinstimmenden Schichten zweier unterschiedlicher Fundorte oder Perioden in zwei unterschiedlichen Kulturregionen, die durch Importe bzw. Exporte hergestellt werden kann. Jeder ägäische Archäologe, der die Fülle der ägyptischen schriftlichen Quellen und die Präzision altägyptischer Kalenderdaten bestaunt, fühlt sich geneigt, eher für die niedrige (traditionelle) Chronologie zu plädieren. Dies scheinen nun neue Kalibrierungskurven zu bestätigen, die für eine Chronologie der Vulkaneruption von Thera im 16. Jahrhundert v. Chr. sprechen. Wegen dieser Unsicherheiten und vor allem wegen der Schwierigkeit einer präzisen Datierung wird in diesem Buch generell vermieden, absolute chronologische Daten zu nennen. Dies 42

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wird nur gelegentlich als Orientierung für den Leser gemacht. In all diesen Fällen wird hier aufgrund des jetzigen Forschungsstandes eine Chronologie übernommen, die – rein konventionell – von einer Datierung des Vulkanausbruchs von Thera um die Mitte des 16. Jahrhunderts v. Chr. ausgeht.

Literatur Evans, Arthur 1906: Essai de classification des époques de la civilisation minoenne, London Höflmayer, Felix 2012: Die Synchronisierung der minoischen Alt- und Neupalastzeit mit der ägyptischen Chronologie, Wien Manning, Sturt W. 1995: The Absolute Chronology of the Aegean Early Bronze Age, Sheffield Manning, Sturt W. 1999: A Test of Time. The Volcano of Thera and the Chronology and History of the Aegean and East Mediterranean in the Mid Second Millennium BC, Oxford Momigliano, Nicoletta (Hg.) 2007: Knossos Pottery Handbook. Neolithic and Bronze Age (Minoan), London Niemeier, Wolf-Dietrich 1985: Die Palaststilkeramik von Knossos. Stil, Chronologie und historischer Kontext, Berlin Pearson, Charlotte L. u. a. 2018: Annual Radiocarbon Record Indicates 16th Century BCE Date for the Thera Eruption, Science Advances, Vol. 4, Nr. 8, DOI: 10.1126/sciadv.aar8241 Platon, Nikolaos 1961: Chronologie de la Crète et des Cyclades à l’Âge du Bronze, in: Bersu, Gerhard (Hg.): Bericht über den V. Internationalen Kongress für Vor- und Frühgeschichte, Hamburg 1958, Berlin, S. 671–674 Warburton, David (Hg.) 2009: Time’s Up! Dating the Minoan Eruption of Santorini: Acts of the Minoan Eruption Chronology Workshop, Sandbjerg, November 2007, initiated by Jan Heinemeier and Walter L. Friedrich, Athens Warren, Peter/Hankey, Vrowney 1989: Aegean Bronze Age Chronology, Bristol

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»The precipitous character of the country split the island up in separate hermetic worlds so that thunderous events taking place two mountain ranges away were reduced by distance to faint murmurs.« (Patrick Leigh Fermor)6

Jeden Frühling, wenn der Schnee in den kretischen Bergen noch nicht geschmolzen ist, kann man Zeuge eines eindrucksvollen Naturschauspiels werden: Anhaltende Südwinde befördern Sahara-Staub über das Libysche Meer, der wie ein dicker Schleier die gesamte Insel umhüllt. Wenn die Atmosphäre aufklart, sind die schneebedeckten Abhänge des Psiloritis braungefärbt. Dieser höchste kretische Berg, wo sich im periodischen Zeitrhythmus Wüstenstaub auf Schnee ablagert, kann als Sinnbild für die besondere geografische Lage Kretas zwischen Orient und Okzident betrachtet werden, eine Lage, die in der Geschichte der Insel von der Frühzeit bis in die Gegenwart zugleich Segen und Fluch gewesen ist. Am südlichen Rand der Ägäis gelegen, an einem Punkt, an dem sich maritime Wege kreuzen, die drei Kontinente miteinander verbunden haben, war Kreta dafür prädestiniert, als Brücke zwischen verschiedenen Regionen und Kulturen zu dienen. Das Meer war nicht nur Verbindungsweg, sondern auch Barriere, welche die Insel vor äußeren Feinden schützte und der lokalen Bevölkerung in bestimmten Perioden die Möglichkeit eines Lebens in ›wunderbarer Isolation‹ bot. In anderen Perioden allerdings fiel die Insel wegen ihrer hervorragenden strategischen Lage dem Expansionsdrang fremder Mächte zum Opfer und wurde kontrolliert oder unterworfen. Die Ambivalenz ihrer Lage hat die Geschichte Kretas von der Bronzezeit bis in die Gegenwart geprägt. 6 Leigh Fermor, Patrick 1998: Introduction, in: Psychoundakis, Georgios, The Cretan Runner. His Story of the German Occupation, London, S. 20.

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Ohne in einen geografischen Determinismus verfallen zu wollen, kann es keinen Zweifel daran geben, dass Geografie und Klima einen entscheidenden Einfluss auf die kulturelle Entwicklung vormoderner Gesellschaften ausübten. Diese beiden, sich sehr langsam oder überhaupt nicht verändernden, Naturelemente und insbesondere die Geografie haben stets ein gewisses Feld an Möglichkeiten abgesteckt, innerhalb dessen jede Kultur einen beliebigen Entwicklungslauf nehmen konnte, ohne jedoch die Grenzen dieses Feldes überschreiten zu können. In anderen Worten: Zwar können Geografie und Klima nicht den genauen Verlauf einer kulturellen Entwicklung bestimmen, wohl aber ihre Möglichkeiten und Grenzen. Und diese Möglichkeiten waren im Fall der an natürlichen Ressourcen unerschöpflichen kretischen Landschaft gewaltig. Bevor man allerdings beginnt, die geografischen Voraussetzungen zur dynamischen Entwicklung der minoischen Kultur etwas genauer zu erläutern, muss man die entscheidende Frage beantworten, wie gut wir die kretische Landschaft und das kretische Klima in der Bronzezeit kennen. Dürfen wir davon ausgehen, dass das moderne Erscheinungsbild und Klima der Insel jenen des minoischen Kreta ungefähr entsprechen? Oder haben sie sich durch die Jahrtausende stark verändert? Die Insel und ihre dynamische Landschaft sind das Ergebnis von enormen geologischen Kräften, die fast überall ihre Spuren hinterlassen haben und immer noch am Werke sind. Im Holozän, dem jüngsten Zeitabschnitt der Erdgeschichte, der weitgehend parallel zum Neolithikum und zur Bronzezeit verläuft, ist es vor allem die ununterbrochene seismische Aktivität, die die kretische Erde in periodischen Abständen erschüttert, ohne sie allerdings wesentlich zu verändern. Nur der Verlauf der Küstenlinie hat sich in mehreren kretischen Regionen durch Erhebung oder Senkung des Wasserspiegels bzw. Hebung der Landmasse aufgrund tektonischer Aktivität dramatisch verändert. Nach dem verheerenden Erbeben von 365 n. Chr., das im gesamten ostmediterranen Raum zahlreiche Städte und Siedlungen zerstörte, wurde der kretische Hafen von Phalassarna trockengelegt und Teile der südwestlichen Küstenlinie der Insel in eine Höhe von bis zu neun Metern angehoben. Im Ost- und Südteil der Insel hingegen lässt sich in mehreren Regionen eine deutliche Senkung von Küstenabschnitten (2–4 Meter) als Ergebnis mehrerer tektoni45

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scher Ereignisse beobachten, sodass minoische Hafenanlagen heute zum Teil unter Wasser liegen. Am deutlichsten sind diese Veränderungen im Fall der kleinen Insel Mochlos zu beobachten, die in minoischer Zeit durch eine schmale Landzunge mit dem kretischen Festland verbunden war und eine Halbinsel bildete. Die Insel Kreta bewegt sich immer noch und dies tut sie – wie die dort arbeitenden Vermessungsingenieure besonders gut wissen – nicht nur während der zahlreichen Erdbeben. Trotz dieser langsamen Bewegung oder der periodischen Erschütterungen blieb das geomorphologische Erscheinungsbild der Landschaft größtenteils – wenn auch nicht zur Gänze – unverändert. Eine Region, die in den frühen Etappen der minoischen Kultur anders ausgesehen hat, ist die westliche Mesara-Ebene. Das flache Land, das sich heute von Phaistos bis zur Küste erstreckt, ist das Produkt alluvialer Verlandungsprozesse, die erst im Laufe des dritten Jahrtausends v. Chr. das Erscheinungsbild dieser Region stark veränderten. Im frühen dritten Jahrtausend v. Chr. lag das Meer wesentlich näher an Phaistos und Ajia Triada. Es ist ferner sehr wahrscheinlich, dass auch in späteren Perioden der minoischen Kultur ein See bzw. ein sumpfiges Gelände direkt südöstlich von Phaistos existierten. Was die Vegetation und das Klima betrifft, sind unsere Kenntnisse sehr lückenhaft. Archäologische Funde bestätigen, dass die Insel in minoischer Zeit – genauso wie heute – von der mediterranen Trias dominiert war, nämlich dem Anbau von Getreide, Oliven und Wein. Man kann davon ausgehen, dass ein großer Teil der kretischen Landschaft von der mediterranen Macchia überdeckt war, während im Tiefland Blumen, Zwergsträucher, Zypressen und Eichen und in den höheren Lagen Aleppokiefern und Platanen wuchsen. Die Berghänge müssen mit Kräutern aller Art übersät gewesen sein, die von der Antike bis heute für ihre therapeutischen Kräfte und ihren unnachahmlichen Geschmack inner- und außerhalb der Insel begehrt waren. Dennoch bleibt eine große Frage noch offen: War Kreta, dessen Berge sich uns heute größtenteils karg präsentieren, dicht bewaldet? Antike Quellen, die über historische Perioden nach dem Ende der minoischen Kultur berichten, geben uns widersprüchliche Informationen. Es darf als sicher gelten, dass in der Antike die Teile der Insel, die von Wäldern bedeckt waren, größer waren als heute. Es ist ferner sehr wahrscheinlich, dass die syste46

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matische Abholzung der kretischen Landschaft bereits in der Bronzezeit begann, als die Entwicklung der Metallurgie und der Schifffahrt enorme Mengen an Holz verschlungen hat, um es als Brennstoff bzw. Baumaterial zu nutzen. Die Forschung zum kretischen Paläoklima geht nur von leichten Veränderungen zwischen der Bronzezeit und der Gegenwart aus. Neben klimatischen Daten sind es hier auch archäologische Indizien, die für ein etwas milderes Klima in der Bronzezeit – oder zumindest in einem Teil dieser Periode – sprechen. Die Existenz von zahlreichen alt- und neupalastzeitlichen Siedlungen bis zu einer Höhe von ca. 1200 Metern über dem Meeresspiegel, das heißt deutlich höher als die überwiegende Mehrheit der kretischen Dörfer der Neuzeit und der Gegenwart, sprechen eindeutig für mildere Winter, zumindest wenn man davon ausgeht, dass diese Siedlungen permanent genutzt wurden. Alles in allem lässt sich festhalten, dass uns das heutige Erscheinungsbild der Insel in seinen von modernen Eingriffen unberührten Regionen einen sehr guten Einblick in die einst extrem wechselhafte Lebenswelt der Minoer bietet. Wie kann man den Einfluss dieses Lebensraumes auf die dynamische kulturelle Entwicklung der Insel in der Bronzezeit etwas konkreter fassen? Was sind die Möglichkeiten und die Grenzen, die die kretische Landschaft den Minoern gesetzt hat? Und wie hat diese Gesellschaft in verschiedenen Etappen ihrer Geschichte auf die Herausforderungen reagiert, die aus ihrer natürlichen Umwelt hervorgegangen sind? Lassen wir zunächst die Zahlen sprechen: Mit einer Gesamtfläche von ca. 8300 km² ist Kreta die größte griechische und die fünftgrößte mediterrane Insel. Sie erstreckt sich in Ost-West-Richtung über ca. 254 Kilometer und erreicht in ihrem zentralen Teil eine maximale Breite von ca. 56 Kilometern. An ihrer schmalsten Stelle, dem Isthmus von Ierapetra, ist die Nord- von der Südküste nur zwölf Kilometer entfernt. Kretas markantes Charakteristikum sind die Berge, die die Insel in ihrer gesamten Länge durchziehen und das Landschaftsbild mit ihrer erhabenen Präsenz dominieren. Vom höchsten Gipfel Kretas, dem Timios Stavros im Psiloritis-Massiv (dem antiken Berg Ida), kann man in einer Höhe von 2456 Metern an Tagen mit optimalen Sichtverhältnissen nicht nur die Ägäis und das Libysche Meer sehen, sondern auch einen großen Teil 47

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der Insel, die sich wie ein riesiges Segelschiff auf dem Meer zu bewegen scheint. Kreta ist größer, als man denkt. Die modernen Karten, die alles in geometrischen Abständen erfassen, vermitteln einen verzerrten Eindruck von der Größe und Komplexität der Landschaft, die durch die dominanten bergigen Regionen nach oben wächst und dem Besucher fast doppelt so groß wie auf der Karte erscheint. Der britische Archäologe John Pendlebury, der fast die gesamte Insel zu Fuß durchkämmte, hat es treffend erfasst: »Distances are useless. Times alone matter.«7 Diese Insellandschaft ist ein Lebensraum voller dramatischer Kontraste: Bergketten, Hochebenen, steile und sanfte Abhänge, Hügel, kleine und große fruchtbare Täler, hunderte Schluchten, die bleibenden Spuren der Wasseraktivität, welche die Insel in Nord-Süd-Richtung durchziehen und an kleinen Buchten enden, und schließlich eine über 1000 Kilometer lange Küstenlinie, die wegen des nahen Herantretens der Berge an längeren Abschnitten steil ist und nur verhältnismäßig wenige natürliche Häfen bietet. Kreta ist dadurch in unzählige Mikroregionen zersplittert, die den Lebensraum von einer oder mehreren Siedlungen bilden. In ihnen zeigt sich die Landschaft in einer unglaublichen Vielfalt, die man an den stets wechselnden naturräumlichen Elementen, an den zahlreichen Bezugspunkten des Blickes und schließlich an den bewegten und immer ungeraden Linien der Hügel und Berge erkennt. Durch die Kleinteiligkeit der kretischen Regionen ist der menschliche Lebensraum klein, in sich geschlossen und überschaubar. Seine Grenzen können schnell, höchstens im Fußmarsch eines Tages erreicht werden. Der Mensch lebt im Zentrum einer kleinen geografischen Einheit, die er immer mit seinem Blick erfassen bzw. mit wenig Mühe begehen kann und fühlt sich daher als Maß aller Dinge, was in ihm das Gefühl eines sehr harmonischen Verhältnisses zur Natur hervorruft. Dieses immer neu aufgefaltete Land mit seinen abrupten oder fließenden Übergängen formt in entscheidendem Maße das Leben einer Gesellschaft und zwar auf vielen Ebenen: Es fördert den Regionalismus, bietet eine Vielzahl von natürlichen Ressourcen und besitzt eine Fülle von Orten, die von einer großen spirituellen Kraft durchdrungen sind und über 7 Pendlebury, John D. S. 1939: The Archaeology of Crete. An Introduction, London, S. 7.

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Jahrhunderte oder gar Jahrtausende hinweg als mythische (Tat-)Orte und Fixpunkte religiöser Erfahrungen fungierten. Kretas Reichtum an natürlichen Ressourcen wurde bereits in der Antike gepriesen. Ausgedehnte fruchtbare Täler und Hochebenen, welche ideale Weideflächen sind, bieten optimale Voraussetzungen für Ackerbau und Viehzucht, die dieser Inselgesellschaft in jeder Periode ihrer Geschichte das kostbare Geschenk einer wirtschaftlichen Autarkie und damit die unabdingbare Voraussetzung für jede kulturelle Entwicklung sicherten. Kreta konnte dadurch seinen Bewohnern vieles, was auf den anderen ägäischen Inseln fehlte, im Überfluss bieten. Als sarazenische Piraten um 824 n. Chr. (nach anderen Quellen um 827/828 n. Chr.) mit 40 Galeeren Kreta überfielen, machte ihr Anführer Abu Hafs aus dem Raubzug eine Eroberung und gab den Befehl, die eigenen Schiffe in Brand zu setzen. Als er von seinen Männern des Wahnsinns oder Verrates beschuldigt wurde, antwortete er ihnen: »Worüber klagt ihr? Ich habe euch in ein Land gebracht, wo Milch und Honig fließen.«8

Diese biblische Redewendung für ein Land, wo alles im Überfluss vorhanden war, ist bezeichnend für die idealen naturräumlichen Bedingungen, die auf der Insel herrschten. Sie wurden von der lokalen Bevölkerung seit der neolithischen Zeit intensiv genutzt und bildeten eine sehr solide Grundlage für kulturelle Hochleistungen. Die Insel war in minoischer Zeit sicherlich nicht so stark von den modernen Monokulturen von Oliven und Wein dominiert. Dies war auch keineswegs nötig, um die Bedürfnisse der minoischen urbanen und ländlichen Bevölkerung zu decken. Der Ertrag von einem oder zwei alten Olivenbäumen reichte durchaus für den jährlichen Bedarf einer kleinen Familie. Getreide und Wein wurden zweifellos überall auf größeren oder kleineren Flächen sowohl für eine zentral gesteuerte als auch für eine private Produktion angebaut. Hinzu kamen die Vorteile der üppigen Vegetation, die offensichtlich bereits in minoischer Zeit Öl- und Mandelbäume, Gemüse, Dattelpalmen, Johannisbrotbäume, Ahorn und Esskastanien umfasste.

8 Genesios, Basileiai 2, 10, 20, in: Kaldellis, Anthony 1998: Genesios, On the Reigns of the Emperors: Introduction, Translation, and Commentary, Canberra, S. 39–40.

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Das einzige und zwar diachrone Problem dieser gesegneten Landschaft war das Wasser. Die großen Talregionen waren nicht gut bewässert und in vormoderner Zeit aufgrund von Sumpfbereichen ungesund. Die Minoer haben daher ihre Siedlungen vor allem an Berghängen und zwar in der unmittelbaren Nähe von Wasserquellen gegründet. Neben dem vegetativen Reichtum verfügte die Insel über verschiedene Rohstoffe, die eine nicht minder wichtige Grundlage für eine dynamische kulturelle Entwicklung darstellten: Zahlreiche Stein- und Holzarten, die von den Minoern extensiv genutzt wurden, waren in verschiedenen Regionen der Insel verfügbar. Eine große, noch offene Frage betrifft hingegen die Metallvorkommen. Oft wird impliziert, offensichtlich unter dem Einfluss des unvermeidlichen Vergleichs mit Zypern, des größten Kupferlieferanten des bronzezeitlichen östlichen Mittelmeers, dass auf Kreta Metalle fehlten oder in wesentlich geringeren Mengen als in anderen mediterranen Regionen verfügbar waren. Wie akut das Problem der Knappheit an lokalen Kupferlagerstätten für die minoische Kultur war, lässt sich immer noch nicht eindeutig sagen. Der französische Archäologe Paul Faure hat in seinen ausgedehnten Oberflächenbegehungen ca. 20 Kupferlagerstätten lokalisiert, die auch in minoischer Zeit hätten genutzt werden können, auch wenn ein definitiver Beweis dafür wegen der heute unbefriedigenden Forschungslage noch fehlt. Ein Hinweis, dass dies tatsächlich der Fall gewesen ist, bieten die reichen Kupfervorkommen der Asterousia-Region, welche, neben anderen Faktoren, die aus diachroner Sicht unerklärlich hohe Bevölkerungsdichte dieser bergigen und kargen Landschaft in der Vorpalastzeit erklären könnten. Kreta ist eigentlich nur dann eine Insel, wenn man sie von außen betrachtet. Für die kretische Bevölkerung in den verschiedenen Perioden ihrer Geschichte, die in fruchtbaren, von Bergen und Hügeln umgebenen Tälern und Hochebenen lebte, wurde die Insel eher als ein Festland wahrgenommen. Auch für die Reisenden, die sich Kreta über das offene Meer näherten, bot sich der Anblick einer ausgedehnten Küste mit massiven Bergketten im Binnenland, der sich von dem des griechischen oder kleinasiatischen Festlands kaum unterschied. Die kretische Wirtschaftsweise verstärkt den Eindruck einer geografischen Introvertiertheit, die für eine Inselbevölkerung untypisch ist. Kreta war eigentlich zu keinem Zeitpunkt seiner Geschichte eine typische Inselgesellschaft, 50

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wie die Kykladen. Das Meer war hier nur eine der vielen wirtschaftlichen Optionen und keine alternativlose Möglichkeit für den Lebensunterhalt der lokalen Bevölkerung, die größtenteils ohnehin nicht vom Meer, sondern von den großen fruchtbaren Landstrichen und den ausgedehnten Weideflächen in den kretischen Bergen lebte. Dieser introvertierte, autarke Charakter der kretischen Bevölkerung, der stärkere Bezug zum Land als zum Meer, ist ein diachrones Merkmal der Inselgeschichte. An nautischen Leistungen standen die Kreter immer den Einwohnern der kleinen ägäischen Inseln (Kykladen und der Dodekanes) nach. In ihrer Volkskunst spielen maritime Themen eigentlich nur selten eine bedeutende Rolle bzw. sie sind kaum existent. Eine auffällige Ausnahme für die meisten der hier erwähnten Aspekte stellt, wie wir unten sehen werden, die Periode des absoluten Höhepunktes der minoischen Kultur in der kretischen Neupalastzeit dar. Das unverkennbare Merkmal der Insel sind ihre Berge: Fast die Hälfte der Inselfläche besteht aus bergigen Regionen, die über 600 Meter über dem Meeresspiegel liegen. Ihre Bedeutung als prägendes Element des kretischen Lebensraumes war und ist vielfältig. Diese Bedeutung war zunächst aus wirtschaftlicher Sicht für eine vormoderne Gesellschaft weitaus höher als in unserer Zeit. Die imposanten kretischen Berge boten nahezu alles. Viele verfügten über ausgedehnte Hochplateaus, die nicht nur als ideale Weideflächen, sondern auch für den Ackerbau genutzt werden konnten und ferner ideale Bedingungen für die Bienenzucht schufen. Dies galt vor allem für die Region des Psiloritis. Dieser Gebirgsblock gliedert sich in mehrere ›Stockwerke‹, gebildet aus kleinen und großen Hochebenen, die fast etagenartig angeordnet sind. Die Berge waren ferner unerschöpfliche Holzlieferanten und boten auch bis in den Sommer Eis in großen Mengen, ein kostbares Gut in einer Gesellschaft, die keine andere Kühlungsmöglichkeit kannte. Dieses große wirtschaftliche Potenzial der Bergregionen scheinen die Minoer sehr intensiv genutzt zu haben, was eigentlich kaum überraschend ist. Erstaunlich ist jedoch, dass diese bronzezeitliche Bevölkerung bergige Regionen viel besser erschlossen zu haben scheint als jede andere Gesellschaft in der jahrtausendewährenden Geschichte der Insel – die Moderne inbegriffen. Die Errichtung von minoischen Landvillen (wie z. B. in Zominthos und Gaidourofas) in einer Höhe von 1100 bis 1200 Metern, wel51

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che, wie bereits erwähnt, die moderne Besiedlungsgrenze der Insel deutlich übersteigt, stellt ein beredtes Zeugnis für diese eindrucksvolle kulturelle Zähmung der Berge dar, in der vielleicht eines der vielen Geheimnisse des ›minoischen Wunders‹ liegt. Die Berge hatten allerdings neben der wirtschaftlichen auch eine soziale, symbolische und religiöse Dimension. Auch wenn wir über keine expliziten Quellen verfügen, kann es keinen Zweifel daran geben, dass ein großer Teil der minoischen Bevölkerung in ihrer Wirtschafts- und Lebensweise und allen voran in ihrer Mentalität ›Highlander‹ waren, die sich von der Bevölkerung in der Ebene unvermeidlich und bewusst abgrenzten. Das kretische Bergland war darüber hinaus eine sakrale Landschaft mit unzähligen Orten, welche durch ihre besondere Aura zu Kristallisationspunkten religiöser Erfahrungen wurden. Neben den Bergen, deren Bewältigung und Erschließung den Minoern viel abverlangte, wurde das Leben dieser Inselgesellschaft durch die regelmäßige seismische Aktivität entscheidend geprägt. In der bisherigen Forschung wurden Erdbeben fast ausschließlich als Naturkatastrophen betrachtet, die je nach Intensität lediglich die Rolle einer dramatischen Zäsur für die minoische Kulturentwicklung hatten. Diese vorherrschende Meinung ist allerdings das Ergebnis eines sehr einseitigen und verzerrenden Blickes auf die Vergangenheit. Für eine Gesellschaft, die sie als ein periodisch auftretendes Phänomen wahrnehmen musste, bedeuteten Erdbeben zunächst keine Naturkatastrophen im heutigen Sinn, sondern unabwendbare Naturphänomene, die eine Herausforderung darstellten. Diese Herausforderung gab Anlass für eine Reihe von architektonischen, sozialen, symbolischen und religiösen Maßnahmen, die ihre negativen Auswirkungen vermindern sollten. Aus dieser Perspektive betrachtet dienten Erdbeben – als potenzielle Gefahr, die abgewendet werden musste – auch zur Stärkung und nicht nur zur Schwächung einer Gesellschaft. Man kann es sogar noch provokanter ausdrücken: Wenn man davon ausgeht, dass die Minoer durch die Gefahr regelmäßiger Erdbeben veranlasst wurden, Strategien zu entwickeln, um ihre negativen Auswirkungen zu minimieren, hat die seismische Aktivität aus diachroner Perspektive zur Beständigkeit und nicht zum Zusammenbruch der minoischen Kultur beigetragen.

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Alles in allem lässt sich festhalten, dass die Landschaft Kretas die minoische Kulturentwicklung durch das offene Meer, die unzähligen Berge und die regelmäßig auftretenden Erdbeben extrem herausgefordert hat; eine Tatsache, die man als Ausgangspunkt der eindrucksvollen kulturellen Leistungen dieser Gesellschaft betrachten kann. Auf der anderen Seite hat sie die minoische Bevölkerung durch das Geschenk einer weitgehenden Autarkie stark gefördert. Alle lebenswichtigen Naturprodukte und zahlreiche Rohstoffe waren im Überfluss vorhanden. Aus diesem geografischen ›Feld des Möglichen‹, das in der modernen Forschung auch als Affordanz (›Angebotscharakter‹) bezeichnet wird, scheinen die Minoer das Beste gemacht zu haben. Die kretische Landschaft fungierte in ihren unterschiedlichen Rollen als wirtschaftliche Basis, Lebensraum, Kulisse für Feste und Zeremonien und schließlich auch als Inspiration für die Künstler, welche praktische und schöne Dinge aus lokalen Materialien formten. Jede historische Rekonstruktion der minoischen Kultur muss daher als roten Faden die Interaktion zwischen Mensch und Natur haben. Ohne die Umwelt als wichtigsten Bezugspunkt der Kulturentwicklung kann sie weder verständlich noch überzeugend sein.

Literatur Allbaugh, Leland G. 1953: Crete. A Case Study of an Underdeveloped Area, Princeton, NJ Amato, Vincenzo u. a. 2014: Geoarchaeological and Palaeoenvironmental Researches in the Area of Ancient Phaistos (Crete, Greece): Preliminary Results, in: Touchais, Gilles u. a. (Hgg.): PHYSIS: l’environnement naturel et la relation homme-milieu dans le monde égéen protohistorique, Leuven – Liège, S. 129–140 Fassoulas, Charalambos G. 2001: Field Guide to the Geology of Crete, Heraklion Kull, Ulrich 2012: Kreta, Stuttgart Pendlebury, John D. S. 1939: The Archaeology of Crete. An Introduction, London, S. 1-34. Rackham, Oliver/Moody, Jennifer 1996: The Making of the Cretan Landscape, Manchester

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Siart, Christoph 2010: Geomorphologisch-geoarchäologische Untersuchungen im Umfeld der minoischen Villa von Zominthos. Ein Beitrag zur Erforschung der holozänen Landschaftsgeschichte Zentralkretas, Heidelberg Watrous, Livingston Vance u. a. 2004: The Plain of Phaistos. Cycles of Social Complexity in the Mesara Region of Crete, Los Angeles

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»Facts like words are by themselves useless. They must be combined as a means to an end. Their duty is at the lowest to provide the basis of a reasonable theory and at the highest to be the skeleton supporting the living flesh of history.« (John Pendlebury)9

Alle Anfänge sind dunkel und lassen sich als Prozesse oder gar Ereignisse archäologisch sehr schwer fassen. Wann die minoische Kultur beginnt, wissen wir nicht, weil das, was wir als minoische Kultur bezeichnen, ein modernes Konstrukt ist. In den meisten Handbüchern wird ein ›Beginn‹ der minoischen Kultur mehr oder minder mit dem Beginn der Bronzezeit und der Einführung bzw. Verbreitung der Metallurgie gleichgesetzt. Versuchen wir nun, diese kulturelle Entwicklung in ihren wesentlichen Zügen zu skizzieren, indem wir einen kursorischen Blick auf deren wichtigste Etappen wagen.

Das dunkle Jahrtausend (FM I–MM I A) Das erste Jahrtausend der minoischen Kultur (hauptsächlich das dritte Jahrtausend v. Chr.) ist eine Epoche des langsamen Keimens kultureller Prozesse, die erst um die Jahrtausendwende oder etwas später einen archäologisch fassbaren, monumentalen Ausdruck durch die Errichtung

9 Pendlebury, John D. S. 1939: The Archaeology of Crete. An Introduction, London, S. xxviii.

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von Megagebäuden mit Palastcharakter finden. Diese lange Periode, die immerhin die Hälfte der gesamten zeitlichen Spanne der minoischen Kultur ausmacht, wird durch eine kontinuierliche, allerdings keineswegs rasante Entwicklung gekennzeichnet. Ihre Anfänge lassen sich – konventionell – spätestens gegen 3100 v. Chr. ansetzen. Warum diese Anfänge kein Ereignis, sondern ein archäologisches Konstrukt und somit eine Konvention sind, zeigt die Tatsache, dass zwischen dem Ende der neolithischen Periode und dem Beginn der Bronzezeit auf Kreta keine Zäsur, sondern eine langsame Entwicklung festzustellen ist. Es gibt keine dramatischen Ereignisse oder Brüche, welche die beiden Perioden voneinander trennen. Es geht hier eher um Kontinuität und eine allmähliche Verdichtung von kulturellen Entwicklungen, die nun mit größerer Deutlichkeit archäologisch sichtbar sind. Die minoische Kultur hat daher keinen eindeutig greifbaren bronzezeitlichen Beginn. Ihre Ursprünge verlieren sich in der neolithischen Periode. Auf der Suche nach einem Ereignis oder einem Prozess, der den Beginn einer neuen Ära markiert, wurde oft eine Migration aus einer oder mehreren Regionen außerhalb Kretas angenommen. Die Keramik der ersten frühbronzezeitlichen Phase auf Kreta (FM I) zeigt tatsächlich Affinitäten mit der Keramikproduktion der Kykladen, des griechischen und kleinasiatischen Festlandes, ja sogar der Levante. Um diese Entsprechungen zu erklären, muss man allerdings nicht unbedingt die physische Präsenz von Migranten auf der Insel voraussetzen. Eine Intensivierung der maritimen Verbindungen zwischen Kreta und seinen Nachbarregionen könnte auch eine Reihe von kulturellen Innovationen erklären, die nun in der materiellen Kultur der Insel fassbar werden. Es ist daher viel wahrscheinlicher, dass die minoische Kultur grundsätzlich das Ergebnis einer indigenen Entwicklung war. Die FM I-Keramik bietet den besten Beweis, dass die sich neu formierende Inselgesellschaft fortschrittlicher als die neolithische war. Die Tongefäße sind besser hergestellt und gebrannt, der Ton wird härter, die Formen und der Dekor werden variantenreicher und anspruchsvoller. Diese Entwicklung in der kretischen Keramikproduktion war gewiss nicht der Auslöser eines komplexeren technischen und sozialen Fortschritts, sondern lediglich Teil eines generellen Prozesses, der allem Anschein nach durch die ersten regelmäßigen Kontakte mit anderen ägäi56

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schen Regionen in Gang gesetzt wurde und auch andere Neuerungen umfasste, wie die Einführung der Metallurgie. Hand in Hand mit dieser Innovation ging auch eine Reihe von sozialen Entwicklungen, die wir archäologisch sehr schwer oder kaum fassen können. Ob sich die Technologie des Brandes bei hohen Temperaturen zuerst in der Keramikoder in der Metallproduktion entwickelte, lässt sich leider nicht sagen. Es ist wahrscheinlich, dass es eine ständige Interaktion zwischen verschiedenen Neuerungen gab, die letztendlich in einer Förderung und Intensivierung jeder einzelnen von ihnen und der gesamten kulturellen Entwicklung auf der Insel resultierte. Der Beginn der Bronzezeit als neues technologisches Zeitalter lässt sich ebenfalls nicht eindeutig dokumentieren. Metallfunde sind in der ersten Phase der Bronzezeit (FM I) sehr rar und vermehren sich erst in der nächsten Periode (FM II). Trotz dieser zaghaften Anfänge kann man davon ausgehen, dass die Kenntnis und der allgemeine Gebrauch der Metallurgie sowie die damit verbundene bessere Nutzung der natürlichen Ressourcen einen langsamen, aber kontinuierlichen Fortschritt in Gang setzte, der alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens umfasste und gegen 1950 v. Chr. in der Errichtung von drei Palästen gipfelte. Die Etappen dieser Entwicklung sind leider in einer schriftlosen, vorgeschichtlichen Gesellschaft nur mittelbar und ansatzweise greifbar. Die ›stummen‹ archäologischen Spuren, die uns zur Verfügung stehen, erlauben zwangsweise eine nur grobe Rekonstruktion der vorpalastzeitlichen Gesellschaft Kretas. Das große Problem bleibt, dass diese Periode uns größtenteils nur durch Grabfunde bekannt ist. Diese einseitige Quellengruppe bietet eine zweifelhafte Informationsgrundlage, denn Grabhäuser, Grabbeigaben und Bestattungsriten stellen oft eine Verzerrung sozialer Realitäten dar. Es ist daher unvermeidlich, dass der Archäologe bei seinem Versuch der Rekonstruktion der vorpalastzeitlichen kulturellen Entwicklung mehr zu beschreiben und weniger zu erklären vermag. Daher ist das dritte vorchristliche Jahrtausend auf Kreta eine faszinierende, allerdings weitgehend unbekannte Periode. Die FM I-Periode (ca. 3100–2650 v. Chr.) lässt sich von der vorangegangenen subneolithischen Phase weniger durch die Existenz von Metallfunden unterscheiden, die, wie bereits erwähnt, nur sporadisch vorkommen, sondern vielmehr durch die Erweiterung des Keramikre57

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pertoires, das eine erste Kulmination in der nächsten Phase erfahren wird. Diese Entwicklung im Bereich der Keramikproduktion geht mit einem deutlichen Zuwachs der Siedlungsdichte und dem Auftauchen von neuen ›Bestattungskulturen‹ einher, deren markanteste Merkmale oberirdische Grabgebäude waren. Wenn man von der Keramik absieht, ist der Bestand an Artefakten sehr gering. Darunter gibt es kaum figürliche oder mit figürlichem Dekor ausgestattete Objekte. Die zweite vorpalastzeitliche Periode (FM II, ca. 2650–2200 v. Chr.) ist eine Zeit kultureller Weiterentwicklung in allen gesellschaftlichen Bereichen: Der Bevölkerungszuwachs hält an, die Anzahl der Siedlungen steigt, der Gebrauch von Metallen wird häufiger. An diese Entwicklung knüpft sich eine Reihe von neuen kulturellen Errungenschaften, wie der Beginn der Steingefäßproduktion, die Entstehung eines dichten Austauschnetzes zwischen den verschiedenen Inselregionen und die ersten Kontakte auch mit den ostmediterranen Kulturen. Anders lässt sich nämlich der Fund von Gold und vereinzelten Gegenständen orientalischer Herkunft nicht erklären. Dieser Prozess einer allmählichen sozialen Differenzierung, welche die Voraussetzung für hohe kulturelle Leistungen darstellt, findet vor allem in der Grabarchitektur und den Grabbeigaben Ausdruck. Wie diese soziale Ungleichheit entsteht, lässt sich natürlich nicht so einfach sagen. Es ist allerdings sehr wahrscheinlich, dass bestimmte Regionen, Zentren und vor allem Haushalte durch eine effiziente Nutzung der reichen natürlichen Ressourcen der kretischen Landschaft, durch menschliches Geschick und vielleicht auch durch Gewalt zu den Gewinnern des unaufhörlichen gesellschaftlichen Kampfes um politische und wirtschaftliche Macht gehören. Letztere scheint sich allmählich an zwei Orten zu verdichten, deren Erfolgsgeschichte bereits im Spätneolithikum begonnen hat, nämlich Knossos und Phaistos. Neben diesen beiden Zentren blühen vor allem die Küstenregionen im Ostteil der Insel, die Mesara-Ebene und das Gebiet der Asterousia-Berge. Man kann sicherlich nicht von einer homogenen Kultur sprechen, die sich auch nicht als solche begriffen hat, sondern von einzelnen Zentren oder Regionen, die sich in einem regen Kontakt oder sogar in Konkurrenz miteinander befanden. In keiner anderen Periode der Inselgeschichte waren die kretischen Regionen, was ihre materielle Kultur und Bräuche betrifft, so unterschiedlich. 58

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Am Ende der FM II-Periode lässt sich ein gewisser kultureller Einschnitt verzeichnen. Die Besiedlung an einigen Orten wird abgebrochen. Nach einer gängigen Meinung setzt in der nächsten Phase (FM III, ca. 2200– 2050 v. Chr.) ein deutlicher Rückgang der Bevölkerungszahl ein. Hier ist allerdings Vorsicht geboten. Es ist nämlich zweifelhaft, ob dieses von den Archäologen skizzierte Bild die tatsächlichen historischen Umstände jener Periode widerspiegelt. Möglicherweise ist es nur das Ergebnis einer äußerst lückenhaften Fundsituation bzw. unserer konventionellen Definition der FM III-Keramikphase, die freilich von der nachfolgenden MM I A-Keramik nicht immer klar unterscheidbar ist. Wie dem auch sein mag, stellt die nachfolgende MM I A-Periode (ca. 2050–1950 v. Chr.) in jeder Hinsicht eine Epoche des Aufschwungs bzw. der Kulmination aller kulturellen Errungenschaften der Vorpalastzeit dar. Ein beträchtliches Bevölkerungswachstum, die ersten Anzeichen eines Urbanisierungsprozesses, die regen Handelskontakte mit Zentren in anderen ägäischen Regionen sowie schließlich das mit all diesen Prozessen eng verknüpfte Heranwachsen einer gesellschaftlichen Elite sind Phänomene, die das historische Bild Kretas an der Schwelle zu einer Palastkultur prägten. Betrachtet man die vorpalastzeitliche Entwicklung Kretas aus einer breiteren ägäischen Perspektive, ist die Sonderstellung der Insel im Vergleich zu den Kykladen oder dem Festland unverkennbar. Die florierenden Kulturen des Frühkykladikums und Frühhelladikums fanden nämlich ein abruptes Ende am Übergang von der zweiten zur dritten Phase der Frühbronzezeit. Dies bedeutete sowohl das Ende der genialen kykladischen Bildhauer, die ihre Produktion von Marmoridolen und Steingefäßen einstellten, wie auch das Verschwinden einer höherentwickelten Sozialstruktur auf dem Festland, die sich vor allem in den sogenannten Korridorhäusern und ihrer Siegeladministration manifestiert hatte. Die Gründe für diesen kulturellen Niedergang waren Umwälzungen, die vermutlich mit Naturkatastrophen, inneren Unruhen oder/und der Zuwanderung nordkleinasiatischer Bevölkerungsgruppen in die Ägäis zusammenhingen. Das Leben ging in beiden Regionen zwar weiter, erlangte jedoch die alte Vitalität und Komplexität für lange Zeit nicht wieder. Nur der minoische Kulturprozess wurde von diesen Unruhen nicht betroffen bzw. nicht behindert. Dieser südlichste ägäische Kulturbereich 59

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war der einzige, der in der nachfolgenden Periode (MM I A) eine rasante Entwicklung erlebte, welche am Ende dieser Phase zur Entstehung der ersten Paläste führte. Berechtigt war daher die Frage, die Gerald Cadogan in den 1980er-Jahren als Titel eines Aufsatzes formulierte: »Why was Crete different?«10 Ihre Sonderstellung innerhalb der ägäischen Kulturabfolge verdankte die Insel zweifellos dem Zusammenspiel mehrerer Faktoren, die wir nicht in vollem Umfang nachvollziehen können. Eine primäre und für uns leicht fassbare Bedeutung scheinen die geografischen Gegebenheiten gehabt zu haben. Es war einerseits das große und an natürlichen Ressourcen reiche kretische Binnenland, das die ökonomischen Grundlagen für diese Entwicklung bereitstellte. Andererseits zählte auch die geografische Lage der Insel am südlichen Rand der Ägäis: weit genug von der Zone der Unruhen entfernt, doch nahe genug an den fortschrittlichen Zentren des östlichen Mittelmeerraumes, von denen Kreta stets fruchtbare kulturelle Impulse erhielt. Die archäologischen Befunde erlauben uns keinen näheren Einblick in die verschiedenen Etappen der Prozesse, die am Ende der Vorpalastzeit (um 1950 v. Chr.) zur Gründung der Paläste führten. Will man die verschiedenen Bereiche der sozialen Interaktion etwas detaillierter untersuchen, muss man diese lange Periode eher als ein historisches Kontinuum betrachten. Der Blick, den uns die Fundumstände auf die gesellschaftlichen Strukturen ermöglichen, ist leider nicht nur begrenzt, sondern auch verzerrt. Im Gegensatz zu vielen anderen historischen Perioden oder Kulturen sind wir besser über die Lebensumstände der einfachen Bevölkerung als über die ihrer Oberschicht unterrichtet. Von den vermeintlich wichtigsten Zentren jener Zeit, Knossos, Phaistos und Malia, sind uns wegen der nachfolgenden, jahrhundertelangen Bautätigkeit nur wenige architektonische Spuren erhalten. Die vorpalastzeitliche Besiedlung fiel hier den extensiven Planierungen und Neubauten zum Opfer. Wir können zwar mit Hilfe von Grabungsschnitten in ältere Schichten vordringen und die beträchtliche Größe dieser Zentren erkennen, ihre Struktur bleibt uns allerdings verborgen. Als sicher darf es jedoch gelten, dass in Knossos und Phaistos die Bereiche der späteren 10 Cadogan, Gerald 1986: Why was Crete Different, in: Cadogan, Gerald (Hg.): The End of the Early Bronze Age in the Aegean, Leiden, S. 153–171.

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Paläste bereits seit der späten Phase des Endneolithikums als Versammlungsorte genutzt wurden. Die Existenz von großen, zentralen Gebäudekomplexen mit offenen Höfen lässt sich an beiden Orten sowie auch in Malia ab der FM II-Phase nachweisen. Sie fungierten offensichtlich als das politische und administrative Zentrum der Siedlung oder zumindest als Mittelpunkt sozialer Interaktion. Es wird immer deutlicher, dass die Paläste Kretas nicht plötzlich und ohne Vorgänger in der MM I B-Periode auftauchten. Diese Gebäude besaßen sicherlich mehrere Vorgänger an derselben Stelle, deren architektonischer Plan wahrscheinlich für immer verloren ist. Folglich muss man zugeben, dass die ›ersten Paläste‹ sicherlich nicht die allerersten Residenzen in Knossos, Phaistos und Malia gewesen waren, sondern lediglich die ersten, die für die Archäologen durch ihren monumentalen Charakter greifbar wurden. Viel deutlicher haben sich die Spuren des Lebens in den kleinen dörflichen Siedlungen des FM II erhalten. Unsere wichtigsten Informationsquellen stellen hierbei Myrtos/Phournou Koryphi und Trypiti dar, zwei Siedlungen an der kretischen Südküste, die systematisch ausgegraben wurden. Dies waren kleine Gemeinden aus vermutlich nur fünf bis sechs Haushalten (25–30 Personen), deren Mitglieder in eng aneinandergereihten Häusern mit niedrigen zellenartigen Räumen wohnten. Ihre flachen Dächer waren für verschiedene Aktivitäten genutzt worden. Jede dieser unabhängigen dörflichen Siedlungen war überwiegend auf Subsistenzwirtschaft ausgerichtet. Die materielle Lebensgrundlage stellte die gemischte Landwirtschaft dar, nämlich die Kultivierung von Gerste und Weizen, der Anbau von Oliven und Trauben und die Zucht von Schafen, Ziegen, Rindern und Schweinen. Die Ernährung der Dorfbewohner wurde durch Feigen, Erbsen, Schnecken, Vögel sowie Fische und Muscheln bereichert. Die florierende Heimindustrie konzentrierte sich vornehmlich auf die Produktion von Keramik, Wolle, Öl und Wein. Die zahlreichen schweren Mahlsteine zum Mahlen von Getreidekörnern, die jeder Besucher heute noch neben den Ruinen der kleinen Siedlung von Trypiti sehen kann, sind beredte Zeugnisse der Alltagsroutine der einfachen Leute, die wie in jeder vormodernen Kultur mit einfachen Mitteln und viel Mühe Tag für Tag versucht haben, ihren elementaren Bedürfnissen nachzugehen. Diese ursprüngliche Lebensweise, die sehr stark mit dem Naturraum verbunden ist, hat sich 61

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in mehreren abgelegenen kretischen Dörfern bis in unsere Zeit nur wenig verändert. Erwartungsgemäß kann man auf dieser unteren Ebene der Siedlungshierarchie, die offensichtlich die Lebensumstände der Mehrheit widerspiegelt, keine Anzeichen einer sozialen Differenzierung erkennen. Es gibt hingegen viele Indizien, die für eine unruhige Zeit sprechen. Einige dieser vorpalastzeitlichen Siedlungen zeigen einen wehrhaften Charakter. Phournou Koryphi und Trypiti waren nicht in der Ebene, sondern auf nur mühsam zugänglichen Hügelkuppeln errichtet. Bei Phournou Koryphi bildeten die Außenmauern der Häuser auf den zwei sanft abfallenden Seiten des Hügels (südlich und westlich) eine geschlossene Befestigungsfassade mit nur zwei schmalen Eingängen. Siedlungen, die entweder befestigt oder in Schutzlage errichten wurden, waren in der Vorpalastzeit keine Ausnahme, sondern eher die Regel, wie Geländebegehungen und Ausgrabungen in verschiedenen kretischen Regionen, mit einer auffälligen Konzentration in Ostkreta, nachweisen konnten. Dieses Siedlungsmuster hat seine Ursprünge bereits im Endneolithikum, als zahlreiche Siedlungen auf Gipfeln, steilen Bergrücken oder Spornlagen errichtet wurden. Zweifellos wollte sich die kretische Bevölkerung vor einer Gefahr schützen, die von Feinden innerhalb oder außerhalb Kretas ausging. Mit der späteren Errichtung der Paläste und der Konsolidierung eines neuen zentralistischen politischen Systems wurde die Befestigung von Siedlungen als überflüssig erachtet. Dass das Leben in den Ebenen fortschrittlicher war, zeigen Siedlungsplätze wie Vasiliki am Isthmus von Ierapetra (Ostkreta), dessen Häuser aus größeren rechteckigen Räumen bestanden und gelegentlich über ein oberes Stockwerk verfügten. Einige dieser Räume waren mit rotem Kalkputz angestrichen, ein erstes Anzeichen für die Gestaltung von Innenräumen, die über rein praktische Bedürfnisse hinausging. Die Holzbalken, die in einigen Wänden der Vasiliki-Häuser eingebaut waren, zeugen eventuell von ersten antiseismischen Maßnahmen im Hausbau. Ähnlich fortschrittliche Züge können wir auch für die frühen vorpalastzeitlichen Phasen der späteren Zentren vermuten, die uns allerdings, wie bereits erwähnt, nur sehr punktuell und fragmentarisch erhalten geblieben sind.

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Wegen dieser misslichen Überlieferungslage kann man den geschichtlichen Abriss der vorpalastzeitlichen Kultur Kretas nur mit Verweis auf die Grabfunde fortsetzen. In dieser Periode haben die Minoer ihre Toten nicht unter der Erde begraben, sondern in oberirdisch errichteten Grabbauten bestattet. Die zwei vorherrschenden Grabtypen waren das Kuppelgrab (oder Tholosgrab) und das rechteckige Grabhaus (c Kap. 13). Beide dienten als gemeinschaftliche Grabstätten einer sozialen Gruppe, sei es der ganzen Gemeinde, einer Dorfsippe oder einer mitgliederreichen Familie. Die Kuppelgräber tauchen ohne erkennbare Vorstufen in FM I auf und zeigen eine deutliche Konzentration im Südteil der Insel und konkreter in der Mesara-Ebene sowie dem südlich angrenzenden Asterousia-Bergmassiv. Sie waren Rundbauten aus Stein mit einem inneren Durchmesser von etwa drei bis neun Metern (in wenigen Ausnahmefällen bis ca. 13 Metern) und einer Wandstärke von ca. 0,5–1 Meter. Einige dieser Grabbauten könnten eventuell mit einer durchgehenden Steinwölbung überdeckt worden sein. Eine alternative Möglichkeit für ihre Überdachung wäre ein flaches hölzernes Dach. An die runde Grabkammer waren oft zellenartige Annexe angebaut, die meist Sekundärbestattungen oder Grabbeigaben beherbergten. Die rechteckigen Grabhäuser kommen im Gegensatz zu den Kuppelgräbern überwiegend im Nordund Ostteil der Insel vor. Sie waren ebenfalls aus Stein gebaut und bestanden aus einem, zwei oder mehreren aneinandergereihten Räumen rechteckiger Form. Die Nekropole von Phourni bei Archanes, unmittelbar südlich von Knossos, war der Ort, wo diese zwei unterschiedlichen Grabbautraditionen zusammentrafen. Die Toten wurden in diesen gemeinschaftlichen Grabstätten mitsamt ihren Beigaben bestattet. Während in der frühen Vorpalastzeit der Leichnam offensichtlich direkt auf den Grabboden gelegt wurde, benutzte man seit der FM III/MM I A-Phase vermehrt Pithoi (Vorratsgefäße) oder Larnakes aus Ton als funeräre Behältnisse. Die den Toten beigegebenen Gegenstände bestanden hauptsächlich aus Nahrungsmitteln in Tongefäßen oder anderen Behältnissen aus vergänglichem Material, aus Objekten des persönlichen Besitzes des Toten wie Schmuckstücke, Amulette, Siegel oder Kleingeräte und schließlich aus Gegenständen rituellen Charakters wie menschen- oder tiergestaltige Statuetten und Rhyta (Spendegefäße). Nach der Verwesung des Leichnams hat man die 63

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Skelettreste meistens beiseite geräumt bzw. aus dem Grab entfernt. Die Erinnerung an die Person des Verstorbenen blieb nur mit der Sekundärbestattung von Schädel und Langknochen erhalten, die vermutlich eine Funktion als partes pro toto innehatten. Diese wurden meist an eine andere Stelle innerhalb oder außerhalb des Grabes umgebettet. Unter den zahlreichen Funden aus den vorpalastzeitlichen Gräberfeldern gibt es viele Gegenstände, deren Form auf eine rituelle bzw. symbolische Bedeutung hinweist. Gemeint sind hier in erster Linie Statuetten, Rhyta oder Askoi (schlauchförmige Spendegefäße) in Menschen- oder Tiergestalt, die sogenannten Schafsglockenidole und schließlich Gefäße mit figürlichen Applikationen, die allesamt eine gewisse Rolle in den Bestattungsritualen gespielt haben müssen. Es ist wahrscheinlich, dass die Zeremonien im Nekropolenareal keine ausschließlich sepulkrale Funktion erfüllten, sondern darüber hinaus das wichtigste Vehikel der vorpalastzeitlichen Kultaktivität boten, zumal die Anzeichen eines nicht sepulkralen Götterkultes für den größten Teil der Vorpalastzeit spärlich sind. Diese Vermutung beruht zunächst auf dem fast universellen Phänomen des engen Verhältnisses zwischen Toten-, Ahnen- und Götterkult. In unserem Fall lässt sich dies vielleicht sogar archäologisch nachweisen. ln den Nekropolen von Platanos, Koumasa und Odijitria kamen gepflasterte Bereiche in der unmittelbaren Nähe der Gräber ans Licht. Sie werden als Schauplatz von religiösen Zeremonien gedeutet, die wahrscheinlich über den engen Rahmen eines Bestattungsrituals hinausgingen. Es ist durchaus vorstellbar, dass die Nekropole das kultische Zentrum des Dorfes darstellte, einen Ort der Interaktion zwischen Lebenden und Toten, an dem sich die Gemeinde zu regelmäßigen Anlässen, wie Feiern oder religiösen Zeremonien, versammelte. Bei den größeren Zentren dieser Periode, die uns, wie bereits erwähnt, nur sehr lückenhaft erhalten geblieben sind, gab es sicherlich auch öffentliche Räume, an denen das Kollektiv sich bei feierlichen oder anderen Anlässen versammelte. Dies lässt sich vor allem in Phaistos eindeutig belegen, und zwar im Bereich westlich des späteren Palastes, wo man große Mengen von Tierknochen und Keramik entdeckte. Phaistos war offensichtlich seit der Vorpalastzeit das zeremonielle Zentrum der Mesara-Region, der Ort, an dem die Bevölkerung der umliegenden Dörfer durch Feste oder Zeremonien eine gemeinsame Identität aufbaute und festigte. 64

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Erst in der letzten Phase der Vorpalastzeit gibt es eindeutige Belege für einen Kult außerhalb der Nekropolen. Mit der Entstehung der ersten Höhenheiligtümer auf der Insel scheint sich das Zentrum der religiösen Aktivität von der Nekropole auf den Berg zu verlagern. Die Höhenheiligtümer lagen auf einem hohen Berg- oder Hügelplateau in Reichweite und mit Blickkontakt zur dazugehörigen Siedlung und dienten als Orte eines Kultes, der meist unter freiem Himmel stattfand. Der oder den Gottheit(en) wurden massenweise tönerne Votive in Form von Menschen, Tieren oder Körperteilen dargebracht. Diese Gaben deuten offenbar auf den heilenden bzw. schützenden Charakter des Kultes hin, der auch in der nachfolgenden Altpalastzeit auf der Insel dominierte. Wie so oft in der archäologischen Überlieferung stellen Tongefäße die frühesten datierbaren Erzeugnisse des minoischen (Kunst-)Handwerks dar. Die Keramik der FM I- und FM II-Perioden zeigt eine eindrucksvolle Vielfalt. Im Vergleich zum Neolithikum vermehrten sich nun, wie bereits erwähnt, Gefäßformen und Verzierungsarten beträchtlich. Der monochrome Charakter der neolithischen Keramik wurde allmählich von neuen Keramikstilen verdrängt. Die Gefäße wurden entweder handgemacht oder auf einer sich langsam auf dem Boden drehenden Töpferscheibe produziert. Die drei wichtigsten unter ihnen sind als ›Dunkel-auf-Hell‹-Stil, ›Geflammter‹ und ›Hell-auf-Dunkel‹-Stil bekannt. Der zweite Stil verdient unsere besondere Aufmerksamkeit. Mit dieser ›Geflammten‹ oder auch – nach ihrem ostkretischen Hauptfundort – ›Vasiliki‹ genannten Ware erreichte nämlich die kretische Töpferei einen ersten Höhepunkt. Der eigenartige, rot- bzw. schwarzfleckige Dekor entstand offensichtlich durch den gewollt ungleichmäßigen Brand der polierten Gefäßoberfläche oder durch die Berührung mit glühender Holzkohle. Das effektvolle Ergebnis dieser bizarren Fleckung, die vermutlich die Äderung der Oberfläche von Steingefäßen imitierte, wurde durch die manchmal expressive Formgebung von Hals oder Ausguss intensiviert. Zweifellos waren die Gefäße des Vasiliki-Stils kein einfaches Haushaltsgeschirr, sondern Luxusware. Es ist durchaus möglich, dass bestimmte Keramikstile als Identitätsträger von verschiedenen sozialen Gruppen fungierten, die sich bewusst voneinander durch die Entwicklung von einer individuellen Machart oder einem individuellen Dekor abgrenzen wollten. Auch aus diesem Grund macht es die Vielfalt 65

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der Keramikproduktion schwer, von einer streng einheitlichen minoischen Kultur zu sprechen. Alles spricht für einen starken Regionalismus und Diversität und nicht für eine Inselbevölkerung mit einer gemeinsamen kulturellen Identität.

Abb. 4: Tongefäße des ›geflammten Stils‹ (›Vasiliki-Stil‹).

Während die Keramik von der neolithischen Monochromie über mehrere Etappen zur Stufe der Polychromie fortschritt, machten die anderen Handwerkszweige eine aus kunsthistorischer Sicht ebenso wichtige Entwicklung durch. Langsam wurde hier der Übergang vom Abstrakt-Geometrischen zum Figürlichen vollzogen. Dies gelang der vorpalastzeitlichen Kultur zunächst auf dreidimensionaler Ebene und betraf daher lediglich die Kleinplastik, nicht aber die Dekoration der Flächenkunst. Statuetten, Askoi und Rhyta in menschlicher oder tierischer Form tauchten erstmals in dieser Epoche vermehrt auf. Begleitet wurden diese Werke seit der FM II A-Phase von den ersten figürlichen Siegel- und Amulettformen, die uns inmitten der zahlenmäßig dominanten geome66

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trischen Typen begegnen. Ihre Vorbilder lagen in der Pflanzen- und Tierwelt und umfassten unter anderem Hunde, Frösche, Vögel, Blütenknospen, Füße oder Hufe. Sogar Affen und Löwen werden dargestellt, die auf Kreta nicht heimisch waren und offensichtlich durch die Kontakte mit ostmediterranen Regionen Eingang in die minoische Ikonografie gefunden haben.

Abb. 5: Vorpalastzeitliches Siegel in Form eines Affen aus der Trapesa-Höhle.

Zweifellos stellte in dieser – wie auch in den nächsten Perioden der minoischen Kultur – das Land die wirtschaftliche Grundlage der minoischen Kulturentwicklung dar, doch war das Meer der Faktor, der das Tempo dieses Prozesses diktierte. Am Übergang vom Neolithikum zur Bronzezeit wird das Meer allmählich von einer Barriere zu einer Brücke, sodass sich Kreta der Außenwelt gegenüber öffnete. Die engsten Kontakte wurden erwartungsgemäß mit den unmittelbar nördlich gelegenen Kykladeninseln geknüpft. Bei dieser Begegnung stellten die Kykladen zweifellos den tonangebenden Partner dar. Der ungleich gewichtete Aus67

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tausch zeichnet ein eindeutiges Bild ihrer kulturellen Überlegenheit. Dreh- und Angelpunkt der kykladisch-kretischen Beziehungen in dieser Periode war Nordzentralkreta. Von dieser Region verbreiteten sich offensichtlich kykladische Güter und Ideen auch auf den Rest der Insel. Während das kykladische Interesse an minoischen Artefakten eher gering war, waren umgekehrt kykladische Objekte auf Kreta sehr begehrt und regten die entsprechenden Zweige des einheimischen Kunsthandwerks an. An erster Stelle sind hier die Kykladenidole in ihren verschiedenen Variationen zu nennen, von denen Dutzende an kretischen Fundorten ans Licht kamen. Die Nachfrage auf Kreta muss groß gewesen sein, sodass eine lokale, flache Variante der kykladischen Vorbilder entstand, der sogenannte Koumasa-Typus, der jedoch in stilistischer Hinsicht mit seinen Vorbildern nicht wetteifern konnte. Eine ähnliche Vorliebe brachten die Minoer kykladischen Schmuckarbeiten, Steingefäßen (Pyxiden und Marmorschalen) oder sogar Tongefäßen entgegen, die ebenfalls einen Einfluss auf das lokale Kunsthandwerk ausgeübt haben. Die Kykladen waren zugleich der wichtigste Rohstofflieferant Kretas. Sie exportierten vornehmlich Metalle – Kupfer, Blei, Silber – und Obsidian, den vulkanischen schwarzen Stein, der auf Kreta große Beliebtheit genoss und zu Klingen und anderem Schneidewerkzeug verarbeitet wurde. Die Kontrolle über die wichtigsten See- und Landwege Nordkretas blieb offensichtlich – zumindest ab der FM II-Phase – in den Händen der Einheimischen. Es ist bezeichnend, dass in einem der wichtigsten Handelszentren Nordkretas der FM II-Phase, der Siedlung von Mochlos, das kykladische Element bis auf die unvermeidliche Existenz von großen Mengen an Obsidian sehr schwach ist. Überraschend früh sind die ersten Anzeichen der kretischen Kontakte mit den Kulturen des östlichen Mittelmeers zu verzeichnen. In sicher datierten FM II A-Kontexten in Knossos und Archanes kamen Gegenstände aus Gold und Flusspferd-Elfenbein sowie zwei ägyptische Steingefäßfragmente ans Licht. Sie stammen entweder aus einer direkten Verbindung zu Ägypten oder aus Umschlagsorten des ostmediterranen Seehandels an der syro-palästinensischen Küste. Die Existenz von orientalischen Importen liefert eindeutige Hinweise dafür, dass Kreta bereits seit der Mitte des dritten Jahrtausends v. Chr. mit diesen fernen Kulturen in Berührung kam. In der MM I A-Phase lassen sich diese Beziehun68

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gen noch besser dokumentieren. Die Artefakte aus Flusspferd-Elfenbein und Gold nehmen zu, was für eine gewisse Regelmäßigkeit des Imports dieser Materialien spricht. Interessanterweise wurden alle Elfenbeinobjekte aus vorpalastzeitlichen Fundorten aus Nilpferdhauern und nicht aus Elefantenstoßzähnen geschnitten. Offensichtlich hatten die Minoer keinen Zugang zu jenen Märkten, an denen auch Letztere angeboten wurden. In dieser Periode wurden auch die ersten ägyptischen Skarabäen importiert und von kretischen Handwerkern imitiert. Vorderasiatische Einflüsse sind ferner in derselben Zeit erkennbar, vor allem im Metallhandwerk, etwa bei der Produktion von Dolchen oder Schmuck. Die Kontakte der minoischen Bevölkerung mit anderen ägäischen und ostmediterranen Regionen haben sicherlich eine entscheidende Rolle in der Herausbildung der Palastgesellschaft auf Kreta gespielt. Diese enge Berührung mit fremden Kulturen, die in einiger Hinsicht fortschrittlicher als die eigene waren, förderten und beschleunigten die gesellschaftlichen Prozesse, die gegen 1950 v. Chr. in der Entstehung der ersten – von den Archäologen eindeutig fassbaren – Paläste gipfelten. Daher wird es deutlich, dass dieses Ereignis keinen plötzlichen kulturellen Sprung darstellte, sondern am Ende einer jahrhundertewährenden gesellschaftlichen Entwicklung stand. Die Spuren dieses historischen Prozesses sind allerdings, wie bereits erwähnt, dürftig und indirekt, was eine rationale Erklärung dieses Phänomens wesentlich erschwert. Eine unabdingbare Voraussetzung für die Entstehung einer Palastgesellschaft ist zweifellos die Bildung einer Elite, das heißt einer die Herrschaftsgewalt ausübenden Oberschicht, welche die anderen für sich arbeiten ließ. Die ersten deutlichen Anzeichen einer derartigen gesellschaftlichen Hierarchie auf Kreta lassen sich bei den Nekropolen beobachten. Zunächst macht das Vorherrschen kommunaler Grabtypen das Nachzeichnen von Prozessen sozialer Stratifizierung zu einem schwierigen Unterfangen. Klassenspezifische Unterschiede sind dennoch nachweisbar und werden durch eine exklusive Beigabenausstattung zum Ausdruck gebracht, welche Siegel, Dolche, Schmuckarbeiten und Steingefäße umfassen konnte. Wegen ihres seltenen Auftretens im Verhältnis zur Anzahl der bestatteten Individuen verweisen diese Objekte auf eine besondere gesellschaftliche Stellung ihres Besitzers und sind daher als elitär zu bezeichnen. Eine besondere Aufmerksamkeit verdienen hier die Siegel in ihrer polyvalen69

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ten Signifikanz als Amulette, Prestigeobjekte und Stempelinstrumente. Die beiden letztgenannten Funktionen sind für das Beleuchten des Prozesses der fortschreitenden sozialen Differenzierung entscheidend. Dies gilt insbesondere für die Gruppe der sogenannten Elfenbeinzylinder, die in der reifen bzw. ausgehenden Vorpalastzeit datiert und vor allem im südlichen Zentralkreta verbreitet war. Diese mit zwei Siegelflächen ausgestatteten Stücke waren auf doppelte Weise exotisch: durch ihr kostbares Material (Flusspferd-Elfenbein) und durch ihre Siegelmuster, die in der Regel Löwenreihen in kreisförmiger Anordnung (›Löwenparade‹) darstellten. Die Vermutung liegt nahe, dass sie Ausdruck der kollektiven Ideologie der ersten elitären Gruppen Südzentralkretas waren, welche durch die Demonstration exotischer – und dadurch exklusiver – Elemente artikuliert wurde. Weniger hilfreich ist in unserem Zusammenhang allerdings ihre Funktion als Stempelgeräte, weil sie keineswegs eindeutig mit der Herausbildung eines administrativen Systems und somit eines Zentralisierungsprozesses in Beziehung gesetzt werden kann. In der Vorpalastzeit wurden die Siegel weniger für das Sichern als vielmehr für das Markieren verwendet. Damit siegelte man also nicht nur Tonplomben, das heißt Gegenstände, deren Funktion nur darin bestand, einen Siegelabdruck zu tragen, womit man eine Öffnung bzw. einen Zugang sicherte, sondern auch Dinge des Haushalts wie Gefäße, Webgewichte und Spinnwirtel. Bei letzterer Funktion, die die meisten Spuren hinterlassen hat, scheint der eigentliche Sinn des Versiegelns kein verwaltungstechnischer Akt gewesen zu sein, sondern das Versehen von brauchbaren Gegenständen mit einem Zeichen, das auch im privaten Kontext als Dekor, individuelle Markierung oder magisches und apotropäisches Symbol gedeutet werden könnte. Im Gegensatz zu zahlreichen festländischen Orten der FH II-Phase (zeitgleich mit FM II), die umfangreiche Indizien für die extensive Verwendung von Siegeln im Kontext ›zentraler Gebäude‹ geliefert haben, sind die Spuren für die Verwendung der vorpalastzeitlichen Siegel im Bereich der späteren Palastzentren, wie in Knossos und Malia, nur spärlich.

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Abb. 6: Vorpalastzeitliche Steinvasen aus Mochlos.

Kreta als höfische Gesellschaft (MM I B–II B) Die Zentralgebäude in drei der wichtigsten Siedlungen der Vorpalastzeit (Knossos, Phaistos und Malia) erfuhren am Beginn des zweiten Jahrtausends v. Chr. eine eindrucksvolle monumentale Gestaltung. Es sind die Gebäude, die in der bisherigen Forschung als die ›Alten‹ oder die ›Ersten Paläste‹ bezeichnet werden. Die ausgedehnten Baukomplexe mit einem großen Zentralhof, um den sich Wohn-, Kult- und Wirtschaftsräume gruppierten, bildeten den Kern einer sehr dynamischen Entwicklung, in deren Zuge Kreta als erste mediterrane Insel das hohe kulturelle Niveau der vorderasiatischen Königtümer erreichte. Die Altpalastzeit war eine Epoche rasanten Fortschritts und eindrucksvoller Innovationen, die sicherlich mit dem Prozess der Herauskristallisierung einer höfischen Gesellschaft zusammenhingen. Die Einführung von Schriftlichkeit und die erste intensive Verwendung von Siegeln für die Kontrolle administrativer Vorgänge sind zwei Phänomene, die ohne die Palastinstitution undenkbar wären. Die minoische Bildsprache erlebte 71

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einen ersten Boom von zweidimensionalen figürlichen Motiven, die uns, genauso wie in der vorhergehenden Periode, fast ausschließlich im Miniaturformat, nämlich als Siegeldekor, begegnen. Die Töpfer benutzten zum ersten Mal die schnell rotierende Töpferscheibe, eine Erfindung, die offensichtlich Impulsen von außen zu verdanken war. Die neue Herstellungstechnik wurde allerdings am Anfang nur zaghaft übernommen, da viele Werkstätten ihre Gefäße auf die traditionelle, handgedrehte Weise herstellten. Erst ab der MM II A-Phase lässt sich ein hoher Anteil an scheibengedrehten Gefäßen verzeichnen. Eine kleine Revolution erfolgte auch im Bereich der Siegelkunst. Die Einführung der schnell rotierenden Drehscheibe eröffnete bis dahin ungeahnte Möglichkeiten bei der Bearbeitung von Siegeln. Die Siegelschneider begannen, auch harte Halbedelsteine mit feinen, schnell rotierenden Metallgeräten zu bearbeiten und zu gravieren. Eine bekannte Gattung von altpalastzeitlichen Siegelmotiven, die die konventionelle Bezeichnung ›(archi-)tektonische Motive‹ trägt, besteht aus geometrischen Ornamenten, welche mit eindrucksvoller Präzision auf der Siegelfläche eingraviert wurden. Diese Ornamentik verdankt ihre Existenz keinem ›geometrischen‹ Empfinden, sondern lediglich der Verwendung von neuen Werkzeugen. Hier erkennt man den Drang der altpalastzeitlichen Kunsthandwerker, die neuen Möglichkeiten ihres Metiers zu demonstrieren. Einen wesentlichen Teil dieses dynamischen Fortschritts stellte auch die Intensivierung der Handelskontakte mit anderen Regionen in der Ägäis und im östlichen Mittelmeer dar. Die Strahlkraft der minoischen Zentren außerhalb Kretas wird durch die Verbreitung minoischer Tongefäße, aber auch die Produktion lokaler Nachahmungen nicht nur auf verschiedenen südägäischen Inseln, sondern auch auf Zypern, in der Levante und in Ägypten fassbar. Am anderen Ende dieses Austausches zeigten die altpalastzeitlichen Eliten eine besondere Vorliebe für ägyptische Artefakte bzw. Motive, die bereits seit der Vorpalastzeit die Insel regelmäßig erreichten. Siegelpraxis und Schrift wurden zum ersten Mal im Dienste der Palastadministration extensiv verwendet, um diverse verwaltungstechnische Vorgänge effizient zu überwachen (Siegelpraxis) oder zu registrieren (Schrift). Auf Siegeln, Gefäßen, Steinblöcken, Tonstangen und -tafeln treten nun bilderschriftartige Zeichen und echte minoische Hieroglyphen auf. Neben der hierogly72

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phischen Schrift entwickelte sich in der reifen Phase der Altpalastzeit ein zweites Schriftsystem, dessen Zeichen einer linearen Abstraktion unterworfen sind (Linear A). Beide Schriftsysteme konnten noch nicht entziffert werden. Von den ›alten‹ Palästen kennen wir nur einzelne Räume oder Befunde, die sich unterhalb des Begehungsniveaus der ›neuen‹ Paläste erhalten haben. Nur in Phaistos, wo man die Fassade des neuen Gebäudes einige Meter nach Osten versetzte, blieb ein großer Teil der Magazinräume im Westflügel des alten Palastes unterhalb des neupalastzeitlichen Westhofs erhalten, da sie vor den Umbauarbeiten nicht abgerissen, sondern mit einer dicken Schicht von mörtelartigem Agglomerat versiegelt wurden. Ihre Mauern sind in einer Höhe von einem Meter bis zu ca. sieben Metern (!) erhalten. Hier hat man die Gelegenheit, nicht nur Zerstörungsschichten, sondern ganze Räume aus der Altpalastzeit zu sehen oder gar zu betreten, die zuweilen große Vorratsgefäße enthalten. Die Lage und Anordnung der Magazine entspricht der der neuen Paläste, sodass man davon ausgehen kann, dass sie sich in ihrem Gesamtplan nicht sehr stark voneinander unterschieden haben dürften. In Knossos und Malia müssen wir uns auf vereinzelte Befunde beschränken, die in verschiedenen Bereichen des Palastareals verteilt sind und uns keine konkrete Vorstellung vom architektonischen Grundriss geben können. In Knossos ist die Unterscheidung zwischen dem alten und dem neuen Palast eher problematisch, weil man es hier nicht mit zwei Gebäudekomplexen zu tun hat, die nacheinander bzw. übereinander gebaut wurden, sondern lediglich mit Bereichen, die erneuert bzw. erweitert wurden. Hier ist es deutlich, dass der alte Palast, auch wenn er am Beginn der MM III A-Phase von einem Erdbeben betroffen wurde, nie, wie in Phaistos, in Ruinen lag. Die systematischen Grabungen der letzten Jahre in Petras (Nordostkreta) und in Monastiraki (Südzentralkreta) haben zwei weitere Palastbauten ans Licht gebracht, die ebenfalls in die Altpalastzeit datieren. Es ist ferner wahrscheinlich, dass auch an weiteren kretischen Orten große Gebäudekomplexe mit einer ähnlichen Funktion errichtet wurden. Gemeinsam betrachtet sind sie Zeugnisse für eine dynamische Entwicklung der minoischen Gesellschaft, die um 1950 v. Chr. einen monumentalen architektonischen Ausdruck fand. Die besondere kulturhistorische Be73

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deutung der dezidiert monumentalen Dimension der kretischen Paläste wird erst aus einer diachronen Perspektive sehr deutlich. Im ägäischen Raum hat es in den nachfolgenden Jahrtausenden (!) keine vergleichbar großen oder größeren Gebäude gegeben. Alles spricht dafür, dass die Palastzentren und vielleicht weitere größere Siedlungen ohne Paläste politisch unabhängig voneinander waren. Es gab offensichtlich nicht nur ein dominantes politisches Zentrum, sondern mindestens drei souveräne Paläste mit ihren eigenen Territorien. Da es unwahrscheinlich ist, dass diese Machtzentren die gesamte Insel unter sich aufgeteilt hatten und flächendeckend kontrollierten, hat es offensichtlich mehrere Regionen gegeben – vor allem in den Bergen, aber auch in einem gewissen Abstand vom direkten Einzugsgebiet dieser Paläste – die nicht unter ihrer direkten Kontrolle lagen. Wie die Beziehungen zwischen diesen souveränen Zentren aussahen, lässt sich ohne schriftliche Quellen nicht klar sagen. Natürlich muss man mit einer starken Konkurrenz rechnen, die vor allem im unvermeidlichen Streben nach territorialer Ausdehnung und Erweiterung des politischen Einflusses, der intensiven Nutzung von natürlichen Ressourcen und der direkten Kontrolle von Verbindungswegen Ausdruck fand. In der archäologischen Überlieferung gibt es allerdings keine eindeutigen Indizien dafür, dass diese Periode durch eine Kette von kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen konkurrierenden Zentren wie im Kreta der historischen Zeit gekennzeichnet war. In den urbanen Zentren gab es keine Befestigungen. Es ist allerdings interessant zu beobachten, dass Schwerter und Dolche eine gewisse Rolle in der sozialen Konstruktion der männlichen Identität spielten, wie nicht nur aus ikonografischen Zeugnissen, sondern auch aus Waffenweihungen im Original oder als Miniatur an minoischen Kultorten hervorgeht. Tonstatuetten aus verschiedenen Höhenheiligtümern reduzieren das männliche Ideal auf das Essentielle: einen athletischen Körper und einen Dolch, der am kurzen Schurz gegürtet ist. Der Dolch blieb auch in späteren Perioden, ja sogar bis heute noch, das wichtigste Attribut kretischer Männer. Die Frage allerdings, ob wir ihn als Ausdruck eines militärischen Ethos betrachten dürfen, muss unklar bleiben, weil der Dolch als Allzweckgerät genutzt werden konnte. Man muss daher davon ausgehen, dass diese Periode größtenteils friedlich verlaufen ist, ohne natürlich die Möglichkeit von 74

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gelegentlichen gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen einzelnen Zentren ausschließen zu können. Die Tatsache, dass in den verschiedenen Regionen der Insel ähnliche monumentale Gebäude entstanden, dass die materielle Kultur dieser Zentren ein weitgehend einheitliches Bild zeichnet und schließlich dass der Handelsverkehr zwischen einzelnen Regionen sehr intensiv war, sprechen dafür, dass all diese Zentren keineswegs isoliert und introvertiert waren, sondern einen sehr intensiven Austausch miteinander pflegten. Der Austausch oder gar die Existenz eines oder mehrerer überregionaler Netzwerke auf Kreta, in deren Bahnen Güter, Menschen und Ideen zirkulierten, waren die Voraussetzung für die rasante Entwicklung der Insel sowie für den mehr oder weniger homogenen Charakter der materiellen Kultur in dieser Periode. Eine entscheidende Rolle für diesen dynamischen Prozess sowie für die engere Vernetzung mehrerer Regionen miteinander hat bereits seit dem frühen dritten Jahrtausend v. Chr. der Weg zwischen Knossos und Phaistos gespielt, der die zwei wichtigsten Zentren der minoischen Kultur und die von ihr kontrollierten Territorien miteinander verbunden hat. Für diese Strecke brauchte ein Fußgänger bei gewöhnlichem Schritttempo etwa zwölf Stunden. Menschen und Eselkarawanen, die sicherlich mehrere Pausen entlang dieses Weges einlegen mussten, brauchten vielleicht mehr als einen Tag, um ihr Ziel zu erreichen. Die kulturhistorische Bedeutung dieses Verbindungskanals mit seinen zahlreichen Zwischenstationen, in dem täglich Menschen mit ihren Waren und Ideen verkehrten, kann man nur mit der Bedeutung der großen Flüsse in den ›hydraulischen Zivilisationen‹ Ägyptens und Mesopotamiens vergleichen, welche die unabdingbare Voraussetzung für die intensiven Kontakte und Interaktionen auf überregionaler Ebene boten. Dieser ›geistige Fluss‹, der die Mitte der Insel durchquerte, hat die dynamische kulturelle Entwicklung der Insel entscheidend vorangetrieben. Trotz der offensichtlichen Gemeinsamkeiten, die uns erlauben, von einer und nicht von mehreren Kulturen auf der Insel zu sprechen, gibt es einige unverkennbare Unterschiede in der materiellen Kultur der kretischen Regionen. Durch systematische Untersuchungen und Auswertungen des Fundmaterials nimmt unser Bild einer in mehrere politische Territorien gegliederten Insel immer schärfere Konturen an. Der regio75

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Abb. 7: Der Palast von Phaistos.

nale Charakter und die Verbreitung von bestimmten Objekten, wie Keramik, Steingefäßen und Siegeln, zeigt, dass einige Typen nur innerhalb eines Inselteils produziert wurden und dort zirkulierten. Durch die Kartierung der Fundorte dieser Objekte hat man ferner den Versuch unternommen, die territoriale Ausdehnung der großen Palastzentren zu definieren. Diese Methode, die zurzeit die einzige Möglichkeit bietet, um die politische Geografie der Insel in der Altpalastzeit etwas präziser zu fassen, bleibt natürlich sehr riskant. Die zahlreichen Ähnlichkeiten zwischen der Keramik aus dem südkretischen Myrtos/Pyrgos und dem Palast von Malia sowie auch anderen Siedlungszentren (Vasiliki, Gournia) bietet nicht ohne Weiteres ein Indiz für politische Abhängigkeit und somit für die Existenz eines politischen Territoriums, das von diesem Palast kontrolliert wurde. Verbreitungsmuster von Tongefäßen und anderen Artefakten könnten nicht nur politisch-administrative, sondern auch kommerzielle Netzwerke widerspiegeln oder kollektive Identitäten auf überregionaler Ebene zum Ausdruck bringen. Was allerdings als sicher gelten kann, ist, dass die drei großen Paläste (Knossos, Phaistos 76

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und Malia) souveräne Zentren waren, wie die überraschende Tatsache zeigt, dass sie sich unterschiedlicher Schriftsysteme bedienten. Dies gilt zweifellos für die Paläste von Malia und Phaistos, da Knossos uns immer noch vor ein großes Problem stellt. In Malia hat man in der Altpalastzeit ausschließlich die ›hieroglyphische‹ Schrift benutzt, in Phaistos hingegen die Linear-A-Schrift. Welches Schriftsystem in Knossos verwendet wurde, lässt sich immer noch nicht mit Sicherheit sagen, da die Datierung eines sehr wichtigen Fundensembles (des sogenannten ›Hieroglyphic Deposit‹) nicht sicher ist. Wenn die Siegelabdrücke dieser Fundgruppe, wie es scheint, nicht in die Alt-, sondern erst in die beginnende Neupalastzeit gehören, dann scheint Knossos, wie Phaistos die Linear-A-Schrift für Verwaltungsangelegenheiten des Palastes benutzt zu haben. Interessant ist ferner, dass sämtliche hieroglyphischen Inschriften aus Knossos nicht durch Siegel, sondern durch ihre Abdrücke auf Tonplomben nachgewiesen sind, was eventuell auf ihre nicht-knossische Herkunft als Authentifizierung von eingegangenen Waren hindeuten würde. Bei unserem Versuch, eine Geschichte dieser Palastzentren in der Altpalastzeit zu schreiben, stoßen wir wegen der nicht entzifferten schriftlichen Quellen auf unüberwindbare Hindernisse. Wir sind auch in diesem Fall auf die ›stummen Zeugnisse‹ angewiesen: die Architektur, die Objekte und vor allem die Bilderwelt, die nun eine erste große Entfaltung durch eine eindrucksvolle Erweiterung des Motivrepertoires erlebt und zum ersten Mal auch zahlreiche Szenen mit handelnden Personen enthält. Diese Bilder, die nur schlaglichtartig in einem großen Dunkel auftauchen, sind spärliche und schwer verständliche Fragmente einer Vergangenheit, zu der man noch keine schlüssige Geschichte entwerfen kann. Durch indirekte Zeugnisse, Vergleiche und das Aufhellen von Zusammenhängen gewinnen wir einen Einblick in die unterschiedlichen Biografien der einzelnen Zentren. Der Palast von Phaistos thronte auf einem niedrigen Hügel, von dem die residierende Elite einen großen Teil der Mesara-Ebene überblickte und offensichtlich kontrollierte. Die gehobene Lage, die hervorragende Sicht über die weite Ebene und zum Psiloritis-Massiv, die monumentale Architektur und die lange Vorgeschichte dieses Ortes, die bis in das Neolithikum zurückreicht, machen Phaistos zum Inbegriff eines mächtigen minoischen Palastzen77

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Abb. 8: Siegel mit hieroglyphischen Zeichen.

trums, das sich inmitten seines Territoriums majestätisch erhob. Der Wohlstand der Palastelite ist unverkennbar. Die Tausenden von Tonplomben mit Siegelabdrücken sind ein beredtes Zeugnis für die rege Zirkulation von Gütern und die Existenz eines effizienten zentralistischen Kontrollmechanismus für deren Verwaltung und Lagerung. Durch die Vielfalt der abgedrückten Siegelbilder, die Menschen, Tiere, Mischwesen, Landschaftsszenen, Pflanzen, Objekte und vielleicht auch Götter zeigen, breitet sich vor unseren Augen eine kleine Bildenzyklopädie der realen und imaginierten Lebenswelt dieser lokalen Gesellschaft aus. Wir können sie bestaunen, aber nicht einmal ansatzweise verstehen. In den Palastwerkstätten entstand ein neuer Keramikstil, der technische Perfektion mit einem bunten feinen Dekor kombinierte und nach seinem ersten Hauptfundort (einer Kulthöhle in der Nähe von Phaistos) konventionell als Kamares-Keramik bezeichnet wird. Der hohe Anspruch der konsumierenden Elite und die offensichtlich harte Konkurrenz zwischen den Werkstätten förderten die Innovationskraft 78

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der Töpfer und die ständige Erweiterung des Dekorrepertoires. Das Streben, die Grenzen, die das bescheidene Herstellungsmaterial stellte, zu sprengen, ist hier offenkundig. Die Töpfer konnten dünnwandige Gefäße herstellen und brennen, die bisweilen eine Wandstärke von nur zwei Millimetern (!) hatten und durch ihre Form und Schwarzpolitur wie Metallgefäße aussahen. Ihre Oberfläche wurde mit bunten pflanzlichen und geometrischen Ornamenten verziert, die ein nahezu mathematisches Verständnis der Aufteilung der Fläche offenbaren und wie bunte Textilien über ihre Oberfläche ausgebreitet waren. Es könnte sein, dass diese Schöpfungen sogar in höherem Maße begehrt waren als ihre vermeintlichen metallenen Vorbilder.

Abb. 9: Altpalastzeitlicher Siegelabdruck aus dem Palast von Phaistos mit der Darstellung einer Wildziege.

Der Palast von Malia wurde an einer flachen Stelle in der unmittelbaren Nähe der kretischen Nordküste errichtet und verdankte sicherlich einen Großteil seiner wirtschaftlichen Potenz nicht nur der agrarischen Pro79

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duktion, sondern auch dem maritimen Handel. Mehrere Objekte zeigen eindeutige ägyptische Einflüsse und legen einen direkten oder indirekten Kontakt des Palastes mit dieser Region nahe. Auch wenn der Begriff ›Ägyptomanie‹, den man für den Palast von Malia anlässlich dieser Funde verwendete, etwas übertrieben ist, lässt sich doch deutlich ein Interesse lokaler Handwerker erkennen, sich fremde Ideen anzueignen und ihre Produktpalette zu bereichern. Die systematischen Grabungen französischer Archäologen haben hier um den Palast herum Teile eines altpalastzeitlichen Viertels ans Licht gebracht, das uns reiche Zeugnisse des pulsierenden Alltags in einer großen Küstensiedlung liefert. Im ›Quartier Mu‹ lagen luxuriöse Privathäuser und Handwerkerviertel nebeneinander oder bildeten sogar Teile ein und desselben Gebäudekomplexes. Hier tauchen bereits in der Altpalastzeit bauliche Elemente auf, wie das ›Lustralbecken‹ und die ›minoische Halle‹ (c Kap. 8), die zu den prägnantesten Formen der neupalastzeitlichen elitären Architektur zählen. In diesem Viertel arbeiteten Töpfer, Bronzeschmiede, Siegelund Steinvasenkünstler nebeneinander und konnten sich praktisch jeden Tag gegenseitig über die Schulter schauen. Wie sich das Verhältnis zwischen Palast und Stadt gestaltete und wie der soziale Status der Bewohner dieser Häuser und der Handwerker war, lässt sich natürlich anhand der stummen archäologischen Zeugnisse nicht sagen. Sie könnten entweder unabhängig gewesen oder vom Palast kontrolliert worden sein. Funde und Befunde wie diese können auf ganz unterschiedliche Weise interpretiert werden und lassen hinsichtlich der politischen und sozialen Strukturen nicht nur eine einzige Antwort zu. Knossos bleibt das größte Rätsel der Altpalastzeit, weil uns Palast und Stadt im Vergleich zu Phaistos und Malia die wenigsten Spuren hinterlassen haben. Es war sicherlich auch in dieser Periode eines der wichtigsten kretischen Zentren. Ob es mächtiger als Phaistos war, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen, es ist – um eine Vermutung zu wagen – aber eher unwahrscheinlich. Wenn die unübertroffene Qualität der in Phaistos hergestellten Kamares-Keramik als Gradmesser für die politische und wirtschaftliche Potenz dieses Zentrums betrachtet werden darf, dann könnte das altpalastzeitliche Phaistos seinen Rivalen Knossos überschattet haben. Der ›Alte Palast‹ in Knossos hat leider nur sehr wenige Spuren hinterlassen, da der ›Neue Palast‹, wie bereits erwähnt wur80

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de, kein echter Neubau, sondern das Ergebnis von Renovierungsarbeiten des Ersteren war. Nur in wenigen Räumen kamen unter dem Laufniveau des ›Neuen Palastes‹ deponierte oder verschüttete Reste der Ausstattung des alten Gebäudes zutage, während der Bereich an seiner Südseite vielleicht nicht bebaut war. Trotz dieser problematischen Überlieferungslage sind die Züge eines einsetzenden Urbanisierungsprozesses in Knossos während der Altpalastzeit unverkennbar. Auf dem KephalaHügel, dessen größter Teil vom späteren (Neuen) Palast eingenommen wurde, fanden extensive Terrassierungsarbeiten statt. Die Anlage eines Kanalisations- und Straßennetzsystems zeugt von den ersten Versuchen, die elementaren Bedürfnisse der wachsenden ›städtischen‹ Bevölkerung zu decken. Darauf weist ferner der Bau von zweigeschossigen Häusern hin, wenn man ihre Erweiterung durch ein Obergeschoß als eine Reaktion auf die Knappheit von Baufläche deuten will. Auch wenn die archäologische Überlieferung den Fokus unserer Betrachtung auf die Palastzentren lenkt, wäre es falsch, die kretische Altpalastzeit nur auf deren Geschichte zu reduzieren. Zahlreiche Siedlungen, Nekropolen und Heiligtümer, welche neuralgische Punkte der kretischen Landschaft besetzten, sind für das Verständnis dieser Entwicklungsetappe der minoischen Kultur nicht minder bedeutend. Die systematisch ausgegrabenen altpalastzeitlichen Siedlungen kann man an den Fingern einer Hand abzählen. Der Grund ist offensichtlich, dass es zwischen der Alt- und der Neupalastzeit keine nennenswerte Zäsur im Besiedlungsmuster gab, sodass die meisten Siedlungen der ersten Periode unterhalb der Häuser der letzten liegen und daher archäologisch nur sehr bruchstückhaft zu fassen sind. Auf der anderen Seite weisen die Nekropolen eindeutig auf eine Kontinuität zwischen der Vor- und der Altpalastzeit hin. Die oberirdischen Kuppelgräber oder rechteckigen Grabhäuser stellten, wie in der Vorpalastzeit, die wichtigsten Grabformen dar. In vielen Fällen wurden die Toten in vorpalastzeitlichen Gräbern bestattet, die bereits seit Jahrhunderten existierten. Auch in den Bestattungsriten gibt es keine Anzeichen für eine radikale Veränderung, stattdessen lebten uralte Traditionen und Jenseitsvorstellungen fort. Erst in der zweiten Hälfte dieser Periode gibt es Indizien für einen Veränderungsprozess im sepulkralen Bereich, der offensichtlich mit der Konsolidierung der Palastinstitution verbunden war und in der darauffolgen81

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den Neupalastzeit zu einem dramatischen Bruch mit einer jahrhundertewährenden Tradition führte. Eines der markantesten Phänomene der kretischen Altpalastzeit betrifft die Schauplätze des religiösen Handelns. In allen Inselregionen entstehen in hohen Lagen zwischen ca. 215 Metern und 1150 Metern über dem Meeresspiegel, die von weitem sichtbar waren und umgekehrt eine hervorragende Aussicht in die umliegende Landschaft boten, heilige Orte, an denen die Minoer ihren Göttern begegneten. Diese Orte (Petsophas, Traostalos, Piskokephalo, Kophinas, Juchtas, Vrysinas, Atsipades Korakias, um nur die wichtigsten von ihnen zu nennen) werden konventionell als Höhen- oder Gipfelheiligtümer bezeichnet (c Kap. 12), auch wenn sie nur in den wenigsten Fällen auf dem höchsten Gipfel eines Berges oder Hügels errichtet waren. Entscheidend für die Wahl der Lage waren die Nähe und der direkte Blickkontakt zu einer oder mehreren Siedlungen. Der Fußmarsch hinauf war sicherlich anstrengend, allerdings nie zu lang für die Siedlungsbewohner, die problemlos innerhalb weniger Stunden – und in einigen Fällen sogar wesentlich schneller – bis zum Heiligtum hin- und zurückgehen konnten. Nicht nur kleine Dörfer und größere Siedlungen, sondern auch Paläste verfügten über ein Höhenheiligtum. Die bergige Insel war von solchen Kultorten, die sehr oft auch miteinander in einem direkten Blickkontakt standen, übersät. Die kretischen Höhenheiligtümer bildeten somit ein Sichtbeziehungsnetz, das nahezu die gesamte Insel umfasste. Dieses Netz bot ideale Bedingungen für ein Kommunikationssystem mittels Licht- und Rauchzeichen, eine Möglichkeit, die den Minoern sicherlich nicht entgangen war. Wenn man daher die vielfältige Bedeutung dieser ›hohen Orte‹ berücksichtigt, fällt es schwer, eine Erklärung für das Ende der meisten Höhenheiligtümer in der beginnenden Neupalastzeit zu finden. Denn nur wenige von ihnen, und zwar diejenigen, die in der Nähe von Palästen lagen, überlebten den dramatischen Hiatus an der Schwelle von der Alt- zur Neupalastzeit und dienten weiterhin als heilige Orte der umliegenden Siedlungen.

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Die Zeit der knossischen Dominanz (MM III A–SM I A) Die Funde und Forschungen der letzten Jahrzehnte zeigen, dass in der kretischen Neupalastzeit mehrere Paläste oder Palastbauten auf Kreta existierten, deren Geschichte und vor allem dramatisches Ende allerdings keineswegs ähnlich zueinander waren. Die der traditionellen Forschung inhärente Vorstellung, dass alle mehr oder minder zum selben Zeitpunkt entstanden bzw. zerstört wurden, erweist sich dabei als falsch. Nach dieser Vermutung endete die Altpalastzeit abrupt, als gegen 1750 v. Chr. (Ende von MM II B) ein oder mehrere Erdbeben die Insel heimgesucht haben und die großen Paläste zerstörten. Dieses Szenario, das den Archäologen eine willkommene Zäsur bietet, um zwei Perioden der minoischen Kulturentwicklung zu definieren und scharf voneinander zu trennen, ist allerdings problematisch. In den Palastzentren von Phaistos und Malia kann man zweifellos von einer Naturkatastrophe und Zäsur sprechen, weil sich nach diesem Zeitpunkt an beiden Orten Einiges veränderte. Der alte Palast von Phaistos lag in Trümmern. Nach den Räumungsarbeiten wurden die noch stehenden Gebäudereste eingeebnet und mit einer Schicht von betonartigem Agglomerat aus Kalk, Erde, Tonscherben und Steinen versiegelt, das in einigen Fällen eine Stärke von bis zu einem Meter aufweist. Darauf begann man, den neuen Palast zu bauen. Dieser erste Versuch des Neubaus endete mit einer erneuten Erdbebenkatastrophe in MM III A. Der Palast blieb für ca. 150 Jahre verlassen und wurde erst in SM IB wiedererrichtet, um nur ca. 50 Jahre vor seiner endgültigen Zerstörung zu bestehen. Auch in Malia wurden der Palast und ein großer Teil der Stadt zerstört. Der neue Palast wurde hier erst in MM III B oder SM IA wiedererrichtet, während das Quartier Mu in Ruinen blieb. Nur die Hypostyle-Krypta, ein halbunterirdischer, langgestreckter Raumkomplex, der mit Pfeilern und Bänken versehen war und offensichtlich als Ort für Versammlungen (Rituale?) diente, und die Agora wurden offenbar weiterhin benutzt, allerdings ohne neue Bauaktivität. In Knossos und den meisten kretischen Regionen lässt sich hingegen keine dramatische Zäsur erkennen. In Knossos sind die Folgen einer Naturkatastrophe 83

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nicht am Ende der MM II B-, sondern eher am Anfang der MM III APeriode fassbar. Mehrere Häuser der Stadt wurden zerstört. Südlich von Knossos, an den Füßen des heiligen Berges Juchtas, fanden im Inneren eines Kultgebäudes an der Lokalität Anemospilia vier Personen einen schrecklichen Tod, als das Gebäude während eines Erdbebens (?) einstürzte und sie unter sich begrub. Eines dieser Skelette stammt von einem jungen Mann, der nach der Meinung des Ausgräbers Jannis Sakellarakis bereits tot war, als die Erde bebte. Sakellarakis vermutete, dass er während eines Vorbebens geopfert wurde, um die Götter zu besänftigen. Die drei anderen Personen, die an diesem Ritual teilgenommen haben, konnten das Gebäude nicht rechtzeitig verlassen und fanden dort ebenfalls den Tod. Auch wenn diese Vermutung nicht mit Sicherheit bestätigt oder widerlegt werden kann, bietet der archäologische Befund doch einen klaren Hinweis darauf, dass sich hier etwas Schreckliches ereignete. Denn sonst lässt sich kaum erklären, warum die lokale Bevölkerung vier Tote unbestattet ließ und zwar im Inneren eines Kultgebäudes, das an einer stark frequentierten Straße lag, welche den Palast von Knossos mit dem Höhenheiligtum auf dem Juchtas verbunden hat. Man muss auf der Grundlage dieses exzeptionellen archäologischen Befundes annehmen, dass dieser Ort als Relikt eines dramatischen Ereignisses tabuisiert wurde. Nach diesem MM III A-zeitlichen Erdbeben entstand in Knossos nach einem einheitlichen architektonischen Plan das Gebäude, das wir als ›Neuen Palast‹ bezeichnen. Dieser Bau blieb allerdings in der Neupalastzeit nicht unverändert: Am Ende von MM III B wurde er erneut stark beschädigt. Erst im Zuge von Reparaturen in der nächsten Phase wurde er mit zahlreichen Fresken ausgestattet. In derselben Periode der intensiven Bautätigkeit am Herrschersitz wurde das Zentrum von Knossos immer mächtiger und dehnte seinen Einfluss auf einen sehr großen Teil der Insel aus, während Phaistos und Malia stark, wenn nicht dramatisch, an Bedeutung einbüßten. Die spärlichen Spuren administrativer Aktivität in beiden Palästen implizieren, dass sie ihre Machtstellung als regionale Zentren verloren hatten. Hier ist zwar Vorsicht geboten, da beide Gebäude aus unterschiedlichen Gründen fast ohne Funde entdeckt worden sind: Der Palast von Phaistos war, wie bereits erwähnt, für den größten Teil der Neupalastzeit eine Baustelle, während man 84

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den Palast von Malia geplündert oder (wahrscheinlicher) geräumt hat. Wenn man allerdings die Geschichte der den Palast umgebenden Siedlung und den historischen Gesamtkontext betrachtet, scheint uns die archäologische Überlieferung in beiden Fällen kein übermäßig verzerrtes Bild der historischen Realität zu bieten. Phaistos, der vielleicht mächtigste Palast der Altpalastzeit, war in der Neupalastzeit kein funktionierendes Verwaltungszentrum mehr. In seiner unmittelbaren Nähe erblühte plötzlich ein anderer Ort, Ajia Triada, der die einstige Rolle von Phaistos als politisches und administratives Zentrum Südzentralkretas übernommen zu haben scheint. Wie kann man diesen plötzlichen Machtwechsel erklären? Die ›Ausschaltung‹ des Konkurrenten von Knossos und die Entfaltung eines neuen Zentrums in seiner unmittelbaren Nähe könnten als das Ergebnis einer dynamischen knossischen Expansionsbewegung interpretiert werden, die vielleicht nicht nur Phaistos und die Mesara-Ebene, sondern auch die Region von Malia erfasste. Die Veränderungen, welche die minoische Gesellschaft in der Neupalastzeit durchlebte, sind durch die Forschungen der letzten Jahre immer offenkundiger geworden. Im Gegensatz zur traditionellen Meinung einer regionsübergreifenden kontinuierlichen Entwicklung, die durch die Folgen der Erdbebenkatastrophe nur für kurze Zeit verlangsamt wurde, stellen wir eine Reihe von einschneidenden Veränderungen fest, hinter welchen vermutlich eine Neuordnung der Machtverhältnisse steht. Knossos scheint nun keinen ernsthaften Konkurrenten mehr auf der Insel zu haben. Dies muss nicht unbedingt bedeuten, dass dieser Palast ganz Kreta beherrschte. Eine flächendeckende Kontrolle sämtlicher kretischer Regionen von einer einzigen politischen Instanz wurde bis in unsere Zeit nur selten oder kaum realisiert. Die Dominanz von Knossos muss man eher als Expansion eines Zentrums verstehen, das es von der Mitte der Insel aus schaffte, neuralgische Regionen und Verbindungswege direkt zu kontrollieren und dadurch zu Kretas wichtigster politischer und wirtschaftlicher Instanz aufzusteigen. Neben Knossos, Phaistos und Malia entstanden in der Neupalastzeit zwei weitere kleinere Paläste in Galatas und Kato Zakros. Unter der heutigen Altstadt von Chania liegen die Ruinen eines weiteren Palastes, der leider nicht ganzflächig freigelegt werden kann. Ein Palast wird auch in der blühenden Küstensiedlung von Palaikastro vermutet. Weite85

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re Palastbauten wurden in Archanes, Petras und Pretoria/Damantri teilweise oder ganz ausgegraben. Als Palastgebäude wird auch der große Gebäudekomplex der Siedlung von Gournia betrachtet. Der Grund, warum die letzten vier Bauten nicht eindeutig das Prädikat ›Palast‹ verdienen, liegt im Fehlen eines Zentralhofs, der als Inbegriff für diesen architektonischen Typus gilt. Es ist allerdings theoretisch möglich, dass ein solcher Zentralhof zumindest in den nur teilweise ausgegrabenen Gebäuden von Archanes und Pretoria/Damantri vorhanden war und nur noch nicht freigelegt wurde. Ein weiteres Gebäude, das hier Erwähnung verdient, ist das zentrale Gebäude der Siedlung von Sissi. Zwar verfügt es über einen eindrucksvollen zentralen Hof, der allerdings in keinem ausgewogenen Verhältnis zum eher schmalen Streifen der ihn umgebenden Räume steht (c Kap. 5). Auf Kreta existierten also in der Neupalastzeit mehrere imposante palastartige Gebäudekomplexe, deren genaue Funktion unklar ist. Waren sie Sitze von unabhängigen Herrschern oder Subzentren eines einzigen oder zwei bzw. drei größerer Paläste? Allein auf der Grundlage der archäologischen Zeugnisse scheint es unmöglich, eine sichere Antwort auf diese Frage zu geben. Die Architektur, die Keramik, andere Objektgattungen und die Ikonografie sprechen leider keine eindeutige Sprache, wenn es darum geht, zu entscheiden, ob auf der Insel nur eines oder mehrere souveräne Zentren existierten. Dennoch gibt es, wie zuvor erwähnt wurde, viele Indizien für eine Zeit der knossischen Dominanz. Im Palast von Knossos gewinnen in dieser Zeit symbolische Bilder eine besondere Bedeutung: Handlungsszenen, Götter, Tiere, symbolträchtige Gegenstände oder Motive werden an den Wänden des Palastes und auf vielen Prestigeobjekten dargestellt. Die Entwicklung dieses Bildrepertoires, das sicherlich einige wichtige soziale Werte und Ideale der Elite von Knossos artikulierte, zeugt von den hohen politischen und gesellschaftlichen Ansprüchen dieses Zentrums. Die Verbreitung der symbolischen Bilder auf der ganzen Insel ist ein erstes starkes Indiz für die besondere Machtstellung oder – um es etwas neutraler zu formulieren – die Strahlkraft von Knossos. Die kleinen Paläste von Kato Zakros und Galatas scheinen aufgrund ihrer Funde ein enges Verhältnis zum Palast von Knossos gehabt zu haben, was möglicherweise – allerdings keineswegs sicher – als Hinweis für eine knossische Kontrolle zu deuten ist. Für eine Zeit der Do86

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minanz von Knossos spricht schließlich die Verbreitung von Tonplomben mit Siegelabdrücken von Goldringen an mehreren Zentren der Insel. Die knossische Herkunft dieser – nicht mehr erhaltenen – Ringe, die für längere Zeit Gegenstand einer wissenschaftlichen Debatte war, wurde erst durch naturwissenschaftliche Untersuchungen des Tones der Tonplomben gestützt. Die einschneidenden Veränderungen in der minoischen Gesellschaft sind auch im Bereich der Religion und der Bestattungspraktiken greifbar. Die meisten Höhenheiligtümer, die wichtigsten Plätze der Kultausübung in der Altpalastzeit, wurden allmählich verlassen. Nur diejenigen bestanden fort, die in der Nähe von Palastzentren lagen und wahrscheinlich durch ihre Unterstützung aufrechterhalten wurden. Die Nekropolen der Neupalastzeit stellen immer noch eine der größten interpretatorischen Herausforderungen für die Untersuchung dieser Periode der minoischen Kultur dar, weil ihre Zahl besorgniserregend gering ist. In verschiedenen Regionen der Insel werden nun Nekropolen, die seit der Vorpalastzeit in Benutzung waren, verlassen. Die große Frage für die archäologische Forschung ist, wo die Minoer in der Neupalastzeit ihre Toten bestattet haben, da die neupalastzeitlichen Gräber bis auf wenige Ausnahmen unsichtbar bleiben. Die wenigen Gräber dieser Periode aus der Region von Knossos sind unterirdische Kammergräber, die in verschiedenen Nekropolen um dieses Zentrum herum verstreut liegen (Ailias, Mavrospilio, Poros). Die dramatische Veränderung der Bestattungssitten ist auch in Ostkreta greifbar, wo die Toten, nach einer jahrhundertewährenden Tradition von oberirdischen Grabhäusern, nun unter der Erde in umgestülpten Pithoi (Vorratsgefäßen) bestattet werden. Der Bestattungsplatz wird zum ersten Mal in der Geschichte der minoischen Kultur weitgehend unsichtbar. Das allgemeine Fehlen von neupalastzeitlichen Gräbern kann keineswegs nur durch eine mangelhafte Überlieferungslage bedingt sein. Auch wenn man sich nicht der provokativen Vermutung anschließen will, dass die Minoer in der Neupalastzeit Seebestattungen praktizierten, die natürlich keine archäologischen Spuren hinterlassen hätten, steht es außer Zweifel, dass sich in dieser Periode der Umgang der Minoer mit ihren Toten radikal veränderte. Es ist sehr wahrscheinlich, dass dieser Wandel der Ideologie bzw. der Bestattungssitten mit der knossischen Expansion zusammenhing. 87

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Im Zuge dieses Prozesses scheinen die Nekropolen ihre Bedeutung als Arena sepulkraler Selbstdarstellung und sozialer Interaktion verloren zu haben und folglich nicht mehr exponierte Orte in der unmittelbaren Nähe der Siedlungszentren zu besetzen. Der Palast von Knossos wird in dieser Periode zum wichtigsten Kristallisationspunkt der minoischen Gesellschaft. Der starke Fokus der Archäologen auf dieses eindrucksvolle Gebäude entspricht seiner historischen Bedeutung zumindest in der Neupalastzeit. Knossos war nicht nur ein mächtiges politisches Zentrum, sondern gab auch in den meisten Bereichen der sozialen Interaktion den Ton an. Knossischen Moden in der Architektur, Bilderwelt und offensichtlich auch im Habitus wurde in anderen kretischen Regionen gern nachgeeifert. Abgesehen von dieser Tatsache bleibt es allerdings, wie bereits erwähnt, offen, ob all diese Regionen tatsächlich vom Palast von Knossos aus politisch kontrolliert wurden. Die anspruchsvolle Architektur des Palastes und der elitären Häuser in Knossos, die erzählerischen Darstellungen, welche glanzvolle Feste und Zeremonien in Gebäuden oder öffentlichen Räumen schildern und schließlich die Eleganz des knossischen Designs, die in Ton- und Steingefäßen, Siegeln, Fresken und Statuetten greifbar wird, zeugen von einer kosmopolitischen Lebensweise der Elite, die sich mit jenen der zeitgleichen orientalischen königlichen Dynastien vergleichen lässt. Prozessionen mit kostbaren Gaben, große Feste, bei denen die Palastelite zusammen mit der einfachen Bevölkerung feierte und schließlich der in den elitären Medien allgegenwärtige Stiersprung stellten die wichtigsten Pole des Selbstverständnisses der oberen Klasse dar. Der Habitus der unteren sozialen Schichten ist in dieser wie auch in den anderen Perioden der minoischen Kultur archäologisch kaum fassbar, da uns ein genauerer Einblick in die sozialen Strukturen der knossischen Gesellschaft aufgrund des Fehlens von entzifferten Texten bislang leider verwehrt bleibt. Auf die heftige Debatte über den Charakter des politischen Systems in der Neupalastzeit, die vor wenigen Jahren entfachte und noch andauert, wird unten eingegangen (c Kap. 5). Hier genügt es festzuhalten, dass insbesondere Knossos und vielleicht auch andere kretische Regionen in dieser Periode den Höhepunkt ihrer Entwicklung erreicht haben, wenn wir den in der materiellen Kultur sichtbaren Wohlstand als Kriterium nehmen wollen. Die eindrucksvollen 88

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Feste und Zeremonien, die sehr oft in den Medien dieser Zeit Niederschlag fanden, besaßen zweifellos eine sehr stabile wirtschaftliche Grundlage, die die Voraussetzungen für die Entfaltung der schönen Künste und für die Demonstration des Luxus innerhalb des Palastes bot. Diese Grundlage war der landwirtschaftliche Überschuss. Der Palast besaß ferner Schafherden, deren tierische Produkte einen der wichtigsten Bereiche des Palast-Wirtschaftssystems ausmachten. Dies lässt sich explizit in der letzten Phase des Palastes von Knossos (Spätpalastzeit) durch die hier entdeckten Linear-B-Texte belegen. Mit Wolle, Textilien und den in Palastwerkstätten hergestellten Artefakten wurde im großen Stil gehandelt. Der Palast war daher nicht nur die wichtigste politische Instanz, sondern auch der größte Unternehmer auf der Insel. Hinter dieser knossischen Erfolgsgeschichte stand ein effizientes Administrationssystem, das sich der Linear-A-Schrift und den Siegeln für die Kontrolle verwaltungstechnischer Vorgänge bediente. Die Schrift erfüllte allerdings in dieser Periode ihre Funktion nicht nur innerhalb der Palastadministration. Zahlreiche Schriftzeugnisse auf verschiedenen anderen Trägern (Tongefäßen, Altären, Schmuck, Goldringen u. a.) weisen darauf hin, dass sie als ein echtes Kommunikationsmedium außerhalb der administrativen Sphäre eingesetzt wurde, was in krassem Gegensatz zur späteren, einseitigen Verwendung der Linear-B-Schrift sowohl auf Kreta als auch auf dem griechischen Festland steht. Auch abseits des Zentrums von Knossos erlebten nun die meisten kretischen Regionen blühende Zeiten. Die minoische Gesellschaft scheint in dieser Zeit ihren Lebensraum wesentlich besser als jede andere Gesellschaft in der jahrtausendewährenden Geschichte Kretas erschlossen zu haben. Küstensiedlungen oder echte Hafenstädte wie Pseira, Mochlos, Gournia, Palaikastro und Kommos weisen Züge einer urbanistischen Entwicklung mit eindrucksvollen Stadtvillen, Straßen und Kanalisationssystemen auf. Aber auch Siedlungen im kretischen Binnenland, wie Tylissos, sind Zeugen eines bemerkenswerten Wohlstands, den die kretischen Regionen erlebten. Nicht nur die Küstenebenen und die fruchtbaren Landstriche im Inselinneren, sondern auch kleine abgelegene Buchten und bergige Gebiete waren von Gruppen bevölkert, die die unerschöpflichen Ressourcen dieser gesegneten Landschaft intensiv nutzten. Neben den anderen Palastzentren und größeren 89

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Siedlungen wurden nun zahlreiche ›Landvillen‹ errichtet, welche die lokale Produktion kontrollierten und die Verbindungswege sicherten. Sie waren unterschiedlich groß und hatten einen individuell entworfenen architektonischen Plan, der allerdings in vielen Fällen ähnliche Baumodule aufwies. Neben Residenzräumen beherbergten sie Magazine, Werkstätten und manchmal kleine Schreine. Die Größe dieser Gebäude, ihr komplexer architektonischer Plan, die eindrucksvollen Dimensionen der verwendeten Steinblöcke, die unterschiedlichen Aktivitäten, die sie unter ihrem Dach vereinigten, und nicht zuletzt ihre strategische Position legen nahe, dass sie mit Unterstützung oder unter Anleitung des Palastes entstanden. Trotz der gemeinsamen Idee, die hinter ihrer Entstehung steht, sind diese Villen in ihrem Erscheinungsbild nicht minder vielfältig als die kretische Landschaft. Die Landvilla von Vathypetro mit ihrer Weinpresse thront auf einem Hügel inmitten einer lieblichen Landschaft, wie ein toskanisches Weingut; das Gebäude in Zominthos mit seinen enormen Dimensionen ruht majestätisch in einer alpinen Region ca. 1200 Meter über dem Meeresspiegel; die Villa von Makrygialos erstreckt sich auf einer niedrigen Anhöhe direkt neben einem großen Sandstrand an der südkretischen Küste, der einen optimalen Anlegeplatz für Schiffe bot. Nahezu all diese Gebäude, die auch die entlegensten Regionen der kretischen Landschaft belebten, verschwanden mit der Zerstörung der minoischen Paläste am Ende der Neupalastzeit. Die Neupalastzeit ist eine Periode der großen Blüte aller Kunsthandwerkszweige. Die feinsten Erzeugnisse der Töpferkunst, der Elfenbeinschnitzerei, des Juwelierhandwerks, der Bronzetoreutik und der Siegelschneidekunst kombinieren hohes technisches Niveau mit einer unnachahmlichen Kreativität und Experimentierfreudigkeit. Zugleich verraten sie die Existenz einer Elite, die als Abnehmer dieser Produkte hohe ästhetische Ansprüche hatte. Die minoische kosmopolitische Lebensweise und das minoische Design wurden auch außerhalb der Insel bewundert und begehrt. In mehreren Regionen der Südägäis, darunter die Kykladeninseln (Thera, Keos) und die Dodekanes (Rhodos, Kos), die Süd- und Nordostpeloponnes (mit der Insel Kythera) und die westkleinasiatische Küste, wurden minoische ›Moden‹ bzw. eine minoische Lebensweise übernommen. Minoische Waren füllten die ägäischen 90

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Märkte oder wurden an lokale Potentaten als Geschenke verschickt und nährten die Bewunderung für Kretas feinen Lebensstil kontinuierlich. Die Verbreitung von minoischen Objekten, die nicht unbedingt als Handelsware interpretiert werden können, darunter grobe Keramik, Gewichte und Linear-A-Täfelchen, macht die physische Präsenz von Minoern oder minoischen emporia (Handelsstationen) in diesen ägäischen Regionen sehr wahrscheinlich. Ihr politischer Status und konkreter ihr politisches Verhältnis zum minoischen Kreta lassen sich schwer nachvollziehen. Die Strahlkraft der minoischen Kultur erstreckte sich weit über die Ägäis hinaus und erreichte die Häfen und Machtzentren des östlichen Mittelmeers (insbesondere in Ägypten und der Levante), mit denen die Insel bereits seit der Vorpalastzeit rege Kontakte unterhielt. Der eindrucksvollste Beweis für die hohe Anerkennung des minoischen Designs im Ausland ist die Ausstattung von zwei ›Palästen‹ im ägyptischen Avaris im Nildelta mit Fresken, die offensichtlich knossische Vorbilder hatten. Der minoische Herrscher unterhielt diplomatische Kontakte mit dem Pharao, und vielleicht auch anderen orientalischen Königen, und tauschte mit ihnen regelmäßig kostbare Geschenke aus. Trotz seiner Randlage etablierte sich das minoische Kreta und insbesondere der Palast von Knossos als ebenbürtiger Partner in den Austauschnetzen und der internationalen politischen Szene des östlichen Mittelmeers. Es ist schließlich durchaus möglich, dass auch andere minoische Paläste oder Siedlungszentren eine aktive Rolle in diesen ostmediterranen Austauschnetzwerken entweder als Handelsunternehmen oder Umschlagplätze gespielt haben.

Die Krisenzeit (SM I B–II) Das wichtigste Ereignis der Neupalastzeit, ja vielleicht das einzige Ereignis der Ägäischen Bronzezeit, das sich sehr konkret fassen lässt, war eine Naturkatastrophe, die sich kurz vor dem Ende der SM I A-Periode 91

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(ca. 1550 v. Chr.) ereignete. Der gewaltige Vulkanausbruch von Thera begrub den größten Teil dieser kleinen Insel unter riesigen Ascheschichten und hatte Auswirkungen auch auf die benachbarten Regionen. Die Frage, wie stark Kreta vom Vulkanausbruch getroffen wurde und wie die minoische Gesellschaft mit diesen Folgen umging, kann immer noch nicht mit Sicherheit beantwortet werden. Dieses Problem steht im Mittelpunkt einer Debatte, die seit mehreren Jahrzehnten andauert und immer wieder mit neuen Fakten oder Theorien neu entfacht wird. Der Vulkanausbruch von Thera war zweifellos eine der gewaltigsten Eruptionen, die die Menschheit je erlebte. Die Insel liegt etwa 100 Kilometer nördlich von Kreta und ist an Tagen mit ganz klarer Sicht von der kretischen Nordküste aus sichtbar. Es ist daher sehr wahrscheinlich, dass ein großer Teil der minoischen Bevölkerung Augenzeuge dieser Naturkatastrophe war. Riesige Aschewolken, die der Wind nach Süd/Südost führte, und eine Tsunami-Welle erreichten Kretas Osthälfte. Einige Siedlungen an der Nord- und Ostküste scheinen schwer getroffen worden zu sein. Die Spuren einer hohen Tsunami-Welle sind vor allem in der Küstensiedlung von Palaikastro fassbar. Auch wenn sich seit einigen Jahrzehnten Geologen und Archäologen intensiv darum bemühen, das Ausmaß dieser Naturkatastrophe und ihre Auswirkungen auf Kreta möglichst präzise zu rekonstruieren, herrscht bei der Interpretation der geologischen und archäologischen Fakten, wie bereits angedeutet, leider keine Einigkeit. Stellt dieser Zeitpunkt tatsächlich eine Zäsur in der Geschichte des minoischen Kreta dar? Ein Zerstörungshorizont, der Siedlungszentren in vielen kretischen Regionen umfasst, scheint dies plausibel zu machen, auch wenn es nur selten, wie in Palaikastro, belegt werden kann, dass diese Zerstörungen direkt mit dem Vulkanausbruch von Thera zusammenhängen. In der darauffolgenden Periode, die in der traditionellen Forschung als die Zeit des absoluten Höhepunktes der minoischen Kultur galt, erkannten neuere Forschungen Anzeichen einer Krisenzeit. Gewisse Zentralisierungstendenzen, wie die Konzentration der Lagerung von diversen Produkten und der handwerklichen Aktivitäten in den Palästen bzw. zentralen Gebäuden, Umbauarbeiten, die den ursprünglichen Grundriss von Gebäuden durch die Versperrung von Zugängen veränderten und ›introvertierter‹ machten und schließlich zahlreiche Hortfunde aus mehreren kretischen Siedlungen zeugen 92

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tatsächlich von einer unsicheren Periode. Die Hortfunde verdienen hier wegen ihrer großen historischen Aussagekraft eine besondere Aufmerksamkeit. Ungewöhnlich ist weniger die Praxis an sich, Metallgegenstände zu verstecken, denn alle Menschen in der Antike und Moderne pflegten – und zwar nicht nur in schwierigen Zeiten – Wertgegenstände als Zukunftssicherung zu deponieren. Der Grund, warum Hortfunde von besonderer Signifikanz sind, hängt mit der Tatsache zusammen, dass man sie überhaupt findet. Dies kann nur bedeuten, dass ihr einstiger Besitzer nicht mehr die Möglichkeit hatte, die versteckten Gegenstände zu holen und sie wieder in Umlauf zu bringen. In Einzelfällen kann man den plötzlichen, natürlichen Tod einer Person als Grund vermuten. Wenn man allerdings mehrere zeitgleiche Hortfunde aus unterschiedlichen Orten hat, dann ist es eher wahrscheinlich, dass ein gewaltsames Ereignis mehrere Personen sogar an verschiedenen Orten zugleich daran hinderte, die versteckten Wertgegenstände wieder hervorzuholen – entweder weil sie starben oder weil sie vertrieben wurden. Und genau dies scheint der archäologische Befund an einigen kretischen Orten zu implizieren. Neben diesen Anzeichen für eine Krisenperiode gibt es allerdings auch Indizien, dass die minoische Gesellschaft in der Zeit unmittelbar nach dem Vulkanausbruch, und zwar auch an Zentren, die nachweislich von Letzterem betroffen wurden, wie z. B. Palaikastro, tatsächlich einen Höhepunkt erlebte. Dort, wie auch in Gournia, werden zum ersten Mal mit Sandsteinblöcken in Quadermauertechnik prächtige Fassaden gebaut. Es ist schwer, sich für das eine oder das andere dieser divergierenden Modelle auszusprechen, und vielleicht nicht einmal nötig. Denn es ist möglich, dass man beide als Teile ein und derselben historischen Realität betrachtet. Bedingt durch die Kleinteiligkeit und Diversität der kretischen Landschaft wäre es durchaus möglich, dass der Vulkanausbruch ganz unterschiedliche Folgen für die einzelnen kretischen Regionen hatte. In einigen Fällen traf er die Natur und die Menschen der Insel als schwere Katastrophe, in anderen Fällen allerdings hatte er keine nennenswerten Auswirkungen. Im Falle Kretas ist es daher falsch, für ein einheitliches historisches Szenario zu plädieren, das die gesamte Insel ohne regionale Unterschiede umfasste. Hier konnte jede kleine Landschaft ihre eigene Geschichte haben, die vom Zusammentreffen ganz unterschiedlicher Faktoren abhing. Die offene 93

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Frage der Auswirkungen der Vulkaneruption von Thera auf die minoische Gesellschaft kann daher nicht mit einem lapidaren Satz beantwortet werden, weil solch eine einseitige Antwort der Komplexität der historischen Realität nicht gerecht wird. Viel wahrscheinlicher erscheint, dass dieses Ereignis kurzfristig zu einer Neuordnung von politischen und ökonomischen Machtverhältnissen auf Kreta führte und dadurch einen Prozess einleitete, aus dem Gewinner und Verlierer hervorgingen. Aber auch mittel- oder langfristig sind die Auswirkungen des Vulkanausbruchs keineswegs zu unterschätzen. Ein dadurch ausgelöster Klimawandel, der durch andere Vulkanausbrüche dieses Ausmaßes in Neuzeit und Moderne belegt ist, könnte eine Periode von Sommern mit winterlichen Temperaturen eingeleitet haben, die für mehrere Jahre zu schlechten Ernten geführt hätten. Eine solche Entwicklung wäre Grund genug gewesen, um die Fundamente einer Gesellschaft ins Wanken zu bringen. Vielleicht haben die kurz- oder mittelfristigen Auswirkungen dieser Katastrophe die Schwächen des politischen und wirtschaftlichen Systems auf der Insel offenbart. Die minoischen Eliten, die eine Reihe von praktischen und symbolischen Strategien für die Erdbebengefahr entwickelt hatten, waren vielleicht nicht in der Lage, den negativen Auswirkungen einer ganz andersartigen Naturkatastrophe entgegenzutreten. Dennoch findet man in der Periode unmittelbar nach dem Vulkanausbruch von Thera, wenn man von den Zerstörungshorizonten und Umbaumaßnahmen absieht, keine deutlichen Hinweise auf eine kollektive traumatische Erfahrung. Die Blüte des Meeresstils in der Palastkeramik wird zwar als eine Reaktion auf den Vulkanausbruch gedeutet: eine Sakralisierung des Meeres, aus dem die Katastrophe kam. Doch diese ephemere Dominanz der Meeresmotive könnte auch ganz andere Gründe gehabt haben. Tatsache ist, dass einige Jahrzehnte nach dem Vulkanausbruch die neupalastzeitliche Kultur Kretas endgültig zusammenbrach. Die kretischen Paläste – mit Ausnahme des Palastes von Knossos und vielleicht jenes von Chania – finden ein gewaltsames Ende, dessen Ursachen noch ungeklärt sind. Die langfristigen Auswirkungen des Vulkanausbruchs von Thera könnten ein Grund dafür sein, allerdings sicherlich nicht der einzige. Ein ähnliches Schicksal erfuhren auch die Landvillen sowie viele größere Siedlungen. Die Keramikbefunde machen eine mehr oder minder zeitgleiche Zerstörung dieser Zentren am 94

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Ende der Periode SM IB plausibel. Das Wort ›zeitgleich‹, das lediglich auf der Ähnlichkeit von Keramikwaren beruht, ist nicht so streng zu fassen, denn zwischen den einzelnen Zerstörungen könnten Jahre oder sogar Jahrzehnte liegen. Wie die Paläste und viele Siedlungen zerstört und aufgegeben wurden, lässt sich anhand des archäologischen Befundes nicht klar sagen. Ein Erdbeben oder kriegerische Auseinandersetzungen könnten der Grund gewesen sein. Dass dieses Ende zumindest an einigen Orten gewaltsam war, wird im Palast von Kato Zakros sehr deutlich, wo die Lagerräume noch voll mit kostbaren Objekten waren, die nach der Zerstörung dieses Gebäudes begraben und nie geräumt wurden. Nach den Zerstörungen am Ende der SM I B-Phase hat sich diese Inselgesellschaft dramatisch verändert. Überall lagen größere und kleinere Siedlungen in Ruinen. Die Inselbewohner haben danach keine neuen Siedlungen gegründet, sondern sind in größere Zentren umgesiedelt. Knossos behielt seine führende Position, dominierte allerdings über eine Inselgesellschaft, die im Umbruch war. Die SM II-Phase stellt an diesem Zentrum eine Periode von Veränderung und intensiver Bautätigkeit dar, in der die Ruinen zerstörter Häuser aufgefüllt und überbaut werden. Gleichzeitig hat man beschädigte Strukturen geräumt und umgebaut bzw. weiterbenutzt. Dabei wurden Gipssteinplatten zwar weiterhin benutzt, dies galt allerdings nicht für die anspruchsvolle Quadermauertechnik, die als bautechnische Tradition verschwindet. Nach einer erneuten Zerstörung am Ende von SM II hört diese Phase der umfangreichen Umbauarbeiten in der Siedlung von Knossos auf, wobei viele Häuser der Elite weiterhin im Erd- und Obergeschoss bewohnt werden. Die Bildsprache und die materielle Kultur zeigen Anzeichen einer kulturellen Rezession nach einer längeren Periode voller Höhepunkte. Der minoische Stil der Neupalastzeit, der von einer absoluten Mobilität geprägt wurde, sowie die zeitlose Eleganz der minoischen Formen wurden Opfer einer nüchternen Standardisierung und Schematisierung. Die natürlichen und gegenständlichen Formen verloren ihre Vitalität. Die Spontaneität früherer Perioden wurde allmählich durch Schlichtheit und Strenge ersetzt. Die traditionelle Forschung hat beim Vergleich der neu- mit der spätpalastzeitlichen Kunst von einem dramatischen 95

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Kontrast gesprochen. Auch wenn rezente Untersuchungen dieses Bild relativiert haben, kann es keinen Zweifel daran geben, dass sich das minoische Kunstempfinden nach der Zerstörung der neuen Paläste verändert hat. Kulturell erweist sich diese Zeitstufe als Fortsetzung der SM IPeriode; doch Neuerungen in verschiedenen Bereichen (z. B. Bestattungssitten und Keramikproduktion) weisen auf eine Einflussnahme festländischer Zentren hin. Die ideologischen, gesellschaftlichen und politischen Beweggründe dieses spürbaren Wechsels in den Formen der materiellen Kultur sind nicht leicht zu erklären. Als sicher darf allerdings gelten, dass Knossos weiterhin eine überragende Bedeutung für die gesamte Insel besaß, wie mehrere reich mit Waffen, Bronzegefäßen und Importartikeln ausgestattete Gräber dieser Zeit aus dieser Gegend (Zafer Papoura, Ajios Ioannis, Isopata, Sellopoulo) erkennen lassen. In dieser Krisenzeit verlor Kreta allmählich seine Machtstellung in der Südägäis. Die mykenischen Eliten ergriffen die Gelegenheit, dieses Machtvakuum binnen weniger Generationen zu füllen. Dies ist die traditionelle Ansicht, die immer noch die plausibelste Hypothese für die Rekonstruktion der historischen Vorgänge darstellt. Ob nun eines oder mehrere mykenische Zentren Kreta eroberten, was auch Teil dieses traditionellen Szenarios ist, bleibt allerdings ungeklärt. Eine realistischere Hypothese wäre die Vermutung, dass ein mykenisches Zentrum, wahrscheinlich Mykene selbst, das seit dem Beginn der mykenischen Kultur die engsten Kontakte mit dem minoischen Kreta pflegte, die direkte oder indirekte Kontrolle über den Palast von Knossos gewann und dadurch zu einer überregionalen Macht in der Ägäis aufstieg.

Kreta als Peripherie (SM III A:1–SM III B) Der Prozess, der als ›Mykenisierung‹ Kretas bezeichnet wird, bezieht sich auf die archäologischen Spuren einer allmählichen Verbreitung festländischer Lebensformen auf der gesamten Insel. Sie umfassen neue Keramikstile, die einer festländischen ›Mode‹ folgen, und Bestattungen 96

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mit Waffenbeigaben in Felskammergräbern. Diese kulturellen Merkmale tauchen, wie zuvor erwähnt, bereits in der SM II-Phase (und zum Teil sogar früher, in SM I) in Knossos auf und finden in den nachfolgenden Perioden von diesem Ort aus Verbreitung in mehreren Inselregionen. Nach der traditionellen Forschung war dieses Phänomen das Ergebnis einer starken mykenischen Präsenz auf der Insel, ohne jedoch – bis auf die traditionelle Hypothese einer militärischen Eroberung – erklären zu können, wie diese Übernahme festländischen Kulturgutes vonstattenging. Eine neuere Auswertung der archäologischen Befunde, die den Fokus auf die zwei Etappen des Auftauchens der festländischen Elemente in Knossos und die Verbreitung in den restlichen Regionen legte, bietet allerdings eine alternative und wesentlich plausiblere Interpretation: Knossos war der erste Ort, der – aus welchen Gründen auch immer – festländische Moden übernahm. Die Verbreitung dieses festländischen Lebensstils im restlichen Teil der Insel war dann eigentlich fast unvermeidlich. Die kretische Peripherie verhielt sich dabei wie in den vorangegangenen Perioden der Inselgeschichte und hat die neuen Elemente wahrscheinlich nicht unter Zwang, sondern freiwillig angenommen, indem sie den knossischen Lebensstil nachahmte. Das, was man als ›Mykenisierung‹ bezeichnet, trifft eigentlich nur auf Knossos selbst zu, da es sich außerhalb dieses Zentrums offensichtlich um eine weitere Phase eines diachronen Phänomens in der Geschichte der minoischen Gesellschaft handelt, das in der bereitwilligen Übernahme von Kulturelementen aus Knossos bestand. Nur für das Palastzentrum von Chania, das seit längerer Zeit wegen seiner geografischen Lage zum griechischen Festland hin orientiert war, kann man eine direkte ›Mykenisierung‹ ohne knossische Intervention vermuten. Die Spätpalastzeit lässt sich wesentlich präziser in keramische Phasen untergliedern als alle anderen vorherigen Phasen der minoischen Chronologie. Der Grund ist nicht, dass wir erst jetzt mehr archäologisch fassbare Zäsuren als Grenze zwischen den einzelnen Phasen haben, sondern die Tatsache, dass sich die reichlich überlieferte Keramik dieser Phasen durch ihre Standardisierung, stratigrafische Befunde aus dem griechischen Festland und die akribische Arbeit der Keramikspezialisten sehr fein in Subphasen einordnen lässt. Durch die Möglichkeit einer präziseren Datierung der Befunde im Rahmen der relativen Chronologie kön97

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nen wir kulturelle Prozesse in dieser Periode besser als bei vielen der vorangegangenen Phasen beleuchten. Die erste Frage, die sich nach der intensiven Forschungsarbeit der letzten Jahrzehnte auftut, ist, ob die Spätpalastzeit tatsächlich eine Periode des Verfalls war. Vieles deutet darauf hin. Das minoische Kreta verliert, wie bereits erwähnt, seine einstige führende Stellung in der Ägäis vor allem deswegen, weil die festländischen Zentren immer stärker werden und ihre Einflussbereiche in jene Regionen ausweiten, die in der Neupalastzeit unter minoischer Kontrolle oder zumindest unter minoischem Einfluss standen. Die Artefakte dieser Periode erreichen nur in seltenen Fällen die Eleganz der alt- oder neupalastzeitlichen Werke. Kreta wird von einem unangefochtenen Zentrum allmählich selbst zur Peripherie. Knossos scheint auch in dieser schwierigen Periode zumindest zunächst noch seine bedeutende Rolle in inner- und außerkretischen Angelegenheiten beizubehalten. Nach einer Zerstörung in der frühen SM III A:2-Phase verliert es allerdings endgültig den einstigen Glanz eines Palastzentrums und erlebt bis zum Ende der SM III B-Periode eine Zeit des Niedergangs. Nur wenige Räume des Erdgeschosses dieses monumentalen Gebäudes wurden in dieser letzten Phase seiner Belegung wiederbenutzt. Auch viele Gebäude in der Stadt lagen in Ruinen. Trotzdem ging hier das Leben weiter. Die Einwohner von Knossos scheinen sich mit dieser Situation abgefunden zu haben. Das Bild eines Zentrums, das seinen Glanz zwar verloren, seine führende Rolle allerdings beibehalten hat, entspricht eher der historischen Realität als die beiden divergierenden Meinungen der traditionellen Forschung, bei denen es eigentlich nur um die Frage geht, ob der Palast bereits in der SM III A:2Phase zerstört worden war oder – alternativ – weiterhin existierte. Chania gewann in SM III A:2–III B wegen der neuen Machtposition von festländischen Zentren eine besondere Bedeutung und war vielleicht nicht minder wichtig als Knossos. So wie in Knossos ging also auch in Chania das Leben trotz der Turbulenzen am Ende der Neupalastzeit weiter. Das Leben in den anderen kretischen Regionen ist uns hauptsächlich durch Grabfunde und Keramik bekannt, die zugegebenermaßen einen sehr engen Einblick in kulturhistorische Zusammenhänge erlauben. Nach dem diesbezüglichen enigmatischen Intermezzo der Neupalastzeit 98

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wird der sepulkrale Bereich nun wieder deutlich sichtbar. Die Fülle an spätpalastzeitlichen Gräbern aus nahezu allen Regionen der Insel ist eindrucksvoll. Die Toten wurden in der Regel in unterirdischen Kammergräbern bestattet und waren häufig – allerdings nie in Westkreta – in tönerne Larnakes gebettet, was weitgehend der festländischen Bestattungspraxis entspricht. Die Beigaben umfassten Waffen, Schmuck und Tongefäße. Auch in den anderen archäologisch fassbaren kulturellen Praktiken scheint die minoische Bevölkerung in dieser Periode Teil der mykenischen Koine zu sein. Nach der SM III A:2-Phase wird die minoische Keramik kaum mehr an die Häfen des östlichen Mittelmeers exportiert, ein Indiz dafür, dass die Insel endgültig in den Schatten der festländischen Zentren tritt, die nun die Stelle Kretas als wichtigster ägäischer Partner in den mediterranen Austauschnetzen übernehmen. Ein weiteres, noch deutlicheres Indiz für die nun gefestigte Überlegenheit des mykenischen Festlands, ist die Verwendung der Linear-B-Schrift in den Palästen von Knossos und Chania. Die Linear-B-Schrift entstand als Ergebnis des engen Kontaktes zwischen Minoern und Mykenern, als Letztere die minoische Linear-ASchrift in SM II/SM III A:1 für die schriftliche Fixierung ihrer eigenen Sprache übernahmen. Diese stellt eine Frühform des Griechischen dar. Der Palast von Knossos war vermutlich der Ort, wo die Idee dieses neuen Schriftsystems geboren wurde. Mehr kann man darüber leider nicht sagen. Es ist unmöglich herauszufinden, ob kulturelle Hochleistungen wie diese Schrift das Ergebnis des genialen Gedankenblitzes einer einzelnen Person oder alternativ einer kollektiven intellektuellen Anstrengung oder vielleicht auch beides waren. Auch wenn in den mykenischen Palastzentren nahezu alle Zeugnisse der Linear-B-Schrift in die letzte Phase der mykenischen Kultur datieren, wurde sie dort offensichtlich genauso früh wie in Knossos verwendet. Die Übernahme des neuen griechischen Schriftsystems in den beiden noch existierenden kretischen Palastzentren ist ein klarer Hinweis darauf, dass sie nun unter festländischer Kontrolle standen, da in den Verwaltungsbüros nun Griechisch gesprochen – oder zumindest geschrieben – wurde. Die Linear-B-Täfelchen aus dem Palast von Knossos geben uns Einblicke in die administrativen Angelegenheiten dieses Zentrums kurz vor seiner endgültigen Zerstörung. Nur wenige dieser Täfelchen stammen 99

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Abb. 10: Links eine Linear-A-Tafel aus Ajia Triada, rechts eine Linear-B-Tafel aus Knossos.

aus früheren Zeithorizonten. Die Palastverwaltung war in verschiedene ›Büros‹ gegliedert, welche unterschiedliche Bereiche der Palastwirtschaft kontrollierten, darunter die agrarische Produktion, die Schafherden, die Herstellung von Textilien, Waffen, Möbeln und anderen Artefakten. Das meiste davon war dazu bestimmt, die internen praktischen und symbolischen Bedürfnisse der Palastelite zu befriedigen. Einige Artefakte verließen allerdings den Palast entweder als Handelswaren oder als diplomatische Geschenke. Durch die Aufgabe der Palastverwaltung, alle Ein- und Ausgänge des Palastbesitzes systematisch zu erfassen, erfahren wir einiges über die Vorbereitung von religiösen Festen und Gaben an die Götter. Sogar einige Götternamen erscheinen hier. Mehr können diese Texte allerdings nicht bieten. Sie sind die trockenen Aufzeichnungen eines administrativen Systems, die nur einige wenige Details der historischen Realität – und diese auch nur schlaglichtartig – beleuchten. Echte historische Ereignisse haben hier kaum Spuren hinterlassen. Hinweise auf engere Verbindungen mit anderen mykenischen Zentren oder gar mit dem Palast von Chania gibt es in diesen Texten nicht. Über eine unverkennbare Einheitlichkeit in der Schrift, der Sprache, dem Layout der Täfelchen und dem Schriftduktus hinaus, neben der natürlich einige regionale Unterschiede bestehen, lässt sich nicht sagen, ob 100

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der Palast von Knossos von einem mykenischen Zentrum auf dem Festland direkt kontrolliert wurde. Ein anderer archäologischer Befund scheint allerdings eine mykenische Kontrolle über Kreta sehr wahrscheinlich zu machen. Es handelt sich dabei um mehrere kretische Transportkannen, die man an festländischen Fundorten entdeckte. Eine Gruppe dieser Transportkannen aus dem sogenannten ›Haus des Ölhändlers‹ in Mykene war sogar mit Tonplomben versiegelt, die Siegelabdrücke trugen. Trotz der Ungewissheit hinsichtlich der Frage, ob Gefäße und Tonplomben vom selben Ort stammen, kann man doch festhalten, dass sich für die meisten dieser Gefäße folgendes Szenario ergibt: Sie wurden, aufgrund von petrografischen Untersuchungen des Tones von Gefäßen und Tonplomben, in West- bzw. Zentralkreta hergestellt, in Westkreta gefüllt und von dort nach Mykene verschifft. Dadurch erhält man einen klaren Beweis für die Verwendung von Tonplomben nicht nur innerhalb des unmittelbaren Territoriums eines Palastes, sondern im Rahmen einer überregionalen Güterzirkulation. Wenn man nun bedenkt, dass die bronzezeitliche Siegelpraxis keine eindeutigen Spuren im Bereich des Handelsaustausches hinterlassen hat, ist es unvermeidlich anzunehmen, dass die gesiegelten kretischen Bügelkannen aus dem ›Haus des Ölhändlers‹ im Rahmen eines ›geschlossenen‹ Umlaufsystems ihren Weg nach Mykene fanden. Um diese Vermutung konkreter zu formulieren, könnte man entweder an Lieferungen aus eventuellen Domänen des Palastes von Mykene auf Kreta oder sogar an Abgaben von kretischen Zentren an den Herrscher von Mykene denken. Dies würde unzweifelhaft auf eine politische bzw. ökonomische Kontrolle eines Teiles Kretas durch Mykene hinweisen.

Niedergang (SM III B–SM III C) Die letzte Periode der Bronzezeit in der Ägäis und auf Kreta scheint sehr unruhig gewesen zu sein. Im späten 13. Jahrhundert v. Chr. wurden die Befestigungen einiger festländischer Palastzentren erweitert 101

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oder verstärkt. Kurz darauf, um 1200 v. Chr., lagen all diese Paläste, wie auch die kretischen Paläste von Knossos und Chania, in Ruinen. Der Zeitpunkt der letzten Zerstörung des Palastes von Knossos ist, wie bereits erwähnt, nach wie vor umstritten. Wahrscheinlich wurde er erst gegen Ende von SM III B, das heißt mehr oder weniger zeitgleich mit der Zerstörung der festländischen Paläste endgültig verlassen. Auch die großen Imperien und kleineren Königtümer im östlichen Mittelmeerraum erlebten jetzt durch Umwälzungen, kriegerische Auseinandersetzungen und Zerstörungen eine dramatische Zäsur. Die Tatsache, dass diese Ereignisse innerhalb eines verhältnismäßig kurzen Zeitraumes stattfinden, macht es wahrscheinlich, dass es zwischen ihnen einen direkten oder indirekten Zusammenhang gibt. Die sogenannten Seevölker, ethnisch gemischte Bevölkerungsgruppen, die für einige Jahrzehnte im östlichen Mittelmeer herumirrten, waren offensichtlich keine ›Barbaren‹, sondern Flüchtlinge und somit nicht die Ursache, sondern eher die Folge dieser Umwälzungen. Auf Kreta verließen nun viele Bevölkerungsgruppen ihre Siedlungen in den Ebenen und zogen sich in schwer zugängliche und leichter zu verteidigende Lokalitäten in höheren Lagen zurück. Der Rückzug in die Berge lässt sich vor allem im Ostteil der Insel sehr gut dokumentieren. Die Fluchtsiedlungen bestanden aus einfachen Häusern, die dicht beieinander an steilen Abhängen oder Bergbzw. Hügelkuppen gebaut wurden, welche ihren Einwohnern in erster Linie Sicherheit boten. Interessant ist dabei, dass die meisten dieser Siedlungen nicht sehr weit entfernt von den fruchtbaren Landstrichen in den Ebenen lagen. Der nicht allzu große Abstand machte es durchaus möglich, dass man dieselben Böden beackerte wie in der Zeit, als man noch in den Ebenen lebte. Was sich also dramatisch geändert hat, war nicht die Wirtschaftsweise, sondern die Lage der Siedlungen und die Art der Behausung. Dies geschah offensichtlich angesichts der Drohung einer akuten Gefahr. Was dies für eine Gefahr war, sagen uns die archäologischen Zeugnisse nicht. Auch hier kann man nur Vermutungen über außerkretische Feinde, Piraten oder innerkretische Auseinandersetzungen anstellen. Mit dem Rückzug in die Berge, der in der turbulenten Geschichte der Insel ein wiederkehrendes Phänomen in unsicheren Zeiten darstellt, endete für Kreta die Geschichte einer Gesellschaft, welche die Insel für fast zwei Jahrtausende auf eine einzigarti102

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ge Weise geprägt hat. Auch wenn einiges von dieser Kultur in den darauffolgenden Perioden fortlebte, ist die eisenzeitliche Gesellschaft Kretas eindeutig als Teil der nachfolgenden kulturhistorischen Entwicklung zu betrachten.

Literatur Das dunkle Jahrtausend (FM I–MM I A) Anderson, Emily S. K. 2016: Seals, Craft, and Community in Bronze Age Crete, New York Branigan, Keith 1988: Pre-Palatial. The Foundations of Palatial Crete. A Survey of Crete in the Early Bronze Age, 2nd, updated ed., London Branigan, Keith 1992: Dancing with Death. Life and Death in Southern Crete c. 3000–2000 B.C., Las Palmas Cadogan, Gerald 1986: Why was Crete Different, in: Cadogan, Gerald (Hg.): The End of the Early Bronze Age in the Aegean, Leiden, 153–171 Legarra Herrero, Borja 2014: Mortuary Behavior and Social Trajectories in Preand Protopalatial Crete, Philadelphia Nowicki, Krzysztof 2014: Final Neolithic Crete and the Southern Aegean, Boston/Berlin Warren, Peter 1972: Myrtos: An Early Bronze Age Site in Crete, London

Kreta als höfische Gesellschaft (MMI B–II B) Schoep, Ilse u. a. (Hgg.) 2012: Back to the Beginning: Reassessing Social and Political Complexity on Crete during the Early and Middle Bronze Age, Oxford – Oakville

Die Zeit der knossischen Dominanz (MMIII A–SM I A) Adams, Ellen 2017: Cultural Identity in Minoan Crete. Social Dynamics in the Neopalatial Period, Cambridge MacDonald, Colin/Knappett, Carl (Hgg.) 2013: Intermezzo. Intermediacy and Regeneration in Middle Minoan III Palatial Crete, London

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Die Krisenzeit (SMI B–II) Driessen, Jan/Macdonald, Colin 1997: The Troubled Island: Minoan Crete before and after the Santorini Eruption, Liège/Austin Niemeier, Wolf D. 1984: Die Palaststilkeramik von Knossos. Stil, Chronologie und historischer Kontext, Berlin

Kreta als Peripherie (SMIII A:1–SM III B) D’Agata, Anna Lucia/Moody, Jennifer (Hgg.) 2005: Ariadne’s Threads: Connections between Crete and the Greek Mainland in Late Minoan III (LM IIIA2 to LM IIIC), Athen Hallager, Erik/Hallager, Birgitta P. (Hgg.) 1997: Late Minoan III Pottery Chronology and Terminology, Athen

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»Our preliminary object, which was to know how far the lower ground to the South and East could be used for dumping earth, had now however been attained, and further operations on the edge of the plateau were set aside in order to attack the central building.« (Arthur Evans)11

Warum wir diesen anatomischen Blick mit dem Palast beginnen, erklärt eine weise wie schlichte Feststellung Friedrich Schlegels, die in einem seiner Kritischen Fragmente enthalten ist: »Man muss das Brett bohren, wo es am dicksten ist.«12 So erscheint es nur konsequent, als Ausgangspunkt für diese präzisere Betrachtung der minoischen Gesellschaft gleich deren unbestrittenen Kern zu nehmen. Der Palast als Bau und Institution gilt als ihr Markenzeichen schlechthin. Wegen des rätselhaften Fehlens von Tempelanlagen, königlichen Gräbern oder anderen repräsentativen Denkmälern aus der Neupalastzeit bleibt er als gesellschaftspolitisches Konzept, bautechnische Leistung und performativer Raum die einzige archäologisch fassbare Manifestation machtpolitischer Ansprüche in der kretischen Bronzezeit. Die freigelegten Ruinen der minoischen Paläste datieren größtenteils in ihre zweite Phase, die Neupalastzeit, und demonstrieren auf eindrucksvolle Weise die großzügige und luxuriöse Umsetzung dieses elitären architektonischen Konzeptes. Sie bestanden aus zahlreichen, sich labyrinthisch über mehrere Stockwerke verteilenden Kammern, Hallen, Korridoren, Kolonnaden, Lichthöfen und Treppenhäusern, in deren Zentrum und an deren Westseite

11 Evans, Arthur J. 1899/1900: Knossos. Summary Report of the Excavations in 1900: I. The Palace, The Annual of the British School at Athens 6, S. 7–8. 12 Minor, Jakob 1882: Schlegel, Friedrich. Seine prosaischen Jugendschriften 1794– 1802, Wien, S. 184.

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sich jeweils ein großer Hof erstreckte. In diesen Ruinen verbargen sich in den meisten Fällen jedoch keine Schätze, sondern unzählige archäologische Rätsel, die immer noch ungelöst bleiben.

Paläste oder Hofkomplexe: Eine anhaltende Debatte Noch bevor sich Evans entschied, die von ihm entdeckte Kultur als ›minoisch‹ zu bezeichnen, zögerte er nicht, in seinem ersten publizierten Grabungsbericht von 1900 das zentrale Gebäude, dessen Ruinen den Kephala-Hügel in Knossos krönten, ›Palast‹ zu nennen. Später, im Palace of Minos, legte er dann sein ›Narrativ‹ vor, welches im gesamten 20. Jahrhundert die traditionelle Sicht auf die Dinge prägte: In dieser monumentalen Struktur soll ein Priesterkönig residiert haben, der nicht nur über Knossos, sondern auch über die ganze Insel herrschte. Hinter der mythischen Figur des Minos vermutete Evans den Träger eines göttlichen Titels, der analog zum ägyptischen Titel ›Pharao‹ für die Benennung der knossischen Herrscherdynastie verwendet worden sein könnte. Dieser Priesterkönig soll – wie seine orientalischen Vorbilder – sowohl für politische und wirtschaftliche Belange als auch für die Abhaltung religiöser Zeremonien zuständig gewesen sein. Sein Abbild erkannte Evans in dem sogenannten ›Prinzen mit der Federkrone‹, einem Stuckrelief im Südtrakt des Palastes, das einen jungen Mann mit einer imposanten Federkrone darstellt. Die spätere Kritik an der Rekonstruktion dieses Stuckfreskos, das vermutlich aus Fragmenten unterschiedlicher Figuren zusammengesetzt worden ist, hat nicht wesentlich an dieser traditionellen Vorstellung von einer minoischen/knossischen Monarchie gerüttelt. Die Idee eines stark zentralistischen politischen Systems, das der Struktur der orientalischen Königreiche nachempfunden war, stellte tatsächlich bis vor Kurzem das dominierende – oder gar einzige – Deutungsparadigma für die Rekonstruktion der minoischen politischen Organisation dar. Erst vor ca. 20 Jahren wurde diese etablierte Forschungsmeinung zum 108

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ersten Mal – dafür aber heftig – in Zweifel gezogen. Anlass zum Überdenken der traditionellen Interpretation boten zunächst die Ergebnisse der systematischen archäologischen Untersuchungen auf der Insel, die in den vergangenen Jahrzehnten die Anzahl der minoischen Paläste deutlich steigen ließen. Neben den seit langem bekannten vier Palastgebäuden in Knossos, Phaistos, Malia und Kato Zakros sind mindestens acht weitere ›Paläste‹ entweder auf einer plausiblen Grundlage vermutet (Chania, Palaikastro), freigelegt (Galatas, Petras, Archanes, Pretoria/ Damantri, Sissi) oder nachträglich als solche identifiziert worden (Gournia). Die überraschend große Anzahl von potenziellen Herrscherresidenzen auf einem verhältnismäßig kleinen Territorium gab den Anstoß zum Überdenken der These eines monarchischen Herrschaftssystems. Irritiert schon die hohe Zahl der Residenzen, brachten weitere Indizien die Vorstellung einer Königsherrschaft im bronzezeitlichen Kreta noch stärker ins Wanken. Dazu zählt das Fehlen einer Herrscherikonografie, wie sie uns aus dem Orient und Ägypten bekannt ist, sowie das Fehlen von königlichen Gräbern, selbst wenn man natürlich von der oben erwähnten Tatsache absieht, dass in der Neupalastzeit generell Gräber nur sporadisch bezeugt sind. Gestützt auf eine neue Interpretation dieser archäologischen Befunde und auf neue kulturtheoretische Ansätze erhoben sich vor einigen Jahren mehrere Stimmen, welche das traditionelle Deutungsmodell eines minoischen Königtums verwerfen wollten. Anstelle der Herrschaft des Einen (Monarchie) schlugen sie ein politisches System vor, in dessen Rahmen politische, soziale und wirtschaftliche Macht auf mehrere miteinander konkurrierende ›Körperschaften‹ verteilt war (Heterarchie). Die Organisation dieser als factions (Fraktionen) bezeichneten Körperschaften soll auf einem schichtenübergreifenden, klientelähnlichen Abhängigkeitsverhältnis beruht haben. Den minoischen Palast, den man nicht als ›Palast‹, sondern neutral als ›Hofkomplex‹ bezeichnet, verstehen die Anhänger dieser Theorie nicht mehr als multifunktionale Herrscherresidenz und Kristallisationspunkt politischer und religiöser Macht, sondern als ein öffentliches Gebäude und konkreter als das zeremonielle Zentrum der Stadt, das als performativer Schauplatz von identitätsstiftenden Ritualen der Gemeinschaft bzw. als Arena politisch-ideologischer Konkurrenz fungierte. Die Zentralhöfe dieser Ge109

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bäude sollen keine exklusive Lebenssphäre für die königliche Elite, sondern Schauplätze von öffentlichen Festen und Zeremonien gewesen sein, in anderen Worten: Orte kollektiver Erfahrung, welche die wichtigste Plattform für die Selbstdarstellung verschiedener miteinander wetteifernder elitärer Gruppen darstellten. Ist es möglich, dieses Problem, das die minoische Archäologie in den letzten Jahren in zwei Lager gespalten hat, wissenschaftlich anzugehen und mithilfe von stichhaltigen Argumenten zu seiner Lösung beizutragen? Diese Frage wird im gegebenen historischen Kontext besonders virulent, weil das minoische Kreta eine Kultur ohne entzifferte schriftliche Quellen ist. Jede Rekonstruktion von politischen und sozialen Strukturen muss hier auf der Deutung von Bauwerken, Bildern und Gebrauchsgegenständen beruhen. Wenn man nun diesen neuen Ansatz genauer unter die Lupe nimmt und die formulierten Thesen mit Hilfe von ›harten archäologischen Fakten‹ abklopfen will, stellt man fest, dass sie auf eher schwammigen Argumenten fußen. Das Bild, das als Alternative zur traditionellen Palast-Hypothese gezeichnet wird, nämlich, dass diese ›Hofkomplexe‹ als Schauplätze für große gemeinsame Feste und als Arenen sozialer Interaktion einen kommunalen Charakter besaßen, nimmt nur selten konkrete Züge an, die man durch Beispiele aus anderen Kulturen bzw. historischen Perioden stützen könnte. Jeder Versuch einer komparativen Deutung bestärkt die traditionelle Ansicht: Die Monumentalität des Palastes und der enorme materielle Aufwand für seine luxuriöse Gestaltung sind nicht das Ergebnis einer kollektiven Anstrengung für die Einrichtung eines kommunalen Zeremonialkomplexes, sondern, wie so oft in der Antike, das Produkt einer herrschaftlichen Elite, die ihre Machtposition durch einen monumentalen Sitz klar zum Ausdruck bringen wollte. Die deutlichen Spuren eines komplexen administrativen Systems sind eher mit einer solchen Herrschaftsinstanz als bloß mit einem zeremoniellen Zentrum zu vereinbaren. Kult und Religion, Produktion und Verwaltung, Anhäufung und Austausch von Gütern lassen sich anhand von entsprechend gestalteten und eingerichteten Räumen, bildlichen Darstellungen sowie aussagekräftigen Kleinfunden mit Sicherheit belegen. Sie sprechen für eine zentral organisierte und multifunktionale Einrichtung, die deutliche Parallelen in den Palästen des Vorderen Orients findet. Es fällt daher schwer, sich eine mi110

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noische Gesellschaft vorzustellen, die ohne eine klare politische Hierarchie, ohne Oberhaupt existierte. Es ist ferner unwahrscheinlich, dass ein so gewaltiges Bauprojekt und der anschließende Betrieb des Gebäudes ohne eine Initiative ›von oben‹, sondern im Gegenteil als kollektive Anstrengung ›von unten‹ bewerkstelligt werden konnte. So verlockend diese neue Theorie auch sein mag, so unwahrscheinlich ist es doch, dass die gesellschaftliche Entwicklung auf Kreta völlig anders verlaufen sein sollte als bei seinen Nachbarn. Antike Gesellschaften bildeten nach heutigem Kenntnisstand doch immer wieder das gleiche Grundmuster aus: Je stärker sich soziale Schichten unterscheiden, desto deutlicher kristallisieren sich Eliten heraus, die einerseits Arbeitsteilung und Vorratshaltung organisierten, andererseits durch ihre Verantwortung auch Macht gewannen. Innerhalb dieser hervorgehobenen Schicht machen wiederum Anführer Karriere, deren Stellung bald über eine besondere Verbindung zu den Göttern und durch eine Genealogie legitimiert wird. Monumentalbauten haben in solchen Systemen eine sehr konkrete Funktion. Ferner erfordern sie eine einzelne Person an der Spitze der Gesellschaft, um die nötigen Mittel bereitzustellen und die Arbeitskraft zu motivieren und zu koordinieren. Der architektonische Plan, die Ausstattung und die Dimensionen des Palastes von Knossos sprechen zweifellos für eine Deutung in diesem historischen Rahmen und daher für eine Funktion als Herrschersitz. Auch wenn das Bild eines Königs Minos, der in Knossos residierte, heute nicht mehr so ungetrübt wie zu Evans’ Zeit dasteht, dürfte diese traditionelle Vorstellung also in ihren Grundzügen ihre Berechtigung haben. Dennoch hat die entfachte Debatte durch die Formulierung von klaren Argumenten und Gegenargumenten unser Verständnis von der Funktion dieser Gebäude und dem Charakter der politischen und sozialen Strukturen im minoischen Kreta wesentlich vorangebracht. Dies betrifft insbesondere die grundlegende Rolle des Palastes als Schauplatz von Festen und Ritualen. Gemeinsame Zeremonien und Feierlichkeiten mit Tanz und Festmählern waren es, die das Identitätsgefühl eines jeden Gesellschaftsmitglieds immer wieder aufs Neue bestärkten. Der Palast – und darüber herrscht heute ein breiter Konsens – war Schauplatz zeremonieller Handlungen, an denen man die Quintessenz des minoischen Palastsystems erkennen kann: Nicht die Macht der Waffen, sondern der 111

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Glanz der Zeremonien war das, was dieses komplexe gesellschaftspolitische Gefüge in seinem Inneren zusammenhielt. Die besondere Bedeutung des Palastes von Knossos für die minoische Gesellschaft macht daher verständlich, warum er mit seinen zahlreichen, labyrinthisch angeordneten Hallen und Kammern, den zwei großen gepflasterten Höfen sowie seiner qualitätsvollen Ausstattung und mit Vor- und Rücksprüngen gegliederten Fassaden einen unmissverständlichen Anspruch auf Monumentalität erhob. Auch wenn wir das ›Gesicht‹ dieses antiken Herrschaftssystems aufgrund der fehlenden Herrscherdarstellungen nicht kennen, ist es durch den aufschlussreichen architektonischen Befund dennoch möglich, sein Legitimationsprinzip zu ergründen. Die Palastinstitution stellte das zentrale Element der minoischen ›höfischen‹ Gesellschaft dar und muss in jedem Fall als solches betrachtet und verstanden werden.

Der Palast von Knossos Das größte und am qualitätsvollsten gestaltete unter diesen zentralen Gebäuden war der Palast von Knossos. Einige Zahlen genügen, um die Monumentalität dieses Baus, des größten antiken Gebäudes im ägäischen Raum, zu demonstrieren. Seine Gesamtfläche betrug 135 mal 135 Meter (ca. 18 200 m2), der Zentralhof war ca. 50 mal 25 Meter groß. Er verfügte über Hunderte von Räumen, die sich auf zwei bis vier Stockwerke verteilten, deren Anzahl wegen des teilweise in Hanglage konstruierten Baus variierte. Auch wenn der knossische Palast größtenteils nur bis zur Höhe des Erdgeschosses erhalten ist, kann es keinen Zweifel daran geben, dass er ursprünglich ein introvertierter, in sich gekehrter Baukomplex war. ›Herz‹ und Ausgangspunkt der baulichen Gestaltung bildete ein rechteckiger, nord-süd-orientierter Zentralhof. Die einzelnen Raumeinheiten der den Hof umgebenden Flügel sprangen nach außen unregelmäßig vor. Von innen gesehen, aus der Sicht derjenigen, die im Zentralhof 112

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Abb. 11: Grundrissplan des Neuen Palastes von Knossos.

verkehrten, bot der Palast durch seine reich gegliederten Fassaden eine prachtvolle architektonische Kulisse. Aus der Sicht der – im wahrsten Sinne des Wortes – Außenstehenden war er allerdings, durch seine geschlossenen Außenwände mit wenigen, kleinen Eingängen, ein abgeriegelter Baukörper, der durch seine schiere Größe und Monumentalität imponierte. Dieser krasse Gegensatz zwischen Drinnen und Draußen wurde durch die Gestaltung der Westfassade noch stärker akzentuiert. Aus der Sicht der Stadt und somit der Herannahenden war die Westfront zugleich die Hauptfassade, da sich der Hügel, auf dem der Palast errichtet 113

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war, nur gegen Westen zu einem geräumigen Platz öffnete. Mit ihrem hohen Sockel aus solidem, durch Vor- und Rücksprünge gegliedertem Quadermauerwerk war diese Westfassade ohne ein zentral platziertes und monumental gestaltetes Tor eher wie eine massive Barriere gestaltet. Über ihre ursprüngliche Höhe und Gestaltung lässt sich nur spekulieren. Ob als geschlossene Mauerfront oder durchbrochen von mit Säulen und Doppelhörnern ausgestatteten ›Erscheinungsfenstern‹, vermittelte die Westseite des Palastes zur Stadt hin in jedem Fall eine klare Botschaft: Nicht jedem war es vergönnt, an den Geschehnissen im Gebäudeinneren teilzuhaben. Der Palast öffnete sich also dem Besucher als prunkvolle Architekturfassade erst von innen. Durch ihren abgrenzenden Charakter fungierte die hohe Mauer der Westfassade als Trennwand zwischen Innen und Außen, zwischen der höfischen Elite und der breiten Masse der Bevölkerung. Im Einklang damit standen die Eingänge des Palastes, die weder monumental noch besonders einladend gestaltet waren. Nur der Nordeingang führte über eine Rampe und durch eine imposante Pfeilerhalle direkt zum Zentralhof. Die anderen Eingänge leiteten den Verkehr durch enge Korridore, welche wie Trichter fungierten, von außen nach innen. Vom Westhof her, der ›Stadtseite‹ des Palastes, wurde der direkte Zugang ins Gebäudeinnere durch ein Propylon ermöglicht. Die Besucher, die den Palast durch diesen Eingang betraten, mussten durch den langen und engen ›Prozessionskorridor‹ schreiten, dessen Wände mit über 500 lebensgroßen Prozessionsteilnehmern in feinem Gewand bemalt waren. Der Gang zwischen unzähligen stillen Figuren, die mit ihren kostbaren Gaben an einer immerwährenden Zeremonie teilnahmen, muss einen extrem einschüchternden Effekt auf jeden Betrachter gehabt haben. Dieser Anblick hätte sogar die eintretenden Kinder einer modernen Schulklasse zum Schweigen gebracht. Für diejenigen, die im Palast residierten, zu seiner Belegschaft gehörten oder sich zu bestimmten Anlässen in das Palastinnere begeben durften, eröffnete sich hinter den Eingangsbereichen eine andere Welt: Der Zentralhof als Herzstück des Palastes. Die absolute Dominanz dieser unbebauten offenen Fläche stellt das wichtigste diagnostische Merkmal minoischer Palastarchitektur dar. Die meisten orientalischen Paläste sind um ein kompliziertes System von Höfen gruppiert, doch in keinem Fall 114

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dominiert ein Zentralhof das Entwurfsschema einer Herrscherresidenz so erdrückend wie auf Kreta. Wie lässt sich seine übermäßige Größe erklären? Versuche, diese Dimensionen durch bautechnische Überlegungen, wie die Notwendigkeit der Belüftung, Belichtung und Kommunikation der Palastflügel zu begründen, mögen seine Existenz, jedoch nicht seine Ausmaße erklären. Bedenkt man, dass ein abgeschlossener Zentral- oder Innenhof nie zu den typischen Merkmalen minoischer Hausarchitektur gehörte, drängt sich umso stärker die Frage auf, warum ein so großer Teil des minoischen Palastkomplexes von einer offenen, von außen unsichtbaren Fläche eingenommen wurde. Wenn wir davon ausgehen wollen, dass eine scharfe Trennung zwischen dem palastbezogenen und dem ›städtischen‹ Raum der kretischen Gesellschaft existierte, ist es legitim anzunehmen, dass diese Größe von der Bedeutung des Palastes als höfischer Mikrokosmos bedingt war. Der überdimensionierte Platz im Herzen der Residenz bot einen geschützten, ›sterilen‹ Lebensraum für die Mitglieder der Palastelite, eine von außen abgeschottete Welt, geschützt durch die monumentalen Fassaden, die alle vier Seiten des Hofs umgaben und eine kompakte, geschlossene architektonische Kulisse bildeten. Es handelt sich dabei, wie bereits erwähnt, um die eindrucksvollsten Fassaden der minoischen Architektur mit Quadermauerwerk, Öffnungen, Säulen- und Pfeilerreihen, überdachten Portiken, Balkonen mit hölzernen Balustraden und Veranden, die zusammen aus dem Zentralhof das luxuriös gestaltete ›Herz‹ der minoischen Gesellschaft machten. Dieser abgeschottete, offene Bereich bot einen adäquaten Raum für das Leben der ›feinen Leute‹ und eine wirkungsvolle Kulisse für die Durchführung ritueller oder zeremonieller Handlungen. Wie auch immer die im Zentralhof durchgeführten Zeremonien und Rituale letztendlich aufgefasst und gestaltet wurden, es war wohl tatsächlich nur einer begrenzten Zahl von Teilnehmern vergönnt, das Geschehen zu verfolgen. Die wenigen und relativ engen, von außen zum Zentralhof führenden Zugänge sowie die bauliche Abgeschlossenheit der zentralen Freifläche selbst machen es unwahrscheinlich, dass hier größere, dicht gedrängte Menschenmengen zusammenkamen. Die Bildmedien in Knossos verewigen zwar Feste, Prozessionen, Boxkämpfe, ja sogar Stierspiele, die vor einer repräsentativen architektonischen Kulisse stattgefunden haben, doch für jede dieser Möglichkeiten fehlt der end115

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gültige Beweis ihrer Lokalisierung im Zentralhof. Es ist zumindest realistischer anzunehmen, dass ein Stier durch die Gänge des Palastes zum Zentralhof für die Austragung des minoischen Stierspiels geführt wurde, als dass sich hier an einem ›Tag der Offenen Tür‹ eine Menschenmenge versammelte, um einer Zeremonie oder einem anderen Spektakel beizuwohnen. Das heutige Schicksal des Palastes, der täglich von Touristenscharen überrannt wird, hat also nichts mit der einstigen Funktion dieses Gebäudes zu tun, das als bauliche Ummantelung der exklusivsten räumlichen Sphäre der minoischen Gesellschaft diente. Im Gegensatz dazu war der gepflasterte Westhof dafür prädestiniert, als Ort der Zusammenkunft zwischen Herrscher und Beherrschten zu fungieren. Er bot einen geeigneten Schauplatz zur Visualisierung der königlichen Macht vor der Öffentlichkeit. Hier versammelten sich die Leute, die nicht in den Palast hineingelangten. Dieser gepflasterte Bereich, der der Westfassade vorgelagert war, stellte einen integralen Bestandteil aller drei großen Paläste dar (Knossos, Phaistos und Malia). Dabei handelte es sich eigentlich nicht um einen Hof, sondern um einen großen, offenen Platz ohne streng definierbare Grenzen, eine piazza publica, die offensichtlich den Charakter einer Übergangszone hatte, da sie zwischen der urbanen Sphäre und der des Palastes eingebettet war. Die wichtigsten Zeugnisse baulicher Ausgestaltung, die durch bestimmte zeremonielle oder rituelle Bedürfnisse diktiert war, sind neben der Pflasterung die ›Schautreppen‹, die wir aus Knossos und Phaistos kennen, und – wichtiger noch – die sogenannten Prozessionswege. Rechtwinklig angeordnete ›Schautreppen‹ liegen in Knossos und Phaistos am Nordrand der Westhöfe. In beiden Fällen bestehen sie aus sehr flachen Stufen, die nur als Stehtribüne hätten dienen können. Wegen ihrer verhältnismäßig geringen Größe ist davon auszugehen, dass hier ein erlesenes Publikum Platz hatte, um einem Ritus, einer Zeremonie oder einem athletischen Spektakel beizuwohnen. Man kann sich gut vorstellen, wie die schmalen Prozessionswege bei zeremoniellen Anlässen für die Protagonisten des Rituals bzw. die Würdenträger als ein roter Teppich fungiert haben könnten, der bis ins Palastinnere ›ausgerollt‹ war – nämlich dort, wo einige dieser Prozessionswege fortgesetzt wurden – und erst an der Grenze des Zentralhofs endete. Einige Fresken in Knossos scheinen solche Feste und Zeremonien zu verewigen und zeugen vom Glanz und der feierli116

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chen Stimmung dieser außergewöhnlichen Ereignisse, an denen sich die Stadt als geschlossene Einheit begriff. Die erste dieser Szenen ist das sogenannte ›Heiliger Hain und Tanz‹-Fresko (Sacred Grove and Dance), welches tanzende (?) Frauen in einem gepflasterten Hof vor einer vollen Zuschauertribüne zeigt. Wie man bereits richtig erkannt hat, muss der Ort des dargestellten Ereignisses der Westhof des Palastes von Knossos gewesen sein. Die erhöhten Prozessionswege und ihre Anordnung zeigen eine frappante Ähnlichkeit mit den zuvor erwähnten Prozessionswegen, die heute noch auf dem Westhof des Palastes zu sehen sind. Letztere bildeten dabei nur einen Teil des verzweigten Wegenetzes, das sich außerdem zum Nordeingang des Palastes, über die ›Königliche Straße‹ und bis in die Stadt hinein erstreckte. Als direkt zum Palast führende Adern machten die Prozessionswege ihn auch dort allgegenwärtig – ein Indiz für die vereinnahmende Stellung des minoischen Palastes innerhalb des Stadtund Gesellschaftsgefüges.

Abb. 12: Das ›Heiliger Hain und Tanz‹-Fresko aus dem Palast von Knossos.

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Kehren wir nun in das Innere des Palastes von Knossos zurück: Vom Zentralhof aus führten mehrere Eingänge und Treppenhäuser in die ringsum liegenden, mehrstöckigen Gebäudeblöcke. Der Westflügel verfügte über zwei und der Ostflügel – wegen der Hanglage – über vier Stockwerke (zwei oberhalb und zwei unterhalb des Laufniveaus des Zentralhofs). Die Funktion der meisten Palasträume lässt sich leider nicht mit Sicherheit erschließen. Nur im Fall der Magazine im Westflügel des Palastes, die aus 18 sich nebeneinander erstreckenden, langrechteckigen, mit Vorratsgefäßen gefüllten und mit Schächten ausgestatteten Räumen bestanden, erschließt sich ihre genaue Verwendung ohne Weiteres bereits auf der Grundlage ihrer architektonischen Form. Dasselbe gilt auch für Korridore und Treppenhäuser. Was die Funktion aller anderen Räume betrifft, tappen wir allerdings im Dunkeln. Jeder Versuch einer überzeugenden Deutung wird von der langen Geschichte und dem langsamen ›Sterben‹ dieses Gebäudes wesentlich erschwert, denn mehrere Räume wurden in der letzten Phase ihrer Existenz umfunktioniert oder geräumt. Möbel, die uns einen Hinweis darauf hätten geben können, waren aus Holz gefertigt und sind uns daher nicht erhalten geblieben. Das Fundinventar der meisten Räume beschränkte sich auf Keramik, weil man offensichtlich kostbare Gegenstände kurz vor oder nach der Zerstörung bzw. Aufgabe des Gebäudes entfernt hatte. Die zahlreichen Spuren administrativer Aktivität (Tontafeln und Tonplomben mit Siegelabdrücken) aus verschiedenen Phasen der Palastgeschichte waren allerdings nahezu über das gesamte Gebäude verteilt und zeugen von einer eindrucksvollen Geschäftigkeit, die in unterschiedlichen Etappen seiner bewegten Biografie das Alltagsleben in den verwinkelten Räumen dieses riesigen Gebäudes prägte. Werkstatträume lassen sich hingegen im Inneren des Neuen Palastes nicht eindeutig identifizieren. Mit Sicherheit kann bestimmten Räumen im Westtrakt kultisch-religiöse Funktion zugesprochen werden. Der westliche Bereich wurde von den bereits erwähnten Magazinräumen eingenommen. Östlich davon befand sich neben anderen, möglicherweise als Schreine zu deutenden Raumstrukturen: der sogenannte Thronraum des Palastes von Knossos, eine Raumfolge aus Vorraum, ›Thronraum‹ und ›Innerem Heiligtum‹, die wohl einen der kultisch-religiösen Kernbereiche innerhalb des Palas118

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tes darstellte. Im ›Thronraum‹ selbst flankierten Greifen an den Wänden sowohl den Thron als auch den Eingang in das ›Innere Heiligtum‹. Entlang der Wände verliefen niedrige Bänke, die eine Sitzgelegenheit für eine kleine Gruppe boten. Gegenüber dem Thron führten Stufen in einen von Evans als ›Lustralbecken‹ bezeichneten und von einer Brüstung mit Säulen abgegrenzten kleinen Raum mit tiefer gelegenem Bodenniveau hinab, der wohl eine kultische Funktion besaß (c Kap. 8). Der Blick in das ›Innere Heiligtum‹ war auf eine ›Altarnische‹ gerichtet, von deren einstiger Kultausstattung jedoch nichts mehr erhalten ist. Vom Zentralhof aus gesehen, bildeten diese kultischen Räume eine eindrucksvolle, reich gegliederte Fassade. Ein prächtiges Treppenhaus (›Grand Staircase‹) führte vom Zentralhof zu den beiden unteren Geschossen des Osttraktes, die jeweils eine Deckenhöhe von ca. 3,50 Metern aufwiesen. Diese imposante Konstruktion mit flachen, äußerst bequemen Stufen und breiten Treppenfluchten, die sich rechtwinklig um einen großzügigen Lichtschacht arrangierten, zählt zu den Meisterleistungen minoischer Baukunst. Ihre Freilegung, die im Palace of Minos in dramatischen Tönen geschildert wird, erfolgte durch Bergwerkstollen, durch welche Evans und seine Mitarbeiter das fast unversehrte unterste Geschoss des Ostflügels betreten konnten. Hier lagen südlich des Ostwestkorridors, der den Ostflügel in einen nördlichen und einen südlichen Bereich trennte, drei der größten und eindrucksvollsten Räume der erhaltenen Palastruine. Der erste war die ›Säulenhalle‹, ein imposanter Raum, dessen Decke durch vier Säulen gestützt wurde. Durch einen Korridor gelangte man in die noch größere ›Halle der Doppeläxte‹, die Evans nach den eingeritzten Doppelaxtzeichen an einer der Quadermauern benannt hat. Dabei handelt es sich um eine lichtdurchflutete Sequenz von ›Türhallen‹, deren Wände größtenteils ganz aus Türen bestanden (›Polythyra‹, d. h. mehrtürige Konstruktionen), welche man öffnen oder schließen konnte, um Licht, Luft und Temperatur des Raumes fein regulieren zu können. Diese Halle öffnete sich zu einer Portiko, von der man zu einer Terrasse gelangte. Die Vermutung, dass die sehr repräsentativ wirkende ›Halle der Doppeläxte‹ als Audienzsaal genutzt wurde, erscheint wegen der Spuren eines pfeilergestützten Baldachins (für einen Thron?) plausibel. Unmittelbar südlich davon lag eine weitere Türhalle, die Evans als ››Megaron der Königin‹‹ bezeichnete. 119

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Auch wenn es keine stichhaltigen Indizien für eine solche Identifizierung gibt, ist die Deutung als Räume privaten Charakters möglich, worauf auch eine direkt nebenan liegende Latrine mit Wasserspülung hinweist. Schließlich verfügten der Nord- und Südflügel über jeweils einen großen Eingang und zahlreiche andere Räume, deren Funktion trotz der beschreibenden Namen, die ihnen Evans vergeben hat, nicht mit Sicherheit erschlossen werden kann.

Jenseits von Knossos Die übrigen Paläste dieser Periode, die uns ausreichend bekannt sind, konzentrieren sich auf die Osthälfte der Insel. Sie zeigen sowohl auffällige Entsprechungen als auch Unterschiede zueinander, die sowohl ihren Grundriss als auch ihre Bauweise betreffen. Die zwei größten unter ihnen waren die nach den Zerstörungen am Ende der Altpalastzeit wiedererrichteten Paläste von Phaistos und Malia. Trotz der Tatsache, dass sie wesentlich kleiner als der Palast von Knossos waren, verfügten sie über einen Zentralhof, der fast die Maße des knossischen Hofs hatte und somit überproportional groß war. Diese offenen Flächen zeigen nämlich in allen drei großen Gebäuden nicht nur ein festes Länge-Breite-Verhältnis zwischen 1 : 2 und 1 : 2,1, sondern auch ein ähnliches Ausmaß (Knossos: 25 mal 50 Meter, Phaistos: 23 mal 46 Meter, Malia: 23 mal 48 Meter). Das Bedürfnis nach einer fixen Größe des Zentralhofs, welcher nicht von der Größe des gesamten Palastgebäudes bedingt war, weist deutlich darauf hin, dass er nicht bloß ein offener Platz war, sondern als Arena performativen Handelns fungierte und konkreter als Schauplatz eines bestimmten Rituals, dessen Charakter wir leider nicht erschließen können. Die Paläste in Phaistos und Malia haben eine Reihe von weiteren Gemeinsamkeiten mit ihrem knossischen Äquivalent: den multifunktionalen Charakter, die langrechteckigen nebeneinander liegenden Magazinräume, die einen großen Teil der Palastfläche einnehmen und vor allem 120

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in den Westflügeln gelegen sind, und die Existenz eines Westhofs mit Prozessionswegen. Trotz dieses in seinem Grundkonzept verhältnismäßig einheitlichen Erscheinungsbildes gibt es auch einige Unterschiede, die sicherlich durch die individuelle Geschichte dieser Gebäude bedingt waren. Der ›neue Palast‹ von Phaistos, dessen Ostteil der späteren Hangerosion zum Opfer gefallen ist, war, wie bereits erwähnt, für den größten Teil der Neupalastzeit eher eine Baustelle als eine funktionierende Herrscherresidenz bzw. ein aktives administratives Zentrum (c Kap. 4). Auch wenn Fresken hier nur spärlich vorhanden sind, wurde diese Anlage mit großem Aufwand gebaut, wie der gepflasterte Hof, die Mauern aus Quadermauerwerk und die Orthostaten (aufrecht stehende Steinplatten, die meist als Sockelsteine fungierten) aus Gipsstein zeigen. Seine Westfassade war nicht so hermetisch abgeschlossen, wie die des Palastes von Knossos, sondern an zwei Stellen durchbrochen. Ungefähr in ihrer Mitte war ein breiter, gerader Korridor angelegt, der vom Westhof aus einen direkten Zugang und Blick in den Zentralhof des Palastes bot. In ihrem Nordteil war eine überdimensionierte ›Treppe‹ mit einem großflächigen Propylon gelegen. Beide führten allerdings nicht direkt, sondern über auffällig enge, versetzte Eingänge weiter in den Zentralhof bzw. das Palastinnere, was ihre Funktion als Prachteingang der Westfassade sehr unwahrscheinlich macht. Offensichtlich handelt es sich hier um eine ›Schautreppe‹; mit anderen Worten: eine Zuschauertribüne für die im Palast residierende Elite, die eine ähnliche Funktion wie die zu ihr rechtwinklig angeordnete Zuschauertribüne am Nordabschluss des Westhofs erfüllte. Der ›neue Palast‹ von MaIia war wesentlich bescheidener gebaut als jene von Knossos und Phaistos und wirkt eher rustikal. Die meisten Mauern waren aus Bruchsteinen bzw. Lehmziegeln konstruiert. Hier wurden keine Gipssteinplatten als Orthostaten oder Fresken für die Verschönerung der Wandflächen verwendet. Die Magazinräume nehmen ferner einen wesentlich größeren Teil des Erdgeschosses ein, als dies die Lagerräume in Knossos und Phaistos tun. Die Lagerungskapazität des Palastes wurde durch die Errichtung von acht Rundbauten in seiner Südwest-Ecke erhöht, die offensichtlich als Getreidesilos fungierten. Der Zentralhof, der zwar im Inneren des Gebäudes, allerdings nicht direkt 121

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zentral positioniert wurde, wirkt schließlich weniger exklusiv und abgeschottet, denn er war durch zwei direkte Zugänge von außen erreichbar. Nichtsdestotrotz haben wir es auch in diesem Fall mit einem riesigen Gebäude zu tun, das im lokalen Kontext seinen Anspruch auf Zentralität überdeutlich zum Ausdruck brachte. Neben diesen drei Palästen, die bereits seit der Altpalastzeit existierten, werden in der Neupalastzeit, wie bereits erwähnt, weitere gebaut. Am Ostende der Insel, an der Bucht von Kato Zakros, die den von Osten bzw. Südosten herankommenden Schiffen einen sicheren Hafen bot, entstand gegen Ende von SM IA, vermutlich auf den Ruinen eines Vorgängerbaus, ein kleiner Palast, was einen massiven architektonischen Eingriff in das Gefüge einer bereits existierenden Küstensiedlung darstellte. Das Gebäude, das nicht besonders aufwendig gebaut war, folgte zwar dem typischen architektonischen Plan mit Zentralhof, wies allerdings eine Reihe von individuellen Zügen auf. Es lag in einem flachen und wasserreichen Gebiet, während sich ein großer Teil der Siedlung oberhalb des Palastes an einem verhältnismäßig steilen Hang erstreckte. Die höher als der Palast gelegenen Häuser besaßen dadurch einen ungestörten Blick in seinen Zentralhof. Diese eher paradoxe räumliche Anordnung von Palast und Stadt, die sicherlich mit der nachträglichen Konstruktion des Ersteren innerhalb einer bereits gewachsenen Siedlung zusammenhing, bleibt im minoischen Kreta singulär. Vom Südeingang des Palastes konnte man über einen Korridor direkt den Zentralhof erreichen. Zu den auffälligsten Merkmalen dieses Gebäudes zählen eine große Zeremonialhalle und Schatzkammern im Westflügel, zahlreiche Werkstatträume und mehrere hydraulische Einrichtungen, darunter ein rechteckiger Brunnen und ein großes, überdachtes rundes Becken mit fünf Metern Durchmesser, das durch eine unterirdische Quelle bis zu einer gewissen Höhe mit Wasser gefüllt wurde. Wenn sie keine sakrale, sondern eine lediglich profane Funktion hatten, dann dürfte man sie entweder als Wasserspeicher oder als luxuriöse Hygieneräume interpretieren. Letztere Funktionsdeutung fände dann in der knossischen ›Karawanserai‹, einer aufwendig gestalteten Raststätte für die Besucher des Palastes (?), eine gute Parallele. In den Werkstätten wurden ganz unterschiedliche Produkte gefertigt oder verarbeitet, darunter Stein-, Bronze-, Elfenbein- und Fayence-Artefakte, Parfümöle und Textilien. 122

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Im zentralkretischen Galatas, auf einer Hügelkuppe mit hervorragender Aussicht auf eine idyllische und sehr fruchtbare Landschaft, wurde in der MM IIIB-Phase ein weiterer kleiner Palast mit gepflastertem Zentralhof errichtet, der aber nur kurzlebig war. In Sissi, das nur wenige Kilometer östlich von Malia liegt, hat man in den letzten Jahren ein Zentralgebäude freigelegt, das einen überdimensionierten und unregelmäßigen Zentralhof aufweist und anscheinend ebenfalls den Grundrissplan der Paläste kopiert. Die den Hof umgebenden Räume wirken allerdings extrem bescheiden und erwecken den Eindruck, dass ihre Funktion vordergründig darin bestand, dieser offenen Fläche eine elementare architektonische Ummantelung zu bieten. Es gibt noch weitere Gebäude in Archanes, Gournia, Petras und Pretoria/Damantri, die ebenfalls als Paläste angesprochen werden. Diese Bezeichnung ist im engeren Sinne eigentlich nicht korrekt, da sie keinen oder – wie im Fall der noch nicht vollständig ausgegrabenen Gebäude in Pretoria/Damantri und Archanes – noch keinen Zentralhof aufweisen. Im Fall von Gournia und Petras handelt es sich zweifellos um die Zentralgebäude der Siedlung. Das palastartige Gebäude in Petras, das wesentlich kleiner (2400 m2) als die drei großen Paläste war, existierte bereits seit der MM IIA-Phase. Nach einer Zerstörung am Ende von MM IIB verlor es allerdings während der Neupalastzeit drastisch an Bedeutung. Das neupalastzeitliche Gebäude wies zwar einen kleinen ›Zentralhof‹ auf, jedoch keine weiteren palastartigen Merkmale in der Bauweise (Orthostaten aus Gippssteinplatten, Fresken) oder Raumgestaltung (›Lustralbecken‹, ›minoische Halle‹, c Kap. 8). Nach einer Zerstörung in SM IA wurden viele Räume zu Lagerräumen umfunktioniert, während mehrere Gebäude in der Petras-Siedlung als Ruinen belassen wurden. Eine besondere Erwähnung verdient hier ferner der mit ›Polythyron‹-Hallen (c Kap. 8), Gipssteinplatten und Fresken luxuriös ausgestattete Gebäudekomplex von Ajia Triada. Wegen des Fehlens eines Zentralhofs bezeichnet man ihn konventionell als ›Villa‹, obwohl er in der Neupalastzeit zweifellos als das unangefochtene administrative Zentrum Südzentralkretas galt und eine rein palastbezogene Funktion erfüllte. Unterhalb der modernen Häuser der Altstadt von Chania liegt offensichtlich ein weiterer Palast, der bisher nur ausschnitthaft freigelegt wurde. In der Küstensiedlung von Palaikastro, einem der wichtigsten 123

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minoischen Häfen überhaupt, wird schließlich ebenfalls ein Palast vermutet. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Paläste, gemessen an den restlichen minoischen Bautypen und überhaupt an der Größe von Bauten späterer Perioden, eine enorme Größe aufweisen, die sich einerseits durch den symbolischen Anspruch der herrschenden Elite auf Monumentalität und andererseits durch die Vereinigung verschiedener Funktionen unter einem Dach erklären lässt. Da wir von diesen Gebäuden in den meisten Fällen nur das Erdgeschoss oder die Kellerräume kennen, können wir ihren architektonischen Plan nicht in seiner Gesamtheit erschließen. Ihre Funktionsvielfalt lässt sich allerdings auch auf Erdgeschossebene belegen, die, wie bereits oben erläutert wurde, aus einer Vielzahl von verhältnismäßig kleinen Räumen bestand. Unser Bild vom architektonischen Konzept dieser Strukturen wäre sicherlich umfassender und vielleicht auch ein anderes gewesen, wenn uns die oberen Stockwerke, in denen man die repräsentativen Säle der Paläste vermutet, besser oder überhaupt erhalten wären.

Der Palast als höfische Institution Der Versuch, den Charakter und die Signifikanz des minoischen ›Hofs‹ als die zentrale sozial-politische Instanz der minoischen Gesellschaft zu würdigen, muss über die bloße Beschreibung und Interpretation der Palasttrakte und -räume hinausgehen. Diese Gebäude beherbergten ein komplexes Geflecht, dessen einzelne Komponenten die verwandtschaftlichen und persönlichen Beziehungen zwischen den Mitgliedern der herrschenden Elite, die Macht von Tradition und Religion, die rhythmisch stattfindenden rituellen und zeremoniellen Handlungen und schließlich der alles aufrechterhaltende administrative Apparat ausmachten. Diese Mischung aus persönlichen, religiösen, sozialen, politischen und wirtschaftlichen Belangen lässt sich in der archäologischen Evidenz sehr unterschiedlich dokumentieren. Die Funktion der Paläste als Resi124

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denzen darf als sehr wahrscheinlich gelten, da jedes dieser Gebäude repräsentative Räume aufweist, die aus einer großzügigen und lichtdurchfluteten Anordnung von großen Hallen bestanden, deren Wände durch mehrtürige Konstruktionen durchbrochen waren (›minoische Halle‹ und ›Polythyron‹). Diese luxuriöse architektonische Gestaltung wurde in zahlreichen elitären Häusern der Neupalastzeit offensichtlich als Ausdruck exklusiven Geschmacks übernommen. Die Existenz von Sanitärräumen mit Latrinen in Knossos, Phaistos, Ajia Triada, Malia und Kato Zakros (im Fall von Knossos sogar mit fließendem Wasser!) scheint diese Vermutung zu bekräftigen. Ob die Paläste als die wichtigsten religiösen Zentren fungierten, ist eine Frage, die offenbleiben muss. Trotz des allgemeinen Fehlens von freistehenden Bauten, die eindeutig als Tempel identifiziert werden könnten, ist es nicht zwingend, dass sich der Mittelpunkt der religiösen Aktivität innerhalb der Palastmauern befand. Die zahlreichen Spuren ritueller Vorgänge in Palasträumen könnten auch als Ausdruck persönlicher Pietät betrachtet werden. Auf wesentlich festerem Boden steht man im Fall von Festen und zeremoniellen Aktivitäten, die zweifellos eine starke religiöse Komponente besaßen, sich aber dennoch als kollektive Erfahrung auf etwas bezogen, das wesentlich umfassender und vielschichtiger war, als das, was wir heute unter ›Religion‹ verstehen (c Kap. 12). Das Fundament des minoischen Hofs als gesellschaftspolitischer Institution war dessen Verwaltungssystem, welches ebenfalls sehr deutliche Spuren hinterlassen hat. Die Konsolidierung der Paläste und der damit verbundenen ›palatialen Produktionsweise‹ leitete eine einschneidende Veränderung für die bronzezeitliche Gesellschaft der Insel ein. Der Begriff ›palatiale Produktionsweise‹ bezieht sich hier auf eine herrschende Klasse, der es zu einem bestimmten Zeitpunkt möglich wurde, den Zugang zu landwirtschaftlich bearbeitetem Boden zu kontrollieren und dadurch den produzierenden Bauern eine Zwangsabgabe (›Steuer‹) aufzuerlegen. Dieses historische Szenario ist wesentlich überzeugender als die romantische Vorstellungen, dass der Palast das Ergebnis einer kollektiven Anstrengung war oder einen ähnlichen Charakter wie moderne Kooperativen besaß, deren wichtigste Funktion darin bestand, die Verteilung eines ›natürlich‹ entstandenen Mehrproduktes zu koordinieren. Wie wir aus ethnologischen und historischen Beispielen wissen, ist es 125

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sehr unwahrscheinlich, dass die Agrarbevölkerung freiwillig und ohne einen Zwang bereit war, über ihre Bedürfnisse hinaus zu produzieren. Der Palast entstand offensichtlich nicht als schlichte Koordinationsinstanz, sondern als ein Abgaben forderndes politisches Machtgefüge und war somit keine Folge, sondern Ursache der Überschussproduktion. Folglich war im Palastsystem von Beginn an ein Konflikt zwischen beiden Sphären angelegt, der im Laufe der Zeit und angesichts der zunehmend zentralistischen Tendenzen des Palaststaates offenbar einen Grund für soziale Unruhen bot. Für die Stabilität dieses fragilen politischen Machtsystems, das auf einem Ausbeutungsverhältnis zwischen Herrscherklasse und produzierender Bevölkerung beruhte, waren Formen der symbolischen Kommunikation von entscheidender Bedeutung. Die Bereitschaft der Produzenten, eine Abgabepflicht widerstandslos hinzunehmen, konnte gewährleistet werden, wenn sie glaubten, dass die herrschende Elite für den Fortbestand der natürlichen und gesellschaftlichen Ordnung unerlässlich ist. Dies machte einerseits die religiöse Legitimation des politischen Systems essenziell und verpflichtete andererseits die Palastelite, für die Subsistenz ihres Beamtenapparates, die Erhaltung der Infrastruktur und allgemein für das Wohl der abhängigen Bevölkerung Sorge zu tragen: ›Adel verpflichtet‹. Wesentliches zur Festigung des politischen status quo trug das ›symbolische Kapital‹ der minoischen Paläste bei, das Prunk- und Ritualobjekte, Feste, Bankette, religiöse Zeremonien, Opfergaben an Götter und vielleicht Geschenke umfasste. Durch die Zirkulation dieses ›symbolischen Kapitals‹ gelang es der herrschenden Klasse, das einseitige Abgabeverhältnis als eine gegenseitige Beziehung zu inszenieren und dadurch für soziale Stabilität zu sorgen. Die Frage, die sich nun unvermeidlich auftut, ist, wie der minoische Palast all diese komplexen Aufgaben wirtschaftlich und logistisch bewältigte. Wie kann man sich dieses vormoderne wirtschaftliche System vorstellen, das auf die massenhafte Lagerung von Produkten ausgerichtet war? Der Palast stellte offensichtlich einen überdimensionalen ›institutionellen Haushalt‹ dar, der für die dort residierende Elite und deren Verwaltungsstab bzw. Dienerschaft enorme materielle Ausgaben hatte. Bei dieser Wirtschaftsform handelte es sich sicherlich, wie in jedem antiken Kontext, um keinen durchdachten Gesamtentwurf, sondern um 126

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ein Konglomerat aus effizienten und weniger effizienten Prozeduren, die durch Tradition, Erfahrung und Lernen eingeübt waren. Es war kein Wirtschaftssystem im modernen Sinne des Wortes, sondern eher ein wirtschaftlicher ›Habitus‹, der die Summe der nutzungsorientierten Strategien und traditionellen Lösungen zu den anstehenden Problemen umfasste. Die unabdingbare Voraussetzung für die Herausbildung und Konsolidierung der Palastinstitution stellte die Akkumulationsstrategie dar, konkreter die Generierung und das Management von landwirtschaftlichem Überschuss. Kein Palast ohne Lagerung – auf diese elementare Maxime könnte man das Wesen dieser soziopolitischen Institution reduzieren. Wie sind nun die großen minoischen Palastzentren der Herausforderung begegnet, welche die Anhäufung großer Mengen von Naturprodukten und Artefakten mit sich brachte? Die große Fläche, welche die Magazinräume in den Palästen einnehmen, zeigt, wie ernst jede Palastadministration dieses Problem genommen hat. Zunächst muss man hier aber mit einem kapitalen Missverständnis der älteren Forschung aufräumen: Die Magazintrakte der Paläste sind kein Hinweis auf ein redistributives System, wonach die gesamte Produktion oder zumindest der größte Teil im Palast gesammelt wurde, um von dort wieder an die Bevölkerung umverteilt zu werden. Dieses wirtschaftliche Modell, das tatsächlich bei einigen Naturvölkern existiert, kann bei der Rekonstruktion eines Palast-Wirtschaftssystems nicht angewendet werden. Es wäre weder effizient noch praktisch möglich gewesen, dass der Palast die gesamte Produktion des von ihm kontrollierten Gebietes an einer zentralen Stelle sammelte. Offensichtlich akkumulierten die Paläste nicht die Gesamtproduktion, sondern lediglich einen Teil davon, der zur eigenen Bedarfsdeckung diente, nämlich zur Versorgung des Beamtenapparates und der Arbeitskräfte bzw. zur Finanzierung der alltäglichen und außergewöhnlichen (Feste, Zeremonien) Aktivitäten der Palastinstitution. Zur Zeit der alten Paläste wurden in der unmittelbaren Nähe dieser Gebäude in Knossos und Phaistos große, runde, unterirdische Getreidespeicher angelegt (die sogenannten Kouloures), die offensichtlich für die Aufbewahrung von großen Mengen von Getreide bestimmt waren. Die einzige plausible Erklärung für eine solche Form von Lagerung bietet 127

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die auf ethnologischen Beispielen beruhende Hypothese, dass man diese unterirdischen Speicher luftdicht verschlossen hat, damit man das Getreide langfristig aufbewahren konnte. Möglicherweise waren die großen Mengen als Reserve für Zeiten der Nahrungsknappheit angelegt. Von besonderem Interesse ist hier die Tatsache, dass sie in der Neupalastzeit zugeschüttet wurden. Dies kann nur als Hinweis auf ein neues anspruchsvolleres Lagerungskonzept gedeutet werden. Durch den Ausbau und die Optimierung der administrativen Kontrolle hat man nun offensichtlich Lagerräume auch in einer gewissen Entfernung vom Palast oder sogar in der von ihm kontrollierten Peripherie angelegt, da man schnell und sicher auf die dort gelagerten Produkte zugreifen konnte. Das knossische ›Northeast House‹ sowie die ›Villa‹ in Mitropolis/Kannia (ca. 13 Kilometer östlich von Phaistos) sind zwei Gebäude, die wegen ihrer deutlich überdurchschnittlichen Zahl an Vorratsräumen und -gefäßen als Lagerhäuser bezeichnet werden könnten. Die Gesamtkapazität der Vorratsgefäße im ›Northeast House‹ betrug ca. 26 400 Liter, während die in Kannia ca. 23 000 Liter umfasste. In den Magazinen der Paläste lagerten offensichtlich nur Naturprodukte, die man, wie bereits erwähnt, nur für die kurzfristigen Bedürfnisse der residierenden Elite oder des administrativen Apparats und der anderen Bediensteten benötigte. Die logistische Bewältigung dieser enormen Mengen an gelagerten Produkten wurde seit der Altpalastzeit mithilfe von Schrift und Siegelpraxis gewährleistet. Die zwei Schriftsysteme, die in der Alt- und Neupalastzeit in Verwendung waren, die sogenannten kretischen Hieroglyphen und die Linear-A-Schrift, sind noch nicht entziffert, was natürlich jedem Versuch der systematischen Auseinandersetzung mit diesen epigrafischen Zeugnissen deutliche Grenzen aufweist. Lediglich einzelne Linear-A-Ideogramme oder nummerische Zeichen sind identifizierbar. Im Linear-A-Tontafelensemble von Ajia Triada werden agrarische Produkte und Arbeitskräfte registriert, deren Zahlen allerdings deutlich niedriger sind als diejenigen in den Linear-B-Texten. Neben den kleinen minoischen Tontafeln, die ausschließlich Linear-A-Texte tragen, wurde eine sehr breite Palette von Tonplomben gefunden, die kurze Inschriften, Siegelabdrücke oder eine Kombination von beiden trugen. Die Inschriften fungierten als Etiketten, die eine bestimmte Information vermittelten. Die Tonplomben mit Siegelabdrücken wurden hingegen als 128

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›legitimierende Dokumente‹ verwendet, da dadurch der Anbringer der Siegelstempelung eine Verantwortung für ein Produkt oder eine Lieferung übernahm. Solche administrativen Zeugnisse wurden oft auch außerhalb der Paläste gefunden. Dies muss allerdings nicht bedeuten, dass sie ihre Funktion außerhalb der Palastsphäre erfüllten. Das komplexe Gefüge des Palastes als Institution beschränkte sich sicherlich nicht nur auf den Bereich innerhalb des zentralen Palastgebäudes, sondern erfasste als Netzwerk zahlreiche räumlich weit verbreitete Büros, Institutionen oder auch ganze Orte.

Literatur Cadogan, Gerald 1976: Palaces of Minoan Crete, London/New York Christakis, Kostis S. 2011: Redistribution and Political Economies in Bronze Age Crete, in: American Journal of Archaeology 115 (2), 197–205 Driessen, Jan u. a. (Hgg.) 2002: Monuments of Minos. Rethinking the Minoan Palaces, Liège/Austin Evans, Arthur 1921–1935: The Palace of Minos. A Comparative Account of the Successive Stages of the Early Cretan Civilization as Illustrated by the Discoveries at Knossos, Bd. I–IV, London Graham, James Walter 1987: The Palaces of Crete, 2nd ed., Princeton Hägg, Robin/Marinatos, Nanno (Hgg.) 1987: The Function of the Minoan Palaces, Stockholm Levi, Doro 1976: Festòs e la civiltà minoica, Rom Platon, Nikolaos 1985: Zakros. The Discovery of a Lost Palace of Ancient Crete, Amsterdam Schoep, Ilse 2010: The Minoan ›Palace-Temple‹ Reconsidered: A Critical Assessment of the Spatial Concentration of Political, Religious and Economic Power in Bronze Age Crete, in: Journal of Mediterranean Archaeology 23 (2), 219–243 Shaw, Joseph 2015: Elite Minoan Architecture: its Development at Knossos, Phaistos, and Malia, Philadelphia Van Effenterre, Henri 1980: Le palais de Malia et la cité minoenne. Étude de synthèse, Rom Whitelaw, Tod 2018: Recognising Polities in Prehistoric Crete, in: Relaki, Maria/ Papadatos, Yannis (Hgg.): From the Foundations to the Legacy of Minoan Archaeology: Studies in Honour of Professor Keith Branigan, Oxford, 210–255

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»… we need to recognize that histories produce geographies and not vice versa. We must get away from the notion that there is some kind of spatial landscape against which time writes its story. Instead, it is historical agents, institutions, actors, powers that make the geography.« (Arjun Appadurai)13

In der Hochebene von Zominthos im Herzen des Psiloritis-Bergmassivs, ca. 300 Meter über der modernen Besiedlungsgrenze der Insel, verbirgt sich ein Geheimnis der Erfolgsgeschichte der kretischen Neupalastzeit. Hier erheben sich auf einer kleinen Anhöhe die überraschend gut erhaltenen Ruinen eines massiv gebauten Landhauses, des größten seiner Art, das offensichtlich nicht nur den wichtigen Weg zwischen Knossos und der Idäischen Grotte, sondern auch die besten Weideflächen der Insel kontrollierte. Jeder, der diesen Ort an einem Frühlingstag besucht, an dem der Winterschnee an den Berghängen noch nicht geschmolzen ist und diese alpine Landschaft fest im Griff einer dicken Wolkenhülle liegt, wird erkennen, dass die Existenz eines imposanten Landhauses an dieser ungewöhnlichen Lage eine Leistung darstellt, die nicht minder kühn als der Sprung der mutigen Akrobaten über den Stier gewesen sein muss, der in zahlreichen Bildmedien dieser Periode verewigt wurde. Die Zähmung der rauen bergigen Landschaft durch die urbanen Zentren der Ebenen stellte nicht nur eine der wichtigsten Grundlagen für den kulturellen Höhepunkt der Neupalastzeit dar, sondern zählt aus diachroner Sicht zu den eindrucksvollsten Leistungen der Inselgeschichte.

13 Appadurai, Arjun 2010: How Histories Make Geographies: Circulation and Context in a Global Perspective, in: Transcultural Studies 1 (1), S. 9.

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Die Erschließung der bergigen Landschaft Die großen Herausforderungen ihrer natürlichen Umwelt scheinen die Minoer auf eine eindrucksvolle Weise gemeistert zu haben, denn sie bemühten sich sehr intensiv darum, die üppigen natürlichen Ressourcen der Insel effektiv zu nutzen. Sehr oft ließ sich die archäologische Forschung in der Vergangenheit von den meisterhaften künstlerischen Schöpfungen der minoischen Gesellschaft blenden und zeigte dabei nur ein geringes Interesse für diese wirtschaftliche Hochleistung, die sicherlich das Fundament für die dynamische Kulturentwicklung dieser bronzezeitlichen Gesellschaft bot. Wie weit die Minoer allen anderen Völkern voraus waren, welche die Insel von der Bronzezeit bis in die Neuzeit bevölkerten, zeigt die Tatsache, dass minoische Ruinen oder Siedlungszentren über die ganze Insel verstreut sind und zwar in Regionen, die in historischer oder sogar in moderner Zeit überhaupt nicht erschlossen wurden und daher fund- und menschenleer bleiben. Der Prozess der ›inneren Kolonisierung‹ der Insel durch das Erschließen der bergigen Gebiete lässt sich grundsätzlich als ein neupalastzeitliches Phänomen erfassen, auch wenn seine Anfänge bereits in der Altpalastzeit liegen. Auslöser dieser innerkretischen Bewegung in die höheren Lagen könnten sowohl negative (lokale Krisensituationen durch den Bevölkerungszuwachs) als auch positive Gründe (mildes Klima) gewesen sein. Denkbar wäre ferner eine Kombination dieser beiden Faktoren. Die eindrucksvolle ›Domestizierung der Berge‹ in der Neupalastzeit könnte sogar ein durchdachter Aktionsplan gewesen sein, der vermutlich von einem dominanten politischen Zentrum mit großem Aufwand betrieben wurde.

Etappen In den anfänglichen Phasen der minoischen Kultur sehen wir eindeutige Bevölkerungskonzentrationen in den Küstenebenen und den frucht131

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B. Ein anatomischer Blick auf die minoische Gesellschaft

baren Landstrichen im kretischen Binnenland. Der Ostteil der Insel, der Isthmus von Ierapetra, die Palaikastro-Küstenebene, die Mesara-Ebene und Nordzentralkreta treten hier als die hauptsächlichen Siedlungskammern der Insel auf. Die offensichtliche Vorliebe für die Gründung von natürlich geschützten oder befestigten Siedlungen weist auf eine unsichere Zeit hin. Trotz der erhöhten Lage von vielen dieser Orte konnte man auch hier eine Subsistenzwirtschaft realisieren, denn fruchtbare Landstriche oder Weideflächen waren überall leicht zugänglich. Hinzu kam die Möglichkeit der einfachen Landverbindung mit anderen Inselregionen. Die unmittelbare Nähe zur Küste, die den Anschluss an weitere Ressourcen (Fischfang) sowie maritime Austauschnetzwerke ermöglichte, machte die vorteilhafte Lage dieser frühen Siedlungszentren noch deutlicher. Das erstaunlichste Phänomen dieser Periode ist aber wohl die dichte Besiedlung der Asterousia-Berge, einer Region, die in späteren Perioden und konkreter seit dem Ende des dritten Jahrtausends v. Chr. größtenteils verlassen oder nur sehr dünn bevölkert war. Die hohe Anzahl an vorpalastzeitlichen Gräbern und Siedlungen zeigt, dass größere Teile dieses bergigen Gebiets zwischen der Südküste und der Mesara-Ebene als Nutz- und Siedlungsflächen erschlossen waren. Die Gräber sollen hier an erster Stelle erwähnt werden, weil sie durch die systematischen archäologischen Untersuchungen seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts viel besser bekannt sind als die Siedlungen, die natürlich in nicht geringerer Anzahl existierten. Die Frage, warum die Region vor allem in der Vorpalastzeit zahlreiche Bevölkerungsgruppen angezogen hat, lässt sich nicht leicht beantworten. Die hier lokalisierten Metallvorkommen könnten eine mögliche Erklärung bieten, wenn man ihre Erschließung in minoischer Zeit belegen könnte. Alternativ könnte man den dramatischen Rückgang an Siedlungsplätzen nach dem Ende der Vorpalastzeit als das Ergebnis einer klimatischen Veränderung betrachten, für die wir allerdings noch keine ausreichend klaren Hinweise haben. Von besonderem Interesse sind in dieser Periode eine Reihe von Siedlungen vor allem im Südteil der Insel, die einen wehrhaften Charakter zeigen, wie Myrtos/Phournou Koryphi und Trypiti. Beide wurden an hoch gelegenen Stellen errichtet, die eine sehr gute Sicht auf die umliegende Region boten, ohne allerdings deutlich von der Ebene bzw. Küste sichtbar zu sein. Was hier auffällt, ist der Versuch von bestimm132

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ten Bevölkerungsgruppen, eine Lage für ihr Dorf zu finden, welche Schutz und leichten Zugang zu den fruchtbaren Landstrichen und dem Meer kombinierte. Die alten Paläste werden in den Regionen gegründet, die zuvor als Hauptsiedlungskammern der Insel angesprochen wurden. Damit konsolidiert sich ein politisches und wirtschaftliches System, das auf Zentralisierung der Macht und Kontrolle natürlicher Ressourcen abzielte. Bereits in dieser Periode muss man mit einem beträchtlichen Bevölkerungszuwachs rechnen, der zur Notwendigkeit einer intensiveren Erschließung der kretischen Landschaft geführt haben muss. Die kretischen Berge, die sicherlich bereits in der Vorpalastzeit den Lebensraum für kleinere Dörfer boten, wurden nun immer dichter von kleineren Bevölkerungsgruppen besiedelt, die Ackerbau und Viehzucht betrieben. Einige Jahrhunderte von ununterbrochener kultureller Entwicklung führten in der Neupalastzeit zur Kulminierung dieser Prozesse. In dieser Periode wird die Erschließung der kretischen Landschaft vollzogen, und zwar in einer solchen flächendeckenden und intensiven Manier, die aus diachroner Sicht einzigartig bleibt. Die wichtigsten Akteure waren nun nicht Bauern und Hirten, sondern die großen Palastzentren. Die innerkretische ›Kolonisierung‹ der Berge wurde von geomorphologischen und sozio-politischen Faktoren gefördert und gefordert. Die kretischen Gebirge im zentralen und östlichen Teil der Insel weisen mit ihren sanft abfallenden Hängen und zahlreichen Ebenen einen ›Stockwerksbau‹ auf und ermöglichten Besiedlung und Ackerbau bis zu einer beträchtlichen Höhe. Aus diachroner Sicht muss man allerdings feststellen, dass diese Möglichkeit, die durch geomorphologische Gegebenheiten stets vorhanden war, nur in wenigen Perioden der Inselgeschichte genutzt wurde, und zwar in keiner so intensiv wie in der minoischen Zeit. Daher muss man die Gründe für diese Expansion in das ›obere Stockwerk‹ der Insel vor allem in einer besonderen Konstellation von sozialen, politischen und wirtschaftlichen Parametern suchen. Der unaufhaltsame Bevölkerungszuwachs, der als Ergebnis einer robusten Gesellschaft betrachtet werden muss, führte wahrscheinlich zu Engpässen in der Behausung und Versorgung von größeren Bevölkerungsgruppen in den Küstenebenen und Tälern der Insel. Die Ausweitung des knossischen Einflusses in der Neupalastzeit innerhalb und außerhalb Kretas hat ferner nicht nur 133

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ein deutlich gesteigertes Bedürfnis an natürlichen Ressourcen gefordert, sondern auch die Notwendigkeit einer effizienteren Kontrolle von bergigen Regionen verursacht, die bis dahin der Kontrolle des Palastes entgehen konnten. Die Erschließung der kretischen Landschaft erfasste interessanterweise auch mehrere kretische Satelliteninseln, wie Pseira, Gavdos, Kouphonisi und Chryssi, die in anderen Perioden der kretischen Geschichte sehr dünn besiedelt oder gar menschenleer waren. Dieser Prozess der Expansion der Palastzentren manifestiert sich am deutlichsten in der Gründung von massiven Gebäuden mit oder ohne umliegenden Siedlungen in zahlreichen Bergregionen, aber auch in den Ebenen der Insel. Dieser neue architektonische Typus taucht ohne eindeutig erkennbare Vorläufer auf und wird, wie bereits erwähnt (c Kap. 4), in Ermangelung eines besseren Terminus mit dem konventionellen Namen ›Villa‹ oder ›Landhaus‹ bezeichnet. Die minoischen Landhäuser wurden fern von den städtischen Zentren an strategisch günstigen Orten der kretischen Landschaft errichtet. Sie kontrollierten fruchtbare Landstriche, Weideflächen und auch wichtige Verbindungswege. In vielen Landhäusern gibt es ferner zahlreiche Zeugnisse für eine rege handwerkliche Produktion, unter anderem Keramik- und Textilherstellung, sowie diverse agropastorale Aktivitäten (darunter Öl- bzw. Weinpressen). Heute sind etwa 50 solcher Landhäuser lokalisiert, die sich vor allem in Ost- und Zentralkreta verteilen und nur zum Teil systematisch ausgegraben wurden. Ursprünglich hat es allerdings viel mehr solcher Gebäude gegeben, worauf sichtbare, aber noch nicht ausgegrabene Ruinen an mehreren kretischen Orten hinweisen. Die meisten wirtschaftlich oder strategisch neuralgischen Regionen, zumindest im zentralen und östlichen Teil der Insel, scheinen also in der Neupalastzeit von einem Landhaus überwacht bzw. verwaltet worden zu sein. Erstaunlich ist, dass einige dieser Landhäuser deutlich über der modernen Besiedlungsgrenze der Insel errichtet wurden. Während heute die höchstgelegenen kretischen Dörfer eine Höhe von 850 Metern über dem Meeresspiegel nicht überschreiten, wurden die Landvillen von Zominthos (Zentralkreta) und Gaidourophas (Ostkreta) in einer Höhe zwischen 1100 und 1200 Metern gegründet. Was diese Höhenlage im Kontext der minoischen Kultur bedeutet, wird erst dann deutlich, wenn man sie mit der Höhenlage der SM III C-zeitlichen bzw. subminoischen 134

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Fluchtsiedlungen oder sogar mit den minoischen Höhenheiligtümern vergleicht. Karphi liegt in einer Höhe von 1100 Metern, sämtliche uns bekannten Höhenheiligtümer finden sich in einer Höhe zwischen 250 und 900 Metern. Wie kann man sich das Leben in einer minoischen Siedlung in einer solchen Lage vorstellen? Diese grundlegende Frage stellt sich vielleicht nicht so eindringlich im milden Sommer der kretischen Berge, dafür aber umso mehr während der anderen Jahreszeiten. Kreta ist zwar eine sehr beliebte Ferieninsel, zeichnet sich wegen seiner bergigen Regionen jedoch durch eine starke Variabilität und eine lokale Ausprägung klimatischer Verhältnisse aus. Während im Tiefland das typische mediterrane Klima herrscht, kennzeichnet die Gebirge ein Jahresgang mit kalten und schneereichen Wintern und gemäßigten Sommern. Im Winter ist der Psiloritis ab Ende Dezember wegen Schneefällen unpassierbar. Bis Ende März bzw. Anfang April herrschen in dieser Region Minusgrade. Wie konnten also die Minoer solche Regionen besiedeln, in denen es in den letzten Jahrhunderten niemand wagte, sich permanent niederzulassen? Es gibt zwei mögliche Antworten auf diese Frage: Entweder müssen wir davon ausgehen, dass diese Landvillen bzw. bergigen Siedlungen keiner dauerhaften, sondern einer nur saisonalen Niederlassung in den Sommermonaten dienten, oder wir müssen alternativ annehmen, dass in minoischer Zeit das Klima wesentlich milder war als in der Gegenwart. Die Transhumanz, das heißt der saisonal bedingte Wechsel der Weideplätze (im Sommer auf Höhenzügen und im Winter in Niederungen), muss auch für das minoische Kreta vorausgesetzt werden, auch wenn sie verständlicherweise kaum archäologische Spuren hinterlassen hat. Keine der Landvillen scheint allerdings ihre Existenz dieser Form der Weidewirtschaft zu verdanken. Im Fall der Landvilla von Zominthos, die mit einer Fläche von ca. 1600 m2 das größte Gebäude dieses Typus überhaupt darstellt, sprechen die Größe, die aufwendige Bauweise, die kostbaren Funde und die Existenz von Werkstätten für eine dauerhafte Siedlung. Die unvermeidliche Konsequenz wäre hier, dass in der Bronzezeit ein viel milderes Klima auf Kreta geherrscht haben muss als heute. Auch wenn wir nicht mit Sicherheit erklären können, wie die Minoer an solchen Orten überwinterten, wissen wir, warum sie sich dort niedergelassen haben. Diese hohen Lagen boten optimale Bedingungen 135

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für eine Mischwirtschaft. Ackerbau war und ist immer noch auf zahlreichen kretischen Hochebenen mit ausreichender Wasserversorgung und moderaten Hangneigungen, die eine gute Bodenbildung gewährleisten, möglich. Eine noch wichtigere Ressource, die auch das Interesse des Palastes auf sich zog, war die Möglichkeit der Viehzucht. Die Berge boten mit ihren natürlichen Futtervorkommen für die Tiere ideale Voraussetzungen für eine extensive Beweidung. Heute noch liegen auf dem Psiloritis die Hauptweideflächen über 900 Metern über dem Meeresspiegel und somit wesentlich höher als die umliegenden Dörfer. Das wirtschaftlich interessanteste Produkt der Schafzucht in der Antike war weder Milch noch Käse, sondern Wolle. Es gibt eine Reihe von Gründen, welche die Vermutung nahelegen, dass Wolle im bronzezeitlichen internationalen Handel im östlichen Mittelmeer der kretische Exportschlager schlechthin war, ein Produkt, das in großen Mengen exportiert werden und hohe Gewinne versprechen konnte. Diese Bedeutung demonstrieren auch die Ägäer-Prozessionen in den ägyptischen Gräbern der 18. Dynastie (15. Jahrhundert v. Chr.), die Textilien als Geschenk für den ägyptischen Pharao darbringen, sowie die enorme Bedeutung der Viehzucht und der Textilien in den knossischen Linear-B-Texten, welche Herden von insgesamt ca. 80 000 Schafen registrieren. Warum Wolle so viel beliebter als Leinen war, das man auch in Ägypten und anderen Mittelmeerregionen anbauen konnte, hing offensichtlich damit zusammen, dass Wolle Farbe weitaus besser aufnimmt als Leinen. Der Holzabbau käme als weitere mögliche nutzbare Ressource in Betracht. Die bergigen Regionen könnten ferner die Zentren im flachen Tiefland der Insel mit Schnee und Eis aus den Rücklagen der winterlichen Schneefälle auch in den Sommermonaten versorgt haben. Wie wichtig Schnee und Eis für eine vormoderne Gesellschaft ohne Kühlschränke waren, braucht man nicht näher zu erläutern. Wer aber hat diese Landhäuser kontrolliert? Über ihr politisches bzw. wirtschaftliches Verhältnis zu den Palästen ist die Forschung uneins. Sie werden entweder als administrative Subzentren der Paläste oder als Landsitze von mächtigen und weitgehend unabhängigen Grundbesitzern gedeutet. Mit dieser Frage, die für die Rekonstruktion der politischen Geografie Kretas von zentraler Bedeutung ist, stoßen wir an die Grenzen einer archäologischen Wissenschaft, die ohne entschei136

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dende Hilfe von schriftlichen Quellen operieren muss. Ist es überhaupt mit archäologischen oder naturwissenschaftlichen Mitteln allein möglich, das Problem der administrativen und wirtschaftlichen Beziehung dieser Gebäude zu einer übergeordneten Instanz (Palast) zu lösen? Verbreitungsmuster von bestimmten Fundgattungen sind dabei nicht besonders ergiebig. Eine politische oder auch wirtschaftliche Abhängigkeit kann man keineswegs mit Hilfe der Keramik (z. B. durch die Feststellung von knossischen Importen an verschiedenen Fundorten in der Peripherie) festmachen, weil sich solche Fundverbreitungsmuster auch durch den allgegenwärtigen Handelsaustausch erklären lassen. Die Bauweise wäre hier ein etwas zuverlässigeres Kriterium, um die Vernetzung mit einem Palastzentrum glaubhaft zu machen – eventuell durch den Nachweis des Einsatzes von palastbezogenem Know-how beim Bau. Einen entscheidenden Hinweis für die Beantwortung dieser kniffligen Frage bietet die kurze Lebensdauer der Landvillen. Sie tauchen, wie bereits erwähnt, in den meisten Fällen ohne erkennbare Vorläufer in der SM IA-Phase auf, und zwar an Stellen, die in der Regel keine frühere Besiedlungsgeschichte aufweisen. Mit dem Niedergang der meisten Paläste am Ende der Neupalastzeit (SM IB) werden auch sie zerstört und endgültig verlassen. Ihr abruptes Ende weist darauf hin, dass die Faktoren, unter welchen diese Landhäuser errichtet und benutzt wurden, weniger geografisch, sondern vielmehr politisch bedingt waren. Ihre Entstehung scheint an ein bestimmtes politisch-administratives System gekoppelt gewesen zu sein, nach dessen Kollaps sie ihre Bedeutung verloren. Allein Henri und Micheline van Effenterre haben diesen Aspekt der Landhäuser gewürdigt und das ganze Phänomen mit einem lapidaren Satz treffender als jeder andere erfasst: »It looks as if this system was inscribed in the landscape«14. Die minoischen Landhäuser erinnern folglich an die venezianischen Villen, Türme oder Festungen auf Kreta und in anderen griechischen Regionen, die im Rahmen eines zentralistischen administrativen Systems entstanden sind und nach dessen Zusammenbruch in der Regel verlassen oder umfunktioniert wurden. 14 van Effenterre, Henri/Van Effenterre, Micheline 1997: Towards a Study of Neopalatial »Villas«: Modern Words for Minoan Things, in: Hägg, Robin (Hg.): The Function of the »Minoan Villa«, Stockholm, S. 12.

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Einige dieser Orte blieben bis heute weitgehend unbewohnt. Hinter ihrer raschen Verbreitung und kurzen Lebensdauer scheint daher ein kohärentes strategisches Konzept zu stehen, dessen Ziel es war, die ressourcenreiche kretische Landschaft administrativ zu durchdringen und wirtschaftlich auszubeuten. Ein solches Konzept hätte nur ein zentralistisches System, ein Palast, entwerfen und realisieren können, unter dessen Ägide die Landhäuser die Agrarproduktion kontrollieren, einen beträchtlichen Anteil der landwirtschaftlichen oder auch handwerklichen Erzeugnisse an den Palast weiterleiten und die Verkehrswege in ihrer Umgebung sichern sollten. Das knossische Machtzentrum hat bei diesem Prozess zweifellos eine führende Rolle gespielt. Viele Landvillen, insbesondere im zentralen Teil der Insel, müssen zum Abhängigkeitsnetz dieses Palastes gehört haben und wurden wahrscheinlich sogar im Rahmen eines ambitionierten Masterplans zur Durchdringung der kretischen Berge gegründet. Eine dieser Landvillen bietet tatsächlich einen sehr aussagkräftigen Beleg für die engere Verbindung mit dem Palast von Knossos. Es handelt sich um das Gebäude von Sklavokambos, in dem Tonplomben mit Siegelabdrücken entdeckt wurden, die sehr wahrscheinlich von Knossos stammen und die Zugehörigkeit dieses Gebäudes zum knossischen administrativen Netz nahelegen. Diese einzigartige Leistung, deren Ziel darin bestand, einige bis dahin kaum oder nur schlecht erschlossene natürliche Ressourcen effizienter zu nutzen, darf als einer der Gründe für das ›minoische Wunder‹ gelten, das uns in vielen verschiedenen Bereichen der neupalastzeitlichen Kultur entgegentritt. Das Ende dieses politischen bzw. ökonomischen Netzwerkes am Ende von SM IB weist darauf hin, dass, auch wenn der knossische Palast diese dramatische Zäsur überlebte, seine einstige Macht auf der Insel drastisch schrumpfte. In anderen kretischen Regionen dürften auch andere Machtzentren eine offensive Rolle bei der Erschließung der Gebirgslandschaft gespielt haben, wie z. B. im Fall einiger Villen im Hinterland von Petras in Ostkreta, die vermutlich von diesem Zentrum kontrolliert wurden. Der Versuch, die Berge für die Interessen des Palastes durch ein Netzwerk von Landhäusern zu erschließen, dürfte nicht überall reibungslos verlaufen sein. In den ostkretischen Bergregionen gibt es Hinweise darauf, dass mit dem Auftauchen dieser massiven Gebäude mehrere Bauernhöfe, die bereits seit dem Ende der Altpalastzeit existierten und 138

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offensichtlich lokalen Familien gehörten, allmählich verschwanden. Die Realisierung dieses ambitionierten Plans hatte sicherlich Konsequenzen sowohl für die Produktionsweise als auch für das Leben von zahlreichen kleineren Gruppen, die bis dahin außerhalb der Palastterritorien gelebt hatten. Dennoch müssen wir davon ausgehen, dass auch in der Neupalastzeit größere Teile der Insel und insbesondere die bergigen Regionen von diesem zentralistischen Prozess nicht erfasst wurden und herrenlos blieben – ein diachrones Phänomen in der Geschichte der Insel. Aus diesem Grund war eine Kontrolle und Sicherung der Verkehrswege von elementarer Bedeutung. Trotz der Durchführung eines langfristig angelegten Forschungsprogramms für die Dokumentation und Untersuchung der minoischen Wege bleiben unsere Kenntnisse bislang sehr fragmentarisch. In Ostkreta konnte man Teile eines dichten Wegenetzes kartieren und zahlreiche minoische Wachposten entdecken, welche diese Wege sicherten. Der Zugang vom abgelegenen kleinen Palast von Kato Zakros und seiner Siedlung in das Inselinnere war mit mehreren solchen Wachtürmen ausgestattet, die eine sichere Reise und den ungestörten Transport von Waren gewährleisteten. Ein weiterer Weg, der bereits von Evans näher untersucht wurde, war die Verbindung zwischen Knossos und Phaistos, eine der Hauptverkehrsadern der minoischen Zeit auf Kreta (c Kap. 4). Auch wenn der genaue Verlauf dieses Weges nicht mit Sicherheit rekonstruiert werden kann, lassen sich an einigen lokalisierten Abschnitten zahlreiche minoische Fundorte nachweisen, ein Beweis, dass an solchen Überland-Verbindungswegen in minoischer Zeit das Leben pulsierte. Nicht minder wichtig waren die maritimen Wege, die nicht nur Kreta mit anderen Inseln und Ländern, sondern auch die einzelnen kretischen Regionen miteinander verbunden haben. In zahlreichen Fällen war eine maritime Verbindung zwischen zwei Inselteilen ein wesentlich schnellerer Weg als die beschwerliche Reise über eine Landstraße. Die zahlreichen Buchten entlang der kretischen Küste boten in den meisten Fällen sichere natürliche Häfen, die im Rahmen des intensiven Schiffsverkehrs genutzt wurden. Solche kleinen minoischen Häfen findet man in der Osthälfte der kretischen Südküste in Abständen von wenigen Kilometern. Viele von ihnen waren allerdings mit dem kretischen Binnenland nur durch einen schwierigen Weg über die Asterousia-Berge verbunden. Sie waren daher eher Rich139

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tung Meer als Richtung Binnenland orientiert. Ihr Existenzgrund bestand hauptsächlich im Fischfang und der Kontrolle des Schiffsverkehrs. Ein ganz anderes Bild bieten die großen Häfen in Palaikastro und Kommos sowie die knossischen Häfen in der Region von Heraklion, der modernen Hauptstadt der Insel, von denen man einen sehr leichten Zugang zu den Zentren des kretischen Binnenlandes hatte. Nach dem abrupten Ende der Landvillen am Ende der SM IB-Periode sind die Bergregionen in der Spätpalastzeit wieder nur dünn besiedelt. Es gibt natürlich auch in dieser Zeit Siedlungsspuren in den Bergen, jedoch fehlen jegliche Anzeichen für überdurchschnittlich große Gebäude, wie die Landvillen, und für eine engere Verbindung mit einem großen Zentrum. Die Bergregionen werden nun offensichtlich wieder lokalen Gruppen von Hirten und Bauern überlassen, die kaum archäologische Spuren hinterlassen haben. Nach 1200 v. Chr. beginnt eine Periode gesellschaftlicher Instabilität und Unsicherheit, die viele Bevölkerungsgruppen gezwungen hat, Zuflucht an schwer zugänglichen Orten in den kretischen Bergen zu suchen. Diese neue Welle der Besiedlung der kretischen Höhenregionen war durch ganz andere soziopolitische Faktoren als in der Neupalastzeit geprägt und markierte das Ende der minoischen Kultur.

Literatur Adlung, Sebastian 2020: Die Minoischen Villen Kretas. Ein Vergleich spätbronzezeitlicher Fund- und Siedlungsplätze, Hamburg Chalikias, Konstantinos 2013: Living on the Margin. Chryssi Island and the Settlement Patterns of the Ierapetra Area (Crete), Oxford Hägg, Robin (Hg.) 1997: The Function of the »Minoan Villa«, Stockholm Sakellarakis, Yannis/Panagiotopoulos, Diamantis 2006: Minoan Zominthos, in: Gravilaki, Eirene/Tziphopoulos, Giannis (Hgg.): Ο Μυλοπόταμος από την Αρχαιότητα ως Σήμερα, Bd. ΙΙ, Rethymnon, S. 47–75 Van Effenterre, Henri/Van Effenterre, Micheline 1997: Towards a Study of Neopalatial »Villas«: Modern Words for Minoan Things, in: Hägg, Robin (Hg.) 1997: The Function of the »Minoan Villa«, Stockholm, S. 9–13

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Vokotopoulos, Leonidas 2011: A View of the Neopalatial Countryside: Settlement and Social Organization at Karoumes, Eastern Crete, in: Glowacki, Kevin/Vogeikoff-Brogan, Natalia (Hgg.): ΣΤΕΓΑ: The Archaeology of Houses and Households in Ancient Crete, Princeton, S. 137–149 Westerburg-Eberl, Sabine 2000: Minoische Villen in der Neupalastzeit, in: Siebenmorgen, Harald (Hg.): Im Labyrinth des Minos – Kreta. Die erste europäische Hochkultur, München, 87–95 Whitelaw, Tod 2019: Feeding Knossos. Exploring Economic and Logistical Implications of Urbanism on Prehistoric Crete, in: Garcia, Dominique u. a. (Hgg.): Country in the City. Agricultural Functions of Protohistoric Urban Settlements (Aegean and Western Mediterranean), Oxford, S. 88–121 Widmann, Esther 2012: Ain’t no Mountain High Enough: Man and the Environment in the Uplands of Crete from the Neolithic to the End of the Roman Period, Heidelberg

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»Männer und Frauen haben mit ledernen oder metallenen Gürteln ihre Taille bis zur Verzweiflung eng geschnallt.« (Spyridon Marinatos)15

Für allzu lange Zeit haben sich die archäologischen Disziplinen intensiv mit kulturellen Prozessen und materiellen Zeugnissen antiker Gesellschaften beschäftigt und dabei ein geringeres Interesse an den Menschen selbst gezeigt, die hinter den archäologisch fassbaren Praktiken und Artefakten standen. Erst in den letzten Jahrzehnten ist das Individuum wieder stärker in den Fokus der archäologischen Forschung gerückt, die nun eine besondere Aufmerksamkeit für die antike Kulturgeschichte zeigt und sich darum bemüht, Kontexte und Rahmenbedingungen des menschlichen Handelns zu rekonstruieren. Bei dieser Wende von einem positivistischen zu einem humanistischen Ansatz treten anstelle von Objekten oder wirtschaftlichen, sozialen, religiösen, ideologischen und anderen Parametern die menschlichen Akteure in den Vordergrund. Für die Archäologie des bronzezeitlichen Kretas entsteht somit eine neue methodische Herausforderung, denn in einer prähistorischen bzw. protohistorischen Gesellschaft ist es zugegebenermaßen schwer, die Ebene des Individuums zu erreichen. Ohne Texte, die uns einen zuverlässigen Einblick in die Ideologie und Gedankenwelt der Mitglieder einer sozialen Gruppe hätten geben können, muss ein solcher Versuch ein gefährliches und in manchen Aspekten utopisches Unterfangen bleiben. Das bescheidene Corpus an Texten, das uns aus dem minoischen Kreta überliefert ist, kann diese Lücke kaum schließen; entweder weil sie nicht entziffert sind (›kretische Hieroglyphen‹ und Linear

15 Marinatos, Spyridon 1927: O αρχαίος κρητικός πολιτισμός, Athen, S. 97.

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A) oder weil sie eine sehr einseitige Thematik haben (Linear B). Nichtsdestotrotz lohnt es sich, aus den vorhandenen Fragmenten der materiellen Überlieferung heraus den Versuch zu unternehmen, den Minoern ein Gesicht zu geben. Mit Hilfe von Bildern, Artefakten und gebauten Räumen lässt sich ein zumindest grober Eindruck über das Körperbild, die soziale Rolle der Geschlechter und die Sinneserfahrungen dieser Menschen gewinnen. Auch in diesem Fall können wir vor allem nur die Mitglieder der elitären Schichten fassen. Sehr willkommen ist daher eine Reihe von Zeugnissen, die aus dem Milieu anderer sozialer Schichten stammen, oder sogar Bilder, die deren Mitglieder darstellen. Als Ganzes mag dieses Quellenmaterial zwar sehr bruchstückhaft und heterogen sein, es bietet uns allerdings spannende Einblicke in die conditio humana der Menschen, die das bronzezeitliche Kreta bevölkerten.

Das Körperbild In unterschiedlichen Medien und in ganz unterschiedlichen Formaten tritt das minoische Körperbild deutlich in Erscheinung. Nach einigen ersten und sehr zaghaften Versuchen in der Vorpalastzeit, den menschlichen Körper drei- und zweidimensional zu zeigen, gibt es erst ab der Altpalastzeit die ersten Anstrengungen der Künstler, ihn naturalistisch darzustellen. Insbesondere in der Neupalastzeit hat der Betrachter dann ein Körperideal vor Augen, das erstaunlich modern wirkt: Beide Geschlechter stellen ihren halbnackten oder mit eleganten Kleidern bedeckten Körper selbstbewusst zur Schau und legen dabei großen Wert auf eine enge Taille, welche die harmonischen männlichen und weiblichen Proportionen noch stärker zum Ausdruck bringt. Die Männer erscheinen muskulös und in der Regel bartlos, die Frauen mit üppigen – und sogar unbedeckten – Brüsten. Die besondere Bedeutung der eleganten Kleider – insbesondere für die Frauen – ist nicht nur für eine stilsichere Erscheinung, sondern auch für die Visualisierung von Geschlechterrollen entscheidend. Es ist sicherlich kein Zufall, dass in den meisten 143

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neupalastzeitlichen Siegeldarstellungen den Gesichtern der menschlichen Gestalten weniger Bedeutung als deren Kleidung beigemessen wird, weil nur Letztere detailreich eingraviert ist. Oft werden von beiden Geschlechtern Hüte getragen, die manchmal eine eindrucksvolle Höhe erreichen. Wenn das Haupt unbedeckt bleibt, wird es von einer eleganten Frisur bekrönt. Die visuellen Reize der beiden Geschlechter werden geschickt nicht nur durch nackte und bedeckte Körperteile, sondern auch durch das Tragen von Schmuck, darunter Halsketten, Ohrringe, Diademe und (Siegel-)Ringe betont. Für die soziale Konstruktion der Geschlechter sind wir fast ausschließlich auf dieselben bildlichen Quellen angewiesen, in denen Männer und Frauen durch verschiedene visuelle Mittel differenziert werden. Bei Fresken und Stuckreliefs stellt die wichtigste Trennlinie die Farbe des Inkarnats dar, die in der Regel dunkelbraun für die Männer und weiß für die Frauen ist. Genitalien werden extrem selten sichtbar. Die einzige klare Möglichkeit, um das Geschlecht einer Figur auf der Grundlage ihrer Körpergestalt zu erkennen, bietet die Angabe bzw. das Fehlen von Brüsten. Die Kleider übernehmen hier, wie bereits erwähnt, eine wichtige Rolle, indem sie Geschlechter visualisieren. Die Männer tragen in der Regel einen kurzen knielangen Schurz oder eine noch kleinere ›Penistasche‹. Sie besteht aus einem Tuch, das um die Taille gewickelt wird, um den Genitalbereich zu bedecken. Unbedeckt bleibt ein makelloser Körper, bei dem in einigen Darstellungen kräftige Muskeln hervortreten. Die Darstellung der Muskulatur ist vor allem bei einigen knossischen Stierspringern und Boxern oder bei den großen Tonstatuetten vom Kophinas sehr deutlich. Auch im Miniaturformat findet dieses Streben nach der Darstellung eines athletischen Körpers einen deutlichen Ausdruck. Der einsame Paddler auf dem Siegel aus dem MM IIIA-Heiligtum von Anemospilia ist ein echtes Kraftpaket. Sein Körper, der in einer extrem angespannten Haltung das kleine Boot paddelt, besteht eigentlich nur aus Muskeln. Frauen tauchen bis auf ganz wenige Ausnahmen in einem festlichen oder zeremoniellen Darstellungskontext auf. Hier überwiegt ein Erscheinungstypus, der zu den Markenzeichen der minoischen Kultur zählt und viel zum modernen Interesse und gar Staunen über diese bronzezeitliche Gesellschaft beigetragen hat. Die festliche Kleidung der 144

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minoischen Frauen besteht aus einem breiten, knöchellangen und fein gemusterten Rock, der – ohne die Konturen des Unterkörpers hervortreten zu lassen – fast konisch fällt, und einem engen Mieder, das die extrem schmale Taille betont und sich nach oben ganz öffnet, um eine entblößte üppige Brust zur Schau zu stellen. Die besondere Wirkung dieses visuellen und sexuellen Reizes liegt in der Ambivalenz seiner Erscheinung. Der weibliche Körper ist dabei weder ganz nackt noch ganz verhüllt. Offenbar traten die minoischen Damen nicht nur in der Bilderwelt, sondern auch in der Realität anlässlich großer Feste und Zeremonien so auf. In einem knossischen Miniaturfresko (»Grandstand Fresco«) sitzen mehrere Frauen mit entblößter Brust zwischen einer enthusiastischen Zuschauermenge. Hier haben wir es also zweifellos nicht nur mit einer zeremoniellen Kleidung von Götterbildnissen oder Priesterinnen zu tun, sondern auch mit der Festkleidung der Damen der Elite und vielleicht sogar der einfachen Bevölkerung. Keine andere antike Kultur hat uns eine gewagtere Zurschaustellung des weiblichen Körpers in einem öffentlichen Kontext geliefert, die nicht einmal von unserer – sexuell befreiten – modernen Gesellschaft übertroffen wird. Die Gründe, welche diese weibliche Freizügigkeit veranlassten bzw. ermöglichten, bleiben im Dunkeln. Naturvölker, bei denen Frauen ihren Oberkörper unbedeckt lassen, können als Vergleichsfeld wegen der gänzlich unterschiedlichen kulturellen Voraussetzungen ausgeschlossen werden. Vielleicht wurde diese minoische Eigenart zum Teil durch eine strenge Segregation der Geschlechter in verschiedenen sozialen Kontexten begünstigt, in denen Frauen ohne die Anwesenheit von Männern agieren konnten. Ikonografische Zeugnisse, die beide Geschlechter in gemeinsamen Handlungsszenen darstellen, zeigen allerdings, dass dies keine allgemeingültige Erklärung sein kann. Ob die minoischen Männer und Frauen ihren Körper tätowierten, muss offen bleiben. Direkte Indizien aus dem minoischen Kreta gibt es nicht. In den anderen ägäischen Kulturen darf die Tätowierung oder Bemalung des Körpers in einem alltäglichen oder außeralltäglichen Kontext in bestimmten Perioden als sicher gelten. Nur in den Darstellungen der minoischen/ägäischen Prozessionen in den thebanischen Privatgräbern der 18. Dynastie in Ägypten sieht man an den Gesichtern einiger Gesandter Ornamente, die als Tattoos gedeutet werden können. Neben 145

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Abb. 13: Altpalastzeitliche weibliche Tonstatuette aus Piskokephalo.

den visuellen Reizen der männlichen und weiblichen Körperlichkeit hat es sicherlich weitere Elemente gegeben, die die restlichen Sinne stimuliert haben. Die minoische Körperpflege umfasste den Gebrauch von Parfümen, Duftölen, Salben und Schminke, die aus lokalen Pflanzen, Kräutern und Mineralien hergestellt wurden. Wir kennen nur ihre Behältnisse, die in der Regel eine Miniaturgröße mit einer eleganten Formgebung kombinieren, und – im Fall der Schminke – die feinen Kosmetikutensilien, die man dabei benutzte. Sieht man von dieser ›normativen‹ Darstellungsweise von minoischen Männern und Frauen ab, findet man nur in Ausnahmefällen abweichende Typen. Ältere Leute lassen sich in bildlichen Darstellungen nicht eindeutig nachweisen. Die ikonografischen Möglichkeiten für die Darstellung eines Individuums in hohem Alter, wie Fettleibigkeit, schlaffe Körperglieder oder graues bzw. weißes Haar, die uns aus ande146

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ren antiken Kunsttraditionen bekannt sind, fehlen in der minoischen Bildsprache. Darstellungen von Männern mit einer breiten Nase und wulstigen Lippen oder einem schwarzen Inkarnat, die deutlich vom minoischen Standardtypus abweichen, könnten Ausländer darstellen. Wie bereits erwähnt, werden nur selten bärtige oder unrasierte Männer dargestellt. Die minoischen Männer haben ihr Gesicht regelmäßig rasiert, offenbar mit den allgegenwärtigen Obsidianklingen. Kleinkinder kommen in der minoischen Bilderwelt nur vereinzelt vor. Ihre Einbettung in rituelle Szenen, wo sie eine erwachsene Gestalt begleiten oder flankieren, impliziert, dass sie hier eine bestimmte soziale Rolle einnehmen und nicht als visueller Ausdruck von Mütterlichkeit oder Familie auftreten. Erst in der Spätpalastzeit tauchen Statuetten im Typus der Kourotrophos (eine weibliche Gestalt, die ihr Kind ernährt) auf, die wahrscheinlich auf einen festländischen Einfluss zurückzuführen sind. Die sporadischen Darstellungen von schwangeren bzw. gebärenden Frauen, die vermutlich orientalische Vorbilder haben, symbolisieren offensichtlich nicht Mütterlichkeit, sondern Fruchtbarkeit und haben in diesem Zusammenhang keine Relevanz. Kinder werden entweder als verkleinerte Versionen von Erwachsenen dargestellt oder weisen Merkmale der Kinderanatomie auf, wie eine bronzene Statuette aus der Psychro-Kulthöhle oder zwei elfenbeinerne Statuetten aus Palaikastro zeigen, welche spielende Kleinkinder darstellen. Diese anatomisch korrekte Wiedergabe, die auch in den Fresken von Akrotiri auf Thera bestaunt werden kann, war für die antike Kunst, die bis zur griechischen Klassik Kinder stets als verkleinerte Erwachsenen darstellte, keineswegs selbstverständlich.

Geschlechterrollen »Men act and women appear«, lautet ein bekanntes Zitat von John Berger16, mit dem er eine Grundtendenz der westlichen Tradition der bildenden Künste epigrammatisch zum Ausdruck brachte. Von diesem 147

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Prinzip nimmt die minoische Ikonografie deutlich Abstand. Die vorhandenen Zeugnisse lassen eindeutig erkennen, dass in dieser Gesellschaft die Frau eine besondere Rolle genoss. Bildliche Darstellungen in verschiedenen zeremoniellen und rituellen Kontexten zeigen, dass Frauen – zumindest auf der Ebene der Ikonografie – mindestens ebenso wichtig wie Männer waren – wenn nicht wichtiger. In den Szenen von Zuschauermengen in den knossischen Miniaturfresken wohnen sie nicht nur neben den Männern einem zeremoniellen oder festlichen Ereignis bei, sondern werden dabei manchmal, wie im Grandstand Fresco, sogar durch separate Sitztribünen, Bedeutungsgröße und eine detailreichere Wiedergabe hervorgehoben. Sie sind da, nicht nur um zu sehen, sondern auch um gesehen zu werden. Um die Bedeutung dieser Darstellungen und die historische Realität, die sie reflektieren, besser zu würdigen, genügt es vielleicht hier zu bemerken, dass es im klassischen Griechenland den Frauen generell verwehrt war, sportlichen Wettkämpfen als Zuschauerinnen beizuwohnen. In zahlreichen festlichen oder religiösen Szenen, die sich vor allem auf die Durchführung von Ritualen und Prozessionen beziehen, übernehmen minoische Frauen eine führende Rolle. In den spätpalastzeitlichen Fresken des Palastes von Knossos sind sie sogar als ›Symposiastinnen‹ dargestellt (›Camp Stool Fresco‹). Diese erhöhte soziale Bedeutung des weiblichen Geschlechts findet auch in der göttlichen Sphäre einen deutlichen Niederschlag. Weibliche Gottheiten dominieren das minoische Pantheon. Es ist sogar sehr wahrscheinlich, dass eine Göttin an seiner Spitze stand. Sie wird konventionell als ›Große Göttin‹ bezeichnet. Die entscheidende Frage, nach dieser kurzen Darlegung der archäologischen Fakten, ist, ob diese Indizien ausreichen, um die Hypothese einer matriarchalischen Gesellschaft im minoischen Kreta zu stützen. Isoliert betrachtet, so wie es die Anhänger der Matriarchatsthese gern tun, können diese bildlichen Zeugnisse eventuell zu einer solchen Vermutung führen. Wenn man sie allerdings in ihren Gesamtkontext einbettet, kommt man zu einem wesentlich nüchterneren Ergebnis. Zuerst muss man klarstellen, dass Männer nicht minder häufig in der minoischen Bildsprache auftreten. Beide Geschlechter spielen in Ritualen und Zeremonien eine wichtige Rolle. 16 Berger, John 2008: Ways of Seeing, London, S. 41.

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Über diese ikonografischen Quellen hinaus, die leider keine Klarheit schaffen, lässt sich sehr wenig über die vermeintliche besondere politische oder soziale Rolle von Frauen in der minoischen Gesellschaft sagen. Der Stiersprung, der den Kern der Identität und des Selbstverständnisses der knossischen – und vielleicht generell der minoischen – Elite darstellte, ist das ›männlichste‹ Ritual, das man sich vorstellen kann, wenn man an die universale Vorstellung des Stieres als Verkörperung männlicher Potenz denkt. Die teilnehmenden Stierspringer sind ausschließlich als Männer zu identifizieren. Das, was die ältere Forschung irritierte, waren die hellhäutigen Stierspringer, weil das weiße Inkarnat eine fixe ikonografische Konvention für die bildliche Wiedergabe von Frauen in der minoischen Ikonografie darstellte. Für die Geschlechtsbestimmung dieser Figuren sind allerdings andere Merkmale ausschlaggebend, nämlich ihre Kleidung und anatomischen Details (Penistasche, keine weibliche Brust, deutliche Angabe von Bauch- und Beinmuskulatur). Die unterschiedliche Farbgebung sollte hier vermutlich die graduelle Verschiedenheit von Teilhabe am Ritualgeschehen (Unterschied zwischen erfahrenen Springern und jüngeren Helfern) oder eventuell eine Differenz in der sozialen Stellung zum Ausdruck bringen. Für die bemerkenswerte visuelle Präsenz von Frauen in den knossischen Szenen mit Zuschauermengen gibt es auch alternative Interpretationen. Die Betonung von elegant gekleideten Damen, die auf einer gesonderten Tribüne sitzen, muss nicht unbedingt als Hinweis auf ihre hohe soziale oder gar politische Stellung genommen werden. Vielleicht hat es sich dabei um Frauen des königlichen Harems gehandelt, die nur Teil der demonstrativen Zurschaustellung des Palastglanzes waren. Ein königlicher Harem ist uns in der zeitgleichen ägyptischen Kultur sehr gut überliefert. Von der diplomatischen Korrespondenz dieser Periode erfahren wir ferner, dass Prinzessinnen die kostbarste ›Gabe‹ im Rahmen des königlichen Geschenkaustausches darstellten. Diese sehr stark patriarchalische Deutung der relevanten Zeugnisse bietet lediglich eine Alternative zur matriarchalischen Interpretation, lässt sich allerdings, wie Letztere, kaum belegen. Trotz dieser Einwände kann es keinen Zweifel daran geben, dass im minoischen Kreta die Frauen in wesentlich mehr sozialen Sphären präsent waren und dadurch mehr Freiheiten genossen als in den benachbarten orientalischen Kulturen. 149

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Mehr kann man anhand der bildlichen Zeugnisse allein leider nicht sagen. Neues Quellenmaterial, das eventuell Aspekte der sozialen Geschlechterrollen beleuchten könnte, wird erst in den letzten Jahren durch die rasante Entwicklung von osteoarchäologischen Methoden erschlossen. Die pathologischen Befunde, die sich an menschlichen Knochen belegen lassen, bieten die Möglichkeit, den Alltag und die Lebensweise von Männern und Frauen wesentlich zuverlässiger zu rekonstruieren, als dies die Bilder ermöglichen können. Sehr erfolgversprechend erscheint dabei das Nachzeichnen von Aktivitäten, wie z. B. dem Tragen von Lasten, welche im eigentlichen Sinne des Wortes ›auf die Knochen gingen‹ und somit Spuren im anthropologischen Befund hinterlassen haben. Die zwei Fragen, welche Laien wesentlich mehr als Archäologen interessieren, nämlich die nach der Größe und der Lebenserwartung der Minoer, lassen sich nach unserem jetzigen Kenntnisstand folgendermaßen beantworten: Die männliche Durchschnittsgröße betrug ca. 1,67 Meter, die weibliche ca. 1,56 Meter. Allerdings kennen wir auch Skelette, die, wie der ›Priester‹ von Anemospilia (c Kap. 4), 1,78 Meter groß waren. Was die durchschnittliche Lebenserwartung betrifft, zeigen die ersten systematischen anthropologischen Untersuchungen, die aus verschiedenen Inselregionen und Perioden stammen, eher unterschiedliche Ergebnisse. Für beide Geschlechter könnte man ein Durchschnittsalter annehmen, das im besten Fall zwischen 45 und 50 Jahren variierte, allerdings in vielen Fällen wesentlich niedriger war. Zu den nachgewiesenen Krankheiten zählen Tuberkulose, Anämie, Osteomyelitis, Osteoarthritis und Skorbut, ferner Zahnkaries, Zahnstein und Zahnschmelzhypoplasie. Was nun die unterschiedlichen Geschlechterrollen betrifft, zeigen die osteoarchäologischen Untersuchungen ein Bild, das sich nicht wesentlich von dem traditioneller kretischer Dörfer der Moderne unterscheidet. Die Männer waren mit harten Arbeiten beschäftigt, die ihren Oberkörper schwer beanspruchten. Sie zeigen auch generell mehr Verletzungen und Infektionen, ein Hinweis darauf, dass sie in ihrem Alltag wesentlich mobiler und dadurch anfälliger waren. Geschlechtsspezifische Unterschiede lassen sich möglicherweise auch bei der Ernährung erkennen. Während bei Frauenskeletten Karies häufiger nachgewiesen ist, was möglicherweise auf eine kohlehydratreiche Ernährung zurück150

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geführt werden kann, zeigen Männer eine Tendenz zu Zahnsteinproblemen, die vermutlich aus dem höheren Konsum von Tierprotein resultierten. Schließlich sind kleine chirurgische Eingriffe sporadisch belegt. Die meisten Verletzungen oder Krankheiten dürften allerdings nur ›pharmakologisch‹, das heißt durch die Anwendung von Heilkräutern, behandelt worden sein, für welche die Insel bereits in der Antike berühmt war. Diese ersten Erkenntnisse der systematischen osteoarchäologischen Untersuchung von anthropologischen Befunden aus minoischen Fundorten sollen hier nicht als endgültige Ergebnisse betrachtet werden, sondern lediglich als ein eindeutiger Hinweis auf das enorme hermeneutische Potenzial dieser Methoden dienen, die es vermögen, in der nahen Zukunft wesentliche Aspekte der minoischen Lebensweise zu beleuchten.

Erwachsenwerden In der minoischen Bilderwelt bleiben Menschen in hohem Alter, wie bereits erwähnt, unsichtbar. Die minoischen Bilder feiern die Schönheit jugendlicher athletischer Körper, die allerdings nie ganz nackt dargestellt werden. Die Visualisierung verschiedener Altersstufen ist nur in den Wandmalereien von Akrotiri belegt und wird hier nur berücksichtigt, weil man von der plausiblen Vermutung ausgehen darf, dass diese Ikonografie sehr viel der minoischen künstlerischen Tradition verdankt. Dass ein eigener Darstellungstypus für Kinder existierte, wird durch die oben erwähnte Darstellung der beiden boxenden Kinder im Hauskomplex B von Akrotiri bezeugt. Das Freskoprogramm eines weiteren Gebäudes in Akrotiri (Xeste 3) mit den Darstellungen von Jungen, Mädchen, jungen Männern und jungen Frauen zeigt, wie Frisur und Kleidung als ikonografische Kriterien für die Altersangabe herangezogen werden können. Ein kahlrasierter Kopf oder einzelne Locken waren offensichtlich ein Kennzeichen für junges Alter, langes Haar auf der anderen Seite für erwachsene Personen. Die drei hier dargestellten Jungen 151

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sind ganz nackt, ein erwachsener Mann aus derselben Darstellung trägt hingegen einen Schurz. Wie nun die Altersstufen in minoischer Zeit definiert waren, können wir allerdings aufgrund dieser extrem dürftigen Überlieferungslage nicht sagen. Bei Mädchen, wie es in den meisten Gesellschaften der Fall war, muss die Menstruation einen wichtigen Wendepunkt im Erwachsenwerden markiert haben. Das Erreichen einer neuen Altersstufe – und somit offensichtlich eines neuen gesellschaftlichen Status – war sicherlich mit Initiationsritualen verbunden. Einige der zeremoniellen Handlungen in der minoischen Bilderwelt und vielleicht das gesamte Bildprogramm von Xeste 3 in Akrotiri scheinen ihre Existenz einem solchen rituellen Hintergrund zu verdanken.

Sinne Die Sinneserfahrungen der Individuen einer prähistorischen Gesellschaft lassen sich archäologisch kaum fassen. Dies ist auch der Grund, warum in der bisherigen Forschung die Sinne als Untersuchungsfeld völlig ausgeblendet waren. Es versteht sich allerdings von selbst, dass jeder Versuch, die Minoer zu verstehen, ohne einen Bezug auf diese wesentliche Dimension des menschlichen Lebens zum Scheitern verurteilt ist. Die einzige Möglichkeit, diesem grundsätzlichen Problem zu begegnen, bieten nicht neue archäologische Fakten, die es ja nicht gibt, sondern eine methodologische Neuorientierung. Sie soll von traditionellen Ansätzen, welche auf die visuelle Dimension von Artefakten, Bauten und sozialen Praktiken fixiert sind, Abstand nehmen und stattdessen auch ihre akustischen, haptischen, olfaktorischen und gustatorischen Qualitäten berücksichtigen. Der Umgang der Individuen mit Gebäuden und Dingen sowie alltägliche und außeralltägliche Praktiken müssen als körperliche Erfahrungen rekonstruiert werden. Das Betasten von minoischen Artefakten muss das Betrachten als archäologische Dokumentationspraxis ergänzen, sodass ihre haptischen Eigenschaften bzw. ihre Ergonomie Eingang in jede wissenschaftliche Beschreibung finden kann. 152

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Die Auseinandersetzung mit einem minoischen Gebäude muss sich nicht in einer eingehenden Betrachtung seines Grundrissplanes erschöpfen, sondern die tatsächliche Bewegung der Menschen in ihm als ästhetische Erfahrung inkludieren. Und schließlich soll jede Rekonstruktion profaner, zeremonieller und ritueller Handlungen sie nicht als bloße ›Bilder‹, sondern als multisensorisches Ganzes wiedergeben, das auch aus Geräuschen, Gerüchen, Geschmäckern und taktilen Erfahrungen besteht. Bis jetzt hat es dazu nur vereinzelte Versuche gegeben, die allerdings zeigen, wie aufschlussreich ein solcher methodischer Zugriff sein kann. Die relevanten Erkenntnisse finden Eingang an verschiedenen Stellen des vorliegenden Handbuchs.

Intimität Nacktheit und Erotik sind für die minoische Ikonografie eigentlich tabu. Was die Darstellung von nackten Menschen betrifft, gibt es nur wenige Ausnahmen von dieser Regel, die überwiegend in die Vorpalastzeit datieren. Bei Letzteren handelt es sich um Tonstatuetten, die offensichtlich vom Darstellungstypus der Kykladenidole beeinflusst waren. Aus späteren Perioden ist hier an erster Stelle eine bronzene Statuette aus der neupalastzeitlichen Villa von Makrygialos (Ostkreta) zu nennen, die eine sehr schematisch modellierte, nackte weibliche Gestalt zeigt, bei der die Scheidenöffnung und die Klitoris deutlich herausgearbeitet sind. Diese explizite Darstellung weiblicher Sexualität bleibt bis jetzt einzigartig in der minoischen Kunst. Ihre symbolische Konnotation sowie die konkrete Rolle dieser Statuette lassen sich nicht klar erschließen. Wahrscheinlich erfüllte sie ihre Funktion in einem rituellen Kontext als Ausdruck von Fruchtbarkeit oder Sexualität. Berührungen zwischen Männern und Frauen sind sehr selten und beschränken sich auf dezentes Anfassen oder Händchenhalten. Eine wesentlich subtilere Visualisierung der Intimität zwischen beiden Geschlechtern zeigt ein extrem fragmentarisch erhaltenes knossisches 153

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Fresko (›Jewel Fresco‹), bei dem ein Mann eine Halskette um den Hals einer Frau legt. Diese Szene muss nicht zwingend als eine ›private‹ Episode gedeutet werden – es könnte auch Teil eines Rituals gewesen sein. Eine singuläre Darstellung von Intimität, die sehr modern wirkt, bietet ein kleines SM IIIC-Tonmodell aus dem ostkretischen Lastros. Zwei kleine Figuren (offensichtlich ein Mann und eine Frau) sitzen in einer – in Relation zu ihrer Körpergröße recht großen – Badewanne. Auch wenn uns für diese bildliche Konstellation jegliche Parallelen fehlen, könnte man davon ausgehen, dass hier ein privater Moment aus dem Leben eines Paares festgehalten ist. Ein neupalastzeitlicher Goldanhänger aus Petras und ein SM IIIA:2/B:1-zeitliches Elfenbeinrelief aus dem Tholosgrab von Phylaki (Westkreta) zeigen ein Paar von knienden und sich umarmenden Männern, ein Bildthema, das offensichtlich keinen intimen Hintergrund hat, sondern Freundschaft bzw. Eintracht symbolisieren soll. Ähnliche Zweifel müssen gegen eine homoerotische Deutung der Szenen auf zwei neupalastzeitlichen Siegelabdrücken aus Kato Zakros erhoben werden, die Männer in prekären Haltungen zeigen, weil es dafür keine bronzezeitlichen Parallelen gibt.

Individuum und Kollektiv Die soziale Identität und Rolle einer Person im minoischen Kreta muss, wie in jeder vormodernen Gesellschaft, weniger durch individuelle Leistungen, sondern vielmehr durch ihre Zugehörigkeit zu einem Kollektiv definiert gewesen sein. Die sozialen Kategorien, die in der bisherigen Forschung eine zentrale Rolle gespielt haben, waren die Familie, deren Existenz als wichtigste Zelle der minoischen Gesellschaft vorausgesetzt werden darf, auch wenn wir sie durch konkrete archäologische Zeugnisse schwer fassen können, und die Eliten, die unübersehbare materielle Spuren hinterlassen haben. Die Existenz von weiteren, wie auch immer gearteten Gruppen innerhalb der gesellschaftlichen Formation (Großfamilien, ›Vereine‹, ›Fraktionen‹) ist erst in den letzten beiden Jahrzehn154

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ten in den Fokus der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit geraten. Solche Gruppierungen verwandtschaftlichen, beruflichen, sozialen, politischen oder rituellen Charakters muss es sicherlich gegeben haben. Möglicherweise waren einige dieser Gruppierungen auch auf der Grundlage des Geschlechts konstituiert. Dass das Individuum dem Kollektiv unterworfen war, sehen wir bereits eindeutig in der Vorpalastzeit, in der man die Toten nicht einzeln, sondern in Kollektivgräbern bestattete. Die Einführung von funerären Behältnissen (Larnakes und Pithoi) gegen Ende der Vorpalastzeit scheint weniger einer Forderung zur Betonung der Individualität des/der Verstorbenen nachzukommen, sondern vielmehr der rituellen Notwendigkeit zur Gewährleistung der Unversehrtheit des Leichnams während der rituell kritischen Übergangsphase seiner Verwesung zu entsprechen (c Kap. 13). Erst in der Spätpalastzeit, in der die Verstorbenen allein oder in kleineren Gruppen mit einem individuellen Ensemble von Grabbeigaben bestattet wurden, wird das Bedürfnis nach einer deutlich von anderen Toten abgegrenzten Einzelbestattung archäologisch fassbar. Dies könnte tatsächlich eine stärkere Betonung der individuellen Persönlichkeit innerhalb der Gesellschaft reflektieren, die sicherlich zuerst – wenn nicht ausschließlich – in den elitären Schichten entstand. Die Bilderwelt kann uns bei diesem entscheidenden Aspekt kaum weiterhelfen. Die Anonymität der minoischen Bilder, welche durch das gänzliche Fehlen von Beischriften bzw. ihre visuelle Ambivalenz bedingt ist, macht es nahezu unmöglich, die Rolle des Individuums innerhalb einer Handlungsszene konkreter zu fassen.

Literatur Alberti, Benjamin 2002: Gender and the Figurative Art of Late Bronze Age Knossos, in: Hamilakis, Yannis (Hg.): Labyrinth Revisited. Rethinking ›Minoan‹ Archaeology, Oxford, S. 98–117 Budin, Stephanie 2010: Maternity, Children, and ›Mother Goddesses‹ in Minoan Iconography, in: Journal of Prehistoric Religion 22, S. 6–38

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Budin, Stephanie 2011: Images of Woman and Child from the Bronze Age: Reconsidering Fertility, Maternity, and Gender in the Ancient World, Cambridge Kopaka, Katerina (Hg.) 2009: Fylo. Engendering Prehistoric ›Stratigraphies‹ in the Aegean and the Mediterranean, Liège/Austin Mina, Maria u. a. (Hgg.) 2016: An Archaeology of Prehistoric Bodies and Embodied Identities in the Eastern Mediterranean, Oxford/Philadelphia Nosch, Marie-Louise/Laffineur, Robert (Hgg.) 2012: Kosmos. Jewellery, Adornment and Textiles in the Aegean Bronze Age, Leuven/Liège Olsen, Barbara 1998: Women, Children and the Family in the Late Bronze Age: Differences in Minoan and Mycenaean Constructions of Gender, in: World Archaeology 29, S. 380–392 Papageorgiou, Irini 2008: Children and Adolescents in Minoan Crete, in: Andreadaki-Vlazaki, Maria u. a. (Hgg.): From the Land of the Labyrinth: Minoan Crete, 3000–1100 B.C., Bd. 2: Essays, New York, S. 89–95 Rutter, Jeremy 2003: Children in Aegean Prehistory, in: Neils, Jennifer/Oakley, John Howard (Hgg.): Coming of Age in Ancient Greece: Images of Childhood from the Classical Past, New Haven/London, S. 30–57 Simandiraki-Grimshaw, Anna 2015: The Body Brand and Minoan Zonation, in: Cappel, Sarah u. a. (Hgg.) 2015: Minoan Archaeology: Perspectives for the 21st Century, Louvain-la-Neuve, S. 267–282 Triantaphyllou, Sevi 2010: The Human Remains, in: Branigan, Keith/Vassilakis, Antonis: Moni Odigitria: A Prepalatial Cemetery and its Environs in the Asterousia, Southern Crete, Philadelphia, S. 229–248

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Mensch und gebauter Lebensraum

»Wo andere Kulturen Masse hinzufügten, um bis zu zwei Stockwerke zu stützen, reduzierten sie [die Minoer] die Masse, um bis zu vier Stockwerke hoch zu bauen.« (Eleftheria Tsakanika-Theochari)17

Die erste Begegnung der modernen Welt mit der Welt der Minoer bestand in dem langsamen ›Herantasten‹ an ein Gebäude, den Palast von Knossos, das Evans in zahlreichen Vorberichten sehr wirkungsvoll der wissenschaftlichen Gemeinschaft sowie der breiten Öffentlichkeit präsentierte. Die Ursprünge unseres Verständnisses dieser antiken Gesellschaft sind somit untrennbar mit architektonischen Befunden verbunden, die immer noch im Mittelpunkt hitziger Debatten stehen. Aber auch ohne diesen forschungsgeschichtlichen Akzent ist die Signifikanz der Baukunst in der minoischen Archäologie, wie auch in jeder anderen archäologischen Disziplin, offenkundig. Sie resultiert aus ihrer zweifachen Aussagekraft als Dokument und Gestaltungsrahmen gesellschaftlicher Ordnung: Der architektonische Entwurf eines Gebäudes stellt einerseits eine Reflexion sozialer Strukturen dar, welche dann durch seine Nutzung nicht nur reproduziert, sondern auch zementiert werden, wie wir im Fall des minoischen Palastes gesehen haben. Darüber hinaus verrät die Realisierung baulicher Konzepte durch die Anwendung von bestimmten Materialien und Techniken das Niveau der technologischen Entwicklung und der ästhetischen Ansprüche einer Gesellschaft. Die

17 Tsakanika-Theochari, Eleftheria 2006: Ο δομικός ρόλος του ξύλου στην τοιχοποιία των ανακτορικού τύπου κτηρίων της Μινωικής Κρήτης (unveröff. Diss., Polytechnische Schule von Athen), Athen, S. 254 (zitiert in Palyvou, Clairy 2018: Daidalos at Work: A Phenomenological Approach to the Study of Minoan Architecture, Philadelphia, S. 141).

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Auseinandersetzung des Archäologen mit diesem intellektuellen und technischen Gesamtkomplex kann allerdings nur sehr oberflächlich stattfinden. Nur der geübte Blick des Architekten ist imstande, die Botschaften der Ruinen zu entziffern und sie als Materialisierung von Ideen, Ansprüchen und Zwängen zu erschließen. Es ist daher nicht überraschend, dass im Rahmen der traditionellen Forschung das vorderste Ziel des archäologischen Zugriffs auf die minoische Architektur die Definition der Funktion von Gebäuden und Räumen darstellte. Aber auch diese elementare Aufgabe hat sich als extrem schwieriges Unterfangen herausgestellt. Das hauptsächliche Problem bestand darin, dass sich die Funktion leider nicht immer in der Form eines Gebäudes oder Raumes widerspiegelt. Mit anderen Worten: Eine architektonische Form muss keineswegs funktionsspezifisch sein. Dies zeigt sich bereits auf der Ebene der Gebäudetypen, deren Grundrissplan nur selten einen Hinweis auf deren konkrete Funktion (öffentlich, profan, sakral) liefert. Zwischen die beiden eindeutigen Pole, nämlich den Palast und das Haus, schiebt sich eine Reihe von Bauten, die sicherlich eine oder mehrere spezielle Funktionen hatten, ohne allerdings eine spezifische und leicht identifizierbare architektonische Gestaltung aufzuweisen. Die großen Fragezeichen für die moderne Forschung sind auf mehrere minoische Orte verteilt: War das Gebäude in Nirou Chani eine Stadtvilla, ein Priesterhaus oder ein Kultgebäude? Welche Funktion erfüllten die drei knossischen Häuser, deren wichtigster Raum eine architektonische Anordnung mit Balustrade zeigt, die wie das Innere einer byzantinischen Kapelle aussieht? War die ›Villa‹ in Kannia (c Kap. 5) das Haus eines gierigen Grundbesitzers, der es darauf angelegt hatte, seine Lagerräume mit Unmengen von Produkten zu füllen, oder diente es, um eine alternative Vermutung aufzustellen, als Lagerstätte einer Palastdomäne? In diesen und vielen anderen Fällen bieten die architektonischen Befunde keine belastbare Quellengrundlage für archäologische Hypothesen. Mit ähnlichen Problemen ist auch der Versuch der Definition der Raumfunktion behaftet. Im Fall der Paläste können wir mehr oder weniger eindeutig Funktionsbereiche für Lagerung, Administration, Kult und Wohnen definieren. Eine ähnliche Unterteilung ist auch in vielen Häusern möglich. Eine präzisere Funktionserschließung bleibt allerdings schwierig. Bei Räumen, die aufgrund ihrer Größe bzw. hervorge158

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hobenen Ausstattung hervorstechen, dürfen wir vermuten, dass sie als Aufenthalts- oder Empfangsräume genutzt worden sind. Wenn man von ihnen sowie von Höfen, Treppenhäusern und Lagerräumen absieht, die als solche leicht zu erkennen sind, tappt man im Dunklen. Das einstige Mobiliar der minoischen Gebäude (Tische, Stühle, Hocker, Schemel, Holztruhen, hölzerne Regale und Bänke), das uns wertvolle Hinweise darauf hätte geben können, bestand überwiegend aus organischen Materialien und ist uns daher nicht erhalten geblieben. Die relevanten archäologischen Funde beschränken sich auf steinerne Bänke und Sitzgelegenheiten sowie Lampen, Ständer oder Tafeln aus Ton bzw. Stein. Es gibt kaum fest installierte Herde oder andere Heizungseinrichtungen, weil man offensichtlich nur tragbare Feuerbecken hatte oder in der Regel außerhalb des Hauses kochte. Schlaf- oder Essräume als solche zu identifizieren erscheint unmöglich, weil auch sie keine spezifische Form benötigen. Ähnliches gilt häufig für Kulträume, die, wie bereits erwähnt, nicht unbedingt eine spezifische architektonische Rahmung benötigten. Lediglich Bänke, Pfeiler, Opferrinnen und Balustraden können in Kombination mit beweglichen Funden auf den rituellen Charakter eines Raumes hinweisen. Nicht einmal Räume mit einer sehr spezifischen, wenn nicht eigenartigen, Gestaltung verraten uns ohne Weiteres das Geheimnis ihrer Funktion. Dies gilt z. B. für die sogenannten Lustralbecken, kleine eingesenkte Räume, die ca. 0,80 Meter tiefer als das Laufniveau eines Gebäudes lagen und durch eine kleine, seitliche Treppe erreichbar waren. Eine Balustrade ermöglichte einen Blick von oben in den abgesenkten Raum, dessen Wände mit Steinplatten verkleidet waren. Die Hypothese eines Raumes für kultische Reinigungen erscheint wegen der architektonischen Gestaltung plausibel, lässt sich allerdings nicht mit Sicherheit nachweisen. Die Tatsache, dass viele von ihnen gegen Ende der SM IA-Periode verfüllt – und somit außer Funktion gesetzt – wurden, macht den Versuch einer überzeugenden Interpretation sicherlich nicht leichter. Bei einigen der dunklen unterirdischen ›Pfeilerräume‹, um das Problem der Funktionsdeutung mit einem weiteren Beispiel zu illustrieren, scheint der Pfeiler nicht unbedingt als stützendes Element notwendig gewesen zu sein. Auch in diesem Fall tendieren die Archäologen in Richtung einer kultischen Interpretation, wie sie es bekanntermaßen immer tun, wenn ihnen keine bessere Erklä159

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rung einfällt. In diesem konkreten Fall scheint eine solche Deutung allerdings ausnahmsweise nicht einfach das Ergebnis von wissenschaftlicher Ratlosigkeit, sondern von konkreten archäologischen Indizien zu sein, wie z. B. dem Fund von Kultgeräten und Opferrinnen (c Kap. 12) sowie dem für einen unterirdischen Raum ungewöhnliche Quadermauerwerk. Die schwierige Frage nach der Funktion von Gebäuden und Räumen ist sicherlich zentral, doch erweist sie sich in vielen Fällen wegen der oben angesprochenen Faktoren als problembehaftet und daher auch als nicht besonders ergiebig und weiterführend. Daher sind neue Ansätze bei der Untersuchung der minoischen Architektur sehr willkommen. In den letzten Jahrzehnten wurde dieses Forschungsfeld erfreulicherweise durch systematische Studien von Archäologen mit einer gewissen architektonischen Expertise und insbesondere von Architekten enorm belebt. Ihre Untersuchungen haben uns die Augen auch für andere Facetten der minoischen Baukunst geöffnet, die das hohe hermeneutische Potenzial von Baubefunden explizit machen. Neben der immerwährenden Frage nach der Funktion, die wir selbstverständlich nie außer Acht lassen dürfen, treten nun Aspekte der Planung, bautechnischen Umsetzung und Wahrnehmung des gebauten Raumes in den Vordergrund. Sie bieten neue spannende Herausforderungen für die Archäologen, die sich auch von bloßen Gebäudeskeletten begeistern lassen.

Kühne Konzepte Die Paläste und elitären Häuser zeugen eindeutig von sorgfältiger Planung und großer bautechnischer Erfahrung. Nur Spezialisten waren in der Lage, sie zu entwerfen und zu bauen. Allein ihre eindrucksvollen Maße und die Existenz von mehreren Stockwerken rufen unter heutigen Spezialisten Staunen hervor. Dieses Staunen wird sogar noch größer, wenn man bedenkt, dass die Minoer es wagten, solch kühne architektonische Pläne in einer erdbebengefährdeten Region umzusetzen. 160

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Die Naturgewalten wurden dabei nicht als Hindernis, sondern als Herausforderung betrachtet. Die wiederkehrenden Erdbeben haben der Größe und Mehrstöckigkeit der Paläste keine Grenzen gesetzt. Ganz im Gegenteil: Sie haben Lösungen der baulichen Statik hervorgerufen, die sie noch stabiler machten. Nach der Zähmung der bebenden Erde war der Weg für eine Architektur frei, welche die hohen ästhetischen und praktischen Bedürfnisse der Elite befriedigen sollte. Im architektonischen Entwurf der Paläste und elitären Häuser wurden Symmetrie und Axialität vermieden. Als wichtigstes Planungsprinzip erscheint ein modulares Design, das in unterschiedlichen Maßstäben angewandt wurde. Im Fall der Paläste stellen, wie Donald Preziosi gezeigt hat, der Westflügel und der Zentralhof die zwei Hälften eines Quadrats dar. Dieser modulare Gedanke wiederholt sich in kleinerem Format bei einzelnen Raumblöcken, wie bei dem häufig auftretenden Prinzip des ›Quadrats im Quadrat‹ deutlich wird. Das kleine Quadrat stellt dabei einen Eckbereich eines größeren Quadrates dar, das Ersteres in einer L-Anordnung umgibt. Ein weiteres standardisiertes Baumodul bestand aus einer Halle mit Polythyron, Vorhalle und Lichthof (›minoische Halle‹). Im Einklang mit diesem modularen Aufbau steht auch die Tendenz zu einer klaren Abgrenzung des Raums in Zonen bzw. Bereiche, die sich zwar deutlich voneinander unterscheiden, aber auch organisch durch Korridore und Öffnungen miteinander verbunden sind. Darin erschöpfen sich die ordnenden Elemente der minoischen Architektur, die sich als Ganzes durch die kreative Kraft einer ›geplanten Unregelmäßigkeit‹ auszeichnet. Die Vielzahl und geringe Größe der Räume im Palast von Knossos vermittelt den Eindruck eines Labyrinths. Sie sind mäanderartig gestaffelt und gegliedert sowie durch verschobene Korridore miteinander verbunden. Die Enge der Räume im Erdgeschoss war sicherlich auch durch statische Gründe bedingt, da ihre Mauern offensichtlich den Boden von größeren Sälen in den oberen Stockwerken tragen mussten. Ihre verschachtelte Anordnung war allerdings nicht von dieser bautechnischen Notwendigkeit diktiert, sondern reflektiert die minoische Auffassung von gebautem Raum, die in Vielteiligkeit und Bewegung bestand. Zahlreiche Öffnungen, ›bewegte‹ Fassaden, Höfe, Lichthöfe, Veranden, Treppenhäuser, Portiken und Polythyra prägten ein Erscheinungsbild, das nicht minder dynamisch und ab161

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wechslungsreich als die kretische Landschaft war. Je komplexer der architektonische Plan und je größer das Bedürfnis nach Formenvielfalt werden, desto wichtiger erscheint die optimale Verbindung der einzelnen Räume und Bereiche miteinander. Die Korridore, die genau diesen Zweck erfüllten, stellen – vor allem in der Neupalastzeit – einen Teil einer anspruchsvollen architektonischen Planung dar. Sie ermöglichten ein komplexes Zirkulationsmuster innerhalb eines größeren Hauses, das sowohl der residierenden Gruppe als auch den Gästen galt, sodass sich beide ungehindert innerhalb bestimmter Zonen eines Gebäudes bewegen konnten. Dass die minoischen Gebäude von einer lichten und leichten Architektur zeugen, ist für eine mediterrane Gesellschaft eigentlich keine Überraschung. Die durch Vor- und Rücksprünge, Vorhallen, Säulenreihen, Lichthöfe, Balkone und Fenster aufgebrochenen Fassaden machten das Volumen der minoischen Gebäude abwechslungsreich und transparent und boten ein ständiges Spiel zwischen Licht und Schatten. Die geniale Planung des großen Treppenhauses im Palast von Knossos demonstriert genau diesen Anspruch nach Licht und Offenheit: Die eine Wand wird durch Säulengänge ersetzt, welche sich zu einem großen Lichthof öffnen. Er spendet Licht für die ihn umgebenden Treppenfluchten und vermittelt das Gefühl von Fragilität, Transparenz und Leichtigkeit. Was noch mehr als dieser für eine mediterrane Gesellschaft natürliche Drang nach lichter Architektur erstaunt, ist allerdings die Flexibilität des minoischen architektonischen Designs, dessen Inbegriff das sogenannte Polythyron (›mehrtürige Konstruktion‹, c Kap. 5) war. Eine oder mehrere Wände einer Halle wurden von drei bis sechs Türen durchbrochen, sodass sie zu den umliegenden Räumen hin geöffnet werden konnte. Dabei konnte man die Haupthalle – mit ihren durch mehrere Türen aufgebrochenen Seiten – einzeln oder mehrfach nebeneinander (wie im Palast von Knossos und im ›Little Palace‹) realisieren. Von diesen Türen sind nur die doppel-T-förmigen Sockel aus Stein erhalten geblieben, da die Türrahmen aus Holzbalken bestanden. Durch das Öffnen und Schließen konnte man nicht nur unterschiedliche Bewegungsmuster ermöglichen, sondern auch Licht, Luft und Temperatur der betreffenden Räume sehr gut regulieren. Die dieser architektonischen Tradition innenwohnende Bewegung wurde mit solchen transfor162

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mierbaren Räumen gesteigert. Ob die ›minoischen Hallen‹ als Empfangsräume, private Gemächer oder beides dienten, lässt sich den architektonischen Befunden leider nicht mehr entnehmen, da dies von den uns unbekannten Gepflogenheiten der minoischen Elite abhing. Die Abgeschiedenheit einiger ›minoischer Hallen‹ innerhalb des gesamten architektonischen Plans eines Gebäudes muss nicht unbedingt für einen privateren Bereich sprechen. In manchen Fällen ist es ersichtlich, dass sie erst nachträglich in den Gebäudekern angefügt wurden, offensichtlich nachdem dieses Baumodul zur elitären Mode wurde. Es ist natürlich interessant, dass genau dieser Zug der minoischen Architektur, der am modernsten wirkt, in der ›Krisenzeit‹ der SM IB-Periode allmählich verschwindet, in der man vermehrt Polythyra zubaute. Dies dürfte auf einen dramatischen Einschnitt in die minoische Gesellschaft oder zumindest in deren Elite hinweisen. Nicht minder interessant ist ferner die Tatsache, dass die Mykener, die minoischen Ideen gegenüber in der Regel sehr offen waren, das geniale Polythyron-Konzept nicht übernommen haben. Eine lokale Alternative zu dieser weitverbreiteten Raumgestaltung stellt die sogenannte Palaikastro-Halle dar, die, wie der Name bereits sagt, eine architektonische Eigenart dieser florierenden ostkretischen Küstensiedlung darstellte. Dabei handelt es sich um eine Halle mit einem zentralen abgesenkten Bereich, der von vier Säulen umgeben wird und somit gewissermaßen die Form des römischen impluvium vorwegnimmt. Ähnlich gestalteten Räumen begegnet man nur selten an anderen kretischen Orten, wie z. B. in Malia, Galatas und Vathypetro. Ein letzter Aspekt der minoischen Baukunst, der bislang nur ansatzweise in den Fokus genommen wurde, stellen ihre harmonische Einbettung in ihre natürliche Umgebung sowie die Rolle von bioklimatischen Prinzipen bei der architektonischen Planung und Konstruktion dar. Der Schutz vor Wind, Regen und Kälte sowie die Nutzung von Wärme durch die Sonne haben sicherlich die Lage und die Orientierung von Gebäuden sowie die Formgestaltung von Räumen und Dächern und die Platzierung von Türen und Fenstern bestimmt. Die harmonische Verbindung zwischen Siedlung und natürlicher Umgebung im minoischen Kreta kann man gewiss nicht durch eine Textlektüre, sondern nur durch einen Besuch von Phaistos, Vathypetro, Galatas, Petras, Myrtos/Pyrgos und Monastiraki begreifen. An diesen und vielen anderen 163

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Lokalitäten erkennt man unschwer die Vorliebe der Minoer für erhöhte Plätze, die ihnen nicht nur einen gewissen Schutz vor Angreifern oder Malaria, sondern auch Sichtkontrolle über ihre Wege und Felder und – nicht zuletzt – atemberaubende Blicke auf die Natur ermöglichten. Die wunderschönen kretischen Landschaften, welche die minoischen Siedlungen umgaben, entfalteten sich als eindrucksvolle Naturkulissen vor ihren Augen. Sie stellten nicht nur ihren Lebensraum dar, sondern prägten eindrücklich auch ihr eigenes ›Bild der Welt‹.

Bautechnische Umsetzung Die Dominanz des Steins in der minoischen Baukunst ist für jeden, der schon einmal auf Kreta gewesen ist, kaum überraschend. Stein ist das Material, das in zahlreichen Varianten mit verschiedenen materiellen Eigenschaften fast überall ansteht und sich leicht abbauen lässt. Die Steinbrüche lagen häufig oberhalb der Siedlungen, sodass man bei der Konstruktion eines Hauses die Steine einfach den Hang ›hinabrollen‹ konnte. Am häufigsten hat man Kalkstein in Form von unbehauenen bis hin zu sorgfältig geglätteten Blöcken benutzt, die mit Mörtel zusammengefügt sowie mit Lehm bzw. Kalkputz verputzt wurden. Die Dicke der Mauer wurde durch die benötigte Stützlast und damit durch die Existenz eines Obergeschosses bestimmt. Erst in der Neupalastzeit lässt sich die Technik des Quadermauerwerks reichlich belegen, für welche vorrangig leicht zu bearbeitende Sandsteine benutzt wurden. Die Quader mit ihren exakt geschnittenen Fugen wurden zweischalig verlegt und der Innenraum der Mauer mit kleinen Bruchsteinen und Lehm gefüllt. Auch wenn Stein das Material war, das in der minoischen Baukunst eindeutig dominierte, stellte Holz deren ›unscheinbaren Helden‹ dar, wie Clairy Palyvou18 es treffend formulierte. Neben der Verwendung 18 Palyvou, Clairy 2018: Daidalos at Work: A Phenomenological Approach to the Study of Minoan Architecture, Philadelphia, S. 136.

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dieses Materials für die Konstruktion von Säulen und vielleicht auch Pfeilern hat man seit der Vorpalastzeit Holzbalken in das Mauerwerk eingebettet. Dies darf als eine antiseismische Maßnahme betrachtet werden, denn Holz verlieh der Mauer nicht nur Festigkeit, sondern auch Elastizität, welche ein Gebäude bei einem Erdbeben stabil halten konnte. Während bis in die Altpalastzeit die Holzbalken waagerecht in den Mauerverband gelegt wurden, hat man sie in der Neupalastzeit senkrecht platziert. In zahlreichen bis zu einer beträchtlichen Höhe erhaltenen minoischen Mauern sind noch die Negativabdrücke solcher Balken klar zu erkennen. Aus dieser bautechnischen Tradition erwächst auch das Holzrahmenwerk, eine der genialsten architektonischen Erfindungen der Antike. Es bestand aus einem einfachen oder zweischaligen rechteckigen Rahmen aus Holzbalken, der in die gesamte Wandhöhe als stützendes Element eingebettet wurde. Dieser Holzrahmen sorgte für eine solide und zugleich durchlässige Konstruktion, denn sein Inneres musste nicht mit Steinen gefüllt werden, sondern konnte mit Öffnungen (Tür, Fenster oder gar ›Einbauschränke‹) gestalten werden. Das erdbebensichere Holzrahmenwerk machte den Bau von ›Polythyra‹ und ›Polyparathyra‹ (›Mehrfachfenster‹) möglich und erlaubte den minoischen Architekten statt geschlossener Masse durchlässige, transparente Mauern zu schaffen und drei bis vier Stockwerke übereinander zu bauen. Die besondere Rolle, welche das Holz in der minoischen architektonischen Tradition gespielt hat, hängt, einer sehr plausiblen Vermutung von Palyvou zufolge, mit den Erfahrungen aus dem Schiffsbau zusammen, die später auch von Homer thematisiert wurden. Das erdbebengefährdete Land, auf dem die Minoer lebten und auf dem sie ihre Häuser bauten, glich der Gefahr der Wellen eines unruhigen Meeres. In beiden Fällen war Stabilität gefragt. Das Ergebnis dieses Wissenstransfers war eine Architektur, die zugleich robust und offen wirkte. Dieses ›seismische Design‹ hatte sicherlich auch eine nicht zu unterschätzende ästhetische Wirkung entfaltet, wenn man bedenkt, dass die an den Fassaden sichtbaren Holzbalken, die an spätere Fachwerkhäuser erinnern, die monotone Erscheinung einer steinernen oder verputzten Mauerfläche optisch bereicherten. Die große Bedeutung von Holz in der minoischen Architektur wird auch durch eines ihrer markantesten Merkmale greifbar, nämlich die Säule. Durch die allmähliche Entwick165

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lung einer anspruchsvollen elitären Architektur wuchs auch der Bedarf an größeren Innenräumen. Sie wurden durch Säulen gestützt, die aus dem Stamm eines Zypressenbaums gefertigt wurden, welcher zylindrisch und mit der – für den minoischen Baustil markanten – Verschmälerung nach unten geformt war. In Palastkomplexen, Land- und Stadtvillen erscheinen sie in größerer Zahl, wohingegen sie in einfachen Häusern viel seltener vorkommen. Die Säulengänge der Paläste erfüllten sicherlich nicht nur praktische, sondern auch ästhetische bzw. symbolische Bedürfnisse als Ausdruck von Pracht. Seit einem frühen Zeitpunkt in der Entwicklung der minoischen Kultur lässt sich das ausgeprägte Bedürfnis erkennen, die rauen und porösen Flächen von Steinmauern mit Lehm bzw. Stuck zu verkleiden, was sowohl Schutz vor Hitze, Kälte oder Feuchtigkeit bot als auch die Unregelmäßigkeit der Steine verdeckte. Als ein primär ästhetischer und nicht so sehr praktischer Eingriff ist auch die Verkleidung von Außenund Innenmauern mit Platten aus Gipsstein zu verstehen, die bei Palästen und elitären Häusern in der Altpalastzeit einsetzt. Den Gipsstein, der vor allem in den Steinbrüchen bei Knossos gebrochen wurde, benutzte man in Form von sorgfältig geglätteten Platten als Türschwellen und -pfosten, Bodenplatten und Treppenstufen oder für die Verkleidung der unteren Mauerzone. Da viele Gipssteinsorten extrem anfällig für Witterungseinflüsse waren, wurden sie vor allem in geschützten Räumen verwendet. Nur die Böden von wichtigen bzw. repräsentativen Räumen hat man gepflastert. Einige von ihnen waren sehr anspruchsvoll gestaltet und bestanden aus Steinplatten, deren Fugen mit rotem Stuck akzentuiert wurden.

Gelebte Räume Das Raumgefühl eines minoischen Hauses oder Palastes können wir wegen des schlechten Erhaltungszustands der minoischen Bauten leider nur noch ansatzweise rekonstruieren. Die noch bis zum dritten Oberge166

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schoss stehenden Häuser von Akrotiri auf Thera zeigen uns, was wir auf Kreta selbst verloren haben und wie fragmentarisch unsere Kenntnisse über die Wahrnehmung des gebauten Raumes bleiben müssen. Dieser entscheidende Aspekt lässt sich erst in den letzten Jahren durch die Entwicklung von digitalen Methoden etwas besser fassen. 3D-Modelle und insbesondere fotorealistische Rekonstruktionen von minoischen Bauten und Innenräumen geben uns einen ungefähren Eindruck nicht nur von ihrem vermutlichen Erscheinungsbild, sondern auch von ihrer Beleuchtung, einem wesentlichen architektonischen Parameter, den die Archäologie bis vor Kurzem aufgrund der fehlenden Evidenz völlig ausgeblendet hat. Derartige Rekonstruktionen verdienen es, von den Archäologen ernster genommen zu werden, als das bisher der Fall war, denn sie formulieren visuelle Argumente, die unseren Kenntnisstand bzw. unsere Hypothesen über architektonische Befunde erweitern, besser als jeder Text dies könnte. Auch wenn diese Rekonstruktionen in vielen Fällen hypothetisch bleiben müssen, stehen sie durch ihre Dreidimensionalität viel näher zur architektonischen Realität als Grundrisspläne. Letztere haben in den vergangenen Jahrzehnten die archäologische Herangehensweise an minoische Bauten dominiert. Dabei vergisst man jedoch, dass sie keine objektive architektonische Realität wiedergeben können, sondern lediglich eine wissenschaftliche Konvention für das Vermitteln architektonischer Informationen darstellen. Versuchen wir trotz des enttäuschenden Erhaltungszustands der meisten minoischen Gebäude, sie uns als gebaute Lebensräume vorzustellen! Die einfachen minoischen Häuser waren sicherlich nicht sehr verschieden von den Häusern, die auch heute noch in abgelegenen traditionellen Dörfern auf Kreta zu sehen sind. Sie bestanden aus wenigen engen Räumen, die flexibel genutzt wurden. Diese bescheidenen Strukturen wurden offensichtlich von denselben Leuten gebaut, die sie bewohnt haben. Die dafür notwendigen Kenntnisse wurden als Teil der Volkstradition von Generation zu Generation weitergegeben. Den Gegenpol zu diesen schlichten, jedoch sehr funktionalen und gemütlichen Gebäuden stellen die elitären Häuser und Paläste dar. Mit ihrer Hilfe können wir das hohe Niveau der minoischen architektonischen Tradition fassen, das sicherlich aus den nicht minder hohen praktischen und ästhetischen Bedürfnissen der Elite resultierte. Die Verfeinerung, welche diese Bauten als Ausdruck 167

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von Exklusivität und sozialer Distinktion zeigen, lässt sich deutlich an dem anspruchsvollen architektonischen Grundriss, der Existenz von Polythyron-Hallen, Säulen und Latrinen, der Verwendung von Gipsstein für die Verkleidung der Wände und der Dekoration der Innenwände mit Fresken bzw. Stuckreliefs erkennen. Ihr Eingangsbereich, der über ein Propylon (Vorhalle/Diele) verfügen konnte, ermöglichte den Zugang zu den verschiedenen Raumeinheiten. Sie bestanden aus einem ausgewogenen Verhältnis an Repräsentations-, Wohn-, Vorratsräumen und Freiflächen. Der wichtigste Hausbereich wies oft die Form der ›minoischen Halle‹ auf, die, wie bereits erwähnt, in der Regel in Kombination mit einer Vorhalle und einem Lichthof eines der markantesten Baumodule elitärer Architektur darstellte. Die Ausgestaltung des gebauten Raumes mit figürlichen Darstellungen machte das Innere eines Hauses zu einer Bühne, auf der man Bilder von Natur und Ritualen oder ›Ereignissen‹ sehen konnte, welche den Kern der kollektiven Erinnerung der sozialen Gruppe formten. Diese bunten Bilder standen am Ende einer langen Entwicklung der Verschönerung von Innenräumen, welche mit den rot gefärbten Wänden der Vorpalastzeit begann und sich in den ersten ornamentalen Freskomotiven der Altpalastzeit fortsetzte. Als ein besonderer Ausdruck von Wohnluxus sind Sanitärräume, das heißt Wasch- und Baderäume mit integrierter Latrine bzw. Abflussöffnung zu betrachten. Die Abflussvorrichtung, die ins Freie, in die Kanalisation oder in eine Sickergrube führte, lässt sich allerdings nur in wenigen Fällen mit Sicherheit als Latrine deuten. Die Latrine in den Wohnräumen des Palastes von Knossos mit zwei aufrecht stehenden Steinplatten, die offensichtlich den hölzernen Sitz trugen, eine Spülung, die durch eine wassergefüllte Kanne erfolgte, und der Anschluss an die Stadtkanalisation zählte zur Zeit ihrer Entdeckung am Beginn des 20. Jahrhunderts zu den modernsten Sanitärräumen, die man auf der Insel finden konnte. Alle diese hygienischen Vorrichtungen datieren in die Neupalastzeit; viele von ihnen wurden erst nachträglich in Palästen oder elitären Häusern in Knossos, Phaistos, Malia, Zakros, Ajia Triada, Kommos, Gournia, Sklavokambos, Tylissos, Vathypetro und Pseira gebaut. Die Neupalastzeit scheint also auch im Bereich der Hygiene zu einer bis dahin ungekannten Verfeinerung der elitären Lebensweise geführt zu haben. 168

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Was die Häuser der einfachen Leute mit den prächtigen Villen der Elite verbunden hat, war das Fehlen eines Innenhofs. In beiden Fällen haben wir es mit Bauten zu tun, die einen ›extrovertierten‹ Charakter aufweisen, welcher sicherlich im Einklang mit der Mentalität einer mediterranen Gesellschaft stand: Viele alltägliche Aktivitäten, die im Freien stattfanden, mussten nicht vor den Augen von Nachbarn oder Passanten geschützt werden. Die Rolle eines Innenhofs übernahmen offene Flächen wie Balkone, Terrassen und Dächer. Diese durchlässige Privatsphäre, die zu einem lockeren Miteinander führte, hat sicherlich die Kohärenz der sozialen Gruppe gestärkt. Am Ende dieser kurzen Betrachtung der minoischen Architektur lohnt es sich, noch einmal ihre soziale Dimension anzusprechen und die zahlreichen interpretatorischen Probleme – oder besser gesagt: Herausforderungen – für die zukünftige Forschung deutlich festzuhalten. Ob jedes Haus oder jeder Haushalt als Behausung einer Familie angesehen werden kann, wissen wir nicht. Wir sind gewohnt das zu vermuten, weil es sich dabei nicht nur um eine moderne Gegebenheit, sondern auch um ein diachrones Phänomen handelt. Jan Driessen hat uns allerdings auf alternative Formen der Gesellschaftsstruktur aufmerksam gemacht, die auf ethnologischen Erkenntnissen beruhen und das traditionelle Erklärungsmodell ›Familie‹ nicht mehr so selbstverständlich erscheinen lassen. Auch weniger provokative Erklärungen mahnen uns, Gebäude nicht ohne Weiteres mit der Behausung einer Familie gleichzusetzen. Dies gilt insbesondere bei größeren Gebäudekomplexen, die als Ganzes zwar einen freistehenden Bau darstellen, doch vermutlich von mehr als einer Familie oder vielleicht von einer Großfamilie bewohnt wurden. Ob schließlich Männer und Frauen ein Haus auf verschiedene Weise benutzten und konkreter sich in verschiedenen Räumen bewegten oder aufhielten, ist eine spannende Hypothese, die allerdings auf der Grundlage unseres heutigen Kenntnisstands weder bestätigt noch widerlegt werden kann. In manchen Fällen könnte man die Doppelung von Räumen in einer Baueinheit als Hinweis auf die Segregation der Geschlechter betrachten, doch für eine solche gewichtige Hypothese reichen zurzeit die archäologischen Fakten (noch) nicht aus.

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Literatur Chryssoulaki, Stella 2013: Architectural Design, Bioclimate, and Palaces: The Loom, the Warp, and the Weft, in Koehl, Robert B. (Hg.), Amilla: The Quest for Excellence. Studies Presented to Guenter Kopcke in Celebration of His 75th Birthday, Philadelphia, S. 91-102 Darcque, Pascal/Treuil, René (Hgg.) 1990: L’habitat égéen préhistorique, Athen Driessen, Jan 2017: Understanding Minoan In-House Relationships on Late Bronze Age Crete, in: Letesson, Quentin/Knappett, Carl (Hgg.): Minoan Architecture and Urbanism. New Perspectives on an Ancient Built Environment, Oxford, S. 80–104 Glowacki, Kevin/Vogeikoff-Brogan, Natalia (Hgg.) 2011: ΣΤΕΓΑ: The Archaeology of Houses and Households in Ancient Crete, Princeton Hitchcock, Louise 2000: Minoan Architecture: A Contextual Analysis, Jonsered Letesson, Quentin/Knappett, Carl (Hgg.) 2017: Minoan Architecture and Urbanism: New Perspectives on an Ancient Built Environment, Oxford McEnroe, John 2010: Architecture of Minoan Crete: Constructing Identity in the Aegean Bronze Age, Austin Nörling, Thomas 1995: Altägäische Architekturbilder, Mainz Palyvou, Clairy 2018: Daidalos at Work: A Phenomenological Approach to the Study of Minoan Architecture, Philadelphia Preziosi, Donald 1983: Minoan Architectural Design. Formation and Signification, Berlin Preziosi, Donald/Hitchcock, Louise 1999: Aegean Art and Architecture, Oxford Shaw, Joseph W. 2009: Minoan Architecture: Materials and Techniques, Padova Shaw, Joseph W. 2015: Elite Minoan Architecture: its Development at Knossos, Phaistos, and Malia, Philadelphia

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»Das Maß der Dinge in der Vergangenheit zu suchen und die Alten darin zu übertreffen, ist daher ein äußerst schwieriges, aber für den Künstler lohnendes Unterfangen.« (Tanizaki Jun’ichirō)19

Bereits seit den ersten Stufen ihrer kulturellen Entwicklung zeigen die Minoer eine besondere Fähigkeit, Artefakte herzustellen, die Funktionalität mit Ästhetik kombinieren. Dabei handelt es sich sowohl um Formkonzepte mit einer längeren Tradition, in deren Verlauf eine gestalterische Idee perfektioniert wurde, als auch um kühne Innovationen, die ohne erkennbare Vorläufer auftauchen. Das zur Verfügung stehende Material eröffnete den Kunsthandwerkern viele Möglichkeiten, setzte aber zugleich auch deutliche Grenzen bei der Formgestaltung eines Objektes. Dies wurde allerdings als Herausforderung betrachtet, weil man mit neuen Ideen oder Techniken die Grenzen des Materials zu überschreiten versuchte. Eine kurze Geschichte des minoischen Designs ermöglicht uns daher einen erkenntnisreichen Einblick in die technischen Fähigkeiten, die Kreativität und die materiellen sowie ästhetischen Bedürfnisse dieser Gesellschaft.

Die Faszination des Materials Wir leben in einer Zeit, in der das Material der industriell hergestellten Produkte eine immer geringere Rolle für ihren Wert spielt. Was heute 19 Jun’ichirō, Tanizaki 2010: Lob der Meisterschaft, Zürich, S. 79.

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zählt, ist ein erkennbares Design, das durch strikte Gesetze zur Wahrung der Authentizität und durch das Verbot illegalen Kopierens geschützt wird. In vormoderner Zeit allerdings verdankte ein Gegenstand vor allem seinem Material einen wesentlichen Teil seiner Faszination bzw. seiner materiellen und sozialen Signifikanz, weil die sensorischen Qualitäten von Letzterem sehr intensiv wahrgenommen und geschätzt wurden. Für die Herstellung ihrer Artefakte haben die Minoer eine Reihe von natürlichen oder künstlichen Rohstoffen eingesetzt, die ganz unterschiedliche Voraussetzungen für die Gestaltung eines Objektes mit sich brachten und eine sehr unterschiedliche Wirkung auf die Nutzer und Betrachter ausübten. Die künstlichen Materialien Ton und Metall wurden in jeder Periode der minoischen Kultur extensiv verwendet. Die meisten minoischen Artefakte wurden aus Ton hergestellt. Zahlreiche Regionen der Insel boten sehr gute Tonlagerstätten, deren Tonerden auch miteinander gemischt wurden. Die meisten metallenen Artefakte waren aus Bronze fabriziert, einer Legierung aus Kupfer und Zinn bzw. Arsen. Das vermutliche Fehlen von großen Kupferlagerstätten auf der Insel war sicherlich ein Problem (s. allerdings c Kap. 4), dem man durch den regelmäßigen Import von Kupfer und Zinn aus den ostmediterranen Märkten begegnete. Obwohl die Minoer im ägäischen Raum leichteren Zugang zu Silber als zu Gold hatten, überwiegen die Goldobjekte deutlich. Der Grund war sicherlich die Faszination, die dieses stärker als alle anderen Metalle glänzende Material ausübte. Eisen wurde in der Bronzezeit nicht zur Herstellung von Waffen bzw. Geräten benutzt. Die wenigen Eisenartefakte, die wir kennen, sind aus meteoritischem Eisen und müssen wegen der Seltenheit des Materials sehr kostbar gewesen sein. Seit der Altpalastzeit kamen weitere künstliche Materialien zum Einsatz. Dazu zählt eine weiße Paste, deren chemische Zusammensetzung nicht eindeutig definiert werden kann. Dieses leichte Material in weißlicher oder beiger Farbe hatte eine sehr weiche, polierte und glänzende Oberfläche und glich optisch Elfenbein oder Knochen. Es ist bei kleinen Artefakten, wie Siegeln und Amuletten, oft sehr schwierig, nur anhand der Textur ihrer Oberfläche eindeutig zwischen Elfenbein, Knochen oder weißer Paste zu unterscheiden. Fayence war diesem Material sehr ähnlich und wurde für die Herstellung von dekorativen Appliken 172

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und Einlagen oder klein- bzw. mittelformatigen Artefakten, wie z. B. Siegeln, den knossischen ›Schlangengöttinnen‹ und von kleinen Gefäßen oder zur Nachbildung von organischen Formen benutzt. In allen Fällen handelt es sich um kostbare Gegenstände, die zum Teil als Prestigeobjekte oder rituelle Instrumente verwendet wurden. Von den organischen Materialien, die lokal vorhanden waren, wurden vor allem Tierknochen und -zähne, Horn, Muscheln sowie Holz, Flechtwerk, Leder und Wolle verwendet. Über den Gebrauch der vier Letzteren, die uns nicht erhalten geblieben sind, können wir nur spekulieren. Sie lassen sich lediglich durch schriftliche Erwähnungen in den knossischen Linear-B-Täfelchen, durch Abdrücke auf der Rückseite von Tonplomben, welche Gegenstände aus diesem Material gesichert haben, oder durch bildliche Darstellungen nachweisen. Tierknochen wurden regelmäßig für die Herstellung von Siegeln, Amuletten oder auch kleinen Geräten verwendet. Im Fall der Siegel und Amulette, die vor allem in der Vorpalastzeit aus diesem Material hergestellt wurden, boten Tierknochen einen billigen und leicht verfügbaren Ersatz für das exotische und sicherlich sehr kostbare Elfenbein. Auch aus Tierzähnen – vor allem jenen von Ebern – hat man in der Vorpalastzeit Siegel und Amulette hergestellt. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Besitzer von solchen Artefakten aus Tierzähnen diese auch wegen ihrer symbolischen und magischen Kraft geschätzt haben, nämlich als Materialisierung der besonderen Fähigkeiten des Tieres, von dem sie stammen. Gelegentlich benutzte man schließlich auch Muscheln für die Herstellung von Perlen. Neben diesen regional vorhandenen und sicherlich nicht besonders kostbaren organischen Materialien wurden Elfenbein und Straußeneier als Rohmaterialien nach Kreta importiert und für die Herstellung von Prestigeobjekten verwendet. Die Vorliebe der minoischen Gesellschaft für Elfenbein zeigt die hohe Anzahl von elfenbeinernen Artefakten aus vielen Perioden dieser Inselkultur. Die ersten Indizien für seinen Import nach Kreta gibt es bereits seit der FM II A-Periode. Sehr interessant ist die Tatsache, dass, wie bereits erwähnt (c Kap. 4), alle elfenbeinernen Artefakte der kretischen Vorpalastzeit nicht von Elefantenstoßzähnen, sondern von Nilpferdhauern stammen. Zwischen den beiden Elfenbeinsorten gibt es, was ihr Aussehen und ihre physischen Eigenschaften betrifft, keine nennenswerten Unterschiede. Eine klare Unterscheidung in 173

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bearbeitetem Zustand ist eigentlich nur unter dem Mikroskop möglich. Ebenso schwer ist eine eindeutige Unterscheidung zwischen diesen exotischen Materialien und Tierknochen. Wenn die Oberfläche von Tierknochen sorgfältig poliert ist, sieht sie dem Elfenbein oft zum Verwechseln ähnlich. Den Minoern war es in der Vorpalastzeit dennoch wichtig, Siegel und Amulette nicht nur aus Tierknochen, sondern auch aus dem exotischen Elfenbein zu besitzen, und zwar weniger, weil sie den Unterschied zwischen beiden Materialien sehen oder fühlen konnten, sondern vielmehr, weil sie letzterem Material offensichtlich eine gewisse, vielleicht magische, Potenz zugesprochen haben. Die großen Hippopotamus-Zähne oder die riesigen Elefantenstoßzähne, die von Tieren stammten, die wesentlich größer als die endemischen Tierarten Kretas waren und die die Minoer nie zu Gesicht bekamen, haben die lokale Bevölkerung sicherlich sehr fasziniert. Den Teil des Zahnes eines riesigen Tieres aus einer fernen Region zu besitzen, der zu einem Siegel oder Amulett verarbeitet war, muss also für jeden bronzezeitlichen Einwohner der Insel begehrenswert gewesen sein. Nur wenige konnten sich allerdings diesen Wunsch erfüllen. Das Material, das allen vormodernen Kulturen in verschiedenen Arten zur Verfügung stand und das man nicht nur wegen seiner materiellen, sondern auch wegen seiner symbolischen und magischen Eigenschaften besonders geschätzt hat, war Stein. Kreta ist reich an Gesteinen, deren enormer Variantenreichtum an Farbe, Glanz, Härte und Oberflächentextur den Kunsthandwerken unterschiedliche Möglichkeiten und ihren Besitzern und Benutzern vielseitige Funktionalitäten und ästhetische Reize bot. Diese Vielfalt hat die Minoer mehr als jede andere Kultur der Inselgeschichte angesprochen. Die breite Palette an verwendeten Steinsorten und hergestellten Artefakten übertrifft bei weitem das, was wir aus allen späteren Perioden der kretischen Geschichte (einschließlich der Moderne) kennen. Die überwiegende Mehrheit der Steinobjekte lässt sich drei Kategorien zuweisen: a) kleinformatige Gegenstände wie Siegel, Amulette und Perlen, die man am Körper getragen hat, b) Steingefäße und c) Steingeräte, in erster Linie Obsidianklingen, die neben der Keramik zu den häufigsten Funden in jeder minoischen Siedlung und Nekropole zählen. Für die Herstellung von Siegeln, Amuletten und Perlen wurden zunächst weiche Steine verwendet, die man mit einer Obsidianklinge be174

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arbeiten konnte. Der weiche Steatit, dessen seifige Oberfläche beim Anfassen ein sehr angenehmes Gefühl hervorruft, der schwarze Serpentin und das Schiefergestein waren in der Vorpalastzeit die beliebtesten Steinsorten. Nach der Einführung von schnell rotierenden Bohrern begann man auch, harte Steine zu kleinen Gegenständen zu verarbeiten. Vor dieser Innovation war es nämlich unmöglich, an harten Steinen ein präzise geschnittenes Bohrloch herzustellen. Durch die neue Technik ist die Nachfrage nach lokalen und exotischen Halbedelsteinen in der Altund insbesondere in der Neupalastzeit enorm gestiegen, darunter Bergkristall, Amethyst, Jaspis, Chalzedon, Achat, Karneol, Hämatit und Lapislazuli. Die Herkunft vieler dieser Halbedelsteine lässt sich nur selten mit Sicherheit bestimmen. Bergkristall, dieses vollkommen transparente und farblose Quarzgestein, stand auch in verschiedenen Regionen der Insel an und war somit wesentlich leichter zugänglich. Ebenfalls lokal war eine Jaspissorte verfügbar, die für die Fertigung von Siegeln verwendet wurde. Die anderen Halbedelsteine wurden bereits seit der Altpalastzeit von den ostmediterranen Märkten importiert. Bei der Herstellung von Steingefäßen begann man ebenfalls mit weichen Gesteinen, wie Steatit, Serpentin und Schiefer, bevor man später auch härtere Steine verarbeiten konnte. Lokale und importierte Alabastervarianten waren in der Neupalastzeit als Herstellungsmaterial von Gefäßen mit eleganten Konturen sehr beliebt. Hoch geschätzt waren die aus der Südpeloponnes importierten Steine rosso antico und der grüne, gefleckte Lapis lacedaemonius. Für die Herstellung des meisterhaften Bergkristall-Rhytons aus dem Palast von Kato Zakros war die lokal anstehende Steinvariante ungeeignet, sodass die herstellende Werkstatt auf ein importiertes Material zugreifen musste. Zu den importierten Gesteinssorten zählte natürlich auch der Obsidian, dieses extrem harte vulkanische Gestein, das schon seit dem Neolithikum vor allem aus dem benachbarten Melos importiert wurde. Sowohl vor der intensiven Verwendung von Metallgeräten als auch danach, boten Obsidianklingen bzw. -spitzen ein extrem beständiges und scharfes Allzweckgerät. Die Minoer haben gelegentlich versucht, aus diesem äußerst harten Material auch Gefäße herzustellen. Ein hoher Becher aus dem Palast von Kato Zakros, der vermutlich eine rituelle Funktion hatte, wurde sicherlich unter großer Anstrengung und mit viel handwerklichem Geschick aus 175

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Abb. 14: Obsidian-Vase aus dem Palast von Kato Zakros.

einem großen Obsidianstück geschnitten. Der Schöpfer dieses einzigartigen Gegenstandes wollte offensichtlich der großen Herausforderung begegnen, das härteste Material, das man im bronzezeitlichen Kreta kannte, zu bändigen, indem er es in eine elegante Form verwandelte. Der weißgefleckte Obsidian, aus dem dieses Gefäß seine Form erhielt, stammte aber nicht aus Melos, sondern aus Gyali, einer kleinen Vulkaninsel in der Nähe von Nisyros.

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Minoische Designkonzepte Für ein besseres Verständnis der kunsthandwerklichen Leistungen der minoischen Gesellschaft bietet der Begriff ›Design‹ ein wesentlich adäquateres methodisches Instrument als der Begriff ›Stil‹, der sich eigentlich auf rein formale oder ästhetische Aspekte beschränkt. Dabei vergisst man, dass die minoischen Objekte, welche die Vitrinen der kretischen Museen füllen, keine Kunstwerke, sondern Artefakte mit einer konkreten praktischen Funktion waren. Sie mussten daher sowohl praktische als auch ästhetische Bedürfnisse kombinieren. ›Design‹ erfasst als Bezeichnung auch diese entscheidende praktische Dimension der Dinge. Die minoischen Handwerker zeigten die besondere Fertigkeit, sowohl praktische als auch ästhetische Bedürfnisse zu befriedigen, indem sie Designs erfanden und perfektionierten welche zugleich ergonomisch und elegant waren. Diese scheinbar mühelose Verbindung zwischen Funktionalität und Ästhetik ist in fast allen Perioden der minoischen Keramikentwicklung zu beobachten. Die Formen der frühesten Keramikgefäße zum Beispiel scheinen sich aus organischen Formen entwickelt zu haben. Die minoischen Kannen der FM I-Periode bewahren noch die natürliche Form, die sie offensichtlich als Vorbild hatten: die von Kürbissen. Schnell legen die Minoer allerdings ein besonderes Augenmerk auf elegante Konturen, die sicherlich weniger praktischen als vielmehr ästhetischen Anforderungen entsprachen. Diese Tendenz kulminiert in der Neupalastzeit, als die Töpfer eine besondere Vorliebe für Gefäße mit dynamischen Konturen entwickelten, deren maximaler Durchmesser sehr groß ist. Eine ähnliche formale Gestaltung weisen die lokal hergestellten Steingefäße dieser Periode auf. Ausdruck dieses besonderen Kunstempfindens ist die Tatsache, dass die Form der aus Ägypten oder der Levante importierten Steingefäße, die einen sehr geringen maximalen Durchmesser hatten und dadurch sehr plump wirkten, auf Kreta nur bedingt geschätzt wurde. Das zeigen die häufigen Eingriffe minoischer Handwerker, die die ursprüngliche Form dieser Gefäße durch das Hinzufügen von Füßen, Henkeln oder Ausgüssen, das Meißeln von Kanneluren (konkav gewölbten Bändern) oder die Bearbeitung des Gefäßrandes veränderten. In einem bemerkens177

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werten Fall, einem ursprünglich ägyptischen Alabastron aus den Schachtgräbern von Mykene, das offensichtlich auf Kreta umgearbeitet wurde, haben minoische Kunsthandwerker das fremde Design im eigentlichen Sinne ›auf den Kopf‹ gestellt: Der Boden wurde zur Mündung und die Mündung zum Boden umgearbeitet, was eine komplette Umkehrung der Gefäßform zum Ergebnis hatte, die nun einen hoch angelegten maximalen Durchmesser aufwies, der dem minoischen Geschmack angepasst war (c Kap. 14). Im Fall eines importierten ägyptischen Steingefäßes aus Kato Zakros war der hinzugefügte Ausguss aus einem lokalen Stein, in den rechteckige Eintiefungen eingemeißelt wurden, welche man mit einem nicht mehr erhaltenen Material gefüllt hatte. Die Absicht des Steinschneiders war offensichtlich, die gefleckte Textur des porphyrischen Basalts zu imitieren, aus dem der Gefäßkörper herausgearbeitet war. Hier ging das Desinteresse für die exotische Formgebung Hand in Hand mit einem besonderen Respekt für das exotische Material. Die erstaunliche Kreativität und Innovationskraft minoischer Handwerker entfaltete sich auch im Zuge der Erfüllung ritueller Bedürfnisse. Dies lässt sich bereits in der frühen Vorpalastzeit in einem nicht-elitären Kontext feststellen. In der kleinen FM II-Siedlung von Myrtos/Phournou Koryphi entdeckte man ein Tonobjekt in Form einer sehr schematisch dargestellten Frau mit einem plumpen zylindrischen Körper, einem übertrieben langen Hals und zwei plastisch angegebenen Händen, welche eine Kanne halten. Dieses Objekt, das man als ›Göttin von Myrtos‹ bezeichnet, war keine Statuette im eigentlichen Sinne, sondern ein Spendegefäß, weil es über ein hohles Inneres und eine Öffnung verfügte. Diese Öffnung war die Mündung der kleinen Kanne, die durch eine weitere, unsichtbare Öffnung mit dem hohlen Körper des Objektes verbunden war. Gefüllt enthielt dieses Spendegefäß eine Menge von Flüssigkeit, die um ein Vielfaches höher als die Kapazität der kleinen Kanne war. Es liegt nahe zu vermuten, dass dies eine gewollte Raffinesse war, die man in Rahmen von Zeremonien wirkungsvoll nutzen konnte. Ein ahnungsloser Betrachter, der nichts über das Design des Objektinneren wusste, konnte bei einem Libationsritual (Ritual mit Ausführung von Trankspenden) beobachten, dass aus der kleinen Kanne eine unerwartet große Menge an Flüssigkeit herausfloss, was vermutlich Bewunderung 178

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Abb. 15: Importierte ägyptische Steinvase aus dem Palast von Kato Zakros.

hervorrief und eine Vorstellung von unerschöpflicher Fülle implizierte. Die ›Göttin von Myrtos‹ steht am Beginn einer langen Tradition von Spendegefäßen aus Ton, Stein oder Metall, welche Menschen- oder Tierform besaßen. Sie weisen eine oder zwei Öffnungen zum Auffüllen und Ausgießen auf. Die schmale Öffnung, aus der die Flüssigkeit (Wein, Blut, Wasser?) während einer Zeremonie gespendet wurde, war stets der Mund bzw. das Maul, ein illusionistischer Effekt, der die Wirkung dieser Handlung steigerte. Bedingt durch die Enge der Öffnung entleerte sich das Rhyton nicht in wenigen Sekunden, sondern wesentlich langsamer, was den ernsten Charakter der Ritualhandlung unterstrich. Man kann sich unschwer vorstellen, wie ein Priester mithilfe eines Stierkopfrhytons, aus dem Stierblut (oder wahrscheinlicher Rotwein als Ersatz) langsam ausfloss, den dramatischen Moment der Opferung des Tieres rituell inszenierte und gleichzeig seinen ›Lebenssaft‹ einer Gottheit schenkte. 179

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Dinge und Bilder beleben sich gegenseitig Neben den gerade erwähnten anthropomorphen oder zoomorphen Rhyta gab es in allen Perioden der minoischen Geschichte viele Objekte mit einer praktischen Funktion, die entweder mit figürlichen Elementen ausgestattet oder selbst figürlich gestaltet waren. Hier lässt sich sehr deutlich die Absicht minoischer Kunsthandwerker erkennen, die abstrakten Formen ihrer Gegenstände mit Tieren, Pflanzen oder mit deren charakteristischen Bestandteilen zu beleben. Es handelt sich um eine diachrone Grundtendenz, die je nach Gattung ganz unterschiedliche Formen angenommen hat. Dahinter kann man sowohl ästhetische Bedürfnisse – konkreter: die Verschönerung der abstrakten Form mit einem naturalistischen Detail – als auch symbolische bzw. rituelle Beweggründe vermuten. Durch die Ausformung in Gestalt eines Tieres oder Tierelementes konnte man eine symbolische Botschaft oder sogar den Glauben an die magische Potenz der Form zum Ausdruck bringen, wodurch bestimmte Fähigkeiten des Tieres auf den Gegenstand übertragen wurden. Dies ist natürlich keine Eigenart der minoischen Kultur, sondern ein universales Phänomen. Seit den frühesten Entwicklungsstufen der minoischen Keramik wurden Dekor und Gefäßoberfläche bzw. -körper als organische Einheit begriffen. Die gewölbte Fläche der Gefäße gab den Vasenmalern die Möglichkeit, einen Ornamentstil zu entwickeln, der eine räumliche Qualität entfalten konnte. Das Motiv breitete sich in dynamischen Kompositionen schrauben- oder strahlenförmig nicht über einen flachen, sondern über einen dreidimensionalen Grund aus und belebte somit seinen Träger. Diese Tendenz wird durch das dekorative Prinzip der Torsion exemplifiziert. Vom Gefäßboden aus werden die linearen oder pflanzlichen Motive von einer spiralförmigen Bewegung zum Rand hin erfasst und entfalten sich dynamisch um den gesamten Gefäßkörper herum. Durch das Binden des Dekors an die gewölbte Gefäßoberfläche erhielt Ersterer eine räumliche Qualität und ›atmete‹ mit der Vase. Einem ähnlichen ästhetischen Prinzip scheinen die Wandmalereien oder Stuckreliefs unterworfen gewesen zu sein, welche die Wände elitärer Gebäude und Paläste wie eine dekorative Haut bedeckten, die vor allem verschö180

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nern und weniger belehren oder überzeugen wollte. Auch hier war das Verhältnis zwischen dem Bild und seinem Träger (Raum) entscheidend, ein Aspekt, der in der musealen Präsentation der minoischen Fresken im Heraklion-Museum als an der Wand hängende Gemälde völlig untergeht. Wenn man nun die zweidimensionalen Gattungen der minoischen Bildkunst an sich betrachtet, stellt man fest, dass der Entwicklungssprung von der abstrakten Ornamentik zu einer figürlichen Gestaltung mit einer gewissen Verzögerung stattgefunden hat. Die Ursache bestand vielleicht darin, dass die Reduktion eines dreidimensionalen Vorbildes auf eine zweidimensionale Darstellung eines weiteren Schrittes von gedanklicher Abstraktion bedurfte. Aus diesem Grund bleibt die vorpalastzeitliche Kunst wahrscheinlich vorerst anikonisch. Die Gefäß- und Siegelflächen werden ausschließlich mit Linienmustern verziert. In manchen Fällen sind es lediglich flüchtig gezogene Linien, die keinen erkennbaren Regeln untergeordnet sind. Bei anderen Werken handelt es sich hingegen um ein feines Liniennetz, das eine Gefäßoberfläche kunstvoll umspannt. Der Übergang zu figürlichen Darstellungen lässt sich erstmals in der späten Vorpalastzeit belegen und setzt sich eher in der Dekoration von Siegel- als von Gefäßoberflächen durch. Die zweidimensionalen Darstellungen werden zwar immer komplexer, bleiben allerdings einer Reihe von Konventionen unterworfen. Hier dominiert ein Stil, der die Bewegung feiert, welche in den sehr lebendigen und elastischen Umrissen von Menschen, Tieren, ja sogar Bäumen und Pflanzen Ausdruck findet. Dabei werden die Körper dieser Lebewesen auf eine sehr konventionelle Weise wie eine neutrale Masse aufgefasst. Das Ergebnis ist ein ganz besonderer Stil, der sehr lebendig wirkt, obwohl er kaum realistisch sein kann. Wirklich lebensnah wird die minoische Kunst erst bei dreidimensionalen Werken, vollplastischen Formen oder Reliefs aus unterschiedlichen Materialien. Nur hier entwickelt sich der neupalastzeitliche Naturalismus zu einem eindrucksvollen Verismus, wie z. B. in der atemberaubenden anatomischen Genauigkeit des aus Gold, Elfenbein und anderen Materialien modellierten ›Kouros von Palaikastro‹. Am elfenbeinernen Körper dieses jungen Mannes oder Gottes sieht man nicht nur seine Muskeln, sondern sogar die Adern und Sehnen. Ein ähnliches Niveau realistischer Darstellung hat die anti181

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ke Kunst erst nach über einem Jahrtausend, in der griechischen Plastik des fünften Jahrhunderts v. Chr., wieder erreichen können.

Abb. 16: Goldelfenbeinstatuette aus Palaikastro (›Palaikastro-Kouros‹).

Das Leben der Dinge: Verwendung, Reparatur, Wiederverwendung, Deponierung, Zerstörung Wie gingen die Minoer mit den Dingen um, die sie geschaffen haben? Hat man sie während ihrer Laufzeit modifiziert oder unverändert belas182

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sen? Wie lange hat man ein Gerät, Gefäß oder Amulett genutzt? Wurden persönliche Gegenstände an die nächste Generation vererbt oder mit ins Grab genommen? Hat man beschädigte Artefakte entsorgt oder repariert? Schätzten die Minoer die ›Patina der Zeit‹ oder bevorzugten sie, ältere Gegenstände durch neue zu ersetzen? Und welche Gegenstände wurden absichtlich zerstört? Für all diese Fragen zeigte die bisherige Forschung nur gelegentlich Interesse und hat eine eher antiquarische Sicht auf die Dinge gepflegt, in deren Mittelpunkt Aspekte der Datierung, der Technik und des Stils standen. In letzter Zeit wird es allerdings immer deutlicher, dass man nicht nur auf die Produktionsverhältnisse der Gegenstände fokussieren und sie dadurch als abgeschlossene Prozesse betrachten darf. Wir brauchen vielmehr einen umfassenderen und dynamischeren Blick auf die Dinge, welcher auch ihre ›Biografie‹ berücksichtigt, das heißt alles, was mit ihnen nach dem Zeitpunkt ihrer Produktion passierte. Objektbiografien, welche die Dinge im Moment ihres konkreten Gebrauchs zeigen, hinterlassen oft sichtbare Spuren oder lassen sich mithilfe ikonografischer Zeugnisse rekonstruieren. Das Interesse der Archäologen an der Zeit als analytischer Kategorie zum Verständnis antiker Kulturen war in der bisherigen Forschung durch eine klare Fixierung auf die Frage nach der zeitlichen Einordnung geprägt. Was immer gefordert wurde, war die Zuweisung eines minoischen Artefaktes in eine bestimmte Periode der minoischen Keramikchronologie. Bisher hat sich jedoch niemand die Frage gestellt, welcher minoische Gegenstand die längste Biografie, das heißt die längste Benutzungszeit, hatte. Zunächst lässt sich feststellen, dass es zahlreiche minoische Objekte mit einer sehr kurzen Lebensdauer gibt, weil sie in einem frischen Zustand deponiert und dadurch ›aus dem Verkehr‹ gezogen wurden. Werkstattfrische Objekte, in erster Linie Siegel und Schmuckgegenstände, die kaum Abnutzungsspuren aufweisen, sind uns vor allem aus Gräbern bekannt. Hier liegt natürlich die Vermutung nahe, dass sie nicht zu Lebzeiten vom Toten benutzt worden waren, sondern ausschließlich für einen funerären Zweck hergestellt wurden. In vielen anderen Fällen zeugen Abnutzungsspuren für einen langen und intensiven Gebrauch. Aber wie lange? Zahlreiche Siegel wurden erwiesenermaßen mehrere Generationen hindurch verwendet, indem sie als persönlicher Gegenstand oder als Amtsinsignie vererbt wurden. Diese Erkenntnis be183

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ruht auf dem großen zeitlichen Abstand zwischen Herstellungszeitpunkt und letzter Verwendung eines Siegels, der durch viele Siegelabdrücke evident wird, welche von Siegeln stammen, die wesentlich älter als ihr Kontext sind. Ob auch andere Fundgattungen eine ähnliche Langlebigkeit hatten, ist eine Frage, die man vor allem wegen der Probleme einer präzisen Datierung der Herstellungszeit bzw. des Fundkontexts nur schwer beantworten kann. Es ist z. B. nicht leicht zu sagen, wie lang ein Fresko an den Wänden eines minoischen Palastes oder elitären Hauses stand. Einen Hinweis auf eine längere Benutzungszeit – oder zumindest für eine entsprechende Absicht seitens der Benutzer – bieten Spuren von Reparatur, die man gelegentlich an minoischen Objekten nachweisen kann. Hier sind in erster Linie einige ›kykladisierende‹ Idole (lokale Nachahmungen kykladischer Idole) zu nennen, die einen Bruch am Hals aufweisen, welcher dann durch zwei Bohrlöcher und eine Verbindung aus organischem Material geflickt wurde. Diese Reparaturen könnten allerdings auch einen Teil einer komplexeren rituellen Praxis darstellen, da man nicht völlig ausschließen kann, dass die Idole absichtlich abgebrochen wurden. Aus einem zweifellos profanen Verwendungskontext stammt eine Matrize (Gussform) aus Schiefer zur Herstellung von Messern, die in einem Haus in Gournia ans Licht kam. Nach einem Bruch wurde sie durch Metalldrähte geflickt, offensichtlich, weil der Bronzeschmied sie nicht durch eine neue ersetzen wollte bzw. konnte. Andere Materialgattungen scheinen eine eher kurze Benutzungszeit gehabt zu haben. Es gibt z. B. kaum Tongefäße, für die man mit Sicherheit sagen kann, dass sie über mehrere Generationen hinweg in Gebrauch waren. Kein minoisches Tongefäß weist Reparaturspuren auf, welche eventuell auf das Bedürfnis seiner Weiterverwendung nach einer Beschädigung hinweisen könnten. Daher müssen wir davon ausgehen, dass beschädigte oder ältere Gefäße gerne durch neue ersetzt wurden. Dinge wurden allerdings nicht nur am Leben erhalten oder wiederbelebt, sondern auch absichtlich zerstört und somit ›getötet‹. Dies konnte sowohl in einem profanen Kontext als gewaltsame Zerstörung als auch in einem rituellen Zusammenhang in Form einer zeremoniellen ›Tötung‹ geschehen. Beispiele für eine gewaltsame Zerstörung sind in jeder Gesellschaft als Resultat von kriegerischen Auseinandersetzungen, Angriffen oder mutwilliger Beschädigung sehr häufig anzutreffen. Es ist 184

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allerdings nicht immer leicht, den schlechten Erhaltungszustand eines Fundes als Ergebnis einer absichtlichen Zerstörung in der Antike nachzuweisen. Nur wenige Befunde sind so eindeutig wie die Fundumstände des oben erwähnten ›Kouros von Palaikastro‹, welchen man zerstückelt sowohl innerhalb als auch außerhalb des Raumes gefunden hat, in dem er ursprünglich stand. Wenn man davon ausgeht, dass vor allem Bildwerke, die für die kollektive Erinnerung oder die Religion einer sozialen Gruppe signifikant waren, zum willkommenen Ziel der Aggression von Angreifern oder Feinden wurden, kann man vermuten, dass dieser Akt der rohen Gewalt ein weiterer Hinweis für die besondere Bedeutung dieser Statuette innerhalb der Gruppe war, die sie geschaffen und aufgestellt hat. Nicht minder häufig sind die Beispiele ritueller Tötung von Gegenständen. Das bloße Ablegen eines Objektes in einem Grab oder einem Gründungsdepot kann nicht als Akt der ›Tötung‹ aufgefasst werden, weil es in beiden Fällen weiterhin eine bestimmte Funktion erfüllt. Bestimmte Grabbeigaben, wie persönliche Gegenstände, scheinen weniger von den Hinterbliebenen an den Toten gegeben, sondern vielmehr von Letzteren ›mitgenommen‹ worden zu sein. Sie ließen sich dadurch in eine spirituelle Dimension überführen, wo sie weiterhin für den Verstorbenen nützlich sein sollten. Der Übergang von einer materiellen in eine spirituelle Sphäre ihrer Verwendung bzw. Weiterexistenz wird in manchen vormodernen Kulturen durch ihre zusätzliche Zerstörung markiert, indem man Tongefäße absichtlich zerbricht oder Dolche bzw. Schwerter verbiegt. Im minoischen Kreta ist allerdings nur erstere Praxis belegt. Das rituelle Zerbrechen ist auch in anderen Zeremonien evident. Die meisten steinernen Stierkopfrhyta wurden in einem extrem fragmentarischen Zustand entdeckt, was offensichtlich das Resultat einer intentionalen Zerstörung im Rahmen eines Rituals war. Auch in diesem Fall darf man vermuten, dass der Akt der Zerstörung den Übergang dieser Gegenstände in eine spirituelle Sphäre einleitete, wo sie von Göttern oder Ahnen ›empfangen‹ werden konnten.

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Literatur Betancourt, Philip P. 1985: The History of Minoan Pottery, Princeton Bradfer-Burdet, Isabelle u. a. (Hgg.) 2005: ΚΡΗΣ ΤΕΧΝΙΤΗΣ. L’artisan crétois: Recueil d’articles en l’honneur de Jean-Claude Poursat, publié à l’occasion des 40 ans de la découverte du Quartier Mu, Liège/Austin Evely, Doniert 1993–2000: Minoan Crafts: Tools and Techniques. An Introduction, vols. I–II, Jonsered Koehl, Robert B. 2006: Aegean Bronze Age Rhyta, Philadelphia Knappett, Carl 2020: Aegean Bronze Age Art. Meaning in the Making, Cambridge Laffineur, Robert/Betancourt, Philip (Hgg.) 1997: ΤΕΧΝΗ. Craftsmen, Craftswomen and Craftsmanship in the Aegean Bronze Age, Liège/Austin Panagiotopoulos, Diamantis 2013: Material versus Design: A Transcultural Approach to the Two Contrasting Properties of Things, in: Transcultural Studies 4, S. 145–176 Preziosi, Donald/Hitchcock, Louise 1999: Aegean Art and Architecture, Oxford Poursat, Jean-Claude 2008–2014: L’art égéen, t. 1–2, Paris Schiering, Wolfgang 1998: Minoische Töpferkunst. Die bemalten Tongefäße der Insel des Minos, Mainz am Rhein

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»[…] a timeless, immobile world where vibrant fish swim energetically nowhere and princes march beautifully dressed through corridors empty of identity.« (Emily Vermeule)20

Durch das alltägliche Miteinander, durch Gespräche, Gesten, gemeinschaftliche Projekte, Feste, Rituale, Räume, Bilder, Texte und Dinge wurde in jeder vormodernen Gesellschaft das Netz sozialer Interaktion gesponnen, welches Individuen in ein Kollektiv band, zu dem sie sich zugehörig fühlten. Die Kommunikation innerhalb dieses sozialen Netzwerkes bestand aus unzähligen Zeichen und Botschaften, die für die Mitglieder des Kollektivs verständlich waren und den Kern dessen ausmachen, was wir unter dem Begriff ›Kultur‹ verstehen. Was von diesem vielschichtigen, komplexen und ineinandergreifenden Interaktionsgeflecht vergangener Gesellschaften übrig bleibt, sind nur Bruchstücke, die aus Bildern, Texten, Artefakten und gebauten Räumen bestehen. So auch im Fall des minoischen Kreta, das für uns als vergangene ›Kultur‹ nur durch solche fragmentierten Spuren greifbar wird. Die beiden minoischen Schriftsysteme vor der Einführung der griechischen Linear-BSchrift (›kretische Hieroglyphen‹ und Linear A) sind leider noch nicht entziffert. Somit müssen wir uns mit einem heterogenen Ensemble von im wahrsten Sinne des Wortes ›stummen‹ Quellen begnügen, die weniger informieren, sondern vielmehr etwas von dieser Kultur erahnen lassen. Jeder Versuch, diesen Bildern, Objekten und Gebäuden einen konkreten Sinn abzugewinnen, bleibt ein extrem schwieriges, aber zugleich auch extrem spannendes Unterfangen. Eine wichtige Rolle für deren Verständnis spielen ihre Materialität, ihr mediales Potenzial und ihr 20 Vermeule, Emily 1964: Greece in the Bronze Age, Chicago, S. 202.

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Wahrnehmungskontext, welche uns entscheidende Hinweise auf ihren konkreten ›Sitz im Leben‹ bieten. Die zwei wichtigsten Kommunikationsmedien in jeder Gesellschaft, nämlich Bild und Schrift, sind im minoischen Kreta trotz ihrer engen entwicklungsgeschichtlichen Verbindung (c Kap. 4) getrennte Wege gegangen. Im Gegensatz zu vielen anderen Kulturen von der Antike bis in die Gegenwart wurden hier nämlich Bild und Schrift nur selten miteinander kombiniert. Bis auf ganz wenige Ausnahmen ist die Schrift kaum in die Welt der Bilder eingedrungen, um sie zu betiteln, zu erläutern oder ihre Botschaften zu ergänzen. Dies hängt vor allem damit zusammen, dass die Verwendungskontexte der Schrift im ägäischen Kontext ziemlich eingeschränkt waren. Die Bilder haben als Medium die soziale Kommunikation eindeutig dominiert. Da der moderne Begriff ›Bild‹ ein wesentlich breiteres semantisches Feld besitzt, werden wir uns hier nicht nur mit Artefakten, die figürlich gestaltet waren oder figürliche Darstellungen trugen, sondern auch mit abstrakten Motiven sowie mit ›Bildern‹ beschäftigen, welche unter anderem die Architektur oder performative Handlungen erfassen, die sehr oft einen dezidiert ikonischen Charakter besaßen.

Bilder Die Auseinandersetzung mit Bildern in den archäologischen Disziplinen hat viel zu lange aus einer sehr antiquarischen Perspektive heraus stattgefunden, und Bilder wurden lediglich als Kunstwerke betrachtet, ohne einen klaren Bezug zu ihrem Wahrnehmungskontext und den Wahrnehmungsverhältnissen herzustellen. Erst durch das neu erwachte Interesse an der sozialen Rolle von Bildern in ganz unterschiedlichen geistes- und sogar naturwissenschaftlichen Disziplinen, das man unter dem Begriff ›pictorial turn‹ (oder auch ›iconic turn‹) subsumiert, verlagerte sich das Hauptinteresse von den Umständen ihrer Entstehung zu denen ihrer Wahrnehmung. Nicht – oder nicht nur – der Künstler, son188

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dern auch der Betrachter avancierte nun zum Fokus der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Bilderwelt. Dadurch wird das Bild von seinem versteinerten musealen Dasein befreit und kehrt wieder in seinen ursprünglichen räumlichen und sozialen Kontext zurück, dem es seinen Existenzgrund verdankt. Die Bilder in der minoischen Gesellschaft waren keine musealen Objekte, welche in einem sterilen Wahrnehmungskontext existierten, in dem man sie eigentlich nur bestaunen konnte. Sie besaßen vielmehr eine konkrete soziale Funktion, indem sie wichtige Botschaften innerhalb dieses Systems der sozialen Interaktion artikulierten. Die erste Frage, die man an die minoischen Bilder stellen muss, ist daher, in welchen Kontexten und unter welchen Bedingungen sie gesehen wurden. Was hier sofort ins Auge springt, ist das Fehlen von großformatigen Bildern in öffentlichen Kontexten. Lebensgroße Statuen aus Ton oder anderen Materialien sind uns aus Kreta bis auf wenige Ausnahmen unbekannt. Die Fresken und Stuckreliefs verzierten nur Innenräume. In deutlichem Gegensatz zur Agora einer griechischen Stadt waren die öffentlichen Räume der minoischen Kultur weitgehend bilderlos. Die Funktion der Bilder übernahmen hier vielmehr die Architektur, die mit monumentalen oder anspruchsvoll gestalteten Fassaden visuelle Botschaften von Macht und Distinktion übermitteln konnte, aber auch Feste und Rituale, die mit ›beweglichen Bildern‹ die abstrakten Umrisse der urbanen Kulissen belebten. In diesem Zusammenhang ist interessant, dass die nicht für jedermann zugänglichen Paläste hauptsächlich als Fassaden wahrgenommen wurden und einen entsprechenden visuellen Niederschlag in der Ikonografie gefunden haben. Doch kehren wir zu den echten Bildern zurück: Die Fresken und Stuckreliefs aus Palästen und elitären Häusern, die man im HeraklionMuseum bestaunen kann, konnten nur von einem eingeschränkten Kreis, nämlich den darin residierenden Eliten und ihren Gästen, wahrgenommen werden. Diese Feststellung spielt eine entscheidende Rolle für das Verständnis der sozialen Funktion dieser großformatigen Darstellungen. Sie entfalteten nämlich ihre visuelle Wirkung lediglich in geschlossenen Räumen, in denen vor allem Mitglieder der privilegierten Klassen verkehrten. Weder dienten sie der sozialen Interaktion zwischen den herrschenden Schichten und der einfachen Bevölkerung, noch hat189

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ten sie das Ziel, die einfachen Leute zu informieren, zu beeindrucken, zu leiten oder einzuschüchtern, wie man es für zahlreiche Beispiele der antiken monumentalen Kunst mit guten Gründen annehmen kann. Sie reflektierten vielmehr die Lebensweise der Elite, befriedigten ihre gehobenen ästhetischen Bedürfnisse und erfüllten bei bestimmten Anlässen auch eine rituelle Funktion. Die Tatsache, dass diese Bilder an – im wahrsten Sinne des Wortes – ›gebildete‹ Betrachter adressiert waren, kann eventuell ihre semantische Ambiguität erklären. Götter, mythische Helden (?) und bedeutende Individuen erscheinen hier ohne jegliche erkennbare Attribute, offensichtlich weil sie für den Betrachter, welcher den Sinn und den symbolischen Hintergrund leicht erkennen konnte, überflüssig waren. Dies ist natürlich für den modernen Archäologen ein extrem ungünstiger Zustand, weil er nun vor diesen ›ahistorischen‹ Bildern, die stets Vorwissen voraussetzen, völlig ratlos dasteht. Die am dichtesten mit Bildern besetzten Räume der minoischen Kultur waren die heiligen Orte. Sowohl in den Höhenheiligtümern als auch in Kultgebäuden bzw. -räumen häuften sich Dutzende, Hunderte oder sogar Tausende von Statuetten und sicherlich andere mit Bildern ausgestattete Artefakte, welche die visuelle Wahrnehmung der Betrachter intensiv beanspruchten. Die Wirkung dieser ungewöhnlichen Fülle an Bildnissen wäre im Fall der Höhenheiligtümer durch die eindrucksvolle Kulisse der kretischen Landschaft sicherlich verstärkt worden. Nach dem mühevollen Aufstieg inmitten der wilden Natur erlebte jeder Besucher einen mächtigen visuellen Boom, der die besondere Bedeutung des Ortes explizit machte. Rezente Funde zeigen, dass es unter diesen tönernen Bildnissen auch einige gegeben hat, die nahezu Lebensgröße erreichten. Die Existenz von großformatigen Statuen macht auch der Fund der tönernen, fast lebensgroßen Statuen von Ajia Irini auf Keos, welche minoische Züge aufweisen, wahrscheinlich. Jeder Träger bot unterschiedliche Voraussetzungen für die Wahrnehmung und soziale Funktion des Bildes. An erster Stelle muss man hier die Tongefäße erwähnen, deren Oberfläche bereits seit der ersten Phase der minoischen Kultur sehr gern mit Motiven verschönert wurde. Am Anfang waren es nur lineare Ornamente. Die minoischen Töpfer zeigten, dass sie auch mit einfachen Linien ein ästhetisch anspruchsvolles Ergebnis erzielen konnten. Die richtige Platzierung und Geradlinigkeit 190

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der Striche auf den Gefäßen des FM I-zeitlichen Ajios Onouphrios-Stils, welche die eleganten Konturen der Gefäßform betonen, ist beeindruckend. Diese Gefäße sind keine Erstlingswerke, sondern besitzen trotz – oder gerade wegen – der Schlichtheit des Dekors eine zeitlose Eleganz. Komplexere lineare und pflanzliche Ornamente bereichern in den nächsten Keramikphasen das Motivrepertoire der kretischen Keramik, deren Oberflächengestaltung regional oder epochenbedingt ganz unterschiedliche Farben und Techniken aufweist. Einen ersten und kaum zu übertreffenden Höhepunkt erreicht diese Ornamentik mit der altpalastzeitlichen Kamares-Keramik, die vor allem in den Palastwerkstätten von Phaistos hergestellt wurde. Nicht nur der extrem dünnen Wandung der Gefäße, sondern auch ihrem bunten Dekor, der sich neben Weiß verschiedener Farbnuancen von Rot bis Orange bedient, und der unglaublichen Komplexität der Motive und Kompositionen verdankt diese Keramikgattung ihre starke Anziehungskraft sowohl für den antiken als auch für den modernen Betrachter. Hier wird die Absicht der Vasenmaler sichtbar, neben den Spiralen, Rosetten, Kreisen, Bändern, Linien und Netzgittern auch organische Formen wie Pflanzen und Fische so darzustellen, dass sie – auf ihre dekorative Essenz reduziert – als Bestandteil eines extrem komplexen und durchdachten geometrischen Gefüges genutzt wurden. Die Kamares-Töpfer experimentierten mit den Dekortechniken und bemühten sich, die Grenzen der Zweidimensionalität des Ornaments durch raue Oberflächen, Ritzungen, Rillen, plastische Zacken und Noppen, reliefierte Blüten und Muscheln sowie eingeprägte Motive aufzubrechen. Die neupalastzeitliche Keramik kehrt zu einer etwas konservativeren Dekortechnik zurück, die in der Regel dunkle Ornamente auf hellem Tongrund bevorzugt. Auch in dieser Periode überwiegen die geometrischen und pflanzlichen Ornamente. Der faszinierende Meeresstil, eine mit Meeresmotiven verzierte, palatiale Keramikgattung, stellt innerhalb dieser zeitlosen Dominanz des geometrischen und pflanzlichen Dekors ein kurzes Intermezzo während der Phase SM IB dar, das bereits in der nächsten Keramikphase (SM II) allmählich schwindet. In der kretischen Spätpalastzeit beschränkt sich das minoische Keramikrepertoire auf standardisierte Ornamente, die allmählich – offensichtlich unter dem Einfluss eines festländischen Geschmacks – schlichter und linearer werden. 191

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Im Laufe dieser langen Entwicklungsgeschichte, die fast zwei Jahrtausende umfasst, stellt man fest, dass Handlungsszenen oder Menschen bzw. Götter im minoischen Keramikdekor nie eine Rolle gespielt haben. Dieses Fehlen kann sicherlich kein Zufall sein, sondern reflektiert eher eine minoische Grundhaltung. Auch die Meerestiere und -pflanzen des neupalastzeitlichen Meeresstils stellen keine szenischen Kompositionen dar, bei denen die einzelnen Elemente dieses Bildes aufeinander bezogen sind, sodass sie einen bestimmten Aktionsraum konstituieren, sondern sie breiten sich wie ein handlungsloser dekorativer Teppich oder eine Wandtapete auf der Gefäßoberfläche aus. Wie kann man diesen Verzicht der kretischen Vasenmalerei auf Menschen und Handlungen erklären? Vermutlich hat es im minoischen Kreta nie das Bedürfnis gegeben, die Keramik als Träger von symbolträchtigen Handlungsbildern zu nutzen, wie z. B. im archaischen und klassischen Griechenland, wo die Vasen zu einem der wichtigsten Medien von mythischen, religiösen, historischen oder alltäglichen Szenen wurden. Im minoischen Kontext scheint der Keramikdekor dem Gefäß und seiner Form unterworfen zu sein. Seine Hauptfunktion bestand offensichtlich darin, die Fläche des Gefäßes zu verschönern und durch einzelne Motive oder eine durchdachte Komposition die dynamischen Konturen des Gefäßkörpers zu akzentuieren. Wegen dieser organischen Verbindung zwischen Dekor und Gefäßform hat man offensichtlich den menschlichen Körper als Motiv gemieden, da seine Linien die kühn gewölbten Gefäßoberflächen kaum so wirkungsvoll hätten umgreifen können wie die Tentakeln eines Oktopus oder ein harmonisches Rapportmuster von linearen Ornamenten, Pflanzen oder Meerestieren. Den linearen Motiven, die für lange Zeit neben Pflanzen und Tieren den minoischen Keramikdekor dominiert haben, darf man allerdings keineswegs einen symbolischen Gehalt absprechen. Es ist durchaus möglich, dass sie die Bedeutung von identitätsstiftenden Motiven hatten, wie die linearen Muster der schottischen Röcke, die für unterschiedliche Clans standen. Dadurch konnten bloße Farben und lineare Zeichnungen als erkennbare Zeichen einer bestimmten Gruppe, Lokalität oder Region eine wichtige soziale Signifikanz gewinnen. Im krassen Gegensatz zur Vasenmalerei steht die reliefierte Verzierung von neupalastzeitlichen Steingefäßen, die oft genau das zeigt, was 192

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auf der Oberfläche von Tongefäßen fehlt, nämlich Menschen in Handlungsszenen. Auf mehreren Steingefäßen aus Knossos, Kato Zakros und Ajia Triada sehen wir Rituale bzw. Zeremonien, Boxkämpfe und den minoischen Stiersprung. Diese Handlungen bildeten den Kern des Selbstverständnisses der minoischen Elite, das durch wirkungsvolle Bilder kommuniziert wurde. Die Steingefäße, welche diese Szenen getragen haben, müssen logischerweise im Rahmen solcher Rituale oder Zeremonien Verwendung gefunden haben. Es erscheint paradox, dass der überwiegende Teil der minoischen figürlichen Bilder, die uns erhalten geblieben sind, im Miniaturformat ausgeführt wurde. Es handelt sich um Tausende von Siegelbildern, die in Vielfalt und Fülle jede andere Gattung von Bildträgern weit übertreffen. Das Paradoxe besteht eigentlich darin, dass viele dieser Bilder mit all ihren vielfältigen Details in minoischer Zeit kaum oder nur unter äußerster Anstrengung visuell wahrgenommen werden konnten. Der Grund war nicht bloß ihr winziges Format, sondern auch die Materialität ihrer Träger, die sowohl die Siegel und Siegelringe als auch Siegelabdrücke auf Tonplomben betrifft. Auf mehreren Siegeln erschwerte die bunte Äderung des Steins, aus dem das Siegel geschnitten wurde, ein deutliches Erkennen des im Negativ dargestellten Motivs. Auf Tonplomben wurde das Siegel oft nur sehr hastig oder nicht zu Gänze abgedrückt. Dabei bot auch der räumliche Kontext ihrer Verwendung, nämlich Lagerräume oder Werkstätten der Palastadministration, sicherlich keine idealen Bedingungen für das eindeutige Erkennen der winzigen Bilder. Trotz dieser ungünstigen Verhältnisse ihrer visuellen Wahrnehmung hielten es die Minoer für wichtig, sehr komplexe und detailreiche Szenen im Miniaturformat zu produzieren, die man als Identifizierungszeichen eines Individuums, einer Gruppe, eines Amtes oder einer Institution benutzte. Eine Möglichkeit für moderne Forscher, diesen Widerspruch zu lösen, welche minoische Siegelbilder stets in mehrfacher Vergrößerung – und dadurch ganz anders als die Minoer selbst – zu betrachten pflegen, wäre die legitime Vermutung, dass viele dieser Bilder mittel- oder großformatige Vorbilder hatten, in erster Linie reliefierte Steingefäße oder Fresken und vor allem Stuckreliefs. Der Reichtum der minoischen Bilderwelt tritt auf eindrucksvolle Weise bereits in der Altpalastzeit und konkreter im Siegelarchiv des Pa193

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lastes von Phaistos vor unsere Augen. Die extensive Verwendung von Siegeln für die effektive Kontrolle von Räumen und administrativen Vorgängen machte die Entwicklung eines umfangreichen Ensembles von Bildern notwendig, die als Identitätszeichen von Individuen, Ämtern oder Gruppen fungierten. Neben traditionellen Motiven, die ihren Ursprung in den Anfangsphasen der Siegelglyptik in der frühen Vorpalastzeit haben (Gittermuster), tauchen nun komplexere lineare Motive, aber auch Tiere, die zum ersten Mal in einem landschaftlichen Raum eingebettet sind, ›minoische Genii‹ und schließlich Menschen in unterschiedlichen Handlungen auf. Als Ganzes betrachtet schaut diese vielfältige Bildsprache sowohl zurück in die Vergangenheit, indem sie eine zu diesem Zeitpunkt bereits jahrhundertelange Tradition der vorpalastzeitlichen Siegelikonografie bewahrt, als auch nach vorn, indem sie einige kühne minoische Bildkonzepte (Einbettung der dargestellten Handlung in einen echten Raum) ankündigt. Der besondere historische Wert dieser Gruppe besteht auch darin, dass sie den wichtigsten und umfangreichsten Ausdruck einer nicht-knossischen Ikonografie darstellt und uns dadurch einen Einblick in die Herausbildung von lokalen Traditionen ermöglicht. Die dynamische Entwicklung der minoischen Bilderwelt, die in den Siegelbildern des Phaistos-Archivs greifbar wird, erreicht ihren Höhepunkt in der Neupalastzeit. Dieser deutliche Entwicklungssprung im Hinblick auf Thematik, Bildsyntax und Stil kann nicht als eine rein künstlerische Entwicklung betrachtet werden. Er war vielmehr das Produkt jenes soziopolitischen Prozesses, der die minoische Gesellschaft in der Neupalastzeit drastisch verändert hat und Knossos zum dominanten Herrschaftszentrum Kretas machte. Die Bildsprache wurde zu einem der wichtigsten Instrumente für den visuellen Ausdruck der knossischen Ideologie, aber auch für deren Festigung. Ihre Träger waren die Wände des Palastes von Knossos und elitärer Häuser, mobile Gegenstände winzigen oder mittleren Formats wie Ton- und Steingefäße, Siegel und gelegentlich auch andere Artefakte. Wenn man von den Tongefäßen absieht, die, wie bereits erwähnt, sehr konsequent szenische Darstellungen meiden, breitet sich in den Medien der Neupalastzeit eine vielfältige, lebendige Bilderwelt aus, in der Götter, Mischwesen, Menschen und die Natur verewigt werden. Diese Bilderwelt ist nichts anderes als das mi194

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Abb. 17: Der ›minoische Genius‹; Altpalastzeitlicher Siegelabdruck aus dem Palast von Phaistos.

noische ›Bild der Welt‹, zumindest das Bild einer Welt der minoischen Elite in der Neupalastzeit. Wir haben es mit einer komplexen, symbolträchtigen Ikonografie zu tun, die in Knossos herausgebildet wurde und von dort im Zuge der expansiven Bewegung des größten minoischen Palastzentrums alle kretischen Regionen in unterschiedlicher Intensität und Ausprägung erfasste. Die Grundzüge der minoischen ikonografischen Tradition, die hier ihre reifste Ausprägung erfährt, lassen sich deutlich herausarbeiten: Feste, Zeremonien und Rituale, in denen Männer und Frauen in unterschiedlichen Handlungen gezeigt werden, stellen den dominanten Themenzyklus dar. Eine klare Trennung dieser sich überschneidenden ›Kategorien‹ von außeralltäglichen Erfahrungen (Fest, Zeremonie, Ritual) ist in den meisten Fällen nicht möglich. Die Schönheit der Natur wird hier mit illusionistischen Darstellungen von Landschaften gefeiert, die aus willkürlichen Kombinationen von Pflanzen und Tieren bestehen. Die minoischen Künstler bezweckten keine exakte Darstellung der Realität, sondern kreierten 195

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eine fantastische Welt, die aus bunten Pflanzen und Tieren in Bewegung bestand. Betrachtet man das minoische Bildrepertoire als Ganzes, wird der agrarische bzw. bukolische Charakter dieser Gesellschaft explizit. Wilde oder domestizierte Tiere dominieren gegenüber den Darstellungen von Menschen bzw. Göttern und ›Dämonen‹ und machen deutlich, wie groß ihr symbolischer und materieller Stellenwert als Verkörperung der natürlichen Umwelt und damit der Existenzgrundlage für den Menschen war. Die Menschenbilder zeigen vor allem Jugend und Dynamik und scheinen die anmutigen Körper und Kleider zu betonen, welche als stimmungsvolle ›visuelle Hintergrundmusik‹ die geschilderte Handlung beleben. Wir müssen allerdings immer wieder Fragen stellen, nicht nur über das, was wir sehen, sondern auch über das, was unsichtbar bleibt. Es gibt einige Themen, die seltsamerweise in der minoischen Bilderwelt fehlen oder nur schwach vertreten sind. Das ›seltsamerweise‹ reflektiert natürlich unsere heutige Sicht der Dinge, die Sicht der Archäologen, die – vorgeprägt von modernen gedanklichen Konstrukten – oft staunen, wenn sie mit antiken Realitäten konfrontiert werden, welche bestimmte Themen oder Lebensbereiche ganz anders als die Gegenwart gewichteten. Das extrem sporadische Auftreten von Alltagsszenen wurde bereits oben kurz angesprochen. Die neupalastzeitliche Ikonografie zeigt eine eindeutige Fixierung auf außeralltägliche Themen, was eigentlich wegen des repräsentativen Charakters dieses Mediums nicht überraschend ist. Zwei weitere auffällige Beispiele von fehlenden oder schwach vertretenen Bildthemen stellen das Meer und die Gewalt dar. Die maritimen Themen in der vor-, alt- und neupalastzeitliche Bilderwelt sind – mit Ausnahme der Meeresstilkeramik in SM IB – nur schwach vertreten, was zunächst befremdlich erscheint. Doch dieses Phänomen wirkt weniger paradox, wenn man einen diachronen Blick auf die kretische Kunst von der Ikonografie der minoischen Zeit bis in die Volkskunst der Neuzeit wirft. Hier herrschen ganz eindeutig Tiere und Pflanzen vor, während die Meereswelt eine eher untergeordnete Rolle spielt. Die Präferenz für die terrestrische und nicht die maritime Welt wird verständlich, wenn man bedenkt, dass Kreta für die überwiegende Mehrheit seiner Bevölkerung von der Antike bis in die Moderne, wie bereits erwähnt (c Kap. 3), nicht als Insel, sondern als Festland wahrgenommen wurde. 196

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Was das sporadische Vorkommen von Gewaltszenen betrifft, ist es immer noch schwer, eine klare Beurteilung zu geben. Zunächst muss man betonen, dass minoische Darstellungen von bewaffnetem Duell oder Verfolgung nicht gänzlich unbekannt sind. Hier könnte man auch die Jagd erwähnen, deren semantischer Gehalt als reale Aktion und Bildthema dem Krieg sehr nahe steht. Dies gilt auch für den Boxkampf, eine gewalttätige Sportart, deren besondere Bedeutung für die minoische Elite durch relevante ikonografische Zeugnisse, wie z. B. reliefierte Steingefäße oder Tonstatuetten in Höhenheiligtümern, evident ist. Auch wenn man die vorherrschende Meinung der älteren Forschung von einer Friedfertigkeit der Minoer relativieren muss, kann man nicht verkennen, dass Gewaltbilder – im Gegensatz zu der mehr oder minder gleichzeitigen Ikonografie der festländischen Schachtgräberzeit – nicht den Hauptakzent der neupalastzeitlichen Bilderwelt darstellten. Zu dieser eher sekundären Bedeutung von bloßen Machtdarstellungen passt auch das Fehlen einer dominanten Gestalt, die wir eindeutig als Herrscher oder Herrscherin identifizieren können. Diese Absenz muss nicht als Hinweis auf das tatsächliche Fehlen eines politischen Oberhauptes in der minoischen Gesellschaft verstanden werden, sondern vielmehr auf die fehlende Notwendigkeit, es in den Bildmedien darzustellen. Auf der Suche nach einer Erklärung für diese beiden ikonografischen ›Lücken‹ muss man zunächst berücksichtigen, dass, wie bereits erwähnt wurde, diese variationsreiche und originelle Bilderwelt in der Regel aus dem Inneren bzw. aus der unmittelbaren Umgebung der Paläste stammte, mit anderen Worten: aus dem Lebensraum der Elite. Wenn die unteren sozialen Schichten als hauptsächliche Adressaten dieser Bilder ausscheiden, kann die Hauptfunktion der Bilder nicht darin bestanden haben, die Bevölkerung durch die Visualisierung roher Gewalt zu beeindrucken oder einzuschüchtern. Nimmt man eine ausschließlich elitäre Sphäre als Wahrnehmungskontext der neupalastzeitlichen Bilderwelt an, dann fällt es leichter, die Präferenz der Mitglieder der Oberklasse zu erklären, ihre Residenzen und kostbaren Besitztümer mit festlichen und ästhetisch anmutenden Bildern zu schmücken. Was wir hier sehen, ist also kein spontaner künstlerischer Ausdruck eines Kollektivs, sondern das ideologische Produkt einer Elite, die eher friedvolle Bilder in das Zentrum ihres exklusiven Selbstverständnisses stellte. 197

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Eine solche Grundhaltung der minoischen Elite könnte zwar die Präferenz von anmutigen ›Stimmungsbildern‹ gegenüber Gewaltszenen erklären, nicht allerdings die deutliche Dominanz von religiösen Zeremonien, Festen oder Ritualen unter den dargestellten Handlungsszenen. Es ist nicht nur ihre Fülle, die beindruckt, sondern auch ihre häufige Anbringung an den Wänden des Palastes von Knossos oder auf kostbaren Objekten (darunter Goldringen), die für eine große gesellschaftliche und politische Signifikanz des religiösen Bereiches spricht. Die Identität der dargestellten Personen bleibt uns wegen des gänzlichen Fehlens von Begleittexten und der generellen visuellen Ambivalenz der minoischen Bilder verborgen. In vielen Fällen kann man nicht unterscheiden, ob die dargestellte Gestalt Gottheit oder Mensch ist. Auch wenn wir wegen dieser Probleme vorerst nicht tiefer in den semantischen Gehalt der Bildthemen eindringen können, ist doch offenkundig, dass diese nichtalltäglichen Handlungen eine zentrale Position in der minoischen Gesellschaft einnahmen. Die elitären Bildträger, in erster Linie Fresken und Goldringe, lassen keinen Zweifel daran, dass das Dargestellte die Ideologie der Staatsinstitution und der herrschenden Elite visuell artikulierte. Reicht diese Erkenntnis jedoch aus, um die Vermutung aufzustellen, dass die politische Herrschaft auf Kreta theokratische Fundamente hatte? Zunächst muss man hier eingestehen, dass die religiöse Komponente von Szenen, die wir als ›Feste‹, ›Rituale‹ oder ›Zeremonien‹ bezeichnen, nicht ohne Weiteres als eine Selbstverständlichkeit betrachtet werden kann. Einige der dargestellten Prozessionen müssen nicht unbedingt einen religiösen Hintergrund gehabt haben. Es wäre durchaus möglich, dass es sich dabei auch um glanzvolle Staatszeremonien handelte, bei denen sich die politische Elite selbst feierte. Nichtsdestotrotz muss ein beträchtlicher Teil dieser Bilder Kultaktivitäten darstellen. Dies gilt insbesondere für die unten zu besprechenden ›Götterepiphanien‹ (c Kap. 12) und andere rituelle Handlungen. Für ihre eindeutige visuelle Prominenz gibt es eigentlich nur zwei interpretatorische Möglichkeiten, die beide unausweichlich zu einem ähnlichen Schluss führen: Entweder identifizierte sich die Elite mittels Kultdarstellungen, die eine wie auch immer geartete Nähe zur Religion belegen, oder diese Objekte gehörten einer Priesteraristokratie, welche die wichtigsten politischen Ämter bekleidete. 198

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Auch bei diesem Problem sprechen die vorhandenen Bildquellen leider nicht eindeutig für die eine oder für die andere Möglichkeit. Hinzu kommen die üblichen methodischen Probleme, mit denen die Interpretation von Bildern ohne Informationen aus zeitgleichen Schriftquellen behaftet ist. Die analytischen Kategorien, welche die Archäologen für ihre Interpretation verwenden, sind unvermeidlich sehr abstrakt und haben fließende semantische Grenzen. Es wird auch in der Zukunft ohne einschlägige schriftliche Quellen kaum möglich sein, mit Sicherheit zu entscheiden, ob die minoische Elite in ihrem Kern einen politischen oder religiösen Charakter besaß. Vielleicht handelt es sich hier auch um ein Pseudoproblem, da die herrschende Klasse beide Funktionen innehaben konnte. Wenn man diese Bilder tatsächlich als visuelle Manifestation eines nicht unbedingt klerikalen, aber doch zumindest theokratisch legitimierten politischen Systems betrachten darf, dann unterschied sich Letzteres im Grunde nicht wesentlich von dem der orientalischen Monarchien. Dennoch eröffnet die minoische Ikonografie einen sehr eigenartigen Blick auf zeremonielle Handlungen, die in den künstlerischen Traditionen Ägyptens und Vorderasiens fehlen. Der Fokus liegt nämlich nicht oder zumindest nicht nur auf Göttern, sondern auf dem aktiv oder passiv partizipierenden Kollektiv. Dies wird sowohl auf den Goldringen deutlich, deren Bilder oft Auszüge aus größeren Szenen zeigen, welche nicht den Empfänger einer Prozession, sondern die Prozessionsteilnehmer darstellen. In den knossischen Wandmalereien sieht man, wie bereits erwähnt, neben dem eigentlichen Ritual oder der performativen Handlung auch das Publikum, das einen großen Teil der Szene einnimmt. Dieses Motiv, das im Kontext der bronzezeitlichen Kulturen – wenn man von einzelnen ›Betrachtern‹ absieht – singulär bleibt, kehrt in der antiken Kunst erst nach ca. neun Jahrhunderten auf einem schwarzfigurigen Krater des Sophilos zurück, um dann wieder bis in die römische Periode zu verschwinden. Ein theokratisches System, das im Kontext der visuellen Repräsentation neben dem Gott oder dem König die Festgemeinschaft in den Vordergrund stellt, ist im Kontext der orientalischen Monarchien eine einzigartige Erscheinung. Vielleicht liegt dieser Einzigartigkeit der minoischen Kultur eine konkrete ideologische Strategie der minoischen herrschenden Eliten zugrunde, eine gut überlegte ›Charmeoffensive‹, die die unverhüllte Dar199

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stellung von Macht durch eine visuelle Manifestation der Nähe, Partizipation der Gruppe und somit sozialer Kohärenz ersetzte.

Stil als Bedeutungsträger Nicht nur der Inhalt, sondern auch der Stil dieser Bilder ist aussagekräftig und kann uns entscheidende Hinweise darauf geben, wie die Minoer die Welt wahrgenommen und ihre visuellen Eindrücke in zwei- und dreidimensionalen Abbildungen festgehalten haben. Durch die Formgestaltung der organischen Vorbilder, die ikonografischen Konventionen und die syntaktischen Prinzipien der Bildkomposition kommt das ›innere Auge‹ der Künstler zum Vorschein, das sich sowohl von den zeitgleichen als auch von den späteren Kunsttraditionen im östlichen Mittelmeerraum so grundsätzlich unterschied. Die minoischen Augenblicksbilder von Menschen und Tieren in ›absoluter Mobilität‹, die den Eindruck vermitteln, über ihren flachen zweidimensionalen Rahmen hinaus in den Raum springen zu wollen, ja sogar von Bäumen und Pflanzen, die vom Wind belebt werden, stehen im krassen Gegensatz zu den meist statischen und unbewegten Darstellungen der ägyptischen und orientalischen Kunst. Durch die unterschiedliche Materialität des Mediums erhielt der minoische ›naturalistische‹ Stil verschiedene Ausprägungen. Im Keramikornament bleibt der Naturalismus, wie bereits erwähnt, rein dekorativen Prinzipien verhaftet. Die besondere Fähigkeit der Minoer, organische Formen in kraftvolle Ornamente zu verwandeln, zeigen Motive wie die Tentakel von Tintenfischen, die spiralförmig enden. Die Fresken verdanken ihre lebhafte, expressive Qualität nicht dem Versuch der minoischen Maler, die Realität so getreu wie möglich zu kopieren, sondern ihrem Vermögen, sie in Formen umzugestalten, die sich stets in einer latenten oder bereits vollzogenen Bewegung befinden. Das Geheimnis dieses Stils ist die gekrümmte Linie. Während die Körperfläche von Menschen und Tieren eine neutrale Masse bleibt, die nicht einmal ansatzweise realistisch wiedergeben wurde, übernimmt eine kraftvolle Konturfüh200

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rung die Aufgabe, ihnen Elastizität zu verleihen. Durch diesen Wesenszug des minoischen Stils wirken die Darstellungen von Menschen, Tieren und Pflanzen allerdings flach und erinnern gewissermaßen an die Formgebung der japanischen Malerei. Die Farbgebung war eine weitere ikonografische Konvention, welche diese Bilder zusätzlich von der Realität entfernte und sie zugleich noch anmutiger machte. Die bunten, wenn auch dezenten Farben, welche die minoischen Freskomaler benutzten, hielten sich nicht unbedingt an ihre natürlichen Vorbilder, doch waren sie fein aufeinander abgestimmt und trugen Wesentliches zur ästhetischen Wirkung der gesamten Komposition bei. Erst in den dreidimensionalen Bildern, nämlich den Statuetten und Reliefs, erkennt man eine eindeutige Tendenz zum Realismus. Das Innere von Menschen- und Tierbildern wird hier mit Muskulatur oder anderen anatomischen Details belebt. Die unterschiedlichen Ausprägungen des minoischen Naturalismus in verschiedenen Medien lassen sich nicht leicht erklären. Vermutlich handelt es sich hier um das Ergebnis von unterschiedlichen Kunsttraditionen, bei denen sich im Laufe einer langen und ununterbrochenen Entwicklung bestimmte Stilmittel und ikonografische Konventionen herauskristallisiert haben, um dann weitertradiert zu werden. Diese bemerkenswerten Gestaltungsprinzipien der minoischen Bilder standen im Einklang mit ihrer ahistorischen Thematik, die kein dezidiertes Interesse zeigte, Leistungen von einzelnen Personen oder Gruppen zu dokumentieren, sondern die Natur feierte und Menschen in einer zyklischen Zeit wiedergab, die durch religiöse oder zeremonielle Höhepunkte gegliedert war. Das Ergebnis dieses harmonischen Verhältnisses von Form, Syntax und Inhalt war eine Bildsprache von zeitloser Qualität, die auch einige Jahrtausende nach ihrer Entstehung nichts von ihrer fesselnden Wirkung auf den Betrachter eingebüßt hat.

Schrift Die Anfänge eines kulturellen Phänomens oder Prozesses liegen, wie wir bereits gesehen haben, im Dunkeln – und dies gilt auch im Fall der mi201

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noischen Schrift. Wenn wir allerdings rein konventionell einen Anfang dieses Mediums postulieren wollen, müssen wir weit zurück in die Vergangenheit gehen, konkreter bis zum Ende des dritten Jahrtausends v. Chr., einer Epoche nämlich, in der in verschiedenen Regionen des minoischen Kreta immer mehr Tonplomben oder Tongegenstände mit einem Siegelabdruck versehen wurden. Der Abdruck eines Siegels fungierte als Zeichen oder Sinnbild einer Person oder Institution, die durch ein individuelles Symbol ihren Besitz markierte oder ihre Verantwortung, Zuständigkeit oder Mitwirkung attestierte. Die primäre Funktion eines Siegelmotivs war eine identifizierende, nämlich als bildlicher Verweis auf eine Person, ein Amt oder eine Institution. Da die meisten Siegelmotive auch eine ikonische Qualität besaßen (ein konkretes Bildmotiv), könnten sie auch eine symbolische Funktion als Ausdruck der Ideologie eines Individuums oder eines Kollektivs besessen haben. Dies gilt nicht nur für figürliche Darstellungen, sondern auch für abstrakte Motive, weil auch Letztere einen symbolischen Wert innehaben können. Die Siegelmotive fungierten als Zeichen eines visuellen Kodex, der allerdings ein eingeschränktes mediales Potenzial besaß. Sie konnten zwar mit einem ›Schlagbild‹ Besitz, Verantwortung oder Mitwirkung der Person des Siegelbenutzers bekunden, jedoch keine komplexeren Botschaften übermitteln. Letzteres Bedürfnis konnte nur ein Schriftsystem befriedigen, das sich im Fall des minoischen Kreta allem Anschein nach im Verwendungskontext dieser Siegelbilder entwickelte. Ausgelöst wurde diese mediale Revolution eindeutig durch die Entstehung der ersten Palastzentren auf der Insel. Für die Organisation dieser mächtigen politischen und administrativen Instanzen waren Kommunikationsund Speicherungsmedien grundlegend, weil sie es ermöglichten, die enge Grenze eines ›Face to Face‹-Informationsaustausches zu überschreiten. Auch wenn die entwicklungsgeschichtliche Beziehung zwischen Siegelpraxis und Schrift noch nicht mit Sicherheit geklärt werden kann, ist es sehr wahrscheinlich, dass die Erfindung eines Schriftsystems eine indigene geistige Leistung der Minoer war, die vieles den Siegeln und ihrer Verwendung als Stempelgeräte verdankte. Gegen Ende der Vorpalastzeit können wir zwei Entwicklungen beobachten, die zunächst nicht miteinander verknüpft zu sein scheinen. Zum einen tauchen Siegelbilder mit einem dezidiert zeichenhaften Charakter auf, welche mit klaren 202

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Linien wiedergegeben werden und isoliert auf der Siegelfläche stehen. Zum anderen scheinen Siegel mit zwei Siegelflächen, wie die Elfenbeinzylinder, die ›Kommunikationsbedürfnisse‹ der Minoer nicht mehr zu befriedigen und werden durch neue Siegeltypen prismatischer Form mit drei, vier oder sogar sechs Siegelflächen erweitert. Mit diesen multiplen Stempelgeräten konnten die Siegelinhaber mehr als nur eine ›Botschaft‹ durch das Eindrücken einer Siegelfläche auf den feuchten Ton einer Tonplombe oder eines Gegenstands übermitteln. Genau dieses anspruchsvollere mediale Potenzial der Siegel mit mehreren Siegelflächen könnte als Impulsgeber für die Entstehung der Schrift im minoischen Kreta gedient haben. Dass ihre Ursprünge somit ›typografisch‹ waren, wird durch die Tatsache verstärkt, dass die frühesten Zeichensequenzen entweder auf Siegeln oder auf Siegelabdrücken vorkommen. Ein Siegel mit nicht weniger als 14 (!) Siegelflächen aus der Nekropole von Phourni bei Archanes (unweit von Knossos) – darunter einige piktografische Zeichen und eine Inschrift – könnte als eine Art ›Schreibmaschine‹ des 20. Jahrhunderts v. Chr. fungiert haben. Für die medialen Aspekte der Schrift ist hier von besonderem Interesse, dass mit solchen Siegeln rein theoretisch auch eine nicht-schriftkundige Person hätte ›schreiben‹ können. Denn es würde genügen, das Siegel auf eine feuchte Tonmasse zu drücken, um eine konkrete und unmissverständliche Botschaft zu übermitteln. Der nächste und unvermeidliche Entwicklungsschritt, nämlich die Zeichen nicht mittels Stempelgeräten einzudrücken, sondern sie mit Hilfe eines Griffels einzuritzen, leitete den Beginn der echten Schriftpraxis auf Kreta ein, die nun auch ohne die Verwendung von Siegeln möglich war. Innerhalb von wenigen Generationen entwickelten sich rasch zwei unterschiedliche Schriftsysteme, die beide leider noch nicht entziffert werden konnten: die sogenannten kretischen Hieroglyphen (mit piktografischem, bildhaftem Charakter) und die sogenannte Linear-A-Schrift (mit stark schematisierten und abstrahierten Zeichen), die interessanterweise, wie bereits erwähnt (c Kap. 4), von unterschiedlichen Palastzentren benutzt wurden, was allem Anschein nach auf die politische Unabhängigkeit derselben hinweist. Für unsere Belange ist die Verbreitung dieser Schriftsysteme in unterschiedlichen sozialen Kontexten entscheidend: Sie wurden nicht nur in der Administration als Verzeichnisse benutzt, sondern tauchen vermehrt auch im Bereich des Kul203

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tes und dem der elitären Selbstrepräsentation auf. Eine breite Palette von beschrifteten Objekten wie Stein- und Tongefäße, Steinaltäre, Ringe und Schmuckstücke macht explizit, dass man im minoischen Kreta das kommunikative Potenzial der Schrift rasch erkannte und sie auch außerhalb der engen Grenzen der Palastadministration einsetzte. Eine besondere Erwähnung verdient hier der berühmte Diskus von Phaistos, der vor allem Laien fasziniert und den Archäologen und Linguisten bis heute Kopfzerbrechen bereitet. Es handelt sich um eine Scheibe aus gebranntem Ton mit 16,5 Zentimetern Durchmesser, die in einem Raum des Neuen Palastes von Phaistos ans Licht kam. Sie trägt auf beiden Seiten eingestempelte piktografische Zeichen in einer spiralförmigen Anordnung. Verschiedene Zeichengruppen wiederholen sich, was eventuell auf einen Hymnus oder einen rituellen Text hinweisen könnte. Die Vorlagen für die einzelnen Zeichen lassen sich in den meisten Fällen einwandfrei erkennen. Sie zeigen Männer, Frauen, Kinder, Vögel, Fische, Tierköpfe, eine Tierhaut, Insekten, Pflanzen, Blumen, Zweige, Waffen und Geräte, Schiffe, Wasser, ein Haus und anderes. Sie lassen sich jedoch nicht mit den kretischen Hieroglyphen und noch weniger mit der Linear-A-Schrift verbinden und finden nur vereinzelte Parallelen auf anderen beschrifteten Objekten, wie der Doppelaxt aus Arkalochori oder dem goldenen Ring von Mavrospilio. Die unzähligen Entzifferungsversuche, die meistens von Laien stammen, verraten leider mehr über die blühende Fantasie der potenziellen Entzifferer als über den eigentlichen Inhalt und Charakter dieses rätselhaften Textes. Nach dem Zusammenbruch der meisten minoischen Palastzentren im 15. Jahrhundert v. Chr. (Ende von SM IB) begann eine Zeit, in der Kreta unter einem sehr starken mykenischen Einfluss steht. Das wichtigste Indiz dieses Mykenisierungsprozesses, den man in der materiellen Kultur zwar eindeutig erkennt, ohne allerdings die dahinterliegenden historischen Faktoren verstehen zu können, ist die Entstehung eines neuen Schriftsystems, das seit Evans konventionell als Linear B bezeichnet wird. Eines oder mehrere mykenische Fürstentümer, die ihren Einfluss bis nach Kreta ausweiteten und in intensiven Kontakt mit minoischen kulturellen Werten gekommen sind, entwickelten die minoische Linear-A-Schrift weiter für die schriftliche Fixierung ihrer Sprache, die eine Frühform des Griechischen darstellt. Als wahrschein204

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Abb. 18: Der Diskus von Phaistos.

lichster Ort dieser entscheidenden kulturellen Transformation gilt der Palast von Knossos. Aus der letzten Phase dieses Palastes, der Periode der starken mykenischen Präsenz auf der Insel, stammen auch die meisten Linear-B-Täfelchen. Sie bezeugen, dass Knossos auch mehrere Jahrzehnte oder sogar Generationen nach der Zerstörung der übrigen Palastzentren der Sitz eines zentralistischen administrativen Systems war, das genauso wie die mykenischen Palastzentren operierte. Ein interessanter Aspekt der Entwicklung von Linear A zu Linear B ist die eindeutige Beschränkung der Letzteren auf nur einen sozialen Bereich – zumindest wenn wir den uns erhaltenen Quellen vertrauen wollen. Die Linear-B-Täfelchen erfüllten nämlich ihre Funktion nur innerhalb des geschlossenen administrativen Kreislaufes der Palastzentren. Mit dieser Einschränkung der operativen Sphäre der Schrift ging auch die Einschränkung ihrer Inhalte einher. Sämtliche Texte beziehen sich ausschließlich auf verwaltungstechnische Aktivitäten, die nie die Grenzen des laufenden administrativen Jahres überschritten. Die Tontafeln waren somit keine ›Archive‹ im strengen Sinne, sondern ›prozessgenerierte‹ Akten, die in der Regel in ein stringentes Gefüge von vorgeschriebenen administrativen Schrittfolgen eingebettet waren, wo sie als temporärer ›Zwischenspeicher‹ dienten. Nahezu alle uns bekannten Linear-B-Texte sind Verzeichnisse. Mykenische Schrift bedeutet eigentlich: zählen und nicht erzählen. Mit der strikten Beschränkung der 205

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Schrift auf den administrativen Kontext büßt Linear B einen großen Teil des kommunikativen Potenzials von Linear A ein und wird von einem echten Medium sozialer Interaktion zu einem Instrument administrativer Kontrolle.

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Alltagswelten

»Iconography offers little evidence about the cultural attitudes of rural shepherds.« (Thomas Palaima)21

Das Alltagsleben erfuhr sowohl in der minoischen Bildsprache als auch in der traditionellen Archäologie eine weitgehend stiefmütterliche Behandlung: In beiden Fällen lag das Hauptaugenmerk auf dem Glanz des Nicht-Alltäglichen. Erst in den letzten Jahrzehnten erwachte das Interesse der archäologischen Forschung an den profanen Zeugnissen der materiellen Kultur der Minoer, die auf den ersten Blick bescheiden zu sein scheinen, aber doch eine Vielzahl von Informationen nicht nur über die Lebensweise, sondern auch über die Mentalität dieser Menschen liefern können. Einen entscheidenden Beitrag dazu leisten die neuen naturwissenschaftlichen Methoden, indem sie die vielen Lücken der archäologischen Überlieferung mit zuverlässigen Informationen schließen. Wie zahlreiche eindrucksvolle Ergebnisse insbesondere aus den letzten beiden Jahrzehnten gezeigt haben, können Geografie, Anthropologie, Paläopathologie, Archäozoologie und Archäobotanik viele Aspekte des minoischen Alltags beleuchten. Neben den Erkenntnissen, die man bis jetzt anhand der traditionellen archäologischen Methoden gewinnen konnte und die sich auf Architektur und Wirtschaftsweise bezogen haben, erweitern die neuen Methoden unseren Erkenntnishorizont wesentlich, indem sie uns Informationen über die landschaftliche Umgebung, den Speiseplan, die körperlichen Betätigungen und die Krankheiten der Minoer liefern. Insbesondere die Anwendung von mo21 Palaima, Thomas 1999: Mycenaean Militarism from a Textual Perspective: Onomastics in Context. lawos, damos, klewos, in: Robert Laffineur (Hg.): Polemos. Le contexte guerrier en Égée á l’âge du Bronze, Liège/Austin, S. 370.

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dernen forensischen Methoden, die von Skeletten eine Vielfalt an Fakten über das Leben eines Individuums gewinnen können, geben uns praktisch die Möglichkeit, die minoischen Toten zu ›interviewen‹ und so zahlreiche Details über ihre Biografie zu erfahren, die man nicht im Entferntesten mit den traditionellen Methoden hätte sichern können.

Alltag im Bild Alltagsdarstellungen sind in der minoischen Bildsprache sehr selten. Nahezu alle Handlungen, die in unterschiedlichen Medien verewigt wurden, werden als zeremonielle, rituelle oder mythische Episoden gedeutet. Auch wenn man nicht in jedem einzelnen Fall definitiv sicher sein kann, dass diese Interpretation stimmt, scheint es, dass die Minoer kein großes Interesse daran gezeigt haben, ihren alltäglichen Handlungen einen bildlichen Ausdruck zu geben. Ein Grund dafür, der auch für die meisten anderen vormodernen Kunsttraditionen gilt, liegt auf der Hand. Alltägliche Handlungen haben keinen besonders repräsentativen Gehalt und werden daher nur selten in Bildern verdichtet, da Letztere in der Regel symbolische Botschaften artikulierten. Vor dem Hintergrund dieses diachronen Phänomens darf es daher nicht überraschen, dass in der minoischen Bilderwelt Alltagsbilder nur sporadisch vorkommen. An erster Stelle ist hier die Gruppe von Alltagsbildern aus der Siegelwerkstatt des altpalastzeitlichen Malia zu erwähnen. Die Bildmotive einiger Siegel dieser Gruppe können entweder als alltägliche Handlungen (Transport von Gefäßen) oder sogar als Berufsdarstellungen (Fischer, Töpfer) gedeutet werden. Wegen des Fehlens von ähnlichen Bildern an anderen kretischen Fundorten stellt sich hier natürlich die Frage, warum alltägliche Aktivitäten für das Selbstverständnis dieses Palastzentrums eine wichtige Rolle spielten. Vielleicht hängt diese singuläre Erscheinung damit zusammen, dass die Siegelmotive und insbesondere die ›Berufsdarstellungen‹ keine bloßen Bilder waren, sondern 208

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als visuelle Angabe eines bestimmten Berufsstandes einen ausgeprägt zeichenhaften Charakter innehatten. Ob eines der bekanntesten Meisterwerke der minoischen Kultur, die sogenannte Schnittervase aus Ajia Triada, eine Alltagsszene zeigt, ist zwar nicht erwiesen, allerdings sehr wahrscheinlich: Nach der Getreideernte kehrt eine Gruppe von Landarbeitern fröhlich nach Hause zurück. Mit ihren dreizackigen Geräten auf der Schulter laufen sie paarweise in einer Reihe, deren Ordnung im hinteren Teil, wie bei einer undisziplinierten Schulklasse, aufgelockert wird. Eine singende Gruppe, an der die fröhliche Menge vorbeimarschiert, begleitet dieses Ereignis und verleiht dem Bild eine akustische Dimension, durch welche diese kraftvolle Szene noch lebendiger wirkt. Auch wenn man nicht ganz ausschließen kann, dass wir es hier mit einer feierlichen Zeremonie zu tun haben, neigt man eher dazu, in dieser Szene eine ausgelassene Episode des minoischen Alltags zu erkennen.

Abb. 19: Steatit-Vase aus Ajia Triada mit Reliefdarstellung (›Schnittervase‹).

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B. Ein anatomischer Blick auf die minoische Gesellschaft

Das dörfliche und das ›städtische‹ Alltagsleben Angesichts des weitgehenden Fehlens von Alltagsbildern und natürlich des Fehlens von relevanten schriftlichen Quellen sind wir für die Rekonstruktion der minoischen Alltagswelten auf andere Zeugnisse angewiesen. Beginnen wir mit dem Wissen, das man mithilfe der traditionellen Methoden sichern kann. Das Leben in den kleinen minoischen Siedlungen dürfte sich nicht wesentlich vom heutigen Alltag zahlreicher kretischer Dörfer in abgelegenen Regionen der Insel unterschieden haben, die von den Folgen des Tourismus kaum betroffen sind. Der architektonisch gestaltete Lebensraum bestand aus einer Gruppe von kleinen Häusern, oft dicht nebeneinander gebaut und durch enge verwinkelte Gassen erreichbar, welche den Einwohnern einen elementaren Schutz vor Angreifern boten. In ihren kleinen Räumen lebten Menschen und Tiere in nächster Nähe. Die Ausstattung der Haushalte beschränkte sich auf das absolut Wesentliche: ein Herd oder eine Feuerstelle zum Kochen und Sich-Wärmen, schlichte Schlafgelegenheiten, kleine Lagerräume für Nahrungsmittel und Bereiche für kleine Hausindustrien oder kleine Werkstätten. Toiletten fehlten, Tierställe und bisweilen auch Küchen lagen außerhalb des Hauses. Ein kleines Heiligtum für die gesamte Gemeinde könnte – musste allerdings nicht – in einem der kleinen Bauten untergebracht worden sein. Öffentliche Räume in Form eines offenen Platzes waren nicht unbedingt notwendig. So präsentieren sich uns die vollständig ausgegrabenen Siedlungen von Myrtos/Phournou Koryphi und Trypiti in der Vorpalastzeit und so dürfen wir uns die meisten der kleinen minoischen Dörfer auch in den späteren Perioden vorstellen. Die fortschreitende Urbanisierung, die in den großen Palastzentren oder florierenden Küstensiedlungen, wie Gournia und Palaikastro, durch die Stadtplanung und Kanalisation greifbar wird, hat nie die minoischen Bergdörfer erreicht. Die eindrucksvolle Verbesserung der Lebensstandards war klassenbezogen und betraf fast ausschließlich die elitären Schichten – dies ist ein zeitübergreifendes Phänomen der Kulturgeschichte. Der Bestattungsplatz befand sich in der Nähe des Dorfes, jedoch deutlich vom Bereich der Lebenden abgetrennt. Die Götter wurden in 210

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ländlichen, von der Siedlung aus leicht erreichbaren Heiligtümern verehrt, welche die Form einer Kulthöhle, eines Höhen- oder Quellheiligtums gehabt haben können. Jeden Tag zogen die Menschen aus, um ihre Felder zu beackern, ihre Tiere zu pflegen oder zu fischen und kamen vor Einbruch der Dunkelheit zurück. Im Frühling und Sommer verbrachte man, wie in jeder mediterranen Gesellschaft, auch nach dem Ende der täglichen Arbeit den größten Teil des Tages draußen, im Winter ging man innerhalb des Hauses verschiedenen handwerklichen Aktivitäten, wie Weben, Flechten oder dem Flicken von Haushaltsgeräten nach. Die großen Ernten, die mit Sommerbeginn einsetzten, beschäftigten die Bauerngemeinden mit kurzen Unterbrechungen bis in den Winter hinein: Man begann mit dem Getreide (von Ende Mai bis Juli), machte ein paar Wochen später mit den Trauben weiter (August bis September), um sich dann von November bis in den Januar der härtesten Ernte, nämlich der der Oliven, zu widmen. Auf ähnliche Weise war auch das Jahr für die Viehzüchter durch die Einschnitte von Geburt, Laktation, Abkalbung, Besamung, Melken und Schur eingeteilt. Die Strukturierung des ländlichen Lebens in periodischen Rhythmen war daher von den Bedürfnissen von Ackerbau und Viehzucht vorgegeben. Wie in jeder vormodernen Gesellschaft war der rituelle Kalender mit seinen großen Festen dem Kreislauf dieser Wirtschaftsweise angepasst oder sogar aus ihr heraus entstanden. Was diese zyklische Wiederholung von profanen und rituellen Aktivitäten unterbrochen hat, waren dramatische Ereignisse, wie Naturkatastrophen, Epidemien, Todesfälle oder Gewaltakte. All diese außeralltäglichen Ereignisse formten neben den Festen die Kristallisationspunkte der kulturellen Erinnerung einer ländlichen Gemeinde. Das Leben in den urbanen Zentren trug eindeutig ›modernere‹ Züge. Die Menschen und vor allem die Mitglieder der elitären Schichten wollten hier nicht nur ihre elementaren Bedürfnisse decken, sondern hatten auch einen gewissen Anspruch auf Luxus oder zumindest auf eine feinere Lebensweise. Die großen Siedlungen weisen deutliche Anzeichen eines Urbanisierungsprozesses auf. Sie verfügten zumindest in der Neupalastzeit über fließendes Wasser und Kanalisation, gepflasterte Straßen und Plätze und sogar größere öffentliche Räume, in denen sich die urbane Bevölkerung bei bestimmten Anlässen versammelte, um 211

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gemeinsam Feste zu feiern und sich dadurch als eine Einheit zu begreifen. Die elitären Häuser von Knossos stehen modernen Stadtvillen in nichts nach und wiesen eine Fläche von ca. 200 bis 450 m2 auf. Viele Häuser in Palaikastro waren über 200 m2 groß und erreichten somit die Dimensionen der knossischen Bauten. Diese Residenzen waren nicht nur groß und geräumig und durch Quadermauerwerk, Gipssteinplatten und Fresken luxuriös gestaltet, sie verfügten auch über getrennte private und repräsentative Räume und bisweilen sogar über Toiletten, die manchmal mit fließendem Wasser ausgestattet waren. Die Stadtelite stand in einem engen Kontakt zum Palast und eiferte zweifellos dem höfischen Luxus der hier residierenden Familie nach. Wie sie ihren Alltag im Inneren der üppig ausgestatteten Stadthäuser verbrachte, wissen wir nicht. Es ist allerdings legitim zu vermuten, dass die vornehmen Leute – im Gegensatz zu der bäuerlichen Bevölkerung der kleinen Dörfer – nicht gezwungen waren, hausindustrielle Tätigkeiten zu verrichten, die für die Erhaltung der familienwirtschaftlichen Subsistenz unerlässlich waren. In ihrer Muße, einem der wichtigsten Mittel zur Demonstration von sozialer Distinktion, haben sie versucht, die Zeit durch Spielen totzuschlagen. Dieser wesentliche Aspekt der Lebensweise eines Individuums bleibt uns im Kontext des minoischen Kreta weitgehend verborgen. Trotz des dezidiert spielerischen Charakters von zahlreichen Darstellungen – und offensichtlich auch von Ritualen – wissen wir wegen des Fehlens von schriftlichen Quellen fast nichts über minoische Spiele. Eine Ausnahme stellt ein fast ein Meter langes, luxuriöses Brettspiel aus dem Palast von Knossos dar, das aus Einlagen aus Elfenbein, Bergkristall sowie blauer Glaspaste gefertigt und mit Gold- und Silberfolie verziert war. Die zahlreichen Befunde von runden Vertiefungen auf flachen Steinen oder der Straßenpflasterung in vielen minoischen Siedlungen sind beredte Zeugnisse dafür, dass auch die einfache Bevölkerung, Kinder und Erwachsene, gerne einen großen Teil ihrer Freizeit mit Spielen auf offenen Plätzen und Straßen verbrachte. Das Straßennetz dieser Siedlungen hatte einen eindeutigen Mittelpunkt, nämlich den Palast. Es breitete sich auch außerhalb des Stadtgefüges aus und verband diese Zentren mit weiteren Siedlungen bzw. sakralen Orten und Nekropolen in ihrer Umgebung. An der Westseite der Paläste in Knossos, Phaistos und vielleicht Malia lag, wie bereits er212

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wähnt (c Kap. 5), eine große offene Fläche, die zweifellos als wichtigster öffentlicher Platz dieser Zentren fungierte. Hier konnte die Palastelite mit der einfachen Bevölkerung zusammenkommen und gemeinsam Feste feiern oder Zeremonien bzw. athletischen Spektakeln beiwohnen. In Malia war in der Altpalastzeit in unmittelbarer Nähe des Palastes eine weitere offene, 40 mal 30 Meter große Fläche angelegt, die man konventionell als ›Agora‹ (Versammlungsort bzw. Markt) bezeichnet. Ihre einstige Funktion bleibt unbekannt. Sie könnte als Versammlungsplatz bzw. Austragungsort von Zeremonien oder anderen Spektakeln, wie dem Stiersprung, genutzt worden sein. Sie war durch eine gestufte Mauer abgegrenzt, die über drei Eingänge verfügte, und wurde in der Neupalastzeit nicht mehr benutzt. Im altpalastzeitlichen Malia drängten sich in einem Viertel in der unmittelbaren Nähe des Palastes neben luxuriösen Privathäusern auch Werkstätten, die sich teilweise sogar in den Räumen der Ersteren befanden und zur Herstellung von Keramik, Steingefäßen und Siegeln dienten. Man braucht nicht sehr viel Fantasie, um sich den Alltag in einem solchen Viertel eines pulsierenden Palastzentrums direkt an der Küste vorzustellen, das von der Geschäftigkeit und den Geräuschen der Werkstätten und der belebten Straßen vibrierte. Hier waren es Palastbedienstete, Händler und einfache Leute, die miteinander verkehrten, arbeiteten und Geschäfte machten. In den großen Hafensiedlungen, wie Kommos und Palaikastro, war der Alltag sicherlich nicht weniger bunt und lebendig. Prachthäuser und einfachere Gebäude waren durch breite Straßen und enge Gassen getrennt. Die meisten führten zum Hafen, dem Herzen dieser umtriebigen Zentren. Einige archäologische Befunde erlauben uns nähere Einblicke in diesen städtischen Alltag. Inmitten von Palaikastro lag neben einem kleinen offenen Platz ein Schrein, der durch eine schmale Tür zugänglich war. Die kleine Kultstatue, den berühmten ›Kouros von Palaikastro‹, ein aus Gold und Elfenbein geschaffenes Meisterwerk der minoischen Plastik (c Kap. 9), konnte man offensichtlich vom Platz aus an seinem Aufstellungsort an der Rückwand des hinteren Raums bestaunen. Wenn das tatsächlich so war, liegt es nahe zu vermuten, dass nur wenige Passanten der Versuchung widerstehen konnten, den Schrein zu betreten, um diesem wunderbaren Abbild des Gottes näher zu kommen, um ein Gebet zu sprechen oder die Gott213

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heit zu beschenken. In der kleinen Siedlung von Gournia waren die Häuser so dicht beieinander gebaut, dass es kaum offene Flächen zwischen ihnen gab. Der Verkehr innerhalb dieser Siedlung, die an einem sanften Abhang gegründet worden war, lief durch sehr schmale gepflasterte Gassen und über Treppen. Die dichte Bebauung durch die Häuser und die Enge der offenen Plätze förderten oder – besser gesagt – forderten das Beisammensein der Siedlungsbewohner an einem Ort, wo aufgrund der räumlichen Verhältnisse jede(r) von den anderen abhängig war. Die höchste und schönste Lage der Siedlung nahm hier das größte Gebäude ein, das zwar keinen Zentralhof besaß, und daher nicht als Palast bezeichnet werden kann, das allerdings sicherlich eine zentrale Funktion erfüllte. Man darf sich aber nicht jedes urbane Zentrum der Minoer wie Gournia oder Akrotiri auf Thera vorstellen, wo das gebaute Volumen der kompakten Häuser lediglich von engen Straßen und kleinen Plätzen durchbrochen wurde. In Knossos und Palaikastro hatte es zwischen den Häusern manchmal offene Bereiche gegeben, die wahrscheinlich als Gärten genutzt wurden. Neben dem Palast oder dem ›zentralen Gebäude‹ lassen sich im Stadtgefüge keine ›öffentlichen‹ Gebäude oder Tempel eindeutig erkennen, wie z. B. in Akrotiri, wo einigen Bauten mit Quadermauerwerk (›Xestai‹, insbesondere Xeste 3 und 4) eine solche Funktion zugesprochen wird. Ein offenes Rätsel bleiben zwei knossische Häuser (›Royal Villa‹ und ›House of the Chancel Screen‹), die über einen Raum verfügen, welcher mit einem erhöhten Podest und einer Balustrade wie das Innere einer kleinen byzantinischen Kapelle wirkt. Dies ist auch Evans bei den Grabungsarbeiten nicht entgangen, der letztgenanntes Gebäude bei der Freilegung als ›Haus des Priesters‹ bezeichnete. In diesem erhöhten und deutlich abgegrenzten Bereich konnte ein religiöser Würdenträger gesessen haben oder eine Statue (?) bzw. Statuette aufgestellt gewesen sein, die im Mittelpunkt von religiösen Aktivitäten hätten stehen können. In einem dritten Haus in Knossos (›House of the High Priest‹) stand in einem ähnlichen, durch eine Balustrade abgetrennten Raum ein Altar. In allen drei Fällen müssen wir eine Funktion annehmen, die über die einer bloßen Privatresidenz hinausging und offensichtlich mit dem religiösen Bereich verknüpft war, auch wenn rituelle Gegenstände nur im ›House of the High Priest‹ entdeckt wurden. 214

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Über die Bevölkerungszahl der minoischen urbanen Zentren kann man nur Vermutungen anstellen. Alle Berechnungen, die auf der Größe von Häusern, der Gesamtfläche einer Siedlung und der vermutlichen Mitgliederzahl einer typischen minoischen ›Familie‹ beruhen, sind rein hypothetisch. Jeder Versuch, konkrete Zahlen zu ermitteln, wird von grundlegenden Fragen erschwert, die man im gegebenen historischen Kontext kaum beantworten kann. Aus wie vielen Personen bestand eine durchschnittliche minoische Familie? Warum müssen wir überhaupt davon ausgehen, dass das Grundelement der minoischen Gesellschaft die Familie war? Kann man ohne Weiteres jedes Gebäude mit nur einem Haushalt bzw. einer Familie in Beziehung setzen? Es wird klar, dass die architektonischen Befunde zwar die wichtigste Quelle für die Rekonstruktion der Bevölkerungszahl liefern, doch kann diese Quelle keine Grundlage für einen echten wissenschaftlichen Zugang zu diesem Problem darstellen. Eine mögliche Alternative bieten neuere Berechnungen, die auf den vermutlichen Einzugsbereich (›catchment area‹) eines urbanen Zentrums ausgerichtet sind. Diese Methode bemüht sich, die Bevölkerungszahl durch die vermutliche Größe und den geografischen Bereich zu ermitteln, den eine Siedlung für ihre Subsistenz bewirtschaftete. Aber auch in diesem Fall lässt sich die wichtigste Variable, nämlich die tatsächliche Ausdehnung des Einzugsgebiets, keineswegs mit Sicherheit bestimmen. Die oben erwähnten Fragen zeigen, wie ambivalent architektonische Befunde sein können. Darüber hinaus offenbaren sie ein weiteres großes Problem, das erst dann entsteht, wenn man versucht, Gebäude als archäologische ›Quelle‹ zu benutzen. Die postulierte Gleichsetzung von jedem Gebäude mit einer Familie, die in der Archäologie fast als selbstverständlich gilt, ist keineswegs erwiesen und dürfte vielleicht ein Anachronismus sein. Es ist nämlich durchaus möglich, dass insbesondere größere Gebäude als Behausung für eine große Anzahl von Personen dienten, die das Niveau einer einfachen Familie deutlich überschritten. In diesem Fall bieten sich uns mehrere Alternativen, die in ganz unterschiedliche Richtungen führen. Die erste, die sehr nah an der traditionellen Deutung steht, ist, anstelle einer Familie eine Großfamilie anzunehmen und davon auszugehen, dass mehrere miteinander verwandte Personen – und sicherlich alle drei Generationen zusammen – unter 215

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ein und demselben Dach wohnten. Nach einer anderen Hypothese könnten in größeren Baukomplexen Clans residieren, die aus mehreren kleinen Familien bestanden und nur weitläufig, wenn überhaupt, miteinander verwandt waren. Dies wäre eine mögliche Interpretation für einige SM III A-B-zeitliche Gebäude in Zakros und Malia, die aus mehreren Wohneinheiten bestanden, welche einen gemeinsamen Raum für die Essenszubereitung nutzten. Schließlich wäre hier noch die provokante Vermutung zu erwähnen, dass die wahre Zelle der minoischen Gesellschaft nicht die Familie, sondern das ›Haus‹ war (›Hausgesellschaft‹). Ethnologische Beispiele zeigen, dass solche als Behausung für eine Gruppe dienen konnten, welche sich nicht durch verwandtschaftliche Beziehungen konstituierte. Auch wenn all diese Hypothesen unsere Interpretationsversuche eher verkomplizieren als vereinfachen, müssen sie berücksichtigt werden, wenn wir antike Befunde ohne den verzerrenden Einfluss von modernen Denkmodellen betrachten wollen.

Berufe und alltägliche Tätigkeiten Die großzügige kretische Landschaft hat in sämtlichen Perioden der Inselgeschichte alle fleißigen Menschen belohnt, die die natürlichen Ressourcen nutzen wollten. Da Kreta, wie bereits erwähnt, von seiner Bevölkerung eher wie ein Festland und nicht wie eine Insel wahrgenommen wurde, konzentrierte sich der größte Teil der wirtschaftlichen Aktivitäten der Minoer auf das Land. Das Meer spielte als Nahrungsquelle oder Brücke für die Handelskontakte mit außerkretischen Regionen zwar eine nicht zu unterschätzende, allerdings sicherlich eine untergeordnete Rolle. Der größte Teil der Inselbewohner verdiente sein ›tägliches Brot‹, wie in jeder Periode der kretischen Geschichte, durch Ackerbau und Viehzucht. Der Bevölkerungsanteil von Bauern und Hirten war besonders in der Peripherie sicherlich sehr hoch. Wegen der oben angesprochenen Fokussierung der minoischen Ikonografie auf au216

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ßeralltägliche Handlungen dringen Darstellungen dieser agrarischen Lebensweise nur selten in die Ebene der Bilder vor. Die Menschen in der Peripherie der minoischen Zentren sind sicherlich auch anderen Berufen nachgegangen: Sie fischten, töpferten, flochten Körbe und stellten Werkzeuge und andere Artefakte in Hausarbeit her. Der häufige Fund von Webgewichten zeigt, dass der Webstuhl in keiner kretischen Siedlung fehlte. Die meisten Familien eines Dorfes konnten, wie noch bis vor wenigen Jahrzehnten, ihre Kleider walken, weben, nähen oder flicken. Die minoische Frau musste keine Penelope sein, um Stunden am Webstuhl zu verbringen. Dieses Gerät forderte, wie keine andere häusliche Beschäftigung, nicht nur ihre ganze Kraft, sondern auch ihre ganze Konzentration und hatte sicherlich einen – in der bisherigen Forschung unterschätzten oder sogar ausgeblendeten – Einfluss auf ihre mentale und körperliche Verfassung. Es ist sicherlich kein Zufall, dass in der neugriechischen Sprache der Webstuhl αργαλειός (argaleios = ›das Gerät‹ schlechthin) ist, vermutlich weil dieses Werkzeug eine elementare Bedeutung für den traditionellen Haushalt besaß und mehr als alles andere seine Nutzerinnen mental und körperlich einnahm. Dass hier die Rede nur von Frauen und nicht auch von Männern ist, lässt sich nicht durch archäologische, sondern lediglich ethnologische Zeugnisse legitimieren, welche zeigen, dass auf diachroner und interkultureller Ebene das Weben in der Regel, allerdings nicht ausschließlich, eine weibliche Beschäftigung war. In den Palastzentren und deren Umgebung lagen Werkstätten, die von den Palästen direkt kontrolliert wurden. Die technische Perfektion unzähliger Artefakte aus der kretischen Palastzeit und die Informationen der späteren Linear-B-Täfelchen bieten klare Zeugnisse für das hohe Spezialisierungsniveau der handwerklichen Produktion. Durch die archäologische oder textliche Evidenz lässt sich die Existenz von Töpfern, Schmieden, Siegelschneidern, Schiffsbauern, Zimmerleuten und anderen Handwerkern belegen, welche die Dinge des täglichen Bedarfs sowie Schnitzereien, Schmuck und anderes herstellten.

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Ernährung Die Archäologen, die bisher einen beträchtlichen Teil ihrer wissenschaftlichen Energie der typologischen und stilistischen Auswertung von Tongefäßen gewidmet haben, vergessen allzu oft, dass die antiken Menschen sie meist zum Kochen, Essen und Trinken benutzt haben. Erste naturwissenschaftliche Untersuchungen der organischen Reste an der Innenseite minoischer Gefäße haben uns eine Reihe von spannenden Informationen über den Speiseplan dieser Gesellschaft geliefert. Diese Daten können durch archäozoologische und archäobotanische Untersuchungen, die Aussagen der knossischen Linear-B-Texte und schließlich auch durch ethnologische Vergleiche ergänzt werden. Getreide (Weizen, Emmer, Gerste), tierische Produkte (Fleisch, Milch, Käse), Hülsenfrüchte (Saubohnen, Linsen, Erbsen, Gras- und Kichererbsen, Erbsenwicken), Früchte (Feigen und Birnen), essbares Unkraut, Zwiebeln, Mandeln, Oliven und Olivenöl und schließlich Honig waren die wichtigsten Bestandteile der minoischen Ernährung. Die gezüchteten Tiere umfassten Schafe, Ziegen, Rinder und Schweine. Fische (darunter Thunfisch, Makrelen, Rotbarben, Stöcker, Seebrassen, Barsche, Sardellen, Sprotten, Sandaale, Stachelrochen), Tintenfische, Seeigel, Krabben, Muscheln und Wild (Wildziegen, Hirsche, Hasen) haben diesen mediterranen Speiseplan ergänzt. Die Reste organischer Substanzen in minoischen Gefäßen unterschiedlicher Perioden konnten Speisen aus einer Kombination von Fleisch und Öl, Fleisch, Öl und Gemüse sowie schließlich Fleisch, Öl und Hülsenfrüchten nachweisen. Die verschiedenen Speisen wurden über offenem Feuer gekocht, gegrillt oder geröstet. An zahlreichen minoischen Fundorten kamen Weinpressen ans Licht, welche die Bedeutung der Weinproduktion und des Weinkonsums in der minoischen Gesellschaft explizit machen. Sie bestätigen, was man sonst auch ohne einschlägige Zeugnisse vermutet hätte, nämlich dass die Minoer bei alltäglichen und insbesondere exklusiven Anlässen sehr gern Wein getrunken haben. Die Frage, ob Weinproduktion und -konsum ein elitäres Privileg waren, ist obsolet, wenn man bedenkt, dass es, genauso wie heute, ganz unterschiedliche Weinsorten 218

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und -qualitäten geben konnte. Alle sozialen Schichten haben Wein getrunken, doch die Spitzenweine waren zweifellos der Elite vorbehalten. Naturwissenschaftliche Untersuchungen haben nachgewiesen, dass, wie im modernen Griechenland, auch geharzter Wein (aus Fichten- und Terebinthenharz) produziert wurde. Es gibt sogar einige Hinweise darauf, dass die Minoer auch Schnaps hergestellt und konsumiert haben. Die hohe Anzahl von einhenkeligen Tassen im minoischen Keramikrepertoire scheint offensichtlich für den Konsum von heißen Getränken zu sprechen. Die Häufigkeit von Siebgefäßen könnte schließlich unter anderem auch durch die Notwendigkeit der Reinigung von Trinkwasser erklärt werden, die in jeder vormodernen Gesellschaft ein verständliches Problem darstellte.

Literatur Aufschnaiter von, Maja 2018: Minoische Sanitäranlagen und Abwassersysteme. Untersuchungen von Räumen mit Abflüssen unter Berücksichtigung der Wasserversorgung im minoischen Kontext, Bonn Betancourt, Philip 2000: Village Life in Minoan Crete: New Evidence, in: Karetsou, Alexandra u. a. (Hgg.): Πεπραγμένα H´Διεθνούς Κρητολογικού Συνεδρίου, τόμ. A1: Προϊστορική και Αρχαία Ελληνική Περίοδος, Heraklion, 91–97 Cadogan, Gerald 2000: Domestic Life at Minoan Myrtos-Pyrgos, in: Karetsou, Alexandra u. a. (Hgg.): Πεπραγμένα H´Διεθνούς Κρητολογικού Συνεδρίου,τόμ. A1: Προϊστορική και Αρχαία Ελληνική Περίοδος, Heraklion, 169–174 Christakis, Kostis S. 2008: The Politics of Storage. Storage and Sociopolitical Complexity in Neopalatial Crete, Philadelphia Faure, Paul 1978: Kreta. Das Leben im Reich des Minos, Stuttgart Gillis, Carole 1988: Minoan Everyday Objects as Sources of Historical Information, in: French, Elizabeth/Wardle, Ken A. (Hgg.): Problems in Greek Prehistory, Bristol, 417–420 Glowacki, Kevin/Vogeikoff-Brogan, Natalia (Hgg.) 2011: ΣΤΕΓΑ. The Archaeology of Houses and Households in Ancient Crete, Athen Militello, Pietro 2011: Immagini e realtà della produzione nella Creta minoica: i temi assenti, in: Carinci, Filippo u. a. (Hgg.) 2011: Κρήτης Μινωίδος: Tradizione e identità minoica tra produzione artigianale, pratiche cerimoniali e memo-

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ria del passato. Studi offerti a Vincenzo La Rosa per il Suo 70 compleanno, Padova, 39–258 Riley, F.R. 1999: The Role of the Traditional Mediterranean Diet in the Development of Minoan Crete: Archaeological, Nutritional and Biochemical Evidence, Oxford Tzedakis, Yannis/Martlew, Holley 1999: Minoans and Mycenaeans. Flavours of their Time, Athen

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»Einsam, dem Himmel nahegerückt, den Winden ausgesetzt, still, nur von den Lauten der Natur, vom Ruf der Vögel oder der Wildziegen erfüllt, müssen diese nach Thymian und Minze duftenden Gipfel der mäßig hohen Hügel den Menschen als Orte erschienen sein, an denen die Götter nahe waren.« (Brinna Otto)22

Der alltägliche Rhythmus der minoischen Gesellschaft wurde immer wieder von Ereignissen unterbrochen, die, damals wie heute, den Höhepunkt kollektiver Erfahrungen darstellen: religiöse Zeremonien, Rituale und Feste, welche die soziale Gruppe zusammen feierte und mit deren Hilfe sie sich ihrer eigenen Identität vergewisserte und sie perpetuierte. Wie wir bereits gesehen haben, wird nicht nur unser inhaltlicher Fokus, sondern auch unsere Annäherungsweise an die Quellen in erheblichem Maße von deren Überlieferungszustand bestimmt. Dies gilt insbesondere im Fall des religiösen Handelns. Jeder Überblick über eine antike Religion hat klar identifizierbare Götter und ihre Tempel als Ausgangspunkt. Wie soll man allerdings im Fall einer Kultur vorgehen, in der beides fehlt? Wir sehen in der minoischen Bilderwelt zwar eine Reihe von Gestalten, die wir mit teils überzeugenden, teils weniger überzeugenden Argumenten als Götter identifizieren können. Doch lässt sich keine dieser menschenähnlichen Figuren eindeutig als eine konkrete Gottheit identifizieren. Es ist ferner schwer, auf der Grundlage von spezifischen Merkmalen in der Darstellungsweise oder dem Darstellungskontext unterschiedliche Erscheinungsformen ein und derselben Gottheit zu erkennen. Des Weiteren ist eine der auffälligsten Lücken in der

22 Otto, Brinna 1997: König Minos und sein Volk. Das Leben im alten Kreta, Zürich, S. 186.

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archäologischen Überlieferung das Fehlen von Tempeln, jenem monumentalen Aspekt religiöser Praxis, der im Kontext der orientalischen Kulturen das Erscheinungsbild eines Heiligtums oder einer ganzen Stadt entscheidend prägte. Der künstlich erschaffene sakrale Raum hat im minoischen Kreta nur spärliche oder mehrdeutige archäologische Spuren hinterlassen. Sieht man von einzelnen ›Kultbauten‹ ab, die als architektonisches Konzept sehr bescheiden und keineswegs charakteristisch sind, wie der ›Tempel‹ von Anemospilia, gibt es kaum freistehende minoische Tempel. Sakrale Orte sind uns besser bekannt, doch beschränkt sich hier die architektonische Fassung der heiligen Sphäre auf umfriedete Kultbezirke oder die Konstruktion von Gebäuden, die verschiedene Zwecke erfüllten, nur nicht den eines Raumes für die Abhaltung kultischer Handlungen. Eine besondere Erwähnung verdient hier das ›Temenos‹ von Mochlos, ein kleiner ummauerter Olivenhain, der an einer exponierten Stelle am Siedlungsrand lag. Solche Strukturen, in deren Innerem Bäume wuchsen, sind uns aus der neupalastzeitlichen Ikonografie gut bekannt, lassen sich allerdings archäologisch nur schwer nachweisen. Kleine Schreine oder Kapellen, die in größere Baukomplexe eingebettet sind, sowie Kulträume in elitären Häusern, Villen oder kleinen Dörfern sind weniger mit gemeinschaftlicher kultischer Aktivität und kollektiver religiöser Erfahrung, als vielmehr mit privater Gläubigkeit zu verknüpfen. In all diesen Fällen lässt sich kein religiöses Konzept erkennen, das in architektonischen Formen Ausdruck gefunden hätte. Jeder Versuch, der vorhandenen, recht bescheidenen und rein zweckmäßigen Architektur symbolische Bedeutung abzugewinnen, ist zwecklos. Das rätselhafte Fehlen einer ausgeprägten, symbolisch aufgeladenen sakralen Baukunst wird umso problematischer, wenn man an die überaus aufwendige architektonische Ummantelung des elitären Lebensraumes denkt, die sich nicht nur im minoischen Palast, sondern auch in den anspruchsvollen Innenräumen von Villen und elitären Privathäusern manifestiert. Bei diesen Bauten kann man die klare Umsetzung eines idealtypischen bautechnischen Konzeptes erkennen, das man im sakralen Kontext vermisst. Hat sich in der minoischen Kultur tatsächlich keine sakrale Architektur entfaltet, wie wir sie aus anderen Kulturregionen des östlichen Mittelmeerraums kennen? Trotz des eindeutig negativen archäologischen Befundes ist bei der Beantwortung dieser 222

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Frage Vorsicht geboten. Was uns zur Vorsicht mahnt, sind verschiedene zwei- oder dreidimensionale Architekturdarstellungen, die als Kultbauten gedeutet werden können. Aufgrund dieser Evidenz, welche keine sichere Grundlage für die Untersuchung einer sakralen Architektur bietet, ist die Fokussierung auf die Natur als sakraler Raum im minoischen Kreta alternativlos.

Götter und Dämonen: die großen Unbekannten Die große Ambivalenz der minoischen Bildsprache wird gerade im Fall der Götterwelt deutlich spürbar. Die minoische Religion war offenbar polytheistisch, etwas, was zumindest in der Zeit der Linear-B-Täfelchen durch die Nennung von mehreren griechischen und vorgriechischen Götternamen bestätigt wird. Einige dieser Götter wurden sicherlich auch dargestellt, doch bleibt der Versuch ihrer Identifizierung ein schwieriges Unterfangen. Ihre Darstellungsweise ist in vielen Fällen unspezifisch, sowohl was ihre Unterscheidung von Heroen oder Sterblichen als auch ihre Individualisierung betrifft. Im Gegensatz zu anderen Kulturen oder späteren Perioden fehlen fixe Attribute, die nur einer bestimmten Gottheit vorbehalten sind. Dieses Problem setzt jedem Versuch, das minoische Pantheon zu rekonstruieren, deutliche Grenzen. Nach über einem Jahrhundert intensiver archäologischer Forschung gibt es allerdings einige Gewissheiten. Eine ganz bedeutende Rolle in der minoischen Götterwelt scheint eine ›Große Göttin‹ besessen zu haben, die meist sitzend oder thronend von Menschen angebetet, beschenkt oder stehend und von Tieren bzw. fantastischen Wesen begleitet dargestellt wird. Es ist allerdings unklar, ob tatsächlich alle relevanten Darstellungen nur ein und dieselbe Göttin zeigen. Männliche Gottheiten kommen, wie die Göttinnen, in eindeutigen Bildkompositionen als ›Herr der Tiere‹ vor, wobei sie von Tieren oder Mischwesen flankiert werden. Doch ist die Dominanz des weiblichen Elements in der religiösen Sphäre unübersehbar. Nicht nur unter den Gottheiten, 223

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sondern auch unter Gestalten, die man als Adoranten bzw. Priester identifizieren könnte, machen Frauen die überwiegende Mehrheit aus. Dieses klare zahlenmäßige Verhältnis kann nicht durch die Tücken der archäologischen Überlieferung erklärt werden und scheint eine religiöse Tatsache widerzuspiegeln, deren überzeugende Deutung noch ausbleibt. Wenn man nun zu den Texten zurückkehrt, ist es schwierig, klare Verbindungen zwischen Wort und Bild herzustellen. In den Linear-B-Texten aus Knossos tauchen die späteren griechischen Götter Zeus, Poseidon, Ares, Dionysos und Demeter auf. Neben ihnen werden auch lokale Gottheiten (Potnia, Eileithyia) genannt. In den noch nicht entzifferten Linear-A-Inschriften auf verschiedenen rituellen Gegenständen (vor allem steinernen ›Opferschalen‹) wiederholt sich eine Zeichensequenz, die sehr wahrscheinlich einen Götternamen wiedergibt. Die ersten vier der insgesamt fünf Zeichen könnten als A/JA-SA-SA-RA gelesen werden, wenn wir davon ausgehen, dass manche Linear-A-Zeichen, die Ähnlichkeiten mit Linear-B-Zeichen aufweisen, denselben phonetischen Wert besaßen. Leider hatte man in minoischer Zeit nicht das Bedürfnis, die Darstellungen von Göttern mit Begleitinschriften zu versehen, da in dieser Kultur die Schrift, wie bereits erwähnt, nie in die Welt der Bilder eingedrungen ist. Bezüglich der Kultstatue, des eigentlichen Fixpunktes jeder religiösen Aktion, bietet uns die archäologische Überlieferung nur spärliche Indizien. Es gibt keine einzige lebensgroße Statue aus einem minoischen Kontext. Die Vermutung, dass die zwei tönernen Füße aus dem zentralen Raum des ›Tempels‹ von Anemospilia zu einem lebensgroßen hölzernen Xoanon (Abbild einer Gottheit, das häufig sehr abstrakt geformt war) gehörten, bleibt zweifelhaft. Sonst gibt es keine lebens- oder überlebensgroßen Götterbildnisse, die man wegen ihres Formats als Kultstatuen hätte betrachten können. Was wir haben, sind größere Statuetten, die aufgrund ihres Kontextes, ihrer Darstellungsweise und ihrer anspruchsvollen Bearbeitungstechnik das Prädikat ›Kultbild‹ verdienen würden. Dazu zählen die knossischen Schlangengöttinnen, der ›Kouros von Palaikastro‹ und eventuell die Göttinnen der Nachpalastzeit mit erhobenen Armen. Das markante Fehlen oder zumindest der Mangel an eindeutig identifizierbaren Kultbildern könnte uns ebenfalls etwas über das religiöse Verhalten der Minoer verraten. Wenn Kultbilder tatsäch224

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lich keine besondere oder vielleicht gar keine Bedeutung in der religiösen Praxis gespielt haben, könnte man vermuten, dass die Göttin nicht durch ein dreidimensionales Bildnis, sondern als Epiphanie (›Erscheinung‹) im Rahmen von orgiastischen Ritualen eine wahrnehmbare Gestalt annahm. Diese ekstatischen Erfahrungen stellten wohl einen wesentlichen Aspekt der minoischen Kultpraxis dar.

Abb. 20: Fayence-Statuette aus dem Palast von Knossos (›kleine Schlangengöttin‹).

Die weiblichen und männlichen Gottheiten des minoischen Pantheons wurden durch zahlreiche fantastische Wesen ergänzt. Das wichtigste unter ihnen war der Greif, der sowohl mit Göttern als auch mit den Menschen und als ›Raubtier‹ sogar mit anderen Tieren interagierte. An zweiter Stelle muss man den sogenannten ›minoischen Genius‹ erwähnen, der sich aus der Gestalt der ägyptischen Gottheit Taweret (= ›die Gro225

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ße‹) entwickelte und über mehrere Jahrhunderte hinweg eine prominente Rolle in der minoischen und später der mykenischen religiösen Ikonografie spielte. Neben ihnen treten weniger häufig Sphingen, ›Drachen‹ und Mischwesen auf, welche verschiedene menschliche und tierische Körperteile kombinierten. Die fantastischen Wesen kommen in der Regel entweder als Einzelmotive vor oder begleiten bzw. flankieren passiv eine Gottheit. Nur der Greif und der minoische Genius sind immer wieder in Bildszenen eingebettet, welche eine konkrete Aktion schildern. Folglich kann man nur bei ihnen vermuten, dass sie eventuell auch Eingang in die minoischen Mythen fanden, wo sie bestimmte Rollen als übernatürliche Wesen übernahmen. Eine besondere Erwähnung verdient in diesem Zusammenhang eine Gruppe von ca. 100 Siegelabdrücken aus einem Haus in Kato Zakros, welche zahlreiche Mischwesen zeigen, die entweder, wie die bereits erwähnten fantastischen Wesen, eine mehr oder weniger organische Form aufweisen oder auch ganz willkürliche Kombinationen von Körperteilen und anderen Gegenständen (z. B. Helm) darstellen. Dieses faszinierende ikonografische Ensemble, das als absoluter Gegenpol zur anmutigen knossischen Bildsprache der Neupalastzeit dasteht und nur gelegentlich Parallelen außerhalb von Kato Zakros findet, widersteht immer noch hartnäckig jedem Versuch einer überzeugenden Interpretation. Am Ende dieser kurzen Betrachtung müssen wir auf das eingangs angesprochene Problem der visuellen Ambivalenz zurückkehren. Die Tatsache, dass die Minoer keine ikonografischen Typen für ihre Götter entwickelten, wodurch man sie klar voneinander unterscheiden könnte, war sicherlich nicht zufällig und bedarf daher einer Erklärung. Natürlich ist es vorstellbar, wie bereits vermutet wurde, dass man dadurch den Anbetenden ermöglichte, in einem unspezifischen Götterbild seine/ ihre eigene Gottheit zu erkennen. Es gäbe allerdings eine alternative Erklärung, die uns eventuell einen interessanten Hinweis auf einen wesentlichen Aspekt der räumlichen Präsenz minoischer Gottheiten geben könnte. Das Desinteresse an einer klaren Differenzierung zwischen verschiedenen Gottheiten könnte auch aus der Tatsache resultieren, dass dies einfach nicht notwendig war, weil in jedem Heiligtum jeweils nur eine männliche oder weibliche Gottheit verehrt wurde. Trifft dies tatsächlich zu, dann könnte auch eine gänzlich unspezifische Götterdar226

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stellung unmissverständlich als die zu verehrende Gottheit erkannt worden sein. Das Bedürfnis einer klaren visuellen Differenzierung kann eigentlich nur an jenen heiligen Orten entstanden sein, an denen mehrere Gottheiten nebeneinander verehrt wurden. Die Minoer scheinen nicht nur Götter, sondern auch Objekte angebetet zu haben, denen man offensichtlich besondere Kräfte zugesprochen hat. Dies war der Fall bei Säulen und Pfeilern, zwei im wahrsten Sinne des Wortes tragenden Elementen, die spätestens seit der Neupalastzeit neben ihrer tragenden Funktion als Bauelemente auch eine rituelle Signifikanz erhalten haben. In einer erdbebengefährdeten Region wie Kreta, in der die Gesellschaft nicht nur rein praktische, sondern auch rituelle Strategien gegen die Naturgewalten entwickeln musste, lässt sich ihre Ritualisierung leicht nachvollziehen. Die kultische Bedeutung der Säule ist in der minoischen Ikonografie evident, ganz konkret durch ihr häufiges Vorkommen nicht als tragendes Element eines Baues, sondern als Einzelmotiv, das bisweilen das Zentrum einer größeren Komposition bildet. Eine vergleichbare Bedeutung lässt sich für die rechtwinkligen Pfeiler durch archäologische Indizien festmachen, und zwar durch den häufigen Fund von Kultgegenständen oder Opferrinnen in ihrer unmittelbaren Nähe, welche von kultischen Aktivitäten zeugen, in deren Mittelpunkt eben diese Pfeiler standen.

Sakrale (Tat-)Orte Jede vormoderne Gesellschaft hat ihre Natur in irgendeiner Weise sakralisiert. Dabei wurde jedoch nicht jeder Bereich des eigenen Lebensraumes als heilig empfunden. Sakral waren nur religiöse Bedeutungsorte, die als Formen ritueller Bündelung und Verdichtung einen Bruch in der Homogenität des Raumes darstellen. Durch heilige Prozessionen und Pilgerreisen, die als ›Kraftlinien‹ die von ihrer profanen Umgebung herausgehobenen heiligen Stätten miteinander und mit den Siedlungszentren verbanden, wurden sakrale Plätze in ein kultreligiöses ›Kraft227

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feld‹ verwoben. Wie kann man nun erklären, dass an bestimmten Orten eine besondere, religiöse Bedeutung haftet? Was macht aus einem Ort einen kraftgeladenen, bedeutungsvollen Raum? Woraus schöpfen sakrale Stätten ihre symbolische Valenz? Für die Zweiteilung des erlebten Raumes in eine sakrale und eine profane Sphäre durch die Überhöhung von bestimmten Stätten zu heiligen Plätzen könnten verschiedene Faktoren eine Rolle gespielt haben: die Landschaftsphysiognomie, in anderen Worten die Lage oder die besondere atmosphärische Wirkung eines Ortes, die Verknüpfung mit einer besonderen Begebenheit, wie dem Wirken einer Gottheit, oder schließlich die Durchführung von Ritualen, welche Sakralität pauschal bzw. repetitiv erzeugten. Im Fall des minoischen Kreta ist die Bedeutung der ersten Option mehr als offensichtlich. Die sakrale Potenz der minoischen heiligen Stätten lässt sich in den meisten Fällen mit Bezug auf die besondere physiognomische Qualität eines Ortes gut erklären. Die vielfältige kretische Landschaft besitzt eine Fülle von besonderen Orten, die über Jahrhunderte oder gar Jahrtausende hinweg als Fixpunkte religiöser Erfahrungen fungierten. Kleine abgelegene Buchten, markante Erhebungen in den zahlreichen Ebenen und Tälern der Insel, aber vor allem besondere Orte in der Abgeschiedenheit der Berge wie Felsen, Steine, Karstdepressionen, Poljen, Hochebenen, Höhlen, Quellen und Bäume entfalten eine ganz besondere atmosphärische Wirkung. Hier wird es offensichtlich, dass der genius loci Ausgangspunkt einer religiösen Empfindung und damit der Sakralisierung eines Ortes gewesen sein muss. Wie wurde nun diese spannungsgeladene Landschaft in minoischer Zeit symbolisch strukturiert? Als Leitbilder der imaginären räumlichen Ordnung in allen Perioden der kretischen Geschichte dienten zweifellos die Berge. Die Bedeutung des Berges als vertikale Verankerung des Göttlichen ist eine religiös-anthropologische Konstante. In allen Kulturen, deren Lebensraum von Gebirgen geprägt war, werden die Berge sakralisiert, weil sie die Erde mit dem Himmel verbinden und die Nähe zur göttlichen Sphäre ermöglichen, da die Götter ja gewöhnlich im Himmel leben. Nicht minder wichtig sind im kretischen Kontext allerdings terrestrische und wahrnehmungspsychologische Gesichtspunkte, nämlich die große Höhe und prägnante Gestalt der Berge, deren Wirkungskraft durch die wechselnden Farben der Jahreszeiten (Schneekuppen 228

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oder Wolkenhüllen) verstärkt wird. Die in der kretischen Landschaft deutlich umrissenen Grenzen zwischen Flachtälern und Bergketten fassen die verschiedenen menschlichen Lebens- und Wirkungsbereiche sehr klar ein, unterscheiden den auf intensive Weise wirtschaftlich erschlossenen und bewohnbaren Lebensraum von der Wildnis der Berge und verstärken dadurch den Eindruck einer bedeutungsvollen räumlichen Differenzierung. Das Besteigen eines Berges war auf Kreta immer eine ganz besondere Erfahrung, das Eindringen in eine andere Welt. Es liegt daher nahe zu vermuten, dass sich auch auf Kreta der größte Teil des religiösen Geschehens in den Bergen abgespielt hat und dass diese Gebirgsräume diejenigen Regionen waren, die dichter mit sakralen Orten besetzt wurden. Als eine Versinnbildlichung der Sakralität der kretischen Berge oder eines bestimmten kretischen Berges in minoischer Zeit könnte ein neupalastzeitlicher Siegelring betrachtet werden, von dem nur Abdrücke aus dem Palast von Knossos bekannt sind: Eine Göttin (›Mother of the Mountain‹) steht auf einem kegelförmigen Steingebilde – offensichtlich einem Hügel oder Berg –, an dessen beiden Seiten sich je ein Löwe mit den Pfoten aufstützt. In einer ähnlichen Darstellung (›Master Impression‹) sehen wir eine männliche Gestalt mit einem gebieterischen Gestus, die auf einem Gebäude steht, welches ebenfalls auf einem Hügel bzw. einer Felsstruktur errichtet ist. Auch wenn die Entzifferung der hier entfalteten symbolischen Bildsprache keine leichte Angelegenheit ist, darf eine Verbindung des Göttlichen mit dem Berg oder zumindest mit der Höhendimension als die plausibelste Interpretation der intendierten semantischen Botschaft beider Bilder gelten. Einen unmissverständlichen Beleg für diese Verbindung finden wir in der späteren griechischen Überlieferung, die um die Person des mythischen Königs Minos kreist. Alle neun Jahre, im ›Großen Jahr‹, suchte Minos die Höhle und Geburtsstätte des kretischen Zeus in der NidaHochebene auf, um dort seinem Gott und Lehrer zu begegnen. Doch es gibt einen anderen Berg, der – obwohl kleiner als der Ida – wegen seiner Lage und Form als der minoische heilige Berg geradezu prädestiniert war. Es handelt sich um den Berg Juchtas, der in der unmittelbaren Nähe und in Sichtweite des Palastes von Knossos lag und eine sehr markante geografische Erhebung bildete. Es ist sicherlich kein Zufall, 229

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dass auf dessen Gipfel eines der wichtigsten minoischen Höhenheiligtümer liegt. Dabei handelt es sich um den wichtigsten Typus eines minoischen Heiligtums, den man archäologisch sehr gut fassen kann. Solche Höhenheiligtümer, die zumindest in der Altpalastzeit fast über die ganze Insel verstreut waren, lagen – bis auf vereinzelte Ausnahmen – nicht auf den höchsten Gipfeln der kretischen Bergketten, sondern auf niedriger gelegenen Anhöhen, die vor allem folgende Voraussetzungen erfüllten mussten: 1. Prominente Lage (auffallende, dominante, weithin sichtbare Gipfel oder Anhöhen) 2. Visibilität (Blickkontakt zu einer oder mehreren Siedlungen oder zu einem oder mehreren Höhenheiligtümern) 3. Leichter Zugang von den benachbarten Siedlungen aus 4. Nähe zu Acker- oder Weideland und somit zur Lebensgrundlage der lokalen Bevölkerung Dadurch wird ersichtlich, dass für die Auswahl eines heiligen Ortes keine kosmologischen, sondern vor allem wahrnehmungspsychologische oder ganz pragmatische Überlegungen ausschlaggebend waren. Die symbolische Strukturierung der kretischen Landschaft war also nicht nur religiösen, sondern auch sozio-ökonomischen Ordnungsprinzipien unterworfen. Architektonische Spuren sind an diesen heiligen Orten in den meisten Fällen bescheiden, ja kaum existent. Sie waren im Prinzip auch überflüssig für die eigentliche religiöse Praxis. Die hohe Lage und ihre besondere atmosphärische Wirkung waren ausreichend, um religiöse Vorstellungen zu evozieren. Die kleinen Gebäude, die in einigen dieser Höhenheiligtümer errichtet wurden, waren keine Tempel, sondern Räume mit profaner Funktion, die in erster Linie in der Aufbewahrung von Weihgaben und Kultgeräten bestand. Einige verfügten über eine Steinmauer, die offensichtlich den sakralen Bereich (Temenos) vom profanen Raum abgrenzte. Hier sind besonders Juchtas, Petsophas und Traostalos zu erwähnen, welche interessanterweise mit drei der wichtigsten minoischen Siedlungszentren, Knossos, Palaikastro und Kato Zakros, verknüpft waren. Das Ritual fand allem Anschein nach nicht in geschlossenen Räumen, sondern im Freien statt. An den Tagen der reli230

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giösen Feste stiegen die Einwohner der benachbarten Siedlungen zu diesen hohen Lagen auf. Sie brachten Tonstatuetten, welche Männer, Frauen, Stiere, Rinder, Schafe, (Wild-)Ziegen, Schweine, Hunde, ja sogar Mistkäfer darstellten oder Modelle von Menschengliedern und Naturlandschaften. Sie baten somit ihre Götter um Heilung, Gesundheit und gutes Gedeihen der Felder und Herden. Unter den Hunderten, ja in manchen Fällen Tausenden Tonstatuetten eines Höhenheiligtums sind die beiden Geschlechter klar definiert: Männer in der Regel durch einen kurzen Schurz, einen athletischen Körper und einen Dolch, die Frauen durch freien Oberkörper, einen langen konischen Rock und eindrucksvolle Kopfbedeckungen. Hier werden offensichtlich nicht Götter, sondern Sterbliche dargestellt. Die Besucher brachten ein Abbild von sich selbst und stellten es in die unmittelbare Nähe der Gottheit, um durch die räumliche Nähe auch ihren eigenen Schutz zu gewährleisten. Die zahlreichen Körperglieder sind auf der anderen Seite materielle Spuren für die Sorgen der minoischen Besucher um die eigene Gesundheit oder anhaltende Leiden, welche sie zwangen, diese Orte mit einer Bitte an ihre Gottheit aufzusuchen. Die Funde von Fischgräten, Muscheln, Kieseln und Bootsmodellen zeigen, dass auch Seeleute zu diesen hochgelegenen Kultorten aufgestiegen sind, um zu beten oder zu feiern. Die Verbindung zwischen Höhenheiligtümern und Seefahrt liegt auf der Hand. Diejenigen unter ihnen, die nah an der Küste gelegen waren, boten einen hervorragenden Blick auf das offene Meer. In einer Zeit, in der fast keine Möglichkeit zur Telekommunikation existierte, hatte das lange Warten auf die ersehnte Rückkehr der Schiffe von einer Überseereise die Familien der Reisenden immer wieder zu diesen heiligen ›Gipfeln‹ geführt, wo sie auf das Meer blicken und zu ihren Göttern beten konnten. Für eine elementare Telekommunikation haben allerdings die Höhenheiligtümer selbst gesorgt, weil die meisten von ihnen, wie bereits erwähnt, sehr gut sichtbar waren und die Möglichkeit der Übermittlung von einfachen Nachrichten über Feuer- oder Lichtsignale untereinander boten. Dieses Netzwerk von gegenseitig sichtbaren Gipfeln erfasste nicht nur einen großen Teil der Insel, sondern erstreckte sich offensichtlich über Kreta hinaus auf die ägäischen Inseln und das Festland. Auf ein solches panägäisches Netzwerk von Wachtürmen bezog sich wohl auch Klytaimnestra in der Aischylos-Tragödie Agamemnon, als 231

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sie dem verdutzten Chor erzählte, wie die Nachricht vom Fall Trojas binnen einer Nacht Mykene erreichte. Neben den Höhenheiligtümern boten Höhlen einen bevorzugten Ort für kultische Aktivität. Höhlen besitzen von Natur aus einen liminalen Charakter und können daher als Schnittstellen zwischen der realen und der transzendentalen Welt fungieren. Der Abstieg in eine große Kulthöhle war sicherlich eine besondere Erfahrung. Kein gebauter Tempel kann suggestiver wirken als ein dunkler, feuchter, unterirdischer Raum, dessen tief gelegenen Kultplatz man nur durch einen engen, steil absteigenden Korridor erreichte. Stalagmiten, die eine menschen- oder tierähnliche Form aufwiesen, erhielten offenbar eine religiöse oder kultische Bedeutung als göttliche Erscheinungen und wurden entweder innerhalb einer Höhle durch Weihungen markiert oder durch eine ›Temenos‹-(Tempelbezirk-)Mauer hervorgehoben. In der Psychro-Kulthöhle waren Doppeläxte als Votive oder sakrale Markierungen in die Stalagmiten eingetieft. In der Eileithyia-Höhle in Amnissos waren ferner zwei Stalagmiten vielleicht bereits in minoischer Zeit durch eine kleine Mauer begrenzt. Das nach unserem heutigen Kenntnisstand bedeutendste eigenständige – das heißt nicht in einen profanen architektonischen Komplex eingebettete – minoische Heiligtum befindet sich in Symi Viannou (Ostkreta). Die Kultterrasse und das Kultgebäude der minoischen Benutzungsphase liegen unterhalb von jüngeren Schichten aus dem ersten Jahrtausend v. Chr., einer Periode, in der dieses Quellheiligtum als Kultstätte von Hermes und Aphrodite besondere Bedeutung erlangte. An dieser Stelle muss betont werden, dass dieses eindrucksvolle Bild einer Kultkontinuität keine Regel, sondern eher die Ausnahme darstellt. Es ist sicherlich merkwürdig, dass es in fast keinem minoischen Höhenheiligtum Anzeichen eines Kultes nach dem Ende der minoischen Ära gibt. Die einzige plausible Erklärung für diesen Umstand wäre die vorhin angesprochene Bedeutung der sozio-ökonomischen Aspekte des Kultes in der Bronzezeit, wonach die Auswahl der Kultplätze nicht nur von religiösen oder kosmologischen Überlegungen, sondern auch von den Besiedlungsmustern determiniert wurde. Es gibt eine Reihe von Indizien aus der kretischen Neupalastzeit, wonach die Durchführung der orgiastischen Riten und die damit verbun232

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denen transzendentalen Erfahrungen nicht nur in der kretischen Wildnis möglich waren. Spätestens in der Neupalastzeit stellen wir fest, dass einige Elemente dieses sehr naturnahen Rituals ihre Verbundenheit mit dem Standort verloren haben und in die ›urbane‹ Landschaft der minoischen Siedlungszentren ›verpflanzt‹ wurden. Steine und Stalagmiten wurden z. B. als Gegenstände religiöser Verehrung in offenen oder inneren Räumen einer Siedlung aufgestellt. Welche Rituale sich in diesen Räumen vollzogen und inwieweit diese Räume sakralisiert wurden, lässt sich allerdings nicht sagen. Die bloße Existenz eines Gegenstandes religiöser Verehrung ist sicherlich nicht ausreichend, um das unmittelbare räumliche Umfeld dieses Objekts als sakrale Sphäre zu deklarieren. Auf stabilerem Boden stehen wir in einem besonders interessanten Fall, nämlich dem des Zentralhofs des Palastes von Malia. Ein großer runder Stein, der zur Hälfte in die festgetretene Erde des Hofs eingetieft war, ist offensichtlich ein Baitylos (großer ovaler Kultstein), der interessanterweise nicht im Zentrum des Zentralhofs, sondern in gleicher Flucht mit einer Loggia am Westflügel des Palastes lag. Diese Loggia diente wohl als Tribüne für die residierende Elite, die an dieser Stelle Ritualen und Zeremonien am Zentralhof des Palastes beiwohnte. Die Vermutung liegt daher nahe, dass sich das ursprünglich in Naturräumen angesiedelte ekstatische Ritual, das wir aus der Ikonografie kennen, auch innerhalb eines städtischen Kontextes, ja sogar innerhalb eines größeren architektonischen Komplexes vollzog. In derselben Zeit, in der wir eine Übertragung von Elementen des orgiastischen Kultes auf die urbane Sphäre dingfest machen können, ergriff die Naturwelt Besitz vom privaten oder semiprivaten Lebensraum der minoischen Elite. Zahlreiche Räume in Palästen und elitären Privathäusern wurden nämlich mit einem malerischen Raumdekor ausgestattet, der die Natur verherrlichte. In einigen Fällen handelt es sich um ein erdachtes Biotop mit einer Fülle von Tieren, Vögeln und Pflanzen, die in der Natur nicht gemeinsam vorkommen, eine gemischte Flora und Fauna aus der Berg- und Flusswelt. Von besonderem Interesse ist in unserem Zusammenhang Raum 14 der Villa von Ajia Triada, der lediglich 1,60 mal 2,35 Meter misst (also weniger als 4 m2 groß ist). Drei Wände dieses fensterlosen Raumes waren vollständig ausgemalt, die vierte nahmen zwei Türen eines Polythyron ein, von denen eine als Ein233

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gang diente. Die Beleuchtung dieses Raumes war nur mit Öllampen möglich gewesen, weil sich die schmale Tür zu einer Vorhalle und nicht zu einem offenen Raum hin öffnete. Auf der Ost-Wand sehen wir eine sehr anmutige landschaftliche Szenerie mit reichem vegetabilem Dekor, in der eine reich gekleidete Frau barfuß in einer eigenartigen Haltung vor einer Mauer steht. Die Fresken der Seitenwände zeigen unterschiedliche Landschaften: zum einen eine Felsenlandschaft mit Tieren (Süd) und zum anderen eine Gartenlandschaft mit Krokussen und Lilien auf blauem Hintergrund, zwischen denen eine knieende Frau dargestellt ist (Nord). Wie lässt sich hier die Tatsache erklären, dass die Minoer einen kleinen, schlecht beleuchteten Raum, der architektonisch schlicht und unauffällig gestaltet war, mit einem ›Bildteppich‹ in Freskotechnik bemalten? Der Widerspruch zwischen Größe und ästhetischer Qualität der gemalten Bilder zum einen und ihrer visuellen Wahrnehmung nur durch künstliches Licht zum anderen scheint einen rein profanen Charakter dieser Räume auszuschließen. Die vollständige Bemalung der Wände eines kleinen fensterlosen Raumes legt die Vermutung nahe, dass man hier eine Naturwelt in Miniatur und somit die Illusion einer sakralen Landschaft schaffen wollte. Es ist natürlich möglich, dass der religiöse oder rituelle Sinn eines solchen Bildes darin bestand, eine künstlich erschaffene Kulisse für die Durchführung des ekstatischen Rituals innerhalb eines Gebäudes zu schaffen. Darauf scheint das eindrucksvolle Bildprogramm von Xeste 3, einem Kultbau in Akrotiri auf Thera, hinzudeuten, der offensichtlich als Austragungsort von Initiationsriten fungierte, deren Ablauf vielleicht in der freien Natur begann und innerhalb der Stadt endete. Alternativ dürfte man diese bebilderten Kammern als Meditationsraum für einen minoischen Priester, Schamanen oder eine andere Person deuten. Es ist nicht ganz abwegig zu vermuten, dass die Minoer im urbanen Kontext einen abgeschotteten ›Erlebnisraum‹ als Ersatz für die Natur erschufen. Hierin könnte man, umgeben von Bildern einer paradiesischen Landschaft, die unter dem gedämpften Licht einer Öllampe sichtbar wurden, innehalten. Der Zweck dieses Meditationsraumes könnte die Aufhebung des Abstands vom dargestellten Prototyp, also der Natur, sowohl in räumlichem als auch in zeitlichem Sinne gewesen sein: räumlich als Überbrückung der geografischen Entfernung von der Wildnis der Berge und zeitlich als 234

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Überbrückung der kalten Wintermonate, die den wiederkehrenden Tod der Natur markierten. Die minoische Kultpraxis war allerdings nicht immer auf eine direkte oder inszenierte Verbindung mit der Natur angewiesen. Innerhalb von Palästen, Villen und einfachen Häusern hat es Räume gegeben, in denen Riten durchgeführt wurden oder die Pietät eines Individuums oder einer kleinen Gruppe Ausdruck finden konnte. Dazu zählen die sogenannten Lustralbecken, kleine, eingetiefte Räume mit Balustrade, die vom Erdgeschoss über eine kleine abgewinkelte Treppe erreichbar waren. Sie werden mit Reinigungsriten in Verbindung gebracht. Ihre rituelle, nicht-praktische Funktion wird auch dadurch ersichtlich, dass sie am Ende der SM I A-Phase fast ausnahmslos zugeschüttet und somit außer Funktion gesetzt wurden. An dieser Maßnahme lässt sich eher das abrupte Ende einer rituellen Praxis und nicht eines profanen praktischen Bedürfnisses erkennen. Ferner gibt es, wie bereits erwähnt, Anzeichen von rituellen Handlungen in unterirdischen Räumen mit einem oder mehreren Pfeilern (›Pfeilerkrypten‹), die sich entweder durch Opfergaben oder fixe Installationen materialisieren. Spuren einer konkreten Götterverehrung innerhalb eines Gebäudes sind erst ab der Spätpalastzeit deutlich erkennbar, als uns kleine Schreine mit fix installierter Bank begegnen, die wahrscheinlich als Aufstellungsort von Kultgegenständen diente.

Kult als Transzendenz Werfen wir nun einen Blick auf das Individuum und die Interaktion zwischen Mensch und Raum innerhalb einer sakralen Sphäre. Die Bilderwelt lehrt uns, dass die wichtigsten Zeremonien der minoischen Religion stets in einer landschaftlichen Umgebung eingebettet waren und im Freien, in einigen Fällen vor einem Kultbau oder Schrein, stattfanden. Auf einem reliefierten Steingefäß aus Knossos wurde die Kulisse dieser Rituale mit semantisch sehr klaren Mitteln ins Bild gesetzt: Wir 235

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sehen eine Temenos-Mauer, die den Bereich des Heiligtums abgrenzt, in dessen Mitte ein Altar steht. Im Hintergrund erscheint ein Baum, der vielleicht in einem inneren Bereich des Heiligtums – vermutlich einem heiligen Hain – lag. Im Mittelpunkt dieser Kultpraxis stand wohl ein ekstatisches Ritual, bei dem Adoranten bzw. Priester als Hauptakteure aufgetreten sind. Die hier stattfindende Ritualhandlung hatte drei Bestandteile: das kräftige Schütteln eines Baums, einen ekstatischen Tanz oder kräftiges Schwingen des Körpers und das Berühren, Umarmen bzw. Küssen eines Steinmals (Baitylos). Die scheinbar unkontrollierbaren Bewegungen der Personen, die an diesen Handlungen beteiligt waren, versinnbildlichen den orgiastischen Charakter dieser religiösen Begegnung. Der Tanz erscheint als Ritualhandlung von entscheidender Bedeutung, wenn es uns darum geht, das Dreieck ›sakraler Ort – Mensch – religiöse Erfahrung‹ greifbar zu machen. Diese Handlung ist aus räumlicher Sicht zweckfrei und stellt somit das wichtigste Medium der transzendentalen Erfahrung dar. Dies wäre mit dem oben erläuterten Charakter der minoischen heiligen Räume als Stimmungsräume, die ihre Sakralität der atmosphärischen Wirkung der von Menschen wahrgenommenen Natur verdankten, völlig kongruent. Der ekstatische Tanz als Entrücken von der alltäglich-praktischen Welt des zweckhaften Handelns, als tiefe metaphysische Erfahrung, war herausgehoben aus dem historischen Geschehen und zielte auf die Vereinigung des Menschen mit dem Raum ab. Diese nachvollziehbare körperliche und mentale Erfahrung dürfte man als reale Grundlage des minoischen Epiphanie-Rituals betrachten: Raumwahrnehmung als Ausgangspunkt des Sakralen, zweckfreies Bewegen im Raum mit dem Ziel, eins mit dem Raum zu werden, ekstatische Erfahrung als Höhepunkt dieses Erlebnisses, die schließlich in der visionären Erscheinung des Göttlichen gipfelte. Es ist vielleicht überflüssig, auf den krassen Gegensatz zwischen diesem ekstatischen Ritual, dessen Potenz in körperlich ergreifenden Wahrnehmungen besteht, und einer kultischen Prozession hinzuweisen. Die Prozession stellt die Quintessenz einer eher nüchternen Beziehung zwischen Mensch und Gott dar, die ihren Sinn in der Versorgung des Letzteren durch den Ersteren im Rahmen eines do-ut-des-Verhältnisses findet. Ein solches zweckgerichtetes Fortbewegen mit der konkreten Absicht der Darbringung der Gaben wäre im Rahmen der schöpferi236

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schen Raumwahrnehmung in der Natur durch Tanz und Ekstase fehl am Platz. Es herrscht allgemeiner Konsens darüber, dass der Sinn des dargestellten Rituals das Heraufbeschwören der göttlichen Erscheinung war. In einigen dieser Szenen steigt tatsächlich die Gottheit – in kleinerem Format dargestellt – vom Himmel hinab und wird offensichtlich von den sich in Trance-Zustand befindlichen Akteuren des Rituals visuell wahrgenommen. Die bildliche Umsetzung dieses Epiphanie-Rituals ist uns in verschiedenen Varianten – mit oder ohne göttliche Erscheinung, mit einer oder allen drei rituellen Handlungen (Baumschütteln, Tanzen, Umarmen des Baitylos) – bekannt. Wie das Ritual tatsächlich abgelaufen ist und wie die Kultgemeinde an der Epiphanie der Gottheit – an dieser Ankunft des Heiligen in der wahrnehmbaren Welt – teilhatte, lässt sich natürlich aus diesen kursorischen Darstellungen nicht sagen. Man darf allerdings vermuten, dass sich auch die passiven Teilnehmer dieses ekstatischen Ritualdramas seiner enormen suggestiven Kraft nicht entziehen konnten. Die offensichtlich echte Ekstase der Akteure reichte bereits, um die Mitglieder der beiwohnenden religiösen Gemeinschaft zu überzeugen, dass sich die göttliche Epiphanie gerade vor ihren Augen vollzog, auch wenn sie von ihnen selbst visuell nicht wahrgenommen werden konnte. Wenn wir diese Szenen als zentrale Bildmanifestationen der minoischen Kultpraxis betrachten möchten, können wir einige Hypothesen über die besondere Essenz des minoischen religiösen Glaubens aufstellen. Das, was diese Bilder implizieren, ist eine Religion, die mit den stark theozentrischen jüdischen und christlichen Glaubensvorstellungen wenig gemeinsam hat, eine Religion, in der hingegen schamanistische oder orgiastische Elemente überwiegen. Nicht der Gott und die durch Beten, Flehen und Weihen geprägte Kultpraxis anderer Religionen stehen hier im Mittelpunkt, sondern Ritualhandlungen, bei denen der menschliche Körper das Medium der transzendentalen Erfahrung, ein Kanal der einverleibten Wahrnehmung des Numinosen war. Dieses Verständnis der minoischen Religion gewinnt an Plausibilität, wenn man an das Aufblühen späterer orgiastischer Kulte auf der Insel und insbesondere an den des kretischen Zeus denkt. Es wäre sicherlich anmaßend zu glauben, dass wir mit diesen ekstatischen Ritualen das Wesen der mi237

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noischen Religion vollständig erfassen können. Diese Szenen geben uns Einblick in nur einen Aspekt der minoischen Religion. Doch scheint dieser Aspekt, wenn man von den Bildträgern, etwa den Goldringen als Insignien der Palast- oder Priesterelite, ausgeht, sehr bedeutend gewesen zu sein. Neben der oben angesprochenen ekstatischen Epiphanie, die entweder nur für eine Person oder für die ganze teilnehmende Gruppe erfahrbar war, wird eine zweite, nicht-ekstatische Form des Epiphanie-Rituals angenommen, bei der eine Priesterin oder ein Priester die Rolle des Gottes übernahm und als dessen Verkörperung auftrat. Diese Vermutung gewinnt anhand von bestimmten architektonischen Befunden in Knossos an Plausibilität. In drei Häusern (Royal Villa, House of the Chancel Screen, House of the High Priest) existierten, wie bereits erwähnt (c Kap. 8), Räume mit vermutlich kultischem Charakter, deren hinterer Bereich durch eine Balustrade abgetrennt war und die Basis eines Sitzes oder ›Throns‹ bzw. einen Altar aufgenommen hat. Die beiden ersten Häuser böten eine ideale Kulisse für ein solches Erscheinungsritual. Dies gilt insbesondere für die ›Royal Villa‹, in der der Bereich hinter der Balustrade durch einen kleinen Lichthof mit dem Obergeschoss kommunizierte. Durch diese ausgeklügelte architektonische Gestaltung bestand die Möglichkeit einer akustischen Kommunikation zwischen der sitzenden/thronenden Person und Personen im Obergeschoss, ohne dass Letztere von den hinter der Balustrade Stehenden gesehen werden konnten. Ein weiterer Raum mit ähnlichem performativem Potenzial liegt im Palast von Knossos selbst. Es ist der berühmte ›Thronraum‹, der eine lange Benutzungsgeschichte aufweist. Der Name, den ihm Evans gegeben hat, ist irritierend, da es sich dabei trotz des Vorhandenseins eines Thrones aus Gipsstein offensichtlich nicht um den eigentlichen Thronraum des Palastes handelt. Es ist eher davon auszugehen, dass hier eine wichtige Person, allem Anschein nach eine Priesterin, im Rahmen eines Epiphanie-Rituals thronte. Dafür sprechen eine Reihe von interessanten Indizien. Die Wandmalerei an der Nordwand hinter dem Thron zeigt zwei antithetische Greifen. In der minoischen Ikonografie gibt es mehrere Szenen mit Greifen, die eine zentrale Gestalt, offenbar eine Göttin, flankieren. Die in der Forschung bereits geäußerte Vermutung, dass die Person, die hier thronte, zum Bestand238

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teil des Bildes mit den beiden Greifen wurde, sodass sie als von Mischwesen flankierte Göttin wahrgenommen werden konnte, erscheint sehr plausibel. Hier wurde offensichtlich die Barriere zwischen Bild und Betrachter negiert. Die thronende Person wurde zum Teil des Bildes, sodass die bemalten Greifen, welche den oder die Thronende flankierten, in den realen Raum eindrangen, der ja der Raum des Betrachters war. Dass wir es bei diesem illusionistischen Effekt nicht mit einer wilden Hypothese der modernen Forschung, sondern mit einer beabsichtigten Wirkung seitens derjenigen, die diesen Raum gebaut und ausgestaltet haben, zu tun haben, zeigt uns ein entscheidendes Detail: Die Verschmelzung zwischen Bild und realem Raum wurde nicht nur durch die räumliche Konstellation von Thron, thronender Person und den Greifen erzielt. Wie man auf einem Grabungsfoto noch eindeutig erkennen kann, verschwindet der obere Abschluss der Rückenlehne des Thrones in die Stuckschicht des Freskos. Dadurch werden Thron, thronende Person und Bild endgültig zum Teil eines erfahrbaren Ganzen und lassen dadurch keinen Zweifel an dem Effekt, der hier intendiert war. Der Thronraum war ein ›virtueller‹ Raum, in dem zwei Dimensionen der erfahrbaren Realität, die reale Sphäre des Raumes und die imaginierte Sphäre des Bildes, miteinander verschmolzen und damit die Grundlage für eine besondere religiöse Erfahrung boten.

Heilige Dinge Die materielle Dimension der minoischen Kultpraxis umfasst ein breites Spektrum an Gegenständen, Tieren und Pflanzen, die im Rahmen von bestimmten Ritualen eine Rolle gespielt haben. Ihre genaue Bedeutung sowie der Grund, warum sie eine rituelle Signifikanz erlangt haben, bleibt uns wegen des Fehlens von relevanten schriftlichen Quellen in der Regel verborgen. Einige der Kultinstrumente, wie die Doppelaxt oder der Zeremonialhammer, waren ursprünglich Geräte mit einer rein praktischen Funktion. Auf der anderen Seite gibt es Gegenstände, wie die 239

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menschen- bzw. tierförmigen Spendegefäße, die ausschließlich erfunden wurden, um Kultzwecken zu dienen. All diese Objekte konnten zu rituellen Symbolen überhöht werden, welche als Miniaturen oder zweidimensionale Darstellungen ihr dingliches Vorbild repräsentierten. Auch im Fall der Kultpraxis ist man gezwungen, mit der negativen Evidenz zu beginnen. Das Erste, was man hier vermisst, sind Kultstatuen und fixe Altäre. Für Erstere gibt es, wie bereits erwähnt, keinen einzigen sicheren Beleg. Was die fixen gebauten Altäre betrifft, ist ihre Existenz eigentlich nur durch die Ikonografie belegt. Die konkreten archäologischen Zeugnisse sind eher bescheiden und beziehen sich auf einfache Steine oder Steinplatten, die offensichtlich eine solche Funktion erfüllten. Wenn wir uns nun dem zuwenden, was uns durch reichliche materielle Zeugnisse überliefert ist, müssen wir mit den Kultgeräten anfangen, die häufig in archäologischen oder ikonografischen Kontexten auftauchen. Mobile Opfertafeln aus Stein oder Ton scheinen die Rolle von fixen Altären zu übernehmen. Dazu zählen auch die sogenannten doppelkonischen Steinaltäre. Diese kühne minoische Erfindung erlaubte durch ihre modulare Funktion das Nebeneinanderstellen von mehreren Einheiten, um eine große Altarfläche oder sogar Plattform zu bilden. Dies lässt sich sowohl durch archäologische als auch durch ikonografische Zeugnisse belegen. Vier solche doppelkonische Altäre lagen in situ, und zwar nebeneinander, am freigelegten Eingang des palastähnlichen Gebäudes von Archanes und bildeten somit eine größere Altarfläche. In der majestätischen Darstellung der ›Göttin‹ in der Wandmalerei vom Obergeschoss von Xeste 3 in Akrotiri auf Thera, thront diese Gestalt auf einer großen mehrstufigen Plattform, die eben aus solchen doppelkonischen ›Altären‹ zusammengestellt ist. Opfertafeln, doppelkonische Altäre sowie die Darstellungen von Klappstühlen machen auf die mobile Dimension des minoischen Rituals aufmerksam, die für sein Verständnis sehr bedeutend ist. Der Gebrauch von tragbarem Kultmobiliar spricht eindeutig für die Tendenz oder gar das Bedürfnis, Rituale außerhalb von gebauten Räumen und deren fixen Installationen zu feiern. Trotz der oben angesprochenen Bedeutung von ekstatischen Ritualen und transzendentalen Erfahrungen in der minoischen Religion steht außer Zweifel, dass die Gabe eine der wichtigsten Formen der Interaktion 240

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zwischen Menschen und Göttern darstellte. Die Adoranten, die eine heilige Stätte besuchten, brachten kleine Menschen- und Tierstatuetten, Objekte, Miniaturen sowie blutige und unblutige Opfer als Weihgeschenke für die Gottheiten mit. Man opferte Tiere (darunter Stiere, Rinder und Ziegen) oder brachte den Göttern Früchte, Blumen, Zweige, Wein und Öl. Neben den gerade erwähnten Altären und Opfertafeln gibt es fixe oder mobile Kernoi (Mischgefäße), die über mehrere Schalen bzw. Eintiefungen zur Aufnahme von festen und flüssigen Spenden verfügten, Rhyta (Spendegefäße) in konischer, menschlicher oder tierischer Form, mit denen man flüssige Opfer durch ein enges Loch spendete. Als wichtigstes minoisches Kultgerät, das sogar eine sehr lange Laufzeit aufweist, gilt die Doppelaxt, welche auch als Symbol allgegenwärtig war. Sie erscheint auf Tongefäßen, Miniaturobjekten, ja sogar als eingeritztes Zeichen auf Steinblöcken. Warum dieses Gerät zum wichtigsten minoischen Kultinstrument avancierte, ist unklar. Die häufige Kombination von Doppeläxten mit Boukrania (Stier-/Rinderköpfen) lässt eine gewisse Rolle im Stieropferritual als Tötungsinstrument vermuten. Ihre Verwendung als unsichtbares ›architektonisches Zeichen‹ an den Steinblöcken des Palastes von Knossos und anderer Paläste und elitärer Häuser unterstreicht ihre rituelle Signifikanz genauso wie die Tatsache, dass sie die erste Komponente des Wortes ›Labyrinth‹ (Altgriechisch labrys = Doppelaxt) darstellt. In späteren Perioden der Inselgeschichte ist interessanterweise das Labyrinth als literarisches oder visuelles Emblem untrennbar mit Knossos verbunden. Eine Reihe von Tieren und Pflanzen besitzen eindeutige rituelle Konnotationen, die über den bloßen Akt ihrer Darbietung an bzw. Opferung für eine Gottheit hinausgehen. An erster Stelle soll hier der Stier erwähnt werden, der als Gegner des Menschen im gefährlichen Stiersprung, als Opfertier oder Emblem (Stierkopf bzw. Boukranion) eine wichtige Rolle in der minoischen Bilderwelt einnimmt. Interessant ist allerdings, dass seine rituelle Signifikanz ausschließlich in der menschlichen Sphäre angesiedelt war, da dieses Tier in der Bilderwelt nie mit Gottheiten interagiert. Im klaren Gegensatz dazu steht die Schlange, die eventuell bereits seit der Vorpalastzeit als göttliches Attribut erscheint. Die knossischen ›Schlangengöttinnen‹ stellen die eindrucksvollste Ver241

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körperung dieser Verbindung dar. Die Frage, ob diese Statuetten Gottheiten oder alternativ Priesterinnen darstellen, die zu bestimmten rituellen Anlässen mit echten Schlangen als Verkörperung der Gottheit erschienen, lässt sich nicht beantwortet. Beides wäre möglich. Schlangen scheinen allerdings eine rituelle Funktion nicht nur im Palastbereich, sondern auch im häuslichen Kontext entfaltet zu haben, wie entsprechende archäologische Funde zeigen. Aufgrund der ikonografischen Evidenz wird deutlich, dass auch Skorpione und Vögel eine gewisse magische/apotropäische (Skorpione) oder rituelle Bedeutung (Vögel) gehabt haben müssen. Eine besondere Erwähnung verdienen in diesem Zusammenhang Tritonmuscheln, die sowohl in natürlicher Form als auch in Stein imitiert in rituellen Befunden vorkommen. Ihr Gebrauch im religiösen Kontext wird durch entsprechende Darstellungen bestätigt. Aus einer Bildszene auf einem Bergkristall-Siegel aus der Idäischen Grotte lässt sich wahrscheinlich erschließen, dass ihre rituelle Funktion mit akustischen Qualitäten verbunden war. Durch mehrere archäologische und ikonografische Zeugnisse wird außerdem die Bedeutung der sogenannten Kulthörner evident. Sie treten als dreidimensionale Objekte bzw. zweidimensionale Darstellungen entweder selbstständig oder als Bekrönung von Gebäuden und Altären auf und haben offensichtlich nicht nur eine dekorative, sondern vordergründig eine rituelle Bedeutung. Dies wird durch ihre häufige Kombination mit Doppeläxten bestätigt. Es erscheint nahezu selbstverständlich, die Kulthörner als symbolhafte Darstellung von Stier- oder Rinderhörnern zu deuten. Nach einer alternativen und sicherlich überlegenswerten Deutung symbolisieren sie allerdings die Doppelgipfel des Psiloritis-Massivs, so wie man sie nur vom Palast von Phaistos bzw. der umliegenden Region aus sehen kann. Auch hier gibt es keine stichhaltigen Indizien, die uns helfen könnten, uns definitiv für eine dieser beiden Möglichkeiten zu entscheiden. Es gibt weitere Kultgegenstände, wie den ›Kultknoten‹, oder das sogenannte ›snake frame‹, dessen genaue Bedeutung im Dunkeln bleibt. Erstere sind knotenförmige Gebilde, die als reale Objekte und als ikonografisches Motiv bezeugt sind. Letztere sind uns nur durch Darstellungen als Kopfbedeckung von Göttinnen bekannt. Sie bestehen in der Regel aus einem doppelten bis dreifachen ›Hörnerpaar‹ mit perlenförmigen Enden. In einigen Fällen erhalten sie Aufsätze in Form einer 242

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Doppelaxt bzw. eines rad- oder scheibenförmigen Elements. Trotz der einhelligen Meinung, dass dieser nur aus der Bilderwelt bekannte Kronentypus ein reales Objekt war, bleibt sein Herstellungsmaterial umstritten. Es ist möglich, dass er ursprünglich aus Stierhörnern oder aus dem Geweih anderer Tiere bestand. Vermutlich handelt es sich dabei um eine Hörnermaske, die bei Ritualen getragen wurde. Es ist allerdings nicht auszuschließen, dass diese Krone, der wahrscheinlich sehr früh eine emblematische Funktion zugesprochen wurde, auch aus Metall, Stoff, Leder oder anderen Materialien hergestellt wurde. Eine besondere Erwähnung verdienen hier schließlich Kleider, die, wie relevante Darstellungen bezeugen, Gottheiten bzw. Priesterinnen dargebracht und präsentiert werden. Das Ritual, in dessen Mittelpunkt sie standen, umfasste sehr wahrscheinlich auch weitere Etappen, wie deren Fertigung und eventuell deren Anbetung sowie das Moment des Bekleidens einer Gottheit, einer Priesterin bzw. eines Priesters oder einer Statue.

Glanzvolle Feste Den Gegenpol zum orgiastischen Charakter des Epiphanie-Rituals und der damit verbundenen Ritualakte stellen Feste dar, bei denen die Strenge und die Regelhaftigkeit der rituellen/zeremoniellen Handlung überwiegen. Auf der Ebene der Bilder verdichten sich solche Feste in einen sehr klaren Darstellungstypus: die Prozession. Elegant gekleidete Männer und Frauen, die oft kostbare Gaben tragen, schreiten gravitätisch zu einem Ziel, das leider nur selten dargestellt bzw. erhalten ist. Dies ist einer der Gründe, warum wir den eigentlichen Charakter der dargestellten Handlung und damit die Frage, ob es sich dabei um ein religiöses Fest oder eine glanzvolle Staatszeremonie handelt, nicht mit Sicherheit beantworten können. Im Palast von Knossos haben Hunderte von lebensgroßen Prozessionsträgern die Wände des Korridors gefüllt, der vom Südwest-Eingang zum Zentralhof führte. Der illusionistische Effekt dieses Freskos ist offensichtlich: Jeder, der sich im Korridor be243

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wegte, befand sich inmitten einer eindrucksvollen Prozession, die ihm nicht nur schilderte, was sich eigentlich in genau diesen Räumen periodisch abspielte, sondern ihm auch ein für das Betreten des Palastes angemessenes Verhalten ›diktierte‹. In anderen Medien kleineren Formats wie Siegeln, reliefierten Steinvasen und Elfenbeinplättchen werden Prozessionen in der Regel nicht ganz, sondern als Ausschnitte dargestellt, was sicherlich mit der geringen Größe des Bildträgers zu tun hat. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass bei diesen verkürzten Darstellungen nicht unbedingt das Ziel einer Prozession, sondern nur ein beliebiger Abschnitt gezeigt werden konnte. Das Problem, dass wir nicht eindeutig zwischen einem religiösen Fest und einer Staatszeremonie unterscheiden können, relativiert sich, wenn man seine Aufmerksamkeit auf den Aspekt dieser Handlungen richtet, der aus gesellschaftlicher Sicht das Entscheidende war, nämlich die Bedeutung der Feste für die konnektive Struktur der minoischen Gesellschaft. Diese außeralltäglichen Zusammenkünfte förderten oder forderten sogar das aktive und passive Partizipieren des Kollektivs an einer Handlung, die für sein Selbstverständnis essenziell war. Genau dieser Aspekt der Feste kommt in den beiden knossischen Miniaturfresken (›Grandstand Fresco‹ und ›Fresco of the Sacred Grove and Dance‹, c Kap. 5) auf eine eindrucksvolle Weise zum Ausdruck. Der genaue Charakter der dargestellten Zeremonien bleibt uns zwar verborgen, dennoch bieten uns beide Bilder einen wichtigen Einblick in die Ideologie der neupalastzeitlichen Gesellschaft oder – besser gesagt – ihrer Elite: Wichtig ist hier nicht das, was dargestellt wird, sondern die Art und Weise, wie es dargestellt wird, genauer wie man diese Handlungen in der Realität inszenierte und dann auf der Ebene der Bilder verewigte. Durch die visuelle Prominenz des Publikums in beiden Fresken erleben wir die knossische Bevölkerung als eine Festgemeinschaft. Die enthusiastischen Zuschauer des ›Sacred Grove and Dance‹-Freskos (›Heiliger Hain und Tanz‹) beleben die dargestellte Handlung enorm und machen eine identitätsstiftende Strategie der Elite explizit: Bei Festen, Zeremonien und athletischen Spektakeln, die offensichtlich von der Elite veranstaltet wurden, konnte ein (großer) Teil der Bevölkerung passiv teilnehmen. Diese festlichen Ereignisse entfalteten eine starke gesellschaftsintegrative Funktion, indem sie Elite und breite Bevölke244

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rung zusammenbrachten. Trotz der sozialen Unterschiede haben sich dabei beide Klassen als Teil ein und desselben Kollektivs verstanden. Bei diesen Anlässen des gemeinsamen Erlebens bemühte sich die Elite, wie in vielen anderen Kulturen und Perioden, durch Freigiebigkeit, welche in der Veranstaltung von großen öffentlichen Festen zum Ausdruck kommt, eine gemeinsame kollektive Identität zu inszenieren. Solche Feste bzw. Zusammenkünfte haben in zahlreichen Fällen sichtbare archäologische Spuren hinterlassen. Dies betrifft in erster Linie Befunde von Hunderten von minoischen henkellosen Bechern, welche bei diesen Anlässen an die Festgemeinschaft verteilt wurden, um dann wieder am Ort des feierlichen Geschehens hinterlassen zu werden. Innerhalb dieser kraftvollen Bilderwelt der außeralltäglichen Handlungen gibt es ein klar dominierendes Bildthema, das nicht nur quantitativ stark, sondern auch auf vielen verschiedenen elitären Bildmedien vertreten ist: Es ist die dramatische Begegnung zwischen jungen Akrobaten und dem Stier, der zwar in vielen Kulturen einen bildlichen Niederschlag gefunden hat, sich allerdings nur im minoischen Kreta zu einem derartigen Bildemblem von großer Ästhetik und symbolischer Signifikanz verdichtete. Über den Kernpunkt dieser Handlung, wie nämlich der Akrobat mit einem Sprung über den Rücken des Stiers hinwegsetzte, war die Forschung lange Zeit uneins. Die meisten der bislang vorgeschlagenen Stiersprungtechniken verband miteinander ihre praktische Undurchführbarkeit. Mittlerweile ist es deutlich geworden, dass es nur eine Sprungtechnik gibt, die in den Bildmedien nicht nur unmissverständlich, sondern auch mehrfach belegt ist: Der Akrobat sprang über die Hörner des anlaufenden Stiers – ohne sie zu berühren –, stütze sich mit den Händen auf der Schulterpartie des Tieres ab, vollführte einen Überschlag und landete hinter dem Stier auf dem Boden. Gelegentlich wurde er von Helfern assistiert, die den Stier an einem Horn packten und dadurch verlangsamten oder für eine sichere Landung des Springers auf dem Boden sorgten. Eine strenge Kategorisierung dieser Handlung als ›Ritual‹, ›Sport‹ oder ›Spiel‹ ist unmöglich und war vielleicht nicht einmal erwünscht, solange wir die dieser Gesellschaft inhärenten Begriffe und gedanklichen Konzepte kaum kennen. Die ikonografischen Zeugnisse unterstreichen die Formalisierung der dargestellten Aktion, die vor einem Publikum zu einem bestimmten feierlichen Anlass und offen245

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sichtlich in einer stereotypen Sequenz stattfand. An der dramatischen Begegnung zwischen Mensch und Stier, an dem erwarteten Triumph des menschlichen Geschicks über die rohe animalische Kraft und schließlich am tödlichen Ernst des ›Spiels‹ haftet etwas Transzendentales. Die Akrobaten sollten den Stier nicht töten, sondern nur ›bezwingen‹, indem sie ihre Meisterschaft im Umgang mit ihm beweisen und ein Gleichgewicht zwischen menschlicher Geschicklichkeit und animalischer Kraft herstellen konnten. Für die Ritualisierung des Stierspiels spricht ferner die Tatsache, dass der Stier nachweislich eine zentrale Rolle im minoischen Kult spielte. Beredte Zeugnisse für diese Bedeutung sind unter anderem die Stier- und Stierkopfrhyta sowie Darstellungen eines Stieropfers. Der letzte und wegen seiner Offensichtlichkeit vielleicht wichtigste Grund ist die enorme Signifikanz des Stiersprungmotivs in der minoischen Ikonografie. Im Palast von Knossos trat das Thema dem Betrachter ›auf Schritt und Tritt‹ vor Augen: Etwa 20 bemalte Stuckreliefs und neun Fresken, die Stiere, Stiersprung- bzw. Stierfangszenen darstellen, sind über nahezu das gesamte Palastareal verteilt. Die zentrale Bedeutung des Themas in der minoischen Bilderwelt zeigt sich ferner durch seine Verbreitung in verschiedenen Bildmedien mit Prestigecharakter, darunter Goldringe, Siegel, Steingefäße mit Reliefdekor, Miniaturarbeiten aus Elfenbein und Bergkristall und vollplastische Werke, wie Bronze- und Elfenbeinstatuetten. Aus all diesen Gründen liegt es nahe zu vermuten, dass es sich beim Stierspringen nicht um ein Spektakel, sondern um ein Ritual handelte. Und nicht einfach nur um irgendein Ritual, sondern wegen seiner unmissverständlichen Prominenz in der neupalastzeitlichen Bilderwelt um das herrschaftskonstituierende Ritual der minoischen – oder besser gesagt: der knossischen – Palastgesellschaft schlechthin. Die einzige Möglichkeit, seine hohe symbolische Signifikanz nachzuvollziehen, bietet die Annahme, dass wir es hier nicht bloß mit einem dramatischen Schauspiel zu tun haben, an dem professionelle Akrobaten oder gar Sklaven auftraten, sondern mit einem elitären Initiationsritual, das die Quintessenz des elitären Selbstverständnisses darstellte. Ein entscheidendes Indiz, um die Verbindung zwischen dem ritualisierten Springen über den Stier und der Herrschaft konkreter fassen zu können, bieten uns einige Freskofragmente, bei denen das Stierspringen vor einer architektonischen Kulisse unter Anwesenheit von Zuschauern dargestellt wird. Die 246

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Einbettung dieser Handlung in das Herz des urbanen Lebens von Knossos, nämlich den Palast, und ihre deutliche Sichtbarkeit und Wirkung sind wohl der Schlüssel für deren Interpretation: Das Kollektiv nahm dabei zwar passiv, dafür aber enthusiastisch am Ritualgeschehen teil. Als absoluter Höhepunkt eines großen Stadtfestes wurde die herausragende Rolle des Stierspringens zur Stiftung sozialer Ordnung und kollektiver Identität augenscheinlich. Die jungen Elitenmitglieder behaupteten sich mit Mut und Geschick gegen einen mächtigen Stier. Der gefährliche Sprung über das Tier symbolisierte nicht nur die Beherrschung der Kräfte der Natur, sondern demonstrierte zugleich die Überlegenheit der jungen Aristokraten gegenüber der Masse der Bevölkerung. Als Teil eines Festes hatte das Stierspiel auch eine integrierende Funktion. Das festliche Zusammensein, die völlige Vereinnahmung des Publikums (als besondere Erfahrung des Teilhabens) festigte die konnektive Struktur der Gemeinschaft. Die primäre Funktion dieser Handlung, die rein rituelle Notwendigkeit eines Übergangs in eine andere soziale Rolle, scheint hier von einer sekundären Funktion ergänzt bzw. überlagert worden zu sein, nämlich einer staatstragenden. Mittels ritueller Inszenierung wurde hier vor allem Identität zum Ausdruck gebracht. Man könnte ferner vermuten, dass die Inszenierung des Stierspiels als öffentliches Spektakel und seine offensichtliche Verbindung mit einem großen Fest zweifellos einen ungeheuren gesellschaftlichen Druck auf die jungen Elitenmitglieder erzeugte. Jeder von ihnen, der irgendwelche Ansprüche auf ein höheres Amt oder gesellschaftliche Anerkennung hatte, musste zunächst als Stierspringer seine besondere körperliche und mentale Befähigung unter Beweis stellen. Dies würde einen Typ charismatischer Herrschaft im Sinne Max Webers implizieren, in der zwar nicht der König selbst, sondern die jungen Thronanwärter ihre Ansprüche durch Leistung und Charisma legitimierten. Die lange Vorbereitung, die die Gefahr und Ästhetik dieses Spiels voraussetzten, sowie die berauschende Erfahrung der Begegnung mit einem Stier in der Arena machen es wahrscheinlich, dass wir es hier nicht mit einem einmaligen pubertären Initiationsprozess zu tun haben, sondern mit einem Ritual, an dem junge, durchtrainierte Elitenmitglieder mehrere Male teilnehmen durften und teilnehmen wollten. Nicht das einmalige Überschreiten einer Grenze, sondern eine gelungene Karriere als Stierspringer war vermutlich das, was ihre politischen oder ge247

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sellschaftlichen Ansprüche legitimieren konnte. In diesem sozialen Kontext, der durch die Dominanz des knossischen Palastzentrums geprägt war, konnte sich der Stiersprung zu einer ›akrobatischen Liturgie‹ entwickeln, die wegen ihres starken performativen Gehalts und der Verbundenheit zwischen Ausführenden und Zuschauern den Kern der elitären Ideologie formte. Alles in allem demonstrieren die Bildquellen auf unmissverständliche Weise, dass das kulturelle Selbstverständnis der neupalastzeitlichen Gesellschaft maßgeblich von Festlichkeiten geprägt war. Als kommunale Ereignisse festigten sie soziale Strukturen und bestätigten den politischen Status quo zugunsten der herrschenden Elite. Am Realitätsgehalt der Szenen mit einem begeisterten Publikum könnte ein Skeptiker vielleicht zweifeln. Was jedoch außer Zweifel steht, ist, dass sie ein sprechendes Zeugnis für die Absichten der Mächtigen sind, die hinter der Veranstaltung und Inszenierung von Festen und Zeremonien innerhalb des Palastkontexts standen. Was hier versinnbildlicht wird, ist eigentlich das Bild eines freigiebigen, guten Königs, der sein Volk mit ›Brot und Spielen‹ versorgte. Die einfachen Leute johlten vor Begeisterung am Tag des großen Festes, um dann – wie es Octavio Paz in seinem Labyrinth der Einsamkeit so treffend formulierte – »für den Rest des Jahres besser schweigen zu können«23.

Literatur Blakolmer, Fritz 2010: A Pantheon without Attributes? Goddesses and Gods in Minoan and Mycenean Iconography, in: Mylonopoulos, Ioannis (Hg.): Divine Images and Human Imaginations in Ancient Greece and Rome, Leiden/Boston, 21–61 Gesell, Geraldine G. 1985: Town, Palace, and House Cult in Minoan Crete, Göteborg Hitchcock, Louise u. a. (Hgg.) 2008: DAIS. The Aegean Feast, Liège/Austin

23 Paz, Octavio 1970: Das Labyrinth der Einsamkeit, Olten/Freiburg, S. 42.

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Jones, Donald W. 1999: Peak Sanctuaries and Sacred Caves in Minoan Crete, Jonsered Kyriakidis, Evangelos 2005: Ritual in the Bronze Age Aegean: The Minoan Peak Sanctuaries, London Marinatos, Nanno 1986: Minoan Sacrificial Ritual. Cult Practice and Symbolism, Stockholm Marinatos, Nanno 1993: Minoan Religion. Ritual, Image, and Symbol, Columbia, S.C. Panagiotopoulos, Diamantis 2006: Das minoische Stierspringen. Zur Performanz und Darstellung eines altägäischen Rituals, in: Mylonopoulos, Jannis/Roeder, Hubert (Hgg.): Archäologie und Ritual: Auf der Suche nach der rituellen Handlung in den antiken Kulturen Ägyptens und Griechenlands, Wien, 125– 138 Panagiotopoulos, Diamantis 2008: Natur als sakraler Raum in der minoischen Kultur, in: Archiv für Religionsgeschichte 10, 115–142 Pötscher, Walter 1990: Aspekte und Probleme der minoischen Religion, Hildesheim u. a. Rutkowski, Bogdan 1986: The Cult Places of the Aegean, New Haven Warren, Peter 1988: Minoan Religion as Ritual Action, Gothenburg

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»Im Moment des physischen Todes wird der Mensch zu einem lebenden Toten: Er ist weder physisch lebendig, noch gegenüber der Gemeinschaft tot.« (John S. Mbiti)24

Der Tod in einer vormodernen Gesellschaft lässt sich nicht auf bloße Jenseitsvorstellungen reduzieren. Im Gegensatz zu unserer Zeit, in der das Sterben, der Tod und der Umgang mit den Toten nahezu zum gesellschaftlichen Tabu geworden sind, standen diese Bereiche in frühen Kulturen im Mittelpunkt des Lebens einer Gemeinschaft. Der Tod einer Person, der gewaltsam in das Leben der Hinterbliebenen eingriff, setzte eine kollektive Reaktion in Bewegung. Die soziale Gruppe, zu der der Tote gehörte, traf eine Reihe von rituellen Vorkehrungen, die einen gemeinschaftsrestaurierenden Sinn hatten und die Rückkehr der Gruppe in einen ›normalen‹ Zustand gewährleisten sollten. Die Hinterbliebenen haben sich ferner nicht nur während einer Bestattung, sondern auch zu anderen Anlässen auf dem Friedhof versammelt, um in der Gesellschaft ihrer Toten feiern zu können. Begräbnisse und Totenfeiern spielten dadurch eine wichtige konnektive Rolle im Leben einer Gemeinschaft. Mit dem Andenken an ihre Toten konnte eine soziale Gruppe ihre kulturelle Identität konstruieren und festigen. Der enge Bezug zwischen Totengedenken und kultureller Erinnerung lässt sich sehr konkret nachvollziehen. Durch die enge Einbindung des Einzelnen in das Leben seiner sozialen Umgebung, die sich in jeder traditionellen Agrargesell24 Mbiti, John S. 1996: »An den Knochen kannst du erkennen, wo der Elefant verendet ist«. Der Tod in der afrikanischen Religion und Kultur, in: von Barloewen, Constantin (Hg.): Der Tod in den Weltkulturen und Weltreligionen, München, S. 221.

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schaft beobachten lässt, bildete die Erinnerung an den Lebenslauf des Toten zugleich einen Rückblick auf die Vergangenheit der Gemeinschaft. Gute und schlechte Ernten, Naturkatastrophen, Krieg und Frieden, Feste und religiöse Zeremonien waren einmalige oder sich wiederholende Episoden, die man durch das Andenken an den oder die Toten einander erzählte und weitertradierte. Da der Tod der Anderen mitten im Leben der sozialen Gruppe stand, ist es verständlich, warum der sepulkrale Bereich zu einer Arena gesellschaftlicher Interaktion werden konnte. Das Bestattungsritual war folglich nicht nur von den herrschenden Jenseitsvorstellungen oder von der traumatischen Erfahrung des Verlustes einer geliebten Person, sondern auch von anderen Parametern bedingt, die aus sozialen Zwängen resultierten. Letztere umfassten unter anderem das Bedürfnis der Selbstrepräsentation sowie die Instrumentalisierung von Verstorbenen und Ahnen für die Legitimation von Ansprüchen auf Landbesitz, sozialen Stand und politische Macht. Nur unter Berücksichtigung all dieser Faktoren kann man die minoische Bestattungspraxis als Ganzes beleuchten. Die Quellenlage für den Umgang der Minoer mit dem Tod beruht ausschließlich auf archäologischen Funden und Befunden: Grabformen, Skelettreste und Grabbeigaben. Es gibt keine schriftlichen Quellen, die auf Aspekte des Bestattungsrituals oder der Jenseitsvorstellungen Bezug nehmen. Ferner gibt es nur vereinzelt Bilder, die sepulkrale Riten thematisieren. Dieses für uns stumme archäologische Material zum Sprechen zu bringen, ist eine Aufgabe, die man nur mit Hilfe von Hypothesen und mit dem Heranziehen von ethnologischen Vergleichsbeispielen bewältigen kann. Während der Vor- und Altpalastzeit (ca. 3100–1750 v. Chr.) blieben die Bestattungssitten und daher auch die Jenseitsvorstellungen grundsätzlich konstant, sodass man diese Zeitspanne problemlos als ein historisches Kontinuum betrachten kann. Erst in der letzten Phase der Altpalastzeit (MM II) sind erste Anzeichen einer Veränderung im Bestattungsritual sichtbar. Die schwächere Präsenz von archäologischen Zeugnissen aus dieser Periode zeugt eventuell davon, dass die soziale Signifikanz von Bestattungsplätzen zugunsten der Paläste als Kristallisationspunkte der minoischen Gesellschaft abnahm. Dieser Prozess kulminiert in der Neupalastzeit, in der eine Reihe von dramatischen Veränderungen stattfinden. Die Bestattungsplätze werden plötzlich unsichtbar, 251

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da nahezu alle Gräber dieser Periode unterirdisch angelegt werden. Der Versuch der Archäologen, diese radikale Neuorientierung im Umgang mit den Toten zu verstehen, wird durch die überaus lückenhafte Überlieferungslage wesentlich erschwert. Denn gerade aus der Periode des absoluten Höhepunktes der minoischen Kultur (1750–1450 v. Chr.), in der alle anderen sozialen Sphären durch reiche materielle Zeugnisse überliefert sind, kennen wir nur eine verschwindend geringe Anzahl an Gräbern. In der nachfolgenden Spätpalastzeit gibt es wieder reichliche Zeugnisse für die Bestattungspraxis aus fast allen kretischen Regionen. In diesen letzten Etappen der minoischen Kulturentwicklung lassen sich erneut spürbare Veränderungen verzeichnen, die meist durch einen mykenischen Einfluss erklärt werden. Ein diachroner Blick auf die relevanten Zeugnisse zeigt also nicht nur Konstanten, sondern auch Brüche und Diskontinuitäten. Besonders Letztere bedürfen einer Erklärung, da Bestattungsriten und Jenseitsvorstellungen zum Kern der gemeinsamen Tradition einer Gesellschaft zählen und daher in der Regel auf Kontinuität und nicht auf Veränderung angelegt sind.

Der Tod als Übergangszustand Eines der markantesten Charakteristika des minoischen Grabrituals zeigt sich im krassen Gegensatz zwischen der meist sorgfältigen Bestattung des Leichnams und der späteren rücksichtslosen Behandlung seiner skelettalen Reste. Beginnen wir mit der primären Beisetzung des Leichnams, die im Gegensatz zu den Grabformen keine wesentlichen regionalen Unterschiede aufwies. In den frühesten Phasen der minoischen Kultur hat man die Toten direkt auf dem Grabboden beigesetzt. Erst in der fortgeschrittenen Vorpalastzeit wurde der Gebrauch von Pithoi (großen Vorratsgefäßen) und Tonlarnakes (truhenförmigen Särgen) als Grabbehältnisse eingeführt. Man verwendete sie in der Regel für einfache oder aufeinander folgende Mehrfachbestattungen. Innerhalb einer Tonlarnax oder eines Pithos wurde der Leichnam in Hockerstellung bei252

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gesetzt (in Seiten- oder Rückenlage mit hochgezogenen Knien). Bestattungen in gestreckter Lage waren in diesen funerären Behältnissen nicht möglich und treten auch unter den freien Bestattungen (den auf dem Grabboden beigesetzten Toten) nur sporadisch auf. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Beisetzung in einer Larnax oder einem Pithos durch das praktische bzw. religiöse Bedürfnis nach dem sicheren Schutz des Leichnams während des Verwesungsprozesses veranlasst wurde, da die kommunalen Gräber immer wieder für Neubelegungen geöffnet wurden, was unvermeidlich zur häufigen Störung der älteren Bestattungen führte. Nach einem Hiatus während der Neupalastzeit tauchten in der fortgeschrittenen Spätpalastzeit wieder vermehrt Tonlarnakes auf. In zahlreichen kretischen Regionen wurden viele Tote in Larnakes bestattet, die dann in ein Tholos- oder Kammergrab gelegt wurden. Die Sekundärbestattung war ein wesentlicher Teil des minoischen Grabrituals und lässt sich praktisch unverändert von der Vor- bis in die Spätpalastzeit beobachten. In den Tholosgräbern und rechteckigen Grabhäusern wurden die Skelettreste alter Bestattungen regelmäßig für Neubelegungen beiseite geräumt. Der größte Teil des postcranialen Materials wurde ohne Rücksicht in einer Ecke gestapelt bzw. aus dem Grab hinausgeworfen. In der Nekropole von Archanes hat man die Skelettreste und Beigaben der alten Bestattungen an einem Ort westlich der Grabbauten hingeworfen, wo der natürliche Fels an mehreren Stellen tief zerklüftet ist. Nur die Schädel und bisweilen auch die Langknochen erfuhren eine respektvollere Behandlung. Man beließ sie am Ort der Bestattung oder legte sie an einem neuen Platz innerhalb oder außerhalb des Grabes in größeren Gefäßen, Pithoi oder sogar Larnakes nieder. Ein interkultureller und diachroner Vergleich zeigt, dass diese differenzierte Behandlung von Leichnam und Skelett nicht nur räumlich und zeitlich weit verbreitet ist, sondern auch, dass sie mehr oder minder einheitlich interpretiert werden kann. Die Vermutung, die sich hier aufdrängt, ist nämlich, dass die Minoer, wie viele vormoderne Kulturen, den Tod als einen zweiphasigen Prozess betrachteten. Die erste Phase, die bloß einen Übergangscharakter hatte, dauerte vom Zeitpunkt des Todes bis zur Verwesung des Leichnams, während die zweite, die dann einen permanenten Zustand darstellte, erst nach der Verwesung des Körpers bis auf das Skelett einsetzte. Während der ersten Phase glaub253

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ten die Minoer wohl, dass der Tote in seinem Grab fortlebte und eine Art Halbexistenz führte. In der zweiten Phase, nach der vollständigen Verwesung des Leichnams, war die Seele von der irdischen Existenz endgültig befreit und lebte in einem rein spirituellen Jenseits weiter. Natürlich gibt es, wie bereits erwähnt, keine schriftlichen Quellen, die einen expliziten Bezug auf eine derartige Jenseitsvorstellung nehmen. Was uns hier jedoch eine gewisse Sicherheit erlaubt, ist der universale und diachrone Charakter dieses Glaubens an einen Übergangszustand zwischen Dies- und Jenseits. In verschiedenen Epochen, bei vielen Naturvölkern und sogar heutzutage in einigen modernen Gesellschaften, darunter auch in der griechischen Provinz, begegnet einem die Vorstellung des ›lebenden Leichnams‹, wonach der Tote vor der Verwesung seines Körpers die gleichen physischen Bedürfnisse wie der Lebende hatte. Angesichts dieses in Raum und Zeit weit verbreiteten Glaubens scheint es – unter Berücksichtigung der relevanten archäologischen Befunde – legitim zu vermuten, dass auch die Minoer an den Tod als einen zweiphasigen Prozess geglaubt haben. Nach dieser Auffassung wurde der Leichnam als Sitz des Toten noch respektiert und gefürchtet, während die von der Seele des Verstorbenen verlassenen skelettalen Überreste sowohl für ihn als auch für die Hinterbliebenen bedeutungslos waren. Offensichtlich betrachtete man das Skelett als keine physische Einheit mehr, die mit der Person des Verstorbenen identifiziert werden konnte. Es muss aber hier nachdrücklich betont werden, dass die Minoer nur das Skelett als menschlichen Überrest, nicht aber die Identität des Toten rücksichtslos behandelten. Ihr Interesse, die Erinnerung an die Person des Verstorbenen lebendig zu erhalten, lässt sich durch die Praxis der Zweitbestattung von Schädeln und Langknochen eindeutig dokumentieren. Der Kopf galt in vielen Epochen und Kulturen als Sitz des Lebens und war Inbegriff der Persönlichkeit und Identität des Individuums. Der Grundgedanke über den Tod als einen zweiphasigen Prozess scheint jedoch nicht der eigentliche Grund, sondern lediglich der rituelle Rahmen gewesen zu sein, welcher diese Praxis legitimierte. Die Ursache des Umbettungsritus könnte nämlich ursprünglich in einem rein praktischen Bedürfnis gelegen haben, nämlich Platz für neue Bestattungen zu schaffen. Der Platzmangel muss in Kollektivgräbern, die Hunderte von Bestattungen beherbergten, sehr groß gewesen sein. Die Vor254

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stellung, dass sich der Tote nach der Verwesung des Leichnams nicht mehr auf Erden befand, legitimierte auf ritueller Ebene diesen unvermeidlichen Umgang mit dem Skelett. Mit der Verwandlung des Leichnams in ein Skelett verwandelte sich auch in der Gedankenwelt der Lebenden der kürzlich Verstorbene zu einem Ahnen. Ersterer wurde immer beweint und versorgt. Letzterer wurde bisweilen verehrt, blieb aber von der irdischen Welt endgültig verbannt. Dass die Zweitbestattung in ihrem Kern eher praktisch war, zeigen auch zahlreiche Fälle, in denen sie gar nicht praktiziert wurde, wie z. B. bei den Schachtgräbern von Knossos und Chania und den Pithosbestattungen in Sphoungaras und Pachyammos, weil hier offensichtlich kein Bedarf bestand, eine ältere Bestattung für eine neue beiseite zu räumen. Das oben umrissene Bild einer klaren Unterscheidung im Umgang mit Leichnam und Skelett wird durch neue Erkenntnisse etwas komplizierter. Osteoarchäologische Untersuchungen in vor- und altpalastzeitlichen Nekropolen zeigen nämlich, dass viele umgebettete Knochen im ursprünglichen Verband waren. Dies kann nur bedeuten, dass die Zweitbestattung manchmal zu einem Zeitpunkt stattgefunden hat, bei dem der Leichnam noch nicht verwest war. Vielleicht hat man tatsächlich in einigen Fällen, in denen dringend Platz für neue Bestattungen benötigt wurde, auch Knochen umgebettet, an denen noch nicht komplett verweste Fleischreste klebten. Messerspuren auf Knochen und zahlreiche Brandspuren in vorpalastzeitlichen Tholosgräbern könnten auf solche Akte der Manipulation von Bestattungen hinweisen, deren Ziel es war, im Fall einer unvollständigen Verwesung die Überreste des Verstorbenen auf Knochen zu reduzieren, sodass sein Übergang von einer irdischen zu einer spirituellen Existenz besiegelt werden konnte.

Das Grab als ›Haus des Toten‹ In der Vor- und Altpalastzeit Kretas hat man die Toten nicht begraben, sondern in gebauten oberirdischen Anlagen bestattet. Die sepulkrale Ar255

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chitektur wird von zwei Grabformen beherrscht, die sich als Vertreter zweier unterschiedlicher regionaler Traditionen definieren lassen. Die erste Grabform ist das minoische Rundgrab, auch Kuppelgrab oder Tholosgrab genannt, das etwa zum Beginn der minoischen Kultur ohne einen erkennbaren Vorläufer in der Hausarchitektur auftaucht. Es handelt sich dabei um einen Rundbau aus Stein, der einen Durchmesser von etwa drei bis neun Metern (in wenigen Ausnahmefällen bis ca. 13 Metern) und eine Wandstärke von einem halben bis einem Meter aufweist. Keiner dieser Bauten ist vollständig erhalten, sodass die Frage nach der Form des Daches nicht definitiv geklärt werden kann (eine Steinkuppel oder ein Flachdach aus Holz). Doch es gibt einige wenige Beispiele, deren Rundmauern heute noch bis zu einer beträchtlichen Höhe stehen und die Gewissheit erlauben, dass die minoischen Tholosgräber zumindest in einigen Fällen auch ein steinernes Kraggewölbe (eine Vorform des echten Gewölbes, die aus hervorspringenden Steinlagen bestand) besaßen. Sie dienten als kommunale Gräber, die mehrere Tote beherbergten. Die bestattende soziale Einheit war sicherlich größer als eine Familie oder Großfamilie und aller Wahrscheinlichkeit nach als Sippe oder eine ganze Dorfgemeinde zu identifizieren. Die meisten dieser Grabbauten weisen eine erstaunlich lange Benutzungsphase auf, die sich mit manchen Unterbrechungen sogar auf einen Zeitraum von mehreren Jahrhunderten, ja sogar einem Jahrtausend, erstrecken konnte. Es ist daher kaum verwunderlich, dass in allen minoischen Tholosgräbern Platzmangel ein Dauerproblem war, das man mit der Errichtung von Vorräumen oder Annexen bzw. mit dem regelmäßigen Ausräumen von älteren Bestattungen zu lösen versuchte. Die Tholosgräber bleiben im Prinzip eine regionale Erscheinung, da sie bis auf vereinzelte Ausnahmen nur in Zentralkreta vorkommen. Die größte Konzentration dieser Bauten findet sich im Südteil der Insel, in der bergigen Region von Asterousia, südlich der fruchtbaren Mesara-Ebene. In den anderen kretischen Regionen und insbesondere in Ostkreta herrschte interessanterweise eine andere Grabform vor, das rechteckige Grabhaus. Es ist ebenfalls eine oberirdische, aus Stein gebaute Anlage, die aus einem, zwei, drei oder mehr Räumen besteht. Im Lauf der Zeit entwickeln sich diese einfachen Bauten aus aneinandergereihten Kompartimenten zu immer komplexeren Strukturen, die den Häusern der 256

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Lebenden ähneln, was, wie wir noch sehen werden, möglicherweise mit einer bestimmten Jenseitsvorstellung zusammenhängt. Das Vorkommen von zwei verschiedenen Grabformen ist bemerkenswert, auch wenn man es nicht eindeutig erklären kann. Die Annahme von zwei unterschiedlichen Bevölkerungselementen im Zentral- und Ostteil der Insel bietet eine theoretische Erklärungsmöglichkeit, die allerdings nicht bestätigt werden kann. Diese Frage muss, wie viele andere, daher offen bleiben. Interessant ist schließlich auch zu beobachten, dass in der Nekropole von Phourni bei Archanes in Zentralkreta die zwei Traditionen, wie bereits erwähnt (c Kap. 4), aufeinandertreffen, denn hier sind mit Tholosgräbern und rechteckigen Grabhäusern beide Typen vertreten. Nach den bisherigen Funden ist allerdings davon auszugehen, dass die frühesten Grabbauten in der Nekropole von Phourni Tholosgräber waren. Die zuvor umrissene Vorstellung vom Tod als einem Übergangszustand bietet eine Erklärung für die Hausform der vor- und altpalastzeitlichen Gräber. Manche der rechteckigen Grabhäuser, wie das mittelminoische Grabhaus 18 in Phourni oder das sogenannte ›Haus der Toten‹ in Malia, imitieren die Wohnungen der Lebenden (mit Treppen, Innenräumen, Korridoren und gepflasterten Höfen). Der Friedhof von Phourni ist eine Nekropole im eigentlichen Sinne des Wortes – eine ›Totenstadt‹ – mit Straßen, Plätzen und oberirdischen, in einigen Fällen sogar zweistöckigen Bauten. Man glaubte offensichtlich, dass der Tote in diesem Übergangsstadium vor dem endgültigen Eintritt ins Jenseits seine Grabstätte bewohnte wie zu Lebzeiten sein Haus. Die Neupalastzeit stellt uns diesbezüglich vor ein Rätsel. Der sepulkrale Bereich, der durch die exponierte Lage der Nekropolen und die großen oberirdischen Gräber einen so prominenten Platz im Leben einer Gemeinschaft einnahm, wird nun fast unsichtbar. Das Interpretationsproblem, mit dem wir hier konfrontiert sind, ist ein doppeltes: Zum einen werden vor- und altpalastzeitliche Nekropolen, die über mehrere Jahrhunderte, ja sogar über ein Jahrtausend hinweg in Benutzung waren, plötzlich aufgebeben. Zum anderen bleibt unbekannt, wo und wie die Minoer nun ihre Toten beisetzten. Nur an wenigen Orten lassen sich neupalastzeitliche Gräber und Bestattungen dokumentieren. Sie zeigen eine radikale Veränderung der Bestattungspraxis, die sich al257

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lerdings bereits gegen Ende der Altpalastzeit angekündigt hat, und bieten auch eine Erklärung für die Unsichtbarkeit des sepulkralen Bereichs in dieser Periode. In Knossos, wo die meisten Gräber dieser Zeit bekannt sind, stellen die bereits in der Altpalastzeit eingeführten Felskammergräber den häufigsten Grabtypus dar. Sie konnten große Dimensionen erreichen und über mehrere Grabkammern verfügen, in denen man sich problemlos bewegen konnte, um die Toten und deren Beigaben abzulegen. Nach der Verwesung wurden die Knochen der Verstorbenen in eine der Grabkammern umgebettet. Eine singuläre Erscheinung stellt das sogenannte ›Tempelgrab‹ in Knossos dar, ein großer Bau mit einer unter- und einer oberirdischen Ebene, das mit seiner axialen Anordnung und nahezu symmetrischen architektonischen Gestaltung eher an ägyptische Gräber der 19. Dynastie als an irgendwelche minoischen Grabformen früherer oder auch späterer Perioden erinnert. Bei seiner Entdeckung war es bis auf wenige Knochen und Tongefäße nahezu leer. An den bereits erwähnten ostkretischen Orten Sphoungaras und Pachyammos wurden die Toten zum Beginn der Neupalastzeit auf eine – verglichen mit den vorangegangenen Perioden – sehr unspektakuläre Weise in umgestülpten Vorratsgefäßen beigesetzt, die man einfach unter die Erde stellte. Die neuen Grabformen bzw. die neue Bestattungsart können allerdings nicht erklären, warum wir nur verschwindend wenige neupalastzeitliche Bestattungsplätze kennen. Diese Fundsituation ist so prekär, dass einige Forscher tatsächlich gemeint haben, dass in der Neupalastzeit der Brauch der Seebestattung vorherrschte. Der dramatische Bruch bzw. die Veränderung zeugt von einer radikalen gesellschaftlichen Neuorientierung im Umgang mit den Toten und deren Einbettung in das Leben der sozialen Gruppe als kollektives Ereignis. Dahinter muss man weniger eine Veränderung in den Jenseitsvorstellungen, sondern vielmehr eine Veränderung der sozialen und politischen Faktoren sehen, die Einfluss auf das Bestattungsritual hatten. Felskammergräber bleiben auch in den späteren Perioden der minoischen Kultur der dominante Grabtypus. In der Spätpalastzeit werden sie neben Schacht- und Kistengräbern benutzt, die als neue Grabsitte vom Festland übernommen wurden. Diese sind allerdings nicht nur kurzlebig, sondern bleiben auch auf Knossos und Chania beschränkt, jene zwei kretischen Zentren nämlich, welche die engsten Kontakte mit 258

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dem griechischen Festland pflegten. In der Spätpalastzeit kommt das unterirdische Tholosgrab als neue Bestattungsform hinzu. Auch diese Form, die eine eindeutige Konzentration im Westteil der Insel zeigt, erreichte Kreta als festländische ›Mode‹ und stellte keine Weiterentwicklung der vor- und altpalastzeitlichen Tholosgräber dar, die oberirdisch angelegt waren. Aus einer diachronen Perspektive lässt sich feststellen, dass die Idee eines ›Hauses für den Toten‹ vom Anfang bis zum Ende der minoischen Kultur beobachtet werden kann, denn mit Ausnahme der Schachtgräber waren sämtliche minoische Grabformen begehbar. Ein weiterer gemeinsamer Nenner ist ihr kollektiver Charakter. Der Grundgedanke der Beisetzung eines Individuums als Teil einer Gruppe (Familie, Clan, ›Fraktion‹) bleibt somit über Jahrhunderte, ja sogar Jahrtausende hinweg bestehen. Innerhalb dieser kollektiven Bestattungsplätze konnten die Bestatteten jedoch als Individuen beigesetzt werden und einen ›privaten‹ Platz sowie eigene Beigaben beanspruchen.

Bestattungsritual Wie eine Bestattung ablief, zeigen die zahlreichen Spuren ritueller Vorgänge in den minoischen Nekropolen. Diesem archäologischen Befund lässt sich entnehmen, dass die Niederlegung des Leichnams im Grabinneren einen schlichten, zeitlich kurzen Vorgang darstellte. Der Tote wurde auf einer Bahre oder in einer Larnax bzw. einem Pithos in das Grab getragen. An der Trauerzeremonie nahmen sicherlich zahlreiche Angehörige der Gruppe teil, zu der die verstorbene Person gehörte. Der Tote wurde dann mitsamt seinen Beigaben ins Grab gelegt. Dabei wurden vermutlich die schon im Grab stehenden Larnakes oder Pithoi entleert. Das Ausräumen der Larnax oder des Pithos für eine Neubelegung bot natürlich den Anlass für eine Sekundärbestattung von Schädel und Langknochen der alten Bestattungen. Es ist allerdings möglich, dass die Umbettung von skelettalen Resten von den sukzessiven Bestattungen 259

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unabhängig war und einfach zu einem bestimmten Zeitpunkt nach der Verwesung des Körpers erfolgte. Die einzige rituelle Komponente des Bestattungsvorgangs, die im Grabinneren – neben der Versorgung des Verstorbenen mit Beigaben – archäologisch belegt werden kann, bestand in der Durchführung von Trankopfern. Die materiellen Spuren dieses Rituals stellen die in Grabkontexten häufig angetroffenen umgestülpten Tassen dar. Anscheinend diente diese Praxis der symbolischen Erinnerung an den Ritualakt. Nach dem Libationsopfer, als dessen Empfänger sowohl der Tote als auch die Götter gelten können, haben die an der Bestattung beteiligten Personen das Grabinnere offenbar ohne Verzögerung verlassen. Die Vermutung, dass innerhalb eines Grabes Totenmahle stattgefunden haben, ist auszuschließen. Dafür eignete sich der Bereich direkt außerhalb des Grabes oder in einem anderen offenen Bereich einer Nekropole optimal. Die Trauergemeinde hat vor oder – wahrscheinlicher – nach der Beisetzung gegessen und getrunken. Die Hinterbliebenen müssen nach der Bestattung die Nekropole regelmäßig besucht haben, um ihren Toten bis zur kompletten Verwesung des Leichnams und der Zweitbestattung mit neuen Opfern zu versorgen. Die unzähligen Gefäße aus den minoischen Nekropolen, die nicht in der unmittelbaren Nähe der Bestatteten, in Nebenkammern eines Grabes oder in offenen Bereichen, lagen, sind die dinglichen Spuren dieser rituellen Handlungen während und nach dem Bestattungsritual. Die minoische Ikonografie scheint bis an das Ende der Neupalastzeit das Bestattungsritual nicht thematisiert zu haben. Dies geschah erst in der Endpalastzeit, wenn man die Szenen des berühmten Sarkophags von Ajia Triada richtig deutet. Auf den beiden Längsseiten dieses aus Kalkstein gefertigten Sarkophags ist eine zeremonielle Handlung dargestellt, die wahrscheinlich als Bestattungsritual zu identifizieren ist. Vor einem Gebäude (Grab?) steht ein in ein langes Gewand gehüllter Mann (der Tote?), der von einer Prozession von männlichen und weiblichen Trägern Opfergaben entgegennimmt. Teil oder sogar Höhepunkt dieser Zeremonie ist ein Stieropfer, das zum Zeitpunkt unmittelbar nach der Tötung des Tieres dargestellt ist. Das Stieropfer als Bestandteil des Bestattungsrituals bedeutender Individuen ist auch archäologisch belegt: Im mit dem Sarkophag von Ajia Triada weitgehend zeitgleichen Tholosgrab A von Phourni bei Archanes, welches die überdurchschnittlich 260

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reich ausgestattete Bestattung einer Frau beherbergte, entdeckte man zwischen den Steinen, welche den Eingang zur Nebenkammer verschlossen, einen eingemauerten Stierschädel, der offensichtlich dort als ›Erinnerung‹ an das durchgeführte Stieropfer deponiert wurde. Der Bestattung hat man ferner auch ein Pferd beigegeben, dessen zerteiltes Skelett ordentlich neben dem Eingang zur Nebenkammer abgelegt wurde.

Abb. 21: Der Sarkophag von Ajia Triada.

Das Bildprogramm des Sarkophags von Ajia Triada blieb allerdings eine singuläre Erscheinung. Die zahlreichen spätpalastzeitlichen Tonlarnakes wurden in der Regel mit ornamentalen Motiven oder sporadisch mit Handlungsszenen verziert, die offensichtlich auf bestimmte Episoden aus der Biografie oder generell auf die Lebensweise des Verstorbenen Bezug nahmen. Einzige Ausnahme stellt eine Tonlarnax aus Pigi (bei Rethymnon) dar. Die Schmalseite ihres Deckels wurde mit einer kleinformatigen Darstellung einer Aufbahrungsszene (Prothesis) verziert. Auch dieses Bild, das den mykenischen Prothesis-Szenen entspricht, scheint auf Kreta keine Nachahmer gefunden zu haben. 261

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Wie lassen sich Veränderungen im Bestattungsritual erklären? Im Laufe der fast zwei Jahrtausende währenden Geschichte der minoischen Kultur sind die minoischen Bestattungssitten von Grundkonstanten, aber auch von Unterschieden gekennzeichnet, die sowohl regional als auch entwicklungsgeschichtlich bedingt waren. Zu den Grundkonstanten gehört der Kern des Bestattungsrituals, der von der Vorstellung des Todes als zweiphasigem Prozess geprägt war. Der Gedanke, dass der Tote vor der vollständigen Verwesung seines Leichnams physische Bedürfnisse hatte, war der Grund für eine regelmäßige materielle Versorgung der Toten während dieser kritischen Übergangsphase. Die meisten archäologischen Zeugnisse, die wir in den minoischen Nekropolen antreffen, müssen daher aus dieser Phase stammen, die wohl drei bis vier Jahre gedauert hat. Nach der Verwesung des Leichnams und der Zweitbestattung muss die Interaktion zwischen Toten und Lebenden eine andere Form angenommen haben, die eventuell als eine Art von Ahnenverehrung betrachten werden kann. In der archäologischen Überlieferung ist es allerdings nicht leicht, zwischen diesen beiden Phasen eindeutig zu unterscheiden. Wie wir ferner gesehen haben, ist der Grundgedanke vom zweiphasigen Charakter des Todes auch in den meisten Grabformen evident, die als begehbare ›Häuser‹ der Toten gestaltet waren. Schließlich wurden in allen Perioden der minoischen Kultur die Toten bestattet und nicht verbrannt. Die zahlreichen Spuren von Bränden inner- bzw. außerhalb von minoischen Gräbern betreffen die Verbrennung nicht von Leichnamen, sondern von komplett oder fast komplett verwesten menschlichen Überresten. Wenn man nun zu den Unterschieden übergeht, kann man zunächst festhalten, dass sie durchaus verständlich sind, wenn man den langen Zeitraum des Bestehens der minoischen Kultur berücksichtigt. Nichtsdestotrotz bedürfen sie einer näheren Erklärung, die von Fall zu Fall differieren kann. Die regionalen Unterschiede, die mit wechselhafter Intensität bereits seit dem Beginn der Vorpalastzeit auftreten, lassen sich durch verschiedene soziale Gruppen bzw. regionale Traditionen erklären. Dies ist sicherlich der Fall bei den vor- und altpalastzeitlichen Tho262

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losgräbern und rechteckigen Grabhäusern, deren geografische Verbreitung, wie wir gesehen haben, sich nur selten überschneidet. Die kleinen Kistengräber zweier vorpalastzeitlicher nordkretischer Nekropolen (Gournes und Ajia Photia) weichen deutlich von diesen beiden vorherrschenden Grabformen ab und sind offensichtlich frühkykladischen Vorbildern zu verdanken (c Kap. 14). Die Vermutung, dass hier kykladische Siedler bestattet wurden, wäre zwar legitim, doch zeigt der hohe Anteil an lokal (d. h. auf Kreta) hergestellten Beigaben, auch wenn sie kykladische Artefakte imitieren, dass die Frage nach der Ethnizität der hier bestatteten Gruppe sehr komplex sein kann. Die Unterschiede, die das Interesse der Forschung in den letzten Jahrzehnten auf sich gezogen haben, werden vor allem bei der diachronen Betrachtung der minoischen Bestattungssitten sichtbar. Nach einer sehr langen Periode, in der die Bestattungspraxis nahezu unverändert bleibt (Vor- und Altpalastzeit), setzt in der letzten altpalastzeitlichen Phase ein Veränderungsprozess ein, der dann in der Neupalastzeit kulminiert. Die minoischen Bestattungsplätze, die an exponierter Stelle angelegt wurden und für Jahrhunderte neuralgische Orte besetzten, vielleicht auch Grenzen markierten und dadurch das Erscheinungsbild des Lebensraumes einer sozialen Gruppe entscheidend prägten, verschwinden allmählich unter die Erde – zumindest diejenigen, die bislang entdeckt wurden. Dieser radikale Bruch mit der Tradition resultierte offensichtlich nicht aus einer Veränderung in den Jenseitsvorstellungen, sondern aus den neuen soziopolitischen Verhältnissen, die der Übergang in eine höfische Gesellschaft mit sich brachte. Insbesondere ab der Neupalastzeit scheint Knossos auch in dieser Sphäre der minoischen Gesellschaft das Ton angebende Zentrum gewesen zu sein, von dem aus sich die neuen Sitten über die gesamte Insel verbreiteten. Der Verweis auf diesen soziokulturellen Prozess beleuchtet allerdings nur den historischen Rahmen, in dem diese Veränderung stattfand, und nicht ihre konkreten Gründe. Darüber kann man nur spekulieren. Die Vielfalt der neuen unterirdischen Grabformen seit der Neupalastzeit ist erstaunlich. Die Unterschiede scheinen auch innerhalb ein und desselben Zentrums groß gewesen zu sein, wie z. B. ein Vergleich des sogenannten Tempelgrabes und der großen Felskammergräber mit den einfachen Kistengräbern in Knossos zeigt. Es liegt nahe zu vermuten, 263

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dass bestimmte Grabformen von verschiedenen sozialen Gruppen – konkreter von sozialen Klassen – benutzt wurden. Das historische Bild wird noch komplexer durch das Auftauchen von Bestattungen mit einer überdurchschnittlich umfangreichen Beigabenausstattung, welche insbesondere Waffen und Schmuck beinhaltete. Diese ›Waffengräber‹, die in Knossos und Chania mehr oder minder zeitgleich mit den Schachtgräbern von Mykene zu datieren sind, sowie das allmähliche Eindringen von festländischen Elementen in die minoische materielle Kultur werden meist als ein Prozess der ›Mykenisierung‹ der Insel betrachtet, auch wenn man den Charakter und Ablauf dieses Prozesses nicht genauer fassen kann (c Kap. 14). Auch die alte Hypothese, wonach Kreta in dieser Periode von den Mykenern erobert wurde, die nicht definitiv ausgeschlossen werden kann, ist nicht imstande, die Komplexität der archäologischen Überlieferung zu erklären. Ein wichtiges Argument dagegen ist allerdings, dass es für viele der vermeintlichen mykenischen Elemente Vorläufer auf Kreta gibt. Bezeichnend ist hier nämlich, dass die ersten Bestattungen mit Waffenbeigaben bereits in den SM I-zeitlichen Kammergräbern des knossischen Hafens von Poros auftauchen. Viel wahrscheinlicher erscheint folglich, dass es sich bei der sogenannten ›Mykenisierung‹ um einen soziopolitischen Prozess handelt, dessen Ursprünge – und somit auch dessen Ursachen – im lokalen, kretischen Kontext zu finden sind. Nach dieser Periode der radikalen Veränderung im sepulkralen Bereich herrscht spätestens ab dem Beginn der Spätpalastzeit (SM II) eine gewisse Homogenität. Von Knossos – und vielleicht auch von Chania – aus verbreiten sich die neuen Grabsitten und insbesondere das Kammergrab über die gesamte Insel. Die Bestattungspraxis steht im Einklang mit dem Bild, das wir aus den übrigen sozialen Sphären gewinnen und wonach sich Kreta größtenteils an der materiellen Kultur der festländischen Zentren orientiert. Ohne diese komplexe archäologische Evidenz zu stark vereinfachen zu wollen, könnte man hier als Schlussbemerkung festhalten, dass der ›harte Kern‹ des minoischen Bestattungsrituals, das vom Grundgedanken des Todes als zweiphasigem Prozess geleitet wurde, praktisch unverändert bleibt. Dieses Bestattungsritual besaß allerdings auch eine dynamische Komponente, einen ›weichen Kern‹, der für Veränderungen anfällig war und von jenen sozio-politischen Parametern geformt wur264

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de, die in bestimmten Perioden der minoischen Kulturentwicklung für Brüche und Erneuerungen sorgten.

Literatur Branigan, Keith 1992: Dancing with Death. Life and Death in Southern Crete c. 3000–2000 B.C., Las Palmas Branigan, Keith (Hg.) 1998: Cemetery and Society in the Aegean Bronze Age, Sheffield Legarra Herrero, Borja 2014: Mortuary Behavior and Social Trajectories in Preand Protopalatial Crete, Philadelphia Lowe, Wanda 1996: Spätbronzezeitliche Bestattungen auf Kreta, Oxford Miller, Madelaine 2011: The Funerary Landscape at Knossos. A Diachronic Study of Minoan Burial Customs with Special Reference to the Warrior Graves, Oxford Murphy, Joanne (Hg.) 2011: Prehistoric Crete: Regional and Diachronic Studies on Mortuary Systems, Philadelphia Panagiotopoulos, Diamantis 2003: Die Minoer und der Tod. Ein Interpretationsversuch minoischer Bestattungssitten, in: Nürnberger Blätter zur Archäologie 18, 8–26 Pini, Ingo 1968: Beiträge zur minoischen Gräberkunde, Wiesbaden Soles, Jeffrey 1992: Prepalatial Cemeteries at Mochlos and Gournia and the House Tombs of Bronze Age Crete, Princeton Vasilakis, Andonis/Branigan, Keith 2010: Moni Odigitria: A Prepalatial Cemetery and Its Environs in the Asterousia, Southern Crete, Philadelphia Vavouranakis, Georgios 2007: Funerary Landscapes East of Lasithi, Crete, in the Bronze Age, Oxford 2007 Xanthoudides, Stephanos 1924: The Vaulted Tombs of Mesará. An Account of Some Early Cemeteries of Southern Crete, London

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»Das Meer ist die Lunge eines Landes.« (Enriquez Gamarra)25

Die Pioniere der kretischen Archäologie und allen voran Arthur Evans haben dem Orient eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung des minoischen Kreta zu einer Hochkultur zugesprochen. Nach ihrer Überzeugung waren wichtige kulturelle Leistungen, wie die Entstehung der Paläste und der Schrift, den fruchtbaren Impulsen dieser fernen Nachbarn zu verdanken. Die Vorstellung, dass aus dem Orient ein inspirierendes ›Licht‹ gekommen sei (›ex oriente lux‹), wurde nicht nur zu einem Topos der archäologischen Forschung, sondern auch zu einem hermeneutischen Grundprinzip für das Verständnis kultureller Innovationen und Prozesse im minoischen Kontext. Dies galt insbesondere für das pharaonische Ägypten, das Evans in seinem The Palace of Minos at Knossos in vielerlei Hinsicht als eine Leitkultur für das minoische Kreta betrachtete. Diese ägyptozentrische Tendenz wurde in der Forschung der nachfolgenden Jahrzehnte weitgehend aufrechterhalten. Erst allmählich, durch neue Erkenntnisse und eine genauere Betrachtung der relevanten Zeugnisse, ist es allerdings deutlich geworden, dass die meisten kulturellen Errungenschaften der minoischen Gesellschaft das Ergebnis einer indigenen Entwicklung waren. Fremde Impulse hat es sicherlich gegeben, doch sind sie bestenfalls als Initialzündung oder Schub bei lokalen Prozessen zu verstehen, die ihre Ursachen in den Strukturen dieser Inselgesellschaft besaßen. Die Neubewertung des orientalischen bzw. ägyptischen Einflusses auf das minoische Kreta

25 Gamarra, Enriquez zitiert in: Köckritz, Angela 2008: Matrosen ohne Meer, Die Zeit vom 3. April 2008, S. 11.

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brachte auch einen Wechsel in der Perspektive und dem Fokus der archäologischen Forschung mit sich. Das Bemühen der modernen Archäologie zielt nun nicht auf eine Beantwortung der naiven Fragen nach der Provenienz, sondern auf das Beleuchten der komplexen Aneignungsprozesse von fremden Ideen und Dingen. Selbstverständlich ist es wichtig herauszufinden, woher ein fremdes kulturelles Element stammt. Dies ist allerdings nur ein erster Schritt hin zum Verständnis der Komplexität einer transkulturellen Interaktion. Um Charakter, Ablauf und historische Bedeutung dieses Prozesses besser einschätzen zu können, muss man sich immer auf das konzentrieren, was sich in einem regionalen Kontext abspielte: Wie hat man nämlich fremde Ideen und Dinge wirklich wahrgenommen? Wie ist man mit ihnen umgegangen? Wie hat diese Begegnung mit dem Fremden die eigene Kultur verändert? Dabei geht es um eine breite Palette von potenziellen Handlungsmustern von Aneignung, Ablehnung, Umformung und Einbettung, die sich auf unterschiedliche Weise in der archäologischen Überlieferung zeigen. Dieser neue Blick auf unterschiedliche Formen transkultureller Interaktion setzt voraus, dass man vom äußerst starren, traditionellen Verständnis des Begriffs ›Kultur‹ Abstand nimmt. Die ältere Forschung pflegte Kulturen als statische, homogene und klar voneinander unterscheidbaren Einheiten zu betrachten, die in Kontakt zueinander treten konnten. Die archäologisch fassbaren Spuren dieser Kontakte wurden dabei entweder als Fremdkörper (›Importe‹) oder als fremde Impulse (›Einfluss‹) in der jeweils anderen Kultur erkannt. Die Probleme, mit denen dieser sehr einseitige methodische Zugang behaftet ist, offenbaren sich, wenn man versucht, ihn im Fall der Kontakte zwischen Minoern und Mykenern anzuwenden. Die erste Schwierigkeit besteht darin, dass das, was wir als ›mykenische Kultur‹ bezeichnen, zu einem sehr großen Teil aus minoischen kulturellen Elementen besteht, da bei der Herausbildung der ersten mykenischen Machtzentren das minoische Kreta für sie die Rolle einer Leitkultur spielte. Kreta und das griechische Festland pflegten in den nächsten Generationen enge Kontakte, in deren Zuge Kreta viele festländische Moden adaptierte. Dieser Prozess, der in der traditionellen Forschung als ›Mykenisierung Kretas‹ bezeichnet wird (c Kap. 13), ist im Prinzip nichts anderes als eine weitere Etappe der ständigen Bewegung und Transformation von Kulturgut, das auf 267

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Kreta seinen Ursprung hat, später das griechische Festland erreicht, um dann wieder umgeformt nach Kreta zurückzukehren. In dieser historischen Konstellation zweier Gesellschaften, die keineswegs statisch sind, sondern sich über die Generationen hinweg durch ihren gegenseitigen Kontakt dynamisch verändern, ist es sehr schwierig und vielleicht sogar unnötig, immer wieder die Frage zu stellen, was ›minoisch‹ oder ›mykenisch‹ ist. Viel sinnvoller ist es, die wissenschaftliche Aufmerksamkeit auf die Wanderungswege von Ideen und Dingen zwischen Kreta und dem griechischen Festland sowie auf den Umgang regionaler Gesellschaften mit allem ›Neuen‹, das von außerhalb kommt, zu lenken. Anstelle der traditionellen archäologischen ›Vogelperspektive‹, die mit Herkunftszuweisungen und Verbreitungskarten operierte, erscheint es nun wesentlich sinnvoller, eine kontextuelle Sichtweise zu adaptieren, in anderen Worten einen mikroarchäologischen Blick, der auf Phänomene der Wahrnehmung, Verwendung und Transformation fokussiert. Die Geschichte der minoischen Außenkontakte ist zugleich die Geschichte der maritimen Interaktion der Insel mit nahen und fernen Regionen in der Ägäis und dem östlichen Mittelmeer. Die Verbindung Kretas mit der Außenwelt begann nämlich, als man die Barriere des offenen Meeres überwinden konnte. Auf diachroner Ebene wurden diese Kontakte von den Tücken des maritimen Elements geprägt. Wenn man von den neueren Oberflächenfunden von paläolithischen Steinwerkzeugen auf Kreta und seiner Satelliteninsel Gavdos absieht, die eventuell den Beginn der ägäischen Seefahrt bis auf die Zeit um 120 000 v. Chr. (!) zurückdatieren könnten, stammen die ersten sicheren Indizien für maritime Kontakte mit anderen Regionen (Klingen aus melischem Obsidian) aus dem Neolithikum. Über die Frage, wie die ersten Seefahrzeuge beschaffen waren, mit denen man die beachtliche Leistung der Reise auf offenem Meer vollbrachte, kann man nur spekulieren. Einfache Kanus aus Fell oder Flöße aus Holz waren für die Überbrückung von größeren Distanzen in der Ägäis sicherlich nicht geeignet. Diese setzte vielmehr anspruchsvollere seetüchtige Fahrzeuge voraus, die erst in der Bronzezeit entwickelt wurden.

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Die innerägäischen Kontakte Eine entscheidende Rolle für die Öffnung des minoischen Kreta zur Außenwelt in der frühen Vorpalastzeit (kurz nach 3100 v. Chr.) scheinen, wie bereits erwähnt, die Kykladeninseln gespielt zu haben. Die Enge des eigenen Lebensraumes, die relative Knappheit an agrarischen Produkten und die kurzen Seewege, welche die Inseln voneinander und vom Festland trennten, zwangen die Kykladen-Bewohner auf das Meer und machten sie zu tüchtigen Seefahrern. Dieser Archipel, ein ›Mittelmeer im Miniaturformat‹, bot den idealen Raum für die Entwicklung maritimer Aktivitäten und eines überregionalen Verkehrs von Gütern und Ideen. Mit ihren gepaddelten Langbooten, die nach ethnologischen Erkenntnissen einen Aktionsradius von mehreren Hunderten Kilometern gehabt haben können, begannen sie, die Ägäis zu dominieren. Über mehrere Generationen hinweg waren sie auf der Suche nach neuen Abenteuern, neuen natürlichen Ressourcen außerhalb ihrer Inseln und neuen Partnern, mit denen sie regelmäßige Handelsbeziehungen aufbauen konnten. Die Rolle Kretas scheint dabei zunächst eher passiv gewesen zu sein, da diese Insel, ein kleines Festland, seinen Einwohnern das Privileg eines autarken Lebensraumes bot. Es ist daher durchaus möglich, dass der Handelsaustausch zwischen beiden Regionen für den größten Teil dieser Periode kykladischen Seeleuten und Händlern überlassen war. Es ist nicht verwunderlich, dass das nördliche Zentralkreta und insbesondere die Nordküste, also jene Seite der Insel, die den Kykladen zugewandt ist, die meisten Spuren der vielseitigen Kontakte zwischen beiden Regionen in der Frühbronzezeit liefert. Dieser geografische Raum war zweifellos die wichtigste Interaktionssphäre des kykladisch-kretischen kulturellen Austausches. Ähnlich wie im Fall der Peloponnes, Attikas, Euböas und Kleinasiens werden diese Spuren schwächer, je tiefer man in das Binnenland vordringt. Auf der anderen Seite dieser kulturellen Interaktion, nämlich auf den Kykladen selbst, sind Funde, die die Beziehungen mit Kreta belegen, sehr rar. Dies lässt sich sicherlich nicht nur durch die Fundumstände, sondern – wie wir unten sehen werden – durch den besonderen Charakter dieser interkulturellen Beziehung er269

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klären. Die relevanten Zeugnisse tauchen bereits in der ersten Phase der Frühbronzezeit (FM I) auf und verschwinden allmählich mit dem Niedergang und dem Ende der frühkykladischen Kultur in der FM III-Phase. Aufgrund dieser Evidenz kann man eine konkrete Vorstellung davon gewinnen, welche unterschiedlichen Formen die kykladische Präsenz auf Kreta in der langen Periode der Formation einer Palastgesellschaft annahm (unterschiedlich in FM I und FM II). Den wichtigsten Befund stellen hierbei zwei Nekropolen an der kretischen Nordküste dar, die hauptsächlich in Frühminoisch I bzw. am Beginn von Frühminoisch II A belegt sind. In Grabarchitektur, Beigabenausstattung und -praxis zeigen sie einen eher kykladischen als minoischen Charakter. Es handelt sich um Ajia Photia bei Sitia und Gournes, ca. zwölf Kilometer östlich von Heraklion. In beiden Fällen wurden die Toten nicht – wie im Rest der Insel – in oberirdischen Gemeinschaftsgräbern von rundem oder rechteckigem Grundriss, sondern in Gruben oder kleinen unterirdischen Kammergräbern bestattet, die durch eine Platte von einer kleinen Vorkammer getrennt waren. Diese Gräber, die in der Regel einen oder nur wenige Tote beherbergten, zeigen frappante Ähnlichkeiten zu frühkykladischen Grabformen. Die meisten Beigaben, die die Toten begleiteten, wie Tongefäße, Metallobjekte und Obsidianklingen, bestätigen durch ihre kykladische Provenienz bzw. kykladische Vorbilder den Eindruck, den man von den Grabformen gewinnt. Auch wenn die moderne Forschung die Verknüpfung von archäologischen Befunden mit bestimmten ethnischen Gruppen zurecht meidet, ist es in unserem Fall plausibel zu vermuten, dass beide Nekropolen als Bestattungsplätze für kykladische Bevölkerungsgruppen dienten. Damit wird deutlich, dass sich Kykladen-Bewohner in mindestens zwei verschiedenen Regionen der kretischen Nordküste permanent niederließen. Die hohe Anzahl der Gräber, die sich in Ajia Photia auf 263 und in Gournes auf 37 belaufen, spricht nicht einfach für Handelsstationen, sondern für echte Siedlungen, die sicherlich eine wichtige Rolle bei den Handelskontakten und dem kulturellen Transfer zwischen Kreta und den Kykladen spielten. Eine nicht minder wichtige Rolle im Kontext dieser kulturellen Interaktion hatten Zentren wie die knossische Hafensiedlung Poros-Katsambas (in einem Viertel der modernen Hauptstadt der Insel, Heraklion, ge270

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legen). Poros-Katsambas stellt eine willkommene Ausnahme innerhalb einer einseitigen archäologischen Evidenz dar, die fast ausnahmslos aus Grabzeugnissen besteht. Hier entdeckte man große Mengen von Obsidianklingen zusammen mit Kernen, Knollen und Abschlägen, die klare Belege für die lokale Verarbeitung dieses in der Frühbronzezeit sehr begehrten Rohstoffes bieten. Darüber hinaus lieferte Poros-Katsambas die ersten Zeugnisse für die Verarbeitung von Kupfer und Silber kykladischer Provenienz auf Kreta. Trotz dieser verdichteten Indizien lässt sich in diesem Fall die Frage nach der physischen Präsenz von kykladischen Bevölkerungsgruppen vor Ort nicht so eindeutig wie in Ajia Photia oder Gournes beantworten. Im nächsten Zeitabschnitt (Frühbronzezeit II), auch bedingt durch die dynamische wirtschaftliche und soziale Entwicklung der minoischen Gesellschaft, nimmt die kykladische ›Präsenz‹ auf Kreta andere Erscheinungsformen an. Es gibt keine Anzeichen mehr für Zentren wie Ajia Photia oder Gournes, an denen das kykladische Element die lokale materiale Kultur verdrängte, sondern Spuren einer Verbreitung von Importgütern und Ideen von den Kykladen sowie ihrer Vermischung mit minoischem Kulturgut. Dieser Prozess lässt sich vor allem – wenn nicht ausschließlich – in Nordzentralkreta feststellen. In vielen Nekropolen dieser Region tauchen zahlreiche Idole, Silberdolche mit Mittelrippe, Schmuckstücke und Kosmetikutensilien kykladischer Provenienz oder kykladischen Charakters auf. Die gleichzeitige Verwendung der Begriffe ›Provenienz‹ und ›Charakter‹ ist hier beabsichtigt, um das Problem der kulturhistorischen Deutung dieser Funde deutlich zu machen. Während in einigen Fällen die kykladische Provenienz unzweifelhaft ist, lassen sich andere Funde als eine lokale Variante von kykladischen Werken erkennen. Die Schwierigkeiten einer ethnischen Zuweisung von Artefakten macht eine Gruppe von Kykladenidolen aus Tekes und Phourni bei Archanes explizit: Obwohl sie stilistisch als echte Kykladenidole bezeichnet werden können und zuweilen auch aus Marmor von den Kykladen herausgearbeitet sind, weisen sie einige Merkmale auf, die auf den Kykladen nicht vorkommen, wie z. B. die plastische Angabe der Lippen, die getrennt modellierten Beine oder die Verwendung von Elfenbein/Knochen als Herstellungsmaterial. In diesen Fällen wäre es sehr schwierig, wenn nicht vergeblich, die Fragen nach der Lokalisierung ih271

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res Herstellungsortes und der ethnischen Zuweisung der Künstler zu beantworten. Hier stößt die Archäologie an ihre Grenzen. Diese Idole könnten sowohl aus den Händen von auf Kreta ansässigen oder weilenden kykladischen Künstlern stammen oder auch das Werk von begnadeten lokalen Meistern gewesen sein, die sich den kykladischen Stil aneignen konnten. Ihre hybriden Formen, die man auch in anderen Fundgattungen feststellen kann, zeigen die sehr enge Verflechtung von kykladischen und lokalen Elementen in einer Zeit der intensiven Kontakte zwischen beiden Regionen, die allerdings nur im Bereich von Nordzentralkreta gut fassbar sind. Außerhalb Nordzentralkretas sind die Spuren der kykladisch-kretischen Berührung deutlich geringer. Es ist wahrscheinlich, dass die südkretische Bevölkerung nur indirekt, und zwar durch den Kontakt mit nordzentralkretischen Zentren, mit der Kykladenkultur in Berührung kam. Wir müssen also von einem komplexeren Prozess des kulturellen Transfers ausgehen. Die Grundlage dieser interkulturellen Kontakte war offenbar die ungebrochene Nachfrage nach Rohstoffen, organischen Produkten und Artefakten, die im eigenen Lebensraum nicht anstanden oder nicht produziert werden konnten. Welche Handelswaren haben also den engen Kontakt zwischen den Kykladen und Kreta veranlasst und ihn für einige Jahrhunderte aufrechterhalten? An erster Stelle muss man hier den allgegenwärtigen Obsidian erwähnen. Das harte vulkanische Glas aus Melos, aus dem man Klingen – das Allzweckgerät der Bronzezeit – fertigen konnte, kommt in zahlreichen vorpalastzeitlichen Siedlungs- oder Grabbefunden auf Kreta vor. Obsidian wurde regelmäßig und in großen Mengen auch in Form von Knollen oder vorgeformten Kernen nach Kreta importiert. Obsidianfunde an kretischen Orten belegen, dass das Abschlagen von Klingen aus den Nuklei auch erst nach dem Import des Rohmaterials auf Kreta stattfinden konnte. Von besonderer Bedeutung ist hier die Tatsache, dass die Obsidianklingen auf Kreta nicht nur einen praktischen, sondern auch einen symbolischen bzw. rituellen Wert genossen. Nur so lässt sich nachvollziehen, warum man häufig unbenutzte Obisidianklingen als Beigabe in kretischen Gräbern deponierte. Weitere Rohstoffe von den Kykladen, wie Kupfer, Blei und Silber, lassen sich mit Hilfe naturwissenschaftlicher Analysen als regelmäßige Importwaren auf Kreta nachweisen. Dies gilt wahrscheinlich auch für den Marmor. 272

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Die Funde von Kykladenidolen mit verschränkten Armen auf Kreta und ihre Streuung auf mehrere, vornehmlich nordzentralkretische Fundorte zeigt, dass sie von den Minoern besonders geschätzt wurden. Obwohl auch auf Kreta eine Tradition der Herstellung von Steinstatuetten mit einer sehr abstrakten Körperwiedergabe existierte, konnte keines der lokalen Erzeugnisse die zeitlose Eleganz der kykladischen Werke erreichen. Neben den bereits erwähnten Statuetten, die bis auf einige Details den kanonischen Typen der Kykladenidole entsprechen, gibt es weitere Stücke, die sich von ihren kykladischen Vorbildern deutlich entfernten. Es handelt sich um Idole, die wegen ihrer extrem flachen und etwas unbeholfenen Gestaltung zweifellos aus den Händen kretischer Künstler stammen. Wie die konventionelle Bezeichnung dieser Gruppe (›Koumasa-Typus‹) verrät, ist der Hauptfundort – allerdings nicht unbedingt auch das Produktionszentrum – dieses Typus das südkretische Koumasa. Der häufige Import von Kykladenidolen sowie ihre Nachahmung durch einheimische Künstler zeigen, dass sie das ästhetische Empfinden der Minoer nicht weniger als das unserer modernen Gesellschaft angesprochen haben. Ihre Fundkontexte auf Kreta geben uns leider keinen Hinweis darauf, welche Funktion sie in ihrem neuen sozialen Milieu erfüllten. Es ist unwahrscheinlich, dass sie nur als ›schöne Dinge‹ geschätzt wurden. Die Tatsache, dass einige von ihnen Reparaturspuren aufweisen, zeigt, dass sie nicht nur ›Kunstwerke‹ waren, sondern eine konkrete Funktion innehatten. Da die meisten von ihnen nicht standfähig sind und mit ihrer Form und Größe die Handfläche optimal füllen, darf als sicher gelten, dass ihre primäre Funktion nicht darin bestand, irgendwo zu liegen. Sie wurden zweifellos immer wieder angefasst und gehalten. Dabei wurden sie beschädigt – oder sogar absichtlich zerbrochen – und mussten, weil sie eben sehr wertvoll waren, repariert werden. Doch welchen konkreten Gebrauch diese Idole in den Händen ihrer kretischen Besitzer erfahren und ob sie eine gewisse Rolle in minoischen Ritualen gespielt haben, ist eine Frage, die man nicht einmal ansatzweise beantworten kann. Neben den Idolen wurden weitere Erzeugnisse des kykladischen Kunsthandwerks, wie Dolche, Stein- und Tongefäße, Schmuck und Toilettenartikel nach Kreta importiert. Die einheimischen Künstler ließen sich gelegentlich auch von diesen Importen für die Gestaltung der Form oder des Dekors lokaler Produkte inspirieren. 273

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Abb. 22: Importiertes kykladisches Idol aus Koumasa.

Wenn man auf die andere Seite dieser kulturellen Interaktion schaut, nämlich zu den Kykladeninseln, sind minoische Importe in dieser Periode, wie bereits erwähnt, sehr rar. Dieses unausgewogene Verhältnis bedarf natürlich einer Erklärung. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Kreter bei diesem regelmäßigen Handelsaustausch in erster Linie vergängliche Rohstoffe (Holz), organische Produkte (Wein, Olivenöl, Heilkräuter, Wolle) und vielleicht Güter anboten, die keine Spuren in der archäologischen Überlieferung hinterlassen haben, wie z. B. Textilien. Abgesehen davon weist die schwache Präsenz von minoischen Artefakten auf den Kykladen allerdings darauf hin, dass bei dieser kultu274

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rellen Interaktion wohl die Kykladen der tonangebende Partner waren. Minoische Stein- und Keramikgefäße, ja sogar minoischer Schmuck konnten offensichtlich die Bewohner der Kykladen weniger begeistern als die Erzeugnisse des lokalen Kunsthandwerks, in denen sich ein markanter und sehr eigener Stil herauskristallisiert hatte. Nicht einmal Goldobjekte aus Kreta erreichten die Kykladeninseln, die in dieser Periode interessanterweise extrem arm an Goldgegenständen waren. Wichtiger als der Austausch von Waren war sicherlich der Austausch von Ideen, Kenntnissen und technischem Know-how. Doch genau dieser entscheidende Aspekt interregionaler Kontakte, der zu den wichtigsten Motoren der kulturellen Entwicklung zählt, lässt sich anhand der stummen archäologischen Zeugnisse sehr schwer rekonstruieren. Eine gewisse Sicherheit ist im Fall der Metallurgie und der Schifffahrt gegeben, die auf den Kykladen mit rascherem Tempo als auf Kreta entwickelt wurden. Genau dieser Bereich des kulturellen Austausches mit den Kykladeninseln hat offensichtlich einen wesentlichen Beitrag zum langsamen, jedoch ununterbrochenen Prozess Kretas hin zu einer Palastgesellschaft geleistet. Dieser fruchtbare Austausch wurde am Ende der FM II-Periode abrupt unterbrochen, als die frühkykladische Kultur infolge von Angriffen von außen und der Einwanderung neuer Gruppen aus dem nordostägäischen Raum unterging. Ein ähnlicher Bruch der Kulturentwicklung lässt sich auch auf dem griechischen Festland beobachten. Die minoische Gesellschaft war von diesen Umwälzungen wenig bzw. kaum betroffen. Nachdem einige kretische Zentren allmählich eine überregionale Bedeutung innerhalb der Insel erlangten, wandten sie sich auch den Regionen außerhalb Kretas zu und übernahmen die einstige Rolle der Kykladen als dominierende regionale Kultur in der Ägäis. Die Einführung des Segelschiffs gegen Ende der Vorpalastzeit hat diesen Prozess wesentlich beschleunigt. Nun war es möglich, mit seetüchtigen Schiffen Handel zu treiben, die gegenüber den kykladischen Langbooten zwei entscheidende Vorteile boten: eine wesentlich kleinere Besatzung (vier bis fünf Matrosen statt einer Gruppe von 12 bis 24 Paddlern) und eine viel größere Ladungskapazität (den ganzen Schiffsrumpf statt der engen Freiräume zwischen den Paddlern). Die Herausbildung und Konsolidierung der Palastzentren auf Kreta gab dem Prozess der maritimen Expan275

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sion Kretas inner- und außerhalb der Ägäis einen enormen Schub. Die gesteigerten materiellen Bedürfnisse der Palasteliten und ihr Drang, exotische Materialien und Artefakte zu besitzen, um ihre gehobene soziale Stellung zu demonstrieren, waren der wichtigste Antriebsmotor für eine Intensivierung der maritimen Unternehmungen. Die Verbreitung von minoischen Keramikwaren und anderen Artefakten im südägäischen Raum – sowohl auf den Inseln als auch an festländischen Küstenorten – bezeugt die dynamische Ausweitung der maritimen Netzwerke der kretischen Zentren. An einigen Orten, wie in der Siedlung von Kastri auf Kythera, ist die minoische Präsenz so stark, dass man sogar die Gründung einer minoischen Kolonie oder Handelsstation vermutet. Dieser Prozess kulminiert in der Neupalastzeit. In mehreren Regionen der Südägäis, darunter den Kykladeninseln und der Dodekanes, der Peloponnes und der westkleinasiatischen Küste, wurden minoische ›Moden‹, in anderen Worten eine minoische Lebensweise, übernommen. Minoische Waren füllten die ägäischen Märkte oder wurden an lokale Potentaten als Geschenke verschickt und nährten die Bewunderung für Kretas feinen Lebensstil ununterbrochen. Darüber hinaus tauchen in der Südägäis nun minoische Objekte auf, die nicht unbedingt als Handelswaren interpretiert werden können, darunter grobe Keramik, Gewichte, gesiegelte Tonplomben und Linear-A-Täfelchen. Ihre Verbreitung außerhalb Kretas macht die physische Präsenz von Minoern oder die Existenz von minoischen Handelsstationen an ihren Fundorten sehr wahrscheinlich. Die spätere griechische Überlieferung von einer Zeit der minoischen Seeherrschaft (Thalassokratie) lässt sich sehr gut mit diesen Funden vereinbaren (c Kap. 1). Wenn dieser Mythos einen historischen Kern besitzt, dann legt er – im Einklang mit den relevanten archäologischen Funden – eine Zeit der wie auch immer gearteten minoischen (= knossischen) Dominanz in einem großen Teil der Südägäis nahe. In genau diesem historischen Kontext ist die Auseinandersetzung der frühmykenischen Zentren mit dem minoischen Kreta eingebettet, das auf Erstere einen prägenden und bleibenden Einfluss ausübte. Gegen Ende der Mittleren Bronzezeit bildeten sich in verschiedenen Regionen Süd- und Zentralgriechenlands kriegerische Eliten heraus, welche durch die Kontrolle von fruchtbaren Landstrichen und neuralgischen Handels276

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wegen auf regionaler und überregionaler Ebene allmählich Macht und Reichtum anhäuften, sodass sie in der Ägäis als ebenbürtige Partner der minoischen Zentren agieren konnten. Dieser Prozess lässt sich am besten an den Zentren der Argolis beobachten, wo uns zahlreiche spektakuläre Grabfunde einen Einblick in den Reichtum dieser Fürstentümer erlauben. In dieser formativen Phase der mykenischen Kultur scheint das minoische Kreta eine entscheidende Rolle gespielt zu haben. In Ermangelung einer eigenen anspruchsvollen ikonografischen und kunsthandwerklichen Tradition übernahmen die mykenischen Eliten massiv das minoische Kulturgut. Letzteres ermöglichte ihnen, ihre hervorgehobene gesellschaftliche Position und Ideologie in verschiedenen sozialen Arenen überzeugend zu artikulieren, und zwar nicht nur gegenüber ihren Konkurrenten, sondern auch gegenüber der von ihnen abhängigen Bevölkerung. Die Gräber der frühmykenischen Eliten waren voll mit Artefakten, in erster Linie Prestigeobjekten wie Metall- und Steingefäßen, Rhyta, Siegeln, Siegelringen und Schmuck, welche eine kretische Provenienz oder ein minoisches Vorbild haben. Wir müssen allerdings davon ausgehen, dass sich die mykenischen Eliten nicht nur minoische Dinge, sondern auch die kosmopolitische minoische Lebensweise in ganz unterschiedlichen sozialen Sphären aneigneten. Diese sicherlich freiwillige Übernahme muss nicht unbedingt den harten Kern ihres Selbstverständnisses verändert, sondern lediglich ihre exklusive Lebensweise deutlich zum Ausdruck gebracht haben. Ob das minoische Kreta auch als Vorbild für die Entwicklung komplexerer politischer und sozialer Strukturen oder gar für die Religion der mykenischen Gesellschaft fungierte, lässt sich allerdings nicht eindeutig sagen. Dieses ziemlich einseitige Verhältnis im kulturellen Austausch zwischen dem minoischen Kreta und dem frühmykenischen Griechenland verändert sich einschneidend im Rahmen eines längeren Prozesses, dessen Beginn wir vielleicht mit dem Vulkanausbruch von Thera gegen Ende der SM I APhase und dessen Auswirkungen für die südägäischen Regionen (darunter auch Kreta) ansetzen könnten. Nach dieser Naturkatastrophe übernehmen die mykenischen Zentren allmählich eine Machtposition in der Ägäis. Die mykenische Präsenz auf Kreta wird immer stärker. Dafür muss man, wie bereits erläutert, nicht unbedingt eine mykenische Invasion und Eroberung der Insel voraussetzen. Es ist wahrscheinlicher, dass 277

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die beiden Seiten, die seit mehreren Generationen in engem Kontakt standen, in eine neue Phase ihres Verhältnisses treten, in der nun die knossische Elite mykenische ›Moden‹ übernimmt. Damit schließt sich langsam der Kreis einer abwechslungsreichen Begegnung zwischen zwei ägäischen Regionen, die auf verschiedene Etappen ihrer kulturellen Entwicklung einen entscheidenden Einfluss ausgeübt hat.

Die außerägäischen Kontakte Auf einer regionalen Ebene stellte der sogenannte cabotage, die Küstenschifffahrt über kleine Distanzen, die wichtigste Form der Verbindung und Kommunikation dar und sicherte die regelmäßige Lieferung von lebensnotwendigen Gütern. Auf einer interregionalen Ebene, im Kontext des maritimen Fernhandels, wurden die Verbindungskanäle zwischen unterschiedlichen Regionen nun nicht mehr von einfachen Küstenhändlern, sondern von hoch spezialisierten Seeleuten und Händlern sowie von den Eliten erschlossen, die aus dem Hintergrund als ihre Arbeits- oder Auftraggeber agierten. Die Reise auf offener See ohne jegliche nautische Instrumente zur Standort- und Kursbestimmung war sicherlich nicht leicht und mit gewissen Risiken verbunden. Darüber hinaus war sie nur auf die zum Segeln günstige Jahreszeit (Mai-Oktober) beschränkt. Das Netzwerk des überregionalen kommerziellen und kulturellen Austausches beruhte also auf fragilen Verbindungen, weil es von der Natur des maritimen Elements abhängig war. Die ostmediterranen Kulturregionen waren einerseits eng ineinander verzahnt, doch waren deren Verbindungskanäle andererseits sehr begrenzt und instabil. Diese Ambivalenz machte den besonderen Charakter der kulturellen Interaktion zwischen Kreta und dem östlichen Mittelmeer in der Bronzezeit aus. Eine direkte Kenntnis vom fernen Nachbarn konnte jeweils nur eine sehr dünne Schicht der Bevölkerung erlangen, nämlich Matrosen, Händler und Gesandte, die das Risiko einer langen Reise auf offener See auf sich nahmen. Es ist völlig ausgeschlossen, dass ein Pharao 278

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oder ein minoischer Herrscher je eine solche von Naturgewalten und Seeräubern gefährdete Reise hätte unternehmen können oder wollen. Dasselbe gilt offensichtlich auch für die hohen Beamten. Diese gegenseitigen Kontakte liefen grundsätzlich auf zwei verschiedenen Ebenen: dem Handel und dem Geschenkaustausch. Der Fernhandel wurde durch die hohe Nachfrage an fremden und daher nicht leicht verfügbaren Materialien und Artefakten sowie durch die große Wertdifferenz der gehandelten Waren zwischen Herkunfts- und Zielort vorangetrieben. Im Mittelpunkt des kommerziellen Austausches standen einerseits Rohstoffe, Naturprodukte und Artefakte, die an ihrem Zielhafen als exotisch galten, wie z. B. Elfenbein, Straußeneier, Amethyst und andere Halbedelsteine, ägyptische Steingefäße und Skarabäen auf Kreta sowie andererseits kretische Gewürze, Kräuter und pflanzliche Produkte, Textilien, Ton- und Metallgefäße in Ägypten. Doch mit jeder Schiffsladung verkehrten nicht nur Waren und Menschen, sondern auch Bräuche, Erfindungen, Kulturen und Sprachen. Letztere reisten nach einer treffenden Formulierung als »intellektuelle blinde Passagiere«26 mit und stellten nicht weniger als die importierten Gegenstände selbst eine wichtige Antriebskraft für die heimische künstlerische Produktion dar. Den zweiten Rahmen kultureller Interaktion bot spätestens ab der mittleren Bronzezeit (ausgehende Vor- und Altpalastzeit) die internationale Geschenkdiplomatie, an der das minoische Kreta als ebenbürtiger Partner aktiv teilnahm. Die minoischen bzw. ägäischen Prozessionen mit kostbaren Gaben für den Pharao, dargestellt in den Privatgräbern der thebanischen Nekropole der 18. Dynastie in Ägypten, haben einen ganz konkreten historischen Hintergrund, nämlich den tatsächlichen Besuch ägäischer Delegationen am ägyptischen Hof. Der interessanteste Aspekt dieser diplomatischen Aktivität liegt darin, dass die fremden Gesandten, wie wir aus späteren Quellen erfahren, häufig gezwungen waren, längere Zeit am ägyptischen Hof zu bleiben, bevor sie die Heimreise antreten durften oder konnten. Dieser soziale Kontext, an der Spitze

26 Wedde, Michael 1997: The Intellectual Stowaway: On the Movement of Ideas within Exchange Systems – A Minoan Case Study, in: Laffineur, Robert/Betancourt, Philip P. (Hgg.): TEXNH: Craftsmen, Craftswomen and Craftsmanship in the Aegean Bronze Age, Liège/Austin, S. 67, 72–75.

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der gesellschaftlichen Hierarchie, bot einen idealen Rahmen für einen mannigfaltigen, auf einem hohen geistigen Niveau stattfindenden kulturellen Austausch. Auch wenn die intellektuelle Rolle der minoischen Gesandten nach ihrer Rückkehr in die Heimat selbstverständlich archäologisch nicht fassbar ist, kann man doch mit Zuversicht sagen, dass sie zu den Protagonisten dieses kulturellen Transfers zählten.

Die Zeugnisse Wegen seiner kulturellen und politischen Vormachtstellung im östlichen Mittelmeer, insbesondere in der späten Bronzezeit, hat Ägypten gewiss einen bedeutenden Einfluss auf Kreta ausgeübt. Doch dieser Einfluss war wegen der fragilen maritimen Verbindung zwischen beiden Regionen zu keinem Zeitpunkt kompakt, sondern verteilte sich auf viele voneinander unabhängige Einzelbereiche des sozialen Lebens, ohne dabei die Bildung eines kohärenten ägyptenorientierten Wertesystems auf ägäischem Boden zu ermöglichen. In einigen dieser Einzelbereiche war allerdings der Beitrag Ägyptens für die kulturelle Entwicklung der ägäischen Welt entscheidend. Dies gilt insbesondere für die kretische Vorpalastzeit und die frühe Altpalastzeit (das dritte und das beginnende zweite Jahrtausend v. Chr.), jene formative Periode der minoischen Palastkultur, die besonders offen und empfänglich fremden Einflüssen gegenüber war. Am meisten profitierte davon das minoische Kunsthandwerk, das sich viele technische Kenntnisse und Kunstformen ägyptischen Ursprungs aneignete. Ein klares Zeugnis dafür bieten einige der frühesten minoischen Steingefäße, welche ägyptische Formen der vor- und frühdynastischen Zeit imitieren. Ähnliches gilt für die Herstellung von altpalastzeitlichen Amuletten, Perlen und Siegeln aus Fayence, die offensichtlich vom Import ägyptischer und vorderasiatischer Originale sowie von der gleichzeitig stattfindenden Übertragung von technischen Kenntnissen zur Materialherstellung und -bearbeitung angeregt wurde. In diesen Fällen diente Ägypten als Zünder eines kulturellen Prozesses, der unmittelbar nach Beginn seinen eigenen Lauf nahm. 280

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Eine zweite Form der Auseinandersetzung mit ägyptischen Vorbildern veranschaulicht die Gattung der lokal hergestellten ägäischen Skarabäen, die eindeutig ägyptische Originale imitieren. Skarabäen stellten über Jahrhunderte hinweg den häufigsten ägyptischen Export in die ägäischen Zentren dar. Dies lässt sich dadurch erklären, dass sie, wie auch in späteren Perioden oder sogar heute noch, ein ideales Mitbringsel von einer Ägyptenreise waren. Bereits seit dem Beginn ihrer regelmäßigen Einführung nach Kreta gegen Ende der Vorpalastzeit wurden sie von minoischen Künstlern nachgeahmt, die damit offensichtlich versuchten, dem breiten Bedarf nach importierten ägyptischen Originalen nachzukommen. Diese minoische Kleinindustrie, die zeitlich gesehen interessanterweise nur ein kurzlebiges Phänomen darstellt, ist eines der sehr wenigen Beispiele, welche die blinde Nachahmung ägyptischer Vorbilder im ägäischen Kunsthandwerk bezeugen. Ein drittes Verhaltensmuster bei der Rezeption ägyptischer Vorbilder ist im Bereich der Ikonografie erkennbar. Ohne den ägyptischen Einfluss wäre die minoische Bildsprache sicherlich ärmer gewesen. Das minoische Bestiarium wurde seit der kretischen Altpalastzeit um einige Tiere und Fabelwesen ägyptischen bzw. afrikanischen Ursprungs bereichert, darunter Katzen, Affen, Krokodile sowie Sphingen. All diese Bildthemen haben gemeinsam, dass sie lediglich als leere Formen und nicht als semantische Inhalte übertragen wurden. Dies entsprach zwar einer intellektuellen Grundhaltung der ägäischen Künstler, war allerdings auch durch ihre dürftigen Ägypten-Kenntnisse bedingt. Der ursprüngliche situative Kontext ägyptischer Motive konnte anhand vereinzelter Importe oder Erzählungen von Reisenden nicht mehr hergestellt werden oder war für die ägäischen Künstler schlicht nicht von Belang. Nach ihrer Übernahme entwickelten derartige Motive ein Eigenleben und wurden mit einer neuen semantischen Bedeutung belebt. Es ist zwar möglich, dass sie nach ihrer Anpassung an die Bedürfnisse der minoischen Ikonografie weiterhin als exotisch empfunden wurden. Unwahrscheinlich ist es hingegen, dass dem normalen Betrachter der ursprüngliche Bezug zur ägyptischen Kultur noch bewusst war. Das beste Beispiel stellt hier der Affe dar, der im Laufe der Zeit eine prominente Stellung in der minoischen Ikonografie einnahm. Übernommen wurde interessanterweise nicht der Mantelpavian, der in Ägypten 281

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eine besondere kultische Bedeutung genoss, sondern die weniger bedeutende Meerkatze. Affen tauchen im minoischen Kunsthandwerk in zweioder dreidimensionaler Ausführung bereits seit dem Ende der Vorpalastzeit auf. Zahlreiche Darstellungen in den nachfolgenden Perioden, in denen der Affe als Begleiter von Gottheiten erscheint oder sogar, wie in einem Fresko aus Akrotiri auf Thera, das innerhalb des minoischen Einflussbereiches lag, als Mittler zwischen der menschlichen und der göttlichen Sphäre, bieten beredte Zeugnisse für seine besondere Bedeutung in der minoischen religiösen Ikonografie. Mangels schriftlicher Quellen lässt sich nicht sagen, inwieweit der Affe hier wie in Ägypten als heiliges Tier verehrt wurde. Wegen der bemerkenswert exakten Wiedergabe der anatomischen Details und der Bewegungen des Tieres ist es möglich, dass die minoischen Künstler Affen nicht nur indirekt von ägyptischen Darstellungen, sondern auch direkt durch den Import von lebenden Tieren in die Ägäis kannten. Antike Quellen berichten über die Gewohnheit der Matrosen, Affen zu halten, weil diese Tiere während einer langen Reise für Unterhaltung an Bord sorgten. Das Bild eines vom Bart eines Matrosen hängenden oder auf seiner Schulter sitzenden Affen ist uns sonst auch heutzutage aus Piratenfilmen geläufig. Am eindrucksvollsten lassen sich die Übernahme und die Transformation ägyptischer Motive in der ägäischen Kunst im Fall der ägyptischen Göttin Taweret verfolgen (c Kap. 12). Taweret (ägypt. ›die Große‹), eine aufrecht stehende Göttin mit dem Leib eines Nilpferds, menschlichen Armen und Brüsten, Löwenfüßen und einem krokodilartigen Rücken bzw. Schwanz, war eine der niederen ägyptischen Gottheiten, die vornehmlich in der Volksreligion eine wichtige Stellung einnahm, wo sie unter anderem als Schutzgenius für Schwangere und Neugeborene galt. Ein nach Kreta importierter ägyptischer Skarabäus aus einem Grabkontext der Altpalastzeit liefert uns einen wichtigen Hinweis darauf, wann und auf welche Art und Weise die ägyptische Göttin den Minoern bekannt wurde. Interessant ist hier, dass neben ihr ein Affe dargestellt ist. Die Übernahme dieser dämonischen Gestalt in die minoische Ikonografie fand in derselben Periode statt, wie der Abdruck eines altpalastzeitlichen Siegels aus Phaistos zeigt. Herausgelöst von ihrem ägyptischen ›Sitz im Leben‹ gewann Taweret allmählich einen bedeutenden Platz in der ägäischen Bilderwelt und begann sich in Gestalt, Attributen und szeni282

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schem Zusammenhang zu verwandeln. Von Beginn an hatte die minoische Version der Göttin, die als ›minoischer Genius‹ bezeichnet wird, mit einem Nilpferd wenig gemeinsam. Als wichtigste Erscheinungsform hat sich im Laufe der Zeit die eines löwenköpfigen Genius herauskristallisiert, dessen restlicher Körper sich keiner Tiergestalt zuordnen lässt. Später wurde der Esel die gängige Form. Der Vergleich der eselköpfigen Genii auf einem fragmentarisch erhaltenen Miniaturfresko aus Mykene mit der ägyptischen Taweret, nämlich zweier Bildmotive, die jeweils am Beginn und am Ende einer etwa fünf Jahrhunderte langen Entwicklungskette stehen, zeigt, wie sehr sich die ägäischen Künstler vom Original entfernt hatten. Hätte uns hier die günstige Überlieferungslage nicht mit zahlreichen Bindegliedern zwischen dem oberen und dem unteren Ende dieses Wandlungsprozesses vertraut gemacht, wäre es unmöglich oder bestenfalls nicht überzeugend gewesen, beide Werke in einem entwicklungstypologischen Zusammenhang zu sehen. Das Messer, das eines der häufigsten Attribute der Gottheit in Ägypten war, wird in der Ägäis durch eine zeremonielle Kanne ersetzt. Als wichtigste Aufgabe des ›minoischen Genius‹ erweist sich zunächst seine Teilnahme an Trankopfern bzw. Reinigungsriten, eine Rolle, die später durch andere Funktionen erweitert wird, darunter Opferhandlungen, Jagd und Begleitung von Göttern, Priestern oder Machtpersonen. Keine dieser Funktionen lässt sich in eine überzeugende Verbindung mit dem apotropäischen Charakter der ägyptischen Taweret bringen. All diese Zeugnisse zeigen, auf welche mannigfaltige Weise sich der ägyptische Einfluss auf die beiden ägäischen Hochkulturen unter den Zwängen des geografischen und sozialen Milieus manifestierte: im vorpalastzeitlichen Kunsthandwerk Kretas als Zünder und Antriebskraft eines kulturellen Prozesses, bei den lokal hergestellten Skarabäen als blinde Nachahmung des ägyptischen Originals, in der minoischen Ikonografie als freie Übernahme der ägyptischen Form, jedoch nicht des Inhalts und schließlich in den ägyptischen Steingefäßen durch die Behandlung der ägyptischen Kunstform als Rohmaterial, dem die einheimischen Künstler eine neue, ägäische Gestalt gaben. Werfen wir schließlich einen Blick auf die andere Seite dieses materiellen und kulturellen Austausches, nämlich die minoische Präsenz in Ägypten. Wie wir bereits gesehen haben, war Ägypten in dieser Bezie283

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Abb. 23: Die ägyptische Göttin Taweret.

hung als Großmacht und Leitkultur im ostmediterranen Raum der tonangebende Partner. Gerade deswegen sind die zahlreichen archäologischen, ikonografischen und schriftlichen Quellen von Bedeutung, die für ein reges Interesse Ägyptens an den Minoern, ihrem Land und ihrer Kultur zeugen. Um die besondere Signifikanz dieses Interesses richtig einschätzen zu können, müssen wir uns noch einmal die vorhin erwähnte misstrauische Grundhaltung der Ägypter gegenüber Fremden vor Augen führen. Erst in der Zeit der 18. Dynastie, als Ägyptens expansive Bewegung einsetzte, die die Grenzen des Landes drastisch erweiterte und die pharaonische Gesellschaft in einen intensiven Kontakt mit Fremdvölkern brachte, lässt sich auch ein Mentalitätswandel verzeichnen, zu dem auch die Minoer einen vielleicht nicht unwesentlichen Beitrag geleistet haben. Auch wenn explizite Belege fehlen, gibt es eine Reihe von indirekten Indizien dafür, dass die Ägypter die minoische Kultur besonders schätzten. In den vorhin angesprochenen Prozessionen kretischer bzw. ägäischer Gabenbringer in den thebanischen Privatgräbern der 18. Dynastie ist die akkurate Wiedergabe von Gesichtszügen, Haartracht und Kleidung wohl ein Nachklang der großen Bewunderung, welche die kre284

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tischen Gesandten am ägyptischen Hof auslösten: fein gekämmt und tätowiert bzw. geschminkt im Gesicht, elegant angezogen mit reich gemustertem Schurz und feinen Sandalen, brachten sie kostbare Gegenstände, die von ihrem hohen Lebensstandard zeugten. Dieser Respekt der Ägypter den Minoern gegenüber steht im Gegensatz zu der Tendenz, sich über Fremde lustig zu machen, indem man jene Züge ihrer äußerlichen Erscheinung betonte, die dem ägyptischen Schönheitsideal widersprachen. Der Auftritt einer kretischen Gesandtschaft am ägyptischen Hof war sicherlich ein gesellschaftliches Ereignis ersten Ranges und es ist sicherlich kein Zufall, dass Darstellungen dieser Ereignisse gerade die Gräber einiger der wichtigsten hohen Beamten der 18. Dynastie schmückten, die bei diesen Events anwesend waren bzw. eine besondere Rolle als Vermittler zwischen den Gesandten und dem Pharao spielten. Das besondere Interesse für das minoische Kreta und seine Produkte bezeugen ferner eine Reihe von schriftlichen Quellen des Neuen Reiches. Bezeichnend sind hier die Belege des Namens Keftiu (Kreta) in ägyptischen medizinischen Papyri. Im Papyrus Ebers ist die Rede von Bohnen aus dem Land der Keftiu und ihrer therapeutischen Wirkung. In einem Papyrus aus der Zeit Amenophis’ III. (heute im British Museum) werden zwei Beschwörungsformeln bzw. Rezepte in der Sprache der Keftiu erwähnt, die gegen die asiatische Krankheit (wahrscheinlich Trachom) und gegen Röteln wirkten. Ein Alabastergefäß aus dem Grab Thutmosis’ IV. erhielt sogar eine offensichtlich heilende Substanz aus dem Land der Keftiu, die dem Pharao als Beigabe für seine Reise ins Jenseits mitgegeben wurde. Es kann keinen Zweifel daran geben, dass die Ägypter die heilenden Kräfte der kretischen Kräuter und anderer Naturprodukte der Insel sowie die kretischen medizinischen Kenntnisse besonders geschätzt haben. Wir wissen, dass sich in der römischen Epoche Botaniker für längere Zeit auf der Insel aufhielten, deren Aufgabe es war, den Kaiser und die Hauptstadt mit kretischen Heilkräutern zu beliefern. Eine besondere Erwähnung verdienen schließlich die Deckengemälde in ägyptischen Privatgräbern (Gräber von Amenemhet und Antef), welche mit Ornamenten verziert sind, die einen unverkennbar minoischen Charakter aufweisen. Diese Motive hatten ihren Ursprung offensichtlich in minoischen Textilien oder Wandteppichen, die als 285

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Handelsware oder königliche Geschenke das Land der Pharaonen erreichten. Ihre eleganten und farbenfrohen Kompositionen übten auf die Ägypter offenbar eine besonders anziehende Wirkung aus. Die aufregendste Entdeckung der letzten Jahrzehnte fällt völlig aus dem Rahmen des soeben skizzierten historischen Bildes. In Tell el-Dab‘a (dem antiken Avaris am pelusischen Nilarm) kamen in den 1990er-Jahren Tausende von Freskenfragmenten ans Licht, die man sofort als minoisch bzw. ägäisch erkannte. Sie umfassten verschiedene Etappen des Stiersprungs, Mischwesen, Tiere und Naturszenen. Für die nicht-ägyptische Herkunft dieser Werke sprechen zwei Tatsachen: Zum einen wurden die Wandmalereien in der typisch ägäischen Freskotechnik – zum Teil auch in Kombination mit Kalkfreskomalerei – ausgeführt. Dabei handelte es sich um eine auf feuchtem Putz ausgeführte und auf Karbonatisierung basierende Wandmalereitechnik. In Ägypten wurde dagegen stets die Tempera-Technik angewendet, bei der die Farben auf einem trockenen Gipsuntergrund aufgetragen wurden. Zum anderen sind Ikonografie und Stil der meisten Fresken aus Tell el-Dab‘a in Ägypten völlig fremd. Sie lassen sich hingegen problemlos in die Tradition der minoischen Wandmalereien eingliedern. Der ursprüngliche Kontext der Fresken ist bis auf vereinzelte Ausnahmen unbekannt, doch ein großer Teil stammt allem Anschein nach aus den Räumen von zwei ›palastartigen‹ Gebäuden. Da man einen derartigen ›Einfluss‹ der minoischen Kultur auf die ägyptische nicht erwartet hätte, bleibt die Interpretation dieses Freskenensembles problematisch. Der Kern dieses Problems liegt allerdings vordergründig in der archäologischen Herangehensweise und nicht in der Komplexität des Befundes selbst, denn der in der traditionellen Forschung omnipräsente Begriff ›Einfluss‹ für die Bezeichnung von zahlreichen Phänomenen der transkulturellen Interaktion ist irreführend. Er impliziert, wie auch seine Etymologie verrät, dass die ›beeinflusste‹ Kultur von einer anderen Kultur mit Ideen ›angesteckt‹ wurde. Doch sieht die historische Realität in den meisten Fällen ganz anders aus, weil in der Regel die aktive Rolle bei dem, was wir traditionell als Einfluss bezeichnen, beim Rezipienten liegt, der ganz bewusst fremdes Kulturgut ablehnt, übernimmt, umformt und in seine eigenen sozialen Praktiken einbettet. Dies kann sogar im Fall eines asymmetrischen Verhältnisses gelten, bei dem die empfangende Kultur die schwächere ist. 286

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Vor diesem Hintergrund wird es deutlich, dass wir für ein Verständnis der Tell el-Dab‘a-Fresken auf den ägyptischen Kontext fokussieren müssen. Die Dekoration eines oder mehrerer repräsentativer Räume eines öffentlichen oder privaten Hauses mit minoischen Fresken bedeutet nicht unbedingt die Aneignung eines minoischen Lebensstils oder minoischer Moden. Der ägyptische Auftraggeber, der hier residierte – entweder der Pharao selbst oder ein lokaler Potentat – hat einige seine privaten und repräsentativen Räume mit exotischen Bildern geschmückt, die man nirgendwo sonst in Ägypten hätte sehen können. Damit hat er bestimmt nicht seine ägyptische Identität aufgegeben, sondern seinen kosmopolitischen Anspruch zum Ausdruck gebracht, und zwar in einer Zeit, in der sich das pharaonische Ägypten durch seine territoriale Expansion im syro-palästinensischen Raum zum ersten Mal der Außenwelt gegenüber öffnete. Dass dies im mondänen Avaris geschah, ist verständlich, da dieses Zentrum wegen seiner geografischen Lage als Schnittstelle zwischen Ägypten und der Außenwelt fungierte.

Abb. 24: Stiersprungfresko aus dem ägyptischen Tell el-Dab‘a.

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Alles in allem kann man aus der ägyptischen Perspektive heraus feststellen, dass es ein ständiges, wachsames Interesse am minoischen Kreta gab. Dieser ferne Nachbar war für die Ägypter offensichtlich eine exotische Landschaft, reich an Naturprodukten und vor allem an wundertätigen Heilkräutern. Seinen Einwohnern und ihren Kunstwerken, die eine ungewöhnliche Vitalität und einen Charme ausstrahlten, hat man insbesondere in der 18. Dynastie großen Respekt entgegengebracht. Aus der kretischen Perspektive lässt sich sagen, dass die kreative Auseinandersetzung der ägäischen Gesellschaft mit fremdem Kulturgut sicherlich eine bemerkenswerte intellektuelle Leistung war, wofür Kreta aufgrund seiner geopolitischen Lage im östlichen Mittelmeer geradezu prädestiniert war. Geografische, klimatische und soziale Faktoren ermöglichten im Fall der ägyptisch-minoischen Beziehungen einen sehr konkreten Interaktionsrahmen. Die ägyptischen Exotika hatten eine besondere Aura und Exklusivität inne und ihr Besitz war eine klare Demonstration von Macht und Status seitens der minoischen Eliten. Dies bedeutet allerdings nicht, dass ägyptische Artefakte der breiten Bevölkerungsmasse verborgen blieben. Das gilt insbesondere für Mitbringsel und ihre Nachahmungen (Skarabäen sind hier das Stichwort), bei denen man annehmen kann, dass sie auch bei einfachen Leuten beliebt waren. Eine Ausdehnung oder ein massiver ›Einfluss‹ der ägyptischen Kultur auf die Ägäis war allerdings unmöglich. Die geografische Entfernung bewährte sich im Lauf der Zeit als ein kultureller Sicherheitsabstand, der eine Überdosis ägyptischer Kultur verhinderte und dadurch die geistige Unabhängigkeit der ägäischen Kunst und Gesellschaft fremden Vorbildern gegenüber bewahrte. Das unbestritten wachsame Interesse der Minoer an ägyptischen kulturellen Werten wurde nicht kontinuierlich gesättigt, sondern durch einzelne gelungene Überfahrten immer wieder aufgefrischt. Vor diesem Hintergrund lässt sich jedoch auch festhalten, dass für die Erhaltung und Reproduktion des minoischen Palastsystems die diplomatischen und wirtschaftlichen Kontakte zu Ägypten nicht lebenswichtig waren. Das vorhin angesprochene geografische Milieu macht es höchst unwahrscheinlich, dass ein kretisches Palastzentrum durch die diplomatischen Kontakte auf eine politische oder militärische Intervention bzw. Unterstützung Ägyptens in innerkretischen oder innerägäischen Angelegenheiten hoffte. Auch die Bedeutung des wirtschaftlichen 288

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Austausches muss relativiert betrachtet werden: Durch den Handel mit ägyptischen Partnern wurden nach unserem heutigen Kenntnisstand keine Güter erworben, die für die minoische Palastwirtschaft lebensnotwendig waren. Die kretischen Palastzentren waren, wie jeder orientalische Staat der Bronzezeit, autarke, agrarisch orientierte Wirtschaftseinheiten, in denen der allergrößte Teil der Produktion nicht in kommerzielle Bahnen floss. Die traditionelle Vorstellung über die entscheidende Rolle Ägyptens bei der minoischen Kulturentwicklung muss folglich revidiert werden. Die pharaonische Gesellschaft hat zwar einen fruchtbaren, allerdings keinen elementaren Beitrag zu diesem Prozess geleistet. In dieser jahrhundertewährenden Begegnung war Ägypten eine Kultur, die die Minoer stets anregte, ohne jedoch einen paradigmatischen Wert zu erlangen. Bezüglich der minoischen Kontakte mit den syro-palästinensischen Fürstentümern oder den orientalischen Staaten gibt es nur sporadisch Zeugnisse. In den meisten Fällen handelt es sich um Importe nach Kreta, die unter anderem Kostbarkeiten wie exotische Rohmaterialien, Rollsiegel, Schmuck und Steingefäße umfassen. Minoische Artefakte im Orient sind, wenn man von Ägypten absieht, sehr rar und bestehen ausschließlich aus feinen Keramikwaren. Dies hängt sicherlich auch mit den Tücken der Überlieferung zusammen, denn die ägyptischen und vorderasiatischen schriftlichen Quellen bezeugen einen – möglicherweise regen – Austausch zwischen Kreta und diesen Kulturen. Bereits in der Mittleren Bronzezeit werden im Archiv des Palastes von Mari minoische Preziosen wie Steingefäße, Dolche und Schuhe verzeichnet. Auf einer weiteren Mari-Tafel wird eine Zinnlieferung für einen minoischen Händler erwähnt. In diesem Zusammenhang wird auch ein Dolmetscher aus Ugarit genannt. Von einer Tafel des 13. Jahrhunderts v. Chr. aus dem Archiv von Ugarit, das in der Spätbronzezeit zum wichtigsten ostmediterranen Hafen avancierte, erfahren wir, dass der Händler Sinaranu nach seiner Rückkehr von einer Kreta-Reise von den anfallenden Steuern befreit wurde. Schließlich darf man nicht vergessen, dass ein großer Teil des kommerziellen Austausches mit Ägypten über die syropalästinensische Küste lief. Es ist daher durchaus möglich, dass man für einen großen Teil von ägyptischen Exotika, die nach Kreta gelangten, nicht bis nach Ägypten reisen musste, weil sie auch an den levantini289

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schen Märkten angeboten wurden. Dies gilt natürlich auch für Zypern, das ebenfalls an diesem maritimen Weg lag und nicht leicht umfahren werden konnte. Und doch bleibt die Beziehung zwischen Kreta und Zypern ein großes Rätsel. Obwohl wir davon ausgehen müssen, dass die minoischen Zentren ihre ständige Nachfrage nach Kupfer über massive Lieferungen aus Zypern befriedigten, sind die archäologischen Spuren der Kontakte zwischen diesen beiden Regionen verschwindend gering und beschränken sich nur auf Keramikwaren. Die Frage, warum dieser Kontakt nur so spärlich belegt ist, muss leider offen bleiben. Zusammenfassend betrachtet lässt sich feststellen, dass die Kontakte mit den Nachbarn im südöstlichen Mittelmeerraum, Ägypten und zum Teil auch der Levante bzw. Mesopotamien, auf Kreta eine Atmosphäre außergewöhnlicher kultureller Dichte schufen und soziopolitische Prozesse beschleunigten.

Literatur Bietak, Manfred u. a. 2007: Taureador Scenes in Tell el-Dab‘a (Avaris) and Knossos, Wien Broodbank, Cyprian 2004: Minoanisation, in: Proceedings of the Cambridge Philological Society 50, 46–91 Cline, Eric H. 1994: Sailing the Wine-Dark Sea: International Trade and the Late Bronze Age Aegean, Oxford Cline, Eric H./Harris-Cline, Diana (Hgg.) 1998: The Aegean and the Orient in the Second Millennium, Liège/Austin Davies, Vivian/Schofield, Louise (Hgg.) 1995: Egypt, the Aegean and the Levant: Interconnections in the Second Millennium BC, London Galanaki, Calliope E. 2021: Gournes, Pediada: A Minoan Cemetery in Crete, Philadelphia Gorogianni, Evi u. a. (Hgg.) 2016: Beyond Thalassocracies: Understanding Processes of Minoanisation and Mycenaeanisation in the Aegean, Oxford/Philadelphia Karetsou, Alexandra u. a. (Hgg.) 2001: Crete – Egypt. Three Thousand Years of Cultural Links, vols. 1–2, Heraklion/Kairo Laffineur, Robert/Greco, Emanuele (Hgg.) 2005: Emporia: Aegeans in the Central and Eastern Mediterranean, Liège/Austin

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McDonald, Colin u. a. (Hgg.) 2009: The Minoans in the Central, Eastern and Northern Aegean – New Evidence, Athen Phillips, Jackie 2008: Aegyptiaca on the Island of Crete in Their Chronological Context: A Critical Review, Bd. 1–2, Wien Stampolides, Nikolaos Chr./Sotirakopoulou, Peggy (Hgg.) 2017: Cycladica in Crete: Cycladic and Cycladicizing Figurines within their Archaeological Context, Athen Wedde, Michael 1997: The Intellectual Stowaway: On the Movement of Ideas within Exchange Systems – A Minoan Case Study, in: Laffineur, Robert/Betancourt, Philip P. (Hgg.): TEXNH: Craftsmen, Craftswomen and Craftsmanship in the Aegean Bronze Age, Liège/Austin, S. 67–76

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»Damit das Mögliche entsteht, muss immer wieder das Unmögliche versucht werden.« (Herman Hesse)27

Dürfen wir behaupten, dass wir heute, nach ca. 120 Jahren intensiver archäologischer Erforschung, die Minoer wirklich verstehen können? Sicherlich nicht. Wie wir in fast allen Kapiteln dieses Buches gesehen haben, setzen der fragmentarische Charakter der archäologischen Überlieferung und vor allem das Fehlen von erzählenden Texten jedem Versuch, die Ideologie, Mentalität und Empfindungen dieser Gesellschaft und ihrer Individuen zu beleuchten, deutliche Barrieren. Was wir machen können, ist, die kulturelle Entwicklung des bronzezeitlichen Kretas auf der Grundlange der von uns geschaffenen keramischen Perioden in einer sinnvollen historischen Reihenfolge nachzuvollziehen, Brüche und Kontinuitäten sichtbar zu machen, soziale Strukturen und Prozesse zu rekonstruieren und manche der mannigfaltigen Verknüpfungen zwischen Menschen, Bauten, Artefakten und der Natur zu ergründen. Dies ist gewiss ein sehr allgemeiner und grob skizzierter interpretativer Rahmen, um die Geschichte einer Kultur wiederzugeben, doch ist dieses Niveau der erklärenden Erschließung angesichts der überlieferten Quellenlage durchaus legitim. Die Chronologie-Tabelle des minoischen Kreta mit der Gliederung der historischen Zeit in aufeinanderfolgende Phasen lässt uns jedoch nicht im Entferntesten den realen Ablauf der Geschichte dieser Kultur erahnen. Dieser wurde sicherlich durch zahlreiche dramatische Ereignisse und langwierige Prozesse sowie alternierende Zeitabschnitte von 27 Hermann Hesse in einem Brief an Wilhelm Gundert (Gesammelte Briefe, Bd. 4, S. 382).

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zügiger Entwicklung, Konsolidierung, Stagnation oder Rezession strukturiert. Nur die verschiedenen Tempi eines abwechslungsreichen Musikstücks wären vielleicht in der Lage, die unterschiedliche Dynamik dieses abenteuerlichen Werdegangs abzubilden: Seine gesamte erste Hälfte (das adagio der Vorpalastzeit) war eine langsame, ruhige Entwicklung, die in ihrer letzten Etappe ein schreitendes Tempo entwickelte (andante); seine breite Mitte (das allegro der Altpalastzeit) wurde schnell und lebendig, und sein letzter Teil begann mit einem dynamischen Höhepunkt (das vivacissimo der Neupalastzeit), um dann in einem langen, etwas behäbigen Ende auszuklingen (das largo der Spätpalastzeit). Die wichtigsten Komponenten der Geschichte der minoischen Kultur bestehen daher aus der langsamen, allerdings ungebrochenen Entwicklung der Vorpalastzeit, die fast ein Jahrtausend andauerte. Es folgt ein Wetteifern zwischen drei mächtigen Palastzentren im zentralen Teil der Insel, das dem kulturellen Fortschritt dieser Gesellschaft in der Altpalastzeit einen enormen Schub gegeben hat. Daran schließen sich die Periode der neupalastzeitlichen Dominanz von Knossos als unangefochtenem Machtzentrum und schließlich die Zeit nach der Zerstörung der meisten minoischen Paläste an, in der die minoische Gesellschaft zum ersten Mal nach einigen turbulenten Jahrhunderten stabiler und gleichzeitig konservativer wirkt und im Schatten des mykenischen Festlands steht. Dieses Szenario der Geschichte der minoischen Kultur ist viel komplexer als ein evolutionistisches Erklärungsmodell, das aus den Komponenten von Geburt, Wachsen, Höhepunkt, Verfall und Ende besteht. Es zeigt, dass sich Kultur nicht wie ein biologischer Organismus, sondern vielmehr wie eine chemische Reaktion verhält. Die kulturellen Phänomene, die wir fassen, scheinen das Ergebnis des Zusammentreffens von bestimmten Parametern zu sein. Genauso wie im Reagenzglas alles von einer fixen Kombination von bestimmten Elementen oder chemischen Verbindungen sowie der Rolle von Katalysatoren abhängt, scheinen kulturelle Phänomene das Ergebnis eines Zusammentreffens von bestimmten Parametern zu sein. In vielen Fällen ist die Wirkung eines einzelnen ›kulturellen Katalysators‹ in der Lage, den Anstoß für eine völlig neue Entwicklung zu geben. Die Neupalastzeit als absoluter Höhepunkt der minoischer Kultur wäre dadurch nicht – oder nicht nur – das Ergebnis einer langwierigen Entwicklung, die bereits in der Vorpalastzeit ihren 293

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Ausgang nahm, sondern das Produkt einer Periode, in der eine spezifische Kombination von kulturellen Parametern entstand und ihre Wirkung entfaltete. Im Rahmen dieser langen Entwicklung stellt sich natürlich auch die Frage, ob es legitim ist, das bronzezeitliche Volk Kretas als eine einheitliche Kultur zu betrachten. Dies hängt lediglich davon ab, wie wir den Begriff ›Kultur‹ definieren. Ein dynamisches Verständnis von ›Kultur‹ als einem sich durch die Zeit transformierenden Gebilde von Kommunikationsformen, Praktiken, Symbolen und Werten einer sozialen Gruppe macht es durchaus plausibel, von einer minoischen Kultur zu sprechen. Diese Kultur tritt uns zugegebenermaßen nicht in jeder kretischen Region oder bronzezeitlichen Phase mit derselben Intensität oder Homogenität vor Augen. Um dies noch pointierter zum Ausdruck zu bringen: Bestimmte Inselteile bzw. Epochen der bronzezeitlichen kulturellen Entwicklung scheinen mehr ›minoisch‹ als andere gewesen zu sein. Die kulturellen Gemeinsamkeiten, die durch die beständige und fruchtbare Interaktion der verschiedenen Inselteile entstanden sind und die Barrieren der in viele Mikroregionen zersplitterten kretischen Landschaft überwunden haben, sind bereits seit der Vorpalastzeit sichtbar. Allerdings kann man erst in der Neupalastzeit durch die Dominanz von Knossos von einem gesamtkretischen Zentrum und eventuell auch von gesamtkretischen Zeremonien und Ritualen sprechen. Sie förderten vermutlich ein Wir-Gefühl, das einen großen Teil, wenn nicht sogar die gesamte Insel umfasste. Nichtsdestotrotz ist es aus archäologischer Sicht entscheidend, auf die Diversität der kretischen Landschaft und ihrer Geschichte zu achten. Hier gilt, was im forschungsgeschichtlichen Überblick (c Kap. 1) erwähnt wurde: Man darf keinem starren, einheitlichen Narrativ folgen, sondern muss erst die unterschiedlichen ›Biografien‹ einzelner kretischer Landschaften getrennt herausarbeiten, um sie dann in einem zweiten Schritt miteinander zu verknüpfen. Um die historische Bedeutung der minoischen Kultur auf synchroner und diachroner Ebene zu würdigen, müssen wir auf das fokussieren, was man auf der Grundlage der stummen Zeugnisse als Alleinstellungsmerkmal dieser bronzezeitlichen Gesellschaft erkennen könnte. Wenn man am Ende einer umfassenden Betrachtung gezwungen ist, die vielfältigen vorhandenen Indizien auf einen gemeinsamen Nenner zu brin294

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gen und die Quintessenz dieser vormodernen Gesellschaft, wenn möglich, mit einem einzigen Wort zu fassen, wäre dieses Wort ihre Kühnheit. Die kühnen Leistungen der Minoer hatten nichts mit dem Drang anderer orientalischer Kulturen nach Monumentalität zu tun, welche im ägäischen geografischen Milieu ohnedies nicht die Wirkung erzielen konnte, die sich in der weiträumigen, eintönigen ägyptischen oder mesopotamischen Landschaft entfaltete. Die Kühnheit der minoischen Kultur bestand vielmehr darin, in verschiedenen Bereichen ihres Lebensraumes unmöglich scheinende Herausforderungen anzunehmen und sie möglich zu machen: Die Minoer sprangen über einen heranpreschenden Stier mit unnachahmlicher Eleganz, bauten Palastkomplexe mit bis zu vier Stockwerken auf einer Erde, die immer wieder von Erdbeben erschüttert wurde, ›domestizierten‹ die wilden kretischen Berge und schöpften ihre Ressourcen mit bemerkenswerter logistischer Effizienz aus oder gestalteten die Äderung der bunten kretischen Gesteine zu ausdrucksvollen und symmetrischen Motiven um, welche mit der schwungvollen Form der Steingefäße perfekt harmonisierten. In all diesen Aktivitäten versuchten die Minoer, die Kräfte und Gewalten der Natur nicht einfach zu beherrschen, sondern sie mit Stil zu dominieren. Wir können dieses Volk für die besondere Kombination von Effizienz und Ästhetik nur bewundern, die in vielen ihrer kulturellen Höchstleistungen fassbar wird. Beide Tugenden waren tief in einer Lebensweise verwurzelt, in der sich der Mensch im Einklang mit seiner natürlichen Umgebung befand und sich durch einen ständigen ›Dialog‹ mit ihren fordernden und fördernden Elementen weiterentwickelte. Abschließend lohnt es sich als Ausblick, kurz über die archäologische Arbeit zu reflektieren und etwas über die Zukunft der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dieser Kultur zu sagen. Solange wir die Begriffe, mentalen Konzepten und kognitiven Kategorien, die dieser Kultur inhärent waren, wegen des Fehlens von erzählenden Texten nicht kennen, müssen wir in der Zukunft einen eher minimalistischen interpretierenden Zugriff auf die archäologischen Zeugnisse anstreben. Wir sollten weniger ›historisch‹ deuten, sondern viel mehr die Zusammenhänge beleuchten und die diachrone Qualität minoischer Leistungen würdigen. Der Versuch, auf der Grundlage von homerischen, orientalischen oder ethnologischen Vergleichen den Charakter von minoischen Gebäuden, 295

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Objekten und dargestellten Figuren und Handlungen durch nicht-minoische Begriffe zu erschließen, führt sehr oft in eine interpretatorische Sackgasse. Viel sinnvoller erscheint für die zukünftige Forschung, aus unserer modernen Perspektive und durch Implementierung unseres diachronen Wissens, den besonderen Charakter der minoischen Architektur, Bilderwelt und Kleinkunst als Produkt einer einzigartigen kulturellen Leistung bis in kleinste Details zu ergründen. Bei Erkenntnissen, die sich auf die Transparenz und Multifunktionalität von gebauten Räumen, das mediale Potenzial und die besondere räumliche Wirkung von Bildern sowie das hohe technische Niveau des Kunsthandwerks beziehen, stehen wir auf viel festerem Boden als bei jedem Versuch ihrer politischen, sozialen oder religiösen Interpretation, die ohne Texte dazu verurteilt ist, eine bloße Hypothese zu bleiben. Nur durch erstgenannte Herangehensweise können wir die Gewissheit haben, dass wir konkrete minoische Ideen und Intentionen fassen. Zugleich muss man nicht nur die Möglichkeiten, sondern auch die Grenzen der theoretischen Interpretationsmodelle erkennen, die seit einigen Jahrzehnten die archäologische Erforschung des minoischen Kreta dominieren. Begriffe oder Konzepte, die man von der Geschichte, Soziologie, Ethnologie oder anderen Disziplinen übernimmt, bieten stets einen starren Interpretationsrahmen, den man nicht ohne Weiteres auf den spezifischen Charakter und Werdegang der minoischen Kultur anwenden kann. Jeder Versuch, ein solches theoretisches Modell anzuwenden, kann nur a posteriori erfolgen, in anderen Worten: erst nachdem seine potenzielle Passgenauigkeit und Aussagekraft durch eine Berücksichtigung der kretischen Parameter und der diachronen Geschichte der Insel evident geworden ist. Eine Lektüre des Erotokritos von Vitsentzos Kornaros oder des Patouchas von Ioannis Kondylakis, um nur zwei jüngere kretische literarische ›Denkmäler‹ zu erwähnen, erscheint daher als Grundlage für das Verständnis der minoischen Kultur viel inspirierender als jene theoretischen Prämissen, die auf polynesischen, südamerikanischen und afrikanischen Fallbeispielen beruhen. Nach über einem Jahrhundert, das uns unzählige und oft widersprüchliche Hypothesen zu allen Facetten der minoischen Kultur geliefert hat, ist es Zeit, innezuhalten und sich Gedanken über einen neuen Zugang zu machen. Statt ›überzuinterpretieren‹, könnten die Archäolo296

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gen anfangen, mehr zu fühlen und die Wirkung, welche die materielle Kultur Kretas entfaltet, in ihren Publikationen nach allen wissenschaftlichen Gepflogenheiten zu thematisieren. Eine Beschreibung des angenehmen Gefühls, das die polierte Oberfläche eines kunstvoll modellierten Steingefäßes oder elfenbeinernen Siegels in der Hand hinterlässt, ist als archäologische Information nicht minder wichtig als die Maße dieser Objekte, die jeden archäologischen Katalog dominieren. Eine solche ›Archäologie des Affekts‹ kann uns in der Zukunft vielleicht die Möglichkeit geben, uns vom ›robotischen‹ Bild der Minoer, das in jüngeren theoretischen Erklärungsversuchen gepflegt wird, zu befreien und diese Menschen nicht nur als Maschinen zu betrachten, welche soziale Prozesse angetrieben haben. Den Schlüssel für ein besseres Verständnis der minoischen Kultur liefert die Insel selbst: die Landschaft, ihre Geschichte(n) von der Antike bis in die Moderne und schließlich die heutigen Bewohner in den wenigen von der industriellen und touristischen Entwicklung fast unberührten Regionen. Sie bieten dem Archäologen die Möglichkeit eines diachronen und multisensorischen Blickes, durch welchen man nicht nur seine Augen, sondern auch seine Sinne für die ästhetischen Reize der minoischen Kultur sensibilisieren kann. Befreit von dem Zwang des Antwortens oder gar Beweisens, kann der Forscher in einen spannenden Dialog mit dieser vormodernen Gesellschaft treten, der nicht nur die wissenschaftlichen Erkenntnisse entscheidend bereichern, sondern auch ihn selbst verändern kann. Daher kann man am Ende dieses Buches mit Verweis auf Bertolt Brecht – jedoch hier ohne einen Hauch von Pessimismus – verkünden: »Den Vorhang zu und alle Fragen offen.«28

28 Brecht, Bertold 1964: Der gute Mensch von Sezuan, Frankfurt am Main, S. 144.

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Handbücher zur minoischen Kultur

Alexiou, Stylianos 1976: Minoische Kultur, Göttingen/Zürich/Frankfurt Castleden, Rodney 1990: Minoans. Life in the Bronze Age, London/New York Cline, Eric H. (Hg.) 2010: The Oxford Handbook of the Bronze Age Aegean, Oxford Faure, Paul 1978: Kreta. Das Leben im Reich des Minos, Stuttgart Fitton, Josephine Lesley 2004: Die Minoer, Stuttgart Hiller, Stefan 1977: Das minoische Kreta nach den Ausgrabungen des letzten Jahrzehnts, Wien Hood, Sinclair 1971: The Minoans. Crete in the Bronze Age, London Mastorakis, Michel/Van Effenterre, Micheline 1991: Les Minoens. L’âge d’or de la Crète, Paris Otto, Brinna 1997: König Minos und sein Volk. Das Leben im alten Kreta, Zürich Schachermeyr, Fritz 1964: Die minoische Kultur des alten Kreta, Stuttgart Shelmerdine, Cynthia Wright (Hg.) 2008: The Cambridge Companion to the Aegean Bronze Age, Cambridge

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Abbildungsverzeichnis

Abb. 1: Diamantis Panagiotopoulos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 2: Corpus der Minoischen und Mykenischen Siegel II8, Nr. 256 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 3: Diamantis Panagiotopoulos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 4: Yannis Galanakis: The Aegean World. A Guide to the Cycladic, Minoan, and Mycenaean Antiquities in the Ashmolean Museum (2013), Abb. 60 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 5: Corpus der Minoischen und Mykenischen Siegel II1, Nr. 435 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 6: Spyridon Marinatos/Max Hirmer: Kreta, Thera und das mykenische Hellas (1973), Farbtaf. II © Bildarchiv Foto Marburg / Max Hirmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 7: Diamantis Panagiotopoulos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 8: Corpus der Minoischen und Mykenischen Siegel II 2, Nr. 316 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 9: Corpus der Minoischen und Mykenischen Siegel II 5, Nr. 259 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 10: Links: Spyridon Marinatos/Max Hirmer: Kreta, Thera und das mykenische Hellas (1973), Taf. 120, oben rechts; Rechts: Yannis Galanakis: The Aegean World. A Guide to the Cycladic, Minoan, and Mycenaean Antiquities in the Ashmolean Museum (2013), Abb. 241 . . . . . . . . . . . Abb. 11: Ute Günkel-Maschek: Minoische Bild-Räume: neue Untersuchungen zu den Wandbildern des spätbronzezeitlichen Palastes von Knossos (2020), Abb. 001 . . . . . . .

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Abbildungsverzeichnis

Abb. 12: Yannis Galanakis: The Aegean World. A Guide to the Cycladic, Minoan, and Mycenaean Antiquities in the Ashmolean Museum (2013), Abb. 210 . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 13: Spyridon Marinatos/Max Hirmer: Kreta, Thera und das mykenische Hellas (1973), Taf. 17 . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 14: Archäologisches Museum von Heraklion . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 15: Alexandra Karetsou u. a. (Hgg.): Crete – Egypt. Three thousand years of cultural links. Catalogue (2001), S. 209, Nr. 208 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 16: Joseph A. MacGillivray: The Palaikastro Kouros: a Minoan Chryselephantine statuette and its Aegean Bronze Age context (2000), Taf. 23 . . . . . . . . . . . . . Abb. 17: Corpus der Minoischen und Mykenischen Siegel II 5, Nr. 322 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 18: Archäologisches Museum von Heraklion . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 19: Spyridon Marinatos/Max Hirmer: Kreta, Thera und das mykenische Hellas (1973), Taf. 104 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 20: Archäologisches Museum von Heraklion . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 21: Spyridon Marinatos/Max Hirmer: Kreta, Thera und das mykenische Hellas (1973), Farbtaf. XXX © Bildarchiv Foto Marburg / Max Hirmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 22: Nikolaos Stampolides/Peggy Sotirakopoulou (Hgg.): Cycladica in Crete: Cycladic and Cycladicizing Figurines within their Archaeological Context (2017), S. 254, Abb. 29 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 23: Alexandra Karetsou u. a. (Hgg.): Crete – Egypt. Three thousand years of cultural links. Catalogue (2001) S. 154, Nr. 128 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 24: Manfred Bietak/Nannó Marinatos/Clairy Palivou: Taureador Scenes in Tell el-Dab‘a (Avaris) and Knossos (2007), S. 95, F4 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Karte 1: © Peter Palm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tab. 1: Diamantis Panagiotopoulos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

300

117 146 176

179

182 195 205 209 225

261

274

284

287 30 39

Panagiotopoulos, Kreta 30.7.21

S. 301

Register

A Abgabe (s. auch Zwangsabgabe) 101, 126 Abholzung 47 Achat 175 Ackerbau 49, 51, 133, 136, 211, 216 Administration (s. Verwaltung) 33, 40, 59, 61, 70 f., 76, 84, 89, 99, 110, 118, 123 f., 127–129, 136 f., 158, 193 f., 202, 205 Adorant 224, 236, 241 Affe 67, 281 f. Ägäer (ägäisch) 37, 42, 49, 51, 56, 59, 69, 74, 90 f., 99, 112, 136, 145, 172, 188, 231, 268, 276, 278–284, 286, 288, 295 Agamemnon 231 Agora (Malia) 83 Agora (s. auch Markt) 189 agropastoral 134 Ägypten (ägyptisch) 11, 22, 28, 37, 42, 68, 72, 80, 91, 108, 136, 145, 149, 177, 179, 200, 225, 258, 266, 279–289, 295 Ägyptomanie 80 Ahne 185, 251, 255, 262 Ahorn 49 Ailias 87 Aischylos 231 Ajia Irini (Keos) 190 Ajia Photia 263, 270 f.

Ajia Triada 15, 46, 85, 100, 123, 125, 128, 168, 193, 209, 233, 260 Ajios Ioannis 96 Ajios Onouphrios 191 Akkumulation 127 Akrobat (s. auch Stierspringer) 130, 245 Akrotiri 29, 42, 147, 151, 167, 214, 234, 240, 282 Alabaster 175, 285 Alabastron 178 Aleppokiefer 46 Alltag (-sbild) 14, 33, 61, 80, 118, 150, 196, 207–210, 212 f. Altar 214, 236, 238, 240 Alter 146, 150 f. Amethyst 175, 279 Amnissos 232 Amt 21, 183, 193 f., 198, 202, 247 Amulett 63, 66, 70, 172–174, 183, 280 Anämie 150 Anemospilia 84, 144, 150, 222, 224 Aphrodite 232 apotropäisch 70, 242, 283 Arbeitskräfte 111, 127 f. Archanes 34, 63, 68, 86, 109, 123, 203, 240, 253, 257, 260, 271 Ares 224 Argolis 277 Arkalochori 204 Arsen 172 Asterousia 50, 58, 63, 132, 139, 256

301

Panagiotopoulos, Kreta 30.7.21

S. 302

Register

athletisch 74, 116, 144, 151, 213, 231, 244 Atsipades Korakias 82 Audienzsaal 119 Aufbahrung 261 Außenbeziehungen 33 Autarkie 49, 51, 53, 269, 289 Avaris (s. auch Tell el-Dab‘a) 91, 286 Axialität 161, 258

Bohne 218, 285 Boot 144, 231, 269, 275 Boukranion 241 Boxkampf 115, 144, 151, 193, 197 Brennstoff 47 Brettspiel 212 Bronze (-gefäß, -schmied) 80, 90, 96, 122, 147, 153, 172, 184, 246 Brunnen 122 Brust 143–145, 149, 282

B C Badewanne 154 Bahre 259 Baitylos 233, 236 f. Baldachin 119 Balkon 115, 162, 169 Balustrade 115, 158 f., 214, 235, 238 Bankett 126 Basalt 178 Bauer 125, 133, 138, 140, 211, 216 Beamte 11, 22, 126 f., 279, 285 Becken 122 Befestigung 62, 74, 101, 132 Beigabe 57 f., 63, 69, 97, 99, 155, 185, 251, 253, 258 f., 263 f., 270, 272, 285 Belichtung 115 Belüftung 115 Bergkristall 175, 212, 242, 246 Beschwörung 237, 285 Bestattung 57, 63 f., 69, 81, 87, 96, 99, 155, 210, 250–255, 257, 259 f., 262–264, 270 Bevölkerung 21 f., 44, 49–53, 58–60, 62, 64, 66, 69, 81, 84, 88, 92, 99, 102, 114, 126 f., 131–133, 140, 145, 174, 189, 196 f., 211, 213, 215 f., 230, 244, 247, 270–272, 277 f., 288 Beweidung 49, 51, 130, 132, 134– 136, 230 Bienenzucht 51 Blei 68, 272 Blut 179, 241

302

Camp Stool Fresco 148 Chalzedon 175 Chania 34, 40, 85, 94, 97–100, 109, 123, 255, 258, 264 Chronologie 13, 26, 29, 32, 34, 37 f., 40, 42, 97, 183, 292 Clan 192, 216, 259

D Daidalos 21 Damantri 34, 86, 109, 123 Dämon 19, 194, 196, 223, 282 Demeter 224 Deponierung 81, 93, 182 f., 261, 272 Diadem 144 Dienerschaft 126 Diodor 20 Dionysos 224 Diplomatie 23, 26, 91, 100, 149, 279, 288 Diskus von Phaistos 204 f. Dodekanes 51, 90, 276 Dolch 69, 74, 185, 231, 271, 273, 289 Doppelaxt 232, 241 f. Doppelaxt (s. auch ›Halle der Doppeläxte‹) 204, 239, 241 Doppelhörner 114 ›Drache‹ 226 Drehscheibe 72 Duftöl (s. auch Parfümöl) 146

Panagiotopoulos, Kreta 30.7.21

S. 303

Register

Dunkel-auf-Hell-Stil 65 Dynastie 20, 22, 88, 108, 136, 145, 258, 279, 284, 288

E Eiche 46 Eileithyia 224, 232 Ekstase 225, 233 f., 236–238, 240 Elefantenstoßzahn 69, 173 Elfenbein 68, 70, 122, 172 f., 181, 203, 212 f., 244, 246, 271, 279, 297 Elite 59, 69, 72, 77, 80, 86, 88, 90, 94–96, 107, 110 f., 114, 121, 124, 126, 128, 143, 145, 149, 154, 160, 163, 166–169, 178, 180, 184, 189, 193 f., 197–199, 204, 210 f., 219, 222, 233, 241, 244 f., 248, 276, 278, 288 Emmer 218 Epidemie 211 Epiphanie 198, 225, 236–238, 243 Erbse 61, 218 Erdbeben 46, 52 f., 73, 83 f., 94, 160, 165, 227, 295 Ernährung 61, 150, 218 Ernte 94, 209, 211, 251 Erotik 153 f. Erotokritos 296 Erscheinungsfenster 114 Esel 283 Esskastanie 49 Essraum 159 Europa (Königstocher) 20 evolutionistisch 33, 293 Exotikum 288 f. Export 42, 68, 99, 136, 281

F Fabelwesen 281 Familie 49, 63, 139, 147, 154, 169, 212, 215, 217, 231, 256, 259

Fassade 25, 62, 73, 93, 112 f., 115 f., 119, 121, 161 f., 165, 189 Fayence 122, 172, 225, 280 Feige 61, 218 Felskammergrab (s. auch Kammergrab) 97, 258, 263 Fest (-mahl) 11, 14, 33, 53, 64, 88, 110 f., 115 f., 126 f., 145, 187, 189, 195, 198, 212 f., 221, 231, 243 f., 247, 251 Festland, griechisches 21, 37, 46, 50, 59, 89, 97, 99, 101, 196, 216, 231, 258, 267, 269, 275, 293 Fisch (-fang, -gräte) 61, 132, 140, 191, 200, 204, 208, 211, 217 f., 231 Flechten, Flechtwerk 173, 211 Fleisch 218 Flüchtling 102 Fluchtsiedlung 102 Flusspferd (s. auch Nilpferd) 68, 70 Fortschritt 34, 56 f., 60, 62, 69, 71, 293 Fraktion 109, 154, 259 Freizügigkeit 145 Fresko 32, 84, 88, 91, 108, 116, 121, 123, 144 f., 147 f., 168, 181, 184, 189, 193, 198, 200, 212, 234, 239, 243 f., 246, 282 f., 286 Frisur 23, 144, 151, 284 Frosch 67 Frucht 218, 241 Fruchtbarkeit 48–50, 89, 102, 123, 131, 134, 147, 153, 256, 276 Fürstentum 204, 277, 289 Futtervorkommen 136

G Gabe 23, 65, 88, 100, 114, 236, 240, 243, 279, 284 Gaidourofas 51 Galatas 15, 34, 85, 109, 123, 163 Gavdos 134, 268 ›Geflammter-Stil‹ 65

303

Panagiotopoulos, Kreta 30.7.21

S. 304

Register

Gemüse 49, 218 Genitalien 144 Genius, minoischer 195, 225, 283 Gerät 70, 74, 160, 172 f., 175, 183, 202, 204, 209, 211, 217, 230, 239– 241, 272 Gerste 61, 218 Gesandte 22 f., 145, 278 f., 285 Geschenk (-austausch) 23, 49, 53, 91, 100, 126, 136, 149, 241, 276, 279, 286 Geschlecht 20, 28, 33, 143–145, 148, 150, 153, 155, 169, 231 Geschlechterrolle 143, 147, 150 Geschmack 46, 153, 178 Getreide (-silo, -speicher) 46, 49, 61, 121, 127, 209, 211, 218 Gewalt 58, 75, 93, 184, 196–198, 211 Gipsstein 121, 166, 168, 238 Gold (-anhänger, -ring) 58, 68, 87, 89, 154, 172, 181, 198 f., 204, 212 f., 238, 246, 275 Gott 11, 20, 26 f., 65, 78, 82, 84, 86, 100, 111, 126, 179, 181, 185, 190, 192, 194, 196, 198 f., 210, 213, 221, 223–229, 231, 236–238, 241, 260, 282 Götterkult 64 Göttin 26, 148, 178, 223, 225 f., 229, 238, 240, 282, 284 Gournes 263, 270 f. Gournia 76, 86, 89, 93, 109, 123, 168, 184, 210, 214 Grab (-architektur, -beigabe, -haus) 57 f., 63 f., 69, 81, 87, 96, 98, 107, 109, 132, 136, 155, 183, 185, 251–257, 259 f., 262 f., 270, 272, 277, 285 Grandstand Fresco 145, 148, 244 Greifen 119, 238

H Haar

304

146, 151

Habitus 88, 127 Hafen 45, 48, 91, 99, 122, 124, 139, 213, 264, 270, 289 Hain 222, 236 Halbedelstein 72, 175, 279 Halle 80, 107, 112, 114, 119, 122 f., 125, 161 f., 168 ›Halle der Doppeläxte‹ 119 Halskette 144, 154 Hämatit 175 Handel (-saustausch, -sware, -sstation) 13, 26, 59, 68, 72, 75, 80, 91, 100, 136 f., 216, 269 f., 272, 274 f., 279, 289 Handwerker 69, 80, 177 f., 217 Harem 149 Harz 219 Hase 218 Haus 61 f., 80 f., 84, 88, 95, 101 f., 122 f., 125, 158, 160, 165–169, 184, 189, 194, 204, 210, 212, 214–216, 222, 226, 235, 238, 241, 255–257, 262 ›Haus der Toten‹ (Malia) 257 ›Haus des Ölhändlers‹ (Mykene) 101 Haushalt, ›institutioneller‹ 126 ›Heiliger Hain und Tanz-Fresko‹ 117, 244 Heiligtum 24, 81 f., 118, 144, 210 f., 226, 232 Heilkraut 151, 274, 285, 288 Hell-auf-Dunkel-Stil 65 Herd 159, 210 Hermes 232 Herr/Herrin der Tiere 223 Herrschaft 20, 23 f., 26, 109, 194, 198, 246 Herrscher (-ikonografie, -residenz) 12, 19–21, 84, 86, 91, 101, 108 f., 111, 115 f., 121, 126, 197, 279 Heterarchie 109 Hieroglyphen, kretische 32, 72, 77 f., 128, 142, 187, 203 f.

Panagiotopoulos, Kreta 30.7.21

S. 305

Register

Hieroglyphic Deposit 77 Hirsch 218 Hirt 133, 140, 216 Hof (-komplex, Innen-, West-, Zentral-) 61, 71, 73, 86, 108–110, 112, 114, 116, 118–125, 159, 161, 169, 214, 233, 243, 257, 279, 285 höfisch 71, 112, 114 f., 124, 212, 263 Höhenheiligtum 65, 74, 82, 84, 87, 135, 190, 197, 230, 232 Holz (-abbau, -balken, -truhe) 47, 50 f., 62 f., 115, 118, 136, 159, 162, 164, 168, 173, 224, 256, 268, 274 Honig 49, 218 Horn 242, 245 Hörnermaske 243 Hortfund 92 House of the Chancel Screen 214, 238 House of the High Priest 214, 238 Huf 67 Hülsenfrüchte 218 Hut 144 Hygiene 168 Hypostyle-Krypta (Malia) 83

I Ida (s. auch Psiloritis) 20, 47, 229 Idäische Zeus-Grotte 20 Idomeneus 20 Ierapetra, Isthmus von 47, 62, 132 Ikonografie 14, 67, 74, 86, 146, 148, 151, 153, 183, 189, 194–197, 199 f., 216, 222, 226 f., 233, 238, 240, 242, 245, 260, 277, 281–284, 286 Import 42, 68, 96, 137, 172 f., 175, 177, 267, 271–274, 279–282, 289 Infektion 150 Initiation (-sritual) 152, 234, 246 Intimität 153 Isopata 96

J Jaspis 175 Jenseitsvorstellungen 81, 250 f., 254, 257 f., 263 Johannisbrotbaum 49 Juchtas 16, 82, 84, 229 f. Junge

K Kalenderdaten, ägyptische 42 Kalk (-putz) 62, 83, 164, 260 Kamares-Keramik 78, 80, 191 Kanalisation 81, 89, 168, 210 f. Kannia 128, 158 Kaphtor 11 Karawanserai 122 Karneol 175 Käse 136, 218 Kastri 276 Kato Zakros 85, 95, 109, 122, 125, 139, 154, 175 f., 178 f., 193, 226, 230 Katze 281 Keftiu 11, 285 Kellerraum 124 Keos 90, 190 Keramik (s. auch Tongefäß) 37–40, 56, 58 f., 61, 64–66, 76, 86, 91, 95, 97–99, 118, 134, 137, 174, 177, 180, 183, 191 f., 200, 213, 219, 275 f., 289 Keramik (s. Tongefäß) 13 Kind 114, 147, 151, 204, 212 Kistengrab 258, 263 Kleidung 23, 143 f., 149, 151, 196, 217, 243, 284 Kleinasien (kleinasiatisch) 50, 56, 269, 276 Kleinplastik 66 Klima 45–47, 94, 131 f., 135, 288 Klitoris 153 Klytaimnestra 231

305

Panagiotopoulos, Kreta 30.7.21

S. 306

Register

Knochen 35, 64, 150, 172, 253–255, 258 f., 271 Knossos (Palast von) 25–28, 84, 86, 88, 91, 96, 99, 102, 112, 117, 120, 138, 157, 161 f., 205, 212, 225, 229, 238, 243, 246 Kolonnade 107 König, ägyptischer (s. auch Pharao) 23 König, orientalischer 91, 199 Kophinas 82, 144 Körper (-ideal, -pflege) 19, 33, 65, 74, 143–146, 151 f., 174, 178, 181, 192, 196, 207, 217, 226, 231, 236 f., 247, 253 f., 260, 283 Körperschaft 109 Korridor 107, 114, 118 f., 121 f., 161, 232, 243, 257 Kos 90 Kosmetikutensilien 146, 271 Kouloures 127 Koumasa 15, 64, 68, 273 f. Kouphonisi 134 Kourotrophos 147 Kräuter 46, 146, 279, 285 Krokodil 281 f. Krokus 234 Kult (-bau, -bild, -gebäude, -höhle, -hörner, -›knoten‹, -kontinuität, -ort, -statue) 64 f., 71, 74, 82, 84, 87, 110, 118, 147, 158, 203, 211, 213, 222, 224, 227, 231–233, 235, 237, 240, 242, 246, 282 Kunst/Künstler 21, 32, 53, 65, 89, 95, 131, 143, 147, 151, 153, 171, 181, 188, 190, 194, 196 f., 199 f., 272 f., 279, 281–283, 288 Kunsthandwerk 68, 280–283 Kupfer (-lagerstätte) 50, 68, 172, 271 f., 290 Kuppelgrab (s. auch Tholosgrab) 63, 81, 256 Küstenschifffahrt 278

306

Kykladen 37, 51, 56, 59, 67, 90, 184, 263, 269–275 Kythera 90, 276

L Labyrinth 21, 161, 241, 248 Lagerraum 95, 121, 123, 128, 158 f., 193, 210 Lagerstätte 158 Lagerung 78, 92, 121, 126 f., 158 Landschaft 14–16, 22, 44–48, 50, 52 f., 58, 81 f., 89, 93, 123, 130 f., 133 f., 138, 162, 164, 190, 194 f., 207, 216, 228, 230, 233–235, 288, 294 f., 297 Landvilla/Landhaus 51, 90, 94, 134– 138, 140 Landwirtschaft 61, 79, 89, 100, 125, 127 f., 138, 196, 217, 269, 289 Lapis lacedaemonius 175 Lapislazuli 175 Lastros 154 Latrine 120, 125, 168 Lebenserwartung 150 Leder 173, 243 Levante 56, 72, 91, 177, 289 Libation 178, 260 Lichthof 107, 161 f., 168, 238 Lichtsignal 231 Linear A 32, 73, 143, 187, 205 Linear B 143, 204 Little Palace 162 Lustralbecken 80, 119, 123, 159, 235 Luxus 89, 211

M Macchia 46 Macht (-system, -zentrum) 14, 44, 58, 74, 80, 84, 91, 96, 109, 111, 116, 124, 126, 133, 138, 189, 200, 251, 267, 277, 288, 293

Panagiotopoulos, Kreta 30.7.21

S. 307

Register

Magazin 23, 25, 73, 90, 118, 120 f., 127 f. magisch 70, 173 f., 180, 242 Mahlstein 61 Makrygialos 90, 153 Malaria 164 Mantelpavian 281 Mari 289 Markt (s. auch Agora) 69, 172, 175, 213, 276, 290 Marmor 59, 68, 271 f. Master Impression 229 Materialität 33, 187, 193, 200 Matriarchat 148 f. Matrize 184 Mauer (-werk) 62, 73, 114, 121, 125, 161, 164–166, 213, 222, 230, 232, 234, 236, 256, 261 Mavrospilio 87, 204 medizinisch 285 Meeresstil 94, 191 f., 196 Meerkatze 282 ›Megaron der Königin‹ 119 melken 211 Melos 175, 272 Mesara 46, 58, 63 f., 77, 85, 132, 256 Metall 20, 47, 50, 55, 57, 68 f., 72, 79, 93, 132, 142, 172, 175, 179, 243, 270, 275, 277, 279 Mieder 145 Migration 56 militärisch 74, 97, 288 Mineralien 146 Miniatur (-fesko) 74, 145, 148, 234, 240 f., 244, 283 Minos 11, 19–23, 229 Mischwesen 78, 194, 223, 226, 239, 286 Mistkäfer 231 Mitropolis/Kannia 128 Möbel 100, 118, 159, 240 Mochlos 46, 68, 71, 89, 222 modular 161, 240 Monarchie 108 f., 199

Monastiraki 15, 73, 163 Monumentalität 19, 26 f., 34, 55, 61, 71, 73, 75, 77, 98, 108, 110, 112– 115, 124, 189 f., 222, 295 Mörtel 73, 164 Mother of the Mountain 27, 229 Mütterlichkeit 147 Mykene 96, 99 f., 178, 204, 226, 232, 252, 261, 264, 267, 277, 283, 293 Myrtos/Phournou Koryphi 61, 132, 178, 210 Myrtos/Pyrgos 76, 163

N Nacktheit 19, 144 f., 151, 153 Nahrung 63, 210, 216 Natur 23, 33, 48, 53, 93, 145, 164, 168, 190, 194, 201, 221, 223, 227, 231–233, 235 f., 247, 278, 292, 295 Naturalismus 143, 180 f., 200 Naturgewalten 161, 227, 279 Naturkatastrophe 52, 59, 83, 91, 211, 251, 277 Nekropole 22, 24, 63–65, 69, 81, 87, 174, 203, 212, 253, 255, 257, 259, 262 f., 270 f., 279 Neolithikum 38, 45, 49, 56, 65–67, 77, 175, 268 Netzwerk 75 f., 129, 138, 231, 276, 278 Nida 229 Nilpferd 282 Nisyros 176 Northeast House (Knossos) 128

O Oberhaupt 111, 197 Oberkörper 145, 150, 231 Obsidian 68, 147, 174–176, 268, 270–272 Odijitria 64 Ohrring 144

307

Panagiotopoulos, Kreta 30.7.21

S. 308

Register

Oktopus 192 Okzident 44 Öl 49, 61, 134, 218, 241, 274 Olive 42, 46, 49, 61, 211, 218, 222, 274 Öllampe 234 Opfer 21, 84, 126, 159, 179, 224, 227, 235, 240 f., 246, 260, 283 orgiastisch 225, 232 f., 236 f., 243 Orient 26 f., 44, 58, 68, 88, 91, 108, 114, 147, 149, 199 f., 222, 266, 289, 295 Ornament (s. Dekor) 72, 79, 145, 168, 180 f., 190, 192, 200, 261, 285 Orthostat 121, 123 osteoarchäologisch 150 Osteoarthritis 150 Osteomyelitis 150

P Pachyammos 255, 258 Paddler 144, 275 Palaikastro 15, 85, 89, 92, 109, 123, 132, 140, 147, 163, 181 f., 185, 210, 212 f., 224, 230 Paläopathologie 207 Palast (-domäne, -elite, -stil) 12 f., 23, 25–28, 32–34, 39, 57, 60, 62, 64, 69, 71, 73 f., 76 f., 79–85, 87–89, 91 f., 96–99, 101, 107–114, 116–118, 120–127, 129, 133 f., 136–138, 148 f., 157 f., 160–162, 166–168, 175 f., 179 f., 184, 189, 191, 193– 195, 197 f., 202, 204, 210, 212 f., 217, 222, 225, 229, 233, 235, 238, 241–243, 246, 251, 266, 275, 288 f., 293 Papyrus 285 Parfüm 146 Parfümöl (s. auch Duftöl) 122 Pasiphae 21 Paste, weiße 172 Peloponnes 269, 276

308

Perle 173 f., 280 Petras 34, 73, 86, 109, 123, 138, 154, 163 Petsophas 82, 230 Pfeiler 83, 114 f., 119, 159, 165, 227, 235 Pflasterung 64, 112, 116, 121, 123, 166, 211, 214, 257 Phaistos 15, 26, 46, 58, 60, 64, 71, 73, 75–77, 79 f., 83–85, 109, 116, 120 f., 125, 127, 139, 163, 168, 191, 194 f., 204, 212, 242, 282 Phalassarna 45 Pharao 91, 108, 136, 266, 278 f., 284 f., 287, 289 Phourni 63, 203, 257, 260, 271 Phylaki 154 Pigi 261 Piraten 20, 49, 102 Piskokephalo 82, 146 Pithos 252, 259 Platanos 64 Polythyron 123, 125, 161 f., 168, 233 Poros 87, 264, 270 Portiko 115, 119, 161 Poseidon 21, 224 Potnia 224 Prestigeobjekt (s. auch Prunkobjekt) 70, 86, 173, 277 Pretoria (s. auch Damantri) 34, 86, 109, 123 Preziosen 289 Priester (-aristokratie, -haus, -in, -könig) 108, 145, 150, 158, 198, 214, 224, 234, 236, 238, 242, 283 Prinz mit der Federkrone 108 Privatgrab, ägyptisch 22, 145, 279, 284 f. Produktion (-sweise) 49, 56, 58 f., 61, 66, 69, 72, 80, 90, 96, 100, 110, 125, 127, 134, 139, 183, 217 f., 273, 279, 289 Produzent 125 Propylon 114, 121, 168

Panagiotopoulos, Kreta 30.7.21

S. 309

Register

Prozession 88, 114–116, 121, 136, 145, 148, 198 f., 227, 236, 243, 260, 279, 284 Prunkobjekt (s. auch Prestigeobjekt) 126 Pseira 89, 134, 168 Psiloritis 20, 44, 47, 51, 77, 130, 135 f., 242 Psychro 147, 232 Publikum (s. auch Zuschauer) 116, 199, 244 f., 248

Ritual 64, 83, 109, 111, 115 f., 120, 148, 152, 154, 168, 178, 185, 187, 189, 193, 195, 198 f., 212, 221, 225, 228, 230, 233–235, 237–241, 243, 245, 251–253, 258–260, 262, 264, 273, 294 Rock 145, 192, 231 Rohstoff 50, 53, 68, 172, 271 f., 274, 279 Rosette 191 rosso antico 175

Q

S

Quadermauer 93, 95, 114 f., 119, 121, 160, 164, 212, 214 Quartier Mu (Malia) 80, 83 Quellheiligtum 211, 232

Sakralität 26, 52, 122, 158, 212, 222, 227–230, 232–235 Salbe 146 Sandstein 93, 164 Sanitärraum 125, 168 Sarkophag von Ajia Triada 260 f. Sarpedon 20 Saubohne 218 Säule 12, 25, 114 f., 119, 162, 165, 168, 227 Schachtgrab 178, 197, 255, 259, 264 Schatzkammer 122 Schautreppe 116, 121 Schicht, soziale 88, 109, 111, 143, 197, 219 Schiefer 175, 184 Schiff (-fahrt, -sbauer, -sverkehr) 47– 49, 90, 122, 139, 165, 204, 217, 231, 275, 279 Schlangengöttin 173, 224 f., 241 Schmied (s. auch Bronzeschmied) 217 Schminke 146, 285 Schmuck 12 f., 63, 69, 89, 99, 144, 183, 204, 217, 264, 271, 273, 275, 277, 289 Schnecke 61 Schrift 11, 14, 21, 26, 32, 42, 71, 74, 77, 89, 99 f., 110, 128, 137, 173, 187 f., 199, 201 f., 204, 210, 212,

R Radiokarbonmethode 34, 42 Rampe 114 Realismus 96, 116, 181, 200 Reich (Altes-, Mittleres-, Neues-) 37, 285 Reinigung, kultische 159, 235, 283 Relief (s. auch Stuckrelief) 154, 181, 191–193, 197, 201, 209, 235, 244, 246 Religion 11, 13, 33, 49, 52, 64 f., 82, 87, 100, 108–110, 118, 124, 126, 142, 148, 185, 192, 198 f., 201, 214, 221, 223 f., 226–228, 230, 232–235, 237, 239 f., 242–244, 251, 253, 277, 282, 296 Renaissance 28 Ressource 12, 26, 45, 48 f., 57 f., 60, 74, 89, 131–134, 136, 138, 216, 269, 295 Rhadamanthys 20 Rhodos 90 Rhyton 63 f., 66, 175, 179 f., 185, 241, 246, 277

309

Panagiotopoulos, Kreta 30.7.21

S. 310

Register

224, 239, 251, 254, 266, 282, 284 f., 289 Schurz 74, 144, 152, 231, 285 Seebestattung 258 Seeherrschaft (s. auch Thalassokratie) 276 Seevölker 102 Segregation 28, 145, 169 seismische Aktivität (s. auch Erdbeben) 45, 52 Sellopoulo 96 Serpentin 175 Sexualität 145, 153 Siedlung 29, 61, 65, 68, 85 f., 95, 122 f., 135, 139, 163, 174, 178, 211, 214 f., 217, 233, 276 Silber 68, 172, 271 f. Skarabäus 282 Skelett 253–255, 261 Skorbut 150 snake frame 242 Spendegefäß (s. Rhyton) 178 Sphoungaras 255, 258 Spinnwirtel 70 Spirale 191, 200 Sport 197, 245 Stadtvilla 158 Stalagmiten 232 f. Statuette 147, 153, 178, 185, 214, 225 Status 80, 91, 152, 248, 288 Steatit 175, 209 Stein (-gefäß, -gerät, -schneider) 50, 63, 68, 122, 159, 162, 164, 174, 178 f., 204, 233, 240, 242, 256, 273, 275 Steuer 125 Stier (-fang, -spiel, -sprung, -kopfrhyton) 21, 116, 130, 179, 241, 245, 295 Stil 65 f., 89, 95, 177, 181, 194, 200, 272, 275, 286, 295 Straße 84, 89, 117, 211, 213, 257 Stratigrafie 40

310

Stuck (-fresko, -relief) 108, 144, 166, 168, 180, 189, 193, 246 Stuhl 159, 240 Subsistenzwirtschaft 61, 126, 132, 212, 215 Südägäis 72, 90, 96, 276 f. Symi Viannou 232 Synchronismus 42

T Tanz 111, 236 f. Tätowierung 145, 285 Taweret 225, 282, 284 Technologie 57, 157 tektonisches Motiv 72 Temenos 222, 230, 232, 236 Tempel 125, 214, 221, 224, 230, 232, 258, 263 Terrasse 81, 119, 169, 232 Territorium 12, 26, 74 f., 78, 101, 109, 139, 287 Textilien 79, 89, 100, 122, 136, 274, 279, 285 Thalassokratie (s. auch Seeherrschaft) 276 Theben-West 23 Theokratie 198 f. Thera 29, 42, 90, 92, 147, 167, 214, 234, 240, 282 therapeutisch 46, 285 Theseus 21 Tholosgrab (s. auch Kuppelgrab) 63, 154, 253, 255–257, 259 f., 262 Thron 118 f., 238 Thukydides 20 Tier (-haut, -knochen, -stall -zahn) 64 f., 69, 78, 86, 136, 173, 180 f., 192, 194–196, 200, 204, 210 f., 218, 223, 225, 233, 239, 241, 245, 260, 281 f., 286 Timios Stavros 47 Tintenfisch 200, 218 Tod/Tote (s. auch Verstorbene) 255

Panagiotopoulos, Kreta 30.7.21

S. 311

Register

Tod/Tote (s. Verstorbene) 14, 29, 63 f., 81, 84, 87, 93, 99, 155, 183 f., 208, 211, 235, 241, 250–255, 257, 259 f., 262, 264, 270 Ton (-erde, -gefäß, -lagerstätte, -larnax, -scherbe, -plombe, -tafel, -stange, -statuette) 56, 63, 65, 68, 70, 72, 74, 76, 78, 83, 87 f., 99, 101, 118, 128, 138, 144, 146, 153, 159, 172 f., 179, 184 f., 189 f., 193 f., 197, 202– 205, 218, 224, 231, 240 f., 252, 258, 261, 263, 270, 273, 276, 279 Töpfer (-kunst, -scheibe) 65, 72, 79 f., 90, 177, 190, 208, 217 Torsion 180 Totenkult 64 Trachom 285 Tradition 13, 28, 31, 33 f., 42, 72, 81, 83, 85, 87, 92, 95, 97 f., 108–111, 124, 127, 147, 150–152, 158, 162, 165, 167, 169, 171, 179, 194 f., 199, 207, 210, 215, 217, 250, 252, 256 f., 262 f., 267, 273, 277, 286, 289 Trankopfer (s. auch Libation) 260, 283 Transhumanz 135 transkulturell 267, 286 Transzendenz 232 f., 235–237, 240, 246 Traostalos 82, 230 Traube 61, 211 Trauer 259 Treppe 12, 25, 107, 116, 118 f., 121, 159, 161 f., 214, 235, 257 Tritonmuschel 242 Trojanischer Krieg 20 Trypiti 15, 61 f., 132, 210 Tsunami 92 Tuch 144 Tür 116, 119, 125, 162 f., 165 f., 213, 233

U Überschuss 89, 126 f. Ugarit 289 Umbettung 254, 259 Umschlagplatz 68, 91 urban 49, 74, 116, 130, 189, 211, 214 f., 233, 247 Urbanisierung 59, 81, 210 f.

V Vasiliki 62, 65 f., 76 Vathypetro 15, 90, 163, 168 Vegetation 46, 49 Veranda 115, 161 Verein 154 Verismus 181 Verletzung 150 Versammlung 83, 213 Verstorbene (s. auch Tote) 64, 155, 185, 251, 254 f., 258, 260 f. Verwaltung (s. auch Administration) 26, 70, 72, 77 f., 85, 89, 99 f., 110, 125 f., 205 Viehzucht 20, 49, 133, 136, 211, 216 Villa (s. auch Stadt-, Land-) 24, 90, 123, 128, 134, 137, 153, 158, 169, 214, 222, 233, 235, 238 Vogel 61, 67, 204, 221, 233, 242 Volkskunst 51, 196 Vorderer Orient 11, 42, 110 Vorhalle 161 f., 168, 234 Vorrat (-sgefäß, -shaltung) 23, 63, 73, 87, 111, 118, 128, 168, 252, 258 Votiv (s. Weihung) 65, 232 Vrysinas 82 Vulkaneruption von Thera 29, 33, 42, 92, 277

W Wachposten

139

311

Panagiotopoulos, Kreta 30.7.21

S. 312

Register

Waffe 74, 96 f., 99 f., 111, 172, 204, 264 Waschraum 168 Wasser (-einrichtung, -spiegel, -spülung) 45, 48, 50, 120, 122, 125, 136, 168, 179, 204, 211, 219 Weben 211, 217 Webgewicht 70, 217 Weidefläche 49, 51, 130, 132, 134– 136, 230 Weihung 230, 232, 237, 241 Wein 90, 134, 179, 218 Wein (-produktion) 46, 49, 61, 179, 218, 241, 274 Weizen 61, 218 Werkstatt 72, 78, 89 f., 118, 122, 135, 175, 191, 193, 208, 210, 213, 217 Werkzeug (s. auch Gerät) 68, 72, 217, 268 Wildnis 229, 233 f. Winter 47, 94, 130, 135 f., 211, 235 Wirtschaft (-sweise) 13, 33, 49–53, 58, 61, 67, 71, 79 f., 85, 89, 94, 100, 102, 108 f., 124, 126 f., 131–136, 138, 142, 207, 211, 216, 229, 271, 288 Wohlstand 78, 88 f. Wolle 61, 89, 136, 173, 274

X Xeste 151, 214, 234, 240 Xoanon 224

312

Z Zahnkaries 150 Zahnschmelzhypoplasie 150 Zahnstein 150 Zahnsteinproblemen 151 Zakros (s. auch Kato Zakros) 86, 168, 175, 216, 226 Zentralgebäude 71, 123 Zentralisierung 62, 70, 78, 92, 108, 122, 126, 133, 137, 139, 205 Zeremonialhammer 239 Zeremonie 14, 53, 64, 88, 108–111, 114–116, 122, 124, 126 f., 144, 148, 152 f., 178, 184, 193, 195, 198 f., 201, 208 f., 213, 221, 233, 235, 243 f., 248, 251, 260, 283, 294 Zeus 20, 224, 229, 237 Ziege 61, 79, 218, 221, 231, 241 Zimmerleute 217 Zinn 172, 289 Zominthos 15, 51, 90, 130, 134 f. Zuschauer (-menge, -tribüne) 244 Zuschauerinnen 148 Zuschauermenge 145 Zuschauermengen 148 f. Zuschauern 246 Zuschauertribüne 117, 121 Zwangsabgabe (s. auch Abgabe) 125 Zwiebel 218 Zypern 50, 72, 290 Zypresse 46, 166