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German Pages 351 [359] Year 2012
Bernd Waß Das Leib-Seele-Problem und die Metaphysik des Materiellen Ontologische und erkenntnistheoretische Untersuchungen
PHENOMENOLOGY & MIND Herausgegeben von / Edited by Arkadiusz Chrudzimski • Wolfgang Huemer Band 15 / Volume 15
Bernd Waß
Das Leib-Seele-Problem und die Metaphysik des Materiellen Ontologische und erkenntnistheoretische Untersuchungen
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2013 ontos verlag P.O. Box 15 41, D-63133 Heusenstamm nr. Frankfurt www.ontosverlag.com ISBN 978-3-938793-175-7 2013 No part of this book may be reproduced, stored in retrieval systems or transmitted in any form or by any means, electronic, mechanical, photocopying, microfilming, recording or otherwise without written permission from the Publisher, with the exception of any material supplied specifically for the purpose of being entered and executed on a computer system, for exclusive use of the purchaser of the work Printed on acid-free paper ISO-Norm 970-6 This hardcover binding meets the International Library standard Printed in Germany by CPI buchbücher.de GmbH
GEWIDMET MEINEN ELTERN IN DANKBARKEIT
DANKSAGUNG Für die gedeihliche Verwirklichung des vorliegenden Buches zeichnet nicht nur der Autor allein verantwortlich. Es haben viele Menschen auf bestimmte Weise dazu beigetragen. Ihnen allen möchte ich für ihre Unterstützung sehr herzlich danken. Darüber hinaus möchte ich einigen Personen meinen ganz besonderen Dank ausdrücken: Meinem Doktorvater Herrn Univ.-Prof. Mag. Dr. phil. Reinhard Kleinknecht für die Unterstützung in allen philosophischen Belangen und die vielen lehrreichen, schönen und geistig äußerst befruchtenden Jahre meines Philosophiestudiums. Herrn Univ.-Prof. Dr. phil. Otto Neumaier und Herrn Univ.- Prof. Dr. Volker Gadenne für die kritische Auseinandersetzung mit der vorliegenden Abhandlung und die wertvollen Anregungen. Meinem Freund Herrn Mag. Heinz Palasser, MBA, MSc. für stundenlange, tiefgründige und äußerst spannende philosophische Diskurse, die wesentlich zum Gedeihen des Buches beigetragen haben. Meiner Lebensgefährtin Frau Mag. phil. Carina Heis für ihr stets ungebrochenes Verständnis, ob meiner geistigen Abwesenheit, in der langen Phase meiner philosophischen Arbeit zum Leib-Seele-Problem. Herrn Dr. Rafael Hüntelmann vom Ontos Verlag für die wertschätzende Aufnahme dieser Abhandlung in das Verlagsprogramm und die äußerst angenehme Zusammenarbeit, sowie Herrn Arkadiusz Chrudzimski und Herrn Wolfgang Huemer für die Aufnahme der Abhandlung in die Reihe „Phenomenology & Mind“.
Inhaltsverzeichnis 1.Einleitung ................................................................................................. 7 1.1 Erste Charakterisierung des Problems ...............................................10 1.2 Der systematische Rahmen ............................................................... 13 2.Hintergrundvoraussetzungen ................................................................. 31 2.1 Methodologische Hintergrundvoraussetzungen ............................... 31 2.1.1 Das epistemische Ziel der Abhandlung ....................................... 31 2.1.2 Der semantische Rahmen der Untersuchungen ........................... 34 2.1.2.1 Logische Symbole ............................................................... 34 2.1.2.2 Definitionen und Konventionen .......................................... 35 2.1.3 Das psychophysische Problem und die Theorie der Grundverfassung der Wirklichkeit .............................................. 38 2.2 Problemspezifische Hintergrundvoraussetzungen ............................ 39 2.2.1 Der Entstehungszusammenhang des psychophysischen Problems ...................................................................................... 40 2.2.1.1 Der intuitive Dualismus des Commonsense als Anfangsgrund ....................................................................... 40 2.2.1.2 Theoretische Implikationen des Commonsense-Dualismus ................................................... 43 2.2.1.3 Theoriebildung, singuläre Wirklichkeit und Entitätendualismus .............................................................. 45 2.2.2 Das psychophysische Problem und eine genaue Analyse der Problemstellung ........................................................................... 48 2.2.2.1 Psychisches und Physisches - Zusammenhang und Gegenstandsbereich ............................................................. 49 2.2.2.2 Psychisches und Physisches - Relationen von Entitäten ..... 52 2.2.2.3 Das psychophysische Problem als Relationsproblem .......... 53 2.2.2.4 Das psychophysische Problem als Existenzproblem ........... 64 2.2.2.5 Das psychophysische Problem als Wirklichkeitsproblem ... 69 2.2.3 Eine allgemeine Charakterisierung von Psychischem und Physischem ................................................................................. 70 3.Commonsense, Naiver Realismus und psychophysisches Problem ...... 73 3.1 Commonsense und Wirklichkeitsmodell .......................................... 75 3.1.1 Ontologischer Status der Alltagsrealität ...................................... 78 3.1.2 Epistemischer Zugang: Wahrnehmung und kausale Kohärenz ... 80
3.2 Realismus und Naiver Realismus: Übergang vom Commonsense zur Theoriefähigkeit ......................................................................... 83 3.3 Der naive Realismus als Theorie der Alltagsrealität ........................ 86 3.4 Hintergrundvoraussetzungen des naiven Realismus ...................... 87 3.4.1 Bewusstseinswirklichkeit und Außenwirklichkeit .................... 87 3.4.2 Kohärenz, kausale Determination und kausale Geschlossenheit ......................................................................... 89 3.4.3 Der Raum .................................................................................. 90 3.4.4 Die Zeit ..................................................................................... 91 3.4.5 Raum und Zeit ........................................................................... 91 3.4.6 Wahrnehmung ........................................................................... 91 3.4.7 Bewusstsein ............................................................................... 92 3.5 Das psychophysische Problem im naiven Realismus ....................... 93 3.6 Vorhandene, aber nicht in Erscheinung tretende Bestimmung des Wirklichen ........................................................................................ 94 3.7 Ontologische Verhältnisse als präpsychophysisches Problem .......... 96 4.Dualismus, Materialismus, Idealismus ................................................ 101 4.1 Der Dualismus ................................................................................ 107 4.1.1 Verschiedene Arten von Entitäten - charakteristische Merkmale des Mentalen ............................................................ 109 4.1.1.1 Der phänomenale Charakter mentaler Zustände ................ 112 4.1.1.2 Intentionalität ..................................................................... 114 4.1.1.3 Phänomenaler Charakter und Intentionalität als gute Gründe für den Dualismus ......................................... 115 4.1.2 Dualismus und Alltagsrealität ................................................... 116 4.1.3 Substanzdualismus .................................................................... 116 4.1.4 Eigenschaftsdualismus .............................................................. 126 4.1.5 Allgemeine Probleme des Dualismus ........................................ 129 4.1.5.1 Das Problem psychophysischer Kausalität ........................ 129 4.1.5.1.1 Das Problem fehlender psychologischer Gesetze .... 130 4.1.5.1.2 Das Problem der kausalen Geschlossenheit der physischen Wirklichkeit ........................................... 131 4.1.5.1.3 Das Problem der explanatorischen Lücke ................ 132 4.1.5.2 Das Problem der Erkennbarkeit der physischen Wirklichkeit ....................................................................... 134 4.1.6 Bestimmung der ontologischen Verhältnisse ............................ 135 4.2 Der Materialismus .......................................................................... 136
4.2.1 Semantischer Physikalismus ..................................................... 140 4.2.2 Identitätstheorie ......................................................................... 144 4.2.3 Funktionalismus ........................................................................ 153 4.2.4 Nichtreduktiver Physikalismus ................................................. 155 4.2.5 Allgemeine Probleme des Materialismus .................................. 157 4.2.5.1. Leibniz-Argument ............................................................. 157 4.2.5.2 Leibniz-Gesetz ................................................................... 158 4.2.5.3 Argument von der Offenheit der geistigen Welt ................ 159 4.2.5.4 Fledermaus-Argument ....................................................... 161 4.2.6 Bestimmung der ontologischen Verhältnisse ............................ 167 4.3 Der Idealismus ................................................................................ 169 4.3.1 Epistemologischer Idealismus ................................................... 172 4.3.2 Idealistischer Phänomenalismus ............................................... 176 4.3.3 Vom epistemologischen zum ontologischen Idealismus ........... 178 4.3.4 Ontologischer Idealismus .......................................................... 180 4.3.4.1 Subjektiver, objektiver und immanenter Idealismus ......... 180 4.3.4.2 Transzendenter ontologischer Idealismus .......................... 181 4.3.4.2.1 Das Problem von der Herkunft unserer Sinnesempfindungen ................................................ 187 4.3.4.2.2 Das Problem vom leeren Futternapf ........................ 188 4.3.4.2.3 Das Problem von der Existenz Gottes ..................... 191 4.3.4.2.4 Das Problem vom täuschenden Gott ........................ 192 4.3.5 Das Scheitern des Idealismus .................................................... 193 4.3.6 Essentielle Erkenntnisse für eine »neue« Theorie des Geistes ................................................................................. 195 4.3.7 Bestimmung der ontologischen Verhältnisse ............................ 198 5.Philosophie und Neurowissenschaft - ein Exkurs ............................... 199 5.1 Reduktionismus in Philosophie und Neurowissenschaft ................ 202 5.1.1 Der Reduktionismus in der Philosophie .................................... 202 5.1.2 Der Reduktionismus in der Neurowissenschaft ........................ 203 5.1.2.1 Reduktion im Sinne von Korrelation ................................. 203 5.1.2.2 Reduktion im Sinne der Verbindung unterschiedlicher Beschreibungssysteme ....................................................... 208 5.2 Das Problem des fehlenden semantischen Rahmens ...................... 209 6.Metaphysischer Dualismus - Grundriss einer Theorie ........................ 211 6.1 Die Prinzipien des metaphysischen Dualismus .............................. 214
6.2 Die Widerlegung des naiven Realismus und die fundamentalen Konsequenzen für das psychophysische Problem .......................... 217 6.2.1 Probleme mit der Zeitlichkeit des Wirklichen ........................... 218 6.2.1.1 Das Problem von der Alleinwirklichkeit der Zeit .............. 219 6.2.1.2 Das Problem der diachronen Identität des Ich ................... 221 6.2.2 Probleme mit der räumlich aufgefassten Außenwelt ................. 222 6.2.2.1 Verletzung der Eindeutigkeitsbedingung ........................... 223 6.2.2.2 Verletzung der Einzigkeitsbedingung ................................ 226 6.2.3 Wahrnehmungsprobleme ........................................................... 227 6.2.3.1 Die Nicht-Identität von Wahrnehmung und Gegenstand ... 227 6.2.3.2 Immanenzphilosophische Probleme .................................. 229 6.2.3.2.1 Das Problem der nicht wahrgenommenen Außenwirklichkeit .................................................... 232 6.2.3.2.2 Das Problem nicht-singulärer Wahrnehmung der Außenwirklichkeit .................................................... 236 6.2.3.3 Die Divergenz von Wahrnehmung und Sinneseindruck .... 239 6.2.4 Zusammenbruch der Immanenzontologie des naiven Realismus .................................................................................. 241 6.2.5 Epistemologische Subjektivität der Außenwirklichkeit ............ 242 6.2.6 Ein erkenntnistheoretischer Befund ontologischer Verhältnisse ............................................................................... 245 6.2.7 Fundamentale Konsequenzen für die Behandlung des psychophysischen Problems ...................................................... 246 6.3 Die Ontologie des metaphysischen Dualismus .............................. 248 6.3.1 Die Ontologie der Gesamtwirklichkeit und die Metaphysik des Materiellen ...................................................... 248 6.3.2 Die Ontologie von Zeit und Raum ............................................ 255 6.3.2.1 Die Ontologie der Zeit ....................................................... 256 6.3.2.2 Die Ontologie des Raums .................................................. 260 6.3.3 Die Ontologie der Sinnesqualitäten ........................................... 267 6.4 Das Grundübel des psychophysischen Problems: Der Fehler der Introjektion ............................................................................... 269 7. Erneute Versuche zur Lösung des psychophysischen Problems ......... 277 7.1 Erster Versuch: Moritz Schlicks psychophysischer Parallelismus ................................................................................... 277 7.1.1 Zeichen und Bezeichnetes ......................................................... 278 7.1.2 Die semantische Lösung des psychophysischen Problems ....... 284
7.1.3 Probleme der semantischen Lösung .......................................... 287 7.2 Zweiter Versuch: Metaphysischer Dualismus qua ontologischer Dualismus ............................................................... 292 7.2.1 Der metaphysische Dualismus qua ontologischer Qualitätendualismus ........................................... 293 7.2.2 Metaphysischer Dualismus versus Substanzdualismus ............. 297 7.2.3 Metaphysischer Dualismus versus Eigenschaftsdualismus ....... 299 7.2.4 Der metaphysische Dualismus und das Problem psychophysischer Kausalität ..................................................... 301 7.2.4.1 Das Problem fehlender psychologischer Gesetze .............. 302 7.2.4.2 Das Problem der kausalen Geschlossenheit der physischen Wirklichkeit ............................................... 303 7.2.4.3 Das Problem der explanatorischen Lücke ......................... 306 7.3 Dritter Versuch: Metaphysischer Dualismus qua semantischer Dualismus ................................................................ 308 7.4 Die Probleme des metaphysischen Dualismus und eine Kritik des Kausalbegriffs ................................................................ 310 8.Schlussbetrachtung .............................................................................. 317 Literaturverzeichnis ................................................................................ 343 Abbildungsverzeichnis ........................................................................... 351
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1. Einleitung Menschen sind [...] auf der einen Seite biologische Lebewesen: Sie atmen und nehmen Nahrung zu sich, sie paaren sich und pflanzen sich fort, sie wachsen, altern und sterben. Auf der anderen Seite haben sie aber auch ein mentales Leben: Sie nehmen wahr und erinnern sich, sie denken nach und fällen Entscheidungen, sie freuen und ärgern sich, sie fühlen Schmerz und Erleichterung. Soweit sind die Dinge sicher klar.1
Unternimmt man aber den Versuch zu verstehen, wie das der Fall sein kann, dann gerät man in ein schwieriges philosophisches Problem: Das Leib-Seele-Problem oder in moderner Terminologie ausgedrückt, das psychophysische Problem. 2 Dieses Problem ist Gegenstand der vorliegenden Abhandlung. Im Besonderen geht es im psychophysischen Problem darum, verständlich zu machen, wie sich der menschliche Geist 1
Beckermann, Ansgar: Analytische Einführung in die Philosophie des Geistes, de Gruyter, Berlin, 2008, S. 1. 2
Neben dem traditionellen Ausdruck ‘Leib-Seele-Problem’, werden heute zunehmend die Ausdrücke ‘psychophysisches Problem’, ‘Köper-Geist-Problem’, ‘Gehirn-GeistProblem’ oder ähnliche Ausdrücke verwendet. Obwohl ich aus semantischen und pragmatischen Gründen alle gebräuchlichen Ausdrücke verwenden werde, soll die traditionelle Notation des Problems dennoch nicht über Gebühr strapaziert werden. Dafür gibt es drei Gründe: Erstens ist „der Ausdruck ‘Leib’ sowohl in der Alltags- als auch in der philosophischen Fachsprache mit vielen Konnotationen verbunden, die in diesem Zusammenhang Anlass zu Missverständnissen sein könnten“ (Beckermann, Ansgar: Analytische Einführung in die Philosophie des Geistes, Gruyter, Berlin, 2008, S. 4). „Zweitens ist auch der Ausdruck ‘Seele’ in diesem Zusammenhang nicht unproblematisch. Im Deutschen unterscheidet man häufig in dem Sinne zwischen Geist und Seele, dass man dem Geist den Bereich des rationalen Überlegens und Handelns zuordnet, der Seele dagegen den Bereich der Gefühle und der Intuition. Für unsere Zwecke benötigen wir jedoch ein Wort, das [...] beide Bereiche umfasst; denn beide Bereiche gehören zum großen Bereich des Mentalen.“ (Ebenda) Drittens vermeide ich auf diese Weise die Interpretation des Problems als spirituelles oder theologisches Problem, oder als Problem des essentiellen Prinzips personalen Lebens. Den Ausdruck ‘psychophysisches Problem’ werde ich bevorzugt verwenden. Die Ausdrücke ‘Körper-Geist-Problem’, ‘Gehirn-Geist-Problem’, ‘GehirnBewusstsein-Problem’ und ‘Leib-Seele-Problem’ gebrauche ich mit diesem synonym. Sollte dies aus bestimmten Gründen nicht möglich sein, werde ich darauf hinweisen.
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zu seinem Körper verhält. Im Allgemeinen geht es um psychische und materielle Entitäten3 überhaupt, d.h. darum ihre Existenz, sowie ihr Verhältnis zueinander, auf einer ganz grundlegenden Ebene philosophisch zu erfassen. Man kann also vorerst ohne Weiteres sagen, dass das psychophysische Problem jedenfalls darin besteht, auf theoretisch befriedigende Art und Weise begreiflich zu machen, warum in ein und derselben Wirklichkeit zwei voneinander verschiedene Entitätenbereiche 4 existieren (falls dies zutrifft), nämlich der Bereich des Psychischen und der des Physischen, und wie diese Bereiche aufeinander bezogen sind. „Die Frage, in welcher Relation Körper und Geist bzw. physische und mentale Phänomene [...] zueinander stehen, gehört seit Platon zu den Grundfragen der Philosophie.“5 Nicht zuletzt deshalb, weil das psychophysische Problem einen fundamentalen Bereich des Verständnisses von uns selbst betrifft, samt der Wirklichkeit in der wir leben. Aus der Sicht der alltäglichen Lebensbetrachtung zeigt es sich von anthropologischer Bedeutung, und zwar im Hinblick auf Orientierung, Gestaltung, Handhabung und Sinn des menschlichen Lebens. Für viele Menschen ist es nicht gleichgültig, ob sie nur daran glauben dürfen, dass sie evolutionär determinierte, auf physikalische Gesetzmäßigkeiten reduzible und radikal sterbliche Organismen sind, oder daran, dass sie Wesen sind, die über eine Seele verfügen, über ein göttliches Moment sozusagen, verbunden mit der Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod. Es ist ihnen auch nicht gleichgültig, ob sie sich als Wesen begreifen können, deren mentale Zustände, wie Wünsche, Überzeugungen, Gedanken, Empfindungen und Wahrnehmungen, einen Einfluss auf den Zustand der Welt6 haben, oder ob sie davon ausgehen müssen, dass ihr mentales Leben
3
Mit dem Ausdruck ‘Entität’ sei eine nicht näher bestimmte Daseinsform bezeichnet (Vgl. 2.1.2.2-9). 4
Die Festlegung des Ausdrucks ‘Entitätenbereich’ findet sich in 2.1.2.2.
5
Meixner, Uwe: Seele, Denken, Bewusstsein, Gruyter, Berlin, 2003, Vorwort.
6
Die Ausdrücke ‘Welt’, ‘Wirklichkeit’, ‘Universum’, ‘Realität’ seien synonym gebraucht (Vgl. 2.1.2.2-16).
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nichts weiter ist als ein kausal7 unbedeutendes Epiphänomen der Neuronenaktivität in unserem Gehirn. Für die analytische Philosophie ist das Problem aus noch anderen Gründen von Bedeutung. Einer dieser Gründe ist seine Betrachtung als ein Problem der Grundverfassung der Wirklichkeit.8 Fragt man nach der Grundverfassung der Wirklichkeit, so hat man dabei die Idee im Blick, auf einer hohen Stufe der begrifflichen Allgemeinheit ein theoretisches, d.h. systematisch und logisch organisiertes Gesamtbild davon zu entwerfen, wie die Welt im Prinzip beschaffen ist. Will man aber eine Theorie von der Grundverfassung der Wirklichkeit anfertigen, so ist man unweigerlich mit dem psychophysischen Problem konfrontiert. Nichtsdestoweniger ist die Anfertigung einer solchen Theorie das Ziel vieler philosophischer Bemühungen. Zum einen, weil auch der Philosophie der Wunsch nach einer umfassenden Theorie des Universums von Natur aus inhärent ist, und zum anderen, weil dem Ideal der Wissenschaften von einem definitiv letzten Abschluss des Wissens über die Welt nur auf diese Weise gerecht zu werden ist. Wer also einen Erkenntnisabschluss zu gewinnen hofft, der muss jedenfalls das psychophysische Problem lösen. Ein weiterer Grund für die Bedeutung des Problems, als eines der analytischen Philosophie, ist die Tatsache, dass die Neurowissenschaften gegenwärtig mit einer Vielzahl von Nachrichten über Erträge und Folgen ihrer Forschungen an die Öffentlichkeit treten. In etlichen Stellungnahmen wird [...] der Eindruck erweckt, die naturwissenschaftliche Aufklärung sei im Prinzip abgeschlossen, und es käme nur noch darauf an, in Detailanalysen einzelne Funktionsweisen des menschlichen Gehirns aufzuhellen.9
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Zum Kausalbegriff sei gesagt, dass es einer Klärung bedarf, was genau unter einem kausalen Zusammenhang zwischen dem Bereich des Psychischen und jenem des Physischen zu verstehen ist. Außerdem ist der Kausalbegriff ein sehr problematischer Begriff. Ich werde in Kapitel 2 und Kapitel 7 auf beide Aspekte eingehen. 8
Vgl. Von Kutschera, Franz: Die Wege des Idealismus, Mentis Verlag, Paderborn, 2006, S. 9. 9
Sturma, Dieter: Philosophie und Neurowissenschaften, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 2006, S. 7.
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Hier gilt es kritisch Stellung zu beziehen, inwieweit die Aussagen, Erklärungsmodelle und Theorien logisch, ontologisch, erkenntnistheoretisch und wissenschaftstheoretisch haltbar sind. Doch trotz oder vielleicht gerade wegen seiner großen Bedeutung kann nur ein negativer Befund ausgestellt werden. Das Leib-Seele-Problem konnte bis heute nicht gelöst werden. Angesichts der Fülle an Theorien, die die Philosophie hervorgebracht hat, und angesichts der neuen und radikalen empirischen Befunde der Hirnforschung dürfte die Lösung nicht in greifbarer Nähe liegen. Insofern lässt sich die vorliegende Arbeit in erster Linie als ein Versuch verstehen, das psychophysische Problem von einem bestimmten, noch näher zu bestimmenden, ontologischen und erkenntnistheoretischen Standpunkt aus zu erhellen. Erst in zweiter Linie wird es darum gehen, das Problem zu lösen. Dies mag gleichsam daran liegen, dass die Überzeugung, dass eine Lösung tatsächlich gelingt, mehr der Hoffnung entspringt, denn der Gewissheit. Man darf ja in Anlehnung an Emil Du Bois-Reymond und Collin McGinn nicht außer Acht lassen, dass es sein könnte, dass es sich im Fall des psychophysischen Problems um ein gänzlich unlösbares Rätsel handelt.10 1.1 Erste Charakterisierung des Problems Das psychophysische Problem ist entgegen seiner Bezeichnung kein Einzelproblem, sondern ein ganzes Bündel von Problemen.11 Das heißt, es gibt nicht genau ein12 psychophysisches Problem, sondern mehrere. Diese bilden zusammen den Knotenpunkt, an dem sich nahezu alle 10
Vgl. Du Bois-Reymond: Über die Grenzen des Naturerkennens, Veit & Comp, Leipzig, 1916. Vgl. McGinn, Colin: Can we solve the mind-body problem?, Mind, Oxford University Press, 1998. 11
Man müsste daher genauer von psychophysischen Problemen sprechen und nicht von dem psychophysischen Problem. Der überwiegenden Literatur zum Thema folgend, werde ich aber dennoch bei der singulären Bezeichnung dieses Problembündels bleiben, wenngleich ich das Bündel selbst durchaus einer differenzierten Betrachtung unterziehe. 12
Ausdrücke, die vom Leser eine besondere Aufmerksamkeit erfordern oder die sich aus Gründen der besseren Lesbarkeit vom Fließtext abheben sollten, kennzeichne ich durch schräggestellte Schriftzeichen.
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philosophischen Disziplinen berühren. Allgemeine und spezielle Metaphysik, Logik, Erkenntnistheorie und Wissenschaftstheorie berühren einander ebenso wie Sprachphilosophie, philosophische Anthropologie und die Philosophie des Geistes. Darüber hinaus ist es, wie bereits angedeutet, auch ein Problem vieler anderer Wissenschaften, vor allem der Neurowissenschaften. Wenn man nun aus philosophischer Sicht vom psychophysischen Problem spricht, dann bezieht man sich in der Regel auf die scheinbar triviale Tatsache, dass es in unserer Welt physische, also materielle Entitäten und davon verschiedene mentale, also immaterielle Entitäten gibt. 13 Wir unterscheiden ja für gewöhnlich zwischen ‘physischen’14 „oder ‘körperlichen’ Phänomenen auf der einen Seite, und ‘mentalen’, ‘geistigen’, ‘psychischen’ oder ‘seelischen’ Phänomenen auf der anderen Seite“15 . Darüber hinaus legt uns diese Betrachtung der Welt nahe, dass zumindest einige physische und einige psychische Entitäten in einem interaktionistischen Verhältnis stehen, d.h., dass sie sich wechselseitig beeinflussen. Das klingt sehr plausibel, denn erstens gibt es ja ganz offensichtlich Dinge, die körperlicher Natur sind, wie etwa Bäume, Stühle oder Gehirne, und es gibt Dinge, die psychischer Natur sind, wie etwa Gefühle, Gedanken oder Wahrnehmungen. Und zweitens wissen wir, dass z.B. „ein Lichtblitz eine Lichtempfindung bewirkt, und ein Stein, der mir auf den Fuß fällt, eine Schmerzempfindung. Wir wissen, dass Angst eine Beschleunigung des Herzschlags auslösen kann, Stress einen Herzinfarkt“16 . Es ist also im Grunde unsere Alltagsrealität, sprich das
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Das bedeutet nicht, dass alle immateriellen Entitäten notwendigerweise mentale Entitäten sind. Alle mentalen Entitäten sind jedoch notwendigerweise immaterielle Entitäten. 14
Um objektsprachliche Ausdrücke von metasprachlichen Ausdrücken zu unterscheiden, bilde ich Anführungsnamen. Ein Anführungsname wird gebildet, indem der betreffende objektsprachliche Ausdruck unter einfache Anführungszeichen oben gesetzt wird. 15
Bieri, Peter: Analytische Philosophie des Geistes, Beltz Verlag, Basel, 2007, S. 2. Anmerkung: Ich gebrauche die Ausdrücke ‘mental’, ‘geistig’, ‘seelisch’ und ‘psychisch’ synonym (Vgl. 2.1.2.2-13). 16
Von Kutschera, Franz: Die Wege des Idealismus, Mentis, Paderborn, 2006, S. 19
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Wirklichkeitsmodell17 des Commonsense18, in dem das psychophysische Problem seine Wurzeln hat und das uns in große philosophische Schwierigkeiten führt. Schwierigkeiten, die sich unter anderem in Fragen folgender Art zeigen: Wie ist es möglich, dass in ein und derselben Wirklichkeit zwei verschiedene Arten von Entitäten, nämlich psychische und physische, existieren? Handelt es sich um prinzipiell verschiedene Arten von Entitäten oder handelt es sich um Arten, die aufeinander reduzierbar sind? Durch welche Attribute lassen sich psychische und physische Entitäten charakterisieren? Wie ist es möglich, dass etwas Mentales etwas Physisches verursacht, und wie lässt sich Verursachung dieser Art hinreichend erklären? Sind psychische und physische Entitäten letztlich identisch und wenn ja, um welche Art von Identität handelt es sich? Wie, d.h. auf welche Weise, können wir etwas von den Entitäten wissen? Wie wissen wir beispielsweise von der Existenz materiellen Entitäten jenseits eigener Bewusstseinszusammenhänge und wie wissen wir von der Existenz anderen Bewusstseins? Unter welchen Bedingungen, d.h. unter Voraussetzung welcher Entitäten und Relationen zwischen diesen Entitäten, lässt sich die Wirklichkeit, wie sie sich uns im Wahrnehmen und Erleben darstellt, philosophisch kohärent denken?19 Die Erklärung des Zusammenspiels ontologisch disjunkter Arten von Entitäten, wie es der Commonsense ohne Probleme denkt, ist philosophisch betrachtet äußerst problematisch. Wir verfügen zurzeit weder über eine psychophysische noch über eine physikalische und ebenso wenig über eine 17
Mit dem Ausdruck ‘Wirklichkeitsmodell’ sei nicht die subjektive Deutung individueller Lebenserfahrungen verstanden. Vielmehr dient dieser Ausdruck als ein Überbegriff, der die Art und Weise bezeichnet, wie Subjekte eine kohärente Auffassung des Wirklichen konstituieren. In der Wissenschaftstheorie gilt ein Modell als eine Idealisierung und Abstraktion, die einen Gegenstandsbereich für wissenschaftliche Beschreibung zugänglich macht. Weniger streng aber doch in einem ähnlichen Sinn, ist ein Wirklichkeitsmodell eine Art Idealisierung und Abstraktion des Wirklichen, die uns dazu dient uns in der Welt zurechtzufinden. 18
Mit dem Ausdruck ‘Commonsense’ wird ganz allgemein der gesunde Menschenverstand bezeichnet. 19
Die angeführten Fragen sind keine hinreichende Charakterisierung des Problems, sondern lediglich beispielgebend. Eine hinreichende Charakterisierung werde ich in Kapitel 2 vornehmen.
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idealistische Theorie des Geistes, die es uns erlauben würde, die Alltagsrealität philosophisch, d.h theoretisch, befriedigend zu erfassen. 20 Das psychophysische Problem ist, so viel ist sicher, immer noch ein wissenschaftliches Rätsel mit vielen offenen Fragen, und zwar für die Philosophie und die Naturwissenschaften gleichermaßen. 1.2 Der systematische Rahmen Die vorliegende Abhandlung stellt eine Untersuchung des Leib-SeeleProblems bzw. des psychophysischen Problems aus der Sicht der Ontologie und der Erkenntnistheorie dar. Die zu klärende Frage lautet: Lässt sich mit Hilfe des metaphysischen Dualismus das psychophysische Problem lösen? Um diese Frage zu beantworten, werde ich mich innerhalb des folgenden systematischen Rahmens bewegen: Ich betrachte das Problem in Anlehnung an Franz von Kutschera als ein Problem der Grundverfassung der Wirklichkeit. Das hat zwei Gründe: Erstens wird auf diese Weise besser verständlich, dass wir es beim psychophysischen Problem nicht nur mit einem Verhältnisproblem zwischen dem menschlichen Körper und seinem Geist zu tun haben, sondern, wesentlich allgemeiner, mit wirklichkeitstheoretischen Problemen, die darüber hinausgehen. Eine Sichtweise, die auch der eingangs formulierten allgemeinen Problemstellung, der theoretisch befriedigenden Erfassung der Existenz materieller und geistiger Entitäten sowie deren Verhältnis zueinander entspricht. Zweitens wird einsichtig, dass der Entwurf einer Theorie über die Grundverfassung der Wirklichkeit, die aus ontologischer Sicht zeigt, welche Entitäten existieren, und aus erkenntnistheoretischer Sicht beschreibt, wie die Wirklichkeit im Prinzip und gegeben diesen Entitäten beschaffen ist, eng mit dem psychophysischen Problem verbunden ist. Ich gehe zunächst nicht davon aus, dass die Lösung des psychophysischen Problems eo ipso eine
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Vgl. Nagel Thomas: Wie es ist eine Fledermaus zu sein? in: Bieri, Peter; Analytische Philosophie des Geistes, Beltz Verlag, Basel, 2007, S. 261, und vgl. Von Kutschera, Franz: Philosophie des Geistes, Mentis, Paderborn, 2009, S. 131.
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philosophische Theorie21 über die Grundverfassung der Wirklichkeit ergibt, sondern dass das psychophysische Problem ein Teilproblem einer Theorie über die Grundverfassung der Wirklichkeit darstellt.22 Dennoch muss in jeder Theorie über die Grundverfassung der Wirklichkeit das psychophysische Problem gelöst sein. Geht man von den Voraussetzungen unseres alltäglichen Weltverständnisses aus, so kann man eine Lösung jedenfalls auf drei verschiedene Weisen versuchen: 1)Man zeigt, dass die Behauptung falsch ist, dass es zwei disjunkte Arten von ontologischen Entitäten gibt (materielle und mentale), indem man zeigt, dass die Beschaffenheit der Welt nur unter der Voraussetzung materieller Entitäten theoretisch befriedigend zu erfassen ist. 2)Man zeigt, dass die Behauptung falsch ist, dass es zwei disjunkte Arten von ontologischen Entitäten gibt (materielle und mentale), indem man zeigt, dass die Beschaffenheit der Welt nur unter der Voraussetzung mentaler Entitäten theoretisch befriedigend zu erfassen ist. 3)Man zeigt, dass die Behauptung falsch ist, dass man nur mit einer Art von ontologischen Entitäten auskommt, um die Beschaffenheit der Welt theoretisch befriedigend zu erfassen, indem man zeigt, dass dafür beide Arten von Entitäten, d.h. materielle und davon verschiedene mentale Entitäten, notwendig sind. Man zeigt außerdem, in welchem Verhältnis diese Entitäten stehen und wie ein solches Verhältnis zu denken ist. Das sind zumindest diejenigen Lösungsansätze, die den klassischen Grundpositionen zum psychophysischen Problem entsprechen Materialismus, Idealismus und Dualismus.
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Ich werde in Folge anstatt von philosophischen Theorien über die Grundverfassung der Wirklichkeit, nur mehr von Theorien über die Grundverfassung der Wirklichkeit sprechen. Wenn ich mich auf andere, als auf philosophische Theorien über die Grundverfassung der Wirklichkeit beziehe, weise ich darauf hin. 22
Wenn man sagt, dass eine Theorie zum psychophysischen Problem nicht per se eine Theorie über die Grundverfassung der Wirklichkeit ist, so muss man den betreffenden Unterschied aufzeigen. Vgl. Kapitel 2.
15 Der Materialismus, der behauptet, das Seelisch-Geistige ließe sich als Teil der physischen Wirklichkeit begreifen, der Idealismus, der umgekehrt behauptet, das Physische ließe sich als Teil der seelisch-geistigen Welt verstehen, und der Dualismus, für den sowohl das Seelisch-Geistige wie das Physische eigenständige Realitäten sind, von denen sich keine auf die andere reduzieren lässt.23
Das Ziel des Materialismus ist die Eliminierung des Mentalen als eines eigenständigen Entitätenbereichs der Wirklichkeit. Das Ziel des Idealismus ist umgekehrt die Eliminierung des Materiellen als eines eigenständigen Entitätenbereichs der Wirklichkeit. Und endlich ist es das Ziel des Dualismus, beide Entitätenbereiche als fundamentale Wirklichkeitsbereiche zu begründen und zu zeigen, wie die Entitäten des einen Bereichs auf die Entitäten des anderen Bereichs bezogen sind. Man kann sagen: Der Materialismus entspringt den Bemühungen einer physikalischen Erklärung der Welt. Der Idealismus ist ein kontraintuitiver Ansatz, dessen erfolgreiche Durchführung unmöglich erscheint, und der Dualismus ist jene philosophische Denkrichtung, die dem Wirklichkeitsmodell des Commonsense intuitiv24 am nächsten ist. Die meisten Philosophen, die sich mit dem psychophysischen Problem auseinandersetzen, beziehen sich in irgendeiner Form auf die soeben genannten Positionen. Ich werde ihrem Beispiel insofern folgen, als ich glaube, dass das Verständnis einer neuen Konzeption zur Lösung des psychophysischen Problems eine hinreichende Analyse dieser Positionen voraussetzt. Aus systematischen Gründen ist es hierfür wichtig, zwischen Grundpositionen und Subpositionen bzw. Theorien zum psychophysischen Problem zu unterscheiden. Man kann beispielsweise Materialist sein, d.h. man kann ein Vertreter des Materialismus sein und gleichzeitig den Funktionalismus ablehnen, jedoch für die Identitätstheorie argumentieren.25 Aber gleichgültig wie man argumentiert, man ist immer noch Materialist. Zu den Grundpositionen des psychophysischen Problems zähle ich daher ausschließlich die Denkrichtungen ‘Materialismus’, 23
Von Kutschera, Franz: Die Wege des Idealismus, Mentis, Paderborn 2006, S. 9.
24
Unter einer Intuition sei nichts anderes verstanden als eine gewisse, nicht weiter begründbare Evidenz von Überzeugungen, die wir in Bezug auf die Beschaffenheit irgendeiner Entität haben. 25
Funktionalismus und Identitätstheorie sind beides Subpositionen des Materialismus.
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‘Idealismus’ und ‘Dualismus’. Die Grundpositionen sind zudem ontologischer Natur, denn jede einzelne impliziert ganz grundlegende Aussagen über die »Ausstattung« der Wirklichkeit mit bestimmten Arten von Entitäten. Darüber hinaus könnte man auch den neutralen Monismus zu den Grundpositionen zählen. Im neutralen Monismus wird von einem »Weltstoff« ausgegangen, der ontologisch neutral ist, und der in einer bestimmten Anordnung als etwas geistiges, in einer anderen als etwas materielles erscheint. Neben ontologischen Konzeptionen wie etwa der Zwei-Aspekte-Lehre von Baruch Spinoza, sind es vor allem erkenntnistheoretische Dualismen, die darauf aufsetzen. Weil aber der neutrale Monismus in meinen Überlegungen keine sehr prominente Rolle spielt, gilt die eingeführte Differenzierung in Materialismus, Idealismus und Dualismus. Neben den ontologischen Grundpositionen gibt es zahlreiche weitere Positionen, wie etwa den Mentalismus, den Phänomenalismus, den logischen Behaviorismus, den Epiphänomenalismus, den semantischen Physikalismus oder die Identitätstheorie. Dabei handelt es sich aber nicht nur um ontologische, sondern auch um epistemologische Entwürfe. Nichtsdestoweniger zähle ich sie zu den Subpositionen bzw. zu den Theorien der Grundpositionen, denn sie implizieren allesamt eine mit diesen korrespondierende ontologische Einstellung. Zusammenfassend gesagt: Materialismus, Idealismus und Dualismus sind ontologische Grundpositionen in Bezug auf die »Ausstattung« der Gesamtwirklichkeit mit bestimmten Arten von Entitäten. Subpositionen bzw. Theorien sind diesen Grundpositionen subsumierte, ontologische bzw. erkenntnistheoretische Versuche, die damit einhergehenden Probleme zu lösen. Zur besseren Orientierung sei deshalb vorweggenommen, dass ich für jede der drei Grundpositionen sowohl ontologische als auch erkenntnistheoretische Lösungsversuche besprechen werde. Darüber hinaus sei gesagt, dass sich meine Untersuchungen zum psychophysischen Problem auf den Bereich individueller psychischer Vorgänge und Entitäten und den Bereich objektiver physischer Vorgänge und Entitäten konzentrieren. Die Frage, wie aus ontologischer und erkenntnistheoretischer Sicht mit objektiven geistigen Entitäten, sprich mit Begriffen, Zahlen, Mengen, Theorien usw. umzugehen ist, die ja von manchen Philosophen, wie etwa Karl Popper, ebenfalls im Rahmen der Leib-Seele-Frage diskutiert werden, ist hingegen nicht Gegenstand der Untersuchungen. Endlich ist zu erwähnen, dass es sich bei den
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Grundpositionen, wie auch bei den Subpositionen bzw. den Theorien, stets um solche der Philosophie handelt und nicht um solche der Naturwissenschaften. Das ist für den Idealismus und den Dualismus einigermaßen klar, nicht aber für den Materialismus. Versteht man das naturwissenschaftliche Programm im wesentlichen als Versuch, die Wirklichkeit physikalisch aufzufassen, so liegen Materialismus und Naturwissenschaft eng beieinander. Dort, wo etwa die Neurowissenschaft Geist auf Gehirn reduzieren will, tut sie auf empirischem Wege nichts anderes als der Materialismus, der dies a-priori vorhat. Eines aber lässt sich jetzt schon sagen: Materialismus, Idealismus und Dualismus sind bisher nicht in der Lage, das Körper-Geist-Problem zu lösen. Das liegt meiner Überzeugung nach nicht nur daran, wovon die meisten Philosophen sprechen, dass sich nämlich zu allen Positionen und Theorien Einwände und Argumente finden lassen, welche diese widerlegen oder in Bedrängnis bringen, sondern vor allem daran, dass viele der Positionen und Theorien Probleme implizieren, deren Ursprünge in einem Bereich zu finden sind, der im Kontext des psychophysischen Problems üblicherweise nicht in den Blick kommt. Die Rede ist vom naiven Realismus. Der naive Realismus ist eine philosophische Erkenntnistheorie, die uns in pragmatischer Hinsicht vertraut ist, ist sie doch die theoretische Formulierung dessen, was wir im Alltag für selbstverständlich halten.26 Haltungen, die sich im Wesentlichen durch zwei Annahmen charakterisieren lassen: Die Annahme, dass die Wahrnehmung den unmittelbaren Zugang zur Außenwirklichkeit ermöglicht, d.h., dass wir es in der Wahrnehmung mit außenwirklichen Gegenständen zu tun haben, und die Annahme, dass wir die Außenwirklichkeit so wahrnehmen können, wie sie ist. In unserem alltäglichen Leben, aber auch in den meisten Fällen, in denen wir Wissenschaft treiben, zweifeln wir keinen Moment daran, dass die Gegenstände, die wir wahrnehmen, etwa Bäume, Stühle oder Hunde, Gegenstände einer von uns unabhängigen Wirklichkeit sind und dass diese Gegenstände in der gleichen Weise, wie sie in unserer Wahrnehmung bestehen, auch dann bestehen, wenn wir sie nicht wahrnehmen. Aus diesem Grund bildet der naive Realismus, ohne dass wir das immer wollen, in beinahe jeder Theorie das unreflektierte Fundament. Ein Fundament, das aber eben mit allerhand Problemen behaftet ist, die in den meisten Fällen 26
Eine genaue Betrachtung des naiven Realismus findet sich in Kapitel 3.
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nicht mehr in den Blick kommen. Das gilt nicht nur für philosophische Theorien, sondern auch für naturwissenschaftliche. Was letztere betrifft, so interessiere ich mich vor allem für die Neurowissenschaft. Diese behauptet ja zum Teil, die Lösung des psychophysischen Problems bereits vorliegen oder zumindest in greifbarer Nähe zu haben. Davon allerdings kann keine Rede sein. Wer den naiven Realismus nicht überwindet, kann keine brauchbare Theorie zur Lösung des Problems entwerfen. An dieser Stelle bringe ich den metaphysischen Dualismus in Spiel. Der metaphysische Dualismus, der auf Moritz Schlicks allgemeiner Erkenntnislehre beruht, ist ein Konzept, das sich gerade dadurch auszeichnet, dass es den naiven Realismus explizit überwindet. Ich behaupte daher, dass der metaphysische Dualismus grundlegende theoretische Einsichten erlaubt, die für eine Lösung des psychophysischen Problems unabdingbar sind. Damit komme ich nun zu dem Punkt, an dem eine Vorschau auf die inhaltlichen Zusammenhänge angebracht ist: I n K a p i t e l 2 ( H i n t e rg r u n d v o r a u s s e t z u n g e n ) w e r d e n d i e Hintergrundvoraussetzungen des psychophysischen Problems diskutiert. Im ersten Teil bemühe ich mich um die methodologischen Aspekte. Dazu gehört die Formulierung und Erläuterung des epistemischen Ziels, der Aufbau einer Semantik, die angibt, wie über das Problem gesprochen wird, und eine Antwort auf die Frage, warum es theoretisch sinnvoll ist, das psychophysische Problem als ein Teilproblem einer Theorie über die Grundverfassung der Wirklichkeit aufzufassen. Im darauf folgenden zweiten Teil geht es um die problemspezifischen Aspekte. Ich beginne mit der Explikation der Voraussetzungen und Vorannahmen des psychophysischen Problems, denn zweifelsfrei beruht das Problem auf allerhand impliziten und expliziten Voraussetzungen und Annahmen. Ihre genaue Darstellung ist wichtig, um zu verstehen, wie das Problem entsteht und was genau es ist. Ich werde also angeben, welche allgemeinen Voraussetzungen und Annahmen man macht oder machen muss, um vom psychophysischen Problem sprechen zu können. Fortfahren werde ich mit der Bestimmung von Psychischem und Physischem und seiner Differenzierung in zwei Klassen von Entitäten aufgrund allgemeiner Merkmale. Für eine erste Annäherung übernehme ich Franz von Kutscheras Bestimmungsansatz: Kutschera zufolge ist das Physische einfach als das zu bestimmen, worüber die Physik und im weiteren Sinn
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die Chemie und die Biologie, einschließlich der Physiologie, sprechen. 27 Das Mentale dagegen ist „der Bereich des Empfindens, Erlebens und Wahrnehmens, des Vorstellens, Denkens und Erinnerns, des Strebens und Wertens, der Gefühle, Stimmungen und Haltungen“28 . Ob diese Bestimmungen hinreichend sind, um zwischen materiellen und mentalen Entitäten eindeutig zu differenzieren, das wird sich zeigen. In Kapitel 3 (Commonsense, Naiver Realismus und psychophysisches Problem) werde ich versuchen, das Problem in seiner philosophischen und naturwissenschaftlichen Dimension, ausgehend vom Commonsense, im naiven Realismus29 zu lokalisieren. Zu diesem Zweck werde ich sowohl das Wirklichkeitsmodell des Commonsense wie auch den naiven Realismus eingehend diskutieren. Ein erster Grund für diese Vorgehensweise liegt darin, dass der naive Realismus als philosophische Formulierung dessen gilt, was wir im Alltag über die Beschaffenheit der Wirklichkeit für trivial erachten, und dass das psychophysische Problem mit dieser Auffassung des Wirklichen zusammenhängt. 30 Ein zweiter Grund liegt in der Behauptung, dass die Lösung des psychophysischen Problems mitunter daran scheitert, dass viele Philosophen und Wissenschaftler den naiven Realismus in ihren theoretischen Überlegungen nicht überwinden. 31 Der naive Realismus ist keine Körper-Geist-Theorie im Sinne der Philosophie des Geistes, sondern eine Erkenntnis- bzw. Wirklichkeitstheorie, in welcher Aussagen über den Umfang, die Bedingungen und die Grenzen der Erkenntnis des Wirklichen gemacht werden. Dennoch impliziert diese Theorie einen psychophysischen Standpunkt, und zwar einen naiven ontologischen Körper-GeistDualismus. Es existiert eine geistig-subjektive und nicht ausgedehnte 27
Vgl. Von Kutschera, Franz: Philosophie des Geistes, Mentis, Paderborn, 2009. S. 14.
28
Von Kutschera, Franz: Philosophie des Geistes, Mentis, Paderborn, 2009. S. 16.
29
Statt vom naiven Realismus wird auch vom direkten Realismus gesprochen.
30
Vgl. Waß, Bernd: Die reale Außenwelt und das Wirklichkeitsproblem, Universität Salzburg, 2009. 31
Die Ausdrücke ‘Philosophen’ oder ‘Philosoph’ oder ‘Wissenschaftler’ seien geschlechtsneutral gebraucht. Sie dienen der Bezeichnung jeder Person, die Philosophie oder Wissenschaft betreibt.
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Innenwelt und eine materielle, objektive und ausgedehnte Außenwelt. Darüber hinaus behaupten naive Realisten, dass die Außenwirklichkeit unabhängig von allen Subjekten existiert, dass sie unmittelbar in der Wahrnehmung des jeweils wahrnehmenden Subjekts vorliegt und dass sie von allen Subjekten so wahrnehmbar ist, wie sie ist. Da die Außenwirklichkeit materieller Natur ist, hat man es in der Wahrnehmung folglich mit materiellen subjektunabhängigen außenwirklichen Gegenständen zu tun. Das sind zwar plausible, jedoch unhaltbare Thesen, wie sich logisch und erkenntnistheoretisch zeigen lässt.32 Aus erkenntnistheoretischer und erkenntnislogischer Sicht ist es nämlich unmöglich, dass Gegenstände der Außenwirklichkeit unmittelbar in der Wahrnehmung vorliegen. Wahrnehmungsgegenstände sind nicht identisch mit Gegenständen der Außenwelt. Vor allem aber sind die Gegenstände, die uns durch die Wahrnehmung gegeben sind, nicht materieller, sondern mentaler Natur. Der Ursprung des psychophysischen Problems liegt nun meiner Überzeugung nach zumindest teilweise in dem theoretischen Fehler der Identifikation von Wahrnehmungsgegenständen mit Gegenständen der Außenwelt. Wer diesen Fehler begeht, ist immer wieder mit jenen ontologischen Verhältnissen konfrontiert, an denen die herkömmlichen Theorien letztlich scheitern. Ein Beispiel hierzu: Ein Neurowissenschaftler behauptet etwa, dass das Gehirn, das er beim Öffnen eines menschlichen Schädels wahrnimmt, dasjenige Gehirn dieses Menschen ist, das dessen Bewusstsein hervorbringt. Das ist für ihn eine plausible Behauptung, durch die er nichts anderes ausdrücken will, als dass die materielle Substanz ‘Gehirn’, die er nun vor sich hat, Bewusstsein hervorbringt. Doch nach genauerer philosophischer Betrachtung und der Überwindung des naiven Realismus zeigt sich, dass die Behauptung des Biologen unhaltbar ist. Das liegt daran, dass der Wahrnehmungsgegenstand ‘Gehirn’, also das wahrnehmungsimmanente Gehirn, eindeutig von derselben ontologischen Kategorie ist wie das Bewusstsein, das es dem Biologen nach hervorbringen soll: Es ist mentaler Natur und nicht materieller. Und das wiederum bedeutet, dass nicht die materielle Substanz ‘Gehirn’ Bewusstsein hervorbringt, sondern, dass der Wahrnehmungsgegenstand ‘Gehirn’ Bewusstsein hervorbringt. Aber das ist ganz offensichtlich falsch. 32
Vgl. Waß, Bernd: Die reale Außenwelt und das Wirklichkeitsproblem, Universität Salzburg, 2009.
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Man könnte noch einwenden, dass die Unterscheidung zwischen materiellem und mentalem (d.h. wahrgenommenen) Gehirn, irrelevant ist, da das eine mit dem andern gleichzusetzen ist. Doch der Einwand schlägt fehl, denn außenwirkliche Gegenstände können, wie schon gesagt, aus erkenntnistheoretischen bzw. erkenntnislogischen Gründen nicht mit wahrgenommenen Gegenständen identisch sein. Die fehlerhafte Identifikation von außenwirklichen Gegenständen mit Gegenständen der Wahrnehmungswirklichkeit ist vor allem für materialistische und dualistische Theorien problematisch, weniger für den Idealismus. Für diesen gibt es den Fehler insofern nicht, als er auch die extramentale Welt jedenfalls als etwas Psychisches auffasst. Materialismus und Dualismus scheitern aber möglicherweise gerade daran. Das Kapitel 3 soll daher einerseits klären, in welchem Zusammenhang naiver Realismus und psychophysisches Problem stehen, und anderseits soll es den theoretischen Weg für ein alternatives Erklärungsmodell ebnen. Diesem Modell zufolge ist die Außenwelt nicht von jener materiellen oder körperlichen Art, wie wir das auf der Grundlage der Wahrnehmungsgegenstände gemeinhin annehmen. Die Rede ist vom metaphysischen Dualismus: Der metaphysische Dualismus ist ein Wirklichkeitsmodell, in der es erkenntnistheoretisch und ontologisch konsistent denkbar ist, dass die Außenwelt, die wir für eine materielle, körperliche, physische Wirklichkeit halten, eine meta-physische Welt ist, in der es weder körperliche noch materielle Entitäten derart gibt, wie sie uns aus der Wahrnehmung bekannt sind. Ein wichtiger Bestandteil dieser Konzeption ist die These, dass die Gegenstände 33 physikalischer Beschreibungen, d.h. die Gegenstände, die die Physik betrachtet, nicht Gegenstände einer Wirklichkeit sind, die der Commonsense und die meisten Wissenschaften als die materielle Welt begreifen, die uns umgibt, sondern Gegenstände einer meta-physischen Welt.34 Immanuel Kant würde hier von Dingen an sich sprechen und Moritz Schlick sagt in der allgemeinen Erkenntnislehre: „Der Physiker 33
Der Ausdruck ‘Gegenstand’ sei im Sinne Rudolf Carnaps gebraucht (Vgl.: Der logische Aufbau der Welt, Meiner Verlag, Hamburg, 1998): Zu den Gegenständen zählen nicht nur Dinge, sondern auch Eigenschaften und Beziehungen, Klassen und Relationen, Zustände und Vorgänge, Wirkliches und Unwirkliches. 34
Die Erläuterung des metaphysischen Dualismus ist Gegenstand eines eigenen Kapitels.
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kann [...] den Gegenstand seiner Wissenschaft nicht anders definieren, als der Philosoph sein Ding an sich.“35 Und Dinge an sich, das ist evident, sind metaphysische Dinge. In Kapitel 4 (Dualismus, Materialismus und Idealismus) endlich wende ich mich den Grundpositionen des psychophysischen Problems zu: dem Dualismus, dem Materialismus (oder auch „Physikalismus“36 ) und dem Idealismus (oder auch „Immaterialismus“). Neben den klassischen Konzeptionen, die im Rahmen der Grundpositionen diskutiert werden, werde ich auch die wichtigsten Gründe und Einwände diskutieren, die für bzw. gegen diese Konzeptionen sprechen.37 Den Beginn der Untersuchungen bildet der Dualismus. Weil ich das Problem vom Commonsense und dem naiven Realismus ausgehend erarbeite, ist die Beschäftigung mit dem Dualismus aus systematischer Sicht der nächste Schritt. So wie der naive Realismus dem Wirklichkeitsmodell des Commonsense in wirklichkeitstheoretischer Hinsicht entspricht, so entspricht ihm der Dualismus im Kontext des psychophysischen Problems. Der Körper-Geist-Dualismus oder der Dualismus zwischen Psychischem und Physischem entspricht unserer intuitiven Unterscheidung zwischen materiellen und geistigen Entitäten am besten. Die Kernthese des Dualismus lautet: „Die Wirklichkeit besteht aus Physischem und Psychischem und nur aus diesen beiden Teilbereichen. Sie sind so verschiedenartig, dass sich keiner von ihnen auf den anderen zurückführen lässt.“38 Intuitiver formuliert: Menschen besitzen dem Dualismus zufolge „außer einem Körper auch einen von allen körperlichen
35
Schlick, Moritz: Allgemeine Erkenntnislehre, Suhrkamp Verlag, Berlin, 1979, S. 295. 36
Der Materialismus wird auch als Physikalismus bezeichnet. Ich verwende die Ausdrücke daher synonym. 37
Körper-Geist-Theorien treten in vielfältigen Varianten auf. Ich werde der einschlägigen Literatur folgend nur auf diejenigen eingehen, die am häufigsten diskutiert werden. Dies ist für den Zweck meiner Arbeit ausreichend. Gleiches gilt für die Argumente und Gründe, die für oder gegen sie vorgebracht wurden. 38
Von Kutschera, Franz: Philosophie des Geistes, Mentis, Paderborn, 2009. S. 205.
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Dingen verschiedenen nicht-physischen Geist [...]“39. Mit dieser These sind vor allem zwei gravierende Probleme verbunden: Einerseits muss begründet werden, warum man darin gerechtfertigt ist, in ein und derselben Wirklichkeit zwei wesensverschiedene Arten von Entitäten zu behaupten. Die Gegner dualistischen Denkens (vor allem Materialisten) sprechen davon, dass es unplausibel ist, in einer ansonsten vollständig materiellen und kausal determinierten Welt einen nicht-physischen Geist anzunehmen, der sich noch dazu akausal verhält. Andererseits, und das ist sicher die größte Schwierigkeit, ist die Frage zu beantworten, welche Beziehung zwischen dem Bereich des Psychischen und dem Bereich des Physischen besteht und wie sie zu erklären ist. Dualisten leugnen ja nicht die Tatsache, dass es eine Beziehung gibt. „Aber wenn es einen systematischen Zusammenhang gibt, zwischen der körperlichen Welt und dem, was im Geist vorgeht, wie sieht dieser Zusammenhang aus?“40 Die Frage nach dem systematischen Zusammenhang wird in meiner Analyse des psychophysischen Dualismus eine wichtige Rolle spielen, und zwar deshalb, weil auch der metaphysische Dualismus (wie der Name schon verrät) eine dualistische Konzeption ist, die mit einer erfolgreichen Erklärung dieses Zusammenhangs steht und fällt. Der Materialismus (auch „Physikalismus“ genannt) ist von der Alltagsrealität weiter entfernt als der Dualismus. Er entspricht wohl am ehesten einer naturwissenschaftlichen Auffassung der Welt. „Bis ins 19. Jahrhundert hinein hat der Materialismus keine ernsthafte Rolle gespielt. Seine These, die gesamte Wirklichkeit sei materieller Natur, war bis dahin nicht mehr als eine höchst spekulative metaphysische Behauptung.“41 Das ist heute anders. Der Materialismus ist „geradezu zu einer offiziellen Doktrin geworden, ja er sieht sich als die einzige rationale Position zum Verhältnis von Physischem und Psychischem“42 . Seine Plausibilität verdankt er der Tatsache, dass er im Prinzip die philosophische Extrapolation naturwissenschaftlicher Theorien über die Grundverfassung 39
Beckermann, Ansgar: Analytische Einführung in die Philosophie des Geistes, Gruyter, Berlin, 2008, S. 43. 40
Ebenda.
41
Von Kutschera, Franz: Die Wege des Idealismus, Mentis, Paderborn 2006, S. 191.
42
a. a. O. S. 192.
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der Wirklichkeit ist. 43 Der Materialismus behauptet im Kern das, was die Naturwissenschaften, respektive die Physik und die Neurowissenschaft, voraussetzen und wofür sie empirische Beweise suchen. Die Kernthese des Materialismus lautet daher: Es gibt in der Welt letztlich nur physische Entitäten, und die Welt lässt sich auch nur aus diesen Entitäten widerspruchsfrei erklären. Seine Nähe zur Naturwissenschaft verleiht ihm sozusagen »rationale Autorität«44 . Nichtsdestoweniger ist der Materialismus eine Position, die letztlich unhaltbar ist, wie ich begründet zeigen werde. Es gibt keine materialistische Theorie, in der die Kernthese des Materialismus beweisbar ist, in der also das materialistische Programm sinnvoll durchgeführt werden kann. Ein Beispiel hierzu: Dem materialistischen Programm zufolge ist der Gedanke, den ich habe, wenn ich an den Stuhl denke, auf dem ich gerade sitze, in letzter Konsequenz physischer Natur, denn es gibt ja nur Physisches. Wenn aber der Gedanke an den Stuhl und der Stuhl selbst nichts anderes sind als physische Entitäten, dann sind Gedanke und Stuhl auf irgendeine Art dasselbe. Eine Behauptung, die zu unserem intuitiven Weltverständnis nicht nur diametral ist, sondern auch große identitätstheoretische Schwierigkeiten impliziert. Die Widerlegung des Materialismus dient vor allem dazu, seine Fehlerhaftigkeit sichtbar zu machen, denn nur so wird klar, in welchem Verhältnis Materialismus und naiver Realismus stehen und warum zur Lösung des psychophysischen Problems eine dualistische Konzeption unumgänglich ist. Der Idealismus ist wie der Materialismus eine ontologisch monistische Position, d.h es wird nur eine Art von Entitäten zugelassen. Die Kernthese des Idealismus lautet: Letztlich gibt es in der Welt ausschließlich mentale Entitäten und die Welt lässt sich nur mentalistisch 43
Man versteht den Materialismus „zwar vielfach als Extrapolation naturwissenschaftlicher Resultate, er geht aber doch entscheidend darüber hinaus. Die Naturwissenschaften können ja nur naturgesetzliche Korrelationen zwischen Prozessen im Gehirn und psychischen Vorgängen aufweisen. Es ist aber eine logische und wissenschaftstheoretische Frage, ob man von solchen Korrelationen zur Behauptung übergehen kann, psychische Phänomene seien nichts anderes als komplexe neuronale Ereignisse“ (Von Kutschera, Franz: Die Wege des Idealismus, Mentis, Paderborn 2006, S. 192). 44 Ausdrücke
die metaphorisch gebraucht werden, seien mit ‘»’ , ‘«’ gekennzeichnet.
25
widerspruchsfrei erklären. Insofern ist seine Kernthese gleich stark wie die des Materialismus. Idealistische Theorien weichen erheblich sowohl vom alltäglichen als auch vom naturwissenschaftlichen Wirklichkeitsmodell ab. Es ist schwer denkbar, und für die meisten Philosophen und Naturwissenschaftler sogar absurd, dass die Wirklichkeit, mit der wir es in unserem alltäglichen Leben und in fast allen Wissenschaften zu tun haben, etwas anderes sein soll als das, wofür wir sie üblicherweise halten, nämlich eine materielle, physikalische, raum-zeitlich und kausal determinierte Entität. Zugegeben, die Vorstellung, dass es anstatt materieller Entitäten nur geistige Entitäten gibt, ist eine gedankliche Herausforderung. Muss ich mir in diesem Fall doch beispielsweise vorstellen, dass die Suppe, die ich gerade gegessen habe, der Stuhl auf dem ich saß, während ich dies tat, und mein Magen, in dem sich die Suppe nun befindet, nichts anderes ist als eine »Vorstellung«, mithin etwas Geistiges. Dass der Idealismus heute kaum mehr vertreten wird, das liegt wohl auch daran, dass idealistische Theorien vor allem vom wissenschaftlichen Mainstream zu weit entfernt sind.45 Doch es ist inakzeptabel, eine Theorie nur aufgrund ihrer Disparität abzulehnen. Zweifellos impliziert der Idealismus schwierige theoretische Probleme, doch auch in diesem Fall sind Gründe und Argumente zu prüfen. Ich glaube dennoch, dass der Idealismus diejenige Position zum psychophysischen Problem ist, die das theoretische Potential enthält, um das Problem zu lösen. Ich sage damit nicht, dass es zur Zeit eine idealistische Theorie gibt, die dies zustande brächte, sehr wohl aber, dass der Idealismus wichtige theoretische Ansätze liefert, die, will sie Erfolg haben, in einer zukünftigen Körper-Geist-Theorie Eingang finden müssen. Kapitel 5 (Philosophie und Neurowissenschaft - ein Exkurs) widmet sich dem Verhältnis von Philosophie und Neurowissenschaft. Die weitreichenden empirischen Erkenntnisse, die die Neurowissenschaft in den letzten Jahren zum psychophysischen Problem hervorgebracht hat, führen zu vielfältigen Berührungspunkten mit der Philosophie. Dies führt aber auch zu Konfusion und zu anhaltenden und teils erbittert geführten Diskussionen. Im Sinne der theoretischen Bemühungen zum metaphysischen Dualismus soll hierzu eine ganz grundlegende, wenngleich
45
Vgl. Von Kutschera, Franz: Die Wege des Idealismus, Mentis, Paderborn 2006, S. 9
26
auch nicht weiter differenzierte Sichtweise vorgestellt werden, die den Kern der Kontroversen thematisiert. Kapitel 6 (Metaphysischer Dualismus - Grundriss einer Theorie) endlich widmet sich dem zentralen Thema dieser Arbeit, dem metaphysischen Dualismus. Der metaphysische Dualismus beruht in großen Teilen auf dem epistemologischen Realismus von Moritz Schlick, den dieser in seinem Hauptwerk, der allgemeinen Erkenntnislehre, entwirft.46 Doch Schlick entwirft darin nicht nur eine umfassende Erkenntnistheorie, sondern auch eine umfassende Ontologie. So finden sich überaus wertvolle Ansätze für eine ontologische Theorie des Wirklichen, in der das psychophysische Problem unter anderen theoretischen Bedingungen erneut gestellt und diskutiert werden kann. Der wesentliche Unterschied zwischen den klassischen Theorien des Dualismus und dem metaphysischen Dualismus ist das ontologische Bestimmungspostulat des Physischen. Diesem Postulat nach ist die physische Wirklichkeit keine materielle Wirklichkeit in einem herkömmlichen Sinn, sondern eine metaphysische Wirklichkeit. Während die Wirklichkeit im herkömmlichen Sinn mit festen, empirischen, körperlichen und raum-zeitlich ausgedehnten Entitäten identifiziert wird, gilt für die metaphysisch transzendente, dass ihr diese Attribute nicht zukommen. Die Durchführung des Postulats ist der Versuch, die Beschaffenheit der Wirklichkeit in einem dualistischen Sinn theoretisch
46
Vgl. Schlick, Moritz: Allgemeine Erkenntnislehre, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1979.
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befriedigend zu erfassen.47 Welche philosophischen Wendungen damit einhergehen, das müssen die Untersuchungen zeigen. In Kapitel 7 (Erneute Versuche zur Lösung des psychophysischen Problems) bespreche ich mit dem psychophysischen Parallelismus Schlicks und dem metaphysischen Dualismus qua Qualitätendualismus und qua semantischem Dualismus drei weitere Versuche zur Lösung des psychophysischen Problems. Dadurch ergibt sich ein Gesamtbild, denn erstens gehen die Ausführungen zum metaphysischen Dualismus auf Schlicks allgemeine Erkenntnislehre zurück und zweitens wird das bis dato Gesagte, um einige entscheidende Aspekte ergänzt. Darüber hinaus diskutiere ich auch die wichtigsten Probleme. Kapitel 8 (Schlussbetrachtung) schließt meine ontologischen und erkenntnistheoretischen Untersuchungen zum psychophysischen Problem und der Metaphysik des Materiellen ab. Ich nehme systematisch auf die wesentlichen Ergebnisse Bezug, beantworte die wissenschaftliche Frage und ziehe ein Resümee. Die Arbeit endet mit einem kurzen Ausblick auf die weitere Entwicklung der Philosophie des Geistes, und zwar auch unter Berücksichtigung der gewonnen Erkenntnisse.
47
Der metaphysische Dualismus ist keine Theorie in einer natürlichen Sprache in einem strengen wissenschaftstheoretischen Sinn. Eine Theorie in einer natürlichen Sprache im strengen wissenschaftstheoretischen Sinn, ist ein Satzsystem, das zumindest die folgenden (notwendigen aber nicht hinreichenden) Kriterien erfüllt: Widerspruchsfreiheit, deduktiver Zusammenhang, Begründbarkeit und semantische Homogenität. Kein anderes Satzsystem ist eine Theorie in einer natürlichen Sprache in diesem Sinn. Aus diesem Grund habe ich in der Vergangenheit mit Bezug auf den metaphysischen Dualismus auch von einer Konzeption gesprochen und nicht von einer Theorie. Da die genannten Bedingungen nur von einigen Satzsystemen erfüllt werden, wird der Ausdruck ‘Theorie’ häufig auch in einem weniger strengen Sinn gebraucht. Victor Kraft etwa versteht unter einer Theorie ein System von Hypothesen. (Vgl. Kraft, Victor: Erkenntnislehre, Springer Verlag, Vienna, 1960, S. 283 f.) Natürlich muss auch ein System von Hypothesen zumindest einfachen logischen Ansprüchen genügen, doch insgesamt wird man von einem solchen System weniger verlangen. Wenn ich also in weiterer Folge von Theorien spreche, so sind zumeist Satzsysteme im Sinne Krafts gemeint. Das gilt auch für den metaphysischen Dualismus.
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Kritische Bemerkungen Das psychophysische Problem wird heute meistens im Rahmen der Philosophie des Geistes diskutiert. In den vergangenen Jahrzehnten hat sich die Philosophie des Geistes zu einem Schwerpunkt philosophischer Forschung entwickelt. Philosophiegeschichtlich markiert dieser Aufstieg eine Zäsur. Mit ihm verbinden sich inhaltliche Verengungen, die mit neuen methodischen Vorgaben und interdisziplinären Herausforderungen einhergehen.48
Viele Philosophen neigen heute dazu, das klassische Leib-Seele-Problem auf eine reine Gehirn-Geist oder Gehirn-Bewusstsein-Debatte zu reduzieren. Das hat ungünstige Folgen, denn am Ende dieser reduktionistischen Anschauungsweise bleibt von einer umfassenden Philosophie des Geistes nur mehr wenig übrig. Das, was bleibt, ist meist lediglich die Frage, ob oder in welcher Weise unser mentales Leben mit Gehirnprozessen identisch ist oder nicht. Franz von Kutschera sagt hierzu: Die große Masse der Geistesphilosophen verfolgt noch immer das Ziel des Materialismus, Geist auf Gehirn zu reduzieren, das sich seit langem als ebenso illusorisch erwiesen hat wie die Quadratur des Kreises. Alle Argumente gegen die Möglichkeit einer solchen Reduktion werden konsequent ignoriert.49
Man behauptet fast doktrinär, dass dies die einzige vernünftige wissenschaftliche Position zum Körper-Geist-Problem wäre. Dass unser mentales Leben in irgendeiner Hinsicht an eine funktionierende Hirnphysiologie gebunden ist, daran muss man heute nicht mehr zweifeln; das bedeutet aber nicht auch, dass wichtige philosophische Aspekte des psychophysischen Problems, die es in seiner ganzen Bandbreite impliziert, zugunsten einer fragwürdigen Doktrin ausgeklammert werden dürfen. Entwicklungen, die ich als Indiz dafür werte, dass die akademische Philosophie versucht, sich inhaltlich, semantisch und methodisch an die Naturwissenschaften anzupassen. Eine Tendenz, der ich kritisch gegenüber stehe. Von einem Aufgehen der Philosophie in der Naturwissenschaft halte ich nichts. Ebenso wenig von der Einstellung mancher Wissenschaftler, wie etwa Francis Crick, Gerald Edelman oder Semir Zeki, die auf sehr geringschätzige Weise davon Reden, dass sich die Philosophie in der Leib48
Sturma, Dieter: Philosophie des Geistes, Reclam Verlag, Leipzig, 2005, S. 11.
49
Von Kutschera, Franz: Philosophie des Geistes, Mentis, Paderborn, 2009, S. 11.
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Seele-Frage bestenfalls als ein ganz untergeordneter Partner verstehen darf, weil sie zur Lösung der noch anstehenden Probleme des Geistes ohnehin nichts beitragen könne. 50 In diesem Sinne möchte ich betonen, dass es sich bei der hier vorliegenden Arbeit nicht um eine weitere Publikation zur GehirnBewusstsein-Debatte in dem engen, reduktionistischen Sinn handelt. Ich bin entgegen einer solchen Reduktion am Entwurf einer philosophischen Theorie über die Grundverfassung der Wirklichkeit interessiert, in der es um eine umfassende ontologische und erkenntnistheoretische Aufklärung geht und für die eine weit gefasste Betrachtung des psychophysischen Problems fundamental ist. Eine doktrinäre Verengung des Blickfeldes ist diesem Vorhaben unzuträglich.
50
Vgl. Bennet, M. R.; Hacker, P. M. S.: Philosophie und Neurowissenschaft, in: Sturma, Dieter: Philosophie und Neurowissenschaften, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 2006.
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2. Hintergrundvoraussetzungen Um in einer angemessenen Weise über das psychophysische Problem sprechen zu können, müssen zunächst einige Vorarbeiten geleistet, d.h. einige methodologische und einige problemspezifische Voraussetzungen behandelt werden. Diese bilden zusammen die Hintergrundvoraussetzungen51 der vorliegenden Abhandlung. In 2.1 widme ich mich den Voraussetzungen methodischer Art, in 2.2 jenen problemspezifischer Art. Letztere sollen außerdem Aufschluss darüber geben, welche Strategie in theoretischer Hinsicht verfolgt wird, um das psychophysische Problem zu lösen. 2.1 Methodologische Hintergrundvoraussetzungen Für die Explikation der methodologischen Voraussetzungen werden die folgenden Fragen behandelt: Was ist das epistemische Ziel der Abhandlung? In welchem semantischen Rahmen wird das psychophysische Problem diskutiert? In welchem Kontext stehen das psychophysische Problem und eine Theorie über die Grundverfassung der Wirklichkeit? 2.1.1 Das epistemische Ziel der Abhandlung Eine seriöse philosophische Untersuchung muss ein wohldefiniertes epistemisches Ziel besitzen. Das bedeutet, dass wir bereits am Anfang in der Lage sein sollten, klar und deutlich zu sagen, was wir eigentlich wissen wollen, was genau das Erkenntnisziel der Überlegungen sein soll.52
Das gilt natürlich auch für die hier vorliegende Abhandlung. Wer nicht weiß, was genau er wissen will, d.h. auf welche Frage er eine Antwort zu gewinnen hofft, der weiß nicht, nach welchen Zusammenhängen er Ausschau halten soll. Die Formulierung und Erläuterung dessen, worauf 51
Von Hintergrundvoraussetzungen spreche ich deshalb, weil die hier behandelten Voraussetzungen nicht unmittelbar Gegenstände der nachfolgenden Untersuchungen sind. 52
Metzinger, Thomas: Grundkurs Philosophie des Geistes; Phänomenales Bewusstsein, Mentis, Paderborn, 2009, S. 33.
32
man also eine Antwort zu erlangen sucht, stellt daher den eigentlichen Beginn der Arbeit dar. In diesem Fall handelt es sich um die Beantwortung der folgende Frage: Lässt sich mit Hilfe des metaphysischen Dualismus das psychophysische Problem lösen? Diese Frage legt zunächst die Vermutung nahe, dass das psychophysische Problem bis dato noch nicht gelöst ist. Das dem tatsächlich so ist, daran besteht kein Zweifel. Wir verfügen heute weder über eine umfassende und hinreichend gesicherte Theorie der physikalischen Realität noch über eine zureichende Vorstellung von den Dimensionen des Geistigen, und beides wäre Voraussetzung für eine abschließende Antwort.53
Dass wir aber in der Leib-Seele-Problematik zumindest philosophisch nicht recht voranschreiten, das liegt vermutlich auch daran, dass seit ihrem Beginn bei Platon dieselben Positionen mit denselben Argumenten verteidigt bzw. angegriffen [werden], und wenn man sich die moderne Literatur zur Philosophie des Geistes ansieht, findet man, dass all die alten Diskussionen neu aufgewärmt werden [...].54
Ein Kritikpunkt, der zu einer weiteren Implikation der Forschungsfrage führt, nämlich zum metaphysischen Dualismus als möglichem Vehikel für die Lösung des Problems. Der metaphysische Dualismus ist keine Theorie in einem strengen wissenschaftstheoretischen Sinn, sondern vielmehr ein »Gedankengebäude«, das sich aus der Widerlegung des naiven Realismus 55, aus Teilen der allgemeinen Erkenntnislehre Moritz Schlicks56 und aus Teilen der Erkenntnislehre Victor Krafts57 konstituiert. Es zielt darauf ab, das Verhältnis zwischen dem Bereich des Psychischen und dem 53
Von Kutschera, Franz: Die Wege des Idealismus, Mentis, Paderborn, 2006, S. 9.
54
Ebenda.
55
Vgl. Waß, Bernd: Die Reale Außenwelt und das Wirklichkeitsproblem, Universität Salzburg, 2009. 56
Vgl. Schlick, Moritz: Allgemeine Erkenntnislehre, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1979. 57
Vgl. Kraft, Victor: Erkenntnislehre, Springer Verlag, Wien, 1960.
33
Bereich des Physischen von den Anschauungen des naiven Realismus befreit ontologisch und erkenntnistheoretisch zu erhellen. Insofern ist der metaphysische Dualismus auch keine explizite Philosophie des Geistes, oder anders formuliert, keine Leib-Seele- oder Körper-Geist-Theorie. Ein Umstand, der angesichts der Redundanz moderner Leib-Seele-Debatten von großem Vorteil sein kann, ist es doch so, dass sich das Blickfeld möglicherweise nur dadurch erweitert, dass man irgendwann einmal eine neue Betrachtungsweise wählt. Eine solche zu wählen und von ihr aus die zerklüftete Landschaft unseres Wissens über das Leib-Seele-Problem erkenntnisgeleitet zu durchdringen, das ist der Anspruch und die Aufgabe der vorliegenden Arbeit. Beides ist mithin erfüllt, wenn es gelingt, die Forschungsfrage auf theoretisch befriedigende Weise zu beantworten. Hierfür bedarf es nun dreier Schritte: Schritt eins besteht in der Analyse der Grundlagen des psychophysischen Problems, also in der Beschäftigung mit den Hintergrundvoraussetzungen problemspezifischer Art. Schritt zwei besteht in der systematischen Durchdringung und Erläuterung der Grundpositionen zum psychophysischen Problem, samt ihren wichtigsten Subpositionen und Theorien. Das Ziel ist ein konzentriertes Bild des Status Qo. 58 Darüber hinaus besteht aus epistemologischer und ontologischer Sicht die Notwendigkeit, aufzuzeigen, welche Entitäten diesen Theorien zufolge existieren, woher gewusst wird, dass sie existieren, wie sie bestimmt werden und wie man die Verhältnisse zwischen ihnen (falls vorhanden) erklärt. Außerdem gilt es die Kernprobleme der verschiedenen Ansätze herauszuarbeiten, um das theoretische Potential des metaphysischen Dualismus im Verhältnis dazu einordnen zu können. Schritt drei besteht aus einem Exkurs in die Neurowissenschaft, dem Entwurf des Grundrisses des metaphysischen Dualismus und einer Diskussion über weitere Versuche zur Lösung des Leib-Seele-Problems. 58
Eine vollständige Darlegung aller zum psychophysischen Problem gehörenden Positionen und Theorien ist aufgrund des Umfangs der bestehenden Literatur unmöglich. Daher spreche ich von einem konzentrierten Bild des Staus Qo. Zu einem solchen gehören die Darlegung der Kernthesen und Kernargumente jener Positionen und Theorien, die in der heutigen wissenschaftlichen Diskussion am wichtigsten sind, bzw. solcher, die aus Verständnis- oder Kohärenzgründen unverzichtbar sind.
34
2.1.2 Der semantische Rahmen der Untersuchungen Der entscheidende Nachteil der natürlichen Sprache gegenüber formalen Sprachen ist vor allem die Äquivozität und die Vagheit bestimmter Ausdrücke der natürlichen Sprache.59 Ein Nachteil, der sich auf die systematische Behandlung eines so schwierigen Problems wie des psychophysischen negativ auswirkt. Um diese Auswirkungen so gering wie möglich zu halten, ist genauer anzugeben, in welchem Rahmen über das Problem gesprochen wird. Dies geschieht dadurch, dass ich erstens einige logische Symbole angebe, die ich verwenden werde, zweitens einige grundlegende philosophische Ausdrücke definiere und drittens einige Konventionen einführe. 2.1.2.1 Logische Symbole Sofern ich logische Symbole zur Repräsentation von Aussagesätzen, Prädikaten und Argumenten der natürlichen Sprache ‘Deutsch’ verwende, handelt es sich um solche der logische Sprache ‘PLS=’: Aussagensymbole und Prädikatsymbole: A0, B0, ... Zeichen für Aussagenkonstanten p, q, ... Zeichen für Aussagenvariablen A, B, ... Zeichen für Prädikatkonstanten F, G, ... Zeichen für Prädikatvariablen
59
Äquivok, d.h. mehrdeutig, sind solche Ausdrücke, die mehr als eine Bedeutung haben. Beispielsweise ist der Ausdruck ‘Salzburg’ ein äquivoker Ausdruck. Er bezeichnet sowohl eine Stadt in Österreich als auch ein Bundesland in Österreich. Vage sind solche Ausdrücke, deren Bedeutung entweder mangelhaft bestimmt ist, sodass man nicht genau weiß, was diese Ausdrücke eigentlich bedeuten, oder bei deren „Anwendung auf Gegenstände Randzonen auftreten, in denen es ungwiß ist, ob hier die Bedeutung zutrifft oder nicht. [...] Mit wieviel Haaren jemand ein Kahlkopf gennant werden kann und welche Menge von Körnern ein Kornhaufen, das lässt sich nicht scharf abgrenzen“ (Kraft, Victor: Erkenntnislehre, Springer Verlag, Wien, 1960, S. 46).
35
Individuensymbole: a, b, ... Zeichen für Individuenkonstanten x, y, ... Zeichen für Individuenvariablen Konklusionsanzeiger: ∴ 2.1.2.2 Definitionen und Konventionen 2.1.2.2-1) Definition von ‘immanent’: x ist immanent gegenüber y gdw. gilt: x ≠ y und x ist innerhalb von y. 2.1.2.2-2) Definition von ‘transzendent’: x ist transzendent gegenüber y gdw. gilt: x ≠ y und x ist außerhalb von y. Also: x ist transzendent gegenüber y gdw. gilt: x ≠ y und x ist nicht innerhalb von y. 2.1.2.2-3) Definition von ‘wahrnehmungsimmanent’: x ist wahrnehmungsimmanent für y gdw. gilt: x ≠ y und x liegt innerhalb der sinnlichen Wahrnehmung von y. 2.1.2.2-4) Definition von ‘wahrnehmungstranszendent’: x ist wahrnehmungstranszendent für y gdw. gilt: x ≠ y und x liegt nicht innerhalb der sinnlichen Wahrnehmung von y. 2.1.2.2-5) Definition von ‘metaphysisch transzendent’: x ist metaphysisch transzendent für y gdw. gilt: x ≠ y und x liegt vollkommen außerhalb der sinnlichen Wahrnehmung von y. 2.1.2.2-6) Konvention bezüglich ‘Erlebnis’: Den Ausdruck ‘Erlebnis’ gebrauche ich, um auf Vorgänge oder Entitäten im Bereich der psychischen Wirklichkeit Bezug zu nehmen. 2.1.2.2-7) Konvention bezüglich ‘Ereignis’: Den Ausdruck ‘Ereignis’ gebrauche ich, um auf Vorgänge oder Entitäten im Bereich der physischen Wirklichkeit Bezug zu nehmen.
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2.1.2.2-8) Definition von ‘Disjunktheit von Erlebnissen und Ereignissen’: Erlebnisse und Ereignisse sind disjunkt gdw. gilt: Es gibt keine Erlebnisse im Bereich der physischen Wirklichkeit und es gibt keine Ereignisse im Bereich der psychischen Wirklichkeit. 2.1.2.2-9) Konvention bezüglich ‘Entität’: Der Kunstausdruck ‘Entität’ wird, wie in der Ontologie üblich, dafür gebraucht um ganz allgemein über Seiendes - sei es wirklich, bloß möglich oder gar unmöglich - zu sprechen. „Der Begriff von allem überhaupt ist der Begriff der Entität [...]. Wir alle sind Entitäten. Zahlen sind aber auch Entitäten. Eigenschaften sind Entitäten - und was nicht sonst noch alles ebenfalls. Alles überhaupt ist eine Entität.“60 Entitäten sind also irgendwelche nicht näher bestimmten Daseinsformen oder anders formuliert, nicht näher bestimmtes Seiendes. 2.1.2.2-10) Konvention bezüglich ‘Phänomen’: In Gessmanns philosophischem Wörterbuch61 findet man unterschiedliche Ausführungen darüber, welche Entitäten mit dem Ausdruck62 ‘Phänomen’ bezeichnet werden können. Hegel etwa bezeichnet in der Phänomenologie des Geistes die Erscheinungsformen des Geistes als Phänomene. Weil aber der Ausdruck ‘Phänomen’ in der aktuellen philosophischen Debatte nicht nur die Erscheinungsformen des Geistes bzw. des Psychischen bezeichnet, sondern auch dafür gebraucht wird, bestimmte Vorgänge im Bereich des Physischen zu bezeichnen (man spricht hier von „physischen Phänomenen“), muss der Geltungsbereich des Ausdrucks, wie ihn Hegel gebraucht, entweder erweitert werden, oder es müsste aus Gründen der begrifflichen Klarheit ganz darauf verzichtet werden. Ein Verzicht ist jedoch schwierig, weil der Ausdruck von vielen Philosophen, die zur 60
Meixner, Uwe: Einführung in die Ontologie, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt, 2004, S. 18. 61
Vgl. Gessmann, Martin: Philosophisches Wörterbuch, Alfred Kröner Verlag, Stuttgart, 2009. 62
Anstatt des Ausdrucks ‘Ausdruck’ gebrauche ich manchmal den Ausdruck ‘Begriff’. Unter einem Ausdruck oder einem Begriff verstehe ich Ausdrucksereignisse die grammatisch korrekt, aber keine Satzzeichen und keine Sätze und keine Satzreihen sind.
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Philosophie des Geistes schreiben, verwendet wird. Daher werde ich den Ausdruck ‘Phänomen’ hier so gebrauchen, dass er neben der Bezeichnung der Erscheinungsformen der psychischen Wirklichkeit auch zur Bezeichnung bestimmter Vorgänge oder Entitäten in der physischen Wirklichkeit dient. 2.1.2.2-11) Konvention bezüglich ‘Entitätenbereich des Psychischen’: Es sei der Entitätenbereich des Psychischen genau der Bereich von Entitäten, dem alle psychischen Entitäten zugeordnet sind.63 Dieser Bereich wird nicht als eine Menge von Entitäten in einem mengentheoretischen Sinn gedacht. Darüber hinaus: Statt vom Entitätenbereich des Psychischen, spreche ich aus pragmatischen Gründen auch nur vom Bereich des Psychischen. 2.1.2.2-12) Konvention bezüglich ‘Entitätenbereich des Physischen’: Es sei der Entitätenbereich des Physischen genau der Bereich von Entitäten, dem alle physischen Entitäten zugeordnet sind.64 Dieser Bereich wird nicht als eine Menge von Entitäten in einem mengentheoretischen Sinn gedacht. Statt vom Entitätenbereich des Physischen, spreche ich aus pragmatischen Gründen auch nur vom Bereich des Physischen. 2.1.2.2-13) Konvention bezüglich ‘mental’, ‘geistig’, ‘seelisch’, ‘psychisch’: Die Ausdrücke ‘mental’, ‘geistig’ und ‘seelisch’ seien hier synonym mit dem Ausdruck ‘psychisch’ gebraucht. 2.1.2.2-14) Konvention bezüglich ‘materiell’: Materielle Entitäten sind physische Entitäten. 2.1.2.2-15) Konvention bezüglich ‘Körper’: Der Ausdruck ‘Körper’ sei hier so verstanden, dass gilt: Alle körperlichen Entitäten sind physische Entitäten aber nicht alle physischen Entitäten sind körperliche Entitäten. 63
Welche Eigenschaften Entitäten haben müssen, damit sie diesem Bereich zugeordnet werden können, das wird in Abschnitt 2.2.3 angegeben. 64
Welche Eigenschaften Entitäten haben müssen, damit sie diesem Bereich zugeordnet werden können, das wird in Abschnitt 2.2.3 angegeben.
38
2.1.2.2-16) Konvention bezüglich ‘Welt’, ‘Wirklichkeit’, ‘Universum’, ‘Realität’: Die Ausdrücke ‘Welt’, ‘Wirklichkeit’, ‘Universum’ und ‘Realität’ seien hier synonym gebraucht. Sie werden spezifiziert der Art, dass etwa von der Außenwelt oder der Bewusstseinswirklichkeit, von psychischer oder physischer Realität usw. die Rede ist. 2.1.3 Das psychophysische Problem und die Theorie der Grundverfassung der Wirklichkeit Das psychophysische Problem ist als Gegenstand moderner philosophischer Debatten ein sehr spezielles Problem. Es konzentriert sich im Wesentlichen auf den Zusammenhang zwischen mentalen Phänomenen und Gehirnprozessen. Obwohl mentale Phänomene und Gehirnprozesse an sich nur ein kleiner Bereich des Wirklichen sind, kann man sie unter der Voraussetzung, dass es sich um disjunkte Arten von ontologischen Entitäten handelt, als Repräsentanten fundamentaler ontologischer Kategorien oder Arten identifizieren. Fundamentale ontologische Kategorien oder Arten „generieren die erste Großeinteilung des Begriffs der Entität, d.h.: sie bedingen die erste vollständige Aufteilung aller Entitäten in separate Großklassen“65 . Angewendet auf den vorliegenden Sachverhalt heißt das: Mentale Phänomene repräsentieren die Klasse aller psychischen Entitäten, und Gehirnprozesse repräsentieren die Klasse aller physischen Entitäten. Vorausgesetzt, dass es keine dritte Klasse von Entitäten gibt, zerfällt die Wirklichkeit in nur zwei Klassen von ontologischen Entitäten. Doch so gesehen ist das psychophysische Problem nicht nur das spezielle Problem einer Theorie vom Zusammenhang zwischen Geist und Gehirn, sondern auch das Problem einer Theorie der Grundverfassung der Wirklichkeit; die Wirklichkeit besteht ja nur mehr aus Psychischem, Physischem und allen zwischen diesen beiden Klassen bestehenden Zusammenhängen. Der entscheidende Gedankenschritt ist der von einem speziellen und eng umrissenen Problem hin zu einem allgemeinen und umfassenden Problem, d.h. von einem reinen GehirnGeist-Problem zu einem Problem der Grundverfassung der Wirklichkeit, mithin zu einem Wirklichkeitsproblem. Ein Schritt, der für die Lösung des 65
Meixner, Uwe: Einführung in die Ontologie, WBG Verlag, Darmstadt, 2004, S. 19.
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psychophysischen Problems von großem Wert sein könnte. Dennoch ist anzunehmen, dass eine Lösung des Problems nicht eo ipso eine Theorie der Grundverfassung der Wirklichkeit ergibt, sondern dass das psychophysische Problem bloß ein Teilproblem einer solchen Theorie ist. Eine Theorie über die Grundverfassung der Wirklichkeit muss wahrscheinlich umfassender sein als eine Theorie des psychophysischen Problems. Unter anderem deshalb, weil sie die Frage beantworten müsste, warum die Wirklichkeit überhaupt auf irgendeine Art und Weise verfasst ist und nicht nur die Frage, wie sie verfasst ist. 2.2 Problemspezifische Hintergrundvoraussetzungen Das psychophysische Problem impliziert bestimmte theoretische Voraussetzungen, ohne die es das Problem nicht gäbe oder ohne die es ein ganz anderes Problem wäre. Daher verdienen diese Voraussetzungen besondere Aufmerksamkeit. Nicht zuletzt deshalb, um zu vermeiden, dass wichtige Aspekte unreflektiert bleiben. Nehmen wir z.B. an, ein Philosoph hat folgendes Problem: Er möchte wissen, wie kognitive Subjekte, etwa Menschen, mit Hilfe ihres Sinnesapparates ein Wissen von der Außenwelt erlangen. Um dieses Problem haben zu können, muss der Philosoph voraussetzen, dass es eine Außenwelt gibt, und dass man von dieser Außenwelt mit Hilfe des Sinnesapparates ganz prinzipiell Wissen erlangen kann. Ohne diese Voraussetzungen könnte er sein Problem noch nicht einmal formulieren, denn ginge man etwa davon aus, dass es keine Außenwelt gibt, so wäre schon allein die Frage nach einem diesbezüglichen Wissen absurd. Ein ganz anderes Problem hingegen wäre gegeben, wenn man die Existenz der Außenwelt voraussetzt, aber statt des Sinnesapparates davon ausgeht, dass kognitive Subjekte a priori Wissen von der Außenwelt erlangen können. Die Voraussetzungen sind also mitunter entscheidend dafür, welches Problem man vor sich hat, oder dafür, ob man das Problem überhaupt hat. Deshalb ist es sinnvoll anzugeben, von welchem Problemhintergrund man ganz allgemein ausgeht. Im vorliegenden Fall geschieht dies am besten dadurch, indem man die folgenden Fragen beantwortet: Wie entsteht das psychophysische Problem? Worin genau besteht das psychophysische Problem? Wodurch lässt sich der Bereich des Psychischen und der des Physischen ganz allgemein charakterisieren?
40
2.2.1 Der Entstehungszusammenhang des psychophysischen Problems Philosophische Probleme entstehen vielfach dann, wenn wir das Selbstverständliche in Frage stellen, d.h., wenn wir Gegenstände problematisieren, über die wir uns im Alltag keine Gedanken machen. Das ist auch im Fall des psychophysischen Problems so. Ich werde deshalb zunächst einen bestimmten Ausschnitt der Alltagsrealität untersuchen und mich im Anschluss daran den theoretischen Implikationen widmen. Auf diesem Weg lässt sich der Anfangsgrund des psychophysischen Problems im Wirklichkeitsmodell des Commonsense finden, und ich kann zeigen, warum dieses Modell zu einem theoretischen Problem wie dem psychophysischen Problem führt. 2.2.1.1 Der intuitive Dualismus des Commonsense als Anfangsgrund Der Anfangsgrund des psychophysischen Problems ist eine Unterscheidung, die uns allen vertraut ist und die auf den ersten Blick unverfänglich und nicht besonders problematisch erscheint. Wir unterscheiden zwischen ‘physischen’ oder ‘körperlichen’ Phänomenen auf der einen Seite und ‘mentalen’, ‘geistigen’, ‘psychischen’ oder ‘seelischen’ Phänomenen auf der anderen Seite.66
Doch diese Unterscheidung entspringt keiner wissenschaftlichen Erkenntnis. Im Gegenteil, es ist eine Unterscheidung des Commonsense. „Wenn wir gefragt würden, was die Funktion der Unterscheidung ist“67 , so könnten wir antworten, dass sie „einfach eine intuitive Differenzierung zwischen Phänomenen zum Ausdruck bringt, ohne dass damit eine bestimmte Theorie verbunden ist“68 . Wir sind in unserer alltäglichen Lebensbetrachtung intuitiv und ungeachtet dessen, ob es eine psychophysische Theorie gibt oder ob wir eine solche Theorie kennen oder verstehen, in der Lage, zwischen geistigen und physischen Entitäten zu unterscheiden. Das zeigt sich auch daran, „dass wir ein sicheres Gefühl im 66
Bieri, Peter: Analytische Philosophie des Geistes, Beltz Verlag, Weinheim und Basel, 2007, S. 2. 67
Ebenda.
68
Ebenda.
41
Umgang mit ihr [der Unterscheidung]69 haben, auch wenn wir nicht die Perspektive einer Theorie einnehmen [...]“70. Ein Zeichen dafür ist unsere Fähigkeit, von bestimmten Entitäten unserer Wirklichkeit in evidenter Weise sagen zu können, zu welchem Entitätenbereich sie gehören.71 Würde man einem Probanden die Aufgabe stellen, er solle beispielsweise jene Entitäten, die wir mit den Ausdrücken ‘Stuhl’, ‘Traum’, ‘Tisch’, ‘Angst’, ‘Freude’, ‘Atmung’, ‘Zorn’, ‘Muskel’, ‘Gedanken’ und ‘Gehirn’ bezeichnen, entweder dem Bereich des Psychischen oder dem Bereich des Physischen zuordnen, so würde ihm dies ohne große Probleme gelingen. Ein weiteres Indiz dafür, dass die Unterscheidung zwischen geistigen und physischen Entitäten tief in unsere alltägliche Lebenswelt eingebettet ist, ist die Tatsache, dass wir damit auch zum Ausdruck bringen wollen, dass alle geistigen Entitäten im Hinblick auf das »Material« aus dem sie sind von allen physischen Entitäten irgendwie verschieden sind. Wir begreifen die Wirklichkeit, in der wir leben, intuitiv als eine Wirklichkeit, in der es zwei voneinander verschiedene Arten von ontologischen Entitäten gibt (geistige und körperliche). Zu diesem intuitiven Wirklichkeitsverständnis gehört es auch, dass wir keinen Moment daran zweifeln, dass es Träume gibt, dass unsere Gedanken nicht dasselbe sind wie die Bäume im Garten des Nachbarn, dass die Bäume in Nachbars Garten nichts anderes sind als physische, körperliche Gegenstände und, ganz wesentlich, dass unser Geist im Stande ist, unsere Handlungen zu lenken72 , d.h., dass unsere mentalen Zustände einen kausalen Einfluss auf den Zustand der Welt haben (Geist69
Eine Anmerkung des Verfassers dieser Abhandlung (kurz: Anmerkung), die innerhalb eines wortwörtlichen Zitats hinzugefügt wird, wird stets durch eckige Klammern und erläuternde Fußnoten gekennzeichnet. 70
Bieri, Peter: Analytische Philosophie des Geistes, Beltz Verlag, Weinheim und Basel, 2007, S. 2. 71
Vgl. Bieri, Peter: Analytische Philosophie des Geistes, Beltz Verlag, Weinheim und Basel, 2007. 72
Man spricht in diesem Kontext häufig von mentaler Verursachung. „Mentale Verursachung ist ein integraler Bestandteil unseres »manifesten Bilds« der Wirklichkeit. Wir scheinen gar nicht anders zu können als uns als eigenverantwortlich und frei handelnde Akteure zu verstehen die [...] ihr Handeln durch den Verweis auf ihre Wünsche, Wahrnehmungen und Absichten kausal erklären können.“ (Walter, Sven: Mentale Verursachung, Mentis, Paderborn, 2006, S. 12 f.)
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Körper-Zusammenhang). Das ist sozusagen das Fundament unseres alltäglichen Welt- und Selbstverständnisses. Wir können uns eine Welt, in der es keinen Geist gibt, prinzipiell nicht vorstellen.73 Ebenso wenig können wir uns eine Welt vorstellen (wenngleich die Vorstellung dieser Welt zumindest im Prinzip möglich ist), in der Träume dasselbe sind wie Stühle, Bäume oder Gehirne, oder in der physische Gegenstände geistig sind oder in der unser Handeln von unserem Denken unabhängig ist. Stellen wir uns nun die Frage, wie die Alltagsrealität in dieser Hinsicht philosophisch gedacht werden kann, dann stoßen wir auf ein Bündel von Problemen, das wir bekanntermaßen mit dem Ausdruck ‘psychophysisches Problem’ bezeichnen. Ich behaupte daher: Wenn das psychophysische Problem tatsächlich darin besteht, die Existenz geistiger und materieller Entitäten sowie deren Verhältnis zueinander auf theoretisch befriedigende Art und Weise zu erfassen, dann gibt es für dieses Problem keinen anderen Anfangsgrund als das Wirklichkeitsmodell des Commonsense. Wesentlich hierfür ist die ontologische Dichotomie der Wirklichkeit, die unserer Alltagsrealität fundamental inhärent ist. Sie gehört zweifelsfrei zu jener nicht hinterfragten Voraussetzung, auf der die Konstanz der Lebenspraxis beruht und in welcher der Ursprung des psychophysischen Problems gesehen werden muss. Zusammengefasst: Ohne die zumindest vorläufige Akzeptanz des Commonsense-Dualismus lässt sich das psychophysische Problem weder denken noch formulieren. Sobald man es nämlich denkt oder formuliert, hat man die Differenzierung in psychische und physische Entitäten bereits vollzogen. 74
73
Jede Vorstellung einer Welt, in der es keinen Geist gibt, ist die Vorstellung eines Geistes, und jeder Versuch, den Geist aus dieser Vorstellung zu eliminieren, eliminiert die Vorstellung selbst. Es ist uns daher unmöglich, eine Welt vorzustellen, in der das, was vorstellt (der Geist), nicht existiert. Woraus natürlich nicht folgt, dass es keine geistlose Welt geben kann. 74
Aus alldem folgt natürlich nicht, dass es sich mit Notwendigkeit so verhält, wie es sich zu verhalten scheint. So wie man z.B. einer Wahrnehmungstäuschung unterliegen kann, kann man sich auch in der intuitiven Evidenz über die Beschaffenheit der Wirklichkeit täuschen. Das philosophische Bemühen ist daher unter anderem der Versuch, auf theoretischem Weg herauszufinden, ob es sich tatsächlich so verhält, wie es der Commonsense problemlos zu denken vermag.
43
2.2.1.2 Theoretische Implikationen des Commonsense-Dualismus Der intuitive Dualismus des Commonsense ist der Anfangsgrund des psychophysischen Problems. So weit so gut. Man kann aber berechtigterweise fragen, ob der bisher vorliegende Befund hinreicht, um das psychophysische Problem zu konstatieren. Es ist nämlich nicht ohne weiteres einzusehen, warum der Commonsense-Dualismus, also die Unterscheidung von geistigen und physischen Entitäten, gleichsam ein philosophisches Problem dieser Größenordnung darstellt. Aufklärung darüber bringt eine Analyse seiner theoretischen Implikationen. „Diese Implikationen werden sichtbar, wenn man die Frage nach der Funktion der Unterscheidung durch die Frage nach ihren Merkmalen ergänzt.“75 Hier zeigen sich vier Merkmale von besonderer Bedeutung: 1)Das Kontrast-Merkmal: Die Unterscheidung ‘physisch-geistig’ bringt einen Kontrast zum Ausdruck, „vergleichbar mit kontrastierenden Klassifikationen, wie ‘dunkel-hell’, ‘laut-leise’ oder ‘schön-hässlich’“76 . Kontrastierende Klassifikationen werden durch korrelative Ausdrücke ausgedrückt. Das sind solche Ausdrücke, die ihre Bedeutung erst im Kontrast zu anderen, ihnen korrelierenden Ausdrücken gewinnen. ‘Hell’ beispielsweise gewinnt seine Bedeutung erst durch den Kontrast mit ‘dunkel’ und ‘laut’ erst durch den Kontrast mit ‘leise’. Ähnlich verhält es sich auch mit den Ausdrücken ‘geistig’ und ‘physisch’. Der Ausdruck ‘geistig’ gewinnt seine Bedeutung erst im Kontrast mit dem Ausdruck ‘physisch’. Das bedeutet: Wann immer wir von dem Einen reden, ist das jeweils Andere bereits vorausgesetzt. 2)Das Universalitäts-Merkmal: Dieses Merkmal besagt ganz einfach, dass es keine Entitäten gibt, die wir nicht als geistige oder physische Entitäten klassifizieren können. „Jedes Phänomen ist entweder mental oder physisch.“77 75
Bieri, Peter: Analytische Philosophie des Geistes, Beltz Verlag, Weinheim und Basel, 2007, S. 2. 76
Ebenda.
77
Ebenda.
44
3)Das Exklusivitäts-Merkmal: Es ist nämlich nicht nur so, daß jedes Phänomen entweder mental oder physisch ist. Es gehört zur dualistischen Intuition, daß sich der mentale und der physische Phänomenbereich wechselseitig ausschließen. Phänomene die dunkel, laut oder hässlich sind, können hell, leise oder schön werden. Der Gedanke dagegen, daß etwas Unzeitliches jemals zeitlich oder etwas Allgemeines jemals einzeln werden könnte, ergibt keinen Sinn. Und ebenso kann kein Phänomen, das einmal mental ist, jemals physisch werden oder umgekehrt. Es gehört zur Bedeutung dieser Unterscheidung, daß etwas, das einmal als mental oder physisch gilt, dies bleibt solange es existiert. Ein und dasselbe Phänomen kann im Rahmen dieser Unterscheidung nicht verschieden klassifiziert werden. Es gibt keine Übergänge oder Abstufungen oder graduellen Unterschiede.78
4) D a s I n t e r a k t i o n s m e r k m a l : D i e s e s M e r k m a l i s t f ü r d a s Wirklichkeitsmodell des Commonsense grundlegend, denn es besagt, dass Geistiges zu Körperlichem in einem interaktionistischen Verhältnis steht. Das heißt, dass es eine ontologische Beziehung zwischen beidem gibt. Diese Beziehung drückt sich in dem folgenden Sachverhalt aus: Wenn ich mit Ihnen spreche, dann mache ich zuallererst bestimmte Geräusche, die physikalische Ereignisse sind [...], die Sie mit Hilfe ihrer Ohren erkennen können, die als Detektoren von Druckwellen funktionieren. Aber sie erkennen nicht nur diese Wellen, Sie dekodieren sie: Sie hören Klänge mit einer Bedeutung. Die physikalischen Wellen tragen eine Bedeutung zu Ihnen [...]: Sie besitzen Signifikanz - sie könnten Sie zum Nachdenken bringen [...]. Folgen wir dem berühmten französischen Philosophen René Descartes, [...] dann beeinflusst mein Geist jetzt meinen Körper, der dann physikalische Klänge produziert. Diese haben ihrerseits einen Einfluss auf Ihren Körper, das heißt, auf Ihre Ohren, und dann beeinflusst Ihr Körper Ihren Geist und bringt Sie zum Nachdenken.79
Kontrast-, Universalitäts-, Exklusivitäts-, und Interaktionsmerkmal bilden zusammen die theoretischen Implikationen, die das psychophysische Problem konstituieren. Warum das so ist, das lässt sich jetzt einfach 78
Bieri, Peter: Analytische Philosophie des Geistes, Beltz Verlag, Weinheim und Basel, 2007, S. 3 f. 79
Popper, Karl R.: In Defence of Interaction, Routledge, London und New York, 1994, in: Metzinger, Thomas: Das Leib-Seele-Problem, Mentis, Paderborn, 2007, S. 39.
45
darstellen: Das Wirklichkeitsmodell des Commonsense ist das Bild einer Wirklichkeit, in der zwei wesensverschiedene ontologische Arten von Entitäten existieren, zwischen denen es einen ontologischen Zusammenhang gibt und die durch zwei verschiedene Arten von Prädikaten (mentale und physische Prädikate) beschrieben werden.80 Zusammengefasst heißt das: Der Anfangsgrund des psychophysischen Problems findet sich im intuitiven ontologischen Dualismus der Alltagsrealität. Es konstituiert sich aufgrund der theoretischen Implikationen dieses Dualismus und man hat das Problem dann, wenn man entweder den Versuch unternimmt, eine philosophische Theorie eines Teils dessen zu entwerfen, was wir im Alltag für selbstverständlich erachten, d.h., wenn man den Versuch unternimmt, eine dualistische Theorie zu entwerfen, oder wenn man nicht bereit ist, eine dualistische Theorie als wahre Theorie über die Beschaffenheit der Wirklichkeit anzuerkennen. Anders formuliert: Das psychophysische Problem hat derjenige, der das Wirklichkeitsmodell des Commonsense in eine Theorie bringen will (Dualist), oder derjenige, der eine solche Theorie widerlegen will (Materialist und Idealist). Hinter dem psychophysischen Problem steht also vereinfacht gesagt die Frage, ob und wie wir die Alltagsrealität widerspruchsfrei in ein wissenschaftliches bzw. philosophisches Bild der Gesamtwirklichkeit integrieren können. 2.2.1.3 Theoriebildung, singuläre Wirklichkeit und Entitätendualismus Aus dem Vorliegenden lassen sich drei Postulate gewinnen, die für die Behandlung des psychophysischen Problems von Bedeutung sind: 1)Das Postulat der Theoriebildung: Zwar ist geklärt, dass der Anfangsgrund des Problems zum »Gedankengebäude« des Commonsense gehört, dennoch wird deutlich, dass der Commonsense kein psychophysisches Problem hat. Für den gesunden Menschenverstand ist die Unterscheidung zwischen Psychischem und Physischem nicht nur unproblematisch, sondern geradezu das evidente Fundament der Lebenspraxis, und dieses Fundament kann als solches 80
Es handelt sich hierbei um eine Teilanalyse der Commonsense-Implikationen. Vgl. Kapitel 3.
46
nicht unmittelbar Gegenstand einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung sein. Zum Gegenstand dieser Auseinandersetzung wird es nur über den Umweg der Theoriebildung. Das psychophysische Problem ist ja ein theoretisches Problem. Es besteht ausschließlich innerhalb des Vorhabens, eine mehr oder weniger umfassende Theorie, sei sie philosophischer oder auch naturwissenschaftlicher Art, über die Grundverfassung der Wirklichkeit zu entwerfen. Ohne die Beziehung zu einem solchen Vorhaben existiert es nicht. Weder für einen Biologen, der eine Theorie über das Verhalten von Fledermäusen schreibt, noch für einen Mathematiker, der das Problem der Goldbach’schen Vermutung lösen will, nicht für einen Philosophen, der John Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit studiert, und natürlich auch nicht für einen Bäcker, der sich mit der Herstellung von Brot beschäftigt. Das heißt aber nicht, dass wissenschaftliche Theorien, insbesondere eine Theorie des Geistes, gar keinen Einfluss auf das Denken des Commonsense ausüben können. Im Gegenteil, wissenschaftshistorisch zeigt sich, dass wissenschaftliche Entwicklungen immer wieder zu signifikanten Wendungen unseres Weltund Selbstverständnisses geführt haben. Man denke nur an die Newtonsche Mechanik oder Einsteins Relativitätstheorie. Der Weg zu diesen Wendungen führte aber immer über den Umweg der Theoriebildung. 2)Das Postulat der singulären Wirklichkeit: Das psychophysische Problem besteht nur innerhalb von Theorien, zu deren Satzmenge mindestens ein Satz gehört, der ausdrückt, dass die jeweilige Theorie Aussagen über psychische und physische Entitäten in ein und derselben Wirklichkeit macht. Wer etwa so wie Platon einen Weltendualismus81 vertritt, oder
81
Platon unterscheidet nicht zwischen zwei Arten von Entitäten, sondern zwischen zwei Arten von Welten: Die raumzeitliche Welt der Einzeldinge, die dem Werden und Vergehen unterworfen und der sinnlichen Wahrnehmung zugänglich sind, und die unveränderliche Welt der jenseits von Raum und Zeit existierenden Ideen, die das eigentlich Seiende darstellen und die nur durch Wiedererinnerung erfassbar sind. (Vgl. Platon Symposion 210a1-212a7)
47
wie Leibniz von Monaden82 spricht, der hat sicher gewisse philosophische Probleme, aber er hat kein psychophysisches Problem im eigentlichen Sinne. Die charakteristischen Schwierigkeiten des Problems, wie z.B. die mentale Verursachung83 oder die Integrierbarkeit subjektiver mentaler Zustände in ein objektives physisches Universum ergeben sich nirgendwo anders als in Theorien, die über eine singuläre Wirklichkeit quantifizieren. 3)Das Postulat vom ausgeschlossenen Dritten84 : Über die Voraussetzung einer singulären Wirklichkeit hinaus müssen wir außerdem voraussetzen, dass es in dieser Wirklichkeit keine Entitäten einer dritten ontologischen Art gibt. Gäbe es solche Entitäten, d.h. gäbe es Entitäten, die nichtpsychisch und nicht-physisch sind, sondern einem eigenständigen dritten Bereich des Wirklichen angehören, so könnten wir ganz offensichtlich nicht von einem Problem sprechen, das einen Bereiche-Dualismus voraussetzt.85
82
Für Leibniz existieren nicht nur zwei Arten von Welten, sondern eine Vielzahl von Welten (die so genannten Monaden). Für ihn ist nämlich jede Substanz eine isolierte Welt, die nur ihren eigenen Gesetzen folgt und die keinerlei ontische Beziehung zu anderen Welten unterhält. (Vgl. Von Kutschera, Franz: Die Wege des Idealismus, Mentis, Paderborn, 2006) 83
Das Problem der mentalen Verursachung besteht darin zu zeigen, wie es möglich ist, dass etwas Psychisches etwas Physisches verursacht. 84
Mit dem Postulat des ausgeschlossenen Dritten, ist nicht Aristoteles’ ontologischer Satz vom ausgeschlossenen Dritten gemeint. 85
Natürlich können wir (sofern es uns gelingt) eine Theorie entwerfen, zu deren Satzmenge der Satz ‘Es gibt Entitäten der Art x und Entitäten der Art y und Entitäten der Art z’ gehört. Doch in dieser Theorie haben wir es nicht mehr mit dem psychophysischen Problem zu tun.
48
2.2.2 Das psychophysische Problem und eine genaue Analyse der Problemstellung In der Philosophie, oder besser gesagt bei den meisten Philosophen gibt es eine Art intuitives Verstehen dessen, worin das psychophysische Problem besteht. Ein Eindruck, den der Beginn dieser Arbeit bestätigt. Das liegt vermutlich daran, dass die Beziehung von Körper und Geist immer schon ein wichtiges Problem der Philosophie war. Ein Umstand, der sich natürlich auch in der Literatur widerspiegelt, vor allem in der neueren. Dort wird ganz allgemein davon gesprochen, dass das psychophysische Problem, das Problem vom Verhältnis oder dem Zusammenhang zwischen unserem Gehirn und unserem Geist sei, oder zwischen unserem Körper und unserem Geist, oder zwischen unserem Gehirn und unserem Bewusstsein, oder zwischen körperlichen und mentalen Phänomenen, oder zwischen Leib und Seele, oder zwischen Psychischem und Physischem. 86 Zwar unterscheiden sich die einzelnen Formulierungen in Genauigkeit und Umfang, dennoch ist auffällig, dass das psychophysische Problem in den meisten Fällen, als Verhältnis- oder Zusammenhangsproblem bestimmt wird.87 Eine Bestimmung, die vereinfacht gesagt ausdrückt, dass es irgendwelche Verhältnisse oder Zusammenhänge zwischen Psychischem und Physischem gibt und dass jedes Verhältnis, egal welches, oder jeder Zusammenhang, egal welcher, ein Problem aufwirft. Es stellt sich aber dennoch die Frage, ob das eine hinreichende Analyse ist oder ob es nicht von Vorteil wäre genauer anzugeben, was es heißt, dass das psychophysische Problem ein Verhältnis- oder Zusammenhangsproblem ist. Ich sehe nämlich drei Schwierigkeiten: Erstens ist anzunehmen, dass der Gegenstandsbereich einer Theorie zum psychophysischen Problem 86
Vgl. Sturma, Dieter: Philosophie des Geistes, Reclam, Leipzig, 2005; Beckermann, Ansgar: Analytische Einführung in die Philosophie des Geistes, Gruyter, Berlin, 2008; Von Kutschera, Franz: Philosophie des Geistes, Mentis, Paderborn, 2009; Schlicht, Tobias: Erkenntnistheoretischer Dualismus, Mentis, Paderborn, 2007; Spät, Patrick: Die Zukunft der Philosophie des Geistes, Mentis, Paderborn, 2008. 87
Der Grad der Übereinstimmung und die Tatsache, dass es sich bei den untersuchten Werken um anerkannte philosophische Publikationen handelt, können als gute Gründe für die Plausibilität der Annahme gelten, dass das psychophysische Problem tatsächlich ein Verhältnis- oder Zusammenhangsproblem ist.
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verschiedene Umfänge aufweist, je nachdem, auf welchen Zusammenhang von Entitäten sich die Theorie bezieht.88 Beispielsweise wird eine Theorie über den Zusammenhang zwischen unserem Gehirn und unserem Geist recht wahrscheinlich keine Aussagen darüber machen, wie Stühle mit mentalen Zuständen außerirdischer Wesen zusammenhängen. Dennoch können Aussagen darüber zu einer Theorie gehören, die sich auf einen anderen, möglicherweise weiteren Zusammenhang von Entitäten bezieht. Zweitens ist unklar, was genau unter einem Zusammenhang verstanden wird. Zwar finden sich in der Literatur bestimmte Charakterisierungen hierfür, doch eine Explikation, was ganz allgemein unter einem Zusammenhang von Entitäten im Kontext des psychophysischen Problems verstanden werden kann, fehlt.89 Und drittens weiß man nicht, ob von ontologischen, erkenntnistheoretischen oder anderen Zusammenhängen gesprochen wird. Ich werde die Schwierigkeiten dadurch beheben, dass ich erstens den Zusammenhang angebe, auf den ich mich beziehe, zweitens angebe, was ich unter einem Zusammenhang verstehe und drittens sage, welche methodischen Implikationen gegeben sind. Somit beantworte ich auch die Frage, worin das psychophysische Problem genau besteht. 2.2.2.1 Psychisches und Physisches - Zusammenhang und Gegenstandsbereich Wenn das psychophysische Problem ein Zusammenhangsproblem ist und wenn es verschiedene Zusammenhänge gibt, die das Problem charakterisieren, dann muss man angeben, auf welchen Zusammenhang man sich (im Speziellen) bezieht, um genauer sagen zu können, welches Problem man vor sich hat. In meinem Fall handelt es sich um den Zusammenhang zwischen dem Bereich des Psychischen und dem Bereich des Physischen. Das ist der weiteste Zusammenhang, auf den man sich beziehen kann. Die Frage, welches Problem das psychophysische Problem
88
Im Sinne einer besseren Lesbarkeit spreche ich in weiterer Folge nur noch von Zusammenhängen oder Zusammenhangsproblemen. 89
Bei der Fülle an Literatur ist es unmöglich, sämtliche Werke zu diesem Thema durchzusehen. D.h. es ist nicht auszuschließen, dass es Literatur gibt, in der eine explizite Formulierung vorgenommen wird.
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ist, lässt sich nun vorläufig (und unter Berücksichtigung des bisher Gesagten) so beantworten: P190 : Das psychophysische Problem ist das Problem einer Theorie über den Zusammenhang zwischen dem Bereich des Psychischen und dem Bereich des Physischen, als Bereichen in ein und derselben Wirklichkeit. Mit dieser Antwort lässt sich zudem der Gegenstandsbereich des psychophysischen Problems bestimmen. Entsprechend dem angegebenen Zusammenhang gehören die mentalen Zustände außerirdischer Wesen ebenso zum Gegenstandsbereich wie die Bewusstseinsphänomene eines Menschen oder die geistigen Aktivitäten einer Fledermaus. Genauso gehören Stühle, Gehirne, Steine oder irgendwelche andere Körper zum Gegenstandsbereich und auch alle Beziehungen zwischen psychischen und physischen Entitäten. Es gehört schlechthin alles zum Gegenstandsbereich, das entweder psychischer oder physischer Natur ist.91 An dieser Stelle sei noch einmal darauf hingewiesen, dass objektive geistige Entitäten, wie Theorien, Mengen oder Zahlen, die nach P1 ebenso zum Gegenstandsbereich gehören, nicht berücksichtigt werden. Nichtsdestoweniger handelt es sich aber beim Zusammenhang zwischen dem Bereich des Psychischen und dem Bereich des Physischen um einen Zusammenhang zwischen zwei fundamentalen Bereichen des Wirklichen, denn es gibt keine Entitäten in der Welt, die nicht dem einen oder dem anderen Bereich angehören. Dass Psychisches und Physisches darüber hinaus als fundamentale ontologische Arten des Wirklichen gedacht werden, ist zwar im Moment eine ontologische Annahme, die aber aus den zuvor erläuterten Gründen, methodisch notwendig ist. Wir haben ja gesagt, dass das psychophysische Problem nur dann besteht, wenn wir Annehmen, dass es Psychisches und Physisches gibt und sonst nichts.92 Darüber hinaus 90
‘P’ sei in diesem Fall, und in den Fällen P2-P5, als Abkürzung für den Ausdruck ‘Problem’ gebraucht. Die Ziffern bezeichnen die verschiedenen Versionen. 91
Welche Entitäten psychische und welche physische sind, oder anders formuliert, aufgrund welcher Kriterien die einzelnen Entitäten den jeweiligen Bereichen zugeordnet werden können, ist noch zu klären. 92
Vgl. 2.2.1.1 Der intuitive Dualismus des Commonsense als Anfangsgrund. Vgl. 2.2.1.2 Theoretische Implikationen des Commonsense-Dualismus.
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zeigt sich: Wenn man sich auf diesen weiten Zusammenhang bezieht, dann sind die Gegenstandsbereiche der genannten anderen Zusammenhänge stets Subsumtionen des Gegenstandsbereichs dieses Zusammenhangs. Dennoch muss man sagen, dass in der zeitgenössischen Debatte des psychophysischen Problems der ganz allgemeine Zusammenhang zwischen Psychischem und Physischem nicht der prominenteste ist. Vielmehr ist es der besondere Zusammenhang von Geist und Gehirn, der sich für die meisten Philosophen und Naturwissenschaflter als außerordentlich interessant erweist. Der Grund hierfür liegt vermutlich darin, dass die Wahrscheinlichkeit hoch ist, dass Psychisches und Physisches (wenn überhaupt) nur in Form von Geist und Gehirn in unmittelbarer Beziehung stehen kann. Insofern werden sich auch die von mir durchgeführten Untersuchungen zum größten Teil auf diesen besonderen Zusammenhang konzentrieren. Doch warum wurde dann der allgemeine Zusammenhang zwischen Psychischem und Physischem als Gegenstandsbereich der vorliegenden Arbeit herausgestrichen und nicht der besondere zwischen Geist und Gehirn? Die Antwort ist einfach: Der andauernde Blick auf das Allgemeine ist für die Analyse eines so komplexen Problems wie des psychophysischen unverzichtbar. Das heißt: Das Besondere muss zum Allgemeinen in ein Verhältnis gesetzt werden, denn Aussagen, die innerhalb des Besonderen plausibel sind, haben im Allgemeinen oft absurde Konsequenzen. Die Philosophie als die Wissenschaft von den allgemeinsten Prinzipien und der letzten Gründe muss diese Konsequenzen berücksichtigen und thematisieren. Die Analyse von Zusammenhang und Gegenstandsbereich erlaubt nun auch eine verbesserte Formulierung von P1: P2: Das psychophysische Problem ist das Problem einer Theorie über den Zusammenhang zwischen dem ontologischen Bereich des Psychischen und dem ontologischen Bereich des Physischen, als Bereichen in ein und derselben Wirklichkeit.
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2.2.2.2 Psychisches und Physisches - Relationen von Entitäten Obwohl aus der Literatur nicht klar hervorgeht, was genau unter einem Zusammenhang zu verstehen ist, so liegt es dennoch nahe, unter einem Zusammenhang eine Relation im klassischen wissenschaftlichen Sinn zu verstehen. Unabhängig davon, was damit erreicht ist, lässt sich über das psychophysische Problem als Relationsproblem, zunächst ganz allgemein, folgendes sagen: Charakterisiert man das Problem als Relationsproblem, dann setzt man implizit voraus, dass mindestens zwei Arten von Entitäten existieren, zwischen denen eine Relation bestehen kann.93 Das Bestehen einer Relation R ist nämlich logisch abhängig von der Existenz mindestens zweier Entitäten, zwischen denen R besteht. Das liegt daran, dass das Relationsprädikat ein zweistelliges Prädikat ist. Es macht keinen Sinn zu sagen: x steht in Relation. Hingegen ist es sinnvoll zu sagen: x steht in Relation zu y. R besteht also dann und nur dann, wenn x-Entitäten und yEntitäten existieren, zwischen denen R besteht. Welche Arten von Entitäten in unserem Fall Einsetzungsinstanzen für x und y sind, lässt sich einfach sagen: psychische und physische. Die Annahme, dass psychische und davon verschiedene physische Entitäten existieren, ist ja der Anfangsgrund des psychophysischen Problems schlechthin.94 Wir haben es also ganz offensichtlich nicht nur mit einem Relationsproblem zu tun, sondern auch mit einem Existenzproblem.95 Darüber hinaus liegt der besonderer Vorteil, Zusammenhänge als Relationen von Entitäten aufzufassen, darin, dass der Relationsbegriff ein wissenschaftlich sauber definierter Begriff ist und man daher über Relationen präzise formale Aussagen machen kann. Das ist vor allem bei der späteren Analyse von Relationstheorien hilfreich. Das Gesagte führt nun auch zu einer Erweiterung von P2 also zu P3:
93
Zum Zweck der einfacheren Analyse wird der Sonderfall der Identitätsrelation für diesen Zeitpunkt der Untersuchungen ausgeschlossen. Die Identitätsrelation kann sinnvollerweise erst später thematisiert werden. 94
Vgl. 2.2.1, Der Entstehungszusammenhang des psychophysischen Problems.
95
Das Existenzproblem wird in 2.2.2.4 thematisiert.
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P3: Das psychophysische Problem ist das Problem einer Theorie über die Relation R zwischen dem ontologischen Bereich des Psychischen und dem ontologischen Bereich des Physischen als Bereichen in ein und derselben Wirklichkeit. 2.2.2.3 Das psychophysische Problem als Relationsproblem Eine sehr einfache Formulierung dessen, was man unter dem psychophysischen Problem als Relationsproblem verstehen kann, lautet in Anlehnung an die Formulierung aus 2.2.2: Es gibt irgendwelche Relationen96 zwischen dem Bereich des Psychischen und dem Bereich des Physischen, und jede Relation, egal welche, verursacht ein Problem. Das ist zwar eine mögliche Antwort, dennoch ist sie unbefriedigend. Um also in der Frage nach dem Wesen des psychophysischen Problems voranzuschreiten, gilt es einerseits zu reflektieren, welche Relationen man zwischen dem Bereich des Psychischen und dem Bereich des Physischen aufweisen kann, und andererseits festzustellen, welche Probleme dadurch entstehen. Zunächst kann man sagen, dass sich ganz grundsätzlich zwei Arten von Relationen unterscheiden lassen, die zwischen Psychischem und Physischem angenommen werden können: Ontologische Relationen und semantische Relationen. In beiden Fällen gibt es aber vielfältige Varianten, und so ist das psychophysische Problem als Relationsproblem ein je verschiedenes. Sucht man darüber hinaus nach einer »theoretischen Heimat« des Relationsproblems, so findet man es jedenfalls in den klassischen Grundpositionen. Nun aber zu einer genaueren Analyse der Relationen. Die ontologischen Relationen machen den Anfang, die semantischen Relationen folgen: 1)Die ontologischen Relationen sind: Symmetrierelation der Kausalität, Asymmetrierelation der Kausalität, Relation der indirekten Kausalität, P a r a l l e l re l a t i o n , S u p e r v e n i e n z re l a t i o n u n d o n t o l o g i s c h e Identitätsrelation.
96
Anstatt des Ausdrucks ‘Relation’ wird synonym auch der Ausdruck ‘Beziehung’ verwendet.
54
‣ Die Symmetrierelation der Kausalität beschreibt eine Beziehung zwischen dem Bereich des Psychischen und dem Bereich des Physischen, der zufolge bestimmte psychische Zustände bestimmte physische Zustände kausal verursachen und umgekehrt. Je nachdem, ob etwas Psychisches etwas Physisches verursacht oder ob etwas Physisches etwas Psychisches verursacht, spricht man entweder von »abwärtsgerichteter« K a u s a l i t ä t b z w. v o n m e n t a l e r Ve r u r s a c h u n g o d e r v o n »aufwärtsgerichteter« Kausalität. Die Kausalrelation in beide Richtungen ist sozusagen die dualistische Standardrelation, wie sie vor allem im Substanz- und Eigenschaftsdualismus diskutiert wird.97 Betrachten wir zunächst die abwärtsgerichtete Kausalität: Abwärtsgerichtete Kausalität oder „mentale Verursachung ist ein integraler Bestandteil unseres manifesten Bilds der Wirklichkeit“98 . Sie ist allgegenwärtig. Ein scharfer Schmerz lässt uns aufstöhnen, Angst lässt unser Herz schneller schlagen, die Erinnerung an eine peinliche Situation lässt uns erröten und die Wahrnehmung einer Freundin auf der anderen Straßenseite führt dazu, dass sich unser Arm zum Gruß hebt.99
Wir scheinen gar nicht anders zu können, als uns als Wesen zu begreifen, deren mentale Zustände den Verlauf bestimmter Ereignisse beeinflussen. Doch angesichts unserer physikalischen Erklärungsversuche des Wirklichen liegt die größte Schwierigkeit darin, verständlich zu machen, wie es mentale Verursachung überhaupt geben kann.100 Das von Peter Bieri formulierte Trilemma 101 soll zeigen, was gemeint ist. Nach Thomas Metzinger erlaubt es dieses Trilemma nämlich, klar zu sehen, „was es
97
Die Position zu dieser Relation nennt man Interaktionismus.
98
Walter, Sven: Mentale Verursachung, Mentis, Paderborn, 2006, S. 12.
99
a. a. O. S. 13.
100
Natürlich darf man dabei nicht außer Acht lassen, dass der Begriff der Ursache bereits im physikalischen Sinne und an sich problematisch ist, wie wir spätestens seit Hume wissen. 101
Unter einem Trilemma sei ein System aus drei Sätzen verstanden, an deren Wahrheit man festhalten will, von denen aber jeweils zwei Sätze die Falschheit des dritten Satzes implizieren.
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bedeutet, das Leib-Seele-Problem als Problem der psychophysischen Kausalität zu formulieren“102 : (1) Mentale Phänomene sind nicht-physische Phänomene. (2) Mentale Phänomene sind im Bereich physischer Phänomene kausal wirksam. (3) Der Bereich physischer Phänomene ist kausal geschlossen.103 Nehmen wir zunächst die Wahrheit von Satz (1) und Satz (2) an. Unsere traditionelle Sprechweise setzt voraus, dass eine Eigenschaft oder ein Zustand entweder mental oder physisch [ist] und dass es ein Drittes nicht gibt. Wir gehen davon aus, dass die begriffliche Unterscheidung zwischen geistigen und körperlichen Phänomenen exklusiv und erschöpfend ist, und warum sollten wir diese ohne Not ändern? Als Wesen, die sich für frei, vernünftig und moralisch halten glauben wir außerdem, dass es abwärtsgerichtete Kausalität gibt: Mentale Ereignisse [...] sind häufig im Bereich körperlicher Phänomene kausal wirksam, denn sie können physikalische Ereignisse determinieren. Dann aber ist Satz (3) falsch: Der physische Bereich ist nicht mehr kausal geschlossen - und dies würde bedeuten, dass wir eines der grundlegenden Prinzipien des wissenschaftlichen Weltbildes aufgeben müssen. Dieses Prinzip heißt methodologischer Physikalismus und ruht auf der Annahme, dass das physikalische Universum kausal geschlossen ist: Wenn ein physikalisches Ereignis zu einem bestimmten Zeitpunkt t eine Ursache hat, dann hat es zu t eine physikalische Ursache.104 Nehmen wir nun die Wahrheit der Sätze (2) und (3) an: Wenn wir daran festhalten, dass mentale Phänomene in der physischen Welt kausal wirksam sind, diese aber selbstgenügsam und in sich kausal geschlossen ist, dann müssen mentale Phänomene selbst physische Phänomene sein. Damit ist Satz (1) falsch. Wir können dann die kausale Wirksamkeit des Mentalen nur retten, wenn wir Materialisten werden. Nehmen wir nun die Wahrheit von (1) und (3) an, dann gibt es einen ontologisch autonomen Bereich des Mentalen und eine kausal selbstgenügsame physikalische Welt, aber wir müssen jetzt die Falschheit von Satz (2) in unser Weltbild integrieren: Wir 102
Metzinger, Thomas: Philosophie des Geistes; Das Leib-Seele-Problem, Mentis, Paderborn, 2007, S.14. 103
Bieri, Peter: Analytische Philosophie des Geistes, Beltz Verlag, Weinheim und Basel, 2007, S. 5. 104
Metzinger, Thomas: Philosophie des Geistes; Das Leib-Seele-Problem, Mentis, Paderborn, 2007, S.14.
56 täuschen uns darüber, dass es unsere Überzeugungen und Empfindungen, dass es Einsichten in bessere Argumente oder bewusst erlebte moralische Gefühle und Willensakte sind, die tatsächlich unser Verhalten kausal determinieren. Es gibt einen Geist und es gibt einen Körper, aber sie sind durch eine unüberbrückbare Kluft voneinander getrennt.105
Zusammengefasst heißt das: Wenn es mentale Verursachung gibt, dann ist der Bereich des Physischen nicht kausal geschlossen. Wenn er nicht kausal geschlossen ist, dann kann Physisches nicht vollständig physikalisch erklärt werden. Ist er doch kausal geschlossen, dann gibt es keine mentale Verursachung, und gibt es sie dennoch, dann kann Psychisches nichts anderes sein als Physisches. Aber egal, welche Alternative wir nun wählen, jede ist mit Blick auf unser alltägliches Weltund Selbstverständnis hochgradig kontraintuitiv, und immer haben wir es mit einer Reihe von außerordentlichen theoretischen Schwierigkeiten zu tun, die man zusammenfassend das psychophysische Problem nennen kann.106 Was für die mentale Verursachung gilt, das gilt auch für das Phänomen der aufwärtsgerichteten Kausalität: Ein Stein, der mir auf den Fuß fällt, verursacht Schmerzen, ein heftiger Stoß gegen den Kopf führt zu Bewusstlosigkeit und eine Schallwelle mit bestimmter Frequenz verursacht eine Tonwahrnehmung. Dass bestimmte Dinge in der physischen Welt bestimmte Dinge in unserem Geist verursachen, scheint ähnlich einsichtig zu sein wie das Umgekehrte. Doch obwohl die aufwärtsgerichtete Kausalität aus philosophischer Sicht weit weniger problematisch ist als die mentale Verursachung, ist die Beantwortung der Frage, wie aus Materiellem Geistiges werden kann (falls dies überhaupt möglich ist), ein schlechthin philosophisches Problem. Darüber hinaus ist es aber auch ein neurowissenschaftliches Problem. Es gibt nämlich nach wie vor keine empirischen Befunde für den Übergang von physischen Phänomenen in psychische Phänomene. Das heißt, man weiß nicht genau,
105
Metzinger, Thomas: Philosophie des Geistes; Das Leib-Seele-Problem, Mentis, Paderborn, 2007, S. 15. 106
Für Peter Bieri lässt sich das psychophysische Problem generell als Problem der mentalen Verursachung bestimmen. Im Sinne einer modernen Auffassung des Problems ist das möglich.
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wann, und vor allem nicht wie aus Gehirnprozessen mentale Phänomene werden.107 ‣ Die Asymmetrierelation der Kausalität beschreibt eine Beziehung zwischen dem Bereich des Psychischen und dem Bereich des Physischen, derzufolge psychische Zustände von physischen Zuständen kausal verursacht werden, jedoch nicht umgekehrt. Sie ist somit eine Kausalrelation in nur eine Richtung. 108 Mit Hilfe der Asymmetrierelation lässt sich der Zusammenhang von Psychischem und Physischem so interpretieren: Mentale Phänomene sind nichts anderes als kausal unwirksame Begleiterscheinungen der neuronalen Prozesse im Gehirn, und weil sie das sind, kann man sie in einer physikalischen Erklärung der Welt einfach ignorieren. Vor allem die empirischen Befunde Benjamin Libets werden heute für die Plausibilität der Asymmetrierelation ins Feld geführt.109 Aber so groß die empirische Evidenz dieser Befunde auch sein mag, die Annahme asymmetrischer Kausalität zwischen dem Bereich des Psychischen und dem Bereich des Physischen führt unweigerlich in Schwierigkeiten: Sie impliziert „nämlich, dass das gesamte Leben auf dieser Welt genauso ablaufen würde, wie es jetzt abläuft, wenn kein Mensch und kein Tier je bewusste Erlebnisse, Überzeugungen und Wünsche hätte. Und dies scheint zumindest hochgradig kontraintuitiv“110 . Die Idee, die Grundverfassung der Wirklichkeit auf der Grundlage der asymmetrischen Kausalität zu erklären, entspringt wohl dem Wunsch einiger Philosophen, eine philosophische Theorie zur Naturalisierung des Geistes vorzulegen, und zwar ähnlich dem, was in einigen naturwissenschaftlichen Strömungen, wie beispielsweise im methodologischen Behaviorismus, auf empirischem Weg versucht wird. Die Fruchtbarkeit einer philosophischen Theorie dieser Art wird aber davon abhängen, ob sie zeigen kann, wie aus rein Physischem rein 107
Vgl. Singer, Wolf: Philosophische Implikationen der Hirnforschung, Vortrag an der Universität Leipzig 2007, Auditorium Netzwerk, Müllheim/Baden, 2007. 108
Die Position zu dieser Relation nennt man Epiphänomenalismus.
109
Vgl. Libet, Benjamin: Mind Time, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 2005.
110
Beckermann, Ansgar: Analytische Einführung in die Philosophie des Geistes, Gruyter, Berlin, 2008, S. 47f.
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Psychisches wird und dass die Welt ohne mentale Phänomene identisch denselben Lauf nehmen würde wie mit ihnen. ‣ Die Parallelrelation beschreibt eine Beziehung zwischen dem Bereich des Psychischen und dem Bereich des Physischen, der zufolge bestimmten psychischen Zuständen bestimmte physische Zustände notwendig entsprechen und umgekehrt. Dabei handelt es sich jedoch um keine analytische oder nomologische Notwendigkeit, sondern um eine metaphysisch-theologische, die so genannte prästabilierte Harmonie.111 Gott hat es so eingerichtet, dass Zuständen im Körper Zustände im Geist entsprechen und umgekehrt, so wie ein Uhrmacher, der zwei Uhren synchronisiert, dafür sorgt, dass sie beide dieselbe Zeit anzeigen, ohne dass zwischen ihnen eine kausaler Zusammenhang bestünde.112
Die Annahme einer Parallelrelation zwischen Psychischem und Physischem wird heute nicht mehr diskutiert. Der Grund hierfür ist die Gottesprämisse. Gott ist sozusagen nicht mehr theoriefähig. Trotzdem ist diese Relation interessant, weil sie im Prinzip eine Lösung des BieriTrilemmas ermöglicht. Nimmt man sie an, so kann man zeigen, dass, wenn Satz (1) und (3) wahr sind, es nicht der Fall ist, dass es überhaupt keine Verbindung zwischen dem Bereich des Psychischen und dem Bereich des Physischen geben kann. ‣ Die Relation der indirekten Kausalität 113 beschreibt eine Beziehung zwischen dem Bereich des Psychischen und dem Bereich des Physischen, der zufolge bestimmte psychische Zustände anlässlich bestimmter physischer Zustände hervorgebracht werden und umgekehrt. Dieser Beziehung nach beruht der Zusammenhang zwischen Psychischem und Physischem weder auf direkter Kausalität noch auf der prästabilierten Harmonie, sondern darauf, „dass Gott jeweils anlässlich bestimmter Zustände im Körper, die entsprechenden Zustände im Geist hervorbringt bzw. anlässlich bestimmter Zustände im Geist die entsprechenden 111
Die Position zu dieser Relation nennt man Parallelismus.
112
Beckermann, Ansgar: Analytische Einführung in die Philosophie des Geistes, Gruyter, Berlin, 2008, S. 48. 113
Die Position zu dieser Relation nennt man Okkasionalismus.
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Zustände im Körper verursacht“114 . Für die Relation der indirekten Kausalität gilt dasselbe wie für die Parallelrelation und das BieriTrilemma. ‣ Supervenienzrelationen beschreiben Korrelationsbeziehungen zwischen dem Bereich des Psychischen und dem Bereich des Physischen, denen zufolge es eine Art analytische oder nomologische115 Entsprechung psychischer Eigenschaften bzgl. physischer Eigenschaften gibt. Die Grundidee ist dabei, dass sich eine Entität hinsichtlich einer supervenienten Eigenschaft nur dann ändern kann, wenn sich auch hinsichtlich der Basiseigenschaften eine Änderung vollzieht. Das heißt: Veränderungen im Bereich des Psychischen werden stets von entsprechenden Veränderungen im Bereich des Physischen begleitet. 116 Kutschera formuliert das allgemeine Grundkonzept der Supervenienz folgendermaßen: „Eine Menge F von möglichen Eigenschaften der Objekte einer Menge U ist supervenient bzgl. der Menge G möglicher Eigenschaften der Objekte aus U, wenn jedem Unterschied von U-Objekten in ihren F-Eigenschaften ein Unterschied in ihren G-Eigenschaften entspricht.117
Da Supervenienzrelationen mit Mengen von Entitäten (Eigenschaften, Phänomene, Prozesse, Zustände usw.) operieren, liegt ihre größte Schwierigkeit darin, dass es die Menge aller psychischen Entitäten nicht gibt. Ist z.B. eine Menge von physikalischen Sachverhalten gegeben, so kann ich zu jedem von ihnen die Proposition bilden, dass eine bestimmte Person, sagen wir Eva, ihn glaubt bzw. nicht glaubt. Zu diesen Glaubenssachverhalten erster Stufe lassen sich dann solche zweiter Stufe bilden, solche, dass Eva glaubt, dass sie einen der physikalischen Sachverhalte glaubt, oder dass sie glaubt ihn zu glauben, falls eine anderer physikalischer Sachverhalt besteht. Die Konstruktion 114
Beckermann, Ansgar: Analytische Einführung in die Philosophie des Geistes, Gruyter, Berlin, 2008, S. 48. 115
Nomologisch: Auf Naturgesetze bezogen bzw. durch ein Naturgesetz begründet oder beschrieben. 116
Es ist wichtig darauf hinzuweisen, dass Supervenienzrelationen keine kausalen Abhängigkeiten beschreiben. 117
Von Kutschera, Franz: Philosophie des Geistes, Mentis, Paderborn, 2009, S. 142.
60 von Propositionen immer höherer Stufe lässt sich beliebig fortsetzen. Die Menge der Propositionen ist hier also nicht begrenzbar. Die Menge aller Propositionen[118] gibt es nicht. Nimmt man sie an, so gerät man sofort in Alfred Tarskis Antinomie der selbstanwendbaren Sätze. Für Propositionen lautet sie so: Eine universelle Proposition wie ‘Alles was Max sagt, ist falsch’ heiße »selbstanwendbar« genau dann, wenn das, was sie von allen Propositionen behauptet, auch auf sie selbst zutrifft - im Beispiel also, wenn, falls Max sagt, alles was er sage, sei falsch, auch diese Aussage selbst falsch ist. Ist die Propositionen, alle Propositionen seien nicht selbstanwendbar, nun selbstanwendbar? Ist sie selbstanwendbar, so ist sie es ihrem Inhalt nach nicht; ist sie hingegen nicht selbstanwendbar, so ist sie es. Analoges gilt für Begriffe und Mengen. Auch die Gesamtheit der Begriffe und jene der Mengen lassen sich nicht begrenzen. Es gibt weder die Menge aller Begriffe noch die Menge aller Mengen.119
Ein Problem von Supervenienzrelationen ist auch die Frage nach dem informativen Gehalt solcher Relationen, denn was ist aus philosophischer Sicht damit erklärt, wenn man etwa sagt, dass mentale Phänomene mit bestimmten Gehirnprozessen korrelieren? ‣ Die ontologische Identitätsrelation beschreibt eine Beziehung zwischen psychischen und physischen Entitäten, für die das Identitätsprinzip von Wilhelm Leibniz gilt. Diesem Prinzip zufolge ist eine Entität x mit einer Entität y genau dann identisch, wenn x alle Eigenschaften mit y gemeinsam hat. Ist das der Fall, so handelt es sich um nur eine Entität. Jede Theorie der ontologischen Identität (und das ist erstaunlich) will zeigen, dass alle psychischen Entitäten mit einigen physischen Entitäten identisch sind und dass es deshalb nur eine Art von Entitäten gibt, nämlich physische. 120 Aber wie soll das möglich sein? „Identität ist [...] 118
Anmerkung: Propositionen sind in unserem Fall nichts anderes als psychische Entitäten. 119
Franz von Kutschera: Jenseits des Materialismus, in: Halbig, Christoph; Weidemann, Christian: Analytische Philosophie jenseits des Materialismus, LIT, Münster, 2005, S. 17. 120
Man muss idealerweise von einigen physischen Entitäten sprechen, weil man beispielsweise zeigen will, dass alle psychischen Entitäten mit Gehirnprozessen identisch sind; und Gehirnprozesse sind ja nur einige Elemente aus der Menge der physischen Entitäten.
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eine symmetrische Relation. Folgt dann nicht, daß, wenn mentale Phänomene mit bestimmten physischen Phänomenen identisch sind, einige physische Phänomene mental sind?“121 Anders ausgedrückt: Wenn wir zeigen können, dass alle psychischen Entitäten mit einigen physischen Entitäten identisch sind, dann zeigen wir ebenso, dass jedenfalls einige physische Entitäten mit einigen psychischen Entitäten identisch sind. Insofern könnte selbst eine gut begründete Theorie der Identität zwischen Psychischem und Physischem nichts darüber aussagen, von welcher ontologischen Natur die Entitäten nun tatsächlich sind um die es geht. Die Idee, das psychophysische Problem über eine Theorie der Identität zu lösen, beruht auf dem Problem der Integration des Mentalen in ein physisches Universum. Mentale Phänomene weisen bestimmte Charakteristika auf, wie etwa Intentionalität oder Subjektivität, die sie für eine physikalische Erklärung der Welt unbrauchbar machen. Könnte man aber zeigen, dass mentale Phänomene nichts anderes sind als physische Phänomene, so hätte man dieses Problem elegant gelöst. 2)Die semantischen Relationen: Im Gegensatz zu den ontologischen Relationen beziehen sich semantische Relationen nicht auf die Wirklichkeit selbst, sondern nur auf die sprachlichen Äußerungen über diese Wirklichkeit. 122 Zu den semantischen Relationen gehört die Reduktionsrelation und die semantische Identitätsrelation. ‣ Reduktionsrelationen sind Beziehungen zwischen Aussagen oder Theorien über Psychisches und Aussagen oder Theorien über Physisches, denen zufolge Aussagen oder Theorien über Psychisches auf Aussagen oder Theorien über Physisches reduziert werden können oder
121
Bieri, Peter: Analytische Philosophie des Geistes, Beltz Verlag, Weinheim und Basel, 2007, S. 42. 122
Natürlich sind auch sprachliche Äußerungen Teile der Wirklichkeit. Würde man sich jedoch mit einer semantischen Relation auf diese Teile beziehen, so hätte man es mit einer Metarelation zu tun. Sagt man nämlich mit einer Sprache über eine andere Sprache etwas aus, so ist es notwendig, zwischen Objektsprache und Metasprache zu unterscheiden.
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umgekehrt.123 Je nachdem, wie das geschehen soll, spricht man entweder von Theorienreduktion124 oder von der Übersetzung125 physikalischer Aussagesätze in psychologische oder umgekehrt. Der materialistische Reduktionismus zielt darauf ab, zu zeigen, dass eine psychische Beschreibung der Welt redundant ist, d.h., dass eine physikalische Beschreibung der Welt ohne den Verlust wesentlicher Informationen auf eine psychologische Beschreibung verzichten kann.126 Sein Pendant, der idealistische Reduktionismus, zielt darauf ab, zu zeigen, dass sich „alles Physische durch Sinnesdaten und ihre Attribute definieren“127 lässt. Nun gibt es aber jedenfalls zwei Schwierigkeiten für Reduktionen dieser Art: Die erste und ungleich größere Schwierigkeit besteht darin, zu zeigen, dass es möglich ist, jede Theorie oder jeden Satz über Psychisches in eine Theorie oder einen Satz über Physisches, oder umgekehrt, zu überführen. Die zweite Schwierigkeit besteht darin, den Übergang von den semantischen Entitäten (das sind die Aussagesätze oder Theorien) auf die ontologischen Entitäten zu rechtfertigen128 , also Gründe dafür anzugeben, warum man darin gerechtfertigt ist, von der Reduktion eines psychologischen Aussagesatzes oder einer psychologischen Theorie auf 123
Die Positionen zu dieser Relation nennt man „semantischer Physikalismus“ bzw. „Phänomenalismus“. 124
„Man sagt, eine Theorie T sei auf die Theorie T" reduzierbar, wenn sich die Grundterme von T so durch solche von T" definieren lassen, dass die Prinzipien von T mit Hilfe dieser Definitionen in Theoreme von T" übergehen.“ (Von Kutschera, Franz: Philosophie des Geistes, Mentis, Paderborn, 2009, S. 141) 125
Darunter versteht man: „Jeder psychologische Satz S kann in einen Satz der physikalischen Sprache übersetzt werden, d.h. zu jedem psychologischen Satz S gibt es einen bedeutungsgleichen Satz S" der physikalischen Sprache.“ (Beckermann, Ansgar: Analytische Einführung in die Philosophie des Geistes, Gruyter, Berlin, 2008, S.65) 126
Vgl. Beckermann Ansgar: Analytische Einführung in die Philosophie des Geistes, Gruyter, Berlin, 2008, S. 64, zit. nach: Carnap, Rudolf: Psychologie in physikalischer Sprache, 1956, 1932b, S. 107f. 127 128
Von Kutschera, Franz: Philosophie des Geistes, Mentis, Paderborn, 2009, S. 179.
Auf diese Schwierigkeit stößt man aber nur dann, wenn man die erste Schwierigkeit überwinden konnte.
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einen physikalischen Aussagesatz oder eine physikalische Theorie, oder umgekehrt, darauf zu schließen, dass Psychisches, ontologisch gesehen, im Grunde nichts anderes ist als Physisches oder Physisches nichts anderes ist als Psychisches. Genau das muss nämlich aus philosophischer Sicht der Fall sein, damit mentale Phänomene in eine physikalische Ontologie integriert werden können oder umgekehrt. Die Gültigkeit dieses Schlusses ist aber nicht ohne weiteres einzusehen, denn es wäre in etwa so, als würde man einen Satz der englischen Sprache in einen Satz der deutschen Sprache überführen und dann daraus schließen, dass die englische Sprache im Grunde nichts anderes ist als die deutsche Sprache. »Engländer und Deutsche würden protestieren.« Natürlich könnte man sagen, dass Englisch im Prinzip nichts anderes ist als Deutsch, denn beides sind Sprachen, genauso wie man im Fall von Reduktionen sagen könnte, beides sind Entitäten, aber damit ist niemandem geholfen. Es ist daher denkbar, dass wir zwar alle mentalen Ausdrücke in physische Ausdrücke, oder umgekehrt alle physischen Ausdrücke in psychische Ausdrücke übersetzen können, so wie es denkbar ist, dass wir alle Sätze der englischen Sprache in Sätze der deutschen Sprache übersetzen können, dass wir es aber dennoch mit Entitäten verschiedener ontologischer Art zu tun haben, so wie wir es mit verschiedenen Sprachen zu tun haben. ‣ Die semantische Identitätsrelation beschreibt eine Beziehung zwischen den Ausdrücken, durch die wir uns auf Psychisches und Physisches beziehen, der zufolge mentale Ausdrücke eine von physischen Ausdrücken verschiedene Intension haben können, aber nichtsdestoweniger identisch dasselbe bezeichnen, d.h, dass sie dieselbe Extension haben.129 Die Grundüberlegung der semantischen Identität ist die folgende: Der Schluss von verschiedenen Beschreibungsebenen auf die Existenz verschiedener Arten ontologischer Entitäten ist falsch. Anders formuliert: Zwar gibt es für einige Entitäten im Universum verschiedene Beschreibungsebenen, und die Beschreibungen der einzelnen Ebenen können auch verschiedene Bedeutungsinhalte haben, doch im Grunde handelt es sich bei den beschriebenen Entitäten um
129
Die semantische Identitätsrelation zeigt sich in einer Spielart der Identitätstheorie.
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dieselben Entitäten. Das es sich um dieselben Entitäten handelt, ist das, „was in einer empirischen Entdeckung entdeckt wird“130 . Zusammenfassend kann man sagen, dass das psychophysische Problem als Relationsproblem darin besteht, eine ontologische oder semantische Relation aufzuweisen, die es erlaubt, den Bereich des Psychischen und den Bereich des Physischen als ontologische Bestandteile der Wirklichkeit131 in eine Theorie derselben einzubetten. Daraus ergibt sich P4: P4: Das psychophysische Problem ist das Problem einer Theorie über eine ontologische oder semantische Relation R zwischen dem ontologischen Bereich des Psychischen und dem ontologischen Bereich des Physischen, als Bereichen in ein und derselben Wirklichkeit. 2.2.2.4 Das psychophysische Problem als Existenzproblem Der Ursprung des psychophysischen Problems als Existenzproblem, liegt nahe an seinem Anfangsgrund. Es ist der intuitive Dualismus unserer Alltagsrealität, dem zufolge disjunkte Arten von Entitäten existieren, nämlich Psychisches und Physisches. Die ontologische These zu dieser Intuition lautet: T1) Es gibt Psychisches und es gibt Physisches und Psychisches ist von Physischem gänzlich verschieden. Aber auch, wenn T1 intuitiv plausibel ist, und auch wenn wir die Wahrheit von T1 voraussetzen mussten, um überhaupt sinnvoll über das psychophysische Problem sprechen zu können, so sind Intuition und Plausibilität dennoch etwas anderes, als theoretische Stringenz. Die Frage lautet daher: Ist T1 eine wahre Aussage über die »Ausstattung« der Wirklichkeit mit bestimmten ontologischen Arten von Entitäten? Was die physischen Entitäten betrifft, so scheint dies zuzutreffen. Wer zweifelt denn 130
Bieri, Peter: Analytische Philosophie des Geistes, Beltz Verlag, Weinheim und Basel, 2007, S. 38. 131
Es handelt sich hierbei natürlich immer um das Wirklichkeitsmodell des Commonsense.
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heute noch ernsthaft an der Existenz materieller Gegenstände? Ein Grund für diese epistemische Naivität liegt möglicherweise in der vermeintlich empirischen Evidenz physikalischer Behauptungen. Das hat zur Folge, dass sich Materialisten und Dualisten, ungeachtet der Frage, ob die Physik tatsächlich über ein philosophisch brauchbares »Bild« der Wirklichkeit verfügt, zumeist darum bemühen, die Existenz oder Nicht-Existenz des Psychischen zu zeigen, während sie die Existenz des Physischen unreflektiert (und außerdem in einem herkömmlichen Sinn des Wortes) voraussetzen.132 Das Problem von Materialismus und Dualismus ist also nicht der ontologische Status des Physischen, sondern jener des Mentalen. Die zu beantwortenden Fragen lauten daher folgendermaßen: In welchem Sinne sind - zum Beispiel - Gedanken oder Gefühle reale Zustände, echte Bausteine der Wirklichkeit, die eine eigene kausale Rolle spielen? Sind sie wirklich in der Welt? [...] Gibt es sie überhaupt und in genau welchem Sinne kann man von ihnen sagen, dass sie existieren?133
Anders hingegen stellt sich der Sachverhalt in idealistischen Theorien dar. Im Idealismus ist die Existenz des Psychischen ebenso evident und unbestreitbar gewiss wie im Materialismus die Existenz des Physischen. Hier ist also nicht der ontologische Status des Mentalen das Problem, sondern der des Physischen. Zwar ist auch diese Existenzauffassung problematisch, doch sie ist insofern interessant, als der Idealismus die einzige der drei Denkrichtungen ist, in der die Existenz des Materiellen prinzipiell in Frage gestellt wird. Obwohl sich Materialismus, Dualismus und Idealismus in ihren präferierten Entitäten unterscheiden ist das
132
Ich halte dies für problematisch, denn nicht erst seit Leibniz wissen wir, dass Tatsachenwahrheiten, im Unterschied zu Vernunftwahrheiten, kontingent sind. Was sind nun aber wahre deskriptive Sätze über die Wirklichkeit, wie sie die empirischen Wissenschaften hervorbringen, anderes als Tatsachenwahrheiten? 133
Metzinger, Thomas: Philosophie des Geistes; Das Leib-Seele-Problem, Mentis, Paderborn, 2007, S.11.
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Existenzproblem für alle drei Denkrichtungen dasselbe. Es besteht darin, die These T1 zu begründen oder zu widerlegen:134 Der materialistischen Grundüberzeugung nach ist T1 falsch, hingegen ist wahr: T2) Es gibt Psychisches und es gibt Physisches und Psychisches ist in letzter Konsequenz nichts anderes als Physisches. Um die Wahrheit von T2 zu begründen, versucht der Materialist zu zeigen: Psychisches ist mit Physischem identisch. Der dualistischen Grundüberzeugung nach ist T2 falsch, hingegen ist wahr: T3135 ) Es gibt Psychisches und es gibt Physisches und Psychisches ist von Physischem gänzlich verschieden. Um die Wahrheit von T3 zu begründen, versucht der Dualist zu zeigen: Es ist nicht der Fall, dass Psychisches mit Physischem identisch ist. Der idealistischen Grundüberzeugung nach sind T1, T2 und T3 falsch. Wahr ist hingegen entweder: T4) Es gibt Psychisches und es gibt Physisches und Physisches ist in letzter Konsequenz nichts anderes als Psychisches. Oder: T5) Es gibt nichts Physisches.136 134
Obwohl Existenzproblem und Relationsproblem miteinander verwoben sind, sind sie dennoch nicht dieselben Probleme. Die Existenz von etwas führt nämlich zu anderen Schwierigkeiten als eine Relation zwischen etwas, auch wenn in bestimmten Fällen mit Hilfe einer Relationen zwischen etwas die Existenz von etwas begründet oder widerlegt werden soll. 135 136
T3 = T1
In diesem Fall hat der Idealismus kein Relationsproblem. Wenn die Existenz von Physischem geleugnet wird, wenn es also nur eine Art von Entitäten gibt, nämlich Psychisches, und wenn man nicht behauptet, dass deshalb nur eine Art von Entitäten existiert, weil sie mit einer anderen Art von Entitäten identisch ist, dann kann es aus logisch-semantischen Gründen keine Relation geben, weder eine ontologische noch eine semantische.
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Um die Wahrheit von T4 zu begründen, versucht der Idealist zu zeigen: Physisches ist mit Psychischem identisch. Um die Wahrheit von T5 zu begründen, versucht der Idealist zu zeigen: Es gibt nichts Physisches. Um das Bild zu vervollständigen, sei noch gesagt, dass T4 und T5 sowohl für den Materialismus als auch für den Dualismus falsch ist. Abschließend will ich noch auf drei Aspekte hinweisen, die für den weiteren Verlauf der Arbeit von besonderem Interesse sind: 1)Im Materialismus wird die Existenz physischer Entitäten vorausgesetzt, ohne deren Existenz weiter zu begründen. Es wird zwar der Versuch unternommen zu begründen, dass Psychisches in Wahrheit Physisches ist, doch warum man darin gerechtfertigt ist, die Existenz physischer Entitäten anzunehmen, darüber wird nichts gesagt. Ähnliches gilt auch für den Dualismus. Es ist ihm Existenzbegründung genug, wenn er zeigen kann, dass Psychisches und Physisches zwei disjunkte Entitätenbereiche sind, die sich nicht aufeinander reduzieren lassen.137 2)Materialismus und Dualismus müssen jeweils aufeinander zurückgreifen, um die Wahrheit ihrer Thesen zu begründen. 3)Ausgehend von meiner Abhandlung über die reale Außenwelt und das Wirklichkeitsproblem, glaube ich, dass vor allem der T5-Idealismus (transzendenter Idealismus) einen wichtigen theoretischen Ansatz impliziert. Ein Protagonist dieses Idealismus ist George Berkeley. Berkeley behauptet, dass es Geist gibt und Dinge im Geist, sonst aber nichts. Das besondere ist aber weniger die These als vielmehr der erkenntnistheoretische Versuch ihrer Begründung. Berkeley entwirft nämlich eine Ontologie des Wirklichen, indem er einen erkenntnistheoretischen Standpunkt einnimmt und ausgehend von diesem zeigt, wie die Welt ihrem Grunde nach beschaffen ist. Auch wenn 137
Vgl. 4.1, Dualismus; Vgl. 4.2 Materialismus.
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der Idealismus Berkeleys letztlich eine Erkenntnistheorie ist, die eine Philosophie des Geistes sein will, so scheint dieser Zugang, vor allem mit Blick auf die Probleme des naiven Realismus, unerläßlich zu sein, um das psychophysische Problem im Sinne eines ontologischen Problems zu lösen. Ich will damit nicht sagen, dass Berkeleys Ansatz per se die Lösung des Problems erlaubt, will aber sagen, dass man sich einer Ontologie des Wirklichen wahrscheinlich von einer Erkenntnistheorie her wird nähern müssen, wenn sie fruchtbar sein soll. Nur so scheint es nämlich möglich, eine neue Sichtweise des psychophysischen Problems zu eröffnen.138 Nun lässt sich das psychophysische Problem in differenzierter Weise darstellen: Im Fall des Materialismus, des Dualismus und des T4Idealismus, handelt es sich um das Problem P5-1; Im Fall des T5Idealismus, um das Problem P5-2: P5-1: Das psychophysische Problem ist das Problem einer Theorie über die ontologische »Ausstattung« ein und derselben Wirklichkeit mit bestimmten Arten von Entitäten und es ist das Problem einer ontologischen oder semantischen Relation R zwischen diesen Arten von Entitäten. P5-2: Das psychophysische Problem ist das Problem einer Theorie über die ontologische »Ausstattung« ein und derselben Wirklichkeit mit bestimmten Arten von Entitäten.
138
Vgl. 4.3, Idealismus.
69
2.2.2.5 Das psychophysische Problem als Wirklichkeitsproblem In diesem Abschnitt soll die Relevanz des zuletzt Gesagten verdeutlicht und präzisiert werden. Um das psychophysische Problem zu lösen, bedarf es einer Betrachtung von einem unüblichen Standpunkt aus. Dafür muss natürlich der Standpunkt, von dem aus es üblicherweise betrachtet wird, verlassen werden, was einleuchtend ist, und das bedeutet, den Schritt vom psychophysischen Problem als einem Problem der Philosophie des Geistes zu einem Wirklichkeitsproblem139 als einem Problem der Erkenntnistheorie zu vollziehen. Nur so ist es möglich, eine idealistische Grundhaltung einzunehmen und sich der Ontologie des Wirklichen erkenntnistheoretisch zu nähern. Eine idealistische Grundhaltung einnehmen, heißt, den Standpunkt des Bewusstseins einnehmen, um so wie George Berkeley die Gegenstände der menschlichen Erkenntnis von da aus zu mustern. 140 Im Sinne des psychophysischen Problems ist es unumgänglich, den epistemischen Zugang kognitiver Subjekte zu jenen Entitäten oder Entitätenbereichen zu analysieren, von denen diese Subjekte annehmen, dass es sie gibt. Das heißt konkret, die erkenntnistheoretische Frage zu beantworten, woher wir wissen, dass es diese Entitäten gibt, und woher wir wissen, dass diese Entitäten so beschaffen sind, wie wir glauben, dass sie beschaffen sind, und ob es sich dabei um ein Wissen handelt oder ob wir einem Irrtum unterliegen. Damit das gelingen kann, ist es notwendig, das psychophysische Problem als erkenntnistheoretisches Problem, oder besser gesagt, als transzendentales Wirklichkeitsproblem aufzufassen. Dies gelingt mit Hilfe der folgenden fünf Prinzipien: Prinzip1: Der Bereich des Psychischen ist identisch mit der Menge aller individuellen Bewusstseinswirklichkeiten. Prinzip2: Der Bereich des Physischen ist identisch mit dem Bereich der Außenwirklichkeit. 139
Wirklichkeitsprobleme entstehen beim Entwurf einer transzendentalen Wirklichkeitstheorie, d.h. einer Theorie in der Bedingungen, Umfang und Grenzen der Erkenntnis des Wirklichen erfasst werden sollen. 140
Vgl. Berkeley, George: Eine Untersuchung über die Prinzipien der menschlichen Erkenntnis, Meiner, Hamburg, 2004.
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Prinzip3: Die Außenwirklichkeit ist ein Teilbereich der Wirklichkeit. Prinzip4: Die Menge aller individuellen Bewusstseinswirklichkeiten ist ein Teilbereich der Wirklichkeit. Prinzip5: Die Außenwirklichkeit und die Menge aller individuellen Bewusstseinswirklichkeiten sind nicht identische Teilbereiche ein und derselben Wirklichkeit. Dementsprechend gehören etwa Gehirne zum Bereich der Außenwirklichkeit, Schmerzempfindungen, Erinnerungen und Vorstellungen zum Bereich der Menge aller Bewusstseinswirklichkeiten. 2.2.3 Eine allgemeine Charakterisierung von Psychischem und Physischem Wenn bisher vom Bereich des Psychischen oder vom Bereich des Physischen die Rede war, so wurden zumeist auch paradigmatische Entitäten genannt, um verständlich zu machen, welche Art von Entitäten jeweils gemeint ist. So war im Fall des Psychischen etwa von Gedanken, Gefühlen oder Wahrnehmungen die Rede, und im Fall des Physischen von Bäumen, Hunden und Gehirnen. Nun gilt es, die Entitätenbereiche in ganz allgemeiner Art und Weise zu charakterisieren, denn es gibt ja über diese exemplifizierenden Entitäten hinaus eine Vielzahl von Entitäten, die zum einen oder zum anderen Bereich gehören: Man kann ganz einfach sagen, dass es sich beim Bereich des Physischen um das im Alltag vorausgesetzte Universum handelt. Dieses Universum ist materiell, raum-zeitlich, kausal geordnet und empirisch wahrnehmbar. Es ist materiell in dem Sinn, dass alle und nur die Entitäten, die es enthält, im weitesten Sinne materiell sind (Energiezustände eingeschlossen); es ist raum-zeitlich in dem Sinn, dass alle und nur die Entitäten darin sich in den vier Dimensionen der Raum-Zeit befinden; es konstituiert die Kausalordnung in dem Sinn, dass alle und (vielleicht auch) nur die Entitäten darin in Ursache-Wirkungs-Beziehungen zueinander stehen; und es ist empirisch wahrnehmbar in dem Sinn, dass sämtliche Entitäten darin (und sonst keine) prinzipiell von kognitiven Subjekten unter Verwendung der ,normalen Sinne‘ sowie bei Bedarf entsprechender
71
technischer Hilfsmittel (Teleskope, Mikroskope ect.) wahrgenommen werden kann. Die Charakterisierung des Psychischen ist vergleichsweise schwieriger. „Hier kann man nicht einfach sagen, das Psychische sei jene Realität von dem die Psychologie redet.“141 Diese befasst sich ja auch „mit dem Verhalten und den neurologischen Grundlagen des Psychischen“142 . Verhalten und neurologische Grundlagen gehören aber zum Bereich des Physischen und müssen daher vom „Bereich des Empfindens, Erlebens und Wahrnehmens, des Vorstellens, Denkens und Erinnerns, des Strebens und Wertens, der Gefühle, Stimmungen und Haltungen“143 unterschieden werden. Wodurch lassen sich aber alle psychischen Entitäten in diesem engeren Sinn charakterisieren? Nun, man kann diese Frage zunächst nur vorläufig beantworten, denn sie führt sofort in schwierige (dualistische) Probleme. Der Bereich des Psychischen ist der Bereich des Bewusstseins, des Empfindens, Erlebens und Wahrnehmens, des Vorstellens, Denkens und Erinnerns, des Strebens und Wertens, der Gefühle, Stimmungen und Haltungen. Sehr wahrscheinlich ist dieser Bereich im Gegensatz zum Bereich des Physischen jedenfalls nicht materiell, d.h nichts Psychisches ist materiell, oder anders formuliert: Alles Psychische ist immateriell. Mehr lässt sich aber im Moment noch nicht sagen.
141
Von Kutschera, Franz: Philosophie des Geistes, Mentis, Paderborn, 2009, S. 16.
142
Ebenda.
143
Ebenda.
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3. Commonsense, Naiver Realismus und psychophysisches Problem Am Anfang des psychophysischen Problems findet sich das Wirklichkeitsmodell des Commonsense144, das zeigte die Analyse der Hintergrundvoraussetzungen. Außerdem zeigte sich, dass der Commonsense kein psychophysisches Problem145 kennt, viel mehr noch, dass er gar keine philosophischen Probleme kennt. Das liegt daran, dass die Alltagsrealität146 , die ja vom gesunden Menschenverstand hervorgebracht wird, keine philosophische Theorie ist, sondern das Fundament unseres alltäglichen Lebens. Wir alle führen ein Leben, das auf dem Wirklichkeitsmodell des »gesunden Menschenverstandes« beruht, und wir verlassen diesen Bereich des Denkens nur selten. Das gilt natürlich auch für Philosophen. Niemand könnte das Leben bewältigen, wenn das, worauf es beruht, andauernd von philosophischem Problematisieren ins Wanken gebracht würde. Die Sache impliziert allerdings ein Problem: Obwohl die Art und Weise, wie wir die Wirklichkeit »sehen«, ganz grundlegend vom »gesunden Menschenverstand« geprägt ist, hält diese Sichtweise einer philosophischen Analyse nicht stand. Das wird vor allem dann klar, wenn man sich mit dem naiven Realismus beschäftigt. Diese Form des Realismus, die ja als die philosophische Formulierung dessen gilt, was wir im Alltag für selbstverständlich erachten, ist sowohl aus logischen als auch epistemologischen Gründen unhaltbar. 147 So gesehen 144
Mit dem Ausdruck ‘Commonsense’ wird ganz allgemein der gesunde Menschenverstand bezeichnet. 145
Wenn ich vom psychophysischen Problem spreche, dann verstehe ich darunter das Problem P 5-1 bzw. P5-2, wie es in Kapitel 2, Abschnitt 2.2.2.4 herausgearbeitet wurde. 146
Die von uns erlebte Alltagsrealität und das Wirklichkeitsmodell des Commonsense ist im Prinzip ein und dasselbe. Das Wirklichkeitsmodell des Commonsense ist eine abstrahierte und idealisierte Form der Wirklichkeit, die uns im Erleben als Alltagsrealität gewahr wird. (Vgl. Kapitel 1) 147
Vgl.: Waß, Bernd: Die reale Außenwelt und das Wirklichkeitsproblem, Universität Salzburg, 2009.
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sind wir in unserem Leben in gewisser Weise auch naive Realisten, deren Theorie aber widerlegt ist. Doch selbst das ist für die allermeisten Menschen kein Problem. Für einige Menschen allerdings, und vor allem für diejenigen, die sich mit den fundamentalen Strukturen des Wirklichen beschäftigen, also insbesondere für Philosophen, die am psychophysischen Problem, an einer transzendentalen Wirklichkeitstheorie148 oder am Entwurf ontologischer Systeme interessiert sind, und für Neurowissenschaftler, die sich der Erforschung des Zusammenhangs zwischen Geist und Gehirn aus naturwissenschaftlicher Sicht verschrieben haben, ist es ein Problem von großer Bedeutung. Wer nämlich den Einfluss des Commonsense auf die theoretische Vernunft149 nicht explizit überwindet, der, so behaupte ich, geht unbemerkt von äußerst problematischen ontologischen Verhältnissen aus, die in letzter Konsequenz dazu führen, dass das psychophysische Problem nicht in der Weise erfasst werden kann, wie es für eine Lösung notwendig wäre. Aus diesem Grund halte ich es für unumgänglich, sich zunächst eingehender mit dem Wirklichkeitsmodell des Commonsense als auch mit der Theorie desselben, dem naiven Realismus, zu beschäftigen. Das geschieht in zwei Schritten: Der erste Schritt besteht in der Darstellung der ontischen und epistemischen Verhältnisse unserer Alltagsrealität, der Darstellung des naiven Realismus als der philosophischen Theorie dieser Realität, und zwar samt den Hintergrundvoraussetzungen, sowie in der Formulierung der Konsequenzen, die sich im Zusammenhang mit dem psychophysischen Problem aus dieser Auffassung des Wirklichen ergeben. Schritt 1 ist Gegenstand dieses Kapitels. Um Konfusion zu vermeiden, ist es von besonderer Wichtigkeit, stets in Gedanken zu behalten, dass es sich bei den vorliegenden Ausführungen, immer um die Darstellung der herkömmlichen Weltanschauung bzw. um jene des naiven Realismus handelt. Erst im zweiten Schritt, der in der Widerlegung des naiven Realismus besteht, 148
Eine transzendentale Wirklichkeitstheorie ist eine Erkenntnistheorie, in der die Bedingungen, der Umfang und die Grenzen des menschlichen Erkenntnisvermögens mit Bezug auf die Wirklichkeit untersucht und darüber hinaus ganz allgemeine Aussagen über ihren ontologischen Status gemacht werden. 149
Unter ‘theoretischer Vernunft’ sei das kritische, systematische, rationale, begründete und logisch organisierte Denken verstanden, dem unter anderem unsere Theorien entspringen.
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welche im Zuge der Untersuchungen zum metaphysischen Dualismus zu besprechen ist (Kapitel 6), wird die naive Auffassung des Wirklichen einer umfassenden Kritik unterzogen. 3.1 Commonsense und Wirklichkeitsmodell Wie schon gesagt: Menschen verfügen im allgemeinen über einen »gesunden Menschenverstand«. Dieser Verstand dient unter anderem dazu, mit Hilfe der Wahrnehmung eine kohärente Auffassung der Wirklichkeit zu entwerfen. Es ist ein philosophisch unreflektiertes, dem alltäglichen Leben entspringendes, nicht explizites und durch und durch naives Wirklichkeitsmodell, in dem alles Seiende, gleich welcher Art, unkompliziert und problemlos zu einem Ganzen zusammengefügt wird, ohne dass dabei Widersprüche oder andere theoretische Schwierigkeiten gesehen werden. Das Grundkonzept dieses Entwurfs ist die qualitative und räumliche Zweiteilung der Wirklichkeit. Auf der einen Seite existiert ein unabhängiges, durch die Sinneswahrnehmung unmittelbar zugängliches, kohärentes und objektives System von Entitäten, das aus materiellen, körperlichen Gegenständen besteht, aus Häusern, Hunden, Bäumen usw., die bestimmte Eigenschaften haben. Dieser Teil der Wirklichkeit wird vom Subjekt150 als außerhalb von sich selbst existierend gedacht. Auf der anderen Seite gibt es aber auch psychische Gegenstände, wie etwa Träume, Vorstellungen, Überzeugungen oder Empfindungen. Dieser Teil wiederum wird vom Subjekt als innerhalb von sich selbst existierend gedacht. Auf diese Weise entsteht die Vorstellung von einer materiellen, sprich physischen Außenwelt und einer psychischen Innenwelt. Physische und psychische Gegenstände koexistieren berührungslos, sind aber dennoch auf bestimmte Weise untrennbar miteinander verwoben: Dass beispielsweise „ein Lichtblitz eine Lichtempfindung bewirkt, und ein Stein, der mir auf den Fuß fällt, eine Schmerzempfindung [und] dass Angst eine Beschleunigung des Herzschlags auslösen kann, [und] Stress einen Herzinfarkt“151 , das ist ein (für den Commonsense nicht weiter bemerkenswerter) Zusammenhang von außen und innen. In Summe eine verblüffend einfache und eine pragmatisch höchst zielführende Art und 150
Unter einem Subjekt seien hier nur menschliche Wesen verstanden.
151
Von Kutschera, Franz: Die Wege des Idealismus, Mentis, Paderborn, 2006, S. 19
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Weise, mit der Wirklichkeit und allem was darin vorkommt, umzugehen. 152 Darüber hinaus erlaubt uns der »gesunde Menschenverstand«, eine hochgradige Gewissheit über die Existenz dessen zu erlangen, was wir für wirklich halten. Stellte uns beispielsweise jemand (womöglich ein Philosoph) die Frage, ob wir uns denn vollkommen sicher sein können, dass der Tisch, der vor uns steht, auch dann noch existiert, wenn wir unsere Augen schließen und unsere Arme heben, sodass wir ihn nun nicht mehr wahrnehmen können, so würden wir eher an der geistigen Gesundheit des Fragenden zweifeln, als auch nur einen Moment lang daran, dass unsere Überzeugung von der wahrnehmungsunabhängigen Existenz des Tisches problematisch sein könnte. Mehr muss nicht gesagt werden, um das Wirklichkeitsmodell des Commonsense hinreichend genau zu beschreiben. Ein kurzer Blick in die Geschichte der Philosophie zeigt, dass die Einfachheit dieses Modells auch zum Anlass genommen wurde, eine darauf gründende philosophische Denkrichtung zu etablieren - die so genannte Common-Sense-Philosophie. Ihr Ansatz beförderte den »gesunden Menschenverstand« in das Zentrum erkenntnistheoretischer (und moralischer) Überlegungen. Nach Ansicht von Thomas Reid153 etwa ist allen Menschen von Natur aus ein »gesunder Menschenverstand« eigen, der sie in die Lage versetzt, ein im realistischen Sinn »natürliches« Weltbild154 zu entwickeln. Die allgemeine Idee hinter der Common-SensePhilosophie, ist die Annahme, dass der »gesunde Menschenverstand«, der ja allen Menschen gleichermaßen zur Erfassung des Wirklichen dient, keine prinzipiell falsche Auffassung dieser Wirklichkeit hervorbringt. Das ist auch in unserem Fall eine plausible Überlegung, denn tatsächlich kann das Wirklichkeitsmodell des Commonsense, von dem zu Beginn die Rede war, nicht im eigentlichen Sinn des Wortes falsch sein. Es führt nämlich schlichtweg zu nichts, etwa meinem Nachbarn, der kein Philosoph ist und 152
Sicher sind diese Vorgänge aus wissenschaftlicher Sicht äußerst komplex. Nichtsdestoweniger erlauben sie eine einfache Handhabung der Wirklichkeit, mit allem, was darin vorkommt. 153
Die Common-Sense-Philosophie wurde von Vertretern der Schottischen Aufklärung entwickelt, deren bedeutendster Vertreter Thomas Reid (1710-1776) war. Vgl. Hamilton, William: The Works of Thomas Reid, Edinburgh, 1863. 154
Unter dem Ausdruck ‘Weltbild’ sei nichts anderes verstanden als ‘Wirklichkeitsmodell’.
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auch ansonsten kein Interesse an wissenschaftlichen Überlegungen hat, zu sagen, sein Weltbild, oder das, was es hervorbringt, sei falsch. Das Wirklichkeitsmodell des Commonsense ist, was es ist, das evidente Fundament unseres alltäglichen Lebens, und insofern kann man der Grundidee der Common-Sense-Philosophie zustimmen. Diese Zustimmung bedeutet aber gleichsam, dass die Rede vom psychophysischen Problem ins Leere geht. Der Grund hierfür ist einfach: Wenn der Commonsense tatsächlich eine wahre Beschreibung der Welt liefert, dann ist diese Beschreibung aus logischen Gründen nicht falsch, denn es kann nicht etwas zugleich wahr und falsch sein. Wenn sie aber nicht falsch ist, dann gibt es ganz offensichtlich kein psychophysisches Problem, denn ein Problem in diesem Sinne deutet auf eine theoretische Diskrepanz hin und eine solche kann es in einer wahren Beschreibung der Welt nicht geben. Doch so unsinnig es ist, die Weltdeutung meines Nachbarn für falsch zu erklären, so unsinnig ist es auch, über das psychophysische Problem auf diese Art hinwegzugehen. Wir befinden uns in einem Dilemma: Wenn das Wirklichkeitsmodell des Commonsense wahr ist, dann gibt es kein psychophysisches Problem. Es gibt aber ein psychophysisches Problem. Daher: Das Wirklichkeitsmodell des Commonsense ist falsch. Commonsense und psychophysisches Problem schließen einander aus: Entweder das eine oder das andere. Daraus folgt: Wer es für notwendig erachtet, die Alltagsrealität in eine Untersuchung des psychophysischen Problems einzubinden, der muss das Dilemma auflösen, und das heißt, er muss die Alltagsrealität theoretisch fruchtbar machen. 155 Das ist überdies auch deshalb unerlässlich, weil das Wirklichkeitsmodell des Commonsense für erkenntnistheoretische Zwecke ohnehin viel zu vage ist. Mit der Überführung des Modells in eine Theorie muss also auch die Präzisierung desselben einhergehen. Ein gangbarer Weg zur Erledigung dieser Aufgaben ist die Repräsentation der Commonsense-Wirklichkeit in einem erkenntnistheoretischen Realismus. Der Grundgedanke hierfür ist: „Wir haben es in der Erfahrung mit einer Wirklichkeit zu tun, deren Existenz wie Beschaffenheit nicht von uns Menschen und der Natur unseres Erlebens und Denkens abhängt.“156 Zunächst kann man sagen, dass 155
Dies entspricht auch dem Postulat der Theoriebildung (Kapitel 2, Abschnitt 2.2.1.3). 156
Von Kutschera, Franz: Die Teile der Philosophie, Gruyter, Berlin, 1998, S. 65.
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der Realismusgedanke dem Commonsense-Denken prinzipiell entspricht. Um allerdings eine brauchbare Repräsentation zu erhalten, muss der Denkansatz des Realismus differenzierter betrachtet werden. „Dabei zeigt sich, dass es verschiedene, inhaltlich nicht äquivalente Möglichkeiten der Präzisierung gibt [...].“157 Und das wiederum bedeutet, dass nur diejenige Präzisierung brauchbar ist, welche die Alltagsrealität, jedenfalls in ihren ontischen und epistemischen Grundstrukturen, korrekt abbildet. Es ist daher sinnvoll, sich zunächst dem Aufbau dieser Realität zu widmen, insbesondere ihrem ontologischen Status und dem epistemischen Zugang, und sich erst im Anschluss daran mit der Formulierung eines adäquaten Realismus zu beschäftigen. 3.1.1 Ontologischer Status der Alltagsrealität Wenn wir nach dem ontologischen Status der Alltagsrealität fragen, dann interessiert uns zunächst jener Teil dieser Realität, der als außerhalb und unabhängig von uns existierend gedacht wird. Die Rede ist von der Außenwirklichkeit. Zwar konstituiert der »gesunde Menschenverstand« neben dieser materiellen, ihn umgebenden äußeren Wirklichkeit auch eine geistige, ihn selbst einschließende »innere« Wirklichkeit, die etwa Träume, Wahrnehmungen, Gefühle u.v.a umfasst, doch dieses Innen spielt für die Konstitution des Wirklichkeitsmodells nur eine untergeordnete Rolle. Das zeigt sich vor allem daran, dass wir der materiellen Wirklichkeit eine wesentlich größere ontische Relevanz zuschreiben als der geistigen Wirklichkeit. Von Träumen beispielsweise sagen wir, dass sie nichts Außenwirkliches sind, und von der Wahrnehmung, dass sie uns insofern täuschen kann, als es sich in Wirklichkeit ganz anders verhält, als wir glauben das es sich verhält. Zwei Beispiele: Wenn ich in der Nacht schweißgebadet aufwache, weil ich meine Eltern sterben sah, dann glaube ich, nachdem ich mich vergewissert habe, wie die Wirklichkeit um mich herum beschaffen ist, dass dieses Erlebnis nur ein Albtraum war, und ich bin mir sicher, dass dieser Traum nichts mit der Wirklichkeit zu tun hat, dass meine Eltern also in Wirklichkeit noch am Leben sind.
157
Von Kutschera, Franz: Die Teile der Philosophie, Gruyter, Berlin, 1998, S. 65.
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Wenn wir ein Bild betrachten, auf dem mehrere ineinander übergehende Kreise angeordnet sind, und wenn wir unsere Wahrnehmung auf diese Kreise konzentrieren, dann beginnen sich die Kreise nach einiger Zeit zu bewegen. Wir sagen dann: Das ist nur eine optische Täuschung. In Wirklichkeit bewegen sich die Kreise natürlich nicht. Kommen wir also nun zum ontologischen Status des Außenwirklichen. Aus der Sicht des Commonsense lässt sich darüber Folgendes sagen: Die Außenwirklichkeit existiert unabhängig von allen Subjekten und deren Wahrnehmungen, Gedanken, Träumen oder anderen geistigen Zuständen. Es steht außer Frage, dass der gesamte Bereich alltäglicher Gegenstände, Naturgegenstände wie Artefakte, unserem alltäglichen Verständnis zufolge kausal unabhängig ist von den wirklichen und möglichen geistigen Vorgängen der Menschen, seien sie theoretischer oder praktischer Natur [...].158
Die Gegenstände existieren in dem einen objektiven Raum und der einen objektiven Zeit und werden „[...] in so großer Unabhängigkeit vom Wahrnehmenden gedacht, daß das naive Individuum die Frage, ob denn Gegenstände auch wirklich sein können, ohne daß jemand sie oder ihre Wirkungen wahrnimmt, ohne Zögern bejaht“159 . Darüber hinaus wird die Außenwirklichkeit qualitativ bestimmt: Erstens verfügen Gegenstände in Raum und Zeit der alltäglichen Auffassung zufolge stets über Eigenschaften: Dinge sind groß oder klein, rund oder eckig, blau oder rot, usw.; eigenschaftslose Dinge gibt es nicht. [...] Zweitens kommt einem Gegenstand a eine Eigenschaft F genau dann zu, wenn es tatsächlich der Fall ist, daß a F ist. (Z.B. kommt einer Blume die Eigenschaft, rot zu sein, genau dann zu, wenn es der Fall ist, daß diese Blume rot ist). In diesem Sinne gehören also auch Tatsachen zur alltäglichen Wirklichkeit.160
Des weiteren gelten physikalische Grundgesetze. Auch wenn die meisten dieser Gesetze niemals Gegenstand kritischer Auseinandersetzung werden, so ist es für den Commonsense doch in gewisser Hinsicht plausibel, dass 158
Willaschek, Marcus: Der mentale Zugang zur Welt, Klostermann Verlag, Frankfurt, 2003, S. 42. 159
Schlick, Moritz: Allgemeine Erkenntnislehre, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1979, S. 206. 160
Willaschek, Marcus: Der mentale Zugang zur Welt, Klostermann Verlag, Frankfurt, 2003, S. 39.
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sie gelten. Zusammenfassend: Die Außenwirklichkeit ist dem Commonsense nach eine den Subjekten gegenüberstehende, von allen Subjekten unabhängige, also objektive, in sich geschlossene, kausal und raum-zeitlich determinierte und qualitativ vollständig bestimmte (d.h. mit Gegenständen, Eigenschaften und Tatsachen »ausgestattete«), materielle Wirklichkeit. 3.1.2 Epistemischer Zugang: Wahrnehmung und kausale Kohärenz Die Frage nach unserem epistemischen Zugang zur Außenwirklichkeit, also die Frage nach der Art und Weise, wie wir über diese Wirklichkeit Erkenntnisse gewinnen, diese Frage ist im Kontext des psychophysischen Problems, wie sich später noch zeigen wird, in mehrfacher Hinsicht von größter Bedeutung. Ihre Beantwortung ist dem Commonsense nach ebenso einfach wie folgenschwer: Die Beschaffenheit der Außenwirklichkeit, wie sie unabhängig von uns selbst existiert, erschließt sich uns einerseits durch die Wahrnehmung derselben und anderseits durch die Voraussetzung kausaler Kohärenz. Beides zusammen erlaubt es uns, die Außenwelt zu erkennen, und zwar so wie sie ist. Die Wahrnehmung ist das wichtigste »Tor« zur Außenwirklichkeit. Ohne Wahrnehmung hätten wir kein Wissen über diese Welt, denn selbst die Voraussetzung kausaler Kohärenz macht nur im Zusammenhang mit Wahrnehmung Sinn. „Unsere fünf Sinne - das Hören, Riechen, Schmecken, Tasten und Sehen - lassen sich als die ›Kanäle‹ verstehen, auf denen wir Informationen über die Welt aufnehmen.“161 Das Aufnehmen von Information hat für den Commonsense umfassenden epistemischen Charakter: Wenn ich z.B. sage ‘Ich höre die Kirchenglocken läuten’; ‘Ich rieche den Duft frischer Blumen in meinem Garten’; ‘Ich erlebe den Geschmack des Weins, den ich gerade trinke’; ‘Ich fühle das weiche Kissen in meinem Nacken und sehe den Tisch vor mir, auf dem das Weinglas steht’, dann heißt das implizit: Ich weiß, dass diese Dinge existieren und wie sie beschaffen sind. Wegen des ontologischen Status der Außenwirklichkeit lässt sich über die wahrgenommenen Gegenstände aber noch viel mehr sagen. Etwa: Der Ton der Glocken ist hell; es gibt rote und gelbe Blumen mit grünem Stiel; das Kissen ist viereckig und weiß, der 161
Baumann, Peter: Erkenntnistheorie, Verlag J.B. Metzler, Stuttgart, 2006, S. 262.
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Tisch ist braun und rund; usf. Wir zweifeln keinen Moment lang daran, dass unsere wahrnehmungsbasierten Beschreibungen die Dinge selbst beschreiben, und ebenso wenig daran, dass es sich dabei um Gegenstände der Außenwirklichkeit handelt. Nichtsdestoweniger beruht der Glaube an die starke Evidenz, dass uns die Wahrnehmung ein verlässliches Bild der Wirklichkeit liefert, aus epistemologischer Sicht auf einem Irrtum des gesunden Menschenverstandes, dessen er sich nicht bewusst ist. Dieser Irrtum zeigt sich in der, wie ich sie bezeichnen will, ontologischen Konstitutionsrelation162 . Aufgrund dieser Relation identifiziert das Subjekt wahrgenommene Gegenstände mit wahrnehmungstranszendenten Gegenständen, und weil es sich somit nur um ein und denselben Gegenstand handelt, und nicht um verschiedene, glaubt das Subjekt, dass die Gegenstände der Außenwirklichkeit unmittelbar in der Wahrnehmung vorliegen, und zwar so, wie diese tatsächlich beschaffen sind. Ein Beispiel: Nimmt ein Subjekt S einen Baum y wahr, so glaubt S (aufgrund der Konstitutionsrelation), dass der von ihm wahrgenommene Baum y, identisch ist mit dem Baum x, der in der Außenwirklichkeit existiert. Das fundamentale Problem, und darauf sei bereits an dieser Stelle hingewiesen, ist das Folgende: Die ontologische Konstitutionsrelation ist unhaltbar. Der wahrgenommene Baum y ist nicht mit dem außenwirklichen Baum x identisch. Baum x liegt nicht unmittelbar in der Wahrnehmung von S vor. Das Paradoxe daran ist die Tatsache, dass der Prozess der Identifikation die faktisch unhintergehbare Konstitutionsgrundlage der Alltagsrealität ist und selbst für die theoretische Vernunft eine nahezu unüberwindbare Hürde darstellt. Nun ergeben sich aber im Erkenntnisprozess des Wirklichen auch Fälle, in denen bestimmte Entitäten nicht wahrnehmbar sind; Fälle, in denen die Wahrnehmung »Lücken« im Aufbau der Wirklichkeit hinterlässt. Das ist etwa dann der Fall, wenn wir zum Beispiel ein Stück Eisen wahrnehmen, das von einem Magneten angezogen wird. Wir sagen: Es gibt hier ein Magnetfeld, dessen magnetische Kraft die Annäherung des Eisenstücks an den Magneten verursacht, obwohl wir weder das Feld noch 162
Die ontologische Konstitutionsrelation ist ein unverzichtbarer und nicht bewusster, d.h. impliziter Bestandteil des Denkens des Commonsense und beschreibt eine Identitätsbeziehung zwischen den wahrnehmungsimmanenten Entitäten und den wahrnehmungstranszendenten Entitäten.
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die Kraft dieses Feldes wahrnehmen können. Das scheint ein Problem für die Erkennbarkeit der Wirklichkeit zu sein. Doch der Commonsense hat eine denkbar einfache Lösung: Er eliminiert die »Lücken« der Wahrnehmung dadurch, dass er von den wahrgenommenen Wirkungen auf die Existenz und die Beschaffenheit der Gegenstände schließt, von denen diese Wirkungen ausgehen. 163 „So verknüpft sich mit dem Begriff der Wirklichkeit derjenige der Ursächlichkeit, der Kausalität.“164 „Es genügt also als Kriterium der Realität, wenn statt des Gegenstandes selbst die Wirkungen wahrgenommen werden, die von ihm ausgehen.“165 Darüber hinaus: Würde ich meinen schon oft bemühten Nachbarn fragen, warum wir Bäume wahrnehmen können, aber nicht Magnetfelder, so würde er antworten, dass dies deshalb so ist, weil unser Wahrnehmungsapparat für Bäume tauglich ist, nicht hingegen für Magnetfelder. Würden wir über einen besseren Wahrnehmungsapparat verfügen, so könnten wir natürlich Magnetfelder genauso wahrnehmen wie Bäume. Damit ist der epistemische Zugang des Commonsense zur Außenwirklichkeit hinreichend dargestellt: Unmittelbare Wahrnehmung und die Voraussetzung gewisser Kausalzusammenhänge (kausale Kohärenz) ergeben ein vollständiges Bild der Außenwirklichkeit. Aus erkenntnistheoretischer Sicht handelt es sich hierbei um eine Maximalposition der Wirklichkeitserkenntnis.
163
Mit diesem Prozess hängt auch das Problem des Fremdpsychischen zusammen. Wir schließen nämlich von bestimmten Vorgängen die wir beobachten, auf die Existenz »innerer« geistiger Phänomene anderer Subjekte, und das, obwohl noch niemand den Geist eines anderen Subjekts unmittelbar wahrgenommen hat. 164
Schlick, Moritz: Allgemeine Erkenntnislehre, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1979, S. 206. 165
Ebenda.
83
3.2 Realismus und Naiver Realismus: Übergang vom Commonsense zur Theoriefähigkeit Der Übergang vom Wirklichkeitsmodell des Commonsense zu seiner Theoriefähigkeit vollzieht sich durch seine adäquate theoretische Repräsentation. Zunächst, und das wurde bereits oben erwähnt, kann man sagen, dass philosophische Theorien der Alltagsrealität realistischer Natur sind, dass sie also grundsätzlich dem Realismus zuzuordnen sind. Doch damit ist noch recht wenig anzufangen, denn die Ansätze realistischer Theorien gehen weit auseinander. So zählt beispielsweise Platons Ideenlehre ebenso zum Realismus wie die Koinzidenztheorie der Wirklichkeit von Moritz Schlick. Beide Theorien beschreiben aber die Erkenntnis des Wirklichen auf vollkommen verschiedene Weise, und beide sind, nebenbei bemerkt, keine adäquaten Repräsentationen der Alltagsrealität. Insofern ist die Frage zu beantworten, was allen realistischen Theorien gemeinsam ist und was eine Theorie der Alltagsrealität im Speziellen auszeichnet. Hierfür bedarf es der Analyse der Kernthesen des Realismus. Alle realistischen Theorien beruhen auf zwei Kernthesen: Einer ontologischen Unabhängigkeitsthese 166 und einer 166
Die ontologische Unabhängigkeit wird über die ontologische Abhängigkeit definiert. Grundsätzlich unterscheidet man in der Ontologie zwischen de dictoAbhängigkeit und de re-Abhängigkeit. „Während man es im zweiten Fall mit einer Abhängigkeit der Dinge selbst zu tun hat [...], handelt es sich im ersten Fall nur um eine Abhängigkeit der Dinge unter einer Beschreibung [...].“ (Schnieder, Benjamin: Substanz und Unabhängigkeit, in: Trettin, Käthe: Substanz, Klostermann Verlag, Frankfurt am Main, 2005, S. 56.) Man spricht auch von einer kontingenten Abhängigkeit (de dicto) und einer essentiellen bzw. notwendigen Abhängigkeit (de re). Für den vorliegenden Fall ist lediglich die de re-Abhängigkeit von Bedeutung, denn man will mit R1 aussagen, dass die Außenwirklichkeit essentiell unabhängig ist von allen Subjekten und deren mentalen Zuständen. Die Definition von ‘de reAbhängigkeit‘ lautet: Eine Entität x ist von einer Entität y de re-abhängig gdw. es logisch unmöglich ist, dass x existiert und y nicht existiert. (Vgl. Schnieder, Benjamin: Substanz und Unabhängigkeit, in: Trettin, Käthe: Substanz, Klostermann Verlag, Frankfurt am Main, 2005, S. 55ff.) Insofern gilt (Definition von ‘de reUnabhängigkeit’): Ein Entität x ist von einer Entität y de re-unabhängig gdw. x von y nicht de re-abhängig ist. (Vgl. Schnieder, Benjamin: Substanz und Unabhängigkeit, in: Trettin, Käthe: Substanz, Klostermann Verlag, Frankfurt am Main, 2005, S. 55ff.)
84
epistemologischen Zugänglichkeitsthese. Je nach Theoriearchitektur werden diese Thesen dann entweder verstärkt oder erweitert oder verstärkt und erweitert. Die ontologische Unabhängigkeitsthese lautet: R1: Es existiert eine von allen Subjekten und deren mentalen Zuständen (Wahrnehmungen, Gedanken, Sprache und Theorien, etc.) unabhängige Außenwirklichkeit.167 Nicht zuletzt durch R1 wird klar, was wir unserer heutigen realistischen Auffassung nach für wovon unabhängig halten: Die physische Wirklichkeit halten wir für unabhängig von irgendwelchen mentalen Zuständen. Nach Kutschera kann man sagen: Natürliche Sachverhalte sind R1 zufolge von mentalen Sachverhalten unabhängig.168 Oder: Außenwirkliches ist unabhängig von Bewusstseinswirklichem. Abschließend ist noch etwas zur Art der Unabhängigkeit zu sagen: Der Realist leugnet nicht, daß es faktische, naturgesetzliche Zusammenhänge zwischen mentalen und physischen Vorgängen gibt. Auch er wird sinnliche Eindrücke auf Wirkungen von Umweltgegebenheiten zurückführen. Er nimmt aber an, daß die Natur eine gegenüber unseren Erfahrungen prinzipiell eigenständige Realität ist.169
„Daher wird man Unabhängigkeit so charakterisieren: [...] Jede konsistente Menge mentaler Sachverhalte ist mit jeder konsistenten Menge natürlicher Sachverhalte (analytisch) verträglich.“170 Das heißt: Aus mentalen Sachverhalten folgen analytisch keine natürlichen Sachverhalte.
167
Statt von ‘unabhängiger Wirklichkeit’ wird auch von ‘objektiver Wirklichkeit’ gesprochen. 168
Vgl. Von Kutschera, Franz: Die Teile der Philosophie, Gruyter, Berlin, 1998.
169
Von Kutschera, Franz: Die Teile der Philosophie, Gruyter, Berlin, 1998, S. 68.
170
a. a. O. S. 69.
85
Die epistemologische Zugänglichkeitsthese lautet: R2: Die von allen Subjekten und deren mentalen Zuständen (Wahrnehmungen, Gedanken, Sprache und Theorien, etc.) unabhängige Außenwirklichkeit ist für diese Subjekte erkennbar. Für R2 ist der epistemische Ausdruck ‘erkennbar’ Bedeutung. Zum einen deshalb, weil er die These gehaltvoll macht. Zum Anderen, weil man die These interpretiert, wenn man den Ausdruck ‘erkennbar’ logisches Prädikat auffasst:
von besonderer epistemologisch nur dann richtig als dreistelliges
Symbolisch: Exyz171 Gesprochen: x ist für y erkennbar, aufgrund von z Je nachdem, welche Erkenntnisquelle als Einsetzungsinstanz von z angegeben wird, verändern sich nämlich die realistischen Theorien zum Teil signifikant. Ein platonischer Realist wird für z ‘Wiedererinnerung’ einsetzen, während der Schlick’sche Realist ‘Koinzidenz’, d.h. Punkt-fürPunkt-Zuordnung einsetzt. Wiedererinnerung oder Punkt-für-PunktZuordnung sind aber deutlich voneinander verschieden. R1 und R2 stellen den Minimalgehalt des Realismus dar. Ich werde diese Grundform als schwachen Realismus bezeichnen, und zwar deshalb, weil die dritte Stelle des Erkenntnisprädikats (also z) in R2 nicht spezifiziert ist, d.h. es wird nichts darüber ausgesagt, auf welche Weise eine von uns unabhängig existierende Wirklichkeit erkennbar ist. Das zeigt außerdem, dass der schwache Realismus zwar im Grunde mit dem Wirklichkeitsmodell des Commonsense »übereinstimmt«, dass er aber dennoch keine hinreichend genaue Repräsentation desselben ist. Für eine solche Repräsentation muss nämlich z im Sinne der Alltagsrealität bestimmt sein. Es muss also das Bestimmungspostulat des Realismus erfüllt sein.
171
Es sei E die Prädikatkonstante, für die symbolische Repräsentanz des Ausdrucks ‘erkennbar’. Es seien x, y und z Individuenvariablen.
86
3.3 Der naive Realismus als Theorie der Alltagsrealität Die Wirklichkeitstheorie, die dem Wirklichkeitsmodell des Commonsense weitestgehend entspricht und die es somit theoriefähig macht, ist der naive Realismus. 172 Im naiven Realismus werden die realistischen Kernthesen so erweitert, dass sich eine hinreichend genau Repräsentation der Alltagsrealität ergibt, was gleichsam heißt, dass das Bestimmungspostulat des Realismus eindeutig im Sinne dieser Realität erfüllt ist. Die vier Kernthesen bestehen aus einer ontologischen Unabhängigkeits- und drei epistemologischen Zugänglichkeitsthesen:173 NR1: Es existiert eine von allen Subjekten und deren mentalen Zuständen (Wahrnehmungen, Gedanken, Sprache und Theorien etc.) unabhängige physische Außenwirklichkeit. NR2: Die AußenwirklichkeitNR1 ist von allen Subjekten aufgrund von Wahrnehmungen erkennbar.174 NR3: Die AußenwirklichkeitNR1 liegt in der Wahrnehmung des jeweils wahrnehmenden Subjekts unmittelbar vor.175 NR4: Die AußenwirklichkeitNR1 ist von allen Subjekten so wahrnehmbar, wie sie ist.
172
Vgl. Waß, Bernd: Die reale Außenwelt und das Wirklichkeitsproblem, Universität Salzburg, 2009. Vgl. Konrad, Andreas: Untersuchungen zur Kritik des phänomenalistischen Agnostizismus und des subjektiven Idealismus, Ernst Reinhardt Verlag, München, 1962. 173
Auf die Angabe der Rechtfertigungsthesen wurde verzichtet. Sie sind für diesen Kontext nicht relevant. Vgl. Waß, Bernd: Die reale Außenwelt und das Wirklichkeitsproblem, Universität Salzburg, 2009, S. 33. 174
Der hochgestellte Ausdruck „NR1“, soll deutlich machen, dass es sich in den Thesen NR2-NR4 um genau dieselbe Außenwirklichkeit handelt, wie sie mit NR1 eingeführt wurde. 175
NR3 gründet implizit auf der ontologischen Konstitutionsrelation.
87
3.4 Hintergrundvoraussetzungen des naiven Realismus Um ein vollständiges Bild davon zu erhalten, was im naiven Realismus behauptet wird, ist es angebracht, sich über die Kernthesen hinaus, mit seinen ontologischen und epistemologischen Hintergrundvoraussetzungen zu beschäftigen. Das ist auch im Sinne der Nachvollziehbarkeit weiterer Analysen zum psychophysischen Problem von größter Wichtigkeit. 3.4.1 Bewusstseinswirklichkeit und Außenwirklichkeit Zunächst ist einsichtig, dass man der Dichotomie der Alltagsrealität gerecht werden muss. Dies wird erreicht, indem zwischen einer „geistigsubjektiven Innenwelt und einer räumlich ausgedehnten Außenwelt“176 unterschieden wird. Es handelt sich dabei um eine ontologische Unterscheidung zwischen zwei Arten von Seiendem: Auf der einen Seite stehen die unausgedehnten und nicht materiellen, jeweils nur einem einzigen Subjekt unmittelbar zugänglichen geistigen Vorkommnisse, auf der anderen Seite die materiellen bzw. räumlich ausgedehnten, intersubjektiv zugänglichen Gegenstände und Ereignisse. Da nur die Außenwelt räumlich ausgedehnt ist, muß es sich bei dem »Ort« der Innenwelt um ein metaphorisches »Innen« handeln, das darin besteht, daß diese Welt für andere Subjekte nicht unmittelbar einsehbar ist.177
Man kann in diesem Sinne sagen, dass der naive Realismus, ähnlich dem Leib-Seele-Dualismus, einen ontologischen Bereiche-Dualismus impliziert, denn es gibt zwei verschiedene ontologische Bereiche in ein u n d d e r s e l b e n Wi r k l i c h k e i t : A u f d e r e i n e n S e i t e d i e Bewusstseinswirklichkeit, das ist der Bereich des Psychischen und Subjektiven, und auf der anderen Seite die Außenwirklichkeit, das ist der Bereich des Physischen und Intersubjektiven. Außerdem ist einsichtig, dass die beiden Bereiche, entsprechend dem Wirklichkeitsmodell des Commonsense, auf bestimmte Weise in Relation stehen müssen. Eine Relation die in der Überschneidung von Bewusstseins- und Außenwirklichkeit besteht. Die Bewusstseinswirklichkeit überschneidet 176
Willaschek, Marcus: Der mentale Zugang zur Welt, Klostermann Verlag, Frankfurt, 2003, S.101. 177
Ebenda.
88
die Außenwirklichkeit, und zwar so, dass es einen Überschneidungsbereich gibt, in dem bewusstseinswirkliche und außenwirkliche Gegenstände identisch dieselben Gegenstände sind. Es gibt also genau genommen drei Bereiche: Den Bereich der Bewusstseinswirklichkeit, den Bereich der Überschneidung von Bewusstseinswirklichkeit und Außenwirklichkeit178 und den Bereich der Außenwirklichkeit. 179 Auf dieser Grundlage lassen sich nun zwei Aspekte der Alltagsrealität theoretisch formulieren: Erstens: Alle Entitäten der Alltagsrealität können einem der drei Bereiche zugeordnet werden, und zwar folgendermaßen: Diesseits der Überschneidung (Bereich der Bewusstseinswirklichkeit) existieren nur Gegenstände, die niemals zur Außenwirklichkeit gehören, wie etwa Träume, Gedanken oder Zahnschmerzen. Im Bereich der Überschneidung befinden sich alle zu einem bestimmten Zeitpunkt faktisch wahrgenommenen Gegenstände der Außenwirklichkeit wie etwa Bäume, Häuser, Gehirne oder andere Menschen. Das ist auch jener Bereich, in dem wahrnehmungsimmanente Gegenstände, also bewusstseinswirkliche Gegenstände, und wahrnehmungstranszendente Gegenstände, also außenwirkliche Gegenstände, aufgrund der ontologischen Konstitutionsrelation für ein und dieselben Gegenstände gehalten werden. Jenseits der Überschneidung (Bereich der Außenwirklichkeit) existieren nur Gegenstände, die niemals zum Bereich der Bewusstseinswirklichkeit gehören, nämlich alle prinzipiell wahrnehmbaren Gegenstände (Häuser, Bäume, Gehirne, Magnetfelder, usw.) und alle prinzipiell nicht wahrnehmbaren Gegenstände. Zweitens lässt sich erklären, wie ein Subjekt mit Hilfe der Wahrnehmung Erkenntnisse über die von ihm selbst unabhängige Außenwelt gewinnt. Nehmen wir hierzu noch einmal die 178
Der Bereich der Überschneidung von Bewusstseinswirklichkeit und Außenwirklichkeit ist jener Bereich der Wirklichkeit, der sowohl für die Erklärung der Wahrnehmbarkeit des Wirklichen (siehe zweitens) als auch für die Erklärung der mentalen Verursachung entscheidend ist. 179
Obwohl die naiv-realistische Grundstruktur des Wirklichen drei Bereiche kennt, heißt das nicht, dass es in dieser Wirklichkeit drei Arten von ontologischen Entitäten gibt. Auch im naiven Realismus werden nur zwei Arten von ontologischen Entitäten (psychische und physische) angenommen. Damit ist der naive Realismus auch mit dem Postulat des ausgeschlossenen Dritten (2.2.1.3) kompatibel.
89
Baumwahrnehmung aus dem letzten Beispiel: Ein Subjekt nimmt einen Baum wahr und sagt über den wahrgenommenen Baum aus, dass dieser grüne Blätter hat. Ein unserem Alltagsverständnis nach simpler und nicht weiter bemerkenswerter Vorgang. Alle Subjekte haben dem Commonsense nach einen direkten wahrnehmungsbasierten Zugang zur Außenwirklichkeit. Aber wie ist das möglich, d.h. wie schafft es das Subjekt, die Heterogenität von Außenwirklichkeit und Bewusstseinswirklichkeit zu überwinden? Der Baum an sich ist ja physischer Natur, ein objektiver Gegenstand, der vom Subjekt vollständig unabhängigen Außenwirklichkeit. Die Baumwahrnehmung hingegen ist geistiger Natur und somit ein Teil der Bewusstseinswirklichkeit. Während der objektive Baum für beliebig viele Subjekte zugänglich ist, ist der vom Subjekt faktisch wahrgenommene Baum nur noch für das wahrnehmende Subjekt zugänglich. Was für den Commonsense unproblematisch sein mag, das muss der naive Realismus als Theorie des Commonsense theoretisch begreiflich machen. Zu diesem Zweck dient der schon angesprochene Überschneidungsbereich. Bewusstseinswirklichkeit und Außenwirklichkeit überschneiden sich, haben also zum Teil gemeinsame Inhalte. Auf diese Weise hat das Subjekt nach Ansicht des naiven Realismus unmittelbaren Zugang zu der von ihm selbst unabhängigen Außenwirklichkeit. Der außenwirkliche Baum liegt unmittelbarer in der Wahrnehmung vor (NR3) und zwar so, wie er an sich selbst beschaffen ist (NR4). 180 Das erklärt auch die Tatsache, dass der vom Subjekt faktisch wahrgenommene Baum nicht bloß als Wahrnehmungserscheinung aufgefasst wird, sondern als materieller Gegenstand der Außenwirklichkeit. 3.4.2 Kohärenz, kausale Determination und kausale Geschlossenheit Zu den fundamentalen Strukturen der naiv realistisch verstandenen Außenwirklichkeit gehört erstens Kohärenz: Die Außenwirklichkeit ist kohärent, das heißt, es gibt einen bestimmten inneren Zusammenhang all dessen, was in der Außenwirklichkeit vorkommt. Zweitens kausale Determiniertheit: Die Außenwirklichkeit ist kausal determiniert, das heißt, alles, was in der Außenwirklichkeit vorkommt, ist durch Ursache180
NR3 und NR4 beruhen auf der ontologischen Konstitutionsrelation. Vgl. 3.1.2, Epistemischer Zugang: Wahrnehmung und kausale Kohärenz.
90
Wirkungs-Zusammenhänge bestimmt. Und drittens kausale Geschlossenheit: Die Außenwirklichkeit ist kausal geschlossen, d.h., es gibt nichts in der Außenwirklichkeit, das nicht durch Ursache-WirkungsZusammenhänge beschrieben werden könnte. (Das sind, neben Raum und Zeit, jene physikalischen Grundgesetze, von denen in 3.1.1, Ontologischer Status der Alltagsrealität, die Rede war.181) 3.4.3 Der Raum182 Der Raum bildet dem naiven Realismus zufolge, die Ordnung des Nebeneinander. Er ist ein aktuales183, dreidimensionales Kontinuum. Aktualität und Kontinuität sind grundlegende Charakteristika des Raums. Der Raum ist eine singuläre Entität, d. h., dass es nur diesen einen Raum gibt (Einzigkeitsbedingung des Raums). Er ist zudem eine in sich geschlossene Entität, d.h. alles, was im Raum existiert (Gegenstände, Eigenschaften, physische und mentale Phänomene, etc.), ist bereits im Raum. Was im Raum ist, kann den Raum nicht verlassen, und was außerhalb des Raums ist, kann nicht in ihn eintreten (Prinzip der Geschlossenheit). Die geometrischen Raumverhältnisse sind euklidisch. Die Dimensionen des Raums entsprechen den in ihm realisierten kartesischen Koordinaten, den so genannten Raumkoordinaten. Das Koordinatensystem des Raums verlangt im ontologischen Sinn Eindeutigkeit. Das heißt: Es ist in diesem Raum unmöglich, dass an einem bestimmten Ort eine Entität x existiert und zugleich und an demselben Ort eine davon verschiedene Entität y (Eindeutigkeitsbedingung).
181
Vgl. 3.4.3 und 3.4.4.
182
Vgl. Waß, Bernd: Die reale Außenwelt und das Wirklichkeitsproblem, Universität Salzburg, 2009. 183
Aktuale Entitäten werden im Gegensatz zu potentiellen Entitäten (z.B. die Reihe der natürlichen Zahlen) nicht »künstlich« gebildet, sondern sind, im weitesten Sinne des Wortes, von vornherein gegeben.
91
3.4.4 Die Zeit184 Die Zeit bildet dem naiven Realismus zufolge, die Ordnung des Nacheinander. Sie ist ein aktuales, eindimensionales, sich in nur eine Richtung und unendlich weit erstreckendes und unumkehrbares Kontinuum. Sie umfasst die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft. Alles was dem Nacheinander der Zeit angehört, verändert sich sukzessive. Für die Zeit gilt die Einzigkeitsbedingung: Es gibt nur eine Zeit. 3.4.5 Raum und Zeit Raum und Zeit sind verschiedenartige Entitäten. Dennoch bilden diese Entitäten eine unauflösliche Einheit: Ausnahmslos alles, was existiert und geschieht, existiert und geschieht in Raum und Zeit. Was immer an einem bestimmten Raumpunkt existiert oder geschieht, existiert oder geschieht auch zu einem bestimmten Zeitpunkt, und umgekehrt. Für den naiven Realisten (aber auch für das allgemeine, wissenschaftliche Denken) ist es nicht sinnvoll zu sagen, dass eine Entität irgendwo existiert, aber nicht irgendwann, oder das eine Entität irgendwann existiert, aber nicht irgendwo. Entscheidend ist: Im naiven Realismus werden Raum und Zeit (aufgrund von NR3 und NR4) als fundamentale empirische Strukturen der subjektunabhängigen Außenwirklichkeit gedacht. Auch diese Denkungsart korrespondiert mit jener des Commonsense. 3.4.6 Wahrnehmung „Daß alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung anfange, daran besteht kein Zweifel [...]“185. „Was Kant [...] über Erfahrung sagt, lässt sich ebenso über Wahrnehmung sagen“186 : Dass alle unsere Erkenntnis mit der Wahrnehmung anfängt, daran besteht kein Zweifel. Was bei Kant in der 184
Vgl. Waß, Bernd: Die reale Außenwelt und das Wirklichkeitsproblem, Universität Salzburg, 2009. 185
Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft, Band 1, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1956, S. 45. 186
Baumann, Peter: Erkenntnistheorie, Verlag J.B. Metzler, Stuttgart, 2006, S. 262.
92
Kritik der reinen Vernunft die Grundlage einer philosophischen Position ist, in der die Prinzipien der Erkenntnis a priori systematisch erfasst werden, das ist, so könnte man sagen, für den naiven Realismus und die m e i s t e n e m p i r i s c h e n Wi s s e n s c h a f t e n d i e G r u n d l a g e e i n e r erkenntnistheoretischen Maximalposition: Sie lautet: Dass all unsere Wahrnehmung Erkenntnis ist, daran besteht kein Zweifel. So groß die Bedeutung der Wahrnehmung von jeher für die Erkenntnis des Wirklichen auch war, so unproblematisch ist sie für den naiven Realismus und die meisten empirischen Wissenschaften. Es zeigt sich, dass die Epistemologie des Commonsense weithin akzeptiert wird: Ich sehe meine Kaffeetasse vor mir, höre draußen einen Zug vorbeifahren, schmecke und rieche den Keks und spüre das Kissen in meinem Rücken. Was könnte unproblematischer sein als all das? 187
Materielle Gegenstände existieren in der Außenwirklichkeit und sind in der Wa h r n e h m u n g u n m i t t e l b a r g e g e b e n ( B a u m b e i s p i e l ) . D i e Wahrnehmungsgegenstände sind für den naiven Realisten keine ontologischen Täuschungen. Man kann sich zwar in der Wahrnehmung eines Gegenstandes täuschen, z.B. wenn ich glaube, in der Ferne meinen Hund Seneca zu sehen, aber in Wahrheit den Hund meines Nachbarn sehe, der ihm sehr ähnlich ist. Doch eine solche Täuschung beruht dem naiven Realismus zufolge darauf, dass die Wahrnehmungsbedingungen nicht optimal sind und nicht etwa darauf, wie Descartes in der zweiten Meditation der prima philosophia 188 befürchtet hat, dass irgendein verschlagener Gott uns die Außenwelt mitsamt ihren Gegenständen nur vorgaukelt, oder darauf, dass wir nur Gehirne in einer Nährlösung sind, angeschlossen an einen Computer, in dem jedes Detail unseres mentalen Lebens im Voraus programmiert ist. 3.4.7 Bewusstsein Das Bewusstsein ist für den naiven Realismus analog zur Wahrnehmung ein triviales Phänomen. Es ist einfach irgendwie da. Eine eigenständige Entität, in der die Entitäten der Wirklichkeit, d.h. die Gegenstände, 187 188
Baumann, Peter: Erkenntnistheorie, Verlag J.B. Metzler, Stuttgart, 2006, S. 262.
Vgl. Descartes, René: Meditationes des prima philosophia, Meiner, Hamburg, S. 47-67.
93
Tatsachen und Eigenschaften der Außenwelt einerseits und die Entitäten der Innenwelt, also mentale Phänomene wie Träume oder Schmerzen andererseits, erfasst werden können. Für die Unterscheidung zwischen dem, was außen ist, etwa dem grünen Baum, und dem, was innen ist, etwa einem Traum, in dem ein grüner Baum vorkommt, genügt dem naiven Realisten das Kohärenzkriterium: Träume sind inkohärent, die gesamte Außenwirklichkeit hingegen ist kohärent. 3.5 Das psychophysische Problem im naiven Realismus Wenn das Wirklichkeitsmodell des Commonsense der Anfangsgrund des psychophysischen Problems ist, die Alltagsrealität im Sinne dieses Problems theoriefähig werden soll und der naive Realismus die philosophische Theorie dieser Realität darstellt, dann muss sich das psychophysische Problem im Rahmen des naiven Realismus formulieren lassen: Der naive Realismus ist im Grunde ein Leib-Seele-Dualismus. Erstens wird zwischen zwei ontologischen Arten von Seiendem unterschieden: Auf der einen Seite stehen die unausgedehnten und nicht materiellen, jeweils nur einem einzigen Subjekt unmittelbar zugänglichen geistigen Vorkommnisse, auf der anderen Seite die materiellen bzw. räumlich ausgedehnten, intersubjektiv zugänglichen Gegenstände und Ereignisse.189
Zweitens wird mit dem Überschneidungsbereich ein Bereich angenommen, der beiden Seiten gemeinsam ist, und wodurch sie zueinander in Beziehung stehen. Man findet also ohne Weiteres alle Komponenten des psychophysischen Problems: Psychische Entitäten, physische Entitäten und eine Relation R zwischen diesen Entitäten. Anders formuliert: Man findet den Bereich der Bewusstseinswirklichkeit, das Psychische; den Bereich der Außenwirklichkeit, das Physische, und den Bereich der Überschneidung zwischen Bewusstseinswirklichkeit und Außenwirklichkeit, und damit eine Relation zwischen Psychischem und Physischem. Aus diesem Grund ist klar, dass man das psychophysische
189
Willaschek, Marcus: Der mentale Zugang zur Welt, Klostermann, Frankfurt am Main, 2003, S. 101
94
Problem (als Problem im Sinne von P5-1 190) im Rahmen des naiven Realismus formulieren kann, und dass man es darüber hinaus als Wirklichkeitsproblem auffassen kann.191 Der Vollständigkeit halber: Im naiven Realismus selbst gibt es verständlicherweise kein psychophysisches Problem, denn das Zusammenspiel zwischen dem Bereich des Psychischen und dem Bereich des Physischen ist für den naiven Realisten eine Selbstverständlichkeit, kein Gegenstand vertiefter Betrachtungen. 3.6 Vorhandene, aber nicht in Erscheinung tretende Bestimmung des Wirklichen Der naive Realismus stellt dem Wirklichkeitsmodell des Commonsense entsprechend eine ontologische und epistemologische Maximalposition dar. Die physische Außenwirklichkeit existiert vollkommen unabhängig von allen Subjekten und ist durch die Wahrnehmung nicht in irgendeiner Hinsicht bloß eingeschränkt, sondern vollständig erkennbar. Ausnahmslos alle Bestimmungen der Außenwelt (Farben, Formen, Räumlichkeit, Zeitlichkeit, haptische Qualitäten usw.) sind demnach subjektunabhängige Teile davon. Die Außenwelt ist so erkennbar, wie sie tatsächlich, d.h. an sich selbst, beschaffen ist. Die Subjekte selbst wiederum verfügen über eine nicht räumliche geistige »Innenwelt«, die im Wahrnehmungskontext zu einem bestimmten Teil mit der materiellen Welt »verschmilzt«. Mit der Analyse des naiven Realismus wird aber nicht nur explizit, was dem Wirklichkeitsmodell des Commonsense implizit zugrunde liegt, sondern vor allem wird deutlich, dass die aufgewiesenen Verhältnisse theoretische Strukturen bilden, die tief in unser Denken eingebettet sind, aber meist nicht explizit bewusst werden. 192 Ich spreche daher auch von
190
P5-1: Das psychophysische Problem ist das Problem einer Theorie über die ontologische »Ausstattung« ein und derselben Wirklichkeit mit bestimmten Arten von Entitäten und es ist das Problem einer ontologischen oder semantischen Relation R zwischen diesen Arten von Entitäten. 191 192
Vgl. 2.2.2.5, Das psychophysische Problem als Wirklichkeitsproblem.
Thomas Reid spricht in diesem Kontext von Axiomen oder Prinzipien des gesunden Menschenverstandes.
95
latenten 193 theoretischen Strukturen, innerhalb deren sich sozusagen der andauernde und immer gleiche Konstitutionsprozess der Alltagsrealität mit praktischer Notwendigkeit vollzieht.194 Im Zusammenhang mit dem naiven Realismus könnte man auch von der latenten Konstitutionstheorie der Alltagsrealität sprechen. Im Hinblick auf das psychophysische Problem bedeutet das nun Folgendes: Nachdem der Konstitutionsprozess der Alltagsrealität latent ist, ist es uns faktisch unmöglich, ein Wirklichkeitsmodell zu entwerfen, dessen Entwurf sich »außerhalb« dieses Prozesses vollzieht.195 Das heißt: Die Art und Weise, wie wir die Welt »sehen«, ist durch die vorhandenen, aber nicht in Erscheinung tretenden Denkstrukturen, mithin durch den Konstitutionsprozess der Alltagsrealität bestimmt, welcher die Prinzipien und Regeln hierfür enthält. Wenn nun aber dieser Prozess, wie schon angesprochen, Fehler impliziert, die aus philosophischer Sicht höchst problematisch sind, dann kommen diese Fehler nicht ohne Weiteres in den Blick. Ich behaupte daher folgendes: Jede philosophische Theorie zum psychophysischen Problem muss zunächst den Konstitutionsprozess der Alltagsrealität prüfen, und zwar im Hinblick auf die philosophische Brauchbarkeit der ontischen und epistemischen Verhältnisse. Ohne genau zu wissen, wovon man unbemerkt ausgeht, ist dem psychophysischen Problem nicht beizukommen. Eine solche Prüfung geschieht am besten durch die Prüfung des naiven Realismus, denn der naive Realismus ist, wie gezeigt wurde, die Konstitutionstheorie der Alltagsrealität.196
193
Der Ausdruck ‘latent’ sei im Sinne des Duden gebraucht: latent ‹lat.› (Vorhanden aber [...] nicht in Erscheinung tretend. (Duden, Mannheim 2004.) 194
Der latente Konstitutionsprozess könnte mit ein Grund dafür sein, warum wir über die Beschaffenheit der Wirklichkeit eine Art praktische Gewissheit haben. Darauf hat bereits David Hume hingewiesen. Allerdings: Hume wies ebenso darauf hin, dass diese Gewissheit theoretisch höchst problematisch ist. 195
Der Hinweis auf die faktische Unmöglichkeit soll verdeutlichen, dass es sich hierbei nicht um eine prinzipielle Unmöglichkeit handelt. Auch wenn es mir faktisch unmöglich ist, die latenten theoretischen Strukturen zu überwinden, so ist es mir doch möglich, sie theoretisch zu überwinden. 196
Vgl. hierzu die Widerlegung des naiven Realismus in 6.2.
96
3.7 Ontologische Verhältnisse als präpsychophysisches Problem Wir haben gesagt, dass das psychophysischen Problem im Grunde darin besteht, eine philosophische Theorie davon zu entwerfen, was wir im Alltag für selbstverständlich erachten (Dualismus), oder darin, eine solche Theorie zurückzuweisen und an ihre Stelle entweder einen Materialismus oder Idealismus zu setzen.197 Von besonderem Interesse ist nun aber die Frage, woher wir wissen, dass die Wirklichkeit, die uns umgibt und von der wir selbst ein Teil sind, genau so beschaffen ist, dass wir zum psychophysischen Problem geführt werden. Damit sind wir an dem äußerst wichtigen Punkt dieser Arbeit angelangt, an dem deutlich wird, dass der naive Realismus und das psychophysische Problem untrennbar miteinander verbunden sind. Denn eine Antwort hierauf steht in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Konstitutionsprozess der Alltagsrealität: Wir wissen es aufgrund der Wahrnehmung. Die Wahrnehmung ist die wichtigste Quelle unseres Wissens über den ontischen Bau des Wirklichen. Sie liefert uns die Erkenntnis, dass wir es im Alltag und auch in den Wissenschaften ganz offensichtlich mit einer körperlichen, gegenständlichen, räumlich ausgedehnten, zeitlichen, empirischen, materiellen, attribut- und tatsachenbehafteten Außenwirklichkeit zu tun haben; denn diese Wirklichkeit liegt ja in der Wahrnehmung unmittelbar vor. Außerdem ist klar, dass die Gegenstände unserer Träume nicht in der Außenwirklichkeit existieren und dass auch Gedanken und Vorstellungen nicht Teile dieser Wirklichkeit sind. Auf diese Weise wird der Außenwirklichkeit eine Innenwirklichkeit gegenüber gestellt. Ersterer kommt aber eine bedeutendere Rolle zu. Sie ist sozusagen das Maß des Wirklichen. Die Frage nach der Wirklichkeit eines Gegenstandes wird von den meisten Menschen immer im Hinblick auf die Außenwirklichkeit beantwortet. 198 „Glaubt jemand nicht an die Wirklichkeit irgendeines Gegenstandes, so gibt es zunächst nur ein Mittel, ihn von dessen Existenz zu überzeugen: wir müssen ihn hinführen oder den Gegenstand zu ihm bringen, damit er ihn sehe oder betaste oder vielleicht höre; dann zweifelt
197
Vgl. 2.2.1, Der Entstehungszusammenhang des psychophysischen Problems.
198
Vgl. 3.1.1, Ontologischer Status der Alltagsrealität.
97
er nicht länger.“199 Von dieser Auffassung des Wirklichen gehen wir im Allgemeinen aus, das ist unbestreitbar, und das gilt nicht nur für meinen Nachbarn, sondern auch für die meisten Wissenschaftler. Man muss nur beispielsweise einem Neurowissenschaftler zuhören, wie er vom materiellen, also physischen Gegenstand ‘Gehirn’ spricht und etwa sagt: „Wenn man ein Stück Gehirn mit einem Farbstoff behandelt der alle Zellbestandteile einfärbt, so wird man anschließend eine mehr oder weniger einheitliche Gewebemasse sehen [...].“200 Allerdings, und das ist der ganz zentrale und entscheidende Punkt: der umfassende Erkenntnisanspruch ist abhängig von der Wahrheit der epistemologischen Zugänglichkeitsthese NR3. Diese These besagt ja: Die Außenwirklichkeit liegt in der Wahrnehmung des jeweils wahrnehmenden Subjekts unmittelbar vor. Nur dann, wenn es tatsächlich der Fall ist, dass die Außenwirklichkeit unmittelbar in der Wahrnehmung vorliegt, können wir auf unserer Wahrnehmung beruhende Erkenntnisse darüber gewinnen, wie diese Wirklichkeit unabhängig von uns selbst beschaffen ist, und nur dann können wir begründet behaupten, dass wir von einer körperlichen, gegenständlichen, räumlich ausgedehnten, zeitlichen, empirischen, attributund tatsachenbehafteten physischen Wirklichkeit umgeben sind, wie sie uns im Alltag und in den Wissenschaften zu begegnen scheint. Und nur, wenn uns eine solche Wirklichkeit begegnet, können wir in dem Sinn vom psychophysischen Problem sprechen, in dem wir das üblicherweise tun. Doch es gilt: Die These NR3 ist falsch. Das heißt: Es ist nicht der Fall, dass die Außenwirklichkeit in der Wahrnehmung des jeweils wahrnehmenden Subjekts unmittelbar vorliegt. Das, was in der Wahrnehmung vorliegt, ist aus erkenntnislogischen Gründen von dem verschieden, was objektiv vorhanden ist. Jede andere Annahme führt zu einer Reihe von Widersprüchen und Widersprüche sind bekanntermaßen
199
Schlick, Moritz: Allgemeine Erkenntnislehre, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1979, S. 205. 200
Thompson, Richard F.: Das Gehirn, Spektrum Verlag, Heidelberg, 2010, S. 1.
98
das Ende von Theorien.201 Wenn aber die Wahrnehmungswirklichkeit nicht identisch ist mit der wahrnehmungsunabhängigen, also objektiven Wirklichkeit, dann müssen wir die Frage stellen, ob die ontologischen Verhältnisse des Wirklichen, von denen wir im psychophysischen Problem üblicherweise (und meist unbemerkt) ausgehen, philosophisch überhaupt haltbar sind. Sind sie es nämlich nicht, so stellt sich das Problem von v o r n h e r e i n f a l s c h d a r. I c h w e r d e d i e s e P r o b l e m a t i k a l s präpsychophysisches Problem bezeichnen. Es lässt sich folgendermaßen charakterisieren: Die ontologischen Verhältnisse, aufgrund deren das psychophysische Problem auftritt, entspringen dem Wirklichkeitsmodell des Commonsense. Diese Verhältnisse sind aber aus philosophischer Sicht höchst problematisch. Daraus ergibt sich eine äußerst wichtige Frage: Dürfen wir in Theorien zum psychophysischen Problem vernünftigerweise ontische und epistemische Verhältnisse voraussetzen, wie wir dies aufgrund der Konstitution der Alltagsrealität meist unbemerkt tun? Die Antwort lautet ja. Doch wir dürfen es nur dann, wenn es sich um Verhältnisse handelt, die konsistent denkbar sind. Für die Lösung des psychophysischen Problems ist es daher von größter Wichtigkeit, über eine hinreichend begründete Theorie der ontischen und epistemischen Verhältnisse des Wirklichen zu verfügen. Theorien dieser Art bezeichne ich als transzendentale Wirklichkeitstheorien. Eine transzendentale Wirklichkeitstheorie muss, von einem epistemologischen Standpunkt aus, erstens philosophisch gehaltvolle Aussagen darüber machen, wie die Wirklichkeit in qualitativer Hinsicht bestimmt ist: Sind Bäume, Hunde und Gehirne auf der einen und Bewusstseinsgebilde, wie Träume und Empfindungen auf der anderen Seite tatsächlich materielle bzw. mentale Entitäten von der Art, für die sie gewöhnlich gehalten werden? Zweitens muss eine solche Theorie Aufschluss darüber geben, wie die Wirklichkeit ganz allgemein strukturiert ist, also wie etwa der Unterschied zwischen 201
Ich habe die Unhaltbarkeit von NR3 und die daraus erwachsenden Konsequenzen in ‘Die reale Außenwelt und das Wirklichkeitsproblem’ ausführlich diskutiert. (Vgl. Waß, Bernd: Die reale Außenwelt und das Wirklichkeitsproblem, Universität Salzburg, 2009.) Ich werde mich in Kapitel 6, Metaphysischer Dualismus - Grundriss einer Theorie, noch einmal ausführlich damit beschäftigen.
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dem Bereich des Außenwirklichen und jenem des Bewusstseinswirklichen beschaffen ist und welche Entitäten der Wirklichkeit zu welchem Bereich gehören. Der naive Realismus ist eine solche Theorie. Als Theorie der ontologischen und epistemologischen Verhältnisse ist er aber, weil inkonsistent, unbrauchbar. Mit dem Ende dieses Kapitels sind nun alle vorbereitenden Überlegungen abgeschlossen und es kann zum Hauptstück übergegangen werden. Dieses besteht, nicht zuletzt aufgrund der vorliegenden Erkenntnisse, aus vier Teilen: Im ersten Teil, d.h. in Kapitel 4, beschäftige ich mich mit den Grundpositionen zum psychophysischen Problem und steige damit zugleich in eine zentrale Debatte der aktuellen Philosophie des Geistes ein. Es gilt einerseits zu analysieren, mit welchen Problemen Dualismus, Materialismus und Idealismus konfrontiert sind, und andererseits festzustellen, von welchen ontologischen Verhältnissen jeweils die Rede ist. Im zweiten Teil, d.h. in Kapitel 5, wird diese Debatte mit einem Exkurs in die Neurowissenschaft abgeschlossen. Im dritten Teil, d.h in Kapitel 6, wird mit der Widerlegung des naiven Realismus zunächst die ontologische und epistemologische Unhaltbarkeit der ontischen und epistemischen Verhältnisse demonstriert, die im Allgemeinen die unreflektierte Grundlage unseres Denkens bilden. Im Anschluss daran wird mit dem metaphysischen Dualismus eine philosophische Konzeption vorgestellt, die den naiven Realismus überwindet und die im Wesentlichen auf Moritz Schlicks Allgemeine Erkenntnislehre 202 zurückgeht. Im vierten und letzten Teil des Hauptstücks, also in Kapitel 7, bespreche ich in drei verschiedenen Versuchen die Möglichkeit, das psychophysische Problem auf der Grundlage des metaphysischen Dualismus zu lösen.
202
Vgl. Schlick, Moritz: Allgemeine Erkenntnislehre, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1979.
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4. Dualismus, Materialismus, Idealismus Dualismus, Materialismus und Idealismus sind die klassischen Grundpositionen zum psychophysischen Problem.203 Es handelt sich im Kern um ontologische Positionen, denn es werden jeweils fundamentale Thesen über die »Ausstattung« der Wirklichkeit mit bestimmten Arten von Entitäten formuliert: Der Materialismus, der behauptet, das Seelisch-Geistige ließe sich als Teil der physischen Wirklichkeit begreifen, der Idealismus, der umgekehrt behauptet, das Physische ließe sich als Teil der seelisch-geistigen Welt verstehen, und der Dualismus, für den sowohl das Seelisch-Geistige wie das Physische eigenständige Realitäten sind, von denen sich keine auf die andere reduzieren lässt.204
Dabei geht es im Dualismus darum, die Alltagsrealität, also das Wirklichkeitsmodell des Commonsense, theoretisch befriedigend zu erfassen; im Materialismus und im Idealismus hingegen darum zu zeigen, dass dualistische Theorien unhaltbar sind. Obwohl sich die Positionen erheblich voneinander unterscheiden sind die zentralen Fragen dieselben: Erstens: Mit welchen Arten von Entitäten ist die Wirklichkeit tatsächlich »ausgestattet«? Und zweitens: Wie lässt sich eine solche Wirklichkeit theoretisch befriedigend erfassen? Berücksichtigt man die bereits angestellten Überlegungen, so ergeben sich für die Beantwortung der ersten Frage lediglich drei Möglichkeiten:
203
Darüber hinaus könnte man auch den neutralen Monismus zu den Grundpositionen zählen. Im neutralen Monismus wird von einem »Weltstoff« ausgegangen, der ontologisch neutral ist und der in einer bestimmten Anordnung als etwas geistiges, in einer anderen als etwas materielles erscheint. Neben ontologischen Konzeptionen wie etwa der Zwei-Aspekte-Lehre von Spionza, sind es vor allem erkenntnistheoretische Dualismen, die darauf beruhen. Weil aber der neutrale Monismus, wegen seiner unbefriedigenden ontologischen Vagheit, in meinen Überlegungen keine sehr prominente Rolle spielt, zähle ich ihn hier nicht zu den Grundpositionen. 204
Von Kutschera, Franz: Die Wege des Idealismus, Mentis, Paderborn 2006, S. 9.
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1)Die Wirklichkeit ist mit psychischen und physischen Entitäten »ausgestattet«. 2)Die Wirklichkeit ist nur mit physischen Entitäten »ausgestattet«. 3)Die Wirklichkeit ist nur mit psychischen Entitäten »ausgestattet«. Je nachdem, zu welcher Antwort man gelangt, ist man entweder ein Vertreter des Dualismus, des Materialismus oder des Idealismus. Dualisten behaupten (1), Materialisten (2) und Idealisten (3). Dualisten vertreten dualistische, Materialisten und Idealisten hingegen monistische Auffassungen darüber, mit welchen Arten von Entitäten die Wirklichkeit »ausgestattet« ist und mit welcher »Ausstattung« sie theoretisch befriedigend zu erfassen ist. Im Vergleich zur ersten ist die Beantwortung der zweiten Frage um ein Vielfaches schwieriger. Dementsprechend mannigfaltig sind die Ansätze, die im Laufe der Zeit hervorgebracht wurden. Dabei handelt es sich sowohl um ontologische als auch um erkenntnistheoretische Ansätze. Hierzu kann man ganz allgemein folgendes sagen: Dualistische Ansätze versuchen die Auffassung zu begründen, dass es sich beim Bereich des Psychischen und dem Bereich des Physischen, um fundamentale und nicht aufeinander reduzierbare Wirklichkeitsbereiche handelt und zu zeigen, wie die Entitäten des einen Bereichs zu den Entitäten des anderen Bereichs in Beziehung stehen. Das Universum ist dem dualistischen Denken zufolge psychophysischer Natur und ohne diese beiden Bereiche lässt es sich theoretisch nicht befriedigend erfassen. Materialistische Ansätze hingegen versuchen den Bereich des Psychischen als eines eigenständigen Entitätenbereichs zu eliminieren, denn das materialistische Denken ist davon überzeugt, dass die Annahme eigenständiger psychischer Entitäten falsch ist. Das Universum ist dem Materialismus zufolge in letzter Analyse physischer Natur, und alle Entitäten des Universums, so wie dieses insgesamt, lassen sich nur als Zusammenhänge von Physischem theoretisch befriedigend erfassen. Genau umgekehrt verhält es sich im Idealismus. Dort geht man davon aus, dass das Universum insgesamt psychischer Natur ist und dass es sich nur als Zusammenhang von Psychischem theoretisch befriedigend erfassen lässt. Es ist dann naheliegend zu versuchen, den Bereich des Physischen zu eliminieren. Der Punkt ist: Gelingt es, eines dieser Vorhaben zu realisieren, und zwar so, dass man von einer hinreichend begründeten Theorie sprechen kann, so kann man davon sprechen, dass das psychophysische
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Problem gelöst ist. Nun lässt sich aber mit einiger Gewissheit sagen, dass es eine solche Theorie bis dato nicht gibt. Darauf hat Franz von Kutschera immer wieder hingewiesen. Es ist also angebracht, weiter darüber nachzudenken, wie eine solche Theorie aussehen könnte. Wie bereits angekündigt, werde ich mit dem metaphysischen Dualismus hierzu einen entsprechenden Vorschlag einbringen. Doch zunächst gilt es die klassischen Ansätze zu untersuchen. Einerseits, um zu verstehen, was genau ihre Probleme sind, andererseits, um zu klären, welche ontischen und epistemischen Verhältnisse vorausgesetzt werden. Erst wenn hierüber Erkenntnisse vorliegen, kann man den metaphysischen Dualismus in einer angemessenen Weise betrachten. Meinen Ausführungen hierzu liegt folgende Struktur zugrunde: Ich beginne mit dem Dualismus. Dualistische Positionen entsprechen unserer herkömmlichen Auffassung über die »Ausstattung« der Realität mit bestimmten Arten von Entitäten und deren Beziehungen zueinander am besten. Mit dem Substanz- und dem Eigenschaftsdualismus werden zwei ontologische Dualismen unterschiedlicher Stärke diskutiert. Beide Formen sind sehr prominente Beiträge zur Leib-Seele-Debatte. Darüber hinaus sind sie für das Verständnis der allgemeinen Problematik von besonderem Wert. Im Anschluss daran erörtere ich die Ansätze des Materialismus. Er ist in der philosophischen Debatte der letzten Jahre „geradezu zu einer offiziellen Doktrin geworden, ja er sieht sich als die einzige rationale Position zum Verhältnis von Physischem und Psychischem“205 . Der Grundgedanke lautet vereinfacht ausgedrückt - so: Die psychische Wirklichkeit lässt sich in letzter Konsequenz als Teil der physischen Wirklichkeit begreifen. Psychisches kann vollständig auf Physisches reduziert oder zurückgeführt werden. Eine Haltung, die zwar der zunehmenden Naturalisierung geistiger Phänomene in den Wissenschaften entspricht, die aber in Wahrheit die Frage nach den ontischen und epistemischen Verhältnissen verschärft. Die Vormachtstellung des Materialismus lässt sich auch an der Vielzahl der vorhandenen Publikationen ablesen. Es werden die wichtigsten ontologischen und erkenntnistheoretischen Ansätze diskutiert. Dazu gehören semantischer Physikalismus, Identitätstheorie, Funktionalismus und nichtreduktiver Physikalismus. 205
Von Kutschera, Franz: Die Wege des Idealismus, Mentis, Paderborn 2006, S. 192.
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Zuletzt werde ich den Idealismus besprechen. Das idealistische Denken steht, noch mehr als das materialistische, in einem kontraintuitiven Verhältnis zu unserer alltäglichen Auffassung der Realität. Im Idealismus wird die Wirklichkeit monistisch gedacht, und alles was in dieser Wirklichkeit existiert, ist in letzter Konsequenz psychischer bzw. mentaler Natur. Die Auffassung, dass Häuser, Hunde und Gehirne nichts weiter sind als Vorstellungen, also Psychisches, ist für den gesunden Menschenverstand zumeist nur sehr schwer zu verstehen und auch für die meisten Wissenschaftler eine Herausforderung. Diskutiert werden epistemologischer Idealismus, Phänomenalismus und transzendenter Idealismus.
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Im Sinne einer besseren Orientierung wurde in der nachstehenden Grafik (Abbildung 1) eine Einteilung aller Positionen durchgeführt, die insgesamt diskutiert werden. 206 Zu beachten ist, dass der metaphysische Dualismus qua Qualitätendualismus (QD), der metaphysische Dualismus qua semantischer Dualismus (SD) und der psychophysische Parallelismus aus systematischen Gründen erst in Kapitel 6 bzw. Kapitel 7 diskutiert werden. Alle anderen Positionen sind Diskussionsgegenstände dieses Kapitels: 206
Auf den ersten Blick mag es ein wenig überraschend sein, eine Einteilung vorzufinden, in der von ontologischen Grundpositionen die Rede ist, und von Subpositionen, die sowohl ontologischer als auch epistemologischer Natur sind. Auf den zweiten Blick allerdings wird deutlich, dass dies durchaus sinnvoll ist. Der Gedanke ist der Folgende: Mit Blick auf das psychophysische Problem stellen sich zwei fundamentale Fragen. Erstens: Mit welchen ontologischen Arten von Entitäten ist die Wirklichkeit tatsächlich »ausgestattet«? Zweitens: Wie lässt sich die Wirklichkeit, gegeben diese Entitäten, theoretisch befriedigend erfassen? Die Beantwortung der ersten Frage konstituiert die Unterscheidung in ontologische Grundpositionen. Die Beantwortung der zweiten Frage die Unterscheidung in ontologische und erkenntnistheoretische Subpositionen. (Dass eine erkenntnistheoretische Subposition eine ontologische Grundpositionen begründet ist kein »Widerspruch«, denn alle erkenntnistheoretischen Subpositionen zum psychophysischen Problem implizieren dualistische, materialistische, idealistische, neutrale bzw. agnostische ontologische Standpunkte. Allerdings ist die Frage, ob eine Subposition eine ontologische oder erkenntnistheoretische Position ist, in manchen Fällen, wie z.B. im Funktionalismus, nicht immer eindeutig zu beantworten.) Darüber hinaus sei auf folgendes hingewiesen: Die ausdifferenzierte und umfassende Beschäftigung mit Idealismus, Materialismus und Dualismus füllt bereits ganze Bände philosophischer Abhandlungen. Eine ähnlich umfassende Auseinandersetzung wird in dieser Arbeit aus zwei Gründen weder angestrebt noch ist sie zielführend: Erstens gilt das Hauptaugenmerk dem metaphysischen Dualismus, insbesondere dem, was dieser Denkansatz zur Lösung des psychophysischen Problems beitragen kann. Zweitens geht es hier nicht darum, eine historisch lückenlose Zusammenschau philosophischer Bemühungen zur Leib-SeeleFrage vorzulegen, sondern einige theoretische Aspekte zu diskutieren, die im Zusammenhang mit dem metaphysischen Dualismus relevant sind. Es ist also schlichtweg unsinnig, dasjenige neu aufzuschreiben, was andere bereits ausführlich und hinreichend genau zu Papier gebracht haben. Ich werde mich daher darauf beschränken, die zentralen Ansätze, Argumente und Probleme der Grundpositionen herauszuarbeiten, und mich für diesen Zweck im Umkreis der Arbeiten von Beckermann, Bieri, Kutschera und Metzinger bewegen.
106 Abbildung 1: Grund- und Subpositionen zum Leib-Seele-Problem, bezogen auf die vorliegende Abhandlung.
O N T O L O G I S C H E G R U N D P O S I T I O N E N
ontologische Subpositionen
Substanzdualismus Eigenschaftsdualismus Metaphysischer Dualismus / QD
epistemologische Subpositionen
Metaphysischer Dualismus / SD
Dualismus
ontologische Subpositionen
Identitätstheorie Nichtreduktiver Physikalismus
Materialismus epistemologische Subpositionen
ontologische Subpositionen
Semantischer Physikalismus Funktionalismus Psychophysischer Parallelismus
Transzendenter Idealismus
Idealismus epistemologische Subpositionen
Epistemologischer Idealismus Idealistischer Phänomenalismus
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4.1 Der Dualismus Die Kernthese des Dualismus lautet: „Die Wirklichkeit besteht aus Physischem und Psychischem und nur aus diesen beiden Teilbereichen. Sie sind so verschiedenartig, dass sich keiner von ihnen auf den anderen zurückführen lässt.“207 Anders formuliert könnte man auch sagen: Menschen besitzen „außer einem Körper auch einen von allen körperlichen Dingen verschiedenen nicht-physischen Geist [...]“208 . Mit dieser These sind vor allem zwei gravierende Probleme verbunden: Im Dualismus muss einerseits begründet werden, warum man darin gerechtfertigt ist, ein und dieselbe Wirklichkeit in zwei wesensverschiedene Arten von ontologischen Entitäten aufzuteilen. Andererseits, und das ist sicher die größte Schwierigkeit, muss die Frage beantwortet werden, welche Beziehung zwischen dem Bereich des Psychischen und dem Bereich des Physischen, d.h. zwischen Psychischem und Körperlichem, besteht und wie sie zu erklären ist. Dualisten leugnen ja nicht die Tatsache, dass es eine Beziehung gibt. „Aber wenn es einen systematischen Zusammenhang gibt zwischen der körperlichen Welt und dem, was im Geist vorgeht, wie sieht dieser Zusammenhang aus?“209 Die Wurzeln des Dualismus reichen in die Zeit vom 7. bis zum 5. Jahrhundert v. Chr. zurück, als in Indien und Griechenland die Dimensionen der geistigen Welt entdeckt wurden und sie als bestimmender und bedeutender Teil der Wirklichkeit erfahren wurde.210
In dieser Zeit entsteht die Idee der Seele 211 als einer eigenständigen und unvergänglichen Entität. Das ist die Geburtsstunde des Substanzdualismus. Im Substanzdualismus geht man davon aus, dass es neben dem materiellen
207
Von Kutschera, Franz: Die Wege des Idealismus, Mentis, Paderborn, 2006, S. 205.
208
Beckermann, Ansgar: Analytische Einführung in die Philosophie des Geistes, Gruyter, Berlin, 2008, S. 43. 209
Ebenda.
210
Von Kutschera, Franz: Philosophie des Geistes, Mentis, Paderborn, 2009. S. 205.
211
Manchmal spreche ich, so wie hier, aus pragmatischen Gründen von der Seele. Natürlich ist damit nicht eine bestimmte Seele gemeint, sondern alle Seelen überhaupt, sofern es mehrere gibt.
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Körper212 eine davon vollständig verschiedene und unabhängige immaterielle Seele gibt, die mit diesem in Verbindung steht. Nicht zuletzt wegen des enormen technischen Fortschritts in den Natur-, insbesondere den Hirnwissenschaften wurde es für dualistisch eingestellte Philosophen zunehmend schwieriger, für den Substanzdualismus zu argumentieren. Vor allem die mit ihm verbundene Vorstellung von der Unsterblichkeit der Seele bereitet Schwierigkeiten. Einer der wenigen zeitgenössischen Philosophen, die sich explizit für den Substanz-Dualismus stark machen, ist Richard Swinburne.213 Swinburne hat „ganz im Sinne des metaphysischen Argument Descartes’ versucht [...], die These von der eigenständigen Existenz einer vom Körper unabhängigen Seele mit einer modallogischen Überlegung zu untermauern“214 . Die empirischen Befunde der modernen Neurowissenschaft legen jedoch nahe, mentale Phänomene nicht mit einer körperunabhängigen Seele in Verbindung zu bringen, sondern Mentales in einer nomologischen Abhängigkeit zu einer funktionierenden Hirnphysiologie zu denken. Ohne bestimmte hirnphysiologische Vorgänge gibt es keine mentalen Phänomene. Das scheint eher für die Annahme des ontologisch schwächeren Eigenschaftsdualismus zu sprechen. Für den Eigenschaftsdualisten sind zwar psychische und physische Eigenschaften verschiedenartig, sie sind aber nicht unabhängig von ihrem Träger. Als Träger kommen insbesondere Personen in Frage. Nichtsdestoweniger bleibt die ontologische Eigenständigkeit von Psychischen und Physischem erhalten, denn psychische und physische Eigenschaften werden jeweils für irreduzible Bestandteile des Wirklichen gehalten. Was spricht nun ganz allgemein für den Dualismus? Für den Dualismus spricht erstens die Tatsache, dass dualistische Theorien unserer herkömmlichen Auffassung der Realität am besten entsprechen. Zweitens ist es die offensichtliche Verschiedenartigkeit von Psychischem und 212
Manchmal spreche ich, so wie hier, aus pragmatischen Gründen von dem Körper. Natürlich ist damit nicht ein bestimmter Körper gemeint, sondern alle Körper überhaupt, sofern es mehrere gibt. 213
Vgl. Beckermann, Ansgar: Analytische Einführung in die Philosophie des Geistes, Gruyter, Berlin, 2008. 214
Beckermann, Ansgar: Analytische Einführung in die Philosophie des Geistes, Gruyter, Berlin, 2008, S. 37.
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Physischem, die für eine dualistische Konzeption spricht. Beide Aspekte sind interessant. Der eine deshalb, weil es im psychophysischen Problem ja darum geht, die Alltagsrealität theoretisch befriedigend zu erfassen oder zu zeigen, dass Theorien dieser Realität unhaltbar sind; der andere deshalb, weil gerade die Verschiedenartigkeit von Psychischem und Physischem für das psychophysische Problem konstitutiv ist und sie deshalb zu begründen ist. Bevor ich mich also explizit mit Substanz- und Eigenschaftsdualismus beschäftige, werde ich diese Aspekte beleuchten. Ich beginne mit der These der Verschiedenartigkeit psychischer und physischer Entitäten und widme mich im Anschluss dem Naheverhältnis von Alltagsrealität und Dualismus. Der Abschnitt über den Dualismus endet mit einer Darstellung seiner wichtigsten Probleme. 4.1.1 Verschiedene Arten von Entitäten - charakteristische Merkmale des Mentalen Die These, der zufolge der Bereich des Mentalen vom Bereich des Materiellen vollständig verschieden ist, „wird heute so begründet wie bei Descartes. Man gibt Eigenschaften an, die das Seelische charakterisieren, Körperlichem aber nicht zukommen, oder umgekehrt [...]“215 . Die Frage nach der Begründung der Verschiedenartigkeit von Seelischem und Körperlichem ist nicht nur eine der wichtigsten Fragen des Dualismus, sondern mithin die »Gretchenfrage«216 der gesamten Leib-Seele-Debatte: Gibt es tatsächlich mindestens eine Eigenschaft, die jeder psychischen Entität zukommt, aber keiner physischen Entität? Nur wenn diese Frage einigermaßen plausibel mit Ja beantwortet werden kann, ist ein Dualismus von Psychischem und Physischem aufrecht zu erhalten. „Die Frage, ob es ein charakteristisches Merkmal des Mentalen gibt, das es erlaubt, mentale Eigenschaften und Zustände eindeutig von physischen Eigenschaften und Zuständen zu unterscheiden, ist in der Philosophie des Geistes immer 215 216
Von Kutschera, Franz: Philosophie des Geistes, Mentis, Paderborn, 2009. S. 205.
Mit dem Ausdruck ‘Gretchenfrage’ wird eine Frage bezeichnet, die den eigentlichen Kern eines Problems zum Ausdruck bringt.
110
wieder diskutiert worden.“217 Es lohnt sich daher, einen Blick auf die Liste möglicher Antworten zu werfen: 1) Mentale Phänomene unterscheiden sich von physischen Phänomenen dadurch, dass sie bewusst sind. Dass ein mentaler Zustand M bewusst ist, kann zumindest zweierlei heißen. • Es kann ersten heißen, dass eine Person, die im mentalen Zustand M ist, auch weiß, dass sie in M ist. • Und es kann zweitens heißen, dass der Zustand M einen phänomenalen Charakter besitzt, d.h. dass es sich auf eine bestimmte Weise anfühlt, in diesem Zustand zu sein [...]. 2) Mentale Phänomene unterscheiden sich von physischen Phänomenen dadurch, dass unser Wissen um unsere eigenen mentalen Zustände unkorrigierbar ist. Wenn alle mentalen Zustände im ersten der beiden genannten Sinne bewusst wären, dann wäre unser mentales Leben in dem Sinne ,durchsichtig‘, dass uns keiner unserer mentalen Zustände entgehen könnte. Es würde generell gelten: Wenn eine Person im mentalen Zustand M ist, dann weiß sie auch, dass sie in M ist. Unkorrigierbarkeit ist in gewisser Weise das Gegenstück zur Durchsichtigkeit des Mentalen. Denn wenn unser Wissen über unsere mentalen Zustände unkorrigierbar wäre, dann würde das heißen, dass wir uns in diesem Bereich nicht irren können, dass also generell gilt: Wenn eine Person glaubt, in einem mentalen Zustand M zu sein, dann ist sie auch in M. 3) Mentale Phänomene unterscheiden sich von physischen Phänomenen durch das Merkmal der Intentionalität. Ein Phänomen wird intentional genannt, wenn es sich auf etwas anderes bezieht bzw. wenn es einen intentionalen Gegenstand oder einen semantischen Inhalt hat. Wenn wir glauben, glauben wir etwas, wenn wir wünschen, wünschen wir etwas, wenn wir befürchten, befürchten wir etwas, usw. In diesem Sinne sind also Überzeugungen, Wünsche und Befürchtungen intentional. Die These, dass Intentionalität in diesem Sinn 217
Beckermann, Ansgar: Analytische Einführung in die Philosophie des Geistes, Gruyter, Berlin, 2008, S. 9.
111 das entscheidende Merkmal des Mentalen ist, das diesen Bereich unzweideutig vom Bereich des Physischen abgrenzt, wurde besonders von Franz Brentano vertreten. 4) Mentale Phänomene unterscheiden sich von physischen Phänomenen dadurch, dass sie nicht räumlich sind. Die Annahme, dass das Mentale im Gegensatz zum Physischen nichträumlich ist, hat eigentlich nur einen Sinn, wenn man den Bereich des Mentalen als einen Bereich von Gegenständen auffasst. Denn von Eigenschaften oder Zuständen zu sagen, sie seien nicht-räumlich, ist ebenso sinnlos wie zu sagen, sie seien räumlich. Unabhängig von der Frage ob es mentale Gegenstände gibt, gilt diese Annahme also sich nicht für den gesamten Bereich des Mentalen. 5) Mentale Phänomene unterscheiden sich von physischen Phänomenen dadurch, dass sie privat sind. • Privatheit ist sicher das meist diskutierte Merkmal des Mentalen. [...] Grundsätzlich kann man [...] sagen, dass etwas (nennen wir es x) privat ist, wenn sein Besitzer eine privilegierte Beziehung zu x hat, d.h. eine Beziehung, die kein anderer zu x hat oder haben kann. Die Frage ist nur, wie diese besondere Beziehung definiert werden kann. • Ein erster Sinn von ‘privat’ wird deutlich in Aussagen wie ‘Mehrere Personen können (auch gleichzeitig) dasselbe Auto besitzen. Aber meine Schmerzen kann nur ich haben’. • Ein verwandter, aber doch verschiedener Sinn von ‘privat’ zeigt sich in der Aussage ‘Nur ich kann meine Schmerzen fühlen’. Diese Aussage wird oft damit in Verbindung gebracht, dass wir zu unseren mentalen Zuständen einen besonderen epistemischen Zugang haben. • Ein wieder anderer, auf noch deutlichere Weise epistemischer Sinn von ‘privat’ ergibt sich aus der Aussage ‘Nur ich kann wissen, ob ich Schmerzen habe; andere können dies höchstens vermuten’. • Viertens schließlich sehen viele einen engen Zusammenhang zwischen der Privatheit mentaler Zustände und ihrer Subjektivität, d.h. der schon erwähnten Tatsache, dass zumindest einige mentale Zustände dadurch charakterisiert sind, dass es auf eine bestimmte Weise ist bzw. sich auf eine bestimmte Weise anfühlt, in diesen Zuständen zu sein. Denn dieser
112 qualitative Charakter ist, wie manche sagen, Erfahrungsperspektive verbunden [...].218
mit einer bestimmten
Keines dieser Merkmale ist unumstritten, trifft also ohne Zweifel auf alle mentalen Phänomene zu. Es lassen sich zu jedem Merkmal Einwände formulieren oder zumindest Verständnisprobleme aufzeigen. Dennoch gibt es einige Merkmale des Mentalen, die als Begründung für die Verschiedenartigkeit von Psychischem und Physischem nur schwer zu entkräften sind, von denen es also kaum vorstellbar ist, dass sie auch nichtmentalen Entitäten zugeschrieben werden können. Es handelt sich hierbei um den phänomenalen Charakter und die Intentionalität mentaler Zustände. Sie sind für den Dualismus im Besonderen und für das psychophysische Problem im Allgemeinen von so großer Bedeutung, dass sie nachstehend gesondert behandelt werden. 4.1.1.1 Der phänomenale Charakter mentaler Zustände Im Zusammenhang mit Thomas Nagels berühmter Frage ‘Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?’ lässt sich besonders gut ausdrücken, was es heißt, dass bestimmte mentale Zustände einen phänomenalen Charakter besitzen, dass sie also phänomenal gehaltvoll sind, einen semantischen Inhalt haben bzw., dass sie perspektivisch sind.219 Zustände dieser Art seien in der Folge auch phänomenale Zustände genannt. Nagels Überlegungen verdeutlichen, warum es für den Dualisten plausibel ist, anzunehmen, dass es jedenfalls einige mentale Entitäten gibt, die von allen physischen Entitäten verschieden sind, und dass der materialistische Monismus daher unhaltbar ist. Wenn von phänomenalen Zuständen die Rede ist, dann handelt es sich prinzipiell um diejenigen mentalen Zustände, die den Subjekten, die sich in einem solchen Zustand befinden, bewusst sind, d.h. um Erlebniszustände oder Zustände bewusster Erfahrung. 218
Beckermann, Ansgar: Analytische Einführung in die Philosophie des Geistes, Gruyter, Berlin, 2008, S. 9-12. 219
Vgl. Nagel, Thomas: Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?, in: Bieri, Peter: Analytische Philosophie des Geistes, Beltz Verlag, Weinheim und Basel, 2007. Vgl. 4.2.5.4, Fledermaus-Argument.
113 Bewußte Erfahrung ist ein weit verbreitetes Phänomen. Sie taucht auf vielen Ebenen tierischen Lebens auf, obgleich wir nicht sicher sein können, daß sie in einfacheren Organismen vorkommt, und es sehr schwer ist, im allgemeinen zu sagen, was Indizien für sie liefert [...]. Zweifellos taucht sie in zahllosen Formen auf, die für uns ganz und gar unvorstellbar sind [...]. Aber ganz gleich, wie die Formen voneinander abweichen mögen: Die Tatsache, daß ein Organismus [...] bewußte Erfahrung hat, heißt im wesentlichen, daß es irgendwie ist, dieser Organismus zu sein. [...] Grundsätzlich [...] hat ein Organismus bewußte mentale Zustände dann und nur dann, wenn es irgendwie ist, dieser Organismus zu sein - wenn es irgendwie für diesen Organismus ist.220
Der phänomenale Charakter bewusster mentaler Zustände besteht also darin, dass es für den Inhaber dieser Zustände immer irgendwie ist, sich in einem solchen Zustand zu befinden. Erfahrungen oder Erlebnisse sind fundamental durch ihr Irgendwie-Sein charakterisiert, und zwar wesentlich aus der Perspektive dessen, der das Erlebnis oder die Erfahrung hat. Wir können den phänomenalen Charakter bewusster mentaler Zustände auch den subjektiven Charakter von Erfahrung nennen. Phänomenale Zustände sind also subjektiv und perspektivisch. Sie sind subjektiv insofern, als sie von außen nicht unmittelbar zugänglich sind - meine Erlebnisse sind nur mir unmittelbar zugänglich und niemandem sonst; und sie sind perspektivisch, denn jedes Erlebnis impliziert die Perspektive dessen, der dieses Erlebnis hat - meine Erlebnisse kann nur ich haben und sonst niemand. 221 Sobald man also zugibt, dass es bewusste Erfahrung gibt, oder ganz allgemein formuliert, dass es Bewusstsein gibt, ist es höchst fraglich, ob es tatsächlich nicht-mentale Entitäten gibt, die dieselben Eigenschaften haben, wie sie für phänomenale Zustände konstatiert werden müssen. 222 220
Nagel, Thomas: Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?, in: Bieri, Peter: Analytische Philosophie des Geistes, Beltz Verlag, Weinheim und Basel, 2007, S. 261. 221
Nagel spricht in diesem Zusammenhang auch von den phänomenologischen Eigenschaften bewusster mentaler Zustände. (Vgl. Nagel, Thomas: Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?, in: Bieri, Peter: Analytische Philosophie des Geistes, Beltz Verlag, Weinheim und Basel, 2007, S. 262.) 222
Die Diskussion über den phänomenalen Charakter mentaler Phänomene bzw. die Diskussion phänomenaler Zustände ist in der Philosophie des Geistes auch als QualiaDiskussion bekannt.
114
Bewusste mentale Zustände bzw. der subjektive Charakter der Erfahrung scheinen also ein wichtiges Indiz dafür zu sein, dass die Wirklichkeit tatsächlich mit zwei verschiedenen Arten von ontologischen Entitäten »ausgestattet« ist. Darüber hinaus geben mentale Zustände dieser Art einen Hinweis auf ein wichtiges Problem des Materialismus. Im Materialismus wird ja behauptet, dass alle mentalen Zustände in letzter Konsequenz physische Phänomene sind, dass also alle mentalen Zustände Spielarten physischer Zustände sind. Doch es ist kaum vorstellbar, wie phänomenale Zustände auf physische Phänomene zurückgeführt werden sollten. Wie um alles in der Welt soll es möglich sein, dass etwa bestimmte Gehirnzustände eben diese qualitativen Charakteristika haben? Wie soll es möglich sein, dass es sich überhaupt irgendwie anfühlt bzw. dass es überhaupt irgendwie ist, in einem bestimmten Gehirnzustand zu sein? Gehirnzustände hat man, aber man erlebt sie nicht.223
Um Erfolg zu haben, müssen alle phänomenalen Zustände von materialistischen Theorien objektiviert werden, und gerade dies scheint unmöglich zu sein. 4.1.1.2 Intentionalität Ein weiteres wichtiges Unterscheidungsmerkmal des Mentalen ist die Intentionalität224 einiger mentaler Zustände.225 Dass ein bestimmter 223
Beckermann, Ansgar: Analytische Einführung in die Philosophie des Geistes, Gruyter, Berlin, 2008, S. 15. 224
Das Konzept der Intentionalität geht auf Franz Brentano zurück. Intentionalität im Sinne Brentanos bedeutet Gerichtetheit auf ein Objekt. Für Brentano war die Intentionalität dasjenige Merkmal, wodurch sich alle mentalen Phänomene von allen physischen Phänomenen eindeutig unterscheiden. Diese Position ist heute umstritten. Es ist ungeklärt, ob alle mentalen Phänomene in diesem Sinne intentional sind. 225
Von einigen mentalen Zuständen ist die Rede, weil strittig ist, ob alle intentionalen Zustände phänomenale Zustände sind. „Auf jeden Fall kann man sagen, dass phänomenale Zustände bewusst erlebte Zustände sind und intentionale Zustände solche, die einen Inhalt besitzen, weil sie auf Teile der Wirklichkeit gerichtet sind.“ (Metzinger, Thomas: Philosophie des Geistes; Das Leib-Seele-Problem, Mentis, Paderborn, 2007, S. 28)
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mentaler Zustand intentional ist, heißt, dass dieser Zustand auf etwas gerichtet ist, dass er ein intentionales Objekt hat. Zustände dieser Art seien in der Folge intentionale Zustände genannt. Als intentionale Zustände gelten etwa Bewusstsein, Überzeugungen, Wünsche, Befürchtungen Hoffnungen und Erwartungen. Der spezifische Charakter dieser Zustände ist ihr semantischer bzw. repräsentationaler Inhalt: Man glaubt, dass etwas der Fall ist, man wünscht sich einen bestimmten Gegenstand, man hofft oder befürchtet, dass ein bestimmtes Ereignis eintreten wird.226 Auch hier stellt sich die Frage, wie es denn möglich sein soll, dass physische Zustände dieses Merkmal aufweisen, wie es möglich sein soll, dass physische Zustände einen semantischen Inhalt bzw. ein intentionales Objekt haben.227
4.1.1.3 Phänomenaler Charakter und Intentionalität als gute Gründe für den Dualismus Auch wenn man wahrscheinlich von einigen Merkmalen des Mentalen zeigen kann, dass damit eine prinzipielle Verschiedenartigkeit von Psychischem und Physischem nicht zu begründen ist, so dürfte ein solches Vorhaben im Falle phänomenaler und intentionaler Zustände wesentlich schwieriger sein. Auf der einen Seite lässt sich nicht so einfach leugnen, dass es so etwas gibt wie subjektive Erlebnisqualitäten - es fühlt sich für mich auf eine einzigartige Weise an, einen Sonnenuntergang zu erleben oder dass es mentale Zustände gibt, die einen semantischen Inhalt haben, wie z.B. meine Hoffnung, dass ich einhundert Jahre alt werde. Auf der anderen Seite ist es unplausibel zu behaupten, dass es sich etwa für eine Blume irgendwie anfühlt, im Zustand der Photosynthese zu sein, oder dass sich z.B. Steine oder Gehirnprozesse in Zuständen befinden können, die dadurch charakterisiert sind, dass sie auf irgendwelche Objekte gerichtet sind oder einen semantischen Inhalt haben. Die Aussage, dass sich ein bestimmter Gehirnprozess oder ein Stein im Zustand des Hoffens befindet, ist vorsichtig ausgedrückt, sinnlos. Ich hoffe, dass ich einhundert Jahre alt werde, nicht meine Gehirnprozesse und nicht Steine. 226
Beckermann, Ansgar: Analytische Einführung in die Philosophie des Geistes, Gruyter, Berlin, 2008, S. 13. 227
a. a. O. S. 15 f.
116
Die Argumentation gegen phänomenale und intentionale Zustände, als gute Gründe für die Annahme eines Entitätendualismus, hätte in jedem Fall der Materialist zu führen, denn er ist es ja, der die Annahme für falsch hält, dass das Psychische einen eigenständigen Bereich des Wirklichen konstituiert. Im Zusammenhang mit dem Dualismus reicht es deshalb vorerst aus, dass es offensichtlich nicht unplausibel ist, sowohl Psychisches als auch Physisches als eigenständige und ontologisch nicht aufeinander reduzierbare Bereiche des Wirklichen zu behaupten. 4.1.2 Dualismus und Alltagsrealität Der Vollständigkeit halber seien abschließend zwei weitere Gründe für den Dualismus genannt, von denen bereits die Rede war: Erstens entsprechen dualistische Theorien unserer Alltagsrealität am besten, denn das Wirklichkeitsmodell des Commonsense impliziert einen psychophysischen Dualismus in einem ontologischen Sinn. Zweitens ist der Dualismus mit einer besonderen anthropologischen Deutung des Menschen verträglich, was nicht zuletzt seine Dominanz in der europäischen Geistesgeschichte erklärt: Bei der Konzeption vom Verhältnis von Körper und Seele geht es nicht bloß um ein theoretisches Problem, sondern um das menschliche Selbstverständnis und damit um eine existentiell eminent wichtige Frage. Der Dualismus war vor allem Grundlage für den Glauben an eine besondere Würde des Menschen und seine Unsterblichkeit.228
4.1.3 Substanzdualismus Die Kernthesen des Substanzdualismus lauten: Es gibt Körper und es gibt Seelen. Körper sind Substanzen und Seelen sind auch Substanzen. Weil die Seele jedenfalls eine Substanz ist, ist ihre Existenz vom Körper unabhängig. Körper und Seele sind ontologisch wesensverschiedene Arten von Entitäten, die zueinander in Beziehung stehen und sich wechselseitig beeinflussen. Im Zusammenhang mit dem substanzdualistischen Denken, werde ich Platon und Descartes bemühen. Platon deshalb, weil das Leib-Seele228
Von Kutschera, Franz: Philosophie des Geistes, Mentis, Paderborn, 2009. S. 206.
117
Problem, retrospektiv, in der Formulierung seiner dualistischen Philosophie erstmals auftritt.229 Descartes deshalb, weil er der erste Philosoph ist, der sowohl explizite Argumente für die Existenz der Seele vorstellt als auch eine Erklärung für einen psychophysischen Interaktionismus liefert.230 Zunächst zu Platon: Für Kutschera ist Platon der erste Substanzdualist der europäischen Philosophie.231 Bei ihm findet man jene Grundsätze, die die geistige Tradition des Abendlandes prägten, die viele Philosophen mit ihm teilten und die letztlich der Ausgangspunkt einer Debatte sind, die bis heute andauert: 1) Der Mensch besteht nicht nur aus einem Körper, sondern aus [...] Körper und [...] Seele. 2) Die Seele macht das eigentliche Selbst eines Menschen aus. Sie (und damit der Mensch) ist für ihre Existenz auf keinen Körper angewiesen. 3) Körper und Seele des Menschen sind nur während seines Erdenlebens zusammengespannt; beim Tode löst sich die Seele vom Körper. 4) Während der Körper vergänglich ist, ist die Seele unsterblich.232
Aus heutiger Sicht zeigt sich, dass die Leib-Seele-Philosophie in ihren Anfängen viel weniger einen ontologischen oder erkenntnistheoretischen als viel mehr einen anthropologischen Gehalt hatte. Nicht die Grundverfassung der Wirklichkeit, also die Frage, welche Entitäten im Prinzip existieren, in welchen Beziehungen sie zueinander stehen und wie der Aufbau der Wirklichkeit, gegeben diese Entitäten, theoretisch befriedigend zu erfassen ist, stand im Zentrum der Überlegungen, sondern die Bestimmung dessen, was der Mensch seiner Natur nach ist. Die Programme der philosophischen Anthropologien waren dabei vielfach 229
In Anlehnung an 2.2.1.3 ist zu sagen, dass Platon selbst, wie sich zeigen wird, tatsächlich kein Leib-Seele-Problem der Art gehabt hat, wie wir das heute diskutieren. 230
Vgl. Beckermann, Ansgar: Analytische Einführung in die Philosophie des Geistes, Gruyter, Berlin, 2008. 231 232
Vgl. Von Kutschera, Franz: Philosophie des Geistes, Mentis, Paderborn, 2009.
Beckermann, Ansgar: Analytische Einführung in die Philosophie des Geistes, Gruyter, Berlin, 2008, S. 20. Anmerkung: Das ist jedenfalls die Position die Platon im Phaidon vertritt.
118
dieselben: Es galt den Menschen aus dem Verband der »reinen Naturgegenstände«233 herauszulösen und ihn als besondere Wesenheit zu positionieren. Die Seele samt ihren Attributen wie etwa dem der Unsterblichkeit war für dieses Unterfangen von größter Bedeutung. Um den Substanzdualismus zu verstehen, ist es deshalb wichtig zu verstehen, was die Seele dieser Auffassung nach ist: Sie ist nämlich nicht identisch mit jenen mentalen Entitäten, die Gegenstand moderner Diskurse sind, also etwa mit Gedanken, Gefühlen, Vorstellungen, Erlebnissen usw. Zwar hat die Seele auch im Substanzdualismus etwas damit zu tun, doch für Substanzdualisten ist sie immer auch noch etwas anderes als bloß diese mentalen Phänomene. 234 Was wird also behauptet: Substanz-Dualisten - wie Platon, Descartes oder in neuester Zeit Richard Swinburne - behaupten, dass es neben Steinen, Bäumen und Stühlen - also neben den physischen Gegenständen - auch noch immaterielle, nicht-physische Dinge gibt und dass es diese immateriellen Dinge sind, die ein geistiges Leben haben, die denken, fühlen und sich entscheiden.235
Man spricht hier auch davon, dass die immaterielle Seele der Träger mentaler Eigenschaften ist, und zwar in dem Sinn, wie der materielle Körper der Träger physischer Eigenschaften ist. Insofern ist die Seele vom Körper verschieden. In einem gewissen Sinn ist sie aber auch von allen mentalen Entitäten verschieden. Das heißt zwar nicht, dass Seelisches und Mentales zwei verschiedene Arten von Entitäten sind, beide gehören zum Bereich des Psychischen, dennoch muss man sie aus der Sicht des Substanzdualismus ontologisch differenzieren: Seelen sind Substanzen, d.h. Seelen sind unabhängige Individuen. Mentale Entitäten wie Gedanken, Gefühle, Vorstellungen usw. sind hingegen Akzidentia. Gedanken, Gefühle, Vorstellungen usw. sind demnach abhängige Individuen. Für die weitere Diskussion ist es deshalb nicht unerheblich, genauer zu erläutern,
233
Mit dem Ausdruck ‘Naturgegenstände’ seien alle Gegenstände der belebten wie unbelebten Natur bezeichnet. Ein Flugzeug ist kein Naturgegenstand in diesem Sinne. 234
So hat die Seele beispielsweise für Platon und die meisten antiken Philosophen nicht nur mit dem Denken, Fühlen und Vorstellen zu tun, sondern ist darüber hinaus auch das Prinzip des Lebens. 235
Beckermann, Ansgar: Analytische Einführung in die Philosophie des Geistes, Gruyter, Berlin, 2008, S. 6.
119
was es aus ontologischer Sicht mit unabhängigen und abhängigen Individuen, Substanzen und Akzidentia auf sich hat: Die unabhängigen Individuen bezeichnet man von alters her als Substanzen (womit also in der Ontologie ein ganz anderer Sinn gemeint ist als der alltagssprachliche, gemäß dem ,Substanz‘ so viel besagt wie: chemischer Stoff), die abhängigen Individuen als Akzidentia (Singular: das Akzidens).236
Die Ausdrücke ‘Substanz’ und ‘Akzidens’ sind hier so festgelegt, dass „ausschließlich Individuen Substanzen oder Akzidentia sind“237 . Wie sind nun aber unabhängige und abhängige Individuen, Substanzen und Akzidentia, zu bestimmen? Zunächst definiert man abhängige Individuen, und zwar so: x ist ein abhängiges Individuum gdw. gilt: „x ist ein Individuum, und für mindestens ein Individuum z, das von x verschieden ist und das kein Teil von x ist, gilt, dass es unmöglich ist, dass x existiert und z nicht existiert.“238 Unabhängige Individuen dagegen, sind solche, die nicht abhängig sind. Nun lassen sich die Kernthesen des Substanzdualismus, wie sie am Beginn dieses Abschnitts vorgestellt wurden, besser verstehen: Ein Substanzdualist behauptet erstens, dass es neben den materiellen Dingen, d.h. neben den materiellen Individuen (Substanzen) wie Körper, Häuser, Bäume oder Gehirne auch noch andere Individuen (Substanzen) gibt, nämlich Seelen. Materielle Dinge sind Substanzen. Seelen sind auch Substanzen. Weil Seelen jedenfalls Substanzen sind, ist ihre Existenz von Körpern unabhängig. Seelen sind darüber hinaus von allen materiellen Individuen verschieden, und zwar, ob der Attribute, die ihnen zugeschrieben werden. Häufig ist hier von Unsterblichkeit, Immaterialität, Unausgedehntheit u. dgl. die Rede. Diese Attribute kommen der substanzdualistischen Auffassung nach Seelischem zu, Körperlichem aber nicht. Obwohl Seele und Körper verschieden sind, stehen sie, zumindest über einen bestimmten Zeitraum hinweg, in einer Beziehung zueinander und beeinflussen sich wechselseitig. Diese Beziehung bzw. die Art der wechselseitigen Beeinflussung wird im Substanzdualismus verschieden gedacht. Für Aristoteles etwa ist die Seele das Prinzip des Lebens. Sie vermag es, den Körper zu etwas Lebendigem zu machen. Bei Descartes dagegen findet sich eine Frühform des modernen 236
Meixner, Uwe: Einführung in die Ontologie, WBG Verlag, Darmstadt, 2004, S. 38.
237
Ebenda.
238
a. a. O. S. 41.
120
Geist-Gehirn-Interaktionismus. Metaphorisch gesprochen: Der Körper wird von der Seele bewegt und die Seele vom Körper, und zwar aufgrund der Verbindung von Seele und Gehirn. Soweit sind die Behauptungen des Substanzdualismus durchaus nachvollziehbar. Allerdings folgt nicht aus ihnen, dass sich die Seele beim Tod des Körpers von diesem löst oder dass sie unsterblich ist, und ebenso wenig, dass es so etwas wie Seelen überhaupt gibt. Zudem wird nichts darüber ausgesagt, wie die Interaktion des Körpers (etwa dem des Menschen) mit der Seele aufzufassen ist. (Substanz-) Dualisten leugnen ja nicht, dass es einen Zusammenhang zwischen Körper und Seele gibt, doch wenn es einen solchen gibt, dann muss man erläutern, wie dieser Zusammenhang beschaffen ist. Was heißt es, dass die Seele den Körper lebendig macht oder dass sie über das Gehirn mit dem Körper interagiert? Das alles wäre nun zu zeigen, um die substanzdualistischen Thesen zu begründen. Doch es gibt kaum explizit formulierte Argumente für die Existenz der Seele und kaum eine Erklärung für die Relation zwischen Psychischem und Physischem.239 Vielleicht ist die eingangs angesprochene anthropologische Färbung der frühen LeibSeele-Philosophie mit ein Grund dafür, dass solche Argumente und Erklärungen fehlen. Möglicherweise wurden die Aspekte aber auch nur für trivial gehalten, denn von Platon und den meisten antiken Philosophen wurde die Existenz der Seele und ihre Beziehung zum Körper einfach vorausgesetzt. Das Hauptaugenmerk galt dem Beweis der Unsterblichkeit der Seele. Platon hat hierfür im Phaidon vier Argumente vorgelegt, die historisch so bedeutsam sind, dass ich sie hier in einer Zusammenschau von Ansgar Beckermann vorstellen werde: 1) Der Zyklus von Entstehen und Vergehen. Zu jedem Prozess, der von A zu B dem Gegenteil von A führt - führt, muss es einen entgegengesetzten Prozess geben, der von B wieder zu A führt - zum Sterben also den Prozess des Wiederauflebens. Sterben bedeutet aber nichts anderes als die Trennung der Seele vom Körper; also muss das Wiederaufleben darin bestehen, dass die Seele wieder in einen Körper eintritt. Die Seelen der Menschen müssen sich daher nach dem Tode irgendwo aufhalten, damit sie von dort wieder in einen Körper zurückkehren können.
239
Vgl. Beckermann, Ansgar: Analytische Einführung in die Philosophie des Geistes, Gruyter, Berlin, 2008.
121
2) Erinnerung. Die Seele muss schon vor der Geburt existiert haben, da wir über Wissen verfügen, das wir nur vor der Geburt (durch Schau der Ideen) erworben haben können. 3) Verwandtschaft. Die Seele strebt nach der Erkenntnis der Ideen, der Körper dagegen konzentriert sich auf die Welt der vergänglichen empirischen Dinge. E s g i b t a l s o e i n e Ve r w a n d t s c h a f t , u n d d . h . a u c h e i n e Schicksalsverwandtschaft, zwischen Körper und vergänglicher Welt einerseits und Seele und Ideenwelt andererseits. Also ist der Körper vergänglich und die Seele (wie die Ideen) unvergänglich. 4) Die Seele als Lebensprinzip. So wie das Feuer allem, dem es innewohnt, Wärme verleiht, so verleiht die Seele allem, wovon sie Besitz ergreift, Leben. Wenn etwas allen Gegenständen, denen es innewohnt, Anteil an der Idee F vermittelt und deren Teilhabe an der entgegengesetzten Idee F" verhindert, dann kann dieses Vermittelnde selbst erst recht die Idee F" nicht in sich aufnehmen. Also ist die Seele unsterblich.240
Erst Descartes sah die Notwendigkeit eines Beweises für die unabhängige Existenz der Seele und der Erklärung der Relation zwischen Seele und Körper. Für die vom Körper unabhängige Existenz der Seele hat Descartes gleich zwei Beweise: einen metaphysischen und einen naturphilosophischen. Der metaphysische Beweis findet sich in den Meditationen.241 Der naturphilosophische, wenn auch nur fragmentarisch, im Discours de la Méthode. 242 Ich werde mich hier nur dem metaphysischen Argument widmen, da Descartes’ naturphilosophisches Argument einem Argument gegen den Funktionalismus gleichkommt und der Funktionalismus im Abschnitt zum Materialismus besprochen wird. Bevor ich mich aber dem Beweis zuwende, sind der besseren 240
Beckermann, Ansgar: Analytische Einführung in die Philosophie des Geistes, Gruyter, Berlin, 2008, S. 28. 241
Vgl. Descartes, René: Meditationes de prima philosophia, Felix Meiner Verlag, Hamburg, 2008. 242
Vgl. Descartes, René: Discours de la méthode - Von der Methode des richtigen Vernunftgebrauchs und der wissenschaftlichen Forschung, Meiner Verlag, Hamburg, 1997.
122
Nachvollziehbarkeit wegen ein paar vorbereitende Anmerkungen zu machen: Descartes definiert die Seele als eine res cogitans und den Körper als eine res extensa. „Das wesentliche Attribut der Seele ist es also zu denken, so wie es das wesentliche Attribut des Körpers ist, ausgedehnt zu sein.“243 Diese Attribute sind die Grundlage seines Beweises dafür, dass die Seele existiert und eine Substanz im ontologischen Sinn ist. Descartes beginnt mit dem Beweis der Existenz der Seele „in der zweiten Meditation im Anschluss an das ,cogito‘-Argument, mit dessen Hilfe [er] versucht hat, seine [eigene] Existenz zu beweisen. Nachdem klar ist, dass er existiert, stellt sich nämlich sofort die Frage, was denn die Natur oder das Wesen dieses Dinges ist, dessen Existenz gerade bewiesen wurde“244 . Zunächst zeigt ihm sein Existenzbeweis nur, dass er existiert, weil er ein »denkendes Ding« ist. Daraus folgt aber nicht, dass das, was denkt (die res cogitans), in einem substanziellen Sinn existiert. Mit dem metaphysischen Argument versucht er gerade dies zu zeigen: (1) Alles, was ich klar und deutlich begreife, kann von Gott so gemacht werden, wie ich es begreife. Also: (2) Alles, was ich klar und deutlich begreife, ist möglich. (3) Ich sehe klar und deutlich ein, dass ich allein mit der Eigenschaft des Denkens und ohne alle körperlichen Eigenschaften existieren könnte. (4) Ich sehe ein, dass alle Körper allein mit der Eigenschaft des Ausgedehntseins, d.h. ohne zu denken, existieren können. Somit ergibt sich aufgrund von (2): (5) Ich kann allein mit der Eigenschaft des Denkens und ohne alle körperlichen Eigenschaften existieren. (6) Jeder Körper kann allein mit der Eigenschaft des Ausgedehntseins, d.h. ohne zu denken existieren. Also: (7) Ich bin von meinem Körper real verschieden und kann daher auch ohne ihn existieren.245
243
Beckermann, Ansgar: Analytische Einführung in die Philosophie des Geistes, Gruyter, Berlin, 2008, S. 29. 244
Ebenda.
245
a. a. O. S. 31.
123
Das Argument Descartes’ stützt sich wesentlich auf modallogische Überlegungen und ist mithin nicht zu unterschätzen, zumal es ein logisch gültiges Argument ist. Dass ein Argument logisch gültig ist, heißt, dass die Konklusion des Arguments logisch aus den Prämissen des Arguments folgt. Dass die Konklusion logisch aus den Prämissen des Arguments folgt, heißt, dass es logisch unmöglich ist, dass alle Prämissen wahr sind und die Konklusion falsch ist. Wenn wir es also mit wahren Prämissen zu tun haben, dann haben wir es auch mit einer wahren Konklusion zu tun. Ein logisch gültiges Argument ist ja ein wahrheitserhaltender Schluss. Dennoch impliziert das Argument gewisse Probleme: Zwar ist der Wahrheitstransfer zwischen den Prämissen und der Konklusion garantiert, keinesfalls aber die Wahrheit der Prämissen an sich. Die Wahrheit der Prämissen muss vorausgesetzt werden, was vor allem mit Blick auf die Gottesprämisse (1) und die Erkenntnisprämisse (3) äußerst problematisch ist. Was die Gottesprämisse betrifft, so ist es erstens fraglich, ob es wahr ist, dass es Gott gibt, und zweitens, ob es wahr ist, dass dieser Gott alles so machen könne, wie Subjekte dies begreifen. Die Erkenntnisprämisse hingegen ist aus epistemologischen Gründen problematisch, denn was bedeutet es, dass etwas klar und deutlich gesehen wird? Bedeutet es, dass eine Erkenntnis vorliegt, die aus logischen Gründen unumstößlich ist, oder dass eine Erkenntnis vorliegt, die aus anderen Gründen gewiss ist, und um welche Gründe handelt es sich hierbei? Davon abgesehen ist das Argument natürlich nicht ausreichend dafür, die Relation zwischen Seele und Körper verständlich zu machen, weshalb Descartes versucht hat, die Erklärung an anderer Stelle nachzuliefern: Er beschreibt in seiner Abhandlung über die Leidenschaften der Seele246 eine ontologische Relation zwischen Psychischem und Physischem, genauer gesagt eine Symmetrierelation der Kausalität247 , und zwar als eine Wechselwirkungsbeziehung zwischen
246
Vgl. Descartes, René: Die Leidenschaften der Seele, Meiner, Hamburg, 1996.
247
Vgl. 2.2.2.3, Das psychophysische Problem als Relationsproblem.
124
Seele und Gehirn.248 Descartes zeigt zum einen, an welcher Stelle die Seele mit dem Gehirn interagiert: Es gibt eine kleine Drüse im Gehirn, über welche die Seele in spezifischerer Weise als über die anderen Glieder ihre Funktion ausübt. [...] Nachdem ich [...] die Sache sorgfältig untersucht habe, bin ich mir gewiß, erkannt zu haben, daß der Körperteil, über den die Seele ihre Funktionen unmittelbar ausübt, [...] eine gewisse sehr kleine Drüse ist, die inmitten der Hirnsubstanz liegt.249
Er begründet diese Auffassung damit, dass im Gegensatz zu dieser Drüse (die er Zirbeldrüse nennt), alle anderen „Teile unseres Gehirns doppelt vorhanden sind, so wie wir auch zwei Augen, zwei Hände, zwei Ohren haben, und überhaupt alle unsere äußeren Sinnesorgane doppelt vorhanden sind“250 . Weil aber der Seele nicht doppelte Sinneseindrücke, sondern stets zusammengesetzte »Bilder« empfängt, muss es einen Ort geben, an dem diese Zusammensetzung vollzogen wird, und dieser Ort ist eben die Zirbeldrüse. Zum anderen erklärt Descartes, wie die Interaktion von Seele und Körper aufzufassen ist. Er fügt hinzu, daß diese kleine Drüse der Hauptsitz der Seele ist, der so zwischen den Hirnkammern, welche die Lebensgeister enthalten, aufgehangen ist, daß sie durch die Lebensgeister entsprechend den verschiedenartigen Bewegungen, die es bei den Sinneswahrnehmungen der Gegenstände gibt, bewegt werden kann, aber daß sie auch in verschiedener Weise durch die Seele bewegt werden kann, welche die Fähigkeit besitzt, entsprechend unterschiedliche Eindrücke aufzunehmen, d.h. daß sie soviele unterschiedliche Wahrnehmungen hat, wie es verschiedene Bewegungen dieser Drüse gibt.251
Heute ist diese Auffassung natürlich überholt. Bemerkenswert ist aber die Tatsache, dass Descartes, obwohl er die Zirbeldrüse nie gefunden hat, und zwar trotz seiner empirischen Untersuchungen an Gehirnen bis zuletzt daran festhielt, dass es eine solche Drüse geben müsse. Man sieht: Die 248
Tatsächlich ist anzunehmen, dass, wenn überhaupt, Psychisches und Physisches nur im Sinne der Interaktion von Seele und Gehirn bzw. Geist und Gehirn interagiert. Es ist zumindest von keinem dualistisch eingestellten Philosophen die Auffassung vertreten worden, dass die Seele oder der Geist mit einer anderen Entität als dem Gehirn interagiert. 249
Descartes, René: Die Leidenschaften der Seele, Meiner, Hamburg, 1996, S. 51-53.
250
a. a. O. S. 53-55.
251
a. a. O. S. 57-59.
125
Unsterblichkeit der Seele zu beweisen ist eine Sache. Eine andere, die Existenz selbiger zu zeigen, und noch mal eine andere, den Zusammenhang von Seele und Körper zu erklären. Die größten theoretischen Probleme bereitet wohl Letzteres. Denn selbst dann, wenn es gelänge, die Existenz der Seele als einer von allen körperlichen Entitäten verschiedenen Substanz, die Träger mentaler Eigenschaften ist, einwandfrei zu beweisen oder sogar ihre Unsterblichkeit zu zeigen, so wäre damit noch nichts Erhellendes über die Beziehung zwischen Seele und Körper gesagt. Eine Theorie, die das psychophysische Problem (im Sinne von P5-1) lösen will, muss aber nicht nur das Existenzproblem lösen, sondern auch in der Lage sein, die Relation von Psychischem und Physischem theoretisch befriedigend begreiflich zu machen. Alle Substanzdualisten haben hierfür ontologische Relationen vorgeschlagen; doch alle bisherigen Vorschläge, insbesondere Parallelrelation und Relation der indirekten Kausalität, müssen als gescheitert betrachtet werden.252 Aber auch die aus heutiger Sicht wichtigste Relation, die Symmetrierelation der Kausalität, d.h. der Interaktionismus von Psychischem und Physischem, wirft gravierende Probleme auf. Die bedeutendsten Fragen, die damit einhergehen, lauten: Warum kann die Seele nur mit Gehirnen direkt interagieren und nicht mit anderen Körperteilen? Wie kommt es, dass meine Seele nur mit meinem Gehirn interagiert und nicht zudem mit irgendwelchen anderen Gehirnen? Wie ist es möglich, dass zwei wesensverschiedene Substanzen eine Wechselwirkungsbeziehung unterhalten? Wie wird aus rein Physischem rein Psychisches? Darüber hinaus ist der Substanzdualismus nur schwer mit den Ergebnissen moderner Forschung in Einklang zu bringen. Eine philosophische Theorie kann aber diese Ergebnisse nicht einfach ignorieren.
252
Vgl. 2.2.2.3, Das psychophysische Problem als Relationsproblem.
126
4.1.4 Eigenschaftsdualismus Der Eigenschaftsdualismus ist im Vergleich zum Substanzdualismus eine ontologisch schwächere Spielart des Dualismus, wenngleich aus heutiger Sicht die wahrscheinlich plausiblere. Seine Kernthesen lauten: Es gibt psychische Eigenschaften und es gibt physische Eigenschaften. Während psychische und physische Eigenschaften verschiedenartig sind, können ihre Träger auch identisch sein. Für den Eigenschaftsdualisten ist die Seele der Inbegriff psychologischer Phänomene, und wenn man von der Seele eines Menschen redet, kann man darunter wohl nichts anderes verstehen als seine Fähigkeit, zu empfinden, zu denken oder zu wünschen, oder aber jene seelischen Eigenschaften, die für ihn charakteristisch sind.253 Fähigkeiten und Komplexe von Eigenschaften sind aber keine Objekte, keine Substanzen. Dasselbe gilt für den Körper: Er ist kein eigenes Objekt neben der Person, sondern der Inbegriff ihrer körperlichen Fähigkeiten und Eigenschaften. Neben der Person gibt es ebenso wenig den Körper als rein physikalisches Objekt, das nur physikalische Eigenschaften hat, wie die Seele als rein psychologisches Objekt, das nur psychologische Eigenschaften hat. 254
Eigenschaftsdualisten haben demnach ein anderes Verständnis von Substanz und Akzidens als Substanzdualisten. Für Eigenschaftsdualisten sind einerseits rein physikalische Objekte wie Steine, Bäume oder Tische Substanzen, andererseits auch Personen und höhere Tiere. Einige Substanzen wie Steine, Bäume oder Tische sind Träger rein physischer Eigenschaften. Einige Substanzen wie Personen und höhere Tiere sind Träger sowohl psychischer als auch physischer Eigenschaften. Psychische und physische Eigenschaften sind Akzidentia. Im Eigenschaftsdualismus gibt es also keine substanzielle Seele mehr, und ebensowenig seelenlose menschliche Körper. 255 Die Vorstellung seelenloser menschlicher Körper und substanzieller Seelen als existentiell voneinander unabhängige Arten von ontologischen Entitäten löst sich auf. Es bleibt lediglich ein Dualismus der Eigenschaften bestehen. Eigenschaften sind, anders als Substanzen, 253
Von Kutschera, Franz: Die Wege des Idealismus, Mentis, Paderborn, 2006. S. 16.
254
Ebenda.
255
Eine Ausnahme bilden freilich tote Körper, doch hier geht es nur um eine systematische Unterscheidung.
127
existenziell abhängige Entitäten, und zwar in diesem Fall abhängig von ihrem Träger. So kann etwa die Eigenschaft rund sein nicht existieren ohne etwas, das rund ist, und eine Wahrnehmung nicht existieren, ohne dass es jemanden gibt, der diese Wahrnehmung hat. Nichtsdestoweniger sind Eigenschaften eigenständige und wesensverschiedene Arten von Entitäten. Für einige Philosophen sind Eigenschaften allerdings ebenso problematische Entitäten wie für einige andere individuierte Seelen. Sie lehnen beides als für eine vernünftige Ontologie unbrauchbare Bestandteile ab, was den Dualismus ganz allgemein ad absurdum führt. Weit weniger radikal gedacht, stellt sich aber tatsächlich die Frage, ob man mit Eigenschaften auskommt, um den Bereich des Psychischen theoretisch befriedigend zu erfassen. Nichtsdestoweniger erlaubt es das Grundgerüst des Eigenschaftsdualismus, philosophische Theorien zu entwerfen, die besser in unser modernes Wissenschaftsbild integrierbar sind. Was aber nicht heißt, dass sie deswegen auch philosophisch befriedigend sind. Zu nennen sind die Emergenztheorie und der Epiphänomenalismus. Am Beispiel der Emergenztheorie lässt sich sehen, worauf der »moderne« Eigenschaftsdualist hinaus will: Geistige Eigenschaften sind genuin neuartige Eigenschaften im physikalischen Universum, und sie waren vor ihrem ersten Auftreten unvorhersagbar. [...] Das bedeutet, dass mentale Eigenschaften nicht nur genuin neue Phänomene auf einer eigenen Komplexitätsstufe sind, sondern, dass es sich bei ihnen um reale, weil kausal wirksame Phänomene handelt.256
Daraus ergeben sich drei Thesen. Erstens: „Die Gesamtheit der konkreten Realität erschöpft sich in den von der Physik postulierten Elementarteilchen und in Aggregaten dieser Elementarteilchen.“257 Zweitens: „Ab einer gewissen Ebene struktureller Komplexität entstehen aus Mengen von Mikroeigenschaften genuin neue, emergente MakroEigenschaften.“258 Drittens: Diese Makroeigenschaften sind „irreduzibel, denn sie sind real und kausal wirksam: Die Eigenschaften des Ganzen wirken wieder auf Eigenschaften der Teile zurück [...]“259. 256
Metzinger, Thomas: Philosophie des Geistes; Das Leib-Seele-Problem, Mentis, Paderborn, 2007, S. 25. 257
Ebenda.
258
Ebenda.
259
Ebenda.
128 Makroeigenschaften sind nicht auf Mikroeigenschaften reduzierbar, insbesondere sind sie nicht aus der Kenntnis solcher Eigenschaften heraus zu prognostizieren. Trotzdem existieren nomologische Korrelationen, die den Geist mit dem Körper verbinden (psychophysische Brückengesetze). Nach dem ersten Auftreten mentaler Eigenschaften im physikalischen Universum können diese Korrelationen erkannt und im Prinzip auch präzise formuliert werden.260
Das Problem sind die nomologischen Korrelationen: Erstens ist nicht erwiesen, ob tatsächlich alle Korrelationen erkannt werden können, was nichts anderes heißt, als sie mit empirischen Methoden nachzuweisen. Zweitens dürfte die Formulierung psychophysischer Brückengesetze am Leibniz-Gesetz scheitern, dem zufolge aus rein Physischem nichts rein Psychisches folgt.261 Und drittens ist nicht geklärt, was es heißt, dass die Eigenschaften des Ganzen kausal auf diejenigen der Teile zurückwirken. Der Epiphänomenalismus 262 wäre überhaupt eine der elegantesten Lösungen des Leib-Seele-Problems, würde er korrekt sein. Ihm zufolge sind emergente mentale Eigenschaften kausal unwirksame Begleiterscheinungen rein neuronaler Vorgänge im Gehirn. Nicht mehr und nicht weniger. Das heißt: Neuronale Vorgänge sind Ursachen mentaler Eigenschaften. Mentale Eigenschaften sind selbst aber niemals Ursachen neuronaler Vorgänge. Neben der empirischen Plausibilität hat der Epiphänomenalismus [...] den Vorteil, dass er dem Dualismus in unserem intuitiven Selbstbild Rechnung trägt und dabei gleichzeitig gut mit dem methodologischen Physikalismus - also dem Prinzip der kausalen Geschlossenheit der physikalischen Welt - vereinbar ist.263
Das Problem ist aber, dass der Epiphänomenalismus zeigen muss, dass die Welt ohne mentale Phänomene identisch denselben Lauf nehmen würde wie mit ihnen. Doch das kann er nicht. Darüber hinaus wird heute selbst von führenden Neurowissenschaftlern nicht mehr bestritten, dass bestimmte Vorgänge im Gehirn mentale Ursachen haben. Ich werde daher
260
Metzinger, Thomas: Philosophie des Geistes; Das Leib-Seele-Problem, Mentis, Paderborn, 2007, S. 25. 261
Vgl. 4.2.5.2, Leibniz-Gesetz.
262
Vgl. 2.2.2.3, Asymmetrierelation der Kausalität.
263
Metzinger, Thomas: Philosophie des Geistes; Das Leib-Seele-Problem, Mentis, Paderborn, 2007, S. 324.
129
den Epiphänomenalismus in die weiteren Überlegungen nicht mit einbeziehen. Obwohl, oder gerade weil, die Seele als Substanz im Eigenschaftsdualismus nicht mehr vorkommt, scheint der Eigenschaftsdualismus aus philosophischer Sicht für die Lösung des LeibSeele-Problems besser geeignet zu sein als der Substanzdualismus. Doch es wird sich zeigen, dass beide Denkrichtungen im Wesentlichen mit denselben Problemen konfrontiert sind, von denen man im Moment in der Philosophie nicht weiß, wie man sie lösen soll. 4.1.5 Allgemeine Probleme des Dualismus Neben den spezifischen Problemen von Substanz- und Eigenschaftsdualismus, von denen einige bereits andiskutiert wurden, gibt es einige wichtige Probleme, die den Dualismus als solchen betreffen. Es handelt sich hierbei um das Problem psychophysischer Kausalität und das Problem der Erkennbarkeit der physischen Wirklichkeit.264 4.1.5.1 Das Problem psychophysischer Kausalität Aus heutiger Sicht scheinen alle dualistischen Theorien, die nicht Kausalverhältnisse zwischen Psychischem und Physischem annehmen, unbrauchbar zu sein, um das psychophysische Problem im Sinne von P5-1 zu lösen.265 Auch der Epiphänomenalismus ist keine echte Alternative hierfür. Insofern steht aus dualistischer Sicht für eine plausible Erklärung der Wirklichkeit nur mehr ein interaktionistischer Dualismus (wie ihn schon Descartes formulierte) zur Verfügung. Diesem Dualismus zufolge gibt es zwischen Psychischem und Physischem eine kausale
264
Das sind sicher nicht alle Probleme des Dualismus, aber es sind eben die wichtigsten, und zwar auch im Kontext des metaphysischen Dualismus. 265
Vgl. 2.2.2.3, Parallelrelation und Relation der indirekten Kausalität.
130
Wechselbeziehung 266. Das gilt für Substanz- und Eigenschaftsdualismus gleichermaßen. Ein interaktionistischer Dualismus behauptet also: Der Bereich des Psychischen und der Bereich des Physischen sind heterogene, nicht aufeinander reduzierbare und daher ontologisch eigenständige Bereiche in ein und derselben Wirklichkeit, die sich wechselseitig kausal beeinflussen. Jede dualistische Theorie hierzu stößt nun bei dem Versuch, die Art dieser Interaktion theoretisch befriedigend zu erfassen, auf das Problem der psychophysischen Kausalität. Dieses besteht nach Franz von Kutschera aus mehreren Teilproblemen: Erstens dem Problem fehlender psychologischer Gesetze, zweitens dem Problem der kausalen Geschlossenheit der physischen Wirklichkeit und drittens dem Problem der explanatorischen Lücke. Ich werde der Reihe nach darauf eingehen: 4.1.5.1.1 Das Problem fehlender psychologischer Gesetze Das Problem fehlender psychologischer Gesetze „ergibt sich aus der These einer Anomalie des Psychischen, die Donald Davidson in die Diskussion eingeführt hat, in Verbindung mit der Regularitätstheorie[267] der Kausalität“268 . Nach Davidson gibt es „keine strengen, deterministischen Gesetze, mit Bezug auf welche mentale Ereignisse vorausgesagt und erklärt werden können (die Anomalie des Mentalen)“269. Am besten zeigt sich die Anomalie des Mentalen mit Bezug auf die kausale Erklärbarkeit von menschlichem Verhalten, welches ja eine paradigmatische Form 266
Es bestehen also Kausalzusammenhänge in beide Richtungen. Man spricht auch von auf- und abwärtsgerichteter Kausalität. Das heißt: Mentale Wirkungen haben physische Ursachen und umgekehrt; physische Wirkungen haben mentale Ursachen. Vgl. 2.2.2.3, Symmetrierelation der Kausalität. 267
Anmerkung: Die Regularitätstheorie der Kausalität geht auf David Hume zurück. „Danach ist ein Ereignis E Ursache eines späteren Ereignisses E", wenn es Naturgesetze und wahre Antezedensbedingungen gibt - Bedingungen also, die vor dem Eintreten von E" bestehen, aus denen man zusammen mit E auf E" schließen kann.“ (Von Kutschera, Franz: Philosophie des Geistes, Mentis, Paderborn, 2009. S. 43) 268 269
Von Kutschera, Franz: Philosophie des Geistes, Mentis, Paderborn, 2009. S. 220.
Davidson, Donald: Mentale Ereignisse, in: Bieri, Peter: Analytische Philosophie des Geistes, Beltz Verlag, Weinheim und Basel, S. 74.
131
psychophysischer Kausalität darstellt: „Im Bereich normalen menschlichen Verhaltens stehen uns allein rationale Erklärungen zur Verfügung, kausale gibt es nicht.“270 Warum? Handlungen haben keine Ursachen, sondern Gründe. „Gründe sind keine Ursachen. Sie bewirken keine Handlung, denn selbst, wenn jemand gute Gründe hat, etwas zu tun, und keine Gründe, die dagegen sprechen, tut er es nicht in jedem Fall.“271 Das heißt: Im Bereich des Mentalen gibt es keine Gleichförmigkeit der Art, wie sie im Bereich des Physischen zu bobachten ist und wodurch wir berechtigt wären, Kausalzusammenhänge abzuleiten, um mentale Ereignisse, ähnlich den physischen, vorauszusagen und zu erklären. Manche Neurophilosophen behaupten zwar, schon morgen würde es möglich sein, alles menschliche Verhalten durch Vorgänge im Gehirn kausal zu erklären [was für den Materialismus spräche]272, tatsächlich ist man aber noch Lichtjahre davon entfernt. Für keine einzige alltägliche Handlung kann man bisher eine solide neurologische Erklärung liefern, weder dafür, warum sich jemand die Zähne putzt, noch, warum er den Tölzer Kurier liest.273
Das Fehlen psychologischer Gesetze, ist zwar genau genommen kein Einwand gegen die Möglichkeit psychophysischer Interaktion, es zeigt aber, mit welchen Problemen eine Theorie konfrontiert ist, in der versucht wird, die Wirklichkeit, gegeben psychische und physische Entitäten, theoretisch befriedigend zu erfassen. 4.1.5.1.2 Das Problem der kausalen Geschlossenheit der physischen Wirklichkeit Das Problem der kausalen Geschlossenheit der physischen Wirklichkeit ergibt sich, vereinfacht ausgedrückt, aufgrund der Annahme, dass alle physikalischen Wirkungen immer physikalische Ursachen haben und es ausgeschlossen ist, dass es sich anders verhält. Genauer ausgedrückt besagt die Annahme der kausalen Geschlossenheit der physischen Wirklichkeit Folgendes: 270
Von Kutschera, Franz: Philosophie des Geistes, Mentis, Paderborn, 2009. S. 59.
271
a. a. O. S. 45.
272 Anmerkung. 273
Von Kutschera, Franz: Philosophie des Geistes, Mentis, Paderborn, 2009. S. 59.
132 Ursachen wie Wirkungen eines physikalischen Ereignisses gelten uns wieder als physikalische Ereignisse. Alle Kausalketten, von denen ein Glied ein physikalisches Ereignis ist, liegen also ganz im physikalischen Bereich, und jeder Bereich, der mit dem physikalischen interagiert, ist Teil von ihm. Alles physikalische Geschehen läuft nach rein physikalischen Gesetzen ab, alle physikalischen Vorgänge lassen sich prinzipiell rein physikalisch, d.h. mit physikalischen Ursachen erklären. Nach diesem Verständnis des Physischen als eines kausal abgeschlossenen Bereichs kann es nur dann psychophysische Wechselwirkungen geben, wenn das Psychische selbst Teil des Physischen ist, wie der Materialismus annimmt; lehnt man also den Materialismus ab, so kann Psychisches nicht mit Physischem interagieren. Anders ausgedrückt: Gibt es psychophysische Wechselwirkung, so kann es nach der dualistischen Annahme einer Wesensverschiedenheit beider Bereiche keine Autonomie des Physischen geben, keine Unabhängigkeit von Nichtphysischem. Gehen wir umgekehrt von dieser Autonomie aus, die dem Verständnis der physischen Natur weithin zugrunde liegt, so ist die Annahme einer Wechselwirkung nicht mit dem Dualismus vereinbar.274
4.1.5.1.3 Das Problem der explanatorischen Lücke Das Problem der explanatorischen Lücke ist die letzte Schwierigkeit, die im Rahmen des Problems der psychophysischen Kausalität zu besprechen ist: Zwischen dem Bereich des Psychischen und dem Bereich des Physischen tut sich bei genauerer Betrachtung eine »Lücke« auf, die es uns nicht erlaubt, durch das »Abschreiten« eines Kausalnexus von dem einen Bereich in den anderen zu gelangen und umgekehrt. Geht man von einer physikalischen Ursache aus und verfolgt die Kette ihrer Wirkungen, so bleibt man immer im physikalischen Bereich: Licht, das von einer roten Fläche reflektiert wird, trifft auf die Netzhaut eines Betrachters. Dort wird der optische Reiz auf komplizierten chemischen Wegen in elektrische Impulse umgewandelt, die über die Nervenbahnen ins Gehirn gelangen und dort gewisse physiologische Wirkungen hervorrufen. Wie kommt es aber zur Rotempfindung des Betrachters, zum Bewusstsein der roten Fläche? Hier scheint ein unbegreiflicher Sprung vorzuliegen, denn in der ganzen Ursache-Wirkungskette kommt nie Bewusstsein vor.
274
Von Kutschera, Franz: Philosophie des Geistes, Mentis, Paderborn, 2009. S. 221.
133 Geht man umgekehrt von einer physikalischen Wirkung aus, etwa dem Vorgang, dass mein Arm sich hebt, und verfolgt die Kette seiner Ursachen zurück, so bleibt man wiederum im physikalischen Bereich: Mein Arm hebt sich, weil sich bestimmte Muskeln zusammenziehen; sie tun das, weil elektrische Impulse in den Nerven in ihnen gewisse physiologische Reize ausgelöst haben, und die elektrischen Impulse in den peripheren Nervenbahnen sind wiederum durch neuronale Aktivitäten im Gehirn verursacht. Wie kommt es aber dazu, dass meine Absicht, den Arm zu heben, diese Vorgänge im Gehirn bewirkt?275
Dualistisch orientierte Neurowissenschaftler stehen vor einem ähnlichen Problem: Mentale Phänomene, wie z. B. Bewusstsein, können einzig dadurch erforscht werden, dass man das Verhalten von Personen studiert und daraus Erkenntnisse ableitet, von denen man annimmt, dass sie auf den Bereich des Mentalen zutreffen.276 Es führt nämlich kein durchgehender empirischer Weg von den neuronalen Substraten des Geistes zum Geist selbst. Man sieht: Will man das Wirklichkeitsmodell des Commonsense theoretisch befriedigend erfassen, so gerät man in eine Reihe von Schwierigkeiten. Man kann sicher darüber diskutieren, ob alle Schwierigkeiten tatsächlich in der Form bestehen, wie sie hier dargestellt wurden. 277 Dennoch muss eine dualistische Theorie zeigen, wie psychophysische Wechselwirkungen aus philosophischer Sicht möglich sind. Eine solche Theorie gibt es aber nicht.
275
Von Kutschera, Franz: Philosophie des Geistes, Mentis, Paderborn, 2009. S. 222.
276
Vgl. Thompson F., Richard: Das Gehirn, Spektrum Verlag, Heidelberg, 2001.
277
Nach Kutschera hat z.B. die Physik selbst die These der kausalen Geschlossenheit bereits aufgegeben. „Die Quantenphysik betrachtet vielmehr Systeme unter dem Einfluss von Beobachtungen als äußeren Eingriffen, untersucht also gerade nicht geschlossene Systeme.“ (Von Kutschera, Franz: Philosophie des Geistes, Mentis, Paderborn, 2009. S. 222.)
134
4.1.5.2 Das Problem der Erkennbarkeit der physischen Wirklichkeit Obwohl es kaum je erörtert wird, ist ein anderes Problem des Dualismus gravierender als das psychophysischer Wechselwirkung: das epistemologische Problem der Erkennbarkeit der physischen Welt.278
Mit der Wesensverschiedenheit von Physischem und Psychischem nimmt man im Dualismus eo ipso eine analytische Unabhängigkeit dieser beiden Bereiche an. Der Dualist akzeptiert somit folgende These: Aus (konsistenten) Sätzen über Psychisches kann man weder deduktiv noch induktiv auf (nicht tautologische) Sätze über Physisches schließen.“279 Wir können danach insbesondere aus unseren sinnlichen Eindrücken und Empfindungen nicht auf das Bestehen physikalischer Sachverhalte schließen. Physikalische Tatsachen sind unabhängig von unserem Erfahren und Denken.280
Das Problem der Erkennbarkeit der physischen Welt entfällt nur dann, wenn es entweder empirische oder apriorische Zusammenhänge zwischen dem Bereich des Psychischen und dem des Physischen gibt. Doch sobald es diese Zusammenhänge gibt, verlieren beide Bereiche ihre Eigenständigkeit. Interessant ist in diesem Zusammenhang die folgende Überlegung: Nach Kutschera haben die beiden Grundpositionen Materialismus und Idealismus das Problem der Erkennbarkeit der physischen Wirklichkeit nicht. Das trifft für den Idealismus, insbesondere für den ontologischen Idealismus, ganz sicher zu. Nachdem es für diesen keine physischen Entitäten gibt, kann es auch das Problem ihrer Erkennbarkeit nicht geben. Im Falle des Materialismus stimme ich Kutschera nicht zu, denn alles, was in materialistischen Theorien über die physische Wirklichkeit behauptet wird, wird aus Eindrücken und Empfindungen erschlossen. Der Weg zum scheinbar sicheren Fundament der physischen Wirklichkeit, von dem aus das Mentale in Frage gestellt wird, führt auch den Materialisten ohne Zweifel über den Bereich der 278
Von Kutschera, Franz: Philosophie des Geistes, Mentis, Paderborn, 2009. S. 224.
279
a. a. O. S. 225.
280
Ebenda.
135
sinnlichen Eindrücke. Sinnliche Eindrücke und Empfindungen sind das Material, von dem aus alles Denken, Fragen, Begründen usw. anhebt, denn sie gehen alldem voraus.281 Es ist lediglich so, dass dem Materialisten dies wegen der latenten theoretischen Strukturen, die den Aufbau unseres Wirklichkeitsmodells maßgeblich bestimmen, nicht gewahr ist.282 4.1.6 Bestimmung der ontologischen Verhältnisse Der Dualismus arbeitet weder mit philosophisch reflektierten Entitäten noch mit theoretischen Entitäten. 283 Das gilt für den Bereich des Psychischen ebenso wie für den Bereich des Physischen. Die relevanten Entitäten sind Commonsense-Entitäten: Auf der einen Seite menschliche Körper, Häuser, Bäume, Gehirne, Steine usw., und physische Eigenschaften, die den physischen Dingen zukommen. Auf der anderen Seite Seelen oder mentale Eigenschaften wie Bewusstsein, Denken, Empfinden usw. Die bisher angestellten Überlegungen berechtigen zu der Annahme, dass das Wirklichkeitsmodell des Commonsense bzw. der naive Realismus, für die dualistische Weltdeutung konstitutiv ist. Ohne die implizite Akzeptanz des naiven Realismus ist die Annahme von menschlichen Körpern, Steinen oder Gehirnen als Substanzen im Bereich des Physischen unmöglich. Die Widerlegung des naiven Realismus zeigt nämlich, dass die Entitäten der Außenwelt (die empirischen Entitäten), wie sie vom Commonsense gedacht werden, keinesfalls subjektunabhängige Entitäten sind, sondern dass diese Entitäten (Häuser, Bäume, Steine usw.) von kognitiven Subjekten konstruiert werden. In diesem Sinne muss man die Commonsense-Entitäten als abstrakte Entitäten betrachten. Ist man der Auffassung, dass abstrakte Entitäten nicht unabhängig von kognitiven 281
Vgl. Schlick, Moritz: Allgemeine Erkenntnislehre, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 1979. Anmerkung: Ich erachte das von Kutschera thematisierte Problem der Erkennbarkeit der physischen Wirklichkeit für ein fundamentales Problem der LeibSeele-Frage überhaupt. (Vgl. Kapitel 3 und Kapitel 6) 282 283
Vgl. 3.6. Vgl. 3.7.
Unter philosophisch reflektierten Entitäten seien solche Entitäten verstanden, die im Hinblick auf ihre ontischen und epistemischen Grundstrukturen einer methodischen Analyse unterzogen wurden. Unter theoretischen Entitäten solche, die eigens zum Zweck der Theoriebildung durch Definition oder Konstruktion geschaffen werden.
136
Subjekten existieren, dann vertritt man einen Konzeptualismus. Der Konzeptualismus (auch konzeptualistischer Realismus) behauptet, dass abstrakte Entitäten zwar sehr wohl real existieren, dass sie aber in dem Sinne abhängig von den kognitiven Subjekten sind, dass sie nur ein Produkt der geistigen Fähigkeiten von mit einem gewissen Grad an Vernunft begabten Wesen (eben den kognitiven Subjekten) sind und auch nur durch die Vernunfttätigkeit dieser Wesen existent bleiben. In konzeptualistischer Denkweise ist es aber unmöglich, dass Häuser, Bäume oder Steine Substanzen sind. Substanzen sind ja existentiell unabhängig von anderen Entitäten; Häuser, Bäume und Steine sind es demnach aber nicht. 4.2 Der Materialismus Der Materialismus behauptet, die gesamte Wirklichkeit sei physischer Natur. Oder anders formuliert: „Die Gesamtheit der konkreten Realität erschöpft sich in den von der Physik postulierten Elementarteilchen und in Aggregaten dieser Elementarteilchen.“284 Damit will der Materialismus allerdings nicht leugnen, dass es auch Psychisches gibt. Wie jedermann mühelos feststellen kann, gibt es Gedanken, Empfindungen und Wünsche und all das bezeichnen wir als »psychisch«. Die Behauptung will vielmehr sagen, dass sich Psychisches in letzter Analyse als etwas Physisches erweist, oder, [...] dass sich Psychisches auf Physisches reduzieren lässt und so keine eigenständige Realität neben dem Physischen darstellt.285
Dementsprechend kann man die Behauptung des Materialismus präzisieren: Mentale Entitäten (Eigenschaften, Zustände, Phänomene, Erlebnisse) lassen sich vollständig auf physische Entitäten (Eigenschaften, Zustände, Phänomene, Ereignisse) reduzieren oder zurückführen. 286 Der Materialismus ist im Gegensatz zum Dualismus eine ontologisch monistische Position. Monistische Positionen „folgen der philosophischen 284
Metzinger, Thomas: Philosophie des Geistes; Das Leib-Seele-Problem, Mentis, Paderborn, 2007, S. 275. 285 286
Von Kutschera, Franz: Philosophie des Geistes, Mentis, Paderborn, 2009, S.136.
Was es heißt, dass sich etwas auf etwas anderes reduzieren lässt oder dass sich etwas auf etwas anderes zurückführen lässt, das bedarf erst einer genaueren Analyse. Eine solche folgt auf der nächsten Seite dieses Abschnitts.
137
Intuition, dass es nur eine allen Oberflächenphänomenen zugrunde liegende Wirklichkeit geben kann und deshalb auch nur eine Klasse von ontologischen Entitäten“287 . Neben dem Materialismus ist auch der Idealismus (wie der nächste Abschnitt zeigt) eine monistische Position. Jener ist aber im Unterschied zu diesem monistisch in dem Sinn, als er eben zu zeigen versucht, dass die grundlegenden Bausteine der Wirklichkeit physikalischer Natur sind, dass die grundlegenden Gesetze im Universum physikalische Gesetze sind, und dass sich die theoretischen Beschreibungssysteme für komplexe Phänomene wie Geist und Bewusstsein begrifflich auf das Beschreibungssystem der Physik zurückführen lassen.288
Dieses Programm des Materialismus lässt sich durch folgendes Argument verdeutlichen: (1)Wenn es eine psychische Entität gibt (z.B. einen phänomenalen Zustand), die sich nicht auf eine physische Entität reduzieren oder zurückführen lässt, dann ist der Materialismus falsch. (2)Es gibt eine psychische Entität (z.B. ein phänomenaler Zustand), die sich nicht auf eine physische Entität reduzieren oder zurückführen lässt. ∴ Der Materialismus ist falsch. Setzen wir aber im Sinne des Materialismus außerdem voraus: (3) Der Materialismus ist nicht falsch. So folgt aus (3) die Negation von (2): ∴ Es gibt keine psychische Entität, die sich nicht auf eine physische Entität reduzieren oder zurückführen lässt. Es geht also darum zu zeigen, dass die Konklusion des Arguments ‘Es gibt keine psychische Entität, die sich nicht auf eine physische Entität reduzieren oder zurückführen lässt’ (bzw. ihr logisches Äquivalent ‘Alle psychischen Entitäten lassen sich auf physische Entitäten reduzieren oder zurückführen’) eine wahre Aussage über die Beschaffenheit der Wirklichkeit ist. Man zeigt dies, in dem man zeigt, dass Prämisse (3) wahr 287
Metzinger, Thomas: Philosophie des Geistes; Das Leib-Seele-Problem, Mentis, Paderborn, 2007, S. 129. 288
Ebenda.
138
ist. Prämisse (3) ist wahr genau dann, wenn es gelingt alle psychischen Entitäten, auf physische Entität zu reduzieren oder zurückführen. In diesem Zusammenhang spielen nun die Ausdrücke ‘Reduzierbarkeit’ bzw. ‘Rückführbarkeit’ eine wichtige Rolle. Materialistische Theorien unterscheiden sich nämlich erheblich, je nachdem wie diese Ausdrücke definiert bzw. gebraucht werden. Was kann man also darüber sagen? Ganz allgemein kann man sagen, dass die Ausdrücke nicht auf genau eine Verwendungsweise festgelegt sind, was zu Verwirrung führt. Ich werde daher die Reduzierbarkeit von etwas auf etwas anderes, wie in der Wissenschaftstheorie üblich, in einem semantischen Sinn festlegen; die Rückführbarkeit von etwas auf etwas anderes hingegen in einem ontologischen Sinn: Definition 1: Eine Theorie T ist „auf die Theorie T# reduzierbar, [genau dann]289 wenn sich die Grundterme von T so durch solche von T# definieren lassen, dass die Prinzipien von T mit Hilfe dieser Definitionen in Theoreme von T# übergehen.“290 Definition 2: Mentale Entitäten sind genau dann vollständig auf physische Entitäten zurückführbar, wenn sie mit physischen Entitäten ontologisch identisch sind. Mittlerweile hat sich eine große Zahl materialistischer Ansätze herausgebildet. Ich werde im Rahmen der vorliegenden Abhandlung den semantischen Physikalismus, die Identitätstheorie, den Funktionalismus und den nichtreduktiven Physikalismus behandeln. Das sind jene Ansätze, die im Zusammenhang mit dem metaphysischen Dualismus, wie er in Kapitel 6 diskutiert wird, besonders relevant sind. Würde es einem dieser Ansätze tatsächlich gelingen, eine hinreichende und einwandfreie Begründung der materialistischen Thesen anzugeben, so wäre nicht nur das psychophysische Problem gelöst, sondern man könnte sogar sagen, dass jetzt einer im Prinzip vollständigen physikalischen Erklärung der Wirklichkeit auch aus philosophischer Sicht nichts mehr im Wege steht. 289 Anmerkung. 290
Von Kutschera, Franz: Philosophie des Geistes, Mentis, Paderborn, 2009, S.141.
139
Diese Aussicht lässt viele Philosophen den Materialismus als einzige vernünftige Position erscheinen, die man zum Leib-Seele-Problem einnehmen kann. Das ist zwar insofern verständlich, als die materialistische Philosophie eine vorzügliche Kompatibilität philosophischer mit empirischen Theorien in Aussicht stellt, unverständlich aber, wenn alternative und mithin nicht weniger nach wissenschaftlichen Kriterien der Theoriebildung entworfene philosophische Denkmodelle dogmatisch abgelehnt werden, weil sie mit einer naturwissenschaftlichen, also mithin naturgesetzlichen, Auffassung der Wirklichkeit nicht vereinbar sind. In Analogie hierzu sei erwähnt, dass etwa die Quantenmechanik selbst lange Zeit mit der klassischen Physik unvereinbar, ja ihr sogar kontradiktorisch zu widersprechen schien, und die Wissenschaftstheorie gezeigt hat, dass auch die Falsifikation in letzter Konsequenz ein ungeeignetes Instrument ist, um die Wahrheit von Naturgesetzen streng zu begründen.291 Was spricht nun ganz allgemein für den Materialismus? „Für den Materialismus spricht zunächst einmal seine Einfachheit. Er bietet ein grundsätzlich einfaches und einheitliches Bild der Wirklichkeit an“292 , indem er sich auf das Weltbild der Physik bezieht. Zwar ist das Weltbild der Physik alles andere als einfach und es gibt auch nicht das Weltbild der Physik, sondern nur Theorien, die oft recht unterschiedliche Bilder der fundamentalen Realität entwerfen. Trotzdem ist das Weltbild des Materialisten insofern einfach, als Dualisten ja neben dieser komplexen physischen Realität noch eine zweite, ihr
291
Für strikt universelle Sätze gilt: (a) wenn ein solcher Satz alle bisherigen Falsifikationsversuche überstanden hat, so impliziert dies nicht logisch seine Wahrheit; schon der nächste Falsifikationsversuch könnte erfolgreich sein; (b) wenn ein Falsifikationsversuch geglückt ist, so legt dies zwar nahe, dass der betreffende Allsatz falsch und somit kein Naturgesetz ist, aber es ist nie mit Sicherheit auszuschließen, dass der Falsifikationsversuch nur scheinbar geglückt ist, weil bei ihm Fehler begangen wurden. Somit kann man von keinem Allsatz, der als Naturgesetz ausgegeben wird, sicher sein, dass er tatsächlich eines ist. Für nicht strikt universelle Sätze, insbesondere für Wahrscheinlichkeitssätze gilt, dass für sie kein Falsifizierbarkeitskriterium bekannt ist. 292
Von Kutschera, Franz: Philosophie des Geistes, Mentis, Paderborn, 2009, S.146.
140 wesensfremde Wirklichkeit annehmen, und sich damit das Problem des Zusammenhangs dieser beiden Teilwelten einhandeln.293
Des Weiteren spricht das Evolutionsargument für die These, dass die Wirklichkeit ausschließlich mit physischen Entitäten »ausgestattet« ist: Bei der Entstehung der Welt und noch etwa 10 Milliarden Jahre danach, gab es weder lebende Organismen noch mentale oder intentionale Phänomene, wie wir sie heute im Zusammenhang mit dem Leib-Seele-Problem diskutieren, sondern ausschließlich materielle Entitäten, also Physisches. Da aber der Evolutionstheorie nach, die ja als eine der am besten bewährten Theorien gilt, alle Entitäten die wir heute kennen, insbesondere komplexe psychische Phänomene, nicht anders entstanden sein können, als durch die Evolution dessen, was am Beginn der Welt bereits vorhanden war, müssen solche Phänomene in letzter Konsequenz physischer Natur sein. Psychische Phänomene, so der Schluss, sind Leistungen von Gehirnen, und Gehirne sind Produkte „der biologischen Evolution, also ein physisches System, dessen Leistungen sich daher auch physikalisch verstehen lassen müssen“294. Für den Materialismus sprechen drittens die Ergebnisse der Hirnforschung: Es werden immer engere Korrelationen zwischen mentaler Aktivität und neuronalen Hirnprozessen aufgewiesen. „Von einer Eigenständigkeit des Psychischen kann daher heute nicht mehr die Rede sein. Alle psychischen Vorgänge sind vielmehr mit neuronalen verbunden und können nicht ohne sie stattfinden“295. Man sieht, wie eng der Materialismus mit empirischen Denkweisen einhergeht. Ob diese Position aber brauchbar ist, um die Beschaffenheit der Wirklichkeit auf monistische Weise philosophisch zu erklären, wird sich erst zeigen. 4.2.1 Semantischer Physikalismus Der semantische Physikalismus (oder auch logischer Physikalismus genannt) versucht, wie alle materialistischen Theorien, zu zeigen, dass mentale Entitäten in letzter Konsequenz als physische Entitäten aufgefasst werden können. Der Unterschied zu anderen materialistischen Theorien besteht darin, dass sich „die Rückführbarkeit mentaler auf physische 293
Von Kutschera, Franz: Philosophie des Geistes, Mentis, Paderborn, 2009, S.146.
294
Ebenda.
295
a. a. O. S. 141.
141
Eigenschaften schon aus der Bedeutung mentaler Ausdrücke ergibt, d.h. genauer daraus, dass es für jeden Satz über mentale Phänomene einen bedeutungsgleichen Satz der physikalischen Sprache gibt“296 . In dieser Spielart des Materialismus geht es also darum, die Identität von physischen mit psychischen Entitäten in einem ontologischen Sinn dadurch zu zeigen, indem man zeigt, dass diese Entitäten bereits in einem semantischen Sinn identisch sind.297 Die beiden Kernthesen gehen auf Rudolf Carnap und den Wiener Kreis zurück: T1) „Jedes mentale Prädikat lässt sich mit Hilfe von Ausdrücken der physikalischen Sprache definieren.“298 T2) Zu jedem psychologischen Satz S gibt es einen bedeutungsgleichen Satz S# der physikalischen Sprache, weshalb jeder psychologische Satz S in einen Satz der physikalischen Sprache S# übersetzt werden kann.299 Carnap war erstens der Überzeugung, dass zwei Prädikate genau dann dieselbe Eigenschaft ausdrücken, wenn sie synonym sind.300 Wenn man also wie die Materialisten der Meinung ist, dass mentale Eigenschaften mit physischen Eigenschaften identisch sind, und wenn man Carnaps Auffassung über die Identität von Eigenschaften teilt, muss man daher die These vertreten, dass es zu jedem mentalen Prädikat ein synonymes Prädikat der physikalischen Sprache gibt.301
Gibt es zu jedem mentalen Prädikat ein synonymes Prädikat der physikalischen Sprache, so sollte es möglich sein, alle Aussagen mit 296
Beckermann, Ansgar: Analytische Einführung in die Philosophie des Geistes, Gruyter, Berlin, 2008, S. 63. 297
Vgl. 2.2.2.3, Reduktionsrelationen.
298
a. a. O. S. 64.
299
Vgl. Beckermann, Ansgar: Analytische Einführung in die Philosophie des Geistes, Gruyter, Berlin, 2008. 300
Vgl. Beckermann, Ansgar: Analytische Einführung in die Philosophie des Geistes, Gruyter, Berlin, 2008. 301
Beckermann, Ansgar: Analytische Einführung in die Philosophie des Geistes, Gruyter, Berlin, 2008, S. 64.
142
mentalen Prädikaten in Aussagen der physikalischen Sprache zu übersetzen. Wäre das richtig, so könnte man in der Tat behaupten, psychologische Phänomene seien nichts anderes als physikalische Phänomene, ebenso wie man sagen kann, ein Junggeselle sei nichts anderes als ein unverheirateter Mann, weil das Wort »Junggeselle« dasselbe bedeutet wie der Ausdruck »unverheirateter Mann«.302
Zweitens ging Carnap davon aus, dass „für jeden psychologischen Begriff [...] eine Definition aufgestellt werden kann, durch die er [...] auf physikalische Begriffe zurückgeführt ist“303 . In diesem Punkt „fällt der logische Physikalismus im Effekt mit dem logischen Behaviorismus[304] zusammen. Danach ist der Satz ‘X hat Schmerzen’ synonym mit einem Satz ‘X zeigt ein Verhalten der und der Art’“305. Heute herrscht unter den Philosophen einigermaßen Konsens darüber, dass das Programm des semantischen Physikalismus unfruchtbar ist. Weder dürfte sich zu jedem mentalen Prädikat ein synonymes Prädikat der physikalischen Sprache finden lassen, noch dürfte es gelingen, alle mentalen Prädikate physikalisch zu definieren. Die Unmöglichkeit dieses Vorhabens wurde von verschiedenen Philosophen immer wieder gezeigt. Die Hauptschwierigkeiten sind die Folgenden: Zunächst zu T1: Zum einen ist die Behauptung, „der Satz ‘Die Person X hat Schmerzen’ bedeute dasselbe wie eine Aussage der Form ‘Das Gehirn von X befindet sich im Zustand Z’ völlig unplausibel: Die 302
Von Kutschera, Franz: Philosophie des Geistes, Mentis, Paderborn, 2009, S.147.
303
Carnap, Rudolf: Meaning and Necessity, Chigago University Press, Chigago 1956, in: Beckermann, Ansgar: Analytische Einführung in die Philosophie des Geistes, Gruyter, Berlin, 2008, S. 64. 304
Anmerkung: Der logische Behaviorismus (alle empirisch gehaltvollen psychologischen Sätze können als Sätze über Verhaltensdispositionen verstanden werden) ist die philosophische Form des methodologischen Behaviorismus, wie er ursprünglich als Programm in der Psychologie zur Lösung des Problems des Fremdpsychischen entwickelt wurde. Dieses Problem besteht für eine empirische Wissenschaft darin, dass sich mentale Phänomene einer direkten Beobachtung entziehen. Im Behaviorismus wurde daher die These vertreten, dass mentale Phänomene für die Erforschung von Verhalten irrelevant sind. 305
Von Kutschera, Franz: Philosophie des Geistes, Mentis, Paderborn, 2009, S.147.
143
Frage, welche neurologischen Prozesse den einzelnen mentalen Vorgängen entsprechen“306, ist nicht hinreichend genau beantwortet. Zum anderen ist es äußerst fraglich, ob man durch die Angabe von physischen Zuständen (Gehirnzuständen), in denen sich eine Person X zum Zeitpunkt t befindet, angeben kann, wie es für diese Person ist, Schmerzen zu haben zu t. 307 Genau das müsste aber im Sinne der Synonymität der Fall sein. Nun zu den Schwierigkeiten von T2: „Auch wenn man zugibt, dass es einen engen, vielleicht begrifflichen Zusammenhang zwischen mentalen Zuständen und Verhalten gibt, stellt sich jedoch die Frage, ob dieser Zusammenhang eng genug ist“308 , um mentale Prädikate tatsächlich in physikalischer Sprache definieren zu können. Wie könnte etwa eine adäquate Definition des Satzes ‘Der Verfasser dieser Arbeit möchte ein Glas Wein trinken’ in physikalischer Sprache aussehen? Beckermann stellt in der analytischen Einführung in die Philosophie des Geistes eine Reihe von Definitionsversuchen vor, die jedoch allesamt an den folgenden Problemen scheitern: Erstens: „Mentale Prädikate sind in der Regel Cluster-Begriffe[309], die sich nicht ohne weiteres durch die Angabe notwendiger und hinreichender (physikalischer) Bedingungen definieren lassen.“310 Zweitens: „Es scheint zumindest schwierig zu sein, die Bedingungen möglicher Definitionen so vollständig zu formulieren, dass diese Definitionen nicht mit Gegenbeispielen konfrontiert sind.“311 306
Von Kutschera, Franz: Philosophie des Geistes, Mentis, Paderborn, 2009, S.147.
307
Vgl. 4.1.1.1, Der phänomenale Charakter mentaler Zustände.
308
Beckermann, Ansgar: Analytische Einführung in die Philosophie des Geistes, Gruyter, Berlin, 2008, S. 90. 309
Anmerkung: Von einem Cluster-Begriff spricht man im Allgemeinen dann, wenn es sich um einen Begriff handelt, „für dessen Zutreffen eine ganze Menge von Kriterien relevant sind, wobei jedoch keines dieser Kriterien notwendig ist. Man sagt, dass dieser Begriff zutrifft, wenn hinreichend viele der Kriterien erfüllt sind. Aber es gibt keine Antwort auf die Frage, welche Kriterien genau erfüllt sein müssen“ (Beckermann, Ansgar: Analytische Einführung in die Philosophie des Geistes, Gruyter, Berlin, 2008, S. 87). 310
Beckermann, Ansgar: Analytische Einführung in die Philosophie des Geistes, Gruyter, Berlin, 2008, S. 90. 311
Ebenda.
144
Drittens: „Mentale Ausdrücke lassen sich nicht zirkelfrei in physikalischer Sprache definieren.“312 „Jede einigermaßen adäquate Definition enthält im Definiens auch mentale Ausdrücke.“313 Doch Definitionen, in denen das Definiendum im Definiens vorkommt, sind aus logischen Gründen inakzeptabel (Problem der Zirkularität). 4.2.2 Identitätstheorie Die Identitätstheorie geht auf die Philosophen Ullin T. Place und John C. Smart zurück. Peter Bieri nennt zwei Motive für die Entwicklung dieser Theorie: Das erste besteht in dem bereits diskutierten Problem zu erklären, wie mentale Phänomene im kausal geschlossenen Bereich des Physischen wirksam sein können. Der Grundgedanke der Identitätstheorie lautet, daß wir das dann und nur dann verstehen können, wenn wir mentale Phänomene mit kausal wirksamen physischen Phänomenen identifizieren.314
Das zweite Motiv ist der Gedanke, dass die Neurowissenschaften immer präzisere nomologische Korrelationen zwischen psychischen Phänomenen und bestimmten Gehirnprozessen aufzeigt. Dabei hat man folgendes Modell im Blick: Für jede mentale Kategorie M gibt es eine physische Kategorie P, so daß in einem Menschen zu einem Zeitpunkt t ein M-Phänomen dann und nur dann auftritt, wenn in ihm ein P-Phänomen zum Zeitpunkt t auftritt, und diese Äquivalenz ist nomologisch.315
Letztlich könnte man die Identitätstheorie aber auch als eine Reaktion auf das Scheitern des semantischen Physikalismus deuten. Identitätstheoretiker sind davon überzeugt, dass mentale Phänomene nichtsdestoweniger mit Gehirnprozessen identisch sein können, auch wenn mentale Prädikate nicht in die physikalische Sprache übersetzt oder in derselben definiert werden können. In den zwanzig Jahren seit ihrer ersten Formulierung ist die 312
Beckermann, Ansgar: Analytische Einführung in die Philosophie des Geistes, Gruyter, Berlin, 2008, S. 90. 313
Ebenda.
314
Bieri, Peter: Analytische Philosophie des Geistes, Beltz Verlag, Weinheim und Basel, 2007, S. 36. 315
Ebenda.
145
Identitätstheorie so intensiv diskutiert worden wie kaum ein anderes philosophisches Thema in dieser Zeit.316 Das dürfte unter anderem wohl daran liegen, dass diese Theorie unsere Gewissheit darüber, dass wir fühlende, denkende, über eine individuelle Persönlichkeit verfügende und frei handelnde Wesen sind, radikal in Frage stellt. Die Kernthese der Identitätstheorie lautet nämlich: Mentale Phänomene sind ein und dieselben Phänomene „wie bestimmte Phänomene im Gehirn oder im Zentralnervensystem [...]. Sie sind identisch mit solchen Phänomenen. Mentale Zustände und Ereignisse sind Zustände und Ereignisse, wie die Neurophysiologie sie zum Gegenstand hat“317. Im Zusammenhang mit der Begründung dieser These ist die Charakterisierung bzw. die Definition des Identitätsbegriffs von größter Bedeutung. Man muss vernünftige Kriterien bzw. Bedingungen dafür angeben, was es heißt, dass x=y. Dementsprechend gibt es verschiedene Auffassungen darüber, wie man Identität fassen kann.318 Die Frage, welcher Identitätsbegriff 319 adäquat ist, hängt aber wesentlich von der Zielsetzung der Identitätstheorie ab. Betrachtet man die Kernthese, so ist das Ziel einigermaßen klar: Die Identitätstheorie will zeigen, dass man Psychisches vollständig auf Physisches zurückführen kann. Das heißt, dass alle psychische Entitäten mit einigen physischen Entitäten (Gehirnprozessen) ontologisch identisch sind. Hierfür ist meiner Überzeugung nach nur das Leibnizsche Identitätsprinzip brauchbar. Es besteht aus zwei Teilprinzipien: Dem
316
Vgl. Bieri, Peter: Analytische Philosophie des Geistes, Beltz Verlag, Weinheim und Basel, 2007. 317
Bieri, Peter: Analytische Philosophie des Geistes, Beltz Verlag, Weinheim und Basel, 2007, S. 36. 318
Was zur Folge hat, dass es nicht die eine Identitätstheorie gibt, sondern unterschiedliche Varianten davon. 319
Unabhängig von den verschiedenen theoretischen Konzepten zum Identitätsbegriff gibt es einige formale Merkmale, die diesen Begriff eindeutig charakterisieren: 1) Identität ist keine Eigenschaft, sondern eine Relation. Es nicht sinnvoll zu sagen ‘x ist identisch’; hingegen ist es sinnvoll zu sagen ‘x ist identisch mit y’. 2) Die Identitätsrelation ist eine Äquivalenzrelation mit den kleinsten Äquivalenzklassen, d.h. dass ihre Äquivalenzklassen allesamt genau ein Element haben. 3) Für Äquivalenzrelationen gilt: Reflexivität, Symmetrie und Transitivität.
146
Prinzip der Ununterscheidbarkeit von Identischem320 , bei dem es darum geht, was aus der Identität zweier Entitäten folgt, und dem Prinzip der Identität von Ununterscheidbarem, das Auskunft gibt, unter welchen Bedingungen zwei Entitäten miteinander identisch sind. Letzteres besagt: Wenn zwei Entitäten x und y alle Eigenschaften gemeinsam haben, dann sind x und y miteinander identisch. Wenn also der ontologische Dualismus zur Begründung seiner Auffassung über die »Ausstattung« der Wirklichkeit mit bestimmten Arten von Entitäten zeigen muss, dass es Eigenschaften gibt, die Psychischem zukommen, Physischem jedoch nicht, dass es also nicht der Fall ist, dass Psychisches und Physisches dieselben Eigenschaften haben, dann muss die Identitätstheorie genau das Gegenteil tun. Leibniz’ Prinzip ist ein einfacher Test, um die Identität oder Verschiedenheit von Entitäten zu prüfen: Wenn x eine Eigenschaft hat, die y nicht hat, dann können x und y nicht identisch sein. Das zweite Teilprinzip kann man dagegen, ganz im Sinne der Kritiker von Identitätskriterien, auch in einem epistemischen Sinne lesen: Je mehr Eigenschaften [x] und [y] gemeinsam haben, umso mehr Anhaltspunkte haben wir für die Annahme, dass [x] und [y] identisch sind.321
Doch allem Anschein nach ist nie eine Identitätstheorie auf der Grundlage von Leibniz’ Prinzip formuliert worden. Stattdessen geht man, wie schon im Fall des semantischen Physikalismus, von einer semantischen Überlegung aus, wenngleich auch nicht von derselben: Man behauptet, dass es zwar für einige Entitäten im Universum verschiedene Beschreibungssysteme gibt und dass diese Systeme auch eine verschiedene Semantik haben können, bzw. de facto eine verschiedene Semantik haben, dass es sich bei den beschriebenen Entitäten aber im Grunde immer um physische Entitäten handelt. Dass es sich tatsächlich um physische Entitäten handelt, ist das, „was in einer empirischen Entdeckung entdeckt wird“322 . Ein bekanntes Beispiel, das immer wieder herangezogen wird, um den Sachverhalt zu verdeutlichen, ist dasjenige von der Identität eines 320
Wenn zwei Entitäten x und y miteinander identisch sind, dann haben sie alle Eigenschaften gemeinsam. 321
Beckermann, Ansgar: Analytische Einführung in die Philosophie des Geistes, Gruyter, Berlin, 2008, S. 114. 322
Bieri, Peter: Analytische Philosophie des Geistes, Beltz Verlag, Weinheim und Basel, 2007, S. 38.
147
Blitzes mit seiner elektrischen Ladung: Die empirische Forschung hat gezeigt, dass das Himmelsphänomen, das wir in der psychologischen Sprache mit dem Ausdruck ‘Blitz’ bezeichnen, ein Phänomen ist, das wir in der physikalischen Sprache mit dem Ausdruck ‘elektrische Ladung’ bezeichnen können, und zwar deshalb, weil, vereinfacht ausgedrückt, Blitze die Folge elektrischer Aufladung sind, in der selbige zur Entladung kommt. Blitze sind also in Wahrheit nichts anderes als elektrische Ladungszustände, ergo nichts anderes als physische Entitäten. Für den Identitätstheoretiker bedeutet das: Obwohl die Ausdrücke ‘Blitz’ und ‘elektrische Ladung’ nicht synonym sind, und obwohl sie ganz verschiedenen Beschreibungssystemen angehören, sind Blitze und elektrische Ladungen dennoch miteinander identische physische Entitäten. Ähnliche Beispiele, die nach demselben Muster aufgebaut sind, finden sich im Wasser-H2O-Beispiel oder im Beispiel von der Identität eines Gases mit der mittleren kinetischen Energie seiner Moleküle. Solche empirischen Entdeckungen sind sozusagen das Grundgerüst der Identitätstheorie. Bloß sind ihre Protagonisten nicht Blitze und elektrische Ladungen oder Wasser und H2O, sondern Zusammenhänge zwischen Gehirn und Geist. Dementsprechend geht man von den empirischen Entdeckungen der Hirnforschung aus: Die Hirnforschung zeigt, dass bestimmten Vorgängen im Geist bestimmte Vorgänge im Gehirn korrelieren. Im Kontext der Identitätstheorie wird von nomologischen Korrelationen gesprochen. Das heißt: Ist f eine psychische, g eine physikalische Eigenschaft, und gilt das Gesetz: ‘Eine Person hat in einem Zeitpunkt die Eigenschaft f genau dann, wenn sie in diesem Zeitpunkt die Eigenschaft g hat’, so kann man sagen, f und g seien nomologisch korreliert.323
Die Auffassung, dass psychische Eigenschaften mit physischen Eigenschaften korrelieren, wird in Supervenienzrelationen ausgedrückt. 324 Analog zum Beispiel von Blitz und elektrischer Ladung wird nun auf der Grundlage einer Supervenienzrelation davon gesprochen, dass das f-Sein einer Person im Prinzip nichts anderes ist als ihr g-Sein. Doch diese Analogie ist unzulässig, denn aus der nomologischen Korrelation von f und g folgt natürlich nicht deren Identität, das heißt, es folgt nicht daraus, dass 323
Von Kutschera, Franz: Die Wege des Idealismus, Mentis, Paderborn, 2006, S. 200.
324
Vgl. 2.2.2.3, Das psychophysische Problem als Relationsproblem.
148
f-Sein nichts anderes ist als g-Sein.325 „Haben aus naturgesetzlichen Gründen genau jene Tiere die ein Herz haben, auch eine Niere, so heißt das ja auch nicht, ein Herz zu haben sei nichts anderes als eine Niere zu haben.“326 Um den Schritt von der Korrelation zur Identität zu rechtfertigen hat man „die These einer nomologisch starken Supervenienz[327] um die Behauptung einer generischen Identität[328] von Psychischem und Physischem ergänzt“329 . Die generische Identitätsthese ist wesentlich stärker als die Supervenienzthese. Sie besagt, dass jede psychische Eigenschaft genau eine physische Eigenschaft als Gegenstück hat und dass sich daraus eine kontingente Identität der Eigenschaften ergibt. 330 Diese Identitätsthese wurde im Sinne einer Mikroreduktion verstanden, d.h. die korrelierten physikalischen Eigenschaften sollten Zustände des Gehirns der Person charakterisieren bzw. Prozesse in ihrem Gehirn.“ 331
Von kontingenter Identität spricht man im Zusammenhang mit einem Gesetz der Form: Die Person X empfindet in einem Zeitpunkt genau dann Schmerzen, wenn die C-Fibern im Gehirn von X zu diesem Zeitpunkt feuern. [...] Eine solche Korrelation rechtfertige es zu sagen: Schmerzen haben ist nichts anderes als das Feuern von C-Fibern.332
Die wichtigste Behauptung der Identitätstheorie, nämlich dass Psychisches mit Physischem (kontingent) identisch ist, folgt also aus der generischen 325
Vgl. Von Kutschera, Franz: Philosophie des Geistes, Mentis, Paderborn, 2009.
326
Von Kutschera, Franz: Philosophie des Geistes, Mentis, Paderborn, 2009, S.151.
327
Anmerkung: „F ist bezüglich G stark supervenient, wenn für zwei beliebige Objekte, x und y, aus dem Grundbereich U und zwei beliebige mögliche Welten, w und w‘, gilt: Unterscheidet sich x in w von y in w‘ in mindestens einer F-Eigenschaft, so unterscheidet sich x in w von y in w‘ auch in mindestens einer G-Eigenschaft.“ (Von Kutschera, Franz: Philosophie des Geistes, Mentis, Paderborn, 2009, S.143.) 328
Bei der generischen Identität handelt es sich um eine Identitätsbeziehung entsprechend der Gattung. 329
Von Kutschera, Franz: Philosophie des Geistes, Mentis, Paderborn, 2009, S.151.
330
Vgl. Von Kutschera, Franz: Philosophie des Geistes, Mentis, Paderborn, 2009.
331
Von Kutschera, Franz: Die Wege des Idealismus, Mentis, Paderborn, 2006, S. 200.
332
a. a. O. S. 151 f.
149
Identitätsthese. Doch die Einführung dieser These lässt sich nur in Anlehnung an naturwissenschaftliche Erkenntnisgewinnung verstehen. Im Sinne naturwissenschaftlicher Theoriebildung ist es nämlich nicht nur plausibel, von einigen bisher beobachteten mentalen Entitäten, die mit Gehirnprozessen korrelieren, induktiv darauf zu schließen, dass alle mentalen Entitäten mit Gehirnprozessen korrelieren, sondern es ist scheinbar ebenso plausibel anzunehmen, dass es zu jeder psychischen Entität x genau ein physisches Korrelat y gibt. Und weil das so ist, kann man ganz einfach sagen, dass x nichts anderes ist als y. Man muss nun keine besonders umfassende Logikausbildung besitzen, um zu wissen, dass induktive Schlüsse keine wahrheitserhaltenden Schlüsse sind und dass der Übergang von Korrelationen zwischen psychischen und physischen Entitäten zur Identität derselben selbst dann, wenn sie naturwissenschaftlich präzise erfasst sind, ohne zusätzliche Prämissen logisch unmöglich ist.333 Nicht zuletzt deshalb ist man heute zu der Einsicht gelangt, dass die Identitätstheorie nicht adäquat ist. Was die generische Identitätsthese betrifft, so sind heute selbst führende Neurowissenschaftler ziemlich sicher, dass es äußerst unwahrscheinlich ist, dass tatsächlich jedem mentalen Zustand oder jeder mentalen Eigenschaft genau ein neurologischer bzw. physikalischer Zustand oder genau eine physische Eigenschaft entspricht.334 Man nennt dieses Problem der Identitätstheorie das Problem der Multirealisierbarkeit mentaler Zustände. Wir wissen heute, dass ein bestimmter mentaler Zustand bei verschiedenen Personen mit durchaus unterschiedlichen neuronalen Zuständen korreliert sein kann. Wenn man verschiedenen Personen eine bestimmte Aufgabe vorlegt und zugleich z.B. mit Hilfe der Positronen-Emissions-Tomographie beobachtet, welche Bereiche der Gehirne dieser Personen bei der Lösung dieser Aufgabe besonders aktiv sind, dann ergeben sich in der Regel zwar sehr ähnliche, aber kaum je dieselben Muster. [...] Wir wissen weiter, dass sich sogar bei ein und derselben Person die Korrelation zwischen mentalen und Gehirnzuständen im Laufe ihres Lebens dramatisch verändern kann. Nach Gehirnverletzungen z.B. 333
Aus einer konsistenten Menge von Sätzen der logischen Form ‘x korreliert mit y’ folgt nicht logisch gültig ein Satz der logischen Form ‘x ist identisch mit y’. 334
Vgl. Singer, Wolf: Ein neues Menschenbild, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 2003.
150 können andere Teile des Gehirns die Funktionen des geschädigten Gewebes übernehmen. Nur aufgrund dieser außerordentlichen Plastizität des Gehirns sind wir überhaupt in der Lage, im Laufe unseres Lebens unsere geistigen Fähigkeiten trotz des täglichen Zugrundegehens tausender von Nervenzellen (zumindest einigermaßen) zu erhalten. Wir wissen schließlich, dass sich die Neurophysiologie der meisten Tiere mehr oder weniger stark von der unsrigen unterscheidet. Soll allein daraus schon folgen, dass diese Tiere nicht dieselben mentalen Zustände haben wie wir? Und wie steht es schließlich mit Marsmenschen[335] und Robotern? Sollen diese Wesen schon deshalb kein dem unseren vergleichbares mentales Leben haben, weil ihr ,Gehirn‘ nicht aus Nervenzellen, sondern aus Silizium-Chips besteht?336
Man sieht, dass die Identitätstheorie letztlich eine sehr schmale empirische Basis hat, und das, obwohl sie von der Empirie ausgeht, denn dass zwei Entitäten tatsächlich miteinander identisch sind, das sollen ja gerade empirische Entdeckungen zeigen. Was die kontingente Identität betrifft, ist einzuwenden, dass Identisches jedenfalls dieselben Eigenschaften haben muss (Leibniz’Prinzip). Schmerzen sind z.B. stechend, deprimierend oder unklar, Gefühle tief, während Gehirnzustände weder stechend noch deprimierend, unklar oder tief sind. Schmerzen haben ist also nicht identisch mit feuernde C-Fibern haben, auch nicht kontingenterweise.337
Darüber hinaus gibt es gar keine „kontingenten Identitäten, weder zwischen Objekten noch zwischen Eigenschaften. Es gibt nur kontingente Identitätsaussagen“338 . Der Satz ‘Der Morgenstern ist mit dem Abendstern identisch’ ist eine kontingente Aussage. Sie gilt in unserer Welt, aber nicht in jeder anderen; in anderen möglichen Welten kann der Stern, der am Morgenhimmel am hellsten
335
Marsmenschen stehen hier und im Folgenden für alle möglichen nicht-künstlichen mentalen Wesen, die vielleicht irgendwo im Weltall existieren, sich in ihrer Struktur aber deutlich von den Lebewesen auf unserer Erde unterscheiden. 336
Beckermann, Ansgar: Analytische Einführung in die Philosophie des Geistes, Gruyter, Berlin, 2008, S. 137 f. 337
Von Kutschera, Franz: Philosophie des Geistes, Mentis, Paderborn, 2009, S.153.
338
Ebenda.
151 leuchtet, ein anderer sein als jener, der am Morgenhimmel am hellsten leuchtet.339
Von diesen Gründen einmal abgesehen, scheinen ontologische Identitätstheorien auch mengentheoretische Probleme zu haben: Nehmen wir an, die Menge M sei die Menge aller psychischen Zustände und die Menge N die Menge aller physischen Zustände. Damit die Identitätstheorie funktionieren kann, muss die Identitätsrelation R aus M in N jedenfalls eine rechtseindeutige Relation sein. Eine solche Relation zeichnet sich dadurch aus, dass jedes Element aus M zu genau einem Element aus N in Relation steht.340 Ein Beispiel: Es sei M1 die Menge folgender mentaler Zustände: M1={x weiß, dass p; x glaubt, dass p; x hofft, dass p} Es sei N1 die Menge folgender physischer Zustände: N1={neuronaler Zustand1, neuronaler Zustand2, neuronaler Zustand3} Die Identitätsrelation R aus M1 in N1 lautet somit: R={, , } Damit es, so wie im Beispiel, eine rechtseindeutige Relation aus M in N geben kann, muss es genau so viele neuronale Zustände geben wie es mentale Zustände gibt. Und genau das ist unmöglich, denn die Menge N ist notwendigerweise kleiner als die Menge M. Der Grund hierfür liegt darin, dass mentale Zustände der Form ‘x glaubt, dass p’, oder ‘x weiß, dass p’ , usw. intentionale Zustände mit propositionalem Gehalt sind (anstatt von intentionalen Zuständen mit propositionalem Gehalt, spricht man der 339 340
Von Kutschera, Franz: Philosophie des Geistes, Mentis, Paderborn, 2009, S.153.
Genauer: R ist eine rechtseindeutige Relation aus M in N genau dann, wenn R eine Relation aus M und N ist und jedes Element aus dem Vorbereich von R zu genau einem Element aus dem Nachbereich von R in der Relation R steht. (Der Vorbereich einer Relation R aus M in N umfasst genau jene Elemente aus M, die zu mindestens einem Element aus N in der Relation R stehen. Der Nachbereich einer Relation R aus M in N umfasst genau jene Elemente aus N, die zu mindestens einem Element aus M in der Relation R stehen.)
152
Einfachheit halber auch von propositionalen Einstellungen).341 Da ich zu jeder beliebigen Entität im Universum (und nicht nur zu den empirischen Entitäten) eine propositionale Einstellung haben kann und die Menge der neuronalen Entitäten, die damit identisch sein sollen, jedenfalls kleiner ist als die Menge aller Entitäten, zu denen ich eine propositionale Einstellung haben kann, gibt es mehr Elemente aus M als Elemente aus N. Ein weiterer interessanter Aspekt ist die Frage, warum die Elemente aus N ausgerechnet neuronale Zustände sind und nicht z.B. Zustände von Galaxien? Warum sollen mentale Phänomene ausgerechnet mit neuronalen Zuständen identisch sein und nicht z.B. mit bestimmten Zuständen von Galaxien? Beide Arten von Zuständen gehören ja zum Bereich des Physischen. Die Antwort des Identitätstheoretikers wird wahrscheinlich lauten: Die Hirnforschung zeigt uns erstens, dass mentale Phänomene mit Gehirnprozessen korrelieren, und zweitens, dass sie aller Wahrscheinlichkeit nach existenziell von diesen abhängig sind. Das ist natürlich empirisch plausibel, doch existentielle Abhängigkeit und Korrelation sind keine adäquaten Mittel, um die Sonderstellung von Gehirnprozessen gegenüber allen anderen Entitäten im physischen Universum konklusiv zu begründen. Wir bereits angeklungen ist, gibt es noch weitere Formen der Identitätstheorie, die hier nicht besprochen wurden. Sofern solche Formen noch vertreten werden, werden allerdings wesentlich schwächere Behauptungen aufgestellt. Manche von ihnen, wie z.B. die singuläre Identitätstheorie, die besonders von Donald Davidson proklamiert wurde, wurden nie ausformuliert. 342 Meistens handelt es sich bei diesen Ansätzen aber lediglich um veränderte Supervenienzrelationen343 . Von Supervenienzrelationen zur ontologischen Identität von Entitäten ist es aber bekanntermaßen noch ein (logisch) weiter, wenn nicht gar unmöglicher, Weg. 341
Propositionen bilden auch die Grundlage für das Argument von der Offenheit der Menge mentaler Sachverhalte, das ganz allgemein gegen den Materialismus ins Feld geführt wird. (Vgl. 4.2.5.3, Argument von der Offenheit der geistigen Welt) 342 343
Vgl. Von Kutschera, Franz: Philosophie des Geistes, Mentis, Paderborn, 2009.
Hier wäre die nomologisch lokale Supervenienzrelation und die schwache Supervenienzrelation zu nennen. (Vgl. Von Kutschera, Franz: Philosophie des Geistes, Mentis, Paderborn, 2009)
153
4.2.3 Funktionalismus Die Grundzüge des Funktionalismus wurden in den 60er Jahren von Putnam und Fodor entwickelt. In der Zwischenzeit wurde dieser Theorie jedoch in so vielfältiger Weise weiterentwickelt, dass es heute eine kaum noch überschaubare Zahl von Versionen des Funktionalismus gibt [...].344
Auf alle Versionen einzugehen wäre deshalb müßig und ist auch gar nicht notwenig. Funktionalismen folgen allesamt denselben Prinzipien, und die Erörterung dieser Prinzipien ist hinreichend, um den Funktionalismus im Grunde zu verstehen. Die Kernthesen lauten: Mentale Zustände sind ihrer Natur nach funktionale Zustände. Funktionale Zustände sind Zustände eines Systems, die allein durch ihre kausale Rolle charakterisiert sind - d.h. durch die Ereignisse außerhalb des Systems, durch die sie verursacht werden (inputs), durch das, was sie selbst außerhalb des Systems verursachen (outputs), und durch ihre kausalen Relationen zu anderen Systemzuständen derselben Art.345 Schmerzen z.B. haben typische Ursachen und Wirkungen, also eine typische kausale Rolle: Schmerzen werden (im Allgemeinen) durch eine Verletzung oder Schädigung von Körpergewebe verursacht [inputs]346 ; sie selbst verursachen (häufig) jammern oder schreien, erbleichen sowie Handlungen zur Versorgung des verletzten Gewebes [outputs]347 und die verursachen (häufig) eine Ablenkung der Aufmerksamkeit und den Wunsch, den Schmerz zu beseitigen [andere Systemzustände derselben Art]348.349
Schmerz ist also dem Funktionalismus nach „der Zustand eines Wesens, der durch diese kausale Rolle charakterisiert ist - oder auch anders herum: ein Wesen hat genau dann Schmerzen, wenn es in einem Zustand ist, der
344
Beckermann, Ansgar: Analytische Einführung in die Philosophie des Geistes, Gruyter, Berlin, 2008, S. 141. 345
a. a. O. S. 142.
346 Anmerkung. 347 Anmerkung. 348 Anmerkung. 349
Beckermann, Ansgar: Analytische Einführung in die Philosophie des Geistes, Gruyter, Berlin, 2008, S. 142.
154
diese kausale Rolle innehat[350]“351 . Diesen Thesen nach weiß man also, was eine Schmerzempfindung ist, „wenn man weiß, welche äußeren Einwirkungen auf den Körper und welche inneren Vorgänge im Körper Schmerzen bewirken, und welches Verhalten Schmerzempfindungen bewirken“352 . Das heißt: Psychisches ist dem Funktionalismus nach in letzter Analyse nichts anderes als bestimmte neurophysiologische und biochemische Vorgänge im Inneren des Körpers, bewirkt durch äußere Verursachung und geknüpft an gewisse Verhaltensmuster. Eigentlich ein »neuer« methodologischer Behaviorismus, der psychische Phänomene von Subjekten nicht mehr ausschließlich über Verhalten erklären will, sondern darüber hinaus organische Vorgänge im Inneren des Organismus einerseits und das Einwirken der Umwelt auf diesen Organismus andererseits mit einbezieht. Das macht ihn natürlich auch im Kontext naturwissenschaftlicher Forschungsergebnisse interessant. Heute glauben zum Beispiel einige Hirnforscher, dass man das Verhalten ganz einfacher Organismen, z.B. Schnecken, bereits lückenlos auf neuronale Prozesse zurückführen kann.353 Was die Hirnforschung angeht, so werde ich dazu im nächsten Kapitel Stellung nehmen. Was den Funktionalismus angeht, so liegt folgender Einwand auf der Hand:354 Erstens wissen wir alle, was Schmerzen sind, obwohl keiner von uns die kausale Rolle von Schmerzen auch nur annähernd bestimmen kann. Wenn a b e r bekannt ist, was A ist, ohne dass bekannt ist, was B ist, kann A nicht mit B identisch sein [...]. Zweitens kann die kausale Rolle von Schmerzempfindungen nicht festlegen, wie es ist, Schmerzen zu empfinden. Dieselbe kausale Rolle wie
350
An dieser Stelle kann man einen feinen Unterschied machen zwischen Funktionalisten, die Schmerzen mit einer kausalen Rolle gleichsetzen, und Funktionalisten, die Schmerzen mit dem Träger dieser Rolle identifizieren. (Ansgar Beckermann) 351
Beckermann, Ansgar: Analytische Einführung in die Philosophie des Geistes, de Gruyter, Berlin, 2008, S. 142. 352
Von Kutschera, Franz: Philosophie des Geistes, Mentis, Paderborn, 2009, S.148.
353
Vgl. Singer, Wolf: Ein neues Menschenbild, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 2003. 354
Ich werde hier nur die wichtigsten Einwände diskutieren.
155 Schmerzen könnte ein körperlicher Zustand auch für das Verhalten von Zombies spielen, äußerlich menschenartigen Wesen, die kein Bewusstsein haben.355
Darüber hinaus gerät der Funktionalismus beim Versuch, mentale Phänomene mit funktionalen Zuständen zu identifizieren, in große semantische Schwierigkeiten, denn um die „funktionalen Zustände eines Systems x definieren zu können, [wird] in jedem Fall eine Theorie benötigt, in der die kausalen Rollen dieser Zustände exakt formuliert sind“ 356. „Die am meisten genannten Kandidaten sind einerseits die so genannte Alltagspsychologie [...] und andererseits bestimmte Teile der wissenschaftlichen Psychologie.“357 Diese Theorien sind aber verständlicherweise keine Theorien des Geistes, eine solche will ja erst entworfen werden, sondern im Wesentlichen Verhaltenstheorien, d.h. dass die kausalen Rollen, durch die die funktionalen Zustände charakterisiert sind, durch Verhaltensgesetze ausgedrückt werden. 358 Eine vollständige Theorie des Verhaltens ist aber gerade wegen der Probleme mentaler Phänomene nicht in Aussicht - nicht in der Philosophie und auch nicht in der Naturwissenschaft oder sonst wo. 4.2.4 Nichtreduktiver Physikalismus Alle materialistischen Ansätze führen in Schwierigkeiten, die nicht leicht zu beheben sind. Aus materialistischer Sicht entsteht der Eindruck, dass es auf der einen Seite ganz unmöglich der Fall sein kann, dass mentale Entitäten (Phänomene, Zustände) etwas anderes sein könnten als physische Phänomene, dass man aber auf der anderen Seite theoretisch nicht verständlich machen kann, wie sie es sein können.359 Deshalb wird innerhalb der materialistischen Philosophie darüber nachgedacht, ob es 355
Von Kutschera, Franz: Philosophie des Geistes, Mentis, Paderborn, 2009, S.149.
356
Beckermann, Ansgar: Analytische Einführung in die Philosophie des Geistes, Gruyter, Berlin, 2008, S. 151. 357
a. a. O. S. 153.
358
Vgl. Beckermann, Ansgar: Analytische Einführung in die Philosophie des Geistes, Gruyter, Berlin, 2008. 359
Vgl. Bieri, Peter: Analytische Philosophie des Geistes, Beltz Verlag, Weinheim und Basel, 2007.
156
nicht eine materialistische Theorie des Geistes geben könnte, die zwar einerseits einen ontologischen Monismus bewahrt, andererseits aber den Intuitionen alltäglicher Wirklichkeitsauffassung so weit wie möglich entgegenkommt. Dazu sind bisher zwei Gedankengänge sichtbar geworden. In einem wird eine neue Beziehung zwischen mentalen Zuständen und unserem Körper beschrieben: Die Relation der Verkörperung [...]. Mentale Phänomene sollen nicht auf physiologische Phänomene reduziert werden. Worauf es ankommt, ist nur, daß sie in einer besonders engen, unauflöslichen Beziehung zu einem Körper stehen. Dieser Vorschlag ist von Beginn an mit zwei prinzipiellen Schwierigkeiten behaftet: (1) Der Begriff der Verkörperung nützt nichts, wenn es darum geht, denjenigen Sachverhalt zu erklären, den der Materialismus erklären will: mentale Verursachung. Dazu muß man annehmen, daß die mentalen Phänomene selber körperliche Phänomene sind. (2) Was am Begriff der Verkörperung verständlich und genauer faßbar ist, ist in den skizzierten Modellen des Materialismus bereits enthalten. Entweder ist einfach gemeint, daß das logische Subjekt mentaler Zustände faktisch immer eine körperliche Person ist oder notwendigerweise eine Person sein muß. Dann ist Verkörperung nichts anderes als die Instanziierung mentaler Eigenschaften an Personen, alsoein Sachverhalt, der ein Ausgangsdatum für den Materialismus ist. Oder der Gedanke ist, daß mentale Universalien nicht mit körperlichen Universalien identifiziert werden können, obwohl sie faktisch immer an körperlichen Personen instantiiert sind. Dann haben wir es mit demjenigen Sachverhalt zu tun den der funktionale Materialismus beschreibt: Der körperlichen Realisierung funktionaler Zustände.[...] Eine zweite Art von Überlegungen zu einem nicht-reduktiven Materialismus geht von der Frage aus: Warum sollten mentale Phänomene mit all ihren spezifischen Charakteristika nicht eine Art von physischen Phänomenen sein können? [...] Die Frage wird durch den Hinweis ergänzt, daß der Begriff des Physischen ein flexibler Begriff ist, der nicht dogmatisch auf physikalische Phänomene eingeengt werden darf. [...] Könnte nicht der Fall mentaler Phänomene parallel zum Fall biologischer Phänomene liegen? Die Kluft zwischen Phänomenen des Geistes und Phänomenen der Physik scheint intuitiv unüberwindbar. Wird diese Kluft nicht kleiner, wenn wir statt dessen an die Phänomene der Biologie denken? Diese Strategie scheint [...] vielversprechend. Aber sie allein genügt nicht. Wenn jemand auf etwas spezifisch Mentales (beispielsweise Erlebnisqualität) hinweist, so genügt es nicht zu sagen: ‘Natürlich sind auch diese Phänomene physische Phänomene’. Die dialektische Situation ist anders: Wir brauchen eine Antwort auf die Frage: ‘Ja, aber wie ist das möglich?’. Die
157 Auskünfte eines nicht-reduktiven Materialismus müssen auch jemanden überzeugen können, der wie Nagel [...] auf Unterschieden zwischen mentalen und physischen Phänomenen besteht, die prinzipieller Art zu sein scheinen. Wir müssen uns in einer materialistischen Theorie des Geistes [wie in jeder anderen Theorie des Geistes auch] intuitiv wiedererkennen können. Ein Materialismus, der diese Forderung vollständig zu erfüllen vermag, ist noch nicht in Sicht.360
4.2.5 Allgemeine Probleme des Materialismus Ähnlich wie schon im Dualismus gibt es auch im Fall des Materialismus einige ganz allgemeine Argumente, die gegen diese Denkrichtung ins Feld zu führen sind und die zeigen sollen, dass die Kernthese des Materialismus, wonach alle mentalen Entitäten (Phänomene, Eigenschaften, Zustände) vollständig auf physikalische Entitäten (Phänomene, Eigenschaften, Zustände) reduziert oder zurückgeführt werden können, falsch ist. Das sind sozusagen genau die Argumente, mit denen sich jede materialistische Theorie des Geistes konfrontiert sieht, unabhängig davon, welche Schwierigkeiten sie sonst noch hat. Ich werde vier Argumente einführen: Das Leibniz-Argument, das Leibniz-Gesetz, das Argument von der Offenheit der geistigen Welt und das FledermausArgument. Ich halte diese Argumente sowohl im Zusammenhang mit der Materialismus-Debatte als auch im Zusammenhang mit der gesamten LeibSeele-Diskussion für fundamental. 4.2.5.1 Leibniz-Argument Das Leibniz-Argument zielt darauf ab, verständlich zu machen, dass Physisches und Psychisches irreduzible, weil fundamental verschiedene, Arten von Entitäten sind. Leibniz hat betont, selbst genaueste Kenntnisse über die physikalische Funktionsweise unseres Gehirns würden nichts darüber besagen, wie wir die Welt und uns selbst erfahren. Mentale Zustände und Ereignisse, so können wir auch sagen, haben einen perspektivischen Charakter. Der fehlt physikalischen Zuständen und Vorgängen und lässt sich physikalisch auch nicht definieren.
360
Bieri, Peter: Analytische Philosophie des Geistes, Beltz Verlag, Weinheim und Basel, 2007, S. 52 f.
158 Thomas Nagel hat den Gedanken von Leibniz aufgenommen und darauf hingewiesen, dass noch so vollständige physiologische Kenntnisse über Fledermäuse uns keine Auskunft darüber geben können, wie es ist, eine Fledermaus zu sein. Frank Jackson hat [...] argumentiert, jemand, der in einer Schwarz-Weiß-Welt aufgewachsen ist, könnte nicht wissen, wie es ist, Farben zu sehen, selbst wenn er alles über die Art und Weise weiß, wie optische Reize im Gehirn verarbeitet werden.361
4.2.5.2 Leibniz-Gesetz Das von Kutschera als Leibniz-Gesetz bezeichnete Argument, dass die prinzipiellen Schwierigkeiten aller materialistischen Reduktionsversuche aufzeigt, ist eine Analogie zum Hume’schen Sein-Sollen-Fehlschluss. Ein adäquater Materialismus hat zu erklären, wie aus physischen Entitäten mentale Phänomene hervorgehen können, insbesondere deshalb, weil ja im Grunde nicht geleugnet wird, dass es mentale Phänomene gibt. Eine solche Erklärung ist aber aufgrund von Leibniz-Gesetz unmöglich, denn es besagt, dass aus (rein) Physischem nichts (rein) Psychisches folgt. Diese These lässt sich nach Kutschera ganz analog beweisen wie das Gesetz Humes. David Hume zeigte, dass es logisch unmöglich ist, aus einer konsistenten Menge deskriptiver Sätze logisch gültig einen nichttautologischen präskriptiven Satz zu folgern. Analog dazu gilt: Es ist logisch unmöglich von (rein) Physischem auf (rein) Psychisches zu schließen, denn „aus (rein) Physischem folgt [...] nichts (rein) Psychisches.“362 Es gibt nämlich „keine analytischen Zusammenhänge zwischen Aussagen über rein Psychisches und solchen über rein Physisches [...]“363 . Der einzige Ausweg bestünde in der Anwendung psychophysischer Gesetze, doch der Materialist kann keine Gesetze anwenden, die nicht schon selbst physikalisch erklärt sind. Erklärt man nämlich „psychische Vorgänge mit physischen und psychophysischen Gesetzen, so erklärt man sie nicht rein physikalisch, sondern setzt Psychisches bereits voraus.“364 Die Voraussetzung von Psychischem zur 361
Von Kutschera, Franz: Philosophie des Geistes, Mentis, Paderborn, 2009, S. 162.
362
a. a. O. S. 163.
363
Ebenda.
364
a. a. O. S. 164.
159
Erklärung von Physischem ist aber mit dem materialistischen Programm unvereinbar, denn es soll ja gerade im Gegenteil gezeigt werden, dass man des Psychischen nicht bedarf, um die Beschaffenheit der Gesamtwirklichkeit zu erklären. „Ebenso wie das Gesetz Humes naturalistische Ethiken widerlegt, die Normen aus Fakten ableiten wollen, so widerlegt das Leibniz-Gesetz materialistische Versuche, Mentales aus Physischem abzuleiten.“365 4.2.5.3 Argument von der Offenheit der geistigen Welt Für Franz von Kutschera ist das einfachste Argument gegen den Materialismus, das Argument von der Offenheit der geistigen Welt. Dieses Argument beruht auf der Fähigkeit kognitiver Subjekte, offene Hierarchien von Propositionen bilden zu können. Warum diese Fähigkeit zum größten Problem materialistischer Theoriebildung führt, zeigt sich wie folgt: Der psychische Bereich unterscheidet sich vom physischen unter anderem dadurch, dass es in ihm Attribute gibt, die sich auf Propositionen beziehen, insbesondere Attribute für propositionale Einstellungen, d.h. Einstellungen von Personen zu Sachverhalten. Das sind Attribute wie ‘glauben, dass ...’, ‘wahrnehmen, dass ...’, ‘prüfen, ob ...’, ‘bezweifeln, dass ...’ oder ‘wünschen, dass ...’.[366] Während es zu einer festen Menge von Objekten und einer festen Menge von Objekt-Attributen auch eine wohlbestimmte, abgeschlossene Menge von Sachverhalten des Zutreffens oder Nichtzutreffens gibt, gilt das nicht mehr, sobald unter den Attributen solche sind, zu deren Argumenten Sachverhalte zählen. Denn jeder Sachverhalt des Zutreffens oder Nichtzutreffens solcher Attribute auf irgendwelche Sachverhalte ist wieder ein mögliches Argument solcher Attribute und führt damit zu neuen Sachverhalten. So ergibt sich eine nach oben offene Hierarchie von Propositionen. Ist z.B. eine Menge von physikalischen Sachverhalten gegeben, so kann ich zu jedem von ihnen die Proposition bilden, dass eine bestimmte Person, sagen wir Eva, ihn glaubt bzw. nicht glaubt. Zu diesen Glaubenssachverhalten erster Stufe lassen sich dann solche zweiter Stufe bilden, solche, dass Eva glaubt, dass sie einen der physikalischen Sachverhalte glaubt, oder dass sie glaubt, ihn zu glauben, falls ein anderer physikalischer Sachverhalt besteht. Diese Konstruktion von 365 366
Von Kutschera, Franz: Philosophie des Geistes, Mentis, Paderborn, 2009, S. 164.
Ich verwende hier die Ausdrücke ‘Proposition’ und ‘Sachverhalt’ synonym. (Anm. Franz von Kutschera)
160 Propositionen immer höherer Stufe lässt sich beliebig fortsetzen. Die Menge der Propositionen ist hier also nicht begrenzbar. Die Menge aller Propositionen gibt es nicht. Nimmt man sie an, so gerät man sofort in Alfred Tarskis Antinomie der selbstanwendbaren Sätze. Für Propositionen lautet sie so: Eine universelle Proposition wie ‘Alles was Max sagt, ist falsch’ heiße »selbstanwendbar« genau dann, wenn das, was sie von allen Propositionen behauptet, auch auf sie selbst zutrifft - im Beispiel also, wenn, falls Max sagt, alles was er sage, sei falsch, auch diese Aussage selbst falsch ist. Ist die Propositionen, alle Propositionen seien nicht selbstanwendbar, nun selbstanwendbar? Ist sie selbstanwendbar, so ist sie es ihrem Inhalt nach nicht; ist sie hingegen nicht selbstanwendbar, so ist sie es. Analoges gilt für Begriffe und Mengen. Auch die Gesamtheit der Begriffe und jene der Mengen lassen sich nicht begrenzen. Es gibt weder die Menge aller Begriffe noch die Menge aller Mengen. Nähme man sie an, so würde man in ganz entsprechende Widersprüche geraten wie im Fall der Propositionen, n ä m l i c h i n R u s s e l l s Antinomie. Diese Offenheit der geistigen Zustände, insbesondere der propositionalen Einstellungen, meine ich, wenn ich von der Offenheit des geistigen Bereichs spreche. Aus ihr folgt nun unmittelbar die Unhaltbarkeit materialistischer Thesen: Der Materialismus behauptet, alle psychologischen Sachverhalte seien nichts anderes als physikalische, sie seien mit diesen identisch, ließen sich auf diese reduzieren oder seien bzgl. ihnen supervenient. Solche generellen Aussagen wären aber nur dann sinnvoll, wenn es die Menge aller psychologischen Sachverhalte gäbe. Diese Menge gibt es aber nicht. Das ist eine logische Tatsache, und Neurophysiologen können noch solange nach psychophysischen Korrelationen forschen, dieses logische Faktum werden sie nicht aus der Welt schaffen.367
Zusammengefasst heißt das: Die Menge aller psychischen Entitäten gibt es nicht. Die Menge aller physischen Entitäten hingegen schon. Aus dieser Überlegung ergibt sich ein einfaches Argument gegen alle materialistischen Behauptungen der Art ‘zu jedem x aus U gibt es ein y aus U# und daher ist x aus U nichts anderes als y aus U#’: Wenn es die Menge U nicht gibt, dann kann es keine Relation zwischen U und U# geben. 367
Von Kutschera, Franz: Jenseits des Materialismus, in: Halbig, Christoph; Weidemann, Christian: Analytische Philosophie jenseits des Materialismus, LIT, Münster, 2005, S. 16 ff.
161
Insofern ist es unmöglich, zu zeigen, dass es zu jedem x aus U ein y aus U# gibt, sodass gilt: x ist nichts anderes als y. Man könnte einwenden, dass sich eine Formulierung finden ließe, in der anstatt von Mengen und Sachverhalten lediglich von Entitäten die Rede ist; man könnte sagen: Jede mentale Entität ist mit einer physikalischen Entität identisch. „Allaussagen setzen jedoch einen universe of discourse voraus [...], auf den sich das Wort »jede« bezieht, und einen allumfassenden universe of discourse gibt es eben nicht.“368 4.2.5.4 Fledermaus-Argument Das Fledermaus-Argument bezieht sich auf Thomas Nagels Einwand gegen die Möglichkeit mentale Phänomene mit phänomenalem Gehalt vollständig physikalisch zu analysieren.369 Nagel geht davon aus, dass jeder adäquate Reduktionismus auf einer Analyse dessen beruhen muss, was reduziert werden soll. Lässt diese Analyse allerdings etwas aus, so wird „das Problem falsch gestellt sein. Es ist zwecklos, eine Verteidigung des Materialismus auf irgendeine Analyse mentaler Phänomene zu gründen, die es versäumt, sich explizit mit ihrem subjektiven Charakter zu beschäftigen“370 . Die große Schwierigkeit, die sich der Materialismus durch den subjektiven Charakter mentaler Phänomene einhandelt, wird von Nagel am Beispiel der Erlebnisse von Fledermäusen exemplifiziert. Ich erachte dieses Beispiel für so bedeutungsvoll, dass ich den Aufsatz Nagels ‘Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?’ fast vollständig aus Bieris Analytische Philosophie des Geistes übernommen habe. Dort heißt es: 368
Von Kutschera, Franz: Philosophie des Geistes, Mentis, Paderborn, 2009, S. 164 f.
369
Mentale Phänomene mit phänomenalem Gehalt, so genannte phänomenale Zustände, sind bewusste mentale Zustände, die durch ihren subjektiven Erlebnischarakter bestimmt sind. Das heißt, wer sich in einem phänomenalen Zustand befindet, für den ist es irgendwie, sich darin zu befinden. Man sagt auch, phänomenale Zustände sind perspektivisch, d.h. sie sind an eine Erste-Person-Perspektive gebunden. Anstatt von mentalen Phänomenen mit phänomenalem Gehalt oder phänomenalen Zuständen spricht man der Einfachheit halber häufig nur vom subjektiven Charakter mentaler Phänomene. (Vgl. 4.1.1.1, Der phänomenale Charakter mentaler Zustände) 370
Nagel, Thomas: Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?, in: Bieri, Peter: Analytische Philosophie des Geistes, Beltz Verlag, Weinheim und Basel, 2007, S. 262.
162 Ich nehme an: Wir alle glauben, daß Fledermäuse Erlebnisse haben. Schließlich sind sie Säugetiere, und es gibt keinen größeren Zweifel daran, daß sie Erlebnisse haben als daran, daß Mäuse, Tauben oder Wale Erlebnisse haben. Ich habe Fledermäuse gewählt statt Wespen oder Flundern, weil man das Vertrauen darauf, daß es da Erlebnisse gibt, schrittweise verliert, wenn man den phylogenetischen Baum zu weit nach unten klettert. Obwohl Fledermäuse uns näher verwandt sind als diese anderen Arten, weisen sie einen Sinnesapparat und eine Reihe von Aktivitäten auf, die von den unsrigen so verschieden sind, daß das Problem das ich vorstellen möchte besonders anschaulich ist (obwohl es gewiß auch anhand anderer Arten aufgeworfen werden könnte). [...] Ich habe gesagt, das Wesentliche an dem Glauben, daß Fledermäuse Erlebnisse haben, sei, daß es irgendwie ist, eine Fledermaus zu sein. Heute wissen wir, daß die meisten Fledermäuse [...] die Außenwelt primär durch Radar oder Echolotortung wahrnehmen, indem sie das von den Objekten in ihrer Reichweite zurückgeworfene Echo ihrer raschen und kunstvoll modellierten Hochfrequenzschreie registrieren. Ihre Gehirne sind dazu bestimmt, die Ausgangsimpulse mit dem darauf folgenden Echo zu korrelieren. Die so erhaltene Information befähigt Fledermäuse, eine genaue Unterscheidung von Abstand, Größe, Gestalt, Bewegung und Struktur vorzunehmen, die derjenigen vergleichbar ist, die wir beim Sehen machen. Obwohl das Fledermaus-Radar klarerweise eine Form von Wahrnehmung ist, ist es in seinem Funktionieren keinem der Sinne ähnlich, die wir besitzen. Auch gibt es keinen Grund zu der Annahme, daß es subjektiv so wie irgendetwas ist, das wir erleben oder das wir uns vorstellen können. Das scheint für den Begriff davon, wie es ist, eine Fledermaus zu sein, Schwierigkeiten zu bereiten. Wir müssen überlegen, ob uns irgendeine Methode erlauben wird, das Innenleben der Fledermaus aus unserem eigenen Fall zu erschließen, und falls nicht, welche alternativen Methoden es geben mag, um sich davon einen Begriff zu machen. Unsere eigene Erfahrung liefert die grundlegenden Bestandteile für unsere Phantasie, deren Spielraum deswegen beschränkt ist. Es wird nicht helfen, sich vorzustellen, daß man Fluggeräte an den Armen hätte, die einen befähigen, bei Einbruch der Dunkelheit und im Morgengrauen herumzufliegen, während man mit dem Mund Insekten finge; daß man ein schwaches Sehvermögen hätte und die Umwelt mit einem System reflektierter akustischer Signale aus Hochfrequenzbereichen wahrnähme; und daß man den Tag an den Füßen hängend in einer Dachkammer verbrächte. Insoweit ich mir dies vorstellen kann (was nicht sehr weit ist), sagt es mir nur, wie es für mich wäre, mich so zu verhalten, wie sich eine Fledermaus verhält. Das aber ist nicht die Frage. Ich möchte wissen, wie es für eine Fledermaus ist, eine Fledermaus zu
163 sein. Wenn ich mir jedoch dies nur vorzustellen versuche, bin ich auf die Ressourcen meines eigenen Bewusstseins eingeschränkt, und diese Ressourcen sind für das Vorhaben unzulänglich. Ich kann es weder ausführen, indem ich mir etwas zu meiner gegenwärtigen Erfahrung hinzudenke, noch indem ich vorstelle, Ausschnitte würden davon schrittweise weggenommen, noch indem ich mir Kombinationen aus Hinzufügungen, Wegnahmen und Veränderungen ausmale. Bis zu dem Grade, in dem ich mich wie eine Wespe oder eine Fledermaus verhalten kann, ohne meine grundlegende Gestalt zu verändern, würden meine Erlebnisse gar nicht wie die Erlebnisse dieser Tiere sein. Auf der anderen Seite ist es zweifelhaft, ob der Annahme, ich besäße die innere physiologische Konstitution einer Fledermaus, irgendeine Bedeutung gegeben werden kann. Selbst wenn ich schrittweise in eine Fledermaus verwandelt werden könnte, könnte ich mir in meiner gegenwärtigen Konstitution überhaupt nicht vorstellen, wie die Erlebnisse in einem solchen zukünftigen Stadium meiner Verwandlung beschaffen wären. Die besten Indizien würden von den Erlebnissen von Fledermäusen kommen, wenn wir nur wüßten, wie sie beschaffen sind. Wenn nun die Extrapolation unseres eigenen Falls in der Vorstellung davon, wie es ist, eine Fledermaus zu sein, enthalten ist, muß diese Extrapolation unvollständig bleiben. Wir können uns nicht mehr als einen schematischen Begriff davon machen, wie es ist. Zum Beispiel können wir einem Tier auf der Grundlage seiner Struktur und seines Verhaltens allgemeine Arten von Erfahrung zuschreiben. Wir beschreiben nämlich das Radar der Fledermaus als eine Form dreidimensionaler, vorwärtsgerichteter Wahrnehmung. Wir glauben, daß Fledermäuse irgendwelche Spielarten von Schmerz, Angst, Hunger und Verlangen fühlen und daß sie neben dem Radar andere, vertrautere Arten von Wahrnehmung besitzen. Wir glauben aber, daß diese Erlebnisse in jedem Fall auch einen bestimmten subjektiven Charakter haben, der jenseits unserer Fähigkeit liegt, uns einen Begriff davon zu machen. Und wenn es anderswo im Universum bewußtes Leben gibt, ist es wahrscheinlich, daß einiges davon selbst in den allgemeinsten Erfahrungsbegriffen, die uns zur Verfügung stehen, nicht beschrieben werden kann. [...] Das Problem ist jedoch nicht nur auf exotische Fälle beschränkt; es besteht nämlich auch zwischen zwei Personen. Der subjektive Charakter der Erfahrung einer z.B. von Geburt an tauben und blinden Person ist mir nicht zugänglich, und wahrscheinlich ihr auch der meinige nicht [...]. Wenn irgend jemand zu leugnen geneigt ist, daß wir glauben können, es gäbe solche Tatsachen, deren genaue Natur wir unmöglich erfassen können,
164 sollte er bedenken, daß wir uns beim Nachdenken über Fledermäuse im großen und ganzen in der gleichen Lage befinden, in der sich intelligente Fledermäuse oder Marsmenschen[371] befinden würden, wenn sie versuchten, sich einen Begriff davon zu machen, wie es ist, wir zu sein. Die Struktur ihres eigenen Bewußtseins mag es ihnen unmöglich machen, Erfolg zu haben; wir jedenfalls wissen, daß sie sich irrten, wenn sie zu dem Schluß gelangten, daß es keine bestimmte Erfahrung davon gibt, wie es ist, wir zu sein: daß uns nur gewisse allgemeine Arten von mentalen Zuständen zugeschrieben werden könnten. Wir wissen, daß sie darin fehl gingen, solch eine skeptische Konsequenz zu ziehen, weil wir wissen, wie es ist, wir zu sein.372
Was für Fledermäuse, Marsmenschen und Menschen, die von Geburt an taub und blind sind, gilt, das muss in letzter Konsequenz für alle Lebewesen gelten, die über Bewusstsein verfügen und somit Erlebnisse haben können, insbesondere für alle Menschen. „Welchen Status Tatsachen bezüglich dessen, wie es ist, ein Mensch [...] zu sein, auch immer haben mögen, es scheinen Tatsachen zu sein, die an eine besondere Perspektive gebunden sind“373 , und diese Perspektive lässt sich von außen nicht vollständig erfassen. Zwar wird der Umfang dessen, was wir über die Erlebnisperspektive eines anderen Wesens sagen können, immer größer, je ähnlicher wir diesem Wesen in Bezug auf unsere eigene Phänomenologie sind, doch letztlich muss auch diese Beschreibung unvollständig bleiben. Die Frage nämlich, wie es ist, der Verfasser dieser Abhandlung zu sein, kann weder von meinem Nachbarn noch von einem Wissenschaftler noch von irgendjemand anderem vollständig beantwortet werden, sondern ausschließlich vom Verfasser dieser Abhandlung selbst. Auch wenn sich ein Wissenschaftler in meine Erlebnisperspektive hineinversetzen kann und sich vorstellen kann, wie es ist, der Verfasser dieser Abhandlung zu sein, so kann er dies dennoch nur aus seiner Perspektive, und diese Perspektive ist mit der meinen nicht identisch, oder anders formuliert, sie ist von meiner zu jedem Zeitpunkt um eine Nuance verschieden. Dass es jemals einen 371
Anmerkung Nagel, Thomas: Alle intelligenten außerirdischen Wesen, die von uns völlig verschieden sind. 372
Nagel, Thomas: Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?, in: Bieri, Peter: Analytische Philosophie des Geistes, Beltz Verlag, Weinheim und Basel, 2007, S. 263-265. 373
a. a. O. S. 266.
165
Zeitpunkt geben könnte, an dem die Perspektive des Wissenschaftlers mit meiner Perspektive identisch ist, ist unmöglich, denn gäbe es einen solchen Zeitpunkt, so wäre dieser Wissenschaftler ich.374 Selbst dann, wenn der Wissenschaftler über eine konsistente Theorie des Gehirns verfügte und ganz sicher sehr vieles darüber sagen könnte, wie es ist, der Verfasser dieser Abhandlung zu sein, und auch wenn er wesentlich mehr darüber sagen könnte als darüber, wie es ist, eine Fledermaus zu sein, und zwar schon aus dem einfachen Grund, weil ich ihm ähnlicher bin als eine Fledermaus, so bliebe dennoch ein irreduzibler ontologischer Rest, der sich seinem Beschreibungsvorhaben in jedem Fall entzöge und der nur dem Verfasser dieser Arbeit zugänglich ist. 375 Gelänge es also dem Wissenschaftler, tatsächlich eine vollständige Beschreibung davon zu geben, wie es ist, der Verfasser dieser Abhandlung zu sein, so wäre dieser Wissenschaftler der Verfasser dieser Abhandlung. Damit hätte er aber aus seiner Sicht der Dinge nicht beschrieben, wie es ist, ein anderer zu sein, sondern lediglich, wie es ist, er selbst zu sein. Damit wäre aber nichts erreicht. Hierin liegt nun auch der fundamentale Unterschied von Erlebnissen einerseits und Vorgängen in der physischen Wirklichkeit andererseits. Das ist für das Leib-Seele-Problem unmittelbar relevant. Wenn nämlich Erlebnistatsachen [...] nur einer bestimmten Perspektive zugänglich sind, dann ist es ein Rätsel, wie der wahre Charakter von Erlebnissen in der Funktionsweise dieses Organismus entdeckt werden könnte. Diese Funktionsweise gehört in eine Domäne objektiver Tatsachen par excellence - einer Art von Tatsachen, die aus verschiedenen Perspektiven und
374
Die Identität der Perspektive ist sicher an die Identität aller anderen Attribute geknüpft. Nur wer meinen Körper, meine Einstellungen, meine Überzeugungen, Wünsche und Hoffnungen hat und meine vergangenen Erlebnisse kennt usw., der kann meine Perspektive einnehmen. 375
Diese Überlegungen wurden von Joseph Levine unter dem Titel ‘Die Erklärungslücke’ in die Leib-Seele-Debatte eingeführt. Die Grundidee hierzu findet sich allerdings bereits bei Emil Du Bois-Reymond in dessen Rede über die Grenzen des Naturerkennens. (Vgl. Heckmann, Heinz Dieter; Walter, Sven: Qualia, Mentis, Paderborn, 2006.)
166 von verschiedenen Individuen mit verschiedenen Wahrnehmungssystemen beobachtet und verstanden werden können.376
Wenn wir die Vorgänge im Bereich des Physischen, analog zu jenen im Bereich des Psychischen mit einem generellen Namen bezeichnen, etwa mit dem einstelligen Prädikatausdruck ‘Ereignis’, so zeigt sich ein deutlicher Unterschied zwischen den Vorgängen des einen Bereiches und den Vorgängen des anderen Bereichs: Ereignisse sind im Prinzip vollständig empirisch beschreibbar. Erlebnisse sind das ganz offensichtlich nicht. Das führt zu einem weiteren wichtigen Punkt: Ereignisse sind objektiv. „Sie können problemlos aus der Außenperspektive der empirischen Wissenschaften untersucht werden.“377 Erlebnisse, also bewusste mentale Zustände, sind dagegen irreduzibel subjektive Zustände. „Das heißt, dass sie an eine individuelle Erste-Person-Perspektive gebunden sind, an den individuellen Standpunkt, von dem aus ich selbst die Welt erlebe.“378 Es scheint also der Fall zu sein, dass es in unserer Wirklichkeit objektive Zustände einerseits und irreduzibel subjektive Zustände andererseits gibt; dass es prinzipiell vollständig beschreibbare und prinzipiell nicht vollständig beschreibbare Zustände gibt; und dass es folglich Ereignisse und Erlebnisse gibt, sodass gilt: Jedes Ereignis ist von jedem Erlebnis analytisch verschieden. Wenn aber Erlebnisse nicht zusätzlich zu ihrem subjektiven Charakter eine objektive Natur haben, die von vielen verschiedenen Perspektiven aus erfaßt werden kann, wie kann man dann annehmen, daß ein Marsmensch, der mein Gehirn untersuchte, physikalische Prozesse beobachten könnte, die meine mentalen Prozesse wären (so wie er physikalische Prozesse beobachten könnte, die Blitze wären), nur eben von einer anderen Perspektive aus? Wie, schließlich, könnt ein menschlicher Physiologe sie von einer anderen Perspektive aus beobachten?379
376
Nagel, Thomas: Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?, in: Bieri, Peter: Analytische Philosophie des Geistes, Beltz Verlag, Weinheim und Basel, 2007, S. 267. 377
Metzinger, Thomas: Philosophie des Geistes; Das Leib-Seele-Problem, Mentis, Paderborn, 2007, S. 25. 378 379
Ebenda.
Nagel, Thomas: Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?, in: Bieri, Peter: Analytische Philosophie des Geistes, Beltz Verlag, Weinheim und Basel, 2007, S. 267.
167
Anders formuliert: Was bliebe letzten Endes von der Weise übrig, wie es ist, der Verfasser dieser Abhandlung zu sein, wenn man die Perspektive, von der aus der Verfassers dieser Abhandlung die Welt erlebt, entfernte? Eines ist nun klar: Wenn der Physikalismus verteidigt werden soll, müssen phänomenologische Eigenschaften selbst physikalisch erklärt werden. Wenn wir aber ihren subjektiven Charakter untersuchen, scheint so etwas unmöglich zu sein.380 Wenn wir anerkennen, daß eine physikalische Theorie des Mentalen den subjektiven Charakter der Erfahrung erklären muß, dann müssen wir zugeben, daß uns keine gegenwärtig verfügbare Konzeption einen Hinweis gibt, wie dies geschehen könnte. Das Problem ist einzigartig. Wenn mentale Prozesse tatsächlich physikalische Prozesse sind, dann gibt es eine Weise, wie es seinem Wesen nach ist, gewissen physikalischen Prozessen zu unterliegen. Was es heißt, daß dies der Fall ist, bleibt ein Rätsel.381
Das bedeutet zwar noch nicht, dass die Idee des Materialismus ganz prinzipiell gescheitert ist, doch es gibt keinen Grund zu der Annahme, dass eine theoretisch befriedigende Reduktion oder Zurückführung von Psychischem auf Physisches so ausgeweitet werden kann, dass sie Bewusstsein einschließt, solange nicht verstanden wird, was Bewusstsein ist, bzw. solange nicht erklärt wird, was es aus physikalischer Sicht heißt, dass es für bewusste Subjekte irgendwie ist, diese Subjekte zu sein. 4.2.6 Bestimmung der ontologischen Verhältnisse Der Materialismus entlehnt seine Entitäten, zumindest im Ansatz, den Naturwissenschaften, insbesondere der Physik und der Neurowissenschaft. Auf der einen Seite wird von physischen Phänomenen, Gehirnprozessen, feuernden C-Fibern und Nervensystemen gesprochen und auf der anderen Seite von mentalen Zuständen. Obwohl nicht erläutert wird, was genau man z.B. aus physikalischer Sicht unter einem Gehirnprozess oder einem Nervensystem zu verstehen hat, kann man, was die physischen Entitäten betrifft, dennoch ganz unverfänglich annehmen, dass es sich jedenfalls um materielle (im weiteren Sinn des Wortes) und von unserem Wahrnehmen, 380
Nagel, Thomas: Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?, in: Bieri, Peter: Analytische Philosophie des Geistes, Beltz Verlag, Weinheim und Basel, 2007, S. 262. 381
a. a. O. S. 269.
168
Denken, Meinen, Wünschen und unseren Theorien gänzlich unabhängige empirische Entitäten handelt. Das es diese Entitäten tatsächlich gibt, daran gibt es für den Materialisten (wie auch für die meisten Naturwissenschaftler), allem Anschein nach, nicht den geringsten Zweifel. Doch dieser Optimismus ist unbegründet. 382 Auf die Probleme der Erkennbarkeit der physischen Wirklichkeit wurde bereits im Abschnitt über den Dualismus hingewiesen.383 In diesem Kontext sei Victor Kraft zitiert: Was uns an Wirklichkeit gegeben ist, sind allein unsere Erlebnisse. [...] Eine außerbewußte Wirklichkeit lässt sich aus der Erlebniswirklichkeit ohne petitio principii nicht beweisen. Die Existenz einer außerbewußten Körperwelt kann nur als eine Hypothese eingeführt werden.384
Was die mentalen Entitäten betrifft, mit denen im Materialismus ebenso gearbeitet wird, so verhält es sich ähnlich wie im Fall der materiellen Entitäten: Sie werden im Grunde von der Psychologie übernommen: was sie aber aus philosophischer Sicht in letzter Analyse sind, das bleibt offen.
382
Weshalb es auch unverständlich ist, warum die Existenzbehauptung des Materialismus, auf der ja alle seine Überlegungen aufsetzen, unbegründet bleibt. 383 384
Vgl. 4.1.5.2, Das Problem der Erkennbarkeit der physischen Wirklichkeit.
Kraft, Victor: Erkenntnislehre, Springer Verlag, Wien, 1960, S. 283. Vgl. außerdem: Waß, Bernd: Die Reale Außenwelt und das Wirklichkeitsproblem, Universität Salzburg, 2009.
169
4.3 Der Idealismus Als letzte der ontologischen Grundpositionen zum Leib-Seele-Problem ist der Idealismus zu besprechen. Während der Dualismus die Welt als Zusammenspiel zweier verschiedener Arten von ontologischen Entitäten denkt und der Materialismus selbige als physische Realität begreifen will, geht der Idealismus davon aus, dass es nichts anderes gibt als Psychisches, Geistiges oder Mentales. Idealistische Ansätze versuchen den Bereich des Physischen als eines eigenständigen Entitätenbereichs zu eliminieren, denn das idealistische Denken ist davon überzeugt, dass die Annahme eigenständiger physischer Entitäten falsch ist. Das Universum ist dem Idealismus zufolge in letzter Konsequenz psychischer Natur, und alle Entitäten des Universums, wie dieses insgesamt, lassen sich nur als Zusammenhänge von Psychischem theoretisch befriedigend erfassen. 385 Damit ist der Idealismus jedenfalls diejenige Position, die erheblich von der Alltags- und Wissenschaftsrealität abweicht. Nichtsdestoweniger darf man aber den Idealismus nicht wegen seiner Disparität außer Acht lassen. Im Gegenteil, ich bin davon überzeugt, dass die Diskussion einige wertvolle Ansätze hervorbringt. Was spricht nun ganz allgemein für den Idealismus? Für den Idealismus spricht, dass er von jenem Fundament aus anhebt, durch welches sich uns die Welt zu allererst offenbart - im Erleben, im Wahrnehmen, im Fühlen und Denken. Darüber hinaus ist er jedenfalls diejenige Position, die sich mit Ausnahme des idealistischen Phänomenalismus, der gesamten Relationsproblematik entledigt, an welcher Dualismus und Materialismus scheiterten.386 Eine Position, die ohne die Existenzbehauptung materieller, also physischer Entitäten auskommt, hat, was die Relationsproblematik angeht, weder die Probleme 385
Obwohl die Denkrichtung, der zufolge die Welt in letzter Konsequenz nur mit geistigen Entitäten »ausgestattet« ist, allgemein mit dem Ausdruck ‘Idealismus’ bezeichnet wird, wäre die Bezeichnung mit dem Ausdruck ‘Immaterialismus’ (so wie z.B. Berkeley seinen Idealismus nennt) im Grunde treffender. So hat zum Beispiel auch Platon in seiner Ideenlehre einen Idealismus vertreten, ohne jedoch die Existenz der physischen Körperwelt grundsätzlich zu bestreiten. 386
Der Phänomenalismus als Subposition des Idealismus ist eine Ausnahme. Im Phänomenalismus wird versucht Physisches auf Psychisches zu reduzieren. Vgl. 4.3.2, Idealistischer Phänomenalismus.
170
des Dualismus noch jene des Materialismus. Es gibt überhaupt kein psychophysisches Problem im Sinne der Relation von Psychischem und Physischem. Was natürlich nicht heißt, dass es gar keine Probleme gibt. Die Schwierigkeiten des Idealismus bestehen einerseits darin, die idealistische Existenzthese zu begründen, womit eine Rechtfertigung der Negation der materialistischen Existenzthese einhergehen muss. Andererseits zu zeigen, wie es möglich ist, die Konstitution der Gesamtwirklichkeit, allein auf der Grundlage geistiger Entitäten, theoretisch befriedigend zu erfassen. Das heißt, verständlich zu machen, wie sich eine unserem Alltagsverständnis nach objektive, allen Subjekten auf gleiche Weise zugängliche und in ähnlicher Weise erscheinende, sich durch eine mit gewissen Gesetzmäßigkeiten korrespondierende Gleichförmigkeit auszeichnende und doch relativ konstante387 Wirklichkeit - ohne »feste« physische Gegenstände, welche die Bedingungen für Objektivität, Gleichförmigkeit und Konstanz zu sein scheinen - zu einem kohärenten Ganzen zusammenfügen lässt. Wie schon im Dualismus und im Materialismus gibt es auch im Idealismus zahlreiche Varianten. Prinzipiell kann man auch hier zwischen erkenntnistheoretischen und ontologischen Idealismen unterscheiden, wobei es sich so verhält, dass im Zusammenhang mit dem psychophysischen Problem primär ontologische Idealismen von Interesse sind. Die erkenntnistheoretischen Ansätze dienen vielmehr als Zugang zu den ontologischen. Nach Kutschera führen vier Hauptwege zum ontologischen Idealismus:388 Erstens: Der phänomenalistische Weg. Der Phänomenalismus versucht zu zeigen, dass die Sinnesdaten die Basis für die Einführung physikalischer Begriffe sind, oder anders gesagt, dass sich alles Physische durch Sinnesdaten und ihre Attribute definieren lässt. Man könnte daher auch von einem reziproken semantischen Physikalismus sprechen. 389 387
Relative Konstanz bedeutet Konstanz in Beziehung zu bestimmten Veränderungsprozessen gesehen. 388 389
Vgl. Von Kutschera, Franz: Philosophie des Geistes, Mentis, Paderborn, 2009.
Der Phänomenalismus der 30er und 40er Jahre des 20 Jahrhunderts, geht davon aus, dass wir es in unserer Erfahrung nur mit Sinnesdaten zu tun haben, und dass sich alles Physische durch Psychisches definieren lässt. Eine These, die unter dem Einfluss des linguistic turn formuliert wurde.
171
Zweitens: Der Weg über das Argument, dass der erkenntnistheoretische Idealismus der Existenzannahme einer physischen Wirklichkeit, in einem realistischen Sinn, wie sie Gegenstand des Commonsense, des naiven Realismus und der meisten empirischen Wissenschaften ist, die Grundlage entzieht. Drittens: Der Weg des sekundären Charakters aller empirischen Eigenschaften. Man will beweisen, „dass die Annahme einer eigenständigen physischen Welt auch damit ihren Halt verliert“390 . Und endlich der vierte Weg, bei dem angenommen wird, dass die Wirklichkeit für uns Menschen erkennbar ist, und der zeigen soll, dass sich nur „Geistiges vollkommen erkennen lässt.“391 Ist man nach dem Abschreiten der Wege irgendwann zum ontologischen Idealismus gelangt, so kann man feststellen, dass sich auch die Vorstellungen von der Beschaffenheit einer umfassenden geistigen Wirklichkeit erheblich voneinander unterscheiden, und dass es ganz verschiedene ontologische Idealismen gibt. Es ist von subjektiven und objektiven, von transzendenten und immanenten ontologischen Idealismen die Rede. Analog zu den vorangegangenen Abschnitten, werde ich mich auch im Fall des Idealismus auf die wesentlichen Aspekte konzentrieren. Dementsprechend soll der epistemologische Idealismus, der Phänomenalismus und der transzendente Idealismus besprochen werden. Damit schließt sich aber nicht nur der Kreis der Erörterungen zu den klassischen Grundpositionen des Leib-Seele-Problems, sondern es wird implizit ein Blick auf den noch zu erläuternden metaphysischen Dualismus geworfen, denn einige seiner Ansätze sind idealistischer Natur.
390
Von Kutschera, Franz: Philosophie des Geistes, Mentis, Paderborn, 2009, S. 173.
391
Ebenda.
172
4.3.1 Epistemologischer Idealismus Der epistemologische Idealismus behauptet, „dass wir es in unseren Erfahrungen nicht mit physischen Dingen und Ereignissen zu tun haben, sondern mit Eindrücken, Vorstellungen oder Ähnlichem, jedenfalls mit etwas Mentalem“392 . Einfach gesagt: Die Gegenstände in unseren Erfahrungen sind mentaler Natur.393 Sie sind also nicht „Dinge oder Sachverhalte einer äußeren Welt, sondern eigene mentale Objekte bzw. Sachverhalte“394 . Im ersten Moment scheint diese These absurd zu sein, denn wir sind davon überzeugt, dass die Gegenstände in unserer Erfahrung, jedenfalls diejenigen der Außenwelt (auf die ich mich hier der Einfachheit halber beschränke), physische Gegenstände sind. Wir nehmen physische Gegenstände wahr und nicht irgendwelche Eindrücke oder Vorstellungen. Zum Beispiel nehme ich in einem gewissen Abstand zu mir selbst den Tisch vor mir wahr, auf dem mein Computer steht, und ich sehe, dass dieser Tisch aus braunem Nussbaumholz ist. Wenn ich fest gegen den Tisch klopfe, dann bemerke ich seine Härte, und wenn ich die Oberfläche des Tisches betaste, dann spüre ich eine bestimmte Rauheit. Es besteht kein Zweifel: Ich habe es mit einem »echten« tatsächlichen Tisch zu tun, den wir gemeinhin als zur physischen, also zur subjektunabhängigen bzw. objektiven Realität gehörend betrachten, und nicht bloß mit Eindrücken oder Vorstellungen. Zweifellos: Was ich wahrnehme, ist der Tisch. Er 392
Von Kutschera, Franz: Philosophie des Geistes, Mentis, Paderborn, 2009, S.153.
393
Hier lässt sich ein feiner Unterschied machen: Die Gegenstände in unseren Erfahrungen sind etwas anderes als die Gegenstände, die diesen Erfahrungen zugrunde liegen, also die Gegenstände der Erfahrung. Jene sind mentaler, diese sind (zumindest in der Auffassung der meisten Menschen) physischer Natur. 394
Von Kutschera, Franz: Die Wege des Idealismus, Mentis, Paderborn, 2006, S. 67. Anmerkung: Die mentalen Objekte, von denen im erkenntnistheoretischen Idealismus die Rede ist, werden in verschiedener Weise bestimmt, „als Repräsentanten von Dingen oder Ereignissen der Außenwelt, als Eindrücke, Empfindungen, Sinnesdaten, Vorstellungen usw. Dabei nimmt man in aller Regel eine solipsistische Basis an, denn andere Subjekte und ihre geistigen Akte und Produkte sind keine Gegenstände meiner direkten sinnlichen Erfahrungen“ (Von Kutschera, Franz: Die Wege des Idealismus, Mentis, Paderborn, 2006, S. 67).
173
befindet sich in einem gewissen Abstand zu mir selbst, ist braun, hart und rau. Für eine Vorstellung gilt das nicht, zumindest nicht im gleichen Sinn. Betrachtet man den Sachverhalt aber genauer, so wird klar, dass es ganz und gar unmöglich ist, dass das Ding, das da gerade innerhalb meiner Wahrnehmung auftaucht und das ich mit dem Ausdruck ‘Tisch’ bezeichne, physischer Natur ist: Erstens: Ein physischer Tisch ist ein Atomkomplex, dessen Verhalten sich durch physikalische Gesetzmäßigkeiten ausdrücken lässt. ‘Braun sein’, ‘hart sein’ und ‘rau sein’, sind aber sekundäre Wahrnehmungseigenschaften, die auf Atomkomplexe nicht zutreffen. Sie gehören nicht zur physischen Realität, sondern sind Endergebnisse von Wahrnehmungsprozessen395 . Zweitens: Nehmen wir an, mein Freund Heinz kommt zu Besuch, ebenfalls ein Philosoph (noch dazu einer, der dem Skeptizismus anheim fiel), und weil er seine Brille vergaß, nimmt er den Tisch nicht als braun, sondern als rötlich wahr. Für mich ist der Tisch aber weiterhin braun. Wäre der erfahrungsimmanente Tisch der physische Tisch, so müsste ein und derselbe Tisch zugleich braun und rötlich, also zugleich auch braun und nicht braun sein. Das ist aber unmöglich. 396 Einerseits deshalb, weil die Beschaffenheit des physischen Tisches, der ja ein objektiver Tisch ist, nicht von seinen Betrachtern abhängig sein kann.397 Andererseits deshalb, weil Aristoteles’ Satz vom ausgeschlossen Widerspruch besagt, dass kein Seiendes zugleich eine Eigenschaft hat und diese Eigenschaft nicht hat.398 Dieser Satz ist ein anerkanntes Axiom der Ontologie. Diesen Überlegungen würde wahrscheinlich auch ein Physiker zustimmen, denn für seine Theorien über die physische Welt wäre es fatal, 395
Bis zu welchem Punkt die Wahrnehmungsprozesse zur physischen Realität gehören und ab welchem sie in geistige Prozesse konvertieren, das ist eine empirische Frage der Neurowissenschaft. 396
Vgl. 6.2, Die Widerlegung des naiven Realismus und die fundamentalen Konsequenzen für das psychophysische Problem. 397
Die Objektivität von Entitäten impliziert ihre Unabhängigkeit von Subjekten und deren Wahrnehmungs- bzw. Erfahrungszusammenhängen, Meinungen, Theorien, Überzeugungen usw. 398
Genauer formuliert lautet Aristoteles’ ontologisches Axiom in moderner Notation folgendermaßen: Für jedes Ding x und für jede Eigenschaft F und für jeden Zeitpunkt t gilt: Es ist nicht der Fall, dass x zu t F ist und dass x zu t Nicht-F ist. Vgl. Aristoteles: Metaphysik, Rowohlt Verlag, Hamburg, 1994.
174
wenn die Inhalte unserer Erfahrungszusammenhänge determinierenden Einfluss auf seine Entitäten hätten.399 Damit es einen Sinn ergeben kann, von objektiven physischen Entitäten zu reden, müssen diese Entitäten von psychischen Entitäten verschieden sein, und das wiederum bedeutet, dass die wahrnehmungsimmanenten Entitäten, d.h. die Entitäten in unserer Erfahrung, keine physischen Entitäten sein können.400 Zusammenfassend kann man also sagen: Es mag sein, dass die Ursachen meiner Erfahrungsgegenstände, d.h. der Gegenstände in meiner Erfahrung oder die Ursachen der Erfahrungsgegenstände anderer Subjekte, physischer Natur sind, die Erfahrungsgegenstände selbst sind es nicht. Sie sind mentaler Natur.401 Daraus darf man aber auch keinen falschen Schluss ziehen: So folgt aus der Einsicht, dass uns die Welt nicht in ihrer ursprünglichen, also physikalischen Form gegeben ist, nicht, dass es die physische Welt gar nicht gibt. Aus dem epistemologischen Idealismus folgt logisch kein ontologischer.402 Dennoch stehen wir vor einem fundamentalen Dilemma. Es betrifft jedenfalls den Dualismus, meiner Überzeugung nach aber auch den Materialismus: 1)Sobald man den epistemologischen Idealismus anerkennt, führt kein Weg mehr von den mentalen Zusammenhängen zur physischen Realität zurück, weder empirisch noch logisch. Empirisch deshalb nicht, weil die Gegenstände innerhalb unserer Erfahrung dann nicht unmittelbar physische Gegenstände sind. Logisch deshalb nicht, weil wir, sofern es „nicht etwa ein apriorisches Prinzip gibt, nach welchem unbekannte 399
Erstens: Die Quantentheorie habe ich hier absichtlich nicht berücksichtigt. Es ist bisher unklar, wie ihre Ergebnisse im Kontext von subjektiver Wahrnehmung und physischer Außenwelt zu deuten sind. Zweitens: Dieser Sachverhalt hat eine ähnliche Struktur wie das Problem der mentalen Verursachung, das der Materialist zu lösen versucht, indem er Psychisches auf Physisches zurückführt, und das der Dualist nicht erklären kann. 400
Das führt uns wieder zum Dualismus.
401
Vgl. Waß, Bernd: Die reale Außenwelt und das Wirklichkeitsproblem, Universität Salzburg, 2009. 402
Das umgekehrte gilt sehr wohl.
175
Wesenheiten aus bekannten Wesenheiten zu erschließen sind“403, nicht logisch gültig von jenen auf diese schließen können.404 2)Erkennt man den epistemologischen Idealismus hingegen nicht an, so ist eine konsistente Ontologie der physischen Realität, nicht zuletzt wegen das Satzes vom ausgeschlossenen Widerspruch, unmöglich.405 Die Probleme für den Dualisten liegen auf der Hand: Stimmt er den Überlegungen des epistemologischen Idealismus zu, so ist die Annahme, dass es neben dem Psychischen auch noch Physisches gibt, unbegründbar. Lehnt er sie ab, so kann er die Wirklichkeit selbst dann nicht theoretisch befriedigend erfassen, wenn er alle anderen Probleme der Dualität von Psychischem und Physischem gelöst hat. Für den Materialisten hingegen ist klar, dass der epistemologische Idealismus falsch ist. Der Materialist muss notwendigerweise davon ausgehen, dass er es in der Erfahrung unmittelbar mit einer physischen Welt zu tun hat, denn auf diese physische Welt will er ja alle Erfahrung zurückführen. Doch mit der erfahrungsimmanenten physischen Realität gerät auch der Materialist in das Problem der ontologischen Inkonsistenz, weil damit unausweichlich der ontologische Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch verletzt wird. Letztlich befindet sich aber auch der epistemologische Idealist selbst in einer schwierigen Situation, wie im übrigen alle Vertreter von Theorien (mit Ausnahme des ontologischen Idealismus), die sich auf das unmittelbar Gegebene zurückziehen und es vom physischen ontologisch trennen. Sobald man nämlich wahrnehmungsimmanente Gegenstände als etwas auffasst, das nicht physischer Natur ist, haben sämtliche Aussagen über eine Wirklichkeit jenseits des unmittelbar Gegebenen nur noch hypothetischen Charakter, selbst Aussagen über ganz einfache 403
Russell, Bertrand: Unser Wissen von der Außenwelt, Meiner Verlag, Hamburg, 2004, S. 113. 404
Diese Überlegungen sind unter anderem auch gute Gründe für den Übergang von einem epistemologischen zu einem ontologischen Idealismus, wie sich im nächsten Abschnitt noch zeigen wird. 405
Weitere Probleme sind die Verletzung der Eindeutigkeitsbedingung des Raums und das Problem der nicht wahrgenommenen Gegenstände. Vgl. Waß, Bernd: Die reale Außenwelt und das Wirklichkeitsproblem, Universität Salzburg, 2009.
176
Beobachtungszusammenhänge. Darüber hinaus benötigt ein epistemologischer Idealist zumindest irgendeine Theorie der Repräsentation oder eine Theorie der Erkenntnisprinzipien, um die Ordnung der Wahrnehmungseindrücke, die Wohlgeformtheit der Objekte und ihre Konstanz erklären zu können. Im epistemologischen Idealismus ist davon aber keine Rede. 4.3.2 Idealistischer Phänomenalismus Der idealistische Phänomenalismus ist das Pendant zum semantischen Physikalismus. Die Kernthese des idealistischen Phänomenalismus lautet, dass man Physisches auf Psychisches reduzieren kann, weil sich der Bereich des Physischen durch Sinnesdaten und Attribute von Sinnesdaten definieren lässt. Im Phänomenalismus wird von einem epistemologischen Idealismus ausgegangen, „nach dem wir es in unseren Erfahrungen nicht mit physischen Dingen und Ereignissen zu tun haben, sondern mit Sinnesdaten als psychischen Gegebenheiten“.406 Es wird bestritten, daß eine Körperwelt, die vom Wahrgenommenen verschieden ist und außerhalb der Erlebnisse existiert, erkennbar ist. Seit Locke und Hume ist es ein Grundsatz des sensualistischen Empirismus, daß nichts erkannt werden kann als was sich aus Sinnesdaten [...] konstituieren läßt. [...] Darum hat der moderne Positivismus verlangt, außerbewußte Wesenheiten durch logische Konstruktionen aus Sinnesdaten zu ersetzen.407
In diesem Zusammenhang ist jedenfalls Rudolf Carnap zu nennen. Carnap ist zwar kein Phänomenalist, sondern logischer Positivist, doch stimmt man mit Victor Kraft überein, dass zwischen dem sensualistischen Positivismus und dem Idealismus der Bewusstseinsphänomene kein prinzipieller Unterschied besteht, so lässt sich die Konstitutionstheorie Carnaps als Möglichkeit verstehen, wie man Physisches als einen Teil des Psychischen begreifen kann. 408 In seinem Hauptwerk ‘Der logische Aufbau der Welt’ unternimmt Carnap den bedeutenden Versuch, die Gegenstandswelt, auf der Grundlage einer logisch einsichtigen Konstruktion, vollständig aus Elementarerlebnissen, also aus Psychischem, 406
Von Kutschera, Franz: Philosophie des Geistes, Mentis, Paderborn, 2009, S. 163.
407
Kraft, Victor: Erkenntnislehre, Springer-Verlag, Wien, 1960, S. 264 f.
408
Vgl. Kraft, Victor: Erkenntnislehre, Springer-Verlag, Wien, 1960.
177
zu konstituieren.409 Anders formuliert: Carnap wollte die Grundkategorien der Begriffe, mit Ausnahme der mathematischen und logischen, die er voraussetzte, also nur die empirischen, aus Erlebnissen konstituieren. Das Problem ist aber, dass alle Konstitutionsschritte eben auf Erlebnissen beruhen und somit keine Begriffe konstituiert werden können, die mehr enthalten als das, was in den eigenen Erlebnissen vorzufinden ist. Von da aus kann „nicht der Begriff der Zukunft gebildet werden [...]; eine unbegrenzte Zeit ist unkonstituierbar aus Beziehungen der eigenen Erlebnisse; [...] und ebensowenig auch eine Körperwelt außerhalb der eigenen Erlebnisse“410 . „Es ist symptomatisch, daß Carnap in logisch strenger Weise nur die Begriffe des Eigenpsychischen konstituiert hat, nicht aber die höheren Konstitutionsstufen, der Körperwelt, des Fremdseelischen und des Geistigen.“411 So bleiben jedenfalls elementare Teile des Physischen unberücksichtigt, und man darf berechtigterweise daran zweifeln, dass sich der Bereich des Physischen tatsächlich durch Sinnesdaten und Attribute von Sinnesdaten definieren lässt. Darüber hinaus hat man unter dem Einfluss des linguistic turn412, die Kernthese des Phänomenalismus auch als „Behauptung von der Übersetzbarkeit der Sprache über Physisches in die Sprache über Sinnesdaten formuliert“413 . Doch hier erheben sich ebenso große Schwierigkeiten wie schon zuvor: Wir verfügen zwar über eine Sprache des Physischen, doch es stellt sich die Frage, wie ein Sprache über Sinnesdaten aussehen soll? „Soll die Basis im Sinn eines Solipsismus ferner eine Sprache über Sinnesdaten ein und derselben Person sein, oder über Sinnesdaten beliebiger Personen?“414 Zudem stellt sich die Frage, was Sinnesdaten überhaupt sind? Um eine Sprache über Sinnesdaten 409
Vgl. Carnap, Rudolf: Der logische Aufbau der Welt, Meiner Verlag, Hamburg 1998.
410
Kraft, Victor: Erkenntnislehre, Springer-Verlag, Wien, 1960, S. 106.
411
a. a. O. S. 105.
412
Mit dem Ausdruck ‘linguistic turn’ wird ein Strömung der analytischen Philosophie in den 20er, 30er und 40er Jahren des 20. Jahrhunderts bezeichnet, mit der eine explizite Hinwendung der Philosophie zur Sprachanalyse und Sprachphilosophie einhergeht. 413
Von Kutschera, Franz: Philosophie des Geistes, Mentis, Paderborn, 2009, S. 164.
414
Ebenda.
178
aufzubauen, in welche die Sprache über Physisches übersetzt werden kann, muss spezifiziert werden, als was Sinnesdaten zu verstehen sind. Doch das „bleibt ganz unbestimmt, und diese Tatsache bildet schon einen entscheidenden Einwand gegen den Phänomenalismus: Wer nicht in der Lage ist, eindeutig zu erklären, wovon er spricht, sagt nichts, was diskussionsfähig wäre“415 . Abgesehen davon - es ist fraglich, ob es eine Sprache über Sinnesdaten überhaupt geben kann. Ein Indiz hierfür ist die Tatsache, dass Carnap „schon zwei Jahre nach Erscheinen seines Buches zum logischen Physikalismus übergegangen“416 ist und Nelson Goodman, die These von der Übersetzbarkeit der Sprache über Physisches in die Sprache über Psychisches ganz aufgegeben hat.417 4.3.3 Vom epistemologischen zum ontologischen Idealismus Ein ontologischer Idealismus impliziert einen erkenntnistheoretischen Idealismus, denn wenn es nur Geistiges gibt, kann es keine Objekte einer nichtgeistigen Welt geben, die Gegenstände unserer Erfahrung sein könnten. [...] Aus einem erkenntnistheoretischen Idealismus folgt umgekehrt kein ontologischer Idealismus.418
Auf beides wurde bereits hingewiesen. Doch obwohl der ontologische Idealismus nicht logisch aus dem erkenntnistheoretischen folgt, ist es dennoch plausibel, ihn anzunehmen, wenn man vom erkenntnistheoretischen Idealismus überzeugt ist. Dafür hat Berkeley zwei Argumente angegeben, wobei das erste der beiden Argumente dem Dilemma419 gleicht, das ich im Zusammenhang mit dem epistemologischen Idealismus formuliert habe: Erstens lässt sich die Existenz bewusstseinsunabhängiger Gegenstände nicht erkennen. Man kann sie weder empirisch erkennen, denn in sinnlicher Erkenntnis haben wir es nach dem erkenntnistheoretischen Idealismus nur mit [...] Mentalem zu tun. Man kann sie aber auch nicht apriori erkennen, denn
415
Von Kutschera, Franz: Philosophie des Geistes, Mentis, Paderborn, 2009, S. 164.
416
a. a. O. S. 167.
417
Vgl. Goodman, Nelson: The Structure of Appearance, Springer Verlag, Wien, 1977.
418
Von Kutschera, Franz: Philosophie des Geistes, Mentis, Paderborn, 2009, S. 190.
419
Vgl. 4.3.1, Epistemologischer Idealismus.
179 apriorische Erkenntnis ist nur von abstrakten Gegenständen möglich.420 Zweitens hat die Annahme externer Objekte auch keinen Erklärungswert. Man kann mit ihnen insbesondere nicht erklären, wie unsere sinnlichen Eindrücke entstehen, denn es bleibt unverständlich, wie materielle Dinge auf die Seele einwirken und dort Ideen oder Eindrücke hervorrufen sollen [...].421
Das ist das Problem psychophysischer Kausalität, das Berkeley für unlösbar hielt und das im Dualismus in der Tat für wesentliche Schwierigkeiten sorgt. Darüber hinaus ergänzen die Einwände Berkeleys gegen Repräsentationstheorien der Erfahrung den Grundgedanken, dass es vernünftig ist, einen ontologischen Idealismus dann zu vertreten, wenn man den epistemologischen Idealismus vertritt. Repräsentationstheorien der Erfahrung behaupten im Kern, dass wir in unseren Erfahrungszusammenhängen „nicht Sachverhalte der Außenwelt erfahren, „sondern mentale Sachverhalte, die aber von Sachverhalten der Außenwelt bewirkt werden und aufgrund der kausalen Verbindungen deren Struktur entsprechen“422 . Doch nach Berkeley sind Repräsentationstheorien der Erfahrung unhaltbar: Erstens können zwischen mentalen und körperlichen Objekten keine Ähnlichkeiten bestehen, da sie völlig verschiedene Eigenschaften haben. Geht man z.B. von einem Cartesischen Dualismus aus, so gibt es keine nicht logisch-mathematischen Eigenschaften, außer zeitlichen, die sowohl Seelen oder Seelisches wie Körper gemeinsam haben können. Ideen (als Gedanken) sind ferner flüchtig und ändern sich ständig, können also nicht den physischen Dingen ähnlich sein, die wir als Konstanten im Fluss der Erscheinungen ansehen. Zweitens wären Existenz und Natur bewusstseinsunabhängiger Objekte aufgrund des erkenntnistheoretischen Idealismus unerkennbar.423
420
Von Kutschera, Franz: Philosophie des Geistes, Mentis, Paderborn, 2009, S. 191.
421
Ebenda.
422
Ebenda.
423
a. a. O. S. 192.
180
4.3.4 Ontologischer Idealismus Erst im ontologischen Idealismus wird die Kernthese des Idealismus, der zufolge alles was existiert, geistiger Natur ist, theoretisch umfassend realisiert. Man unterscheidet subjektive und objektive Idealismen sowie immanente und transzendente Idealismen. Zunächst werde ich kurz auf die drei erstgenannten Ausprägungen idealistischer Denkungsart eingehen. Danach folgt die Betrachtung des transzendenten Idealismus. 4.3.4.1 Subjektiver, objektiver und immanenter Idealismus Für subjektive Idealismen besteht das Geistige aus Subjekten, deren mentalen Zuständen und Akten und den Produkten solcher Akte. Derartige Produkte sind z.B. Vorstellungsinhalte, abstrakte Gegenstände, Theorien [...] usw. [...] Subjekte sind Träger und Produzenten aller geistigen Realität; ohne Subjekte gibt es nichts Geistiges.424
Objektive Idealismen, wie sie insbesondere von Hegel und Schelling vertreten worden sind, gehen von einem Geistbegriff aus, für den das subjektiv Geistige [...] nur ein abgeleitetes Phänomen ist. Die fundamentale Realität ist für sie subjektfrei oder transsubjektiv.425
Im Gegensatz zum objektiven Idealismus ist der subjektive Idealismus der herkömmlichen Auffassung von Geistigem wesentlich näher. Jedenfalls für diese Spielart des Idealismus stellt sich die aber Frage, welche Subjekte angenommen werden. Entscheidend dabei ist, ob das nur empirische Subjekte sind, Menschen und ggf. höhere Tiere - ich rede dann von einem immanenten Idealismus -, oder ob auch Gott oder andere körperlose Wesen in Betracht gezogen werden - dann rede ich von einem transzendenten Idealismus.426
Der immanente Idealismus, oder besser gesagt der subjektive immanente Idealismus, ist von vornherein nicht in der Lage, die Beschaffenheit der Wirklichkeit theoretisch befriedigend zu erfassen. Das liegt daran, dass diese Konzeption die Außenwelt ersatzlos streicht; es werden ja nur 424
Von Kutschera, Franz: Philosophie des Geistes, Mentis, Paderborn, 2009, S. 171.
425
Ebenda.
426
a. a. O. S. 172.
181
empirische Subjekte und deren geistige Produkte zugelassen. Doch die Annahme einer Außenwelt ist unumgänglich. Ohne sie lässt sich der Erfahrungszusammenhang kognitiver Subjekte nicht in einen einheitlichen Zusammenhang bringen; weder lässt sich dann die Herkunft unserer Sinneseindrücke erklären noch die Existenz anderer Subjekte noch die Tatsache, dass es so etwas gibt wie eine Verständigung der Subjekte untereinander. 427 Wegen der soeben genannten Gründe werde ich den subjektiven immanenten Idealismus nicht weiter behandeln. Es verhält sich nämlich so: Streicht man die physische Welt, so muss unumgänglich eine andere subjekttranszendente Wirklichkeit an ihre Stelle treten. Ein solche Wirklichkeit kann aber in einem idealistischen Programm nur geistiger Natur sein. Dementsprechend kommt lediglich ein transzendenter Idealismus in Frage, denn ein solcher anerkennt die Notwendigkeit des Außenweltersatzes und setzt hierfür gleichsam eine geistige Realität an. Transzendente Idealismen sind somit die einzigen idealistischen Theorie zum Leib-Seele-Problem, die prinzipiell Erfolg haben können. Auch der objektive, mithin subjektlose Idealismus wird nicht weiter erörtert. Zum einen deshalb, weil er seiner Konzeption nach eigentlich gar kein Idealismus ist, sondern ein neutraler Monismus, zum anderen deshalb, weil der objektive Idealismus „das neutrale Substrat alles Seienden nie klar bestimmt hat“428 und daher auch nicht erklären kann, wie daraus geistige oder physische Entitäten entstanden sind. 4.3.4.2 Transzendenter ontologischer Idealismus Immanuel Kant hat den Grundgedanken des transzendenten ontologischen Idealismus in den Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, folgendermaßen zum Ausdruck gebracht: Der Idealismus besteht in der Behauptung, daß es keine anderen als denkende Wesen gebe, die übrigen Dinge, die wir in der Anschauung wahrzunehmen glauben, wären nur Vorstellungen in den denkenden Wesen, denen in der Tat
427
Vgl. Waß, Bernd: Die reale Außenwelt und das Wirklichkeitsproblem, Universität Salzburg, 2009. 428
Von Kutschera, Franz: Philosophie des Geistes, Mentis, Paderborn, 2009, S. 172.
182 kein außerhalb diesen befindlicher Gegenstand korrespondierte.429 Idealist sein heißt demnach: ausschließlich Bewußtsein - das eigene Ich und möglicherweise (nicht notwendig) andere Geistwesen - sowie Bewußtseinsbestimmungen, d.h. Empfindungen, Wahrnehmungen, Vorstellungen der Erinnerung und der Einbildungskraft als existierend anerkennen.430
Die Kernthese des transzendenten Idealismus bzw. des Immaterialismus ist aus ontologischer Sicht eindeutig und minimalistisch: Es gibt denkende Wesen (Geister) und Dinge im Geist, sonst nichts. Somit ist diese Denkrichtung viel weniger ein Versuch, das Leib-Seele-Problem zu lösen, als vielmehr ein Versuch, es aufzulösen. Der bedeutendste Vertreter des transzendenten Idealismus ist ohne Zweifel George Berkeley. Sein berühmter Satz ‘esse est percipi’ - Sein ist wahrgenommen werden - gibt einen Hinweis darauf, worauf er letztlich hinaus will: Es gibt keine andere Substanz als Geist oder das, was wahrnimmt.431 Das ist jedenfalls der Kern seiner Ontologie, wie er sie in der Abhandlung über die Prinzipien der menschlichen Erkenntnis darlegt. Auf nur dreieinhalb Seiten formuliert Berkeley die Grundsätze einer Theorie, die nicht nur in scharfem Gegensatz zum Weltbild des Commonsense steht, sondern die von Zeitgenossen und Nachwelt gleichermaßen zwiespältig diskutiert wurde. „Diderot nennt den Idealismus Berkeleys ein »närrisches System«, das »zur Schande des menschlichen Geistes und der Philosophie« - am schwierigsten zu widerlegen sei, obgleich es das »allerabsurdeste« ist“432 , und „auf ein »schimärisches Ideensystem« zielt Samuel Johnson’s notorische Berkeley-Widerlegung, die im Fußtritt gegen einen Stein
429
Kant, Immanuel: Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, Meiner, Hamburg, 2001, S. 48. 430
Kulenkampff, Arend: Erfahrung und Metaphysik zum Idealismus George Berkeleys, in: Berkeley, George: Eine Abhandlung über die Prinzipien der menschlichen Erkenntnis, Meiner, Hamburg, 2004, S. IX. 431
Vgl. Berkeley, George: Eine Abhandlung über die Prinzipien der menschlichen Erkenntnis, Meiner, Hamburg, 2004. 432
Kulenkampff, Arend: Erfahrung und Metaphysik zum Idealismus George Berkeleys, in: Berkeley, George: Eine Abhandlung über die Prinzipien der menschlichen Erkenntnis, Meiner, Hamburg, 2004, S. VIII
183
besteht“433 . Nichtsdestoweniger ist Berkeleys Immaterialismus 434 der eleganteste Versuch, das Leib-Seele-Problem zu lösen. Nicht nur deshalb, weil alle Probleme des Dualismus und des Materialismus mit einem Schlag verschwinden, sondern auch deshalb, weil die meisten Probleme transzendentaler Wirklichkeitstheorien, also jener Erkenntnistheorien, die sich auf die Bedingungen, die Möglichkeiten und den Umfang unserer Erkenntnis einer äußeren, jenseits unseres Bewusstseins befindlichen Realität beziehen, einer Lösung zugeführt werden könnten. Wenn nämlich die Welt vollständig geistiger Natur ist, „lässt sich begreifen, dass es möglich ist, sie so zu erkennen, wie sie an sich ist. Nur für Geistiges fällt das Für-uns-sein mit dem An-sich-sein zusammen“435 . „Platon sagt, die Seele könne nur das ihr Verwandte, das Geistige vollkommen erkennen.“436 Der Idealismus ist also nicht nur ein Weg zur Lösung des Leib-SeeleProblems, sondern auch ein Weg zur vollständigen Erkenntnis des Wirklichen von Grund auf. Doch Berkeleys Theorie hat neben epistemologischen Problemen, mit der Existenznotwendigkeit Gottes vor allem ein schwerwiegendes metaphysisches Problem, welches aus heutiger Sicht nicht so einfach zu beheben ist. Doch selbst, wenn der transzendente ontologische Idealismus scheitert, sein philosophischer Gehalt ist von größter Bedeutung. Betrachten wir also zunächst die Grundstruktur der Ontologie Berkeleys und im Anschluss deren Probleme bzw. die Erkenntnisse, die man daraus gewinnen kann: 1 Für jeden, der die Gegenstände menschlicher Erkenntnis mustert, ist offenkundig, daß es sich dabei entweder um den Sinnen gegenwärtig eingeprägte Ideen[437] handelt oder um Dinge, die in den Blick geraten, wenn 433
Kulenkampff, Arend: Erfahrung und Metaphysik zum Idealismus George Berkeleys, in: Berkeley, George: Eine Abhandlung über die Prinzipien der menschlichen Erkenntnis, Meiner, Hamburg, 2004, S. VIII f. 434
Berkeley nennt sein System den Immaterialismus.
435
Von Kutschera, Franz: Philosophie des Geistes, Mentis, Paderborn, 2009, S. 243.
436
Von Kutschera, Franz: Die Wege des Idealismus, Mentis, Paderborn, 2006, S. 254.
437
Anmerkung: Unter dem Ausdruck ‘Idee’ versteht Berkeley nicht eine Idee in dem Sinn, wie wir sie heute in unserem alltäglichen Sprachgebrauch als besonderen Einfall verstehen. Ideen sind für Berkeley ganz allgemein Gedanken, geistige Dinge oder geistige Phänomene.
184 den Gemütsbewegungen und Tätigkeiten des Geistes Aufmerksamkeit geschenkt wird, oder schließlich um Ideen, die vermöge des Gedächtnisses und der Einbildungskraft durch Zusammensetzung, Teilung oder bloße Wiederholung dessen gebildet werden, was ursprünglich auf die eine oder andere genannte Weise wahrgenommen wird. Durch den Gesichtsinn empfange ich die Ideen von Licht und Farbe in ihren mannigfachen Abstufungen und Variationen. Mit dem Tastsinn nehme ich beispielsweise Härte und Weichheit, Wärme und Kälte, Bewegung und Widerstand wahr und von all dem mehr oder weniger hinsichtlich der Quantität oder des Grades. Der Geruchssinn versorgt mich mit Düften, der Gaumen mit Geschmacksempfindungen, das Gehör erschließt dem Geist eine Welt von Tönen unterschiedlichster Stärke und Zusammensetzung. Wenn nun beobachtet wird, daß mehrere dieser Ideen einander begleiten, so erhalten sie einen Namen und werden infolgedessen als ein Ding aufgefaßt. So geschieht es zum Beispiel, daß eine bestimmte Farb-, Geschmacks-, Geruchsqualität, Gestalt und stoffliche Beschaffenheit, nachdem beobachtet worden ist, daß sie regelmäßig zusammen auftreten, als ein ganz bestimmtes Ding angesehen und mit dem Namen Apfel belegt werden. Andere Konfigurationen von Ideen bilden einen Stein, einen Baum, ein Buch und ähnliche Sinnendige [...]. 2 Aber außer dieser endlosen Mannigfaltigkeit von Ideen oder Erkenntnisgegenständen gibt es auch noch etwas, das sie erkennt oder wahrnimmt und verschiedene Tätigkeiten wie Wollen, Sicheinbilden, Sicherinnern an ihnen ausübt. Dieses wahrnehmende tätige Wesen ist das, was ich Subjekt, Geist, Seele oder mich selbst nenne. Mit diesen Ausdrücken bezeichne ich nicht irgendeine meiner Ideen, sondern ein von ihnen schlechthin verschiedenes Ding, worin sie existieren oder, was dasselbe besagt, wodurch sie wahrgenommen werden. Denn das Sein einer Idee besteht im Wahrgenommenwerden. 3 Daß weder unsere Gedanken noch unsere Gemütsbewegungen noch die Ideen der Einbildungskraft außerhalb des Geistes existieren, wird jeder zugeben. Es scheint aber ebenso offenkundig zu sein, daß die verschiedenen Sinnesempfindungen oder den Sinnen eingeprägte Ideen, wie sie auch miteinander vermischt oder verbunden sein, d.h. was für Gegenstände sie auch bilden mögen, nicht anders als in einem sie wahrnehmenden Geist e x i s t i e r e n können. Das, meine ich, sollte jedem intuitiv klar sein, der genau darauf achtet, was der Ausdruck existieren, angewandt auf Sinnendinge, bedeutet. Von dem Tisch, an dem ich schreibe, sage ich: er existiert, und das heißt: ich sehe und taste ihn. Befände ich mich außerhalb meiner Studierstube, so hätte meine Behauptung, daß er existiert, den Sinn, daß ich, wenn ich in meiner
185 Studierstube wäre, ihn wahrnehmen könnte oder daß irgendein anderer Geist ihn gegenwärtig wahrnimmt. Ein Duft war da, heißt: er wurde gerochen; ein Ton erklang, besagt: er wurde gehört; eine Farbe oder Gestalt war da: sie wurde durch den Gesichtssinn oder den Tastsinn wahrgenommen. Hierin erschöpft sich für mich die Bedeutung dieser und ähnlicher Ausdrücke. Denn die Rede von der absoluten Existenz nichtdenkender Dinge ohne alle Beziehung auf ihr Wahrgenommenwerden scheint schlechthin unverständlich zu sein. Ihr esse ist percipi, und es nicht möglich, daß ihnen irgendein Dasein außerhalb der Geister oder denkenden Dinge, die sie wahrnehmen, zukäme. 4 In der Tat aber herrscht unter den Menschen befremdlicherweise die Meinung vor, daß Häuser, Berge, Flüsse, kurz: alle Sinnesobjekte ein vom Wahrgenommenwerden durch den Verstand verschiedenes [...] reales Dasein besitzen. Mag dieses Prinzip auch mit noch so emphatischer und allgemeiner Zustimmung verfochten werden, so wird doch, wenn ich nicht irre, ein jeder, der den Mut aufbringt, es in Zweifel zu ziehen, feststellen, daß es einen offenkundigen Widerspruch einschließt. Denn was sind die erwähnten Gegenstände anderes als Dinge, die wir mit den Sinnen wahrnehmen, und was nehmen wir wahr außer unsere eigenen Ideen oder Sinnesempfindungen; und ist es nicht klarerweise ein Widerspruch in sich, daß irgendeine solche oder eine Verbindung von ihnen unwahrgenommen existiert? 5 Wenn wir diese Auffassung sorgfältig prüfen, wird sich vielleicht herausstellen, daß sie in letzter Instanz auf der Lehre von den abstrakten Ideen beruht. Denn heißt es nicht die Abstraktion auf die Spitze treiben, wenn die Existenz wahrnehmbarer Gegenstände vom Wahrgenommenwerden unterschieden wird, so daß man sich vorstellt, sie existierten unwahrgenommen? Licht und Farben, Wärme und Kälte Ausdehnung und Gestalt, kurz: die Dinge, die wir sehen und tasten - was sind sie denn anderes als mancherlei Empfindungen, Vorstellungen, Ideen oder Sinneseindrücke; und ist es möglich, irgend etwas dergleichen auch nur im Gedanken vom Wahrgenommenwerden zu trennen? [...] So wie es mir durchaus unmöglich ist, irgendetwas zu sehen oder zu tasten ohne wirkliche Empfindung des Gegenstandes, so bin ich außerstande, ein Sinnending oder Objekt unabhängig von aller Empfindung oder Wahrnehmung desselben gedanklich zu erfassen. 6 Einige Wahrheiten liegen so nahe und sind so offensichtlich, daß man nur die Augen zu öffnen braucht, um sie zu sehen. Zu diesen zähle ich die bedeutende Wahrheit, daß alle Chöre des Himmels und die ganze Vielfalt irdischer Objekte, kurz: alle Körper, die das gewaltige Weltgebäude bilden, nicht außerhalb eines Geistes bestehen können, daß ihr Sein ihr Wahrgenommen- oder Erkanntwerden ist, daß mithin, solange sie nicht von mir
186 aktual wahrgenommen werden oder in meinem Geist oder dem eines anderen geschaffenen Geistwesens existieren, sie entweder überhaupt nicht sind oder im Geist eines ewigen Wesens bestehen müssen; ist es doch völlig unverständlich und der Inbegriff des Widersinns der Abstraktion, wenn irgendeinem Teil dieser Dinge ein Dasein unabhängig von einem Geist zugeschrieben wird. Um hiervon überzeugt zu sein, muß der Leser sich nur auf sich selbst besinnen und versuchen, in Gedanken das Sein eines Sinnesdinges von seinem Wahrgenommenwerden zu trennen. 7 Aus dem Gesagten folgt, daß es keine andere Substanz gibt als Geist oder das, was wahrnimmt.438
In den ersten sieben Paragraphen der Abhandlung über die Prinzipien der menschlichen Erkenntnis behauptet Berkeley also erstens, dass es Subjekte gibt. Subjekte sind denkende Wesen oder geistige Substanzen. Zweitens, dass es sich bei den Gegenständen, die wir in der Welt vorfinden, entweder um Produkte der Geistestätigkeit handelt, wie z.B. Vorstellungen, Einbildungen, Gemütsbewegungen usw., oder um Gegenstände die uns aufgrund von Sinnesempfindungen gegeben sind (den Sinnen gegenwärtig eingeprägte Ideen). Drittens, dass weder die einen noch die anderen außerhalb des Geistes existieren können. Was die Produkte der Geistestätigkeit angeht, so kann man tatsächlich nicht sinnvoll behaupten, dass es sich anders verhielte. Die Annahme, dass die Vorstellung vom Hund meines Nachbarn oder die Erinnerung an meine erste Philosophievorlesung an der Universität Salzburg auch außerhalb meines Geistes existieren, der ja für ihre Existenz
438
Berkeley, George: Eine Abhandlung über die Prinzipien der menschlichen Erkenntnis, Meiner, Hamburg, 2004, S. 25-28.
187
gleichsam die Bedingung ist, ist unsinnig. 439 Was den Ort der Existenz der anderen Gegenstände betrifft, d.h. derjenigen Gegenstände, die uns durch die Sinnesempfindungen gegeben sind, sind die Thesen Berkeleys zunächst dann plausibel, wenn man einerseits den naiven Realismus überwunden hat, und zu der Einsicht gelangt ist, dass wahrnehmungsimmanente Gegenstände nicht mit wahrnehmungstranszendenten Gegenständen identisch sind, und andererseits akzeptiert, dass wir es in der Wahrnehmung prinzipiell mit etwas Mentalem zu tun haben. Nichtsdestoweniger handelt sich Berkeley fundamentale Probleme ein: Das Problem von der Herkunft unserer Sinnesempfindungen, das Problem vom leeren Futternapf und das Problem vom täuschenden Gott.440 Diese Probleme sind sicher nicht die einzigen; für den ontologischen Idealismus sind sie aber zentral. 4.3.4.2.1 Das Problem von der Herkunft unserer Sinnesempfindungen Wenn es nichts gibt außer denkende Wesen oder geistige Substanzen, den Sinnen dieser Wesen eingeprägte Ideen, das sind die Gegenstände oder Objekte, die uns durch unsere Sinne gegeben sind, und Produkte der Geistestätigkeit dieser Wesen, dann ist weder die Herkunft der Sinnesobjekte, noch ihre Wohlgeformtheit und Konstanz, noch unsere Auffassung von der Existenz anderer Subjekte, noch der Modus der 439
Es ist eine interessante Tatsache, dass der Materialist konsequenterweise, und seinem Wirklichkeitsmodell entsprechend, das Gegenteil behaupten müsste, wie im übrigen auch alle Hirnbiologen, die behaupten, dass Psychisches nichts anderes ist als Physisches. Wenn nämlich meine Erinnerung an meine erste Philosophievorlesung nichts anderes ist als ein bestimmter Gehirnzustand, dann existiert diese Erinnerung außerhalb meines Geistes, also in der Außenwelt, weil ja (dem Materialismus nach) auch das Gehirn selbst in der Außenwelt existiert. Im Sinne eines materialistischen (und auch naiv-realistischen) Wirklichkeitsmodells würde dies bedeuten, dass die Erinnerung an meine erste Philosophievorlesung, so wie mein Gehirn, denn sie ist ja mein Gehirn, in der Außenwelt existiert. Zu Ende gedacht heißt das: Ich bin ein Teil der Außenwelt, ein Objekt neben anderen Objekten. Von diesen unterscheide ich mich lediglich durch meine andersartige physische Beschaffenheit. 440
Diese Bezeichnungen sind meine Erfindungen. Ich habe sie erfunden, weil man sich leichter orientieren kann, wenn die Dinge Namen haben.
188
Unterscheidung zwischen Wirklichkeit und bloßer Einbildung, noch die Tatsache, dass wir mit anderen Subjekten eine kommunikative Beziehung unterhalten deren Gegenstand eine äußere Realität ist, erklärbar. Das heißt, ein wesentlicher Teil unseres geistigen Lebens, nämlich derjenige, den wir üblicherweise auf die Existenz einer Außenwelt beziehen, bleibt unverständlich. Man hat dasselbe Problem wie der immanente und der epistemologische Idealismus. Wenn wir nicht selbst Urheber unserer Sinneseindrücke sind, was in der Theorie Berkeleys ausgeschlossen ist, weil wir Sinneseindrücke bzw. Sinnesobjekte nicht willkürlich beeinflussen können441 , dann kann man die Sinnesobjekte nicht ohne Rückgriff auf die Existenz einer äußeren und vom geistigen Subjekt unabhängigen Realität erklären. Nur eine solche Realität erlaubt es, den angesprochenen Teil unseres mentalen Lebens theoretisch befriedigend zu erfassen. Am einfachsten entledigt man sich dieser Schwierigkeiten dadurch, dass man für die subjektunabhängige Realität eine physische Außenwirklichkeit ansetzt. Da es aber für Berkeley keine physische Außenwelt gibt, „braucht er eine andere Ursache für unsere Sinnesempfindungen“442, d. h. er muss die physische Außenwelt durch eine andere transsubjektive Realität ersetzen, und diese kann „in seiner [...] Ontologie nur ein Subjekt sein“443 . Ein Hinweis auf dieses Subjekt findet sich in Paragraph 6. - Berkeley spricht dort von einem ewigen Wesen. 444 4.3.4.2.2 Das Problem vom leeren Futternapf Neben dem Herkunftsproblem hat Berkeley, was die Sinnesobjekte betrifft, noch ein ganz anderes Problem. Seiner Theorie nach existieren die Sinnesobjekte ja nur solange, wie sie von irgendeinem geistigen Subjekt wahrgenommen werden, d.h. solange sie im Geist irgendeines Subjekts 441
Es ist „für jeden offenkundig, daß diejenigen Dinge, die man die Werke der Natur nennt, das heißt der weitaus größere Teil der von uns wahrgenommenen Ideen oder Sinnesempfindungen nicht durch menschliche Willenstätigkeit hervorgebracht wird oder von ihr abhängt“ (Berkeley, George: Eine Abhandlung über die Prinzipien der menschlichen Erkenntnis, Meiner, Hamburg, 2004, S. 103). 442
Von Kutschera, Franz: Philosophie des Geistes, Mentis, Paderborn, 2009, S. 184.
443
Ebenda.
444
Vgl. 4.3.4.2.3, Das Problem von der Existenz Gottes.
189
sind. Esse est percipi - Sein ist Wahrgenommenwerden. Die Existenz der Sinnesobjekte ist fundamental abhängig von wahrnehmenden Subjekten. Dass der Tisch, vor dem ich gerade sitze, existiert, heißt nach Berkeley, dass ich ihn gegenwärtig wahrnehme bzw. vorstelle, oder dass ihn ein anderes Wesen wahrnehmen bzw. vorstellen könnte, befände es sich in dem Zimmer, in dem sich der Tisch befindet. Würde ich die Augen schließen und wäre auch sonst kein wahrnehmendes Wesen in meinem Zimmer, das den Tisch wahrnehmen bzw. vorstellen könnte, so würde seine Existenz augenblicklich enden. Berkeleys Kernthese lautet also folgend: Es ist unmöglich, dass ein sinnliches Objekt existiert, ohne dass es von jemandem perzipiert (bzw. vorgestellt) wird. Um die These zu begründen wählt Berkeley den Weg des indirekten Beweises. Wäre die These nämlich falsch, so wäre es möglich, dass ein sinnliches Objekt existiert ohne dass es von jemandem perzipiert wird. Dass dies aber unmöglich ist, das versucht Berkeley anhand von Alltagsgegenständen, wie beispielsweise Tischen, Bäumen oder Häusern, zu zeigen. Denn: was für ein beliebiges Beispiel gilt, das gilt für alle Objekte der Perzeption. Für Berkeley genügt es also den Satz ‘Es ist möglich, dass T existiert, ohne dass T von jemandem perzipiert (bzw. vorgestellt) wird’, als inkonsistent und somit als falsch zu erweisen. Reinhard Kleinknecht hat den Argumentationsstrang Berkeleys herausgearbeitet: (S) Es ist möglich, daß T existiert, ohne daß T von jemandem vorgestellt wird. Ist (S) richtig, so ist es also möglich, daß folgendes der Fall ist: T existiert und T wird von niemandem vorgestellt. Um zu zeigen, daß (S) falsch ist, nimmt B. indirekt an, daß (S) richtig ist. Da B. voraussetzt, daß nur das möglich ist, was vorstellbar ist, folgert er aus (S): (S1) Es ist vorstellbar, daß T existiert, ohne daß T von jemandem vorgestellt wird. Weiterhin setzt B. voraus, daß etwas nur dadurch als vorstellbar erwiesen werden kann, daß es sich jemand tatsächlich vorstellt. Um also zu zeigen, daß (S1) richtig ist, muß es nach B. jemanden etwa eine Person A - geben, so daß gilt: (S2) A stellt sich vor, daß T existiert, ohne daß T von jemandem vorgestellt wird. Hieraus folgt nach B.: (S3) A stellt sich T vor. Aus (S3) zusammen mit (S2) folgert B. weiter: (S4) A stellt sich T vor, ohne daß T von jemandem vorgestellt wird. Also muß gelten: (S5) A stellt
190 sich T vor, ohne daß T von A vorgestellt wird. Dies ergibt aber einen Widerspruch: (S6) A stellt sich T vor und A stellt sich T nicht vor.445
Auf diese Weise glaubte Berkeley gezeigt zu haben, dass es unmöglich ist, dass Wahrnehmungsgegenstände existieren, wenn niemand sie wahrnimmt, also perzipiert. Doch nun lässt sich ein ganz triviales Geschehen beschreiben, das Berkeley auf der Grundlage seiner Ontologie nicht mehr erklären kann: Mein Hund Seneca hat seinen Futternapf im Zimmer neben dem meinen. Nachdem der Hund das Futter bekommen hat, verlasse ich das Zimmer. Weil sich auch sonst niemand darin befindet, gibt es folglich auch niemanden, der den Hund wahrnimmt. Aus Berkeleys ontologischen Prinzipien folgt nun, dass seine Existenz notwendigerweise endet. Soweit so gut, doch jetzt beobachte ich Erstaunliches: Nachdem ich das Zimmer wieder betrete, ist der Futternapf von Seneca leer. Doch wie kann das sein? Wie ist es möglich, dass mein nicht existierender Hund den Futternapf leert? 446
445
Kleinknecht, Reinhard: Bemerkungen zu Berkeleys Versuch, die These ‘Es ist möglich, daß ein sinnliches Objekt existiert, ohne daß es von jemanden perzipiert (bzw. vorgestellt) wird’ zu begründen, loser Aufsatz, Universität Salzburg, Sommersemester 1974. Vgl. Berkeley, George: Eine Abhandlung über die Prinzipien der menschlichen Erkenntnis, Meiner Verlag, Hamburg, 1957, §1, §2, §3 §22, §23. 446
Ganz unabhängig von diesen Problemen hat Kleinknecht gezeigt, dass bereits der indirekte Beweis Berkeleys fehlerhaft ist: Laut Kleinknecht folgt (S4) nicht aus (S2) oder (S3). (S2) besagt ja nichts weiter als dies: „(S7) A stellt sich folgendes vor: T existiert und T wird von niemandem vorgestellt. Dagegen ist es ein Mißverständnis, mit B. anzunehmen, daß (S2) so viel besagt wie: (S8) A stellt sich vor, daß T existiert; ferner wird T von niemandem vorgestellt. Aus (S7) folgt sowohl (S9) A stellt sich vor, daß T existiert als auch (S10) A stellt sich vor, daß T von niemandem vorgestellt wird. Aus (S9) könnte man zwar mit B. ableiten, daß A sich T vorstellt. Man gelangt damit aber keinesfalls zu einem Widerspruch, weil aus (S10) nicht folgt, daß T von niemandem vorgestellt wird.“ (Kleinknecht, Reinhard: Bemerkungen zu Berkeleys Versuch, die These ‘Es ist möglich, daß ein sinnliches Objekt existiert, ohne daß es von jemanden perzipiert (bzw. vorgestellt) wird’ zu begründen, loser Aufsatz, Universität Salzburg)
191
4.3.4.2.3 Das Problem von der Existenz Gottes Sowohl das Problem von der Herkunft unserer Sinnesempfindungen als auch das Problem vom leeren Futternapf löst Berkeley durch drei fundamentale Zusatzannahmen. Erstens: Es gibt ein ewiges Wesen, nämlich Gott. Zweitens: Gott ist eine geistige Substanz. Drittens: Die transzendente Wirklichkeit, samt den geistigen Subjekten, ist die geistige Schöpfung Gottes. 447 Mit Gott ist sozusagen eine universelle Instanz eingeführt, die als Urheber einer immateriellen Außenwelt fungiert, oder besser gesagt, einer extramentalen Welt, die selbst mentaler Natur ist, und auf die sich unsere Sinnesempfindungen zurückführen lassen. Da die Außenwelt als geistige Schöpfung Gottes nicht von Gott selbst unabhängig ist, ist sie ständig ein Teil des Geistes Gottes. Da dem Geist Gottes niemals etwas entgeht, oder anders gesagt, da Gott seine Schöpfung ständig wahrnimmt, existieren die Sinnesobjekte auch dann, wenn sie von keinem anderen geistigen Wesen wahrgenommen werden. Gott ist sozusagen Berkeleys Kunstgriff. Allerdings handelt er sich damit das Problem von der Existenz Gottes ein. Auch wenn Gott die gesamte Wirklichkeit erschaffen hat, so kann er doch nicht „Schöpfer seiner selbst sein, denn sonst müsste er als Urheber bereits existieren, bevor er als sein Geschöpf existiert“448 . Dementsprechend muss Gott bereits vor der Schöpfung der geistigen Realität existiert haben, und das ist das Problem. Entweder man setzt die Existenz Gottes dogmatisch voraus, dann hat man es aber nicht mit einer philosophischen Theorie zu tun, oder man versucht sie zu beweisen, dann aber befindet man sich im weiten und äußerst schwierigen Feld der Gottesbeweise. Obwohl Berkeley einen solchen Beweis antritt, kann man mit Sicherheit sagen, dass er einer umfassenden Kritik nicht stand hält. 449 Er schließt, vereinfacht gesagt, aus dem Faktum, dass wir Sinnesempfindungen haben, und aus der Tatsache, dass „wir Menschen nicht rein spirituell auf andere Subjekte einwirken können“450, darauf, dass 447
Vgl. Von Kutschera, Franz: Die Wege des Idealismus, Mentis, Paderborn, 2006.
448
Von Kutschera, Franz: Die Wege des Idealismus, Mentis, Paderborn, 2006, S. 258.
449
Vgl. Berkeley, George: Eine Abhandlung über die Prinzipien der menschlichen Erkenntnis, Meiner, Hamburg, 2004. 450
Von Kutschera, Franz: Die Wege des Idealismus, Mentis, Paderborn, 2006, S. 64.
192
nur Gott unsere Sinnesempfindungen bewirken kann. Gott „ist der einzige mögliche Urheber unserer Sinneseindrücke“451. Das mag aus seiner Sicht einleuchtend sein, doch genau so gut könnte man mit demselben Argument die Existenz einer außerirdische Lebensform beweisen, die über eine Apparatur verfügt, mittels der sie in unserem Bewusstsein Sinnesobjekte erzeugt. Davon abgesehen wurde bis heute kein philosophischer Gottesbeweis vorgelegt, der absolut unbezweifelbar wäre. 452 4.3.4.2.4 Das Problem vom täuschenden Gott Das letzte Problem, das ich im Rahmen des transzendenten Idealismus besprechen will, ist das Problem vom täuschenden Gott. Selbst wenn wir die Existenz Gottes als bewiesen erachten, liefert ein solcher Beweis nicht den geringsten Grund dafür, warum uns Gott eine Wirklichkeit vortäuschen soll, die so beschaffen ist, dass wir darin Häuser, Bäume, Tische, Steine usw. wahrnehmen, und dass überhaupt alles so eingerichtet ist, wie es sich unseren Sinnen und unserem Verstand darbietet, obwohl es sich in Wahrheit lediglich um seine eigenen geistigen Konstruktionen handelt und nichts von dem real existiert. Es erinnert ein wenig an Descartes verschlagenen und doch allmächtigen Gott, der „es veranlaßt hat, daß es überhaupt keine Erde, keinen Himmel, kein ausgedehntes Ding, keine Gestalt, keine Größe, keinen Ort gibt - und all dies [...] trotzdem genau so wie jetzt zu existieren scheint?“453 Und selbst wenn wir die Täuschung 451
Von Kutschera, Franz: Die Wege des Idealismus, Mentis, Paderborn, 2006, S. 64.
452
Joachim Bromand und Guido Kreis sprechen davon, dass Kurt Gödel zwar einen modallogischen Beweis der notwendigen Existenz Gottes vorgelegt hat, in dem bis dato kein Fehler gefunden wurde, was für einen Erfolg des Beweises spricht, dennoch wurden auch hierfür einige Argumente formuliert, die zeigen, dass nicht alle Unklarheiten ausgeräumt sind. Insbesondere „wendet Löffler etwa ein: »[Es wird] überwiegend bezweifelt, daß das Modalsystem S5 wirklich geeignet ist, unser Denken über metaphysische Möglichkeit, Notwendigkeit etc. abzubilden. S5 scheint eher unserem Denken über logische Möglichkeit und Notwendigkeit zu entsprechen. Da Gottes notwendige Existenz aber sicher keine logische Notwendigkeit ist, scheint S5 darauf nicht sinnvoll anwendbar«“. (Bromand, Joachim; Kreis, Guido: Gottesbeweise, Suhrkamp Verlag, Berlin, 2011, S. 401 f.) 453
Descartes, René: Meditationes prima philosophie, Meiner, Hamburg, 2008, S.39.
193
Gottes akzeptierten, was wäre am Ende damit erklärt? Wäre es uns dadurch möglich, die Beschaffenheit der Wirklichkeit tatsächlich zu verstehen, oder bestünde die Antwort auf all unsere Fragen lediglich in einem Rückzug auf Gottes Täuschung? Wären die Erkenntnisse der Wissenschaft tatsächlich Erkenntnisse oder wären sie ebenfalls Täuschungen? Alles in allem: Wäre es nicht wesentlich einfacher und letztlich auch plausibler, von einer empirischen Realität auszugehen, wie sie der Commonsense, der naive Realismus und die meisten empirischen Wissenschaften denkt, die strengen deterministischen Gesetzen gehorcht und durch evolutionäre Mechanismen geformt wurde? Aus dem Problem der Täuschung Gottes, geht auch der Einwand vom fehlenden Erklärungswert hervor: Der transzendente Idealismus kann nur einen einzigen Punkt erklären, „nämlich die Erkennbarkeit der Außenwelt. Damit erfüllt er die Aufgabe einer metaphysischen Theorie nur schlecht, zu einem besseren Verständnis der empirischen Welt beizutragen“454 . 4.3.5 Das Scheitern des Idealismus Mit dem Scheitern des Idealismus wird klar, in welch vertrackter Situation wir uns im Hinblick auf die Lösung des psychophysischen Problems befinden. Eine kurze Rückschau auf die bereits angestellten Überlegungen, soll dies noch einmal verdeutlichen: Unser alltägliches Verständnis von der Beschaffenheit der Wirklichkeit sagt uns, dass es Bäume gibt, Hunde, Häuser usw. - mithin Physisches; und dass es Schmerzen gibt, Stimmungen, Erinnerungen usw. - mithin Psychisches. Der Versuch des Dualismus, das Wirklichkeitsmodell des Commonsense theoretisch befriedigend zu erfassen, führt uns jedoch in Schwierigkeiten, von denen wir nicht wissen, wie wir sie lösen sollten, und lässt uns ernsthaft daran zweifeln, dass das Mentale tatsächlich ein eigenständiger Bereich des Wirklichen ist. Mit diesem Zweifel ist gleichsam der Schritt in den Materialismus getan. Es scheint wesentlich einfacher zu sein, die fundamentalen Erkenntnisse der empirischen Wissenschaften, insbesondere der Physik und der Hirnbiologie, über die Beschaffenheit und die Funktionsweise der materiellen Wirklichkeit zu akzeptieren, und den Versuch zu unternehmen, den vermeintlich kleineren und unbedeutenderen 454
Von Kutschera, Franz: Philosophie des Geistes, Mentis, Paderborn, 2009, S. 250.
194
Bereich des Psychischen in einen physischen Weltzusammenhang einzugliedern. Doch alle Anstrengungen, Psychisches auf Physisches zurückzuführen, sind bis heute erfolglos geblieben. Es bleibt uns also nichts anderes übrig, als das Mentale für eine fundamentale und irreduzible Realität zu halten; und genau dafür können wir es aber nicht halten, denn wir können im Prinzip weder sein Entstehen noch seine Relation zum Bereich des Materiellen erklären. Wir befinden uns also in einer Aporie: »Auf der einen Seite zwingt uns die Annahme des Dualismus, eine Brücke zu bauen, die es allem Anschein nach nicht geben kann; auf der anderen Seite gibt es im Materialismus keinen gangbaren Weg, die Brücke, die es nicht gibt, abzureißen.« Doch wie das sprichwörtliche Licht am Ende des Tunnels, tut sich eine neue Sichtweise auf, die viele der unlösbaren Probleme zu beseitigen verspricht. Die Rede ist vom Idealismus. Wer vom Physischen sagt, dass es letztlich im Psychischen aufgeht, der ist die meisten Probleme mit einem Schlag los. Weder muss er erklären, wie aus rein Physischem rein Psychisches hervorgehen kann, noch, was es heißt, dass Psychisches und Physisches in einer kausalen Wechselbeziehung stehen, und auch nicht, wie es möglich sein soll, den phänomenalen Gehalt mentaler Zustände physikalisch zu erfassen. Doch die Freude ist nur von kurzer Dauer: Ohne den Bereich des Physischen geht dem Idealismus die Außenwelt verloren und mit ihr jede Möglichkeit, die Erlebniswirklichkeit kognitiver Subjekte in einen einheitlichen und theoretisch plausiblen Zusammenhang zu bringen. Der allerletzte Ausweg ist die Annahme einer extramentalen Welt, die selbst geistiger Natur ist. Damit befinden wir uns im transzendenten ontologischen Idealismus. Doch anstatt nun endlich die Lösung des Leib-Seele-Problems vorliegen zu haben, befinden wir uns im Dickicht der Gottesbeweise. Am Ende stellt sich heraus, dass auch die Existenz Gottes keine plausible Erklärung für die Beschaffenheit der idealistischen Wirklichkeit ist und dass wir auf die Frage zurückgeworfen werden, ob nicht die Annahme einer physischen, d.h. objektiven empirischen Realität, die allen Subjekten als eine einheitliche Welt gegenübersteht, die weitaus vernünftigere Variante darstellt, um die Beschaffenheit der Wirklichkeit verständlich zu machen. In diesem Fall aber befinden wir uns unweigerlich wieder in den Problemen von Dualismus und Materialismus.
195
4.3.6 Essentielle Erkenntnisse für eine »neue« Theorie des Geistes Auch wenn der Idealismus scheitert, lassen sich für eine »neue« Theorie des Geistes einige essentielle Erkenntnisse gewinnen: Erstens: Der Idealismus macht noch einmal deutlich, dass sich uns die Welt im Wesentlichen durch bewusste Erfahrung erschließt. Die einzige Realität, mit der wir es in erster Linie zu tun haben und von der alles Denken, Fragen und Urteilen ausgeht, ist die Realität des je eigenen Wahrnehmungs- bzw. Erfahrungszusammenhangs - mithin die Realität subjektiver geistiger Gegenstände. Wir müssen zugeben, dass wir über Bewusstsein verfügen, dass wir bewusste Wesen sind, d.h. dass uns die Wirklichkeit zunächst als Bewusstseinswirklichkeit gegeben ist, und zwar unabhängig davon, ob wir dieses Bewusstsein als eigenständigen Bereich des Wirklichen begründen oder auf einen anderen Bereich zurückführen wollen. Das ist eine ganz evidente Tatsache, die man nicht sinnvoll leugnen kann. Man kann nicht sinnvoll leugnen, dass wir über Bewusstsein verfügen, ohne dabei Bewusstsein schon vorauszusetzen, denn nach allem, was wir über Bewusstseinszustände wissen, können bewusstlose Menschen keine Behauptungen formulieren oder sie aufschreiben. Eine Theorie des Geistes muss daher allererst vom Erfahrungszusammenhang ausgehen und in einer epistemologischen Analyse klären, mit welchen Gegenständen man es tatsächlich zu tun hat. Dass man weder im Dualismus noch im Materialismus explizite Analysen findet, hat mit dem Commonsense bzw. dem naiven Realismus zu tun. Beide machen uns ja glauben, dass die empirischen Gegenstände, die sich innerhalb von Erfahrungszusammenhängen aufweisen lassen, wie z.B. Häuser, Bäume, Gehirne oder Hunde, physische Gegenstände sind, die in einer von uns unabhängigen, d.h. erfahrungstranszendenten, physischen Realität existieren. Zweitens: Auch wenn der Beweis, den der Idealismus erbringen wollte, dass ein physisches „Sein außerhalb des Bewußtseins überhaupt nicht möglich wäre“455 , fehl geht, so drückt er dennoch eine andere Wahrheit aus, die von fundamentaler Wichtigkeit ist. Es handelt sich hierbei um die „Unmöglichkeit eines extramentalen Seins vorstellbarer
455
Schlick, Moritz: Allgemeine Erkenntnislehre, Suhrkamp, Berlin, 1979, S. 304.
196
Gegenstände“456 . Nichts, was innerhalb eines Erfahrungszusammenhangs an Gegenständen existiert, existiert auch jenseits desselben. Mit anderen Worten: Was immer jenseits der Erfahrungszusammenhänge existiert, das ist nicht vorstellbar, und zwar nicht vorstellbar in dem Sinne, dass es sich hierbei um wahrnehmungsimmanente Gegenstände handeln würde. Diesen essentiellen Gedanken, dass erfahrungstranszendente Dinge nicht vorstellbar sind, dass „nichts in ihrem Wesen einem Vorstellungsinhalt völlig gleicht, daß mithin alle Bewußtseinsdaten subjektiv sind“457 , und dass keines dieser Dinge „eine einfache Kopie einer transzendenten Größe sein“458 kann, hat Moritz Schlick mit Bezug auf die Theorie Berkeleys in der allgemeinen Erkenntnislehre ausformuliert. Drittens: Der Ansatz des transzendenten Idealismus, die extramentale Welt selbst als etwas Geistiges zu denken, weitet das Blickfeld der ansonsten zumeist in sehr engen theoretischen Bahnen geführten LeibSeele-Debatte. Sicher müsste in einer modernen Theorie die Bezugnahme auf Gott durch andere Erklärungsgründe ersetzt werden. Nichtsdestoweniger ist der Gedanke einer extramentalen geistigen Wirklichkeit, die im Grunde durch ähnliche Gesetzmäßigkeiten beschrieben werden könnte wie die physische, äußerst interessant. Wäre es nicht denkbar, dass Berkeley in gewisser Hinsicht doch recht hatte und dass die Physik keine materiellen Entitäten beschreibt, sondern geistige? Die Schwierigkeit bestünde freilich darin, dass eine mentale Theorie des Geistes erklären müsste, wie sich „physische Dinge als geistige Konstrukte begreifen lassen“459 : Geistige Konstrukte, wie wir sie kennen, sind abstrakte Gegenstände, also Begriffe, Propositionen, Mengen, Funktionen und Zahlen, ferner Theorien, Normen, Ideale und dergleichen. All das sind immaterielle Objekte, die nicht in Raum und Zeit existieren. In ihrem Bereich gibt es kein Geschehen und daher auch keine Kausalbeziehungen.460 Physische Objekte existieren hingegen in Raum und Zeit, sie sind materiell, und physikalische Ereignisse stehen
456
Schlick, Moritz: Allgemeine Erkenntnislehre, Suhrkamp, Berlin, 1979, S. 304.
457
Ebenda.
458
Ebenda.
459
Von Kutschera, Franz: Philosophie des Geistes, Mentis, Paderborn, 2009, S. 250.
460
Ebenda.
197 untereinander in kausalen Beziehungen. Die physische Welt ist ein Reich des Geschehens, nicht des zeitlosen Seins. Die Welt geistiger Konstrukte ist zwar nicht privat, sondern eine gemeinsame Welt, aber doch von ganz anderer Art als die physische Welt [...].461
Das ist einleuchtend, und insofern wir die physische Realität in der Weise denken, wie sie hier beschrieben ist und wie sie uns aufgrund des Konstitutionsprozesses der Alltagsrealität462 erscheint, muss das Vorhaben, die extramentale Welt als geistiges Konstrukt aufzufassen, wahrscheinlich scheitern. Doch genau das ist der Punkt: Im metaphysischen Dualismus wird sich zeigen, dass die physische Realität in ihren Grundstrukturen fundamental anders gedacht werden muss als wir sie üblicherweise zu denken gewohnt sind. So dürfen z.B. Raum und Zeit nicht in dem Sinn als anschauliche Größen gedacht werden, wie sie unseren Erfahrungszusammenhängen zugrunde liegen, sondern müssen als theoretische, mithin mathematische Strukturen aufgefasst werden. „Die Idee, die physikalische Welt sei nichts anderes als eine mathematische Struktur, findet sich im Grunde schon bei Leibniz“463 , und auch in der Physik „gibt es heute Spekulationen, dass unsere Welt eine von vielen möglichen mathematischen Strukturen ist, die wir als physische Welt erleben [...]“464 . Man denke etwa nur an Heisenberg, für den die Philosophie untrennbar mit der Physik verbunden war, und der aus philosophischer Sicht davon überzeugt war, dass die moderne Physik Platon Recht gibt: „Denn die kleinsten Einheiten der Materie sind tatsächlich nicht physikalische Objekte im gewöhnlichen Sinne des Wortes; sie sind Formen, Strukturen oder, im Sinne Platos, Ideen, über die man unzweideutug nur in der Sprache der Mathematik reden kann.“465 Insofern wäre es also durchaus denkbar einen Idealismus auf der Grundlage geistiger Konstrukte zu begründen.
461
Von Kutschera, Franz: Philosophie des Geistes, Mentis, Paderborn, 2009, S. 250.
462
Vgl. 3.6, Vorhandene, aber nicht in Erscheinung tretende Bestimmung des Wirklichen. 463
Von Kutschera, Franz: Philosophie des Geistes, Mentis, Paderborn, 2009, S. 251.
464
Ebenda.
465
Heisenberg, Werner: Physik und Philosophie, Hirzel Verlag, Stuttgart, 2007, S. 38.
198
4.3.7 Bestimmung der ontologischen Verhältnisse Die Welt des Idealismus ist im Prinzip eine Commonsense-Welt, auch wenn ihr Zustandekommen, ihr Substrat und ihre innere Struktur, d.h. das, was sie zu einem kohärenten Ganzen verschmelzen lässt, vollkommen anders gedacht wird, als es dem gesunden Menschenverstand und den empirischen Wissenschaften je einfiele. Im Sinne des präpsychophysischen Problems ist diese Ontologie unproblematisch, denn wenn alles, was existiert, Geist ist, gibt es kein psychophysisches Problem mehr.
199
5. Philosophie und Neurowissenschaft - ein Exkurs Längst ist das Geistige kein Primat der Philosophie mehr. Es gibt zahlreiche Wissenschaftszweige, wie etwa die Psychologie, die Kognitionswissenschaft oder die Künstliche-Intelligenzforschung, die sich mit unterschiedlichen Aspekten geistiger Realität auseinandersetzen. Die Berührungspunkte zur Philosophie sind aber zumeist marginal. Ganz anders hingegen verhält es sich mit den Neurowissenschaften, weshalb ich in diesem Exkurs zum Verhältnis von Philosophie und Neurowissenschaft Stellung nehmen werde. Die Neurowissenschaften „treten gegenwärtig mit einer Vielzahl von Nachrichten über Erträge und Folgen ihrer Forschungen an die Öffentlichkeit“466 , die von vielen Philosophen nicht nur als Angriff auf die Philosophie, sondern auch als Angriff auf unser traditionelles Selbst- und Menschenbild gewertet wird. In einer dem Materialismus sehr ähnlichen Diktion wird etwa über „Experimente berichtet, denen zu entnehmen sei, dass es keine menschliche Willensfreiheit gebe“467 . Darüber hinaus wird in etlichen Stellungnahmen [...] der Eindruck erweckt, die naturwissenschaftliche Aufklärung des menschlichen Bewusstseins sei im Prinzip abgeschlossen, und es käme nur noch darauf an, in Detailanalysen einzelne Funktionsweisen des menschlichen Gehirns aufzuhellen.468
Solche und ähnliche Schlagzeilen haben in jüngerer Zeit zu einer intensiven Debatte zwischen Philosophie und Neurowissenschaften geführt. Eine Debatte, die sich zwar einerseits nach dem Duktus der Interdisziplinarität, andererseits aber auch häufig nach jenem der Konfrontation und Abgrenzung vollzieht. Dass Letzteres überwiegt, ist aus philosophischer Sicht nicht weiter verwunderlich. Nicht nur, dass der Vorstoß der Neurowissenschaft in ein von jeher der Philosophie vorbehaltenes Hoheitsgebiet mit einem etwas arrogant anmutenden 466
Sturma, Dieter: Philosophie und Neurowissenschaft, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 2006, S. 7. 467
Ebenda.
468
Ebenda.
200
Führungsanspruch einhergeht, ist man auch, was die geringschätzigen Kommentare einiger Neurowissenschaftler betrifft, nicht gerade zimperlich. So schreibt etwa Francis Crick: Hoffentlich werden die Philosophen genug über das Gehirn lernen, um hinsichtlich seiner Arbeitsweise Ideen beizusteuern; aber zugleich müssen sie lernen, wie man es anstellt, seine Lieblingstheorien fallen zu lassen, sobald die wissenschaftlichen Belege gegen sie sprechen [...].469
Man könnte entgegnen: Hoffentlich werden die Neurowissenschaftler genug über elementare Logik und allgemeine Metaphysik lernen, um zu wissen, dass aus der Korrelation einer Entität A mit einer Entität B nicht ontologische Identität folgt. Doch auf diese Art kommen wir nicht weiter. Der wissenschaftliche Fortschritt im Hinblick auf Kants vierte Frage ‘Was ist der Mensch?’ beruht mit großer Wahrscheinlichkeit auf einer Annäherung zwischen Philosophie und Neurowissenschaft, und das heißt nicht zuletzt auf einer Überwindung von Vorurteilen - das gilt für Philosophen und Neurowissenschaftler gleichermaßen. Und, so Wolf Singer: Wir „werden dieser Annäherung bedürfen, wenn wir die philosophischen, ethischen und moralischen Probleme bewältigen wollen“470 , die uns auf dem Weg „in unser Innerstes begegnen werden“471 . Wenn eingangs vom Primat des Geistes die Rede war, so ist dies genau genommen ein wenig irreführend. Man muss wohl annehmen, dass es verschiedene Dimensionen sind, die den Bereich des Geistigen konstituieren, denn es ist wahrscheinlich ein Unterschied, ob man über Willensfreiheit, über Bewusstsein, über personale Identität, über Denkakte und Sprache, über Rationalität und Logik, über Wahrnehmungen und Empfindungen oder über Glück diskutiert. 472 Dennoch muss man sagen, dass nichts das Verhältnis von Philosophie und Neurowissenschaft so
469
Bennet, Maxwell R.; Hacker, Peter M.: Philosophie und Neurowissenschaft, in: Sturma, Dieter: Philosophie und Neurowissenschaft, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 2006, S. 21. 470
Singer, Wolf: Der Beobachter im Gehirn, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 2002, S.
33. 471
Ebenda.
472
Diese Aufzählung ist lediglich exemplarischer Natur.
201
maßgeblich bestimmt, wie der Umgang mit dem Leib-Seele-Problem. 473 Hier versuchen nämlich zwei sehr verschiedene Wissenschaften mit sehr verschiedenen Methoden im Grunde ein und dasselbe Rätsel zu lösen. Auf der einen Seite, der Seite der Neurowissenschaft, wird empirisch geforscht. Dabei gelingt es den Wissenschaftlern mit Hilfe bildgebender Verfahren, w i e z . B . d e r P o s i t r o n e n - E m i s s i o n s - To m o g r a p h i e o d e r d e r Kernspintomographie, immer tiefere Einblicke in die Funktionsweisen und Zusammenhänge des menschlichen Gehirns zu gewinnen. Auf der anderen Seite, der Seite der Philosophie, wird im Prinzip so vorgegangen wie schon zu Zeiten Platons oder Aristoteles’. Durch reines prinzipiengeleitetes Denken, durch Sprachanalyse und formale Logik versucht man die Grundverfassung der Wirklichkeit zu verstehen. Kein Wunder also, dass die zunehmende Überschneidung philosophischer und neurobiologischer Ansätze zum psychophysischen Problem immer häufiger zu Verständnisschwierigkeiten und Konfusionen führt, sowohl auf der Seite der Philosophie als auch auf der Seite der Neurowissenschaft. Hierfür scheint auch die methodologische Nähe neurowissenschaftlicher Theoriebildung zum Materialismus mitverantwortlich zu sein. Darüber kann man nun eine ganze Menge sagen, sodass es auch zum Thema Philosophie und Neurowissenschaft umfangreiche Literatur gibt. Ich glaube aber, dass es bei den vielfältigen Auseinandersetzungen im Kern zumeist um zwei Probleme geht: Erstens um das wissenschaftstheoretische Problem der Reduktion von etwas auf etwas anderes und zweitens um das Problem eines fehlenden semantischen Rahmens der für beide Disziplinen als Diskussionsgrundlage dienen könnte. Nicht zuletzt im Hinblick auf die theoretischen Bemühungen zum metaphysischen Dualismus soll hier eine grundsätzliche, wenngleich auch nicht ausdifferenzierte Sichtweise zum Verhältnis von Philosophie und Neurowissenschaft vorgestellt werden.
473
Vgl. Sturma, Dieter: Philosophie und Neurowissenschaft, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 2006.
202
5.1 Reduktionismus in Philosophie und Neurowissenschaft 5.1.1 Der Reduktionismus in der Philosophie Was den Reduktionismus in der Philosophie betrifft, wird unter der Reduktion von etwas auf etwas anderes zumeist nichts anderes verstanden als die Reduktion einer Theorie T1 auf eine Theorie T2.474 Es gibt zwar verschiedene Ansätze, unter welchen Bedingungen sich Theorien aufeinander reduzieren lassen, doch Reduktion von etwas auf etwas anderes ist im wesentlichen Theorienreduktion. Nach Thomas Nagel etwa lässt sich eine Theorie T1 genau dann „auf eine Theorie T2 reduzieren, wenn alle Gesetze von T1 - evtl. mit Hilfe geeigneter Brückengesetze - aus den Gesetzen von T2 abgeleitet werden können“475 . Anders verhält es sich bei C. A. Hooker. Für Hooker lässt sich eine Theorie T1 genau dann auf eine Theorie T2 reduzieren, wenn jeder Begriff von T1 in der Weise einem Begriff von T2 zugeordnet werden kann, dass zu jedem Gesetz L von T1 aus den Gesetzen von T2 ein Bildgesetz L$ abgeleitet werden kann. (L$ ist ein Bildgesetz von L, wenn es dem Gesetz hinreichend ähnlich ist.).476
Unter diesen Gesichtspunkten ist klar, was es heißt, z.B. eine dualistische Theorie des Geistes auf eine neurobiologische Theorie des Geistes zu reduzieren. Darüber hinaus leuchtet es aber jedem ein, dass die Reduktion einer Theorie T1 auf eine Theorie T2 voraussetzt, dass wir sowohl über T1 als auch über T2 verfügen. Von der Theorienreduktion ist die Zurückführung von Psychischem auf Physisches zu unterscheiden. Wer behauptet, dass eine psychische Entität A (vollständig) auf eine physische Entität B zurückführbar ist, der
474
Vgl. 4.2, Der Materialismus. Zum Begriff der Reduktion vgl. etwa auch Popper, Karl; Eccles, John C.: Das ich und sein Gehirn, Piper Verlag, München, 1989. 475
Beckermann, Ansgar: Analytische Einführung in die Philosophie des Geistes, de Gruyter, Berlin, S. 104. 476
Ebenda.
203
behauptet letztlich, dass A und B miteinander ontologisch identisch sind. 477 Vollständige Zurückführbarkeit von etwas auf etwas anderes setzt ontologische Identität voraus. So ist beispielsweise die Erscheinung des Himmelskörpers, den wir mit dem Namen ‘Abendstern’ bezeichnen, vollständig zurückführbar auf den Himmelskörper, den wir mit dem Namen ‘Morgenstern’ bezeichnen, denn Morgenstern und Abendstern sind miteinander ontologisch identisch. 5.1.2 Der Reduktionismus in der Neurowissenschaft Geht man der Frage nach, was in der Neurowissenschaft unter Reduktion von etwas auf etwas anderes verstanden wird, so finden sich auch dort zahlreiche, nicht äquivalente Auffassungen. Exemplarisch werde ich hier die Auffassungen von Wolf Singer, Francis Crick und Christof Koch diskutieren. Dabei wird Reduktion einmal im Sinne von Korrelation aufgefasst und ein anderes Mal im Sinne der Verbindung unterschiedlicher Beschreibungssysteme. 5.1.2.1 Reduktion im Sinne von Korrelation Zunächst zur Auffassung Singers: „In den letzten zwei Jahrzehnten wurden [...] beeindruckende Fortschritte bei dem Versuch erzielt, Hirnfunktionen reduktionistisch zu erklären, d.h., Verhaltensleistungen mit Abläufen im Zentralnervensystem zu korrelieren [...].“478 Auf die Frage, ob es denn in den Neurowissenschaften akzeptiert sei, „dass man grundsätzlich alle psychischen Phänomene auf ihre biochemischen Grundlagen zurückführen
477
Mentale Entitäten sind vollständig auf physische Entitäten zurückführbar, wenn sie mit physischen Entitäten ontologisch identisch sind (Vgl. 4.2, Der Materialismus). Die Unterscheidung zwischen Reduktion und Rückführbarkeit ist eine willkürliche. Man könnte auch eine gänzliche andere Unterscheidung einführen. Wichtig ist, dass man eine Unterscheidung einführt. Wird zwischen Identität in einem semantischen Sinn und Identität in einem ontologischen Sinn nicht unterscheiden, so führt das unweigerlich zu Problemen, denn in dem einen Fall handelt es sich um Theorien, in dem anderen, um nicht-sprachliche ontologische Entitäten. 478
Singer, Wolf: Ein neues Menschenbild, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 2003, S. 67.
204
und ohne Zuhilfenahme anderer Instanzen erklären kann“479 , antwortet Singer: „Ich denke schon, dass die Neurowissenschaftler darin übereinstimmen, dass allen psychischen Phänomenen und Verhaltensleistungen neuronale Prozesse zugrunde liegen, ohne die es jene nicht geben würde.“480 Sieht man einmal von den empirischen Problemen ab, die Aussagen der logischen Form ∀x (Px → Nx) aufwerfen (für alle x gilt: Wenn x ein psychisches Phänomen ist, dann liegt x ein neuronaler Prozess zugrunde), und gebraucht man den Ausdruck ‘zugrunde liegen’ in einem sehr weiten und vagen Sinn, oder etwa im Sinne von Korrelation, so ist gegen diese Auffassung von Reduktion aus philosophischer Sicht nichts einzuwenden.481 Dass die Gesamtheit unseres mentalen Lebens in gewisser Weise auf einer funktionierenden Hirnphysiologie beruht, ohne die es nicht stattfindet, dem werden auch die meisten Philosophen, mit Ausnahme der wenigen Substanzdualisten, zustimmen.482 Das ständige wiederholen dessen, dass mentale Phänomene von funktionierenden Gehirnen abhängig sind, ist überflüssig. Das diese Abhängigkeit besteht, kann man ohne
479
Singer, Wolf: Ein neues Menschenbild, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 2003, S. 67.
480
Ebenda.
481
Wer behauptet, dass allen psychischen Phänomenen und Verhaltensleistungen neuronale Prozesse zugrunde liegen, der muss auch zeigen, dass dies der Fall ist. Entscheidend ist hierfür wahrscheinlich die Frage, ob von Unmittelbarkeit oder von Mittelbarkeit die Rede ist. Zumindest die Rechtfertigung der Behauptung, dass allen psychischen Phänomenen unmittelbar neuronale Prozesse zugrunde liegen, dürfte auf empirischem Weg schwierig sein. 482
Dass die Gesamtheit unseres mentalen Lebens auf einer funktionierenden Hirnphysiologie beruht, muss nicht zwangsläufig heißen, dass allen mentalen Phänomen unmittelbar neuronale Prozesse zugrunde liegen. Es ist durchaus denkbar, dass einige mentale Phänomene, nennen wir sie x, y und z, andere mentale Phänomene, nennen wir sie x1, y1 und z1, hervorbringen, sodass zwar x, y und z unmittelbar neuronale Grundlagen haben, nennen wir sie n1, n2 und n3, nicht jedoch x1, y1 und z1. Das heißt aber deswegen nicht, dass x1, y1 und z1 ontologische Substanzen sind. Für das ontologische Abhängigkeitsverhältnis in dem x, y, z, x1, y1, z1 und n1, n2, n3 zueinander stehen, muss Transitivität gelten. Solange n1, n2, n3 existiert, existiert x, y, z und solange x, y, z existiert, existiert auch x1, y1, z1. Daher: Solange n1, n2, n3 existiert, existiert x1, y1, z1.
205
größere Schwierigkeiten akzeptieren.483 Man muss nur drei Dinge klarstellen. Erstens: Reduktion in diesem Sinne ist nicht Theorienreduktion. Zweitens: Aus der Korrelation von mentalen Phänomenen mit Gehirnphänomenen, wie umfassend und präzise diese auch sein mögen, folgt nicht ontologische Identität. Das heißt, selbst dann, wenn alle mentalen Phänomene eine neuronale Entsprechung haben, folgt daraus nicht, dass mentale Phänomene mit Gehirnprozessen ontologisch identisch sind.484 Und drittens: Man kann nicht ohne weiteres behaupten, dass psychophysische Korrelationen hinreichend sind, um eine neurowissenschaftliche Theorie des Geistes zu formulieren, d.h. eine Theorie des Geistes, die alle geistigen Phänomene allein durch neuronale, also materielle Phänomene erklärt. 485 Dass diese Thesen ebenso plausibel sind wie die These, dass unser mentales Leben an bestimmte Gehirnprozesse gebunden ist, das muss umgekehrt auch von den Neurowissenschaftlern eingesehen werden. Das würde nun aber einerseits bedeuten, dass sich die Philosophen sowohl vom Substanzdualismus als auch vom Materialismus verabschieden müssten, und zwar endgültig, und 483
Zwar ist diese These äußerst kühn, denn sie besagt, dass es nirgendwo im Universum mentale Phänomene gibt, die nicht von Gehirnen verursacht werden, doch im Rahmen der Erforschung von Gehirn-Geist-Phänomenen, die es auf unserer Erde zu geben scheint, kann man solche Überlegungen unter gewissen Umständen vernachlässigen. 484
Vgl. 4.2, Der Materialismus. Anmerkung: Ein Problem in der Neurowissenschaft ist die Tatsache, dass einige Neurobiologen mit ihren Äußerungen den Eindruck erwecken, es handle sich bei der Beziehung zwischen Psychischem und Physischem um eine solche der Identität. Doch letztlich wird mit Relationen der Art ‘x korreliert mit y’, ‘x liegt y zugrunde’ oder ‘x entspricht y’ operiert, die keine Identitätsrelationen sind. 485
Das wäre nur dann möglich, wenn Psychisches und Physisches miteinander identisch wäre. Gegen eine solche Erklärung spricht auch Nagels »Fledermaus« (Vgl. 4.2.5.4, Fledermaus-Argument). Neben den logischen und erkenntnistheoretischen Argumenten gegen eine solche Erklärbarkeit spricht außerdem die Tatsache, dass man nicht sinnvoll behaupten kann, dass neuronale Aktivitätsmuster, wie sie die Positronen-Emissions-Tomographie und die funktionelle Kernspintomographie sichtbar machen, dazu hinreichen, um korrelierte geistige Phänomene umfassend zu erklären.
206
andererseits, dass die Neurowissenschaftler akzeptieren müssten, dass die vollständige Naturalisierung des Geistes, und zwar im Sinne einer konsistenten materialistischen Theorie desselben, unmöglich ist. Doch damit wären weitreichende Konsequenzen verbunden, denn es hieße im Endeffekt nichts anderes, als von einem ontologischen Dualismus auszugehen. Welche Probleme aber damit einhergehen, das wurde aus philosophischer Sicht einigermaßen klar, und kaum geringer dürften die Schwierigkeiten aus der Sicht der Neurowissenschaft sein, denn wie um a l l e s i n d e r We l t s o l l e s g e l i n g e n , m e n t a l e P h ä n o m e n e naturwissenschaftlich zu begreifen, wenn sie nicht Teil der physischen Natur sind? Nun zu einer Version von Francis Crick und Christof Koch. „Crick und Koch treten mit dem Anspruch auf, eine reduktive Erklärung des Bewusstseins zu liefern.“486 Eine ihrer Grundannahmen „lautet, daß sich Bewußtsein aus bestimmten neuronalen Eigenschaften und Vorgängen des Gehirns ergibt“487 . Ihr Ziel ist dabei nicht, wie das „manch anderer Physikalisten, Bewußtsein als Illusion zu erweisen. [...] Ihr Ziel ist aber, diese Erlebnisse auf neuronale Aktivitäten zurückzuführen. Im Zentrum steht daher die Suche nach dem neuronalen Korrelat des Bewußtseins“488 . Der Vollständigkeit halber: Bei der Suche nach dem neuronalen Korrelat des bewußten Erlebens gehen Crick und Koch von einer Version des Bindungsproblems aus, und zwar von der Frage, wie die Einheit des bewußten Erlebens durch die räumlich verteilten und parallel ablaufenden Prozesse des Gehirns zustande gebracht werden könnte.489
Eine Antwort darauf liefert ihre so genannte 40 Hz-Hypothese. Die Hypothese lautet, dass sich „im Gehirn durch das korrelierte synchrone, rhythmische Feuern der relevanten Neuronen mit Oszillationen im Bereich von 35-75 Hz eine globale Einheit unter den separat verarbeitenden Eigenschaften einer visuell wahrgenommen Szene einstelle [...]“490 . Ganz 486
Schlicht, Tobias: Erkenntnistheoretischer Dualismus, Mentis, Paderborn, 2007, S.
90. 487
a. a. O. S. 91.
488
a. a. O. S. 91 f.
489
a. a. O. S. 92.
490
a. a. O. S. 94.
207
abgesehen davon, dass die Frage nach der räumlichen Organisation des Gehirns, aufgrund des Konstitutionsprozesses der Alltagsrealität, von Anfang an falsch gestellt ist, zeigt dieser Ansatz, dass, wie schon im Fall Singers, nichts dagegen einzuwenden ist. 491 Die meisten Philosophen könnten, wie schon gesagt, unter bestimmten Bedingungen, auch der These zustimmen, dass das Bewusstsein mit rhythmisch feuernden Neuronen im Oszillationsbereich von 35-75 Hz korreliert. Man muss lediglich die bereits formulierten Klarstellungen beachten, denn es wäre absurd zu behaupten, dass Bewusstsein nichts anderes sei als das rhythmische Feuern relevanter Neuronen mit Oszillationen im Bereich von 35-75 Hz. In letzter Konsequenz muss aber gefragt werden, was genau wir über mentale Phänomene wissen, wenn wir wissen, dass dieses oder jenes mentale Phänomen mit diesem oder jenem neuronalen Prozess korreliert ist, und ob sich unser Wissen über mentale Phänomene allein dadurch vermehrt, dass wir versuchen, die Anzahl konstatierter Korrelationen zu steigern? Das Gehirn wird von führenden Hirnforschern als hochkomplexes nichtlineares dynamisches System gesehen, das über eine Fülle verschiedener Areale verfügt, die alle nur bestimmte Teilfunktionen erfüllen und aufs engste miteinander vernetzt sind. Aus dem Zusammenspiel aller dieser verteilten Prozesse entstehen dann auf geheimnisvolle Art kohärente Wahrnehmungen, koordiniertes Verhalten, und letztlich auch Bewusstsein. Niemand kann zur Zeit befriedigend erklären, wie das vor sich geht.492
Die Neurowissenschaft muss also zugeben, dass sie, trotz der ansonsten beachtlichen Fortschritte, über mentale Phänomene nicht sehr viel sagen kann. Das Fehlen deskriptiver Übergänge zwischen Physischem und Mentalem lässt sogar die Vermutung zu, dass sich dieser Zustand nicht allzu schnell ändert. Bereits Leibniz wies in einem Gedankenexperiment auf das grundlegende Problem hin:
491
Die räumliche Organisation, so wie wir sie kennen, d.h. wie sie unserem subjektiven Erleben zugrunde liegt, ist nicht notwendigerweise von derselben Art wie die räumliche Organisation der Außenwelt. Gehirnforscher haben aber die Außenwelt im Blick, wenn sie Gehirne untersuchen. Vgl. 6.2.2, Probleme mit der räumlich aufgefassten Außenwelt. Vgl. 6.3, Die Ontologie des metaphysischen Dualismus. 492
Singer, Wolf: Ein neues Menschenbild, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 2003, S. 41.
208 Angenommen, es gäbe eine Maschine, deren Struktur zu denken, zu fühlen und Perzeptionen zu haben erlaubte, so könnte man sich diese derart proportional vergrößert vorstellen, daß man in sie eintreten könnte wie in eine Mühle. Dies vorausgesetzt, würde man, indem man sie von innen besichtigt, nur Teile finden, die sich gegenseitig stoßen, und niemals etwas, das eine Perzeption erklären könnte.493
Das heißt, „nach Phänomenen, die bewusstes Erleben als solches einsichtig und verständlich machten, hielte man vergeblich Ausschau“494. 5.1.2.2 Reduktion im Sinne der Verbindung unterschiedlicher Beschreibungssysteme Singer formuliert noch eine weitere Auffassung von Reduktion. Dieser Auffassung nach ist die Reduktion von etwas auf etwas anderes als eine theoretische Verbindung unterschiedlicher Beschreibungssysteme zu verstehen. Ein Ansatz, der zwar der Theorienreduktion gleicht, aber dennoch nicht dasselbe ist. Zunächst, so Singer, „muss man sich klarmachen, daß sowohl die Aussagen der Hirnforschung wie die skizzierten philosophischen Positionen nur innerhalb der jeweiligen Beschreibungssysteme Gültigkeit beanspruchen können“495 . In den Geisteswissenschaften wie in den Naturwissenschaften erfolgt alles Erklären, alles Verstehen ausschließlich innerhalb abgegrenzter Bezugssysteme. Als wahr oder zutreffend wird akzeptiert, was innerhalb dieser Wissensgebiete widerspruchsfrei und mit den Phänomenen des jeweiligen Objektbereichs vereinbar ist.496
Akzeptiert man diese Auffassung, so kann man folgende Situation konstruieren: Wir nehmen erstens an, dass die Neurowissenschaft über eine vollständige Beschreibung des Phänomens Bewusstsein verfügt. Zweitens, dass auch die Philosophie über eine solche Beschreibung verfügt. Drittens, dass die Beschreibung der Neurowissenschaft vollständig erklärt, wie aus einem Haufen Neuronen und der funktionalen Architektur des Gehirns 493
Leibniz, Gottfried Wilhelm: Monadologie, Reclam, Stuttgart, 2008, § 17, S. 19.
494
Sturma, Dieter: Philosophie des Geistes, Reclam, Leipzig, 2005, S. 21.
495
Singer, Wolf: Der Beobachter im Gehirn, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 2002, S.
40. 496
Ebenda.
209
Bewusstsein entsteht. Viertens, dass die Beschreibung der Philosophie vollständig erklärt, was Bewusstsein eigentlich ist. Damit haben wir nun zwei ganz verschiedene Beschreibungssysteme für ein und dasselbe Phänomen vorliegen. Für Singer geht es nun „lediglich darum, Phänomene, die in unterschiedlichen Beschreibungssystemen erfaßt und definiert wurden, [über Brückentheorien] miteinander zu verbinden“497 . Auch gegen diese Form der Reduktion ist kein Einwand zu erheben, wenngleich es auch hierfür einer Klarstellung bedarf. Reduktion so verstanden, macht im Kontext des Gehirn-Geist-Problems nur dann Sinn, wenn man jeder Disziplin ihren eigenen Gegenstandsbereich zubilligt. Aus der Sicht der Neurowissenschaft heißt das, von einer Naturalisierung mentaler Phänomene um jeden Preis Abstand zu nehmen, und aus jener der Philosophie, dass man der Neurowissenschaft nicht dogmatisch jegliche Kompetenz zu Fragen mentaler Phänomene aberkennen darf. 5.2 Das Problem des fehlenden semantischen Rahmens Die in 5.1 angestellten Überlegungen deuten bereits auf ein gravierendes Problem von Neurowissenschaft und Philosophie hin. Es fehlt ein gemeinsamer semantischer Rahmen. Das lässt sich schon daran erkennen, dass die Philosophie, insbesondere die Wissenschaftstheorie, zwar über präzise Explikate für so fundamentale Ausdrücke wie Reduktion, Identität oder Erklärung verfügt, dass es aber, die Disziplinen übergreifend, hierfür keine eindeutige Verwendungsweise gibt. Doch die Literatur zum Thema Neurowissenschaft und Gehirn-Geist-Problem ist von diesen Ausdrücken durchdrungen, und es ist äußerst schwierig herauszufinden, was der jeweilige Autor im jeweiligen Kontext darunter versteht. Häufig wird man das Gefühl nicht los, dass die Verwendungsweisen beliebig sind. Das macht sich auf der Seite der Neurowissenschaft noch weit negativer bemerkbar als auf der Seite der Philosophie. Die Neurowissenschaftler müssen ja zumeist auf geisteswissenschaftliches bzw. philosophisches Vokabular zurückgreifen, wenn sie den Bereich des Materiellen verlassen und auf den Bereich des Mentalen Bezug nehmen. Die Philosophen hingegen können auf gewohntem Terrain bleiben. Das soll allerdings nicht 497
41.
Singer, Wolf: Der Beobachter im Gehirn, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 2002, S.
210
heißen, dass es in der Philosophie immer mit geordneten Begriffsverhältnissen zugeht. Ganz im Gegenteil. Summa summarum: Ein vernünftiger Dialog ist unmöglich, wenn man nicht weiß, was der Andere meint. Wir verstehen eine Äußerung nur dann, wenn wir alle darin enthaltenen Ausdrücke verstehen, doch häufig beruht dieses Verständnis lediglich auf unseren Intuitionen davon, was gemeint sein könnte, und nicht auf Begriffsexplikation und Definition. Nehmen wir beispielsweise folgenden atomaren Aussagesatz: Gott ist der Lenker der Welt. Auf den ersten Blick scheint klar zu sein, welchen Sachverhalt dieser Satz ausdrückt. Auf den zweiten Blick hingegen ist dieser Satz vollkommen unverständlich, solange jedenfalls nicht genau geklärt ist, was mit dem Ausdruck ‘Gott’ gemeint sein könnte. Sicher haben wir ein vages Verständnis davon, was gemeint sein könnte, doch dieses Verstehen ist wenig hilfreich, denn manche Menschen verstehen unter Gott ein unkörperliches personales Wesen, andere wiederum das Unendliche oder das Transzendente. Würde man nun darüber streiten, ob der Satz ‘Gott ist der Lenker der Welt’ wahr oder falsch ist, ohne zunächst zu klären, worüber man eigentlich streitet, so wäre dies von vornherein ein aussichtsloses Unterfangen. Anders gesagt: Wenn man schon streitet, dann wäre es doch von größtem Wert, zumindest zu wissen, worüber man streitet. An dieser Stelle muss nun der Ball der Philosophie zugespielt werden. Es ist hier wie anderswo in den Wissenschaften die Aufgabe der Philosophie, einen wissenschaftstheoretisch und logisch fundierten Begriffsrahmen zu entwerfen, der es erlaubt, über bestimmte Phänomene auf einer allgemeineren Theorie-Ebene, die über die Theorie-Ebene der jeweiligen Einzelwissenschaften hinausgeht, hinreichend präzise Aussagen machen zu können. Idealerweise muss sich ein solcher Entwurf tatsächlich in einem interdisziplinären Austausch vollziehen, denn wahrscheinlich wird es nur auf diese Weise gelingen, eine Sprache zu finden, die auf breite Akzeptanz stößt und die zugleich in der Lage ist den betreffenden Gegenstandsbereich hinreichend genau zu beschreiben.
211
6. Metaphysischer Dualismus - Grundriss einer Theorie Wäre es dem Materialismus gelungen, die geistige Realität vollständig auf die physische zurückzuführen, so wäre es erstens problemlos möglich, geistige Entitäten in physikalische Theorien über die Beschaffenheit der Wirklichkeit einzufügen; zweitens wäre gezeigt, dass der Dualismus unhaltbar ist, und drittens wäre jeder Materie-Skeptizismus obsolet, weil der Standpunkt, von dem aus die materielle Welt in Frage gestellt wird, selbst nichts anderes ist als etwas Materielles. Der große Reiz, den der Materialismus auf viele Philosophen und Naturwissenschaftler ausübt, ist das Vertrauen in die unbegrenzte Anwendungsmöglichkeit der quantitativen Denkmittel, deren sich die Physik zur Erkenntnis ihrer Welt bedient. Daß dieses Vertrauen in dem Satze ausgesprochen wurde: »alles Sein ist Materie« war freilich eine naive, unzureichende, philosophisch verfehlte Formulierung [...].498
Nach dem Scheitern des Materialismus und einer fehlenden Erklärung der Neurowissenschaft, wie Geistiges allein durch die Analyse von Hirnprozessen verstanden werden kann, muss man das Geistige, zumindest zu diesem Zeitpunkt, als fundamentalen, eigenständigen Teil des Wirklichen anerkennen. Damit befindet man sich aber in der problematischen Situation, entweder dem Dualismus oder dem Idealismus anheimzufallen. Problematisch deshalb, weil wir ja gesehen haben, dass auch diese Denkrichtungen nicht in der Lage sind, die Beschaffenheit der Wirklichkeit theoretisch befriedigend zu erfassen. Der Dualismus scheitert im Grunde an der Unvereinbarkeit der Auffassungen über Psychisches und Physisches. Der Idealismus verfügt zwar mit der epistemologischen Analyse des Geistigen über einen vielversprechenden Ansatz, ist aber in seiner Ausformulierung, vor allem was den ontologischen Idealismus angeht, nicht weniger problematisch als der Dualismus. Es stellt sich also zunächst ganz grundsätzlich die Frage, welche der beiden Denkrichtungen zu präferieren ist. Aus heutiger Sicht glaube ich, dass dem Dualismus insgesamt der Vorzug gegeben werden muss, und zwar deshalb, weil die Vereinbarkeit dualistischen Denkens mit einem modernen, auf Empirie 498
Schlick, Moritz: Allgemeine Erkenntnislehre, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1979, S. 365.
212
beruhendem, Theoriegebäude ungleich größer erscheint als das Denken des Idealismus. Nichtsdestoweniger steht man aber vor der Schwierigkeit, dass der Dualismus das psychophysische Problem nicht lösen kann, jedenfalls nicht in seiner gegenwärtigen Form. Hierfür bedarf es des Entwurfs einer neuen Konzeption, und in diesem Zusammenhang werde ich mich in der Folge mit dem metaphysischen Dualismus beschäftigen. Der metaphysische Dualismus wurde von Moritz Schlick durch einen erkenntnistheoretischen Realismus begründet, und zwar in seinem Hauptwerk ‘Allgemeine Erkenntnislehre’. 499 Schlick legt darin nicht nur eine umfassende Erkenntnistheorie des Wirklichen vor, sondern liefert auch wichtige Überlegungen zu ontologische Fragestellungen. Und so finden sich sowohl aus epistemologischer wie auch aus ontologischer Sicht, überaus wertvolle Ansätze für eine Auffassung des Wirklichen, in der das psychophysische Problem unter anderen theoretischen Bedingungen erneut gestellt und diskutiert werden kann. Der entscheidende Unterschied zwischen den klassischen Ansätzen des Dualismus und dem metaphysischen Dualismus ist das ontologische Bestimmungspostulat des Physischen. Diesem Postulat nach ist die physische Wirklichkeit keine empirische Wirklichkeit in einem herkömmlichen Sinn, sondern eine metaphysische Wirklichkeit. Während die physische Wirklichkeit im herkömmlichen Sinn, auf der Grundlage der Wahrnehmung, mit materiellen, körperlichen und raum-zeitlich ausgedehnten Entitäten identifiziert wird, zeichnet sich die metaphysische Realität dadurch aus, dass ihr diese Attribute nicht in demselben Sinn zukommen. Die Durchführung des Postulats ist der Versuch, die Beschaffenheit der Wirklichkeit in einem dualistischen Sinn theoretisch befriedigend zu erfassen. Dementsprechend lauten die Kernthesen des metaphysischen Dualismus folgendermaßen: Es gibt zwei heterogene Bereiche des Wirklichen: Einerseits den Bereich des Psychischen, das ist die Gesamtheit der Bewusstseinswirklichkeiten, d.h. die Gesamtheit derjenigen Teile der Wirklichkeit, die mit den Bewusstseinsinhalten der jeweiligen Subjekte identisch sind. Andererseits den Bereich des Außerpsychischen, das ist der Bereich der metaphysischen Wirklichkeit. Keiner der beiden Bereiche repräsentiert das „Wesen der Welt mehr als ein 499
Vgl. Schlick, Moritz: Allgemeine Erkenntnislehre, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1979.
213
anderer“500 . In diesem Sinn kann man sagen, dass es sich um irreduzible Bereiche ein und derselben Wirklichkeit handelt. Was die Relation zwischen den Bereichen betrifft, so sprechen wir durchaus von einer ontologischen Wechselbeziehung. Das heißt, die Geschehnisse in einem Bewusstsein „werden nicht nur durch die transzendente Welt bedingt, sondern jene haben auch umgekehrt auf diese Einfluß [...]“501. Ob es sich aber hierbei um eine Beeinflussung kausaler Natur handelt oder um eine solche von anderer Art, bleibt zunächst offen. Nun aber zur Vorgehensweise: In 6.1 werde ich zunächst die Prinzipien des metaphysischen Dualismus einführen. Im metaphysischen Dualismus werden die Grundstrukturen des Wirklichen diametral zu dem gedacht, was wir im Rahmen der Alltagsrealität und auch im Rahmen der meisten empirischen Wissenschaften für plausibel halten. Es ist daher notwendig, das Grundgerüst dieser Denkungsart vorzustellen. In 6.2 diskutiere ich das psychophysische Problem im Zusammenhang mit der Frage nach der philosophischen Haltbarkeit der ontologischen und epistemologischen Verhältnisse der Alltagsrealität. Obwohl man im Dualismus wie auch im Materialismus vergeblich danach sucht, gilt es mit aller Konsequenz zu prüfen, ob die ontologischen und epistemologischen Verhältnisse des Wirklichen, von denen wir beim psychophysischen Problem üblicherweise und meist unbemerkt ausgehen, philosophisch überhaupt haltbar sind.502 Sind sie es nämlich nicht, so ist das Problem von vornherein falsch gestellt. Die weitreichende Bedeutung dieser Prüfung wurde in Kapitel 3 umfassend herausgearbeitet und wird nun in Form der Widerlegung des naiven Realismus durchgeführt. Darüber hinaus gibt es noch einen anderen Grund, sich mit dem naiven Realismus auseinanderzusetzen: Der naive Realismus ist, in Anlehnung an Wittgenstein gesagt, eine Leiter, die es emporzusteigen und anschließend wegzuwerfen gilt. Sobald man nämlich verstanden hat, dass sich seine Sätze als unhaltbar erweisen, sieht man die Welt richtig, und erst wenn dies geschehen ist, kann man den metaphysischen Dualismus umfassend 500
Schlick, Moritz: Allgemeine Erkenntnislehre, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1979, S. 271. 501
Ebenda.
502
Vgl. 3. Commonsense, Naiver Realismus und psychophysisches Problem.
214
begreifen und so das psychophysische Problem richtig einordnen. Bis dahin allerdings brauchen wir die Sätze des naiven Realismus, denn ohne diese Sätze gelangen wir nicht über sie selbst hinaus.503 In 6.3 werde ich eine dualistische Ontologie des Wirklichen vorlegen, die einerseits eine Überwindung des naiven Realismus darstellt und die andererseits theoretische Verhältnisse klarlegt, die für die fruchtbare Behandlung des psychophysischen Problems unverzichtbar sind. In 6.4 wird abschließend mit dem Fehler der Introjektion jenes Grundübel lokalisiert, welches die eigentliche Quelle des psychophysischen Problems ist. Außerdem bringt die Beschäftigung mit diesem Fehler die bisherigen Ausführungen zu voller Klarheit. 6.1 Die Prinzipien des metaphysischen Dualismus Wie bereits gesagt: Im metaphysischen Dualismus werden die Grundstrukturen des Wirklichen diametral zu jenen der Alltagsrealität gedacht. Ein wichtiger Aspekt dieses Denkens ist die Identifikation der physischen Außenwirklichkeit, d.h. jener Wirklichkeit, die wir für gewöhnlich in unseren Wahrnehmungen vorzufinden glauben, mit einer strikt nicht-wahrnehmbaren, d.h. mit einer metaphysischen Wirklichkeit. Doch dabei handelt es sich nicht um eine Ausdeutung der Wirklichkeit im Sinne der traditionellen Metaphysik und auch nicht um eine Ausdeutung in einem theologischen Sinn, sondern um die Einführung des Strukturverhältnisses der metaphysischen Transzendenz.504 Dieses Verhältnis zieht eine »ontologische Grenze« zwischen dem, was prinzipiell nur innerhalb einer Bewusstseinswirklichkeit gegeben ist, und dem, was prinzipiell nur außerhalb davon existiert. Bei letzterem handelt es sich um die sogenannten metaphysisch (transzendenten) Entitäten, die gleichsam die metaphysische Wirklichkeit konstituieren. Die nun folgenden Prinzipien bilden das theoretische »Gerüst« des metaphysischen Dualismus:
503
Vgl. Wittgenstein, Ludwig: Tractatus logico-philosophicus, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 2003. 504
Vgl. 2.1.2.2-5, Definition von ‘metaphysisch transzendent’.
215
1)
Es gibt nur eine einzige Wirklichkeit. Man kann auch sagen, dass es sich hierbei um die Gesamtwirklichkeit handelt. Sie umfasst alle wirklichen Entitäten.
2)
Die Gesamtwirklichkeit konstituiert sich aus zwei Teilbereichen: Dem Bereich der metaphysischen Wirklichkeit einerseits und dem Bereich der unendlich vielen Bewusstseinswirklichkeiten (das ist der Bereich des Psychischen) andererseits.
3)
Alle wirklichen Entitäten sind psychische Entitäten oder metaphysische Entitäten.
4)
Jede psychische Entität ist von jeder metaphysischen Entität verschieden.
5)
Für alle Entitäten x gilt: Wenn x psychisch ist, dann gehört x stets dem Zusammenhang irgendeines Bewusstseins505 an. Man kann auch sagen: Wenn x psychisch ist, dann ist x ein Teil der Bewusstseinswirklichkeit irgendeines Subjekts.
6)
Für alle Entitäten x gilt: Wenn x metaphysisch ist, dann gehört x niemals dem Zusammenhang irgend eines Bewusstseins an. Man kann auch sagen: Wenn x metaphysisch ist, dann ist x ein Teil der metaphysischen Wirklichkeit.
7)
Psychische Entitäten sind subjekt- bzw. bewusstseinsabhängige Entitäten. Psychische Entitäten sind daher vollkommen subjektiv und können nicht außerhalb von Bewusstseinszusammenhängen existieren.
8)
Metaphysische Entitäten sind subjekt- bzw. bewusstseinsunabhängige Entitäten. Metaphysische Entitäten sind daher objektive Entitäten und können nicht innerhalb von Bewusstseinszusammenhängen existieren.
505
Das Bewusstsein eines Subjekts konstituiert sich durch seine Inhalte. Ohne Inhalt kein Bewusstsein.
216
9)
Es gilt strikt: Nichts, was dem Zusammenhang eines Bewusstseins angehört, gehört dem Zusammenhang der metaphysischen Wirklichkeit an, und nichts, was dem Zusammenhang der metaphysischen Wirklichkeit angehört, gehört dem Zusammenhang eines Bewusstseins an.
10) Der anschaulich-erlebte Raum ist nicht der metaphysische Raum. 11) Die anschauliche-erlebte Zeit ist nicht die metaphysische Zeit. 12) Die metaphysische Wirklichkeit ist nicht-räumlich und nicht-zeitlich in einem anschaulich-erlebten Sinn, sondern bloß im Sinne eines begrifflichen Ordnungsschemas. 13) Die Außenwirklichkeit ist identisch mit der Summe der physischen Entitäten. 14) Die Summe der physischen Entitäten ist identisch mit der metaphysischen Wirklichkeit. 15) Alle physischen Entitäten sind metaphysische Entitäten, sodass gilt: Jede physische Entität liegt vollkommen außerhalb der sinnlichen Wahrnehmung. In den kommenden Abschnitten soll nun einerseits die Begründung der Prinzipien durchgeführt, sowie andererseits ihre theoretische »Auskleidung« vollzogen werden, sodass der Standpunkt des metaphysischen Dualismus klar hervorgeht und letzten Endes einen hoffentlich erhellenden Blick auf das psychophysische Problem erlaubt.
217
6.2 Die Widerlegung des naiven Realismus und die fundamentalen Konsequenzen für das psychophysische Problem Sobald man sich im Rahmen ontologischer und erkenntnistheoretischer Untersuchungen mit dem naiven Realismus und den Erkenntnistheorien von Victor Kraft und Moritz Schlick beschäftigt, wird klar, dass uns die Wirklichkeit nicht als ein »fertiges« Ding gegeben ist, das uns gegenübersteht, und das uns durch die Wahrnehmung unmittelbar zugänglich wäre.506 Im Gegenteil, das Wirkliche, wie es sich uns im Erleben zeigt, ist vereinfacht gesagt, ein Modell507 der Wirklichkeit, ein System aus Hypothesen, wenngleich auch ein fundamentales. Um uns in der Welt zurechtzufinden, entwerfen wir im andauernden Fluss der Wirklichkeitskonstitution immer wieder das gleiche Modell davon, wie die Welt in ihren Grundstrukturen beschaffen ist. 508 Da wir praktisch nicht in der Lage sind, ein anderes Modell der Wirklichkeit zu entwerfen, bleibt diese Tatsache im Alltag unbemerkt, und das ist auch nicht weiter problematisch. 509 Anders verhält es sich hingegen im Fall des psychophysischen Problems und unseren Theorien zur Lösung desselben: Modelle zeichnen sich ja dadurch aus, dass sie von der Mannigfaltigkeit der Dinge abstrahieren und Zusammenhänge idealisieren. In unserem Fall heißt das aber, dass die »Gestalt« der Entitäten und die ontologischen 506
Vgl. Kraft, Victor: Erkenntnislehre, Springer Verlag, Vienna, 1960. Vgl. Schlick, Moritz: Allgemeine Erkenntnislehre, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1979. Vgl. Waß, Bernd: Die Reale Außenwelt und das Wirklichkeitsproblem, Universität Salzburg, 2009. 507
In der Wissenschaftstheorie gilt ein Modell als Idealisierung und Abstraktion, die einen Gegenstandsbereich für wissenschaftliche Beschreibung zugänglich macht. Weniger streng aber in einem ähnlichen Sinn, ist ein Wirklichkeitsmodell eine Art Idealisierung und Abstraktion des Wirklichen, die uns dazu dient, uns in der Welt zurechtzufinden. Vgl. 1.1, Erste Charakterisierung des Problems. 508
Interessant ist die Tatsache, dass wir dazu neigen, Personen, bei denen der Mechanismus der Modellbildung aus irgendwelchen Gründen gestört ist, und deren Wirklichkeitsmodelle sich deshalb erheblich von den uns gewohnten unterscheiden, als krank zu bezeichnen. 509
Ich habe deshalb in 3.6 auch vom latenten Konstitutionsprozess der Alltagsrealität gesprochen.
218
Verhältnisse des Wirklichen, wovon unsere Theorien zum psychophysischen Problem handeln, durch genau dieselben Vorgänge bestimmt werden, durch welche sich auch unser Wirklichkeitsmodell konstituiert. Anders formuliert: Wenn wir das Psychische als fundamentalen und nicht reduzierbaren Bereich des Wirklichen anerkennen müssen, und das war das Ergebnis der Untersuchungen bis dato, und wenn die Konstitution des Psychischen die ontologischen Verhältnisse und die »Gestalt« der Entitäten in einem konstruktivistischen Sinn »prägt«, dann muss diese Prägung in den Blick kommen. Erst wenn wir wissen, wie wir die Welt sehen, wissen wir, mit welchen ontologischen und erkenntnistheoretischen Verhältnissen wir es zu tun haben, und erst wenn klar ist, ob diese Verhältnisse nicht nur praktischen, sondern auch theoretischen Anforderungen genügen, lässt sich das psychophysische Problem in seiner ganzen Tiefe verstehen. 510 Ein kleiner Teil dieses Zusammenhangs wurde bereits in 3.3 ‘Der naive Realismus als Theorie des Commonsense’ behandelt. Nun gilt es in Detailanalysen zu zeigen, wie sich die Dinge verhalten. Dies geschieht im Sinn eines indirekten logischen Beweises. Setzt man voraus, dass die Theorie der Alltagsrealität, also der naive Realismus, eine wahre Beschreibung des Wirklichen liefert, so gerät man in weitreichende ontologische und epistemologische Schwierigkeiten, die in letzter Konsequenz den Zusammenbruch der Theorie zur Folge haben. 6.2.1 Probleme mit der Zeitlichkeit des Wirklichen Dem naiven Realismus zufolge gilt: Das Wirkliche ist nicht nur irgendwo, sondern auch irgendwann. Es ist sinnlos zu sagen, dass ein bestimmter Gegenstand zwar irgendwo ist, aber nicht irgendwann. Alles, was ist, ist zu einer bestimmten Zeit. Die Zeit wird als ein Kontinuum verstanden, das sich aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zusammensetzt511 und aus 510
Das ist auch jener Zusammenhang, in dem das psychophysische Problem tatsächlich nicht nur als Problem der Philosophie des Geistes oder als Problem der Neurowissens chaft vers tanden w erden mus s , s ondern auch als ein Wirklichkeitsproblem. Vgl. 2.2.2.5, Das psychophysische Problem als Wirklichkeitsproblem. 511
Vgl. 3.3.1.4, Die Zeit.
219
ontologischer Sicht zur Außenwelt512 gehört. Daher ist die Zeit objektiv. Doch der naive Realismus ist mit einer differenzierten Betrachtung der Zeit nicht in Einklang zu bringen. 6.2.1.1 Das Problem von der Alleinwirklichkeit der Zeit513 Das Fundament des Zeitbegriffs ist die Gegenwart. Die Festlegung eines Zeitpunkts geschieht stets durch die Angabe eines Abstandes von einem anderen Zeitpunkt. Ich sage etwa: Kant wurde 13 Jahre nach Hume geboren. Frage ich weiter danach, wann Hume geboren wurde, so kann ich wieder nur durch die Beziehung auf einen anderen Zeitpunkt antworten [...].514
Die Bezugnahme auf den jeweils nächsten Zeitpunkt ginge allerdings ad infinitum weiter, wenn es nicht einen Punkt gäbe, bei dem die Frage wann? keiner Antwort mehr bedarf. Einen solchen gibt es aber: es ist der Moment der Gegenwart. [...] Der Sinn eines jeden Wann ist in letzter Linie immer die Frage nach dem Abstand von dem Zeitpunkt, der für mich Gegenwart ist; er [...] dient als fester Beziehungspunkt für alle Festlegungen, als der einzige, den es gibt.515
Gegenwartsmomente sind subjektiv, d.h. sie sind an ein einzelnes Ich gebunden. Ohne ein Subjekt, dem ein bestimmter Moment gegenwärtig ist, ist der Gegenwartsmoment unmöglich. Gegenwärtig sein, heißt also nichts anderes, als einem Subjekt zu einem Zeitpunkt, dem Jetztpunkt, unmittelbar gegeben sein bzw. von einem Subjekt unmittelbar erlebt werden. Was die Gegenwart genau umfasst, ist dadurch festgelegt, was alles für ein Subjekt im Gegenwartsmoment koexistiert. Welche Probleme liegen nun vor?
512
Die Außenwelt ist sowohl im naiven Realismus als auch im metaphysischen Dualismus, physischer Natur. 513
Vgl. Waß, Bernd: Die Reale Außenwelt und das Wirklichkeitsproblem, Universität Salzburg, 2009. 514
Schlick, Moritz: Allgemeine Erkenntnislehre, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1979, S. 221. 515
a. a. O. S. 221 f.
220
1)Die einzige Zeit, die gegenwärtig ist, ist die Gegenwart, kurz A0. Weil aber das Subjekt niemals etwas anderes erlebt als das, was den gegenwärtigen Moment umfasst - die Zukunft ist ja noch nicht und die Vergangenheit nicht mehr gegenwärtig -, besteht das Zeitkontinuum in einer lückenlosen Aneinanderreihung von Gegenwartsmomenten. Das heißt, die einzige Zeit, die existiert, ist die Gegenwart, und in diesem Sinn ist die Gegenwart die alleinwirkliche Zeit. Doch die Zeit wird als Gesamtheit gedacht, die nicht nur aus der Gegenwart, sondern auch aus der Vergangenheit und der Zukunft besteht, kurz B0. Man gerät nun in einen Konflikt zwischen dem, was faktisch vorliegt und dem, was gemeint wird: Für den naiven Realismus kommt ausschließlich der Gesamtheit der Zeit der ontologische Status der Alleinwirklichkeit zu. Wenn aber nicht die Gegenwart alleinwirklich ist, sondern die Gesamtheit der Zeit, dann ist der Gegenwartsmoment nichts Wirkliches. Er ist dann von der Dimension null und ontologisch keine eigenständige Entität mehr. Ist aber die Gegenwart alleinwirklich, wofür einiges spricht, dann ist die Gesamtheit der Zeit nichts Wirkliches. Folgendes ist demnach logisch möglich: Es ist A0 der Fall oder es ist B0 der Fall. Logisch unmöglich hingegen ist: Es ist der A0 Fall und es ist B0 der Fall. 2)Die Gegenwart ist subjektiv, denn sie besteht ja immer nur aus dem, was einem Subjekt zum Jetztpunkt gegenwärtig ist. Die Gesamtheit der Zeit ist aber objektiv. Sie gehört dem naiven Realismus nach der Außenwirklichkeit an, nicht dem Bewusstsein irgendwelcher Subjekte. Wie kann aber das Subjektive Teil des Objektiven sein? Das ist unmöglich. Wenn die Gesamtheit der Zeit etwas Objektives ist, dann ist die Gegenwart nicht subjektiv. Ist die Gegenwart subjektiv, dann ist die Gesamtheit der Zeit nicht objektiv.
221
6.2.1.2 Das Problem der diachronen Identität des Ich516 Stark vereinfacht kann man sagen: Alles verändert sich mit der Zeit, das Ich hingegen bleibt durch die Zeit hindurch dasselbe.517 Dass das Ich diachron518 unverändert dasselbe bleibt, ist für die Konstitution einer kohärenten Erlebniswirklichkeit eine fundamentale und mithin unverzichtbare Voraussetzung. Ohne sie lässt sich die Einheit unserer Erlebniszusammenhänge nicht herstellen. Dass ich mich z.B. heute Morgen als denselben Verfasser der hier vorliegenden Abhandlung erkenne, der ich schon vor einem halben Jahr war, und zwar obwohl kein einziger Bestandteil meines Köpers noch derselbe ist, das wäre genauso unmöglich wie die Tatsache, dass ich ein Erlebnis, das weit zurückliegt, und dasjenige, welches ich jetzt gerade habe, in gleicher Weise als meine Erlebnisse auffasse. Und obwohl es in der Neurowissenschaft mittlerweile umstritten ist, ob es eine Ich-Instanz überhaupt gibt, können wir dennoch ohne weiteres davon sprechen, denn selbst, wenn es diese Instanz nicht gibt, gibt es jedenfalls irgendetwas, das die Einheit der Erlebnisse in den allermeisten Fällen gewährleistet. 519 Ohne diese Einheit stünden also nicht nur die einzelnen Momentanteile des Bewusstseins ein jeder selbständig für sich, wir würden also nicht nur anstatt dem »Inhalt«520 eines 516
Vgl. Waß, Bernd: Die Reale Außenwelt und das Wirklichkeitsproblem, Universität Salzburg, 2009. 517
Das Problem der diachronen Identität des Ich ist auch ein klassisches und schwieriges Problem der Philosophie der Person (Vgl. Quante, Michael: Person, de Gruyter, Berlin, 2007) 518
Den Ausdruck ‘dichachron’ gebrauche ich gleichbedeutend mit: durch die Zeit hindurch. 519
Es gibt auch Fälle in denen die Bewusstseinskontinuität verloren geht. Etwa bei bestimmten Erkrankungen oder Verletzungen des Gehirns. 520
„Das »in« hat nur bildliche Bedeutung, denn gewiß ist ja das Bewußtsein kein Gefäß, auch nicht wohl einem Gefäß vergleichbar, das sich selber gleich bliebe und dessen Leere durch immer wechselnde »Inhalte« ausgefüllt werden könnte. Sondern was wir mit dem Namen Bewußtsein oder auch wohl mit dem Namen Seele belegen, das ist die Gesamtheit der zu einem einheitlichen Ganzen vereinigten »Inhalte« oder seelischen Vorgänge.“ (Schlick, Moritz: Allgemeine Erkenntnislehre, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1979, S. 146)
222
Bewusstseins „vielmehr in jedem Augenblick ein Bewußtsein entstehend und verlöschend [denken], das mit den vorhergehenden und nachfolgenden Bewußtseinsmomenten nichts gemein hat, mit ihnen nicht zu einer Einheit verschmilzt“521 , sondern es wäre uns ebenso unmöglich, uns als uns selbst zu erfahren, weil der Moment verloren ginge, an dem sich diese Erfahrung überhaupt erst konstituieren könnte. Das Problem besteht nun aber darin, dass es ein diachrones dasselbe bleiben von etwas im naiven Realismus nicht geben kann.522 Der naive Realist muss nämlich aufgrund seiner Zeitbestimmungen folgendes Argument akzeptieren: (1)Alles, was ist, ist zu einer bestimmten Zeit. (2)Alles, was zu einer bestimmten Zeit ist, gehört dem Nacheinander der Zeit an. (3)Alles, was dem Nacheinander der Zeit angehört, verändert sich sukzessive. (4)Das Ich ist zu einer bestimmten Zeit. ∴ Das Ich verändert sich sukzessive. Gehört das Ich dem Nacheinander der Zeit an, verändert es sich sukzessive. Wenn es sich aber sukzessive verändert, dann ist es unmöglich, dass es unverändert bleibt. Bleibt es hingegen unverändert, dann gehört es nicht dem Nacheinander der Zeit an. Doch wie ist das möglich? Die Gesamtheit der Zeit gehört dem naiven Realismus nach zur Außenwelt. Die Außenwelt umfasst alles, was in ihr ist. Wie kann es nun sein, dass das Ich über oder außerhalb der zeitlichen Veränderung besteht? 6.2.2 Probleme mit der räumlich aufgefassten Außenwelt Dem naiven Realismus zufolge gilt: Der Raum ist ein dreidimensionales Kontinuum und wie die Zeit ein Teil der Außenwelt. Alles, was ist, ist deshalb an einem bestimmten Ort. Der naive Realismus ist aber auch mit einer differenzierten Betrachtung des Raums nicht in Einklang zu bringen. 521
Schlick, Moritz: Allgemeine Erkenntnislehre, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1979, S. 148. 522
Vgl. 3.4.4, Die Zeit. Vgl. 3.4.5, Raum und Zeit.
223
Das zeigt sich am besten in der Verletzung der Eindeutigkeits- und Einzigkeitsbedingung. 6.2.2.1 Verletzung der Eindeutigkeitsbedingung523 Anhand zweier einfacher Sachverhalte lässt sich exemplifizieren, dass der naive Realismus die Eindeutigkeitsbedingung des Raums übersieht, und dass seine Raumauffassung darüber hinaus zu logischen Problemen führt: Beispiel 1: Nehmen wir an, mein Freund Heinz unternimmt einen Waldspaziergang. Dabei bricht an einer bestimmten Waldstelle der Ast eines Baums ab. Der Astbruch erzeugt ein knackendes Geräusch. Weil Heinz ja ein philosophischer Skeptiker ist, stellt er einem naiven Realisten hierzu zwei Fragen: Erstens: Existiert das Geräusch in der Außenwelt oder nur im Bewusstsein? Zweitens: Existiert das Geräusch auch dann, wenn niemand es wahrnimmt, wenn also gerade niemand in dem Wald ist? Die Antworten des naiven Realisten sind eindeutig: Geräusche sind außenwirkliche Gegenstände und keine Gegenstände des Bewusstseins, wie etwa die Vorstellung eines weißen Einhorns. Sie existieren unabhängig von wahrnehmenden Subjekten, d.h. Geräusche existieren auch dann, wenn niemand sie wahrnimmt, und sie können von den Subjekten unmittelbar wahrgenommen, nämlich gehört werden. Im Alltag haben wir keinen Grund, an der Wahrheit dieser Antworten zu zweifeln. Das Problem ist nur, dass die klassische Physik behauptet, dass das Geräusch des Knacken, wie es das Subjekt wahrnimmt, keinesfalls in dem außenwirklichen Raumbereich ist, wo der Ast knackt. Dort können, vereinfacht ausgedrückt, lediglich Schallwellen aufgewiesen werden. Die Schallwellen sind zwar die Ursache und die Bedingung für das Knackgeräusch, jedoch keinesfalls das Geräusch selbst. Die physikalische Erklärung dessen, was in der Außenwelt existiert, endet an diesem Punkt, wird aber von der Hirnbiologie fortgeführt. „Die Mittelohrknöchelchen übertragen [...] Schwingungen vom Trommelfell auf eine Membran, die ein Ende der mit Flüssigkeit gefüllten Schnecke bedeckt.“524 Eine bestimmte Schwingung 523
Vgl. Waß, Bernd: Die Reale Außenwelt und das Wirklichkeitsproblem, Universität Salzburg, 2009. 524
Thompson, Richard F.: Das Gehirn, Spektrum Verlag, Heidelberg, 2001, S. 277.
224
„ruft ein Muster von Wellen in der Schnecke hervor, bei dem sich nur bestimmte Zonen von Haarzellen auf der Basialarmembran abbiegen und somit aktiviert werden. Diese wiederum aktivieren die Fasern des Hörnervs“525 . Der Hörnerv seinerseits sendet nun gewisse Impulse an das Gehirn usw. usf. Am Ende dieses komplizierten Ereignisses, das selbst ein Teil der Außenwirklichkeit ist, steht (unerklärlicherweise) das Wahrnehmungs- bzw. Geräuscherlebnis des knackenden Astes. Ereignisse sind aber von Erlebnissen, das war das Ergebnis früherer Untersuchungen, grundverschieden. Ereignisse sind objektiv. Erlebnisse sind subjektiv. 526 Damit ist zunächst einsichtig, dass das Geräusch, anders als die Schallwellen, das Ohr und das Gehirn, nicht in der Außenwelt existiert, sondern lediglich im Bewusstsein des wahrnehmenden Subjekts, und das wiederum bedeutet, dass Geräusche nicht unabhängig von wahrnehmenden Subjekten existieren. Ohne wahrnehmende Subjekte keine Geräusche. Doch der Konflikt mit dem Weltbild der Physik ist nur scheinbar ausgeräumt: Laut der These NR3 (Die Außenwirklichkeit liegt in der Wahrnehmung des jeweils wahrnehmenden Subjekts unmittelbar vor)527 geht das Knackgeräusch von jener Raumstelle aus, an der der Ast bricht. Der klassischen Physik zufolge existiert jedoch an dieser Raumstelle eine Schallwelle. Die Schallwelle ist aber nicht das Geräusch. Aufgrund der Eindeutigkeitsbedingung des Raums (dieser Bedingung nach ist es unmöglich, dass an einem bestimmten Raumpunkt ein Ding x existiert und zugleich am selben Raumpunkt ein von diesem Ding x verschiedenes Ding y) folgt aus der Divergenz von naivem Realismus und klassischer Physik ein kontradiktorischer Widerspruch: Es existiert an einer bestimmten Raumstelle etwas von einer bestimmten Art (das Geräusch) und es existiert an genau derselben Raumstelle etwas von ganz anderer Art, das nicht das Geräusch ist (die Schallwelle). Existiert an besagter Raumstelle das Geräusch, dann existiert dort keine Schallwelle. Existiert dort eine Schallwelle, dann existiert dort kein Geräusch. Abstrahiert man von diesen Problemen und nimmt an, dass die naive Auffassung des Wirklichen mit jener der Physik verträglich ist, so zeigt 525
Thompson, Richard F.: Das Gehirn, Spektrum Verlag, Heidelberg, 2001, S. 277.
526
Vgl. 4.1.1.1, Der phänomenale Charakter mentaler Zustände. Vgl. 4.2.5.4, Fledermaus-Argument. 527
Vgl. 3.3, Der naive Realismus als Theorie der Alltagsrealität.
225
sich eine andere Schwierigkeit: Im Alltag stimmen wir darin überein, dass ein faktisch wahrgenommenes Geräusch vom wahrnehmenden Subjekt nicht im physikalischen Gegenstand Gehirn lokalisiert und ebensowenig als dem Bewusstsein angehörend erlebt, sondern wie im Ast-Beispiel als zur Außenwirklichkeit gehörend betrachtet wird. Das Knackgeräusch, dass beim Abbrechen des Astes zu hören ist, befindet sich also nirgendwo anders als genau an jener Raumstelle, an der der Ast bricht. Das ist eine »praktische Wahrheit«. Doch dort kann es, dieses Mal nicht aus physikalischer, sondern aus neurowissenschaftlicher Sicht, nicht sein. Das Geräusch entsteht den Hirnbiologen zufolge ja erst im Gehirn. Das Gehirn ist aber an einer ganz anderen Raumstelle, als es der Astbruch ist. Es stellt sich also die überaus interessante Frage, wie das Geräusch von der Raumstelle im Gehirn an die Raumstelle des Astbruches gelangt, an der es lokalisiert wird. Verlagert man nun das Problem von der Ebene des Gehirns auf die Ebene des Bewusstseins, d.h. geht man davon aus, dass das Geräusch nicht im Gehirn, sondern im Bewusstsein zu finden ist, dort taucht es ja am Ende neuronaler Verarbeitungsprozesse auf, so zeigt sich noch ein anderes, nicht weniger rätselhaftes Phänomen: Nachdem wir im Rahmen unserer naiven Wirklichkeitsauffassung zwischen einer räumlich ausgedehnten Außenwelt und einer geistigen Innenwelt unterscheiden, stellt sich die Frage, wie das Geräusch von dieser Innenwelt wieder hinaus gelangt, um dem Subjekt als draußen, respektive außenwirklich vorgestellt zu werden. Beispiel 2: Nehmen wir an, ein naiver Realist nimmt einen Tisch wahr. Nennen wir ihn Eddingtons Tisch.528 Eddingtons Tisch existiert zum Zeitpunkt t1 und Eddingtons Tisch ist braun. Physikalisch betrachtet existiert aber zum Zeitpunkt t1 nicht Eddingtons Tisch, sondern nur ein physischer Tisch. Der physische Tisch ist ein Komplex aus Atomen (oder vielleicht auch kleineren Einheiten), dessen Verhalten sich durch physikalische Gesetzmäßigkeiten ausdrücken lässt. Atome und Atomkomplexe mögen nun verschiedene Attribute haben, das Attribut ‘braun sein’ haben sie jedenfalls nicht. Dieses Attribut trifft auf Atomkomplexe nicht zu. Wenn nun Eddingtons Tisch und der physische 528
Vgl. Eddington, Arthur Stanley: Philosophie der Naturwissenschaft, Humboldt Verlag, Wien, 1949.
226
Tisch ein und derselbe subjektunabhängige außenwirkliche Tisch ist, dann existiert ein Tisch, der gleichzeitig braun und nicht braun ist. Das ist nicht nur aus logischen Gründen unhaltbar, sonder wiederum auch der Eindeutigkeitsbedingung des Raums wegen. Das alles sind Probleme von höchster philosophischer Wichtigkeit, denn die herkömmliche Auffassung der Außenwirklichkeit gerät ins Wanken. Am einfachsten könnte man sich der Schwierigkeiten dadurch entledigen, dass man zeigt, dass Erlebnisse in Wahrheit nichts anderes sind als Ereignisse. Dann nämlich wäre das wahrgenommene Geräusch identisch mit einer Schallwelle und das Braun-Sein des Tisches identisch mit einer Lichtwelle, und eine geistige Innenwelt gäbe es nicht. Doch wir haben gesehen, dass die Identitätstheorie, die genau das versucht, scheitert. 6.2.2.2 Verletzung der Einzigkeitsbedingung529 Im naiven Realismus geht man von der These aus, dass es nur einen einzigen umfassenden Raum gibt und dass die Strukturen dieses Raums in ontologischer Hinsicht zur Außenwirklichkeit gehören.530 Der Wahrnehmungsraum des Subjekts ist identisch mit dem außenwirklichen Raum. Doch dem Subjekt ist kein allumfassender Raum „gegeben, sondern es gibt im Gegenteil sogar für jede Person mehrere Räume, entsprechend den verschiedenen Sinnen“531. Es gibt also z. B. einen Gesichtsraum, einen Tastraum, einen Raum der Bewegungsempfindungen. Und sie zeigen untereinander keine anschauliche Gemeinsamkeit. Wenn ich die Gestalt meines Bleistiftes visuell erschaue, so ist das Erlebnis, das ich dabei habe, unvergleichlich verschieden von dem Erlebnis, wenn ich »dieselbe« Gestalt ertaste. Es gibt keine Qualität, die beiden gemeinsam und als die eigentlich räumliche auszusondern wäre.532 529
Vgl. Waß, Bernd: Die Reale Außenwelt und das Wirklichkeitsproblem, Universität Salzburg, 2009. 530
Das ist auch der Grund dafür, warum sich Schallwellen und Geräusche den Platz im Raum streitig machen. 531
Russell, Bertrand: Probleme der Philosophie, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1967, S. 116. 532
Schlick, Moritz: Allgemeine Erkenntnislehre, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1979, S. 287.
227
Jede Antwort auf die Frage, mit welchem dieser Räume der außenwirkliche Raum identisch sein soll, ist also reine Willkür. Dem singulären Raumkonzept steht demnach ein Pluralismus der Räume gegenüber. Dadurch ergibt sich ein Widerspruch, denn es kann nicht der Fall sein, dass beide Konzepte wahre Behauptungen über die Raumverhältnisse des Wirklichen sind. 6.2.3 Wahrnehmungsprobleme Die beiden wichtigsten Thesen des naiven Realismus sind die Unabhängigkeitsthese NR1 und die Zugänglichkeitsthese NR3. 533 Diese Thesen besagen zusammengenommen, dass die körperlichen Gegenstände der raum-zeitlich ausgedehnten und subjektunabhängigen Außenwelt unmittelbar in der Wahrnehmung vorliegen. Also: Das „Wahrgenommene ist der körperliche Gegenstand selbst“534 . Dass diese Auffassung des Wirklichen zu Problemen führt, das konnten bereits die Untersuchungen der Zeit- und Raumverhältnisse zeigen. Wir werden aber in den folgenden Abschnitten sehen, dass der naive Realismus nicht nur eine problematische philosophische Position ist, sondern eine ganz und gar unhaltbare. 6.2.3.1 Die Nicht-Identität von Wahrnehmung und Gegenstand535 Dass außenwirkliche Gegenstände unmittelbar in der Wahrnehmung vorliegen (d.h., dass sie so vorliegen, wie sie an sich selbst beschaffen sind), ist unmöglich, denn das allermeiste, was unmittelbar gegeben ist, kann nicht ohne Widerspruch den Gegenständen selbst zugeschrieben werden: Da ist Lockes bekanntes Beispiel, daß dasselbe laue Wasser für die warme linke Hand kühl, für die kalte rechte Hand warm ist; oder das nicht minder bekannte Beispiel, daß derselbe Stab im Wasser gebrochen, in der Luft gerade gesehen wird; oder mit meinem linken astigmatischen Auge sehe ich die Konturen der Gegenstände doppelt, mit meinem rechten Auge sehe ich in Folge eines 533
Vgl. 3.3, Der naive Realismus als Theorie des Commonsense.
534
Kraft, Victor: Erkenntnislehre, Springer Verlag, Vienna, 1960, S. 258.
535
Vgl. Waß, Bernd: Die Reale Außenwelt und das Wirklichkeitsproblem, Universität Salzburg, 2009.
228 beginnenden Glaukoms dieselben Gegenstände nur in trüben Farben ohne rötliche Töne. Es werden also dieselben Gegenstände zugleich auf verschiedene Weise wahrgenommen. Dann kann man aber nicht in jeder dieser Wahrnehmungen die Körperbeschaffenheit selbst vor sich haben. Vor allem aber ist der Sehraum nicht-euklidisch, er ist sphärisch. Die Größe der Körper verändert sich im Gesichtsfeld mit der Entfernung; sie wird immer kleiner, und ihre Gestalten werden perspektivisch verzerrt, Parallelen konvergieren in der Blickrichtung. Hingegen wird von den Körpern der Außenwelt angenommen, daß ihre Größe und Gestalt unverändert bleibt, wenigstens eine Zeitlang, und daß sie der euklidischen Geometrie entsprechen. [...] Es gibt somit eine Menge Wahrnehmungen, genauer Wahrgenommenes, in denen zweifellos nicht die körperlichen Gegenstände selbst vorliegen, sondern die etwas anderes sind als diese, die [...] als subjektive Erscheinungen [angesehen werden müssen]. Diese sind aber nun von dem Wahrgenommenen, in dem man die Gegenstände selbst vor sich zu haben glaubt, nicht ihrer Art nach verschieden. Beides ist Gesehenes, Farben und Formen. Wenn eine Seite eines Würfels in frontaler Einstellung als nahezu quadratische Fläche gesehen wird, so zeigt sich eine andere Seite perspektivisch als Rhombus. Man kann aber doch nicht die so gesehene Seite als eine subjektive Erscheinung, die quadratische Vorderseite dagegen als einen Teil des Gegenstandes erklären. Alles ist von derselben Art. Erklärt man das eine für eine Gegenstandsbeschaffenheit, das andere für eine subjektive Erscheinung, dann wird damit Gleichartiges auseinandergerissen, es wird in zwei ganz verschiedene Klassen geteilt. Um das zu vermeiden, muß man alles Wahrgenommene als subjektive Erscheinung betrachten und nicht als unmittelbare Gegenwärtigkeit der körperlichen Gegenstände. Wenn ein Gegenstand von mehreren Personen zugleich wahrgenommen wird, dann differieren deren Wahrnehmungen voneinander, nicht nur entsprechend ihren verschiedenen Wahrnehmungssituationen, sondern auch nach der subjektiven Verfassung der wahrnehmenden Personen. [...] Es würde nun zu Widersprüchen führen, wenn diese voneinander abweichenden Wahrnehmungsdaten demselben Gegenstand als Beschaffenheiten zugeschrieben würden. Darum kann das, was in der Wahrnehmung vorliegt, keineswegs mit den körperlichen Gegenständen identisch sein.536
536
Kraft, Victor: Erkenntnislehre, Springer Verlag, Vienna, 1960, S. 259 f.
229
Die Konsequenzen dieser Überlegungen sind weitreichend: Erstens, weil damit gezeigt ist, dass, die These NR3 unhaltbar ist: Um ontologische Widersprüche zu vermeiden, muss man annehmen, dass das, was vorliegt, von dem verschieden ist, was nicht vorliegt, und das wiederum bedeutet, dass es nicht der Fall ist, dass die Außenwirklichkeit in der Wahrnehmung des jeweils wahrnehmenden Subjekts unmittelbar vorliegt. Zweitens, weil aus der Unhaltbarkeit von NR3 die Unhaltbarkeit von N R 4 f o l g t . We n n w a h r n e h m u n g s i m m a n e n t e E n t i t ä t e n v o n wahrnehmungstranszendenten Entitäten verschieden sind, dann ist es unmöglich, dass die Außenwirklichkeit so wahrnehmbar ist, wie sie ist. Und drittens, weil: Wenn NR3 und NR4 unhaltbar sind, dann können wir nicht weiter davon ausgehen, dass es einen direkten empirischen Zugang zur Außenwelt gibt. Wir können zwar annehmen, dass es sich bei den Wahrnehmungsgegenständen in den meisten Fällen um Gegenstände handelt, deren Realgrund in der Außenwelt zu finden ist, wir können aber nicht annehmen, dass die Wahrnehmung Erkenntnisse darüber liefert, wie diese Gegenstände an sich selbst, d.h. unabhängig vom Wahrnehmenden beschaffen sind. 6.2.3.2 Immanenzphilosophische Probleme 537 Gegen die philosophische Auffassung der Nicht-Identität von Wahrnehmungsgegenstand und Außenwelt-Gegenstand kann man einwenden, dass wir weder im Alltag noch in den Wissenschaften auch nur einen Moment lang darüber nachdenken, dass der wahrgenommene Hund des Nachbarn oder das beobachtete Gehirn des Patienten etwas anderes sein könnte als der faktisch existierende Hund oder das faktisch existierende Gehirn, die beide in der objektiven Außenwirklichkeit existieren. Nehmen z.B. zwei Menschen x und y denselben braunen Hund wahr, so kann es zwar tatsächlich der Fall sein, dass dieser Hund von x und y verschieden erlebt wird, sodass etwa x sagt ‘Dieser Hund hat ein braunes Fell’ während y sagt ‘Dieser Hund hat ein rötliches Fell’, doch dass der Wahrnehmungsgegenstand von x und y ein und derselbe faktisch 537
Vgl. Waß, Bernd: Die Reale Außenwelt und das Wirklichkeitsproblem, Universität Salzburg, 2009.
230
existierende außenwirkliche Hund ist, daran wird nicht im Geringsten gezweifelt. Nun, dass zwei Menschen ähnliche Wahrnehmungserlebnisse haben können, und dass darüber hinaus Gegenstände wiederholt wahrnehmbar sind, das hat sehr wahrscheinlich mit einer vom Subjekt unabhängigen Außenwelt zu tun. Dem ist zuzustimmen. Damit ist aber noch nicht der Beweis erbracht, dass die Negation von NR3 unhaltbar ist. Genauso gut lassen sich Wahrnehmungsphänomene dieser Art durch die Annahme erklären, dass es Prinzipien der Erkenntnis a priori gibt, die allen Menschen in ähnlicher Weise gegeben sind und die sie dazu befähigen, ähnliche ontologische Verhältnisse, also ähnliche Grundstrukturen des Wirklichen, zu konstituieren. Die weiteren Untersuchungen werden noch deutlicher zeigen, dass man in ganz unüberwindbare philosophische Schwierigkeiten gerät, wenn man die Außenwelt so in den Wahrnehmungszusammenhang hineinverlegt, d a s s m a n g l a u b t , Wa h r n e h m u n g s i m m a n e n t e s s e i m i t Wahrnehmungstranszendentem identisch. Nach Moritz Schlick müssen nämlich alle philosophischen Systeme dadurch geprüft werden, dass man sich bei jeder Frage oder Aussage des Lebens oder der Wissenschaft vergegenwärtigt, welchen Sinn die jeweilige Frage oder Aussage in dem entsprechenden System annimmt. 538 Für den naiven Realismus heißt das, sich den Sinn der beiden folgenden Fragen zu vergegenwärtigen: 1)Wie existieren Gegenstände, die von keinem Subjekt wahrgenommen werden? 2)Was genau liegt vor, wenn die Gegenstände der Außenwirklichkeit von mehreren Subjekten gleichzeitig wahrgenommen werden? Hierzu werde ich auf Moritz Schlicks Kritik der Immanenzphilosophie zurückgreifen. Einerseits, weil die Gedanken Schlicks von so großer Klarheit sind, dass es leicht fällt, die besonderen Schwierigkeiten einsichtig zu machen, andererseits, weil die Vertreter der Immanenzphilosophie nicht selten behaupten, dass ihre Theorie eine Erneuerung des naiven Realismus ist. Aus Gründen der besseren Nachvollziehbarkeit werde ich aber zuvor, in aller Kürze, die Kernthesen 538
Vgl. Schlick, Moritz: Allgemeine Erkenntnislehre, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1979.
231
der Immanenzphilosophie besprechen: Diese besagen, dass die Außenwirklichkeit aus bestimmten Elementkomplexen besteht, die in ganz bestimmten Verbindungen zueinander stehen und die unmittelbar wahrnehmbar sind. Einige dieser Elementkomplexe und Verbindungen von Elementkomplexen sind relativ konstant und werden daher als Gegenstände und Relationen zwischen Gegenständen erlebt. 539 Anstatt »fertiger« Gegenstände, wie sie noch im naiven Realismus vorkommen, versucht die Immanenzphilosophie, alle philosophisch problematischen Entitäten zu eliminieren, sodass als ontologisches Fundament der Welt lediglich ein „Zusammenhang von Farben, Tönen, Gerüchen, Geschmäcken, Drucken usw.“540 bestehen bleibt. Diese [...] Elemente sind immer in irgendwelchen Verbindungen untereinander gegeben. [...] Jene Verknüpfungen sind immer wechselnd, aber es treten in ihnen doch relativ beständige Zusammenhänge hervor, die sich von dem mehr Veränderlichen abheben [...].541 Die Elemente sind an den Orten, wo sie räumlich lokalisiert wahrgenommen, erlebt werden, nicht etwa im Gehirn, von wo sie erst in den Raum hinausprojiziert würden.542
Während also die Wirklichkeit des naiven Realismus aus »fertigen« und unmittelbar wahrnehmbaren Gegenständen besteht, besteht die Wirklichkeit der Immanenzphilosophie aus Komplexen von SinnesElementen, oder anders gesagt, aus Zusammenhängen von Sinnesqualitäten, jedenfalls aus Farben, Tönen, Gerüchen usw. Die Sinneselemente bzw. Sinnesqualitäten liegen aber, nicht anders als im naiven Realismus, unmittelbar in der Wahrnehmung vor. Der Unterschied besteht letztlich nur darin, dass in der Immanenzphilosophie nicht von Häusern, Bäumen oder Hunden die Rede ist, sondern eben von Elementkomplexen oder Sinnesqualitäten. Es ist aber ganz unerheblich, ob man vom einen oder vom anderen spricht. Beide Denkrichtungen haben in Bezug auf die oben gestellten Fragen dieselben Probleme.
539
Konstant in Relation zur Geschwindigkeit, mit der sich bestimmte Objekte verändern. 540
Schlick, Moritz: Allgemeine Erkenntnislehre, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1979, S. 231. 541
Ebenda.
542
a. a. O. S. 231 f.
232
6.2.3.2.1 Das Problem der nicht wahrgenommenen Außenwirklichkeit543 Das Problem der nicht wahrgenommenen Außenwirklichkeit besteht darin, die Frage zu beantworten, wie Gegenstände existieren, die von keinem Subjekt wahrgenommen werden. Daß wir in alltäglichen wie wissenschaftlichen Urteilen immerfort von körperlichen Gegenständen reden, die keinem Bewußtsein gegeben sind, ist fraglos. Ich spreche von den Manuskripten, die sich jetzt in meinem Schreibtisch befinden, ohne daß sie von mir oder irgendjemand anders in diesem Augenblick erlebt wären; durch den Tisch hindurch kann ich sie ja nicht wahrnehmen. [...] Und ähnliches gilt von allen Gegenständen des täglichen Lebens.544
Ebenso einsichtig ist die Tatsache, dass ein und derselbe Körper, je nach Wahrnehmungszustand des Subjekts und den Bedingungen in der Außenwelt, auf ganz verschiedene Weise erlebt wird. In der Tat, wenn ich die Blätter aus meinem Schreibtisch nehme und sie betrachte, so sind es je nach Art und Standpunkt der Betrachtung gänzlich verschiedene Elemente, deren Miteinander das Wesen der Papierblätter ausmacht: bei direktem Aufblick andere als bei seitlichem, bei künstlicher Beleuchtung andere als bei Tage.545
Für den Commonsense, den naiven Realismus und die Immanenzphilosophie sind diese Äußerungen trivial und unproblematisch. Doch bei genauerer Analyse erhebt sich eine erkenntnistheoretische Schwierigkeit von besonderer Art: Aus dem bisher Gesagten folgt nämlich, dass es unmöglich ist, dass ein Subjekt einen Gegenstand zweimal in genau der gleichen Weise erlebt bzw. wahrnimmt. Gegenstand und Subjekt verändern sich ja fortwährend. Daher wird sich die einer aktuellen Wahrnehmung folgende Konfiguration546 von Elementen (Farben, Tönen, 543
Vgl. Waß, Bernd: Die Reale Außenwelt und das Wirklichkeitsproblem, Universität Salzburg, 2009. 544
Schlick, Moritz: Allgemeine Erkenntnislehre, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1979, S. 233. 545 546
a. a. O. S. 234.
Es sei mit dem Ausdruck ‘Konfiguration’ genau diejenige Verknüpfung von Elementen bezeichnet, die den jeweils wahrgenommenen Gegenstand (oder Elementkomplex) konstituiert.
233
G e r ü c h e n , G e s c h m ä c k e n , D r u c k e n u s w. ) v o n d e r s o e b e n wahrgenommenen Konfiguration immer um eine Nuance unterscheiden. Doch welche dieser Konfigurationen bildet einen Gegenstand, der nicht wahrgenommen wird? Das heißt, wie existiert ein nicht wahrgenommener Gegenstand? Bevor ich die Überlegungen weiterführe, sei gesagt, dass ich die Diktion Schlicks übernehmen werde. Dementsprechend sind die unterschiedlichen Konfigurationen, die unter verschiedenen Außenweltund Wahrnehmungsbedingungen einen Gegenstand, z.B. ein Blatt Papier, aufbauen, mit K1, K2, K3 ...; zu bezeichnen; der Gegenstand selbst, im Beispiel das Blatt Papier, mit G. Der Ausgangspunkt ist nun ein Gegenstand G, der faktisch als eine bestimmte Konfiguration Ki von Elementen wahrgenommen wird. Dabei ist darauf zu achten, dass die möglichen Konfigurationen K, die einen Gegenstand G im jeweiligen Wahrnehmungsakt aufbauen, unendlich viele sind. Sie unterscheiden sich ja durch die sich fortwährend verändernden Zustände im Subjekt und der Außenwelt. Der Immanenzphilosoph behauptet nun, dass „es ein von den K unterschiedenes G nicht gibt, sondern daß es mit den K identisch ist“547. Ähnliches behauptet auch der naive Realist. Auch für ihn gibt es je nach Bedingungen in Außenwelt und Subjekt verschiedene Konfigurationen K, die einen Gegenstand G aufbauen, und auch für ihn ist das jeweilige G mit den K, die es konstituieren, identisch. Zwar würde der naive Realist anstatt von Konfigurationen von verschiedenen Wahrnehmungserlebnissen sprechen, doch auch für ihn ist der Gegenstand an sich nicht von dem verschieden, als was er wahrgenommen wird. Das heißt, wenn ich den Hund meines Nachbarn aufgrund meiner Sehschwäche unscharf sehe, dann sind die K, die den Gegenstand G in diesem Fall konstituieren, andere, als wenn ich meine Brille aufsetze. In beiden Fällen handelt es sich aber um denselben Gegenstand. Das heißt, in beiden Fällen sind die K mit G identisch. Insofern besteht also kein Unterschied zwischen naiven Realisten und Immanenzphilosophen. Beide müssen erklären, welche Konfigurationen K den Gegenstand G konstituieren, wenn G nicht wahrgenommen wird. „Nur zwei Antworten sind logisch möglich: Entweder es existiert in den 547
Schlick, Moritz: Allgemeine Erkenntnislehre, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1979, S. 235.
234
Wahrnehmungspausen ein ganz bestimmtes Ki weiter [...], und ist dann eben das G; oder es bleiben mehrere K - im Grenzfall alle überhaupt möglichen“548 unwahrgenommen existierend, und G „ist identisch mit dem Inbegriff aller wirklichen K“549 . Die erste der beiden Möglichkeiten scheidet von vornherein aus und ist auch niemals ernsthaft vertreten worden. Es wäre nämlich absurde Willkür, unter den unendlich vielen möglichen Konfigurationen, die einen Gegenstand konstituieren können, eine einzige als diejenige auszuzeichnen, die außerhalb der Wahrnehmung, sprich in einer subjektunabhängigen Außenwirklichkeit, fortexistiert. Schlick begründet dies, indem er darauf hinweist, dass man sich etwa das Blatt Papier vollkommen bestimmt denken muss (Lage, Entfernung, Licht usw.), und die entsprechende Wahrnehmung dann als das eigentliche Papier auszeichnen müsste. Doch eine solche Auszeichnung hätte grundlos zu geschehen, denn von Natur aus ist keinem Empfindungskomplex gegenüber irgendwelchen anderen als der »Richtige« der Vorzug zu geben.550 Es kann also nur die zweite Möglichkeit sinnvoll vertreten werden: Das nicht wahrgenommene G ist identisch mit dem Inbegriff aller möglichen K. Aber auch gegen diese Auffassung sind zwei schwerwiegende Einwände zu erheben: Einwand 1: Wenn jedes G mit dem Inbegriff aller möglichen K identifiziert wird, so besteht jedenfalls ein Unterschied zwischen einem wahrgenommenen G und einem nicht-wahrgenommenen G. Wahrend nämlich das wahrgenommene G stets in einer ganz bestimmten Konfiguration von Elementen auftritt, impliziert das nichtwahrgenommene G alle überhaupt möglichen Konfigurationen von Elementen. Wenn aber die Außenwirklichkeit unmittelbar in der Wahrnehmung vorliegt (These NR3), sei es nun in Form fertiger Gegenstände oder auch bloß in Form von Farben, Tönen, Gerüchen, Geschmäcken und Drucken, dann ist es unmöglich, dass ein nicht wahrgenommener Aspekt der Wirklichkeit von einem wahrgenommenen Aspekt verschieden ist. Gibt man aber das Inbegriff-Argument auf, dann befindet man sich wieder im Willkürproblem, denn welchen der unendlich 548
Schlick, Moritz: Allgemeine Erkenntnislehre, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1979, S. 235. 549
Ebenda.
550
a. a. O. S. 235 f.
235
vielen möglichen verschiedenen Konfigurationen, in der mir ein Wahrnehmungsgegenstand jeweils gegeben sein kann - der Hund meines Nachbarn erscheint mir ja z.B. auf andere Weise, ob ich ihn mit oder ohne meiner Brille wahrnehme - will man nun als denjenigen auszeichnen, der unwahrgenommen fortexistiert? Die Probleme lassen sich nur dann lösen, wenn man NR3 aufgibt. Dann allerdings muss man zugeben, dass die Gegenstände der Außenwelt immer noch aus „etwas ganz anderem als den uns bekannten Elementkomplexen“551 bestehen. Einwand 2: Der zweite Einwand beruht auf dem Ökonomieprinzip552. Dieses „scheint mir schlecht erfüllt zu sein, wenn nicht nur die tatsächlich erlebten Aspekte eines Gegenstandes als wirklich angenommen werden, sondern außerdem noch die unendlichen Mengen aller überhaupt möglichen“553 . Man bedenke nur, daß zu diesem möglichen K nicht nur sämtliche Wahrnehmungen gehören, die irgendeinem bekannten Lebewesen von der Ameise bis zu Menschen gegeben sein könnten, sondern auch solche Wahrnehmungen, wie sie ein bloß denkbares Wesen mit uns völlig unbekannten Sinnesorganen erleben würde, und sei es ein Zwerg von der Größe eines Atoms. Welch unendliches Gewimmel von unüberschaubaren, prinzipiell nicht vollständig angebbaren Reihen von Aspekten wird hier als wirklich gesetzt!554
Die Frage, wie die Wirklichkeit unwahrgenommen existiert, kann also unter den gegebenen Umständen weder von der Immanenzphilosophie noch vom naiven Realismus ohne Probleme beantwortet werden, doch jede vernünftige Erkenntnistheorie muss dies leisten. Was den naiven Realismus betrifft, so ist es erneut die epistemische Zugänglichkeitsthese NR3, die zu Schwierigkeiten führt.
551
Schlick, Moritz: Allgemeine Erkenntnislehre, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1979, S. 237. 552
Das Ökonomieprinzip stellt einen Grundsatz der nominalistischen Philosophie dar und beinhaltet das Postulat, nicht mehr ontologische Annahmen zu machen als unbedingt notwendig, d.h. die Annahme von Entitäten möglichst gering zu halten. 553
Schlick, Moritz: Allgemeine Erkenntnislehre, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1979, S. 237 f. 554
Ebenda.
236
6.2.3.2.2 Das Problem nicht-singulärer Wahrnehmung der Außenwirklichkeit555 „Das vorliegende Problem ist einfach dies: Zwei verschiedene Subjekte sagen aus, daß sie ein und denselben Umgebungsbestandteil wahrnehmen, etwa die Lampe dort an der Decke.“556 Im naiven Realismus ist diese Aussage trivial, denn es wird ja nichts anderes ausgesagt, als dass ein und dasselbe Objekt mehreren Subjekten gleichzeitig gegeben ist. Wo also liegt das Problem? Außenwirkliche Objekte, wie Lampen, Häuser oder Hunde, „sind ja nicht im Gehirn, im Kopf, werden nicht von dort in den Raum hinausprojiziert, sondern sie sind eben dort, wo wir sie erleben, sie können der Erfahrung des einen, sowohl wie des anderen Individuums gleichzeitig angehören, mit dem ihnen zukommenden Orte“557. Richard Avenarius558 fügt hinzu: Das ist „die natürliche [...] allen empirischen Einzelwissenschaften zugrunde liegende Ansicht, daß ein und derselbe Bestandteil meiner Umgebung auch Bestandteil der Umgebung eines anderen Menschen sein könne [...]“559 . Wäre diese Ansicht wirklich haltbar, so besäße das hier gebotene Weltbild in der Tat eine verführerische Einfachheit und wunderbare Geschlossenheit; die Wechselbeziehung der Ich zueinander und zur Außenwelt schiene auf die klarste Formel gebracht und aller Schwierigkeiten entledigt. Leider aber erheben sich solche, und zwar von ganz unüberwindlicher Natur [...].560
555
Vgl. Waß, Bernd: Die Reale Außenwelt und das Wirklichkeitsproblem, Universität Salzburg, 2009. 556
Schlick, Moritz: Allgemeine Erkenntnislehre, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1979, S. 255. 557
Ebenda.
558
Richard Avenarius gilt als der Begründer des Empiriokritizismus. Der Empiriokritizismus ist ein Versuch, wissenschaftliche Philosophie von jeder Metaphysik zu befreien. 559
Schlick, Moritz: Allgemeine Erkenntnislehre, Suhrkamp, Frankfurt am Main, S. 256, zit. n. Avenarius, Richard: Der menschliche Weltbegriff, S. 161. 560
Schlick, Moritz: Allgemeine Erkenntnislehre, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1979, S. 256.
237
Der Ausgangspunkt ist folgender: Dem naiven Realismus nach ist es möglich, dass ein und derselbe außenwirkliche Gegenstand z unmittelbar in der Wahrnehmung zweier verschiedener Subjekte x und y vorliegt, und zwar zur selben Zeit. Dass die Wahrnehmungserlebnisse von x und y mit Bezug auf z, trotz Unmittelbarkeit, durchaus verschieden sein können - ich erlebe beispielsweise die Umrisse der Lampe aufgrund meiner Sehschwäche diffus, während mein Nachbar, der keine Sehschwäche hat, dieselben Umrisse derselben Lampe als vollkommen klar erlebt -, das wird auf gewisse »subjektive Aspekte« zurückgeführt, die auf die Wahrnehmung von x und y einwirken. Das korrespondiert auch mit der Auffassung von Physik und Physiologie. Beide stimmen darin überein, dass die Annahme unzulässig ist, dass zwei Menschen, „die zur gleichen Zeit die Lampe dort an der Decke betrachten, genau die gleichen, geschweige denn identische Erlebnisse haben“561. Das heißt aber: Obwohl x und y ein und dasselbe z wahrnehmen, sind ihre Wahrnehmungserlebnisse in jedem Fall verschieden. Die Frage lautet daher: Welches der beiden Wahrnehmungserlebnisse entspricht nun dem außenwirklichen Gegenstand z? Um das Programm des naiven Realismus durchzuhalten, muss man die äußerst unplausible Annahme machen, dass in den verschiedenen Wahrnehmungserlebnissen irgend etwas von dem eigentlichen z enthalten ist, und zwar etwas, das sowohl für x als auch für y in irgendeiner Hinsicht gemeinsam, d.h. identisch vorliegt und das dem eigentlichen z entspricht. Denn nur dadurch kann überhaupt noch von einem objektiven Gegenstand die Rede sein und nur dadurch wäre „die Brücke zwischen den Erlebnissen verschiedener Individuen [...] geschlagen, beide würden zwanglos als Bewohner derselben Welt gelten können“562 . Doch letztlich muss auch dieser Ansatz scheitern: Warum? In dem Komplex, welchen verschiedene Individuen als ein und denselben Gegenstand bezeichnen, werden sich niemals Elemente finden, die für beide nach Qualität, Intensität usw. absolut gleich wären.563 Wären sie auch vollkommen gleich, so wäre doch nichts geholfen, denn sie sind doch nicht identisch, nicht »dasselbe«. Wollte einer noch zweifeln, so braucht er sich nur 561
Schlick, Moritz: Allgemeine Erkenntnislehre, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1979, S. 256. 562
Ebenda.
563
a. a. O. S. 257.
238 zu denken, daß einer der beiden Beobachter die Augen schließt: Für ihn ist die Lampe dann weg. Für den anderen noch da; es kann aber identisch derselbe Gegenstand nicht zugleich dasein und nicht dasein. [...] Mögen die Erlebnisse der verschiedenen Ich einander noch so ähnlich sein (was freilich prinzipiell nie feststellbar wäre): das nützt uns hier gar nichts; sobald nicht absolute Identität da ist, sind sie eben nicht dieselben Elemente. Folglich ist ein Element, das zur Erlebniswelt des Menschen A gehört, etwas anderes als ein Element eines zweiten Menschen B.564
In die Sprache des naiven Realismus übersetzt, lautet der Schluss: Ein Gegenstand, der zur Erlebniswelt des Menschen x gehört, ist etwas anderes als ein Gegenstand, der zur Erlebniswelt des Menschen y gehört, denn die Gegenstände der jeweiligen Erlebniswelten sind nicht identisch. Nun scheint es auf den ersten Blick „gleichgültig zu sein, ob verschiedene Individuen nun identisch dieselben Elemente erleben oder nur gleiche oder ähnliche“565 . Auf den zweiten Blick allerdings verändern sich die ontologischen und epistemologischen Verhältnisse radikal: Es gibt dann nämlich keine außenwirklichen Gegenstände mehr, die verschiedenen Subjekten zur selben Zeit auf identisch dieselbe Weise vorliegen. „Das heißt: Die Wirklichkeit, die einem Individuum gegeben ist, ist niemals auch einem anderen Individuum gegeben.“566 Mit anderen Worten: jedes Wesen hat seine eigene Welt für sich, in die schlechthin nichts aus den Welten der anderen hineinragt, sie sind durch eine unüberbrückbare Kluft voneinander getrennt. Wohl besteht zwischen den Welten eine Koordination, in der Weise, daß die Ereignisse der einen parallel gehen mit denen der anderen und zusammen harmonieren würden, falls man sie miteinander vergliche (was ja unmöglich ist, da kein Wesen in die Welt des anderen übertreten kann), aber von einer allen Individuen gemeinsamen realen Welt kann keine Rede mehr sein.567
564Schlick,
Moritz: Allgemeine Erkenntnislehre, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1979,
S. 257. 565
a. a. O. S. 258.
566
Ebenda.
567
Ebenda.
239
6.2.3.3 Die Divergenz von Wahrnehmung und Sinneseindruck568 Der Bestand an Erkenntnissen zeigt: Aus theoretischer Sicht wird ein schwerwiegender Fehler begangen, wenn wahrnehmungsimmanente Gegenstände als unmittelbar gegebene Gegenstände der subjektunabhängigen Außenwirklichkeit gedacht werden. Die Probleme, die damit einhergehen, sind im naiven Realismus, also in der Wirklichkeitstheorie der Alltagsrealität, nicht zu überwinden. Nichtsdestoweniger scheint es aber in hohem Maße evident zu sein, dass in der Wahrnehmung Entitäten vorliegen, die bestimmte Eigenschaften haben, die in bestimmten Beziehungen zueinander stehen und von wahrnehmenden Menschen üblicherweise als Bäume, Häuser, Hunde oder Gehirne usw. bezeichnet werden. „Was wir im Sinne des naiven Realismus wahrzunehmen glauben, sind [...] körperliche Gegenstände.“569 Was genau also eine Wahrnehmung oder, besser gesagt, ein Wahrnehmungsgegenstand ist, das bedarf erst einer Klärung: In der Wahrnehmung ist jedenfalls immer etwas Gesehenes, Getastetes, Gehörtes ... gegenwärtig. Es sind Sinneseindrücke. [...] Aber wir nehmen nicht farbige Flecke wahr, nicht Empfindungselemente rot, warm, usw., sondern körperliche Gegenstände, Hunde, Menschen und dgl. Wenn wir eine Oberfläche mit fünf Fingern betasten, erleben wir nicht fünf einzelne Tastempfindungen, sondern einen einzigen Körper. Sinneseindrücke sind Elemente im Wahrgenommenen, die darin unterschieden und daraus gedanklich isoliert werden können. [...] Die Wahrnehmung eines Körpers ist nicht mit einem Sinneseindruck identisch. Sie enthält mehr als ein solcher, als farbige Flecke, Geräusche, Gerüche, Berührungsempfindungen. [...] Daß die Wahrnehmung sich nicht in einem Sinneseindruck erschöpft, sondern neben diesem noch eine andere Bedingung für die gegenständliche Auffassung erfordert, beweist die Agnosie. Nach einer Schädigung einer bestimmten Region der Großhirnrinde hat der Kranke noch ungestörte Sinneseindrücke, aber kann darin nicht Gegenstände erkennen. Die Wahrnehmung von Gegenständen wird entscheidend durch unser Wissen von ihnen bestimmt. Sie bestehen nicht einfach in Sinnesdaten oder sinnesqualitativen Gestalten, sondern in deren Auffassung aufgrund eines Wissens. Was die Wahrnehmung eines Hundes von 568
Vgl. Waß, Bernd: Die Reale Außenwelt und das Wirklichkeitsproblem, Universität Salzburg, 2009. 569
Kraft, Victor: Erkenntnislehre, Springer Verlag, Vienna, 1960, S. 261.
240 dem eines hundeartigen Flecks unterscheidet, liegt darin, daß man weiß, daß die gesehene Gestalt sich rasch bewegen und dabei als im wesentlichen gleich wiederkehren wird, daß man ein Bellen hören kann u.a.m. Von einem hundeartigen Fleck hingegen weiß man nichts weiter, er ist einfach da. Ohne ein Wissen, das zu den Sinnesdaten hinzutritt, würde überhaupt keine Wahrnehmung von körperlichen Gegenständen zustande kommen.570 Das sinnlich Gegebene und das Wissen sind gewöhnlich [...] zu einem einheitlichen Komplex verschmolzen. [...] Eine Wahrnehmung ist nicht einfach ein Sinneseindruck, sondern ein Sinneseindruck ergänzt durch ein Wissen.571
Man könnte auch sagen: Wahrnehmung ist die Ausdeutung der Sinneseindrücke durch Wissen. Das heißt, die gesamte Wahrnehmungswelt des Subjekts entsteht aus dem unablässigen Versuch desselben, aus aktuell vorhandenen Sinnes- bzw. Bewusstseinsdaten Entitäten zu konstruieren, die für das erkennende Subjekt eine Bedeutung aufweisen. Das, was bei diesem psychisch notwendigen und praktisch irreduziblen Vorgang entsteht, sind die Wahrnehmungsgegenstände. Sie haben Gestaltcharakter und können nur unter besonderen Umständen getrennt vom Prozess ihres Entstehens erlebt werden. Die so konstruierte Gestalt ist etwas Neues gegenüber dem Komplex der Sinnesdaten. Sie ist eine einzige gegenüber der Vielheit dieser und eine identische gegenüber deren Wechsel. Die konstruierten Gestalten werden mit Eigenschaften ausgestattet, die ebenfalls aufgrund von Sinneseindrücken aufgestellt sind. Sie haben eine Farbe, einen Geruch, einen Klang usw. in einer eigenen Bestimmtheit gegenüber der verschiedenen Art, wie sie wahrgenommen werden [...]. Es sind objektive körperliche Gegenstände, die auf diese Weise konzipiert sind. Sie sind ihren wechselnden Wahrnehmungen gegenüber als identisch und als kontinuierlich vorhanden, auch außerhalb ihrer Wahrnehmung vorausgesetzt. Sie werden substanziell gedacht, nicht anders wie die physikalischen Gegenstände. Der Unterschied liegt nur darin, daß sie phänomenal bestimmt sind.572
Das zeigt zunächst, dass die Immanenzphilosophie auch aus diesen Gründen unhaltbar ist. Die Elementkomplexe reichen nicht hin, um die Gegenstände der Wahrnehmungswelt begreiflich machen zu können. Doch das ist hier sekundär. Fundamental ist vielmehr die Einsicht, dass die 570
Kraft, Victor: Erkenntnislehre, Springer Verlag, Vienna, 1960, S. 284 f.
571
a. a. O. S. 287.
572
a. a. O. S. 261.
241
Gegenstände, die unserem herkömmlichen Wirklichkeitsmodell nach für die subjektunabhängige Wirklichkeit konstitutiv sind, samt und sonders phänomenal bestimmte Entitäten sind, die von kognitiven Subjekten konstruiert werden. Und so wird aus der uns gegenüberstehenden, von uns selbst unabhängigen, mit materiellen Gegenständen »ausgestatteten« und in der Wahrnehmung unmittelbar vorliegenden physischen Außenwelt eine mentale Fiktion, die jedoch praktisch unaufhebbar ist. Diese praktische Unaufhebbarkeit ist auch der Grund dafür, warum wir an den ontischen und epistemischen Verhältnissen der Alltagsrealität nicht im Geringsten zweifeln und warum diese Verhältnisse unser »Bild« von der Welt prägen. 6.2.4 Zusammenbruch der Immanenzontologie des naiven Realismus573 Epistemologisch betrachtet sind die Sinneseindrücke die »atomaren« Bausteine der Wirklichkeitserkenntnis. Sie lassen sich durch keine weitere Abstraktion in kleinere Einheiten zerlegen. Die Sinneseindrücke bilden das Rohmaterial, auf dem die Konstruktion einer subjektunabhängigen Außenwirklichkeit errichtet wird. Die Außenwirklichkeit als Realgrund für die Sinneseindrücke des Subjekts ist im epistemologischen Sinn konstruiert. Diese Konstruktion, die vom Subjekt für die Außenwirklichkeit gehalten wird, ist im ontologischen Sinn unmittelbar gegeben, schlechthin wirklich. Dem ersten Hauptsatz der Metaphysik entsprechend bedeutet das: Die Außenwirklichkeit, die vom naiven Realisten für objektiv, also für subjektunabhängig gehalten wird, hat bloß Erscheinungscharakter. Genauer: Die bedeutungserfüllten Wahrnehmungen der immanenten Außenwirklichkeit sind in Wahrheit nur Erscheinungen. Diese Erscheinungen sind Repräsentanten außenwirklicher Entitäten. Indem aber der Repräsentant mit dem Repräsentierten identifiziert wird, entsteht eine logische Fiktion. Dieser Fiktion entsprechend wird ein Wahrnehmungsgegenstand für etwas gehalten, das er gar nicht ist, d.h. das, was voneinander verschieden ist, wird theoretisch zu Unrecht für ein und dasselbe gehalten. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von
573
Vgl. Waß, Bernd: Die Reale Außenwelt und das Wirklichkeitsproblem, Universität Salzburg, 2009.
242
phänomenaler Transzendenz 574. Damit ändern sich aber die ontologischen und epistemologischen Verhältnisse grundlegend: Anstatt mit physischen Gegenständen haben wir es nur mit Erscheinungen zu tun. 6.2.5 Epistemologische Subjektivität der Außenwirklichkeit575 Nehmen wir an, der naive Realist sieht ein, dass unsere Argumente zu schwer wiegen, als das er die These von der subjektunabhängigen aber unmittelbar wahrnehmungsimmanenten physischen Außenwelt noch länger aufrecht erhalten könnte, und nehmen wir zudem an, dass er die Rede von den Sinneseindrücken akzeptieren würde, so wäre die Behauptung, dass die Außenwirklichkeit jedenfalls in Form der Sinneseindrücke unmittelbar vorliegt, sein letzter Ausweg. Die Außenwelt bestünde dann eben anstatt aus »fertigen« Gegenständen aus einem Zusammenhang von Farben, Geschmäcken, Drucken, usw. Doch ein solcher Weg führt zur Immanenzphilosophie und diese musste bereits früher als unhaltbar zurückgewiesen werden. Um aber alle Zweifel an der Wahrheit unserer Überlegungen auszuräumen, bemühen wir die Logik: Was die Sinneseindrücke betrifft, d.h. was Farben, Geschmäcke, Drucke usw. betrifft, so lässt sich nämlich zeigen, dass ihre subjektunabhängige Existenz - und eine solche wäre notwenig, wollte man sie der Außenwirklichkeit subsumieren - logisch unmöglich ist. Wenn wir feststellen, daß ein Ding von einem anderen unabhängig ist, so meinen wir damit [...], daß es für das eine logisch unmöglich ist, ohne das andere zu existieren. [...] Die Existenz eines Buches ist z.B. logisch abhängig von derjenigen der Seiten, denn ohne Seiten kein Buch.576
Analog dazu gilt: Die Existenz von Sinneseindrücken ist logisch abhängig von der Existenz einer Entität, der diese Eindrücke eingedrückt sind. Hierfür kommen aber nur Subjekte in Frage, die über Bewusstsein verfügen, denn die notwendigen Bedingungen für das Entstehen von 574
Def.: x ist phänomenal transzendent gegenüber y gdw. x ≠ y und y glaubt x wahrzunehmen und x ist nicht das, wofür y x hält. 575
Vgl. Waß, Bernd: Die Reale Außenwelt und das Wirklichkeitsproblem, Universität Salzburg, 2009. 576
84.
Russell, Bertrand: Unser Wissen von der Außenwelt, Meiner, Hamburg, 2004, S.
243
Sinneseindrücken sind nur im Bewusstsein gegeben. Eine Rotempfindung oder eine Geräuschempfindung etwa kann nirgendwo anders existieren als ebenda. Das heißt: Ohne bewusstes Subjekt keine Sinneseindrücke. Daraus folgt: Weder die Sinneseindrücke an sich noch die Sinneseindrücke samt ihrer Deutung sind subjektunabhängig. Und so wird aus der Außenwirklichkeit unabwendbar ein Teil der Bewusstseinswirklichkeit. Aus Objektivem wird Subjektives, aus Physischem Psychisches. Trotz allem wird der naive Realist einwenden, dass man doch unmöglich die höchst plausible Tatsache leugnen kann, dass dem Subjekt die Gegenstände, Eigenschaften und Tatsachen, die von diesem gemeinhin als zur Außenwirklichkeit gehörend betrachtet werden, eben auch als außerhalb von sich selbst vorgestellt sind. Ein Baum, ein Haus, der Hund meines Nachbarn - alles Gegenstände, die nicht im »Innen« sind, sondern im »Außen«. Diesen Einwand greift auch George Berkeley auf: Wir sehen die Gegenstände tatsächlich außer uns oder in einer Entfernung von uns [...,] woraus folgt, daß sie nicht im Geist existieren; wäre es doch widersinnig, wenn Dinge, die in einer Entfernung von einigen Meilen gesehen werden, uns so nah wären wie unsere eigenen Gedanken [...].577
In seinem Gegenargument verweist Berkeley auf seine Theorie des Sehens 578. Diese Theorie zeigt, dass „Entfernung oder Draußensein (outness) weder unmittelbar an sich selbst visuell wahrgenommen noch durch Linien und Winkel oder sonst etwas, das in notwendigem Zusammenhang damit steht, erfasst oder beurteilt wird“579 . Entfernung wird unserem Bewusstsein bloß suggeriert, und zwar durch bestimmte „konstruierte Vorstellungen und das Sehen begleitende Eindrücke, die ihrem Wesen nach weder Ähnlichkeitsrelationen noch in einer anderen Beziehung zu Entfernung und entfernten Dingen stehen“580 . Unter den Konstruktionen, von denen Berkeley spricht, findet sich z.B. auch die Dreidimensionalität des Wahrnehmungsraums. Der Wellentheorie des 577
Berkeley, George: Eine Abhandlung über die Prinzipien der menschlichen Erkenntnis, Meiner, Hamburg, 2004, S. 44. 578
Vgl. Berkeley, George: Versuch über eine Theorie des Sehens und die Theorie des Sehens oder der visuellen Sprache verteidigt und erklärt, Meiner, Hamburg, 1987. 579
Berkeley, George: Eine Abhandlung über die Prinzipien der menschlichen Erkenntnis, Meiner, Hamburg, 2004, S. 44. 580
Ebenda.
244
Lichts nach ist die Ausgangsinformation des Sehsinns zweidimensionaler Natur, der außenwirkliche Raum hingegen erscheint uns dreidimensional. Es wird also auf der Grundlage einer Zweidimensionalität eine Dreidimensionalität konstruiert. Doch mit der Konstruktion des dreidimensionalen Wahrnehmungsraums gelangt man bereits zum nächsten Problem des naiven Realismus: Es wird nämlich der Wahrnehmungsraum mit dem euklidischen Raum identifiziert, doch er ist nicht euklidisch, sondern sphärisch. Die euklidische Geometrie ist auf den phänomenalen Raum nicht anwendbar.581 Der Raum kann aber nicht zugleich sphärisch und euklidisch sein. Offenkundig schlägt auch dieser letzte Einwand des naiven Realisten fehl. Das ist nunmehr nicht weiter verwunderlich, denn die Probleme sind unvermeidbar, solange nicht eingesehen wird, dass das Wahrnehmungsimmanente, das für die Außenwirklichkeit gehalten wird, in Wahrheit aus Sinneseindrücken und deren Deutung besteht, und dass die Sinneseindrücke samt ihrer Deutung mentale Entitäten sind. Den objektiven Gegenständen gegenüber sind sie subjektive Erscheinungen. [...] Der objektive Gegenstand und das Wahrnehmungsgegebene sind zweierlei. Dieses gehört dem Bewusstsein an, jenes existiert unabhängig davon.582
Das eine ist nicht identisch mit dem anderen. Weder der Sinneseindruck noch die Wahrnehmung vermögen die Außenwirklichkeit, so wie sie an sich selbst beschaffen ist, ins Bewusstsein zu bringen. Die Wirklichkeit die in einem Bewusstsein vorliegt, ist daher aus erkenntnistheoretischer Sicht vollständig subjektiv. Sie existiert samt und sonders nur, solange die Voraussetzungen für ihr Zustandekommen erfüllt sind. Sind diese Voraussetzungen nicht mehr erfüllt, dann endet die Existenz dieser Wirklichkeit und nichts Bewusstseinsimmanentes bleibt in der Außenwelt zurück. Es gilt: Nichts Außenwirkliches ist bewusstseinswirklich, nichts 581
Für den phänomenalen Raum (Wahrnehmungsraum) gelten die Gesetzmäßigkeiten der Riemannschen Geometrie. Ein Beispiel: Man stelle sich ein schnurgerades Eisenbahngleis vor, das sich, vom Standpunkt des Betrachters aus gesehen, über eine große länge erstreckt. Der Betrachter nimmt nun, in einiger Entfernung, ein Konvergieren der beiden Schienen des Gleises wahr. Der euklidischen Geometrie nach kann es ein solches Konvergieren der Schienen (in der subjektunabhängigen Außenwirklichkeit) aber nicht geben - der Riemannschen Geometrie nach hingegen schon. 582
Kraft, Victor: Erkenntnislehre, Springer, Vienna, 1960, S. 264.
245
Physisches ist Psychisches, und nichts Objektives ist subjektiv. Bei jedem Versuch, die Verhältnisse anderes zu denken, beginnen die Schwierigkeiten von neuem. 6.2.6 Ein erkenntnistheoretischer Befund ontologischer Verhältnisse 583 Die Unhaltbarkeit des naiven Realismus führt zum epistemologischen Idealismus. Es lässt sich nämlich zusammenfassend folgender Befund ausstellen: Es ist nicht der Fall, dass die subjektunabhängige Außenwirklichkeit unmittelbar in der Wahrnehmung vorliegt. Wahrgenommene Gegenstände sind nicht identisch mit Gegenständen der subjektunabhängigen Außenwirklichkeit. Ein wahrgenommener Aspekt ist schlechthin verschieden von einem nicht wahrgenommenen Aspekt. Jeder einzelne Akt der Identifikation von Wahrnehmungsgegenständen mit Gegenständen der subjektunabhängigen Außenwirklichkeit impliziert einen erkenntnislogischen Fehler des erkennenden Subjekts, aufgrund dessen vollständig bewusstseinswirkliche Entitäten, für davon unabhängig existierende Entitäten der Außenwelt gehalten werden. Das aus philosophischer Sicht Paradoxe daran ist, dass dieser Fehler nicht bloß in der Theorie des naiven Realismus auftritt, sondern dass er die praktische Grundlage der Commonsensewirklichkeit bildet. Die gesamte Alltagswelt ist Prof. Reinhard Kleinknecht zufolge eine Fiktion, die praktisch notwendig und unausweichlich ist, aber philosophisch, d.h. theoretisch unhaltbar. Der gesamte Bereich dessen, den der naive Realismus ebenso wie der Commonsense und die meisten empirischen Wissenschaften für die subjektunabhängige Außenwirklichkeit halten, gehört in Wahrheit der Bewusstseinswirklichkeit an und ist keinesfalls unabhängig davon. Die vermeintlich objektive Außenwirklichkeit ist [vollständig] subjektiv. Eine Theorie, die zwischen bewusstseinstranszendenter Außenwelt und Bewusstseinswirklichkeit nicht unterscheidet, scheitert an den aufgezeigten Problemen. Aus dem Gesagten folgt: Wenn die wahrnehmungsimmanente Wirklichkeit, die für die physische Außenwirklichkeit gehalten wird, samt und sonders subjektiv ist, und wenn das Subjektabhängige nicht mit dem Subjektunabhängigen identisch ist, dann ist die subjektunabhängige 583
Vgl. Waß, Bernd: Die Reale Außenwelt und das Wirklichkeitsproblem, Universität Salzburg, 2009.
246
physische Außenwirklichkeit nicht wahrnehmbar. Das heißt: Die Wahrnehmung liefert uns - entgegen den Vorstellungen im naiven Realismus - keine unmittelbaren Erkenntnisse über die Wirklichkeit außerhalb davon. Vielmehr noch: Die Existenz einer subjektunabhängigen Außenwirklichkeit, wie sie im naiven Realismus gedacht wird, ist überhaupt unmöglich. Unter den gegebenen Voraussetzungen kann lediglich von einem Bewusstseinsmonismus die Rede sein, denn die Außenwirklichkeit des naiven Realismus existiert nicht in der von ihm erklärten Weise. 6.2.7 Fundamentale Konsequenzen für die Behandlung des psychophysischen Problems Nichts, was dem Wahrnehmungszusammenhang eines Subjekts angehört, gehört zu der vom Subjekt unabhängigen physischen Außenwirklichkeit. Oder anders formuliert: Nichts, was dem Wahrnehmungszusammenhang eines Subjekts angehört, ist identisch mit dem, was der physischen Außenwirklichkeit angehört. Jeder einzelne Akt der Identifikation von Wahrnehmungsgegenständen mit Gegenständen der subjektunabhängigen physischen Außenwirklichkeit ist ein erkenntnislogischer Fehler im Konstitutionsprozess der Alltagsrealität, der praktisch notwendig, theoretisch jedoch unhaltbar ist, und aufgrund dessen bewusstseinswirkliche Entitäten für davon unabhängig existierende Entitäten der Außenwelt gehalten werden. Der gesamte Bereich dessen, was wir üblicherweise für die Außenwirklichkeit halten, gehört in Wahrheit der Bewusstseinswirklichkeit an und ist nicht unabhängig davon. Die Existenz einer subjektunabhängigen Außenwelt, wie sie im naiven Realismus, mithin in der Alltagsrealität und auch in den meisten Wissenschaften gedacht wird, ist unhaltbar. Das ist eine fundamentale Wahrheit, die in jede Theorie zum psychophysischen Problem Eingang finden muss. Die Konsequenz daraus lautet: Wer das psychophysische Problem in den Wahrnehmungszusammenhang des Subjekts hineinverlegt, geht von falschen ontologischen Verhältnissen aus, denn er überträgt die Strukturen der Wahrnehmungs- bzw. der Bewusstseinswirklichkeit (d.i. Räumlichkeit, Zeitlichkeit, Gegenständlichkeit, Körperlichkeit und Attributbeladenheit) unbemerkt und zu Unrecht auf die Außenwirklichkeit. Damit sind aber gleichsam jene Verhältnisse gesetzt, die eine Lösung des
247
psychophysischen Problems sehr wahrscheinlich von vornherein unmöglich machen. Wenn die Außenwirklichkeit überhaupt als räumlich, zeitlich, gegenständlich, körperlich und attributbeladen gedacht werden kann, dann unter keinen Umständen in demselben Sinn, in dem uns diese Dinge aus unseren Wahrnehmungs- bzw. Bewusstseinszusammenhängen b e k a n n t s i n d . A n d e r s g e s a g t : We n n d i e S t r u k t u r e n d e r Bewusstseinswirklichkeit ihrem Grunde nach auch für die Außenwirklichkeit Geltung haben sollen, dann müssen sie prinzipiell anders gedacht werden. Es wurde ja gezeigt, dass das Außenwirkliche in jedem Fall von dem verschieden ist, was einem Wahrnehmungszusammenhang angehört. Zu guter Letzt darf aber auch nicht verschwiegen werden, dass aus dem Gesagten auch folgt, dass wir von einer Außenwelt genau genommen gar nicht mehr sprechen können. Denn wenn „es nicht etwa ein völlig apriorisches Prinzip gibt, nach welchem unbekannte Wesenheiten aus bekannten Wesenheiten zu erschließen sind“584, dann ist die Existenz einer bewusstseinstranszendenten Wirklichkeit nicht mehr dadurch zu begründen, dass wir auf Wahrnehmungsgegenstände verweisen. Wir gelangen nämlich vor dem Hintergrund der Widerlegung des naiven Realismus von den Gegenständen in der Wahrnehmung nicht mehr zu den Gegenständen außerhalb davon, und zwar weder auf logischem noch auf empirischem Weg. Logisch deshalb nicht, weil es das dafür notwendige apriorische Prinzip nicht gibt, und empirisch deshalb nicht, weil das Wahrnehmungsimmanente vom Wahrnehmungstranszendenten immer verschieden ist. Das ist in der Tat ein schwerwiegendes, erkenntnistheoretisches Problem.585
584
Russell, Bertrand: Unser Wissen von der Außenwelt, Meiner, Hamburg, 2004, S. 113. 585
Man kann zwar an dem Glauben festhalten, dass es eine Außenwirklichkeit gibt (es wurde ja nicht die Existenzthese widerlegt, sondern nur die Zugänglichkeitsthese), dennoch kommt man an der Begründung dieses Glaubens nicht vorbei. Die Frage, wie dies zu bewerkstelligen ist, ist eine Frage der Erkenntnis- bzw. Wirklichkeitstheorie. Sie muss uns aber hier nicht weiter beschäftigen. Vgl. Waß, Bernd: Die Reale Außenwelt und das Wirklichkeitsproblem, Universität Salzburg, 2009.
248
6.3 Die Ontologie des metaphysischen Dualismus Vom Standpunkt des letzten Abschnitts aus betrachtet, könnte man glauben, dass sich das Leib-Seele-Problem mit der Widerlegung des naiven Realismus auflöst, denn das, was für die physische Außenwirklichkeit gehalten wurde, ist nichts Physisches, sondern etwas Psychisches, und das Physische, zu dem ja das Psychische in Konflikt stehen soll, gibt es gar nicht. Doch dem steht entgegen, dass der Verzicht auf eine bewusstseinstranszendente physische Welt unfruchtbar ist - wir erinnern uns an die Analyse des Idealismus - , dass wir also einer extramentalen Welt bedürfen, um die Bewusstseinswelt verständlich zu machen, und dass diese Welt allem Anschein nach nicht selbst mentaler Natur sein kann, sondern physischer Natur sein muss. Anders formuliert: Wir benötigen in jedem Fall eine Ontologie des Wirklichen, in der nicht nur Bewusstsein, sprich Psychisches vorkommt, sondern auch eine bewusstseinstranszendente, mithin physische Realität. Und insofern ist der Glaube an eine Auflösung des Problems fehl am Platz. Nachdem nun aber klar ist, dass die Ontologie des naiven Realismus und mithin die Ontologie der Alltagsrealität einer differenzierten philosophischen Betrachtung nicht standhalten, stellt sich unweigerlich die Frage, wie eine Ontologie des Wirklichen auszusehen hat, die einerseits dafür geeignet ist, die aufgezeigten Schwierigkeiten zu beheben, die es aber andererseits erlaubt, den eigentlichen Grund des psychophysischen Problems aufzudecken. Eine Antwort soll die Ontologie des metaphysischen Dualismus geben, wie sie im Folgenden ausgearbeitet wird: 6.3.1 Die Ontologie der Gesamtwirklichkeit und die Metaphysik des Materiellen Wir haben es also mit folgendem Sachverhalt zu tun: Der gesamte Bereich dessen, was üblicherweise für die physische Wirklichkeit gehalten wird, gehört in Wahrheit der Bewusstseinswirklichkeit der Subjekte an. Eine bewusstseinstranszendente Außenwelt, so wie sie in der Alltagsrealität, im naiven Realismus und in den meisten empirischen Wissenschaften gedacht wird, gibt es nicht. Doch es wäre in der Tat falsch, daraus zu schließen, dass es gar keine »äußere« Wirklichkeit gibt. Auch wenn uns die
249
Wahrnehmung keine unmittelbaren Erkenntnisse über eine wahrnehmungstranszendente Wirklichkeit zu liefern vermag, sondern uns immer nur über wahrnehmungsimmanente Gegenstände Auskunft gibt, so müssen wir dennoch annehmen, dass eine solche Wirklichkeit existiert. Ein Bewusstseinsmonismus ist unfruchtbar. Alle Versuche die Gesamtwirklichkeit auf der Grundlage bewusstseinsimmanenter Entitäten zu konstituieren, sind bisher gescheitert. Die Annahme bewusstseinstranszendenter Entitäten ist daher unumgänglich. Einerseits bedürfen wir ihrer, um gewisse Vorgänge im Bewusstsein verständlich zu machen: Die Erlebniszusammenhänge als solche bilden ja noch keine einheitliche, zusammenhängende Welt. Erst die objektive Körperwelt gibt die Grundlage für diese. Die individuellen Zusammenhänge, die Bewußtseinsmonaden der verschiedenen Personen, stehen in keiner direkten Verbindung zueinander.586
Erst „durch eine objektive Körperwelt wird ein Bereich eingeführt, der für alle Erlebniszusammenhänge ein identischer ist und dadurch ein gemeinsamer“587 . Eine objektive, vom Bewusstsein unabhängige Wirklichkeit ist die Bedingung dafür, dass „sich ein geschlossener Ablauf des Geschehens, der tatsächlich stattfindet, konstruieren lässt“588 . Andererseits bedürfen wir ihrer, weil es für eine seriöse Philosophie unangemessen wäre, so zu tun, als wäre der Gegenstandsbereich der Physik bloße Fiktion. Entscheidend ist jedoch die Frage, wie diese Wirklichkeit aus ontologischer Sicht gedacht werden muss, damit sie tatsächlich als objektive, von allen Subjekten unabhängige und zwischen ihnen vermittelnde physische Entität gelten kann. Setzt man voraus, dass das bisher Gesagte gilt, so lässt sich diese Frage eindeutig beantworten: Die Wirklichkeit außerhalb des Bewusstseins, mithin diejenige Wirklichkeit, die wir gemeinhin mit dem Ausdruck ‘Außenwirklichkeit’ bezeichnen, muss als eine Wirklichkeit gedacht werden, die vom Standpunkt des wahrnehmenden Subjekts aus betrachtet - und einen anderen Standpunkt können wir gar nicht einnehmen - metaphysisch transzendent ist. Eine solche Wirklichkeit ist eine metaphysische
586
Kraft,Victor: Erkenntnislehre, Springer Verlag, Vienna, 1960, S. 301.
587
Ebenda.
588
a. a. O. S. 300.
250
Wirklichkeit 589 , und zwar in genau demselben Sinn, den die Definition der metaphysischen Transzendenz 590 verlangt: x ist metaphysisch transzendent für y gdw. gilt: x ≠ y und x liegt vollkommen außerhalb der sinnlichen Wahrnehmung von y. Die Entitäten durch welche sich die metaphysische Wirklichkeit konstituiert, nennt Moritz Schlick transzendente Dinge oder, mit Blick auf Kant, Dinge an sich. Transzendente Dinge oder Dinge an sich sind in der Ontologie des metaphysischen Dualismus (wie auch in der Ontologie des erkenntnistheoretischen Realismus591 ) metaphysisch transzendente
589
Anstatt von der Außenwirklichkeit ist also im metaphysischen Dualismus von einer metaphysischen Wirklichkeit die Rede. Es handelt sich hierbei allerdings nicht um eine Wirklichkeit, wie sie Gegenstand der speziellen Metaphysik, insbesondere der philosophischen Theologie ist, sondern um eine Wirklichkeit, die sich allein dadurch ergibt, dass das Strukturverhältnis der metaphysischen Transzendenz eingeführt wird (siehe nachfolgend). Zwar wäre es denkbar, dass die Wirklichkeit, von der die spezielle Metaphysik und insbesondere die philosophische Theologie handelt, mit der hier postulierten zusammenfällt, doch dies soll nicht Gegenstand der vorliegenden Untersuchungen sein. Im Sinne einer besseren Übereinstimmung mit dem Vokabular Schlicks, spreche ich anstatt von metaphysischer Wirklichkeit auch von transzendenter Realität, transzendenter Wirklichkeit oder extramentaler Wirklichkeit. 590
Die metaphysische Transzendenz ist, wenn man so will, die stärkste Form der sinnlichen Transzendenz. Sie markiert, im Gegensatz zur tatsächlichen Transzendenz (x liegt faktisch außerhalb der sinnlichen Wahrnehmung von y, aber nicht prinzipiell außerhalb davon; Die Wahrnehmung des Erdmittelpunkts etwa ist faktisch unmöglich, weil die dafür notwendige Technologie nicht zur Verfügung steht, doch grundsätzlich könnte der Erdmittelpunkt wahrgenommen werden) oder zur prinzipiellen Transzendenz (x liegt prinzipiell außerhalb der sinnlichen Wahrnehmung von y, aber nicht vollkommen außerhalb davon, etwa die Wahrnehmung eines Magnetfeldes) den Punkt der absoluten, mithin unüberwindbaren Transzendenz (x liegt vollkommen außerhalb der sinnlichen Wahrnehmung von y und nicht nur faktisch oder prinzipiell außerhalb davon, etwa Gott). 591
Die Position, die Moritz Schlick in der allgemeinen Erkenntnislehre vertritt, wird häufig als erkenntnistheoretischer Realismus (oder auch metaphysischer Realismus) bezeichnet.
251
Dinge. 592 Für sie gilt gleichfalls die Definition der metaphysischen Transzendenz. Daraus ergibt sich ein grundlegendes Prinzip: Im metaphysischen Dualismus gilt strikt: Nichts, was dem Zusammenhang eines Bewusstseins angehört, gehört dem Zusammenhang der metaphysischen Wirklichkeit an, und nichts, was dem Zusammenhang der metaphysischen Wirklichkeit angehört, gehört dem Zusammenhang eines Bewusstseins an. Das heißt: Bewusstseinswirklichkeit und metaphysische Wirklichkeit gehören zwar ein und derselben Gesamtwirklichkeit an, doch sie sind ontologisch insofern verschieden, als es weder ein „»Hinüberwandern« der transzendenten Gegenstände ins Bewußtsein“593 geben kann, denn „das jenseits des Bewußtseins Befindliche kann nicht in ihm noch einmal unverändert wiederholt werden“594 , noch dass irgendeine bewusste Qualität außerhalb des Bewusstseins und dennoch wesensgleich existiert.595 Nur auf diese Weise lassen sich die Probleme vermeiden, in die man gerät, sobald man das Wahrnehmungstranszendente für wahrnehmungsimmanent erklärt. Wäre etwas anderes denkbar, so wäre die These des naiven Realismus, wonach die Außenwirklichkeit unmittelbar in der Wahrnehmung vorliegt, und die Wahrnehmungseigenschaften der Dinge den Dingen an sich selbst zukommen, unproblematisch. Dass diese These aber unhaltbar ist, haben wir bereits gesehen. Damit ergeben sich sowohl für den Bereich des Mentalen als auch für den Bereich des Extramentalen grundlegende Strukturen: Auf der einen Seite gilt für alle kognitiven Subjekte, dass ihre je eigene Bewusstseinswirklichkeit eine ontologische Singularität ist. Eine Leibnizsche Monade sozusagen, die nicht identisch ist mit der Wirklichkeit außerhalb davon, d.h. nicht identisch mit der metaphysischen Wirklichkeit und nicht identisch mit der
592
Aus Gründen der einfacheren Lesbarkeit und der besseren Übereinstimmung mit dem Vokabular Schlicks, spreche ich im weiterem statt von metaphysischer Transzendenz auch nur von Transzendenz. Gemeint ist aber stets metaphysische Transzendenz. In uneindeutigen Fällen gebe ich einen klärenden Hinweis. 593
Schlick, Moritz: Allgemeine Erkenntnislehre, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1979, S. 304. 594
a. a. O. S. 303.
595
Ebenda.
252
Wirklichkeit eines anderen Bewusstseins.596 Auf der anderen Seite ist erst durch die Einführung der metaphysischen Wirklichkeit eine Wirklichkeit eingeführt, die für alle Subjekte und deren Erlebniszusammenhänge als objektive, identische und dadurch als eine gemeinsame gelten kann. Wir haben uns längst davon überzeugt, dass die Rolle einer solchen identischen Wirklichkeit nicht von den Wahrnehmungsgegenständen übernommen werden kann, weil diese „für verschiedene Individuen eben niemals dieselben sind [...]“597 . Das war eine durch Physiologie und Physik festgestellte Tatsache, und durch sie wird es schlechthin unmöglich gemacht, die Sinnesqualitäten (rot, warm, laut, usw.) als Eigenschaften der Dinge an sich anzusehen. [...] Der naive Realismus, der eben dies unbesehen tut und jene Qualitäten den Objekten an sich beilegt, führt zu Widersprüchen, denn er muß von einem und demselben Dinge Bestimmungen aussagen, die miteinander unverträglich sind; er muß z.B. denselben Körper für rot und nichtrot, für kalt und nichtkalt erklären. So wird er als unhaltbar erkannt und muß der Einsicht in die Subjektivität der Sinnesqualitäten Platz machen.598
Mit der Einführung der metaphysischen Wirklichkeit ist aber nicht nur die eine, allen Subjekten als gemeinsame Grundlage dienende, sie miteinander verbindende und schlechthin subjektunabhängige Wirklichkeit eingeführt, „auf welche Worte und Begriffe der miteinander verkehrenden Menschen
596
Die Zuschreibung fremden Bewusstseins kann nur hypothetisch geschehen. Das Bewusstsein ist ja kein Teil der metaphysischen Außenwirklichkeit und insofern gibt es auch keine unmittelbaren Repräsentanten für fremde Bewusstseinsvorgänge in meinem Bewusstsein. Man spricht in diesem Kontext auch vom Problem des Fremdpsychischen. Die Behauptung, dass ein Bewusstsein nicht mit einem anderen identisch ist, ist aber unbestreitbar. Wäre etwa mein Bewusstsein mit dem meines Freundes Heinz identisch, so würde es sich ja nur um ein Bewusstsein handeln und nicht um zwei. Sobald man also annimmt, dass es nicht nur ein einziges Bewusstsein gibt, sondern mindestens noch ein anderes Bewusstseins, muss man annehmen, dass sie voneinander verschieden sind. 597
Schlick, Moritz: Allgemeine Erkenntnislehre, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1979, S. 298. 598
Ebenda. (Vgl. 6.3.3, Die Ontologie der Sinnesqualitäten.)
253
sich beziehen“599 , sondern es kann nun auch der Gegenstandsbereich der empirischen Wissenschaften, jedenfalls jener der Physik, an die richtige Stelle gerückt werden. Er fällt nämlich mit dem Bereich des Metaphysischen zusammen. Das ist eine Erkenntnis von fundamentalem Wert, die Moritz Schlick in der Allgemeinen Erkenntnislehre so formuliert: „Der Physiker kann [...] den Gegenstand seiner Wissenschaft nicht anders definieren, als der Philosoph sein Ding an sich.“600 Dinge an sich, soviel ist absolut sicher, sind für Schlick metaphysische Dinge, denn sie können seiner Theorie zufolge keinem anderen Bereich des Wirklichen angehören als dem metaphysischen. Das Physische ist also zugleich das Metaphysische, in unserem Sinn des Wortes. Und in demselben Sinn kann man auch von der Metaphysik des Materiellen sprechen, denn die Physik muss sich für die Beschreibung der gemeinhin als materiell aufgefassten Wirklichkeit unumgänglich auf die metaphysische Wirklichkeit beziehen, wenn die Wahrheit ihrer Aussagen über eine bloß subjektive Bedeutung hinausgehen soll. Das leuchtet mit aller Klarheit ein, denn die Wissenschaft will ja allgemeine Gesetzmäßigkeiten formulieren, nicht solche, die bloß für einen einzelnen Erlebniszusammenhang, für ein einzelnes Bewusstsein, Gültigkeit beanspruchen können. Der Preis für diese Allgemeingültigkeit ist die unaufhebbare und für die Wahrnehmung gleichsam unüberwindliche Grenze zwischen dem Bereich der Erlebniszusammenhänge und dem Bereich außerhalb davon. 601 Ich werde etwas später noch einmal darauf zurückkommen. Doch welcher Natur ist nun die metaphysische Realität ontologisch gesehen? Zunächst ist mit Moritz Schlick zu sagen, dass es sich hierbei nicht um einen verborgenen Träger von Eigenschaften handelt, nicht um
599
Schlick, Moritz: Allgemeine Erkenntnislehre, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1979, S. 298. 600 601
a. a. S. 294 f.
Damit soll nicht der Eindruck erweckt werden, dass die metaphysisch transzendente Realität gar nicht erkennbar ist. Schlick und Kraft vertreten die Auffassung, dass die metaphysisch transzendente Realität jedenfalls mit Hilfe begrifflicher Systeme erkennbar ist. Vgl. Schlick, Moritz: Allgemeine Erkenntnislehre, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1979. Vgl. Kraft,Victor: Erkenntnislehre, Springer Verlag, Vienna, 1960.
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„ein »Absolutes« in irgendeinem [...] Sinne“602. Es wird weder Platons Welt der Ideen noch Kants Ding an sich postuliert. 603 Ebensowenig darf „das an sich Existierende irgendwie dinghaft, substanziell gedacht werden [...]“604 . Wir dürfen nämlich die gegenständlich und materiell anmutenden Entitäten, wie sie uns in Erlebniszusammenhängen gegenwärtig sind, nicht ohne weiteres auch für die transzendente Wirklichkeit annehmen. Diese Wirklichkeit „kann vielmehr z.B. ebensogut den Charakter eines Prozesses, eines Geschehens tragen“605 . Der Schlickschen Metaphysik nach kann man die Gesamtwirklichkeit als einen Verband von Qualitäten beschreiben: Das Universum stellt sich uns dar als eine unendliche Mannigfaltigkeit von Qualitäten. Diejenigen von ihnen, die dem Zusammenhang eines Bewußtseins angehören, bezeichnen wir als subjektiv; sie sind das Gegebene und Bekannte. Ihnen stehen die objektiven als nicht gegeben und nicht bekannt gegenüber.“606
Letztere sind die Qualitäten, welche die metaphysische Wirklichkeit konstituieren. Aber „was sind Qualitäten? Nach Schlick sind es keine Universalien, er sieht den Universalien-Realismus als eine ebenso unhaltbare Metaphysik an wie die aristotelische Lehre von Substanzen“607 . Qualitäten sind irgendwelche individuellen Entitäten, »Objekte«, die an „bestimmten Raum-Zeit-Stellen existieren“.608 Die objektive Qualität Q z.B., die dem erscheinenden Gelb (subjektive Qualität) koordiniert ist, existiert dort, wo sich diese Entität an einer transzendenten Raum-Zeit-
Schlick, Moritz: Allgemeine Erkenntnislehre, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1979, S. 225. 602
603
Auch wenn zur Bezeichnung der metaphysisch transzendenten Dinge in Ermangelung eines besseren Ausdrucks der von Kant geprägte Ausdruck ‘Ding an sich’ verwendet wird, handelt es sich doch nicht um denselben theoretischen Zusammenhang. 604
Schlick, Moritz: Allgemeine Erkenntnislehre, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1979, S. 225. 605
Ebenda.
606
a. a. O. S. 324.
607
Gadenne, Volker: Wirklichkeit, Bewusstsein und Erkenntnis, Ingo Koch Verlag, Rostock, 2003, S. 37. 608
Ebenda.
255
Stelle befindet.609 Darüber hinaus muss angenommen werden, dass die metaphysische Wirklichkeit unabhängig von unserem Bewusstsein eine bestimmte kategoriale Struktur aufweist, d.h., es gibt dort Relationen und Tatsachen. Viel mehr lässt sich aber hier nicht sagen. Einerseits weil das, was über die allgemeinsten Strukturen und Kategorien des Wirklichen hinausgeht, nicht mehr Thema der Ontologie ist; andererseits weil es höchst fraglich ist, ob die Ausdrücke, die uns für die Beschreibung von Erlebniszusammenhängen dienen, für die Beschreibung der metaphysischen Wirklichkeit brauchbar sind. 610 Was also die metaphysische Wirklichkeit, oder ein transzendentes Objekt oder eine transzendente Qualität, außerdem noch ist, das muss die Physik klären. Sie verfügt über die quantitativen Denkmittel, deren es sich hierfür zu bedienen gilt. 6.3.2 Die Ontologie von Zeit und Raum Auch im metaphysischen Dualismus gilt: Alles was ist, ist zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort. Das gilt natürlich nicht nur für den Bereich der unmittelbar gegebenen Bewusstseinswelt, sondern auch für den Bereich außerhalb davon. Es musste ja nicht nur der Bereich des Bewusstseinswirklichen für wirklich erklärt werden, sondern unverzichtbar auch der Bereich der außerbewussten Wirklichkeit. Daraus scheint aber zu folgen, dass die Entitäten der metaphysischen Realität in demselben Sinn zeitlich sind wie die Entitäten der Bewusstseinswirklichkeit. „Ähnliches scheint auch von der Räumlichkeit gelten zu müssen, weil doch bei Naturobjekten Zeit und Raumbestimmungen immer Hand in Hand gehen [...].“611 Das bedeutet
609
Vgl. Gadenne, Volker: Wirklichkeit, Bewusstsein und Erkenntnis, Ingo Koch Verlag, Rostock, 2003. 610
Vgl. Schlick, Moritz: Allgemeine Erkenntnislehre, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1979. 611
Schlick, Moritz: Allgemeine Erkenntnislehre, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1979, S. 276.
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aber, dass in Anwendung des klassischen Raum-Zeit-Konzepts612, und ein anderes liegt im Moment noch nicht vor, aus dem Gesagten folgt, dass alle Gegenstände der Gesamtwirklichkeit in einem objektiven Raum und einer objektiven Zeit ausgedehnt sind. Doch mit diesem Schluss, befindet man sich im naiven Realismus. Selbstredend, dass dies für den metaphysischen Dualismus vollkommen inakzeptabel ist und darüber hinaus auch mit der „seit Kant so weithin anerkannten Lehre von der Subjektivität des Raums und der Zeit“613 unvereinbar wäre. Beides sind ja „nach dieser Lehre bloße Formen unserer Anschauung, die den Dingen an sich selbst nicht z u k o m m e n “614 . A n d i e s e r S t e l l e s e i e r w ä h n t , d a s s d i e transzendentalphilosophischen Überlegungen Immanuel Kants weder im naiven Realismus noch in der Leib-Seele-Debatte hinreichend berücksichtigt werden, was philosophisch unbefriedigend ist. Der metaphysische Dualist muss daher ein Raum-Zeit-Konzept vorlegen, das es ihm erlaubt, zwischen Raum und Zeit in metaphysischer, also objektiver, und Raum und Zeit in bewusstseinswirklicher, also subjektiver, Hinsicht zu unterscheiden. Das ist ein weiterer wichtiger Schritt, um den Bereich des Mentalen und jenen des Extramentalen als Bereiche in ein und derselben Wirklichkeit theoretisch befriedigend erfassen zu können. 6.3.2.1 Die Ontologie der Zeit Für eine brauchbare Zeit-Ontologie müssen wir explizit zwischen der subjektiv erlebten Zeit, also der Zeit der Bewusstseinswirklichkeit, der Erlebniszusammenhänge einerseits, und andrerseits der objektiven Zeit, also der Zeit der begrifflichen Ordnung „vom Typus des eindimensionalen
612
Dem klassischen Raum-Zeit-Konzept nach, ist der Raum objektiv, einzig und dreidimensional und die Zeit objektiv, einzig und eindimensional. Vgl. 3.4.3, Der Raum. Vgl. 3.4.4 Die Zeit. 613
Schlick, Moritz: Allgemeine Erkenntnislehre, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1979, S. 276. 614
Ebenda.
257
Kontinuums, durch welche ja die Zeitreihe bei exakter Beschreibung bezeichnet wird“615 , unterscheiden: Es sind nämlich wohl auseinander zu halten das subjektive Erlebnis der zeitlichen Sukzession und die objektive Zeitbestimmung. Das erste ist ein unmittelbar Gegebenes, Anschauliches, die letztere ist eine rein begriffliche Ordnung. Das undefinierbare, unbeschreibliche Erlebnis des Nacheinander und der Dauer, dieses qualitative wechselvolle Moment, gibt keine objektive Bestimmung der Abstände in der Reihenfolge von Ereignissen.616
Wir haben es also auf der einen Seite mit der erlebten, der anschaulichen Zeit zu tun, auf der anderen Seite mit der Zeit als einem begrifflichen Ordnungsschema. Dieses kann im Gegensatz zu jenem objektiv gennant werden, weil es eben bloß begrifflicher Natur ist. Es ist nach Schlick eine eindimensionale Mannigfaltigkeit, in welcher, „nachdem Ausgangspunkt und Bezugssystem gewählt sind, jedem Vorgang“617 im Bewusstsein „eine zahlenmäßige (durch Datum, Stunde, Sekunde usw.) bestimmte Stelle korrespondiert“618 . Mit ihr ist also jene Zeit eingeführt, die aufgrund ihrer abstrakten, weil begrifflichen Natur für die objektive zeitliche Ordnung von Erlebnissen ohne weiteres geeignet ist. Fragt man darüber hinaus „ob die Zeit [...,] als eine begriffliche Ordnung, etwas Objektives, auch in der extramentalen Wirklichkeit Geltendes sei, oder ob sie nur subjektiven Sinn habe, so kann eine Antwort nicht zweifelhaft sein“619 . „Denn zweifellos bezieht sich die zeitliche Ordnung auf die transzendenten Dinge ebensogut wie auf die Bewusstseinsinhalte; ihre rein begriffliche Natur befähigt sie dazu.“620 Halten wir also fest: Das abstrakte, begriffliche Ordnungsschema ‘Zeit’ ist objektiv, und zwar insofern als es der Objektivierung sowohl der Abläufe in der transzendenten Welt wie auch jener in der Bewusstseinswirklichkeit dient. Die erlebte Zeit hingegen, das qualitative, 615
Schlick, Moritz: Allgemeine Erkenntnislehre, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1979, S. 277. 616
a. a. O. S. 276.
617
a. a. O. S. 277.
618
Ebenda.
619
a. a. O. S. 279.
620
Ebenda.
258
unbeschreibliche und nicht definierbare Moment des Nacheinander, ist gänzlich subjektiv. Sie gehört zum phänomenalen Gehalt des Mentalen und hat kein objektives Moment. So weit so gut; doch hieraus ergeben sich nach Schlick zwei fundamentale philosophische Fragen, die unbedingt einer Klärung bedürfen: Existieren Dauer und Aufeinanderfolge im Reiche der Dinge an sich als ebendasselbe, als was wir sie im Bewußtsein erleben? Oder ist das transzendente Korrelat des zeitlichen Nacheinander nur eine unanschauliche Ordnung, die wir zwar mit Hilfe unserer Begriffe erschöpfend erkennen können, die aber mit der uns bekannten[621] Ordnung der Erlebnisse nicht identifiziert und verwechselt werden darf? 622
Die bereits gewonnen Erkenntnisse mit einbezogen ist die erste Frage mit Nein, die zweite mit Ja zu beantworten. Zunächst zu ersten Frage: Für die transzendente Wirklichkeit gilt ganz prinzipiell, dass sie keine Elemente der anschaulichen, d.h. der erlebten Zeit enthalten kann. Wir haben ja gesehen, dass das, was einem Bewusstsein angehört, nicht auch der transzendenten Wirklichkeit angehören kann. Es wäre also nicht nur unplausibel, Bekanntschaft mit der transzendenten Welt vorauszusetzen, wenn „uns diese doch prinzipiell unbekannt bleiben muß“623 , sondern es hätte gleichsam den Zusammenbruch des metaphysischen Dualismus zur Folge. Die Identifikation von wahrnehmungsimmanenten Entitäten mit wahrnehmungstranszendenten Entitäten haben wir ja als unhaltbar erwiesen. Ohne Zweifel, die transzendente Zeit ist ein Gebilde, das mit seinem anschaulichen und subjektiven Pendant nichts gemeinsam hat. Nun zur zweiten Frage: Über die bloß strukturelle Subjektivität der anschaulichen, also erlebten Zeit hinaus kann für ihre Subjektivität Folgendes geltend gemacht werden: 621
Anmerkung: Schlick unterscheidet explizit zwischen Be-kanntschaft und er-kennen. Während wir kraft unserer Begriffe imstande sind, Erkenntnisse über die Dinge zu gewinnen (sowohl über die Dinge an sich als auch über die Dinge im Bewusstseinszusammenhang), ist uns Bekanntschaft mit den Dingen nur dort möglich, wo diese unseren je eigenen Bewusstseinszusammenhängen angehören. (Vgl. Schlick, Moritz: Allgemeine Erkenntnislehre, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1979) 622
Schlick, Moritz: Allgemeine Erkenntnislehre, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1979, S. 280. 623
Ebenda.
259 Vorgänge denen objektiv gleiche Dauer zugeschrieben wird, können sich doch mit verschiedenen Zeitlichkeitserlebnissen verbinden; eine Stunde schleicht träge dahin oder saust im Fluge vorbei, je nachdem, ob sie mit langweiligem oder mit interessantem Inhalt gefüllt ist. Im Prinzip besteht keine Grenze für die Variabilität der Geschwindigkeit, welche ein Bewußtsein vermöge seiner verschiedenen Zeitanschauungen dem Ablauf der Vorgänge subjektiv zuschreibt.624
Besonders anschaulich hat der Naturwissenschaftler Karl Ernst von Baer die Verschiedenheit „der Weltbilder ausgemalt, die sich für ein Wesen ergeben, je nachdem ob sich bei ihm eine große Mannigfaltigkeit von Erlebnissen auf einen für uns kurzen Zeitraum zusammendrängen, oder umgekehrt ein erlebnisarmes Dasein eine »lange« Zeitdauer in Anspruch nimmt“625 : Drängte sich etwa unser ganzes Leben, ohne doch subjektiv kürzer zu erscheinen, auf eine halbe Stunde zusammen, so würden die Pflanzen für uns so unveränderlich sein wie jetzt die Berge, der Lauf der Jahreszeiten wäre unseren fernsten geologischen Epochen vergleichbar; und wer den Untergang der Sonne erlebte, dem würden nur die Geschichtsbücher längst vergangener Zeiten verkünden, daß sie einst auch aufging. [...] Wenn also ein und dieselbe objektive Zeit auf so viele verschiedene Weisen erlebt werden kann - welche soll dann als transzendent real gelten: unsere Zeitanschauung oder etwa die eines Vogels, dessen Pulsschlag so viel schneller ist als der menschliche, oder die einer Eintagsfliege, oder die eines Wesens, »vor dem tausend Jahre sind wie ein Tag«? Keine ist vor der andern ausgezeichnet, und es wird ganz unmöglich, irgendeinem anschaulichen Zeiterlebnis eine andere als subjektive Bedeutung zuzuschreiben. Ein objektiver Verlauf der Vorgänge dürfte weder schnell noch langsam sein; diese relativen Begriffe müssten für ihn ihren Sinn verlieren. Deshalb kann er überhaupt nicht zeitlich im anschaulichen Sinne sein, sondern die transzendente Ordnung, in welcher er besteht, ist unvorstellbar. Für die erlebte Zeit gilt, daß in ihr jeweils ein Moment vor allen übrigen ausgezeichnet ist: der »Jetzt«-Moment der Gegenwart. Nur das gegenwärtig Erlebte pflegen wir wirklich zu nennen; das Vergangene ist es nicht mehr, das Zukünftige noch nicht. Wir müssen annehmen, daß eine derartige Bevorzugung eines Zeitpunkts vor allen übrigen für die transzendente Welt keinen Sinn hat, daß in ihr 624
Schlick, Moritz: Allgemeine Erkenntnislehre, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1979, S. 280. 625
Ebenda.
260 vergangene und zukünftige Wirklichkeiten auf das Prädikat der Realität in gleichem Sinne Anspruch haben wie die Gegenwart - oder vielmehr, daß der Unterschied dieser drei Tempora überhaupt kein absoluter, objektiv vorhandener ist.626
Fassen wir zusammen: Die Zeit als anschauliche und unmittelbar erlebte Qualität hat ausschließlich subjektiven, phänomenalen Charakter. Sie kommt der metaphysisch transzendenten Wirklichkeit nicht zu. Die Zeit als abstraktes, begriffliches, eindimensionales Kontinuum hingegen „hat in ihrer Zuordnung zur Welt der Dinge an sich in demselben Sinne objektive Bedeutung wie jede andere Bezeichnung durch Begriffe“627 . Mit dieser Einsicht ist aber eine These von enormer Tragweite eingeführt, deren philosophische Bedeutung weit über den metaphysischen Dualismus hinausgeht und die weder in der Alltagsrealität noch im naiven Realismus und ebensowenig im Leib-Seele-Problem hinreichend beachtet wird: Die transzendente, die metaphysische Wirklichkeit, also diejenige Wirklichkeit, die wir aus guten Gründen einzig als Außenwirklichkeit bezeichnen dürfen, ist im Sinne der anschaulichen Zeit zeitlos. 6.3.2.2 Die Ontologie des Raums 628 Vieles von dem, was für die Zeit gilt, kann analog auch vom Raum ausgesagt werden. Wie schon im Fall der Zeit muss auch im Fall des Raums ganz prinzipiell zwischen dem anschaulichen und erlebten Raum einerseits und der Raumordnung als einem abstrakten begrifflichen Ordnungsschema andererseits unterschieden werden. Lediglich die Dimensionen ändern sich. Wurde die Zeit noch als eindimensionales Kontinuum aufgefasst, so ist der Raum ein dreidimensionales. „Hieraus folgt nun genau wie im Falle der Zeit: wenn wir einen Gegenstand in das geschilderte dreidimensionale Bezugssystem einordnen, so ist damit noch nicht gesagt, daß ihm anschauliche Räumlichkeit zugeschrieben werden
626
Schlick, Moritz: Allgemeine Erkenntnislehre, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1979, S. 280 f. 627 628
a. a. O. S. 283.
Vgl. Waß, Bernd: Die Reale Außenwelt und das Wirklichkeitsproblem, Universität Salzburg, 2009.
261
muß [...].“629 Die Frage, „ob dies geschehen kann oder nicht, bleibt vollständig offen“630 . Ihre Beantwortung ist aber unumgänglich, denn der Raum ist letztlich mit der Zeit untrennbar »verwoben«. Ist also Räumlichkeit tatsächlich etwas, das, „wie Kant es wollte, nur unseren sinnlichen Vorstellungen zukommt, die ja zur gegebenen Wirklichkeit gehören, daß sie aber keine Eigenschaft der transzendenten, d.h. nicht gegebenen Wirklichkeit sind“631 ? Wir wollen also wissen: „Kommt das spezifisch Räumliche am Raum, also der anschauliche Inhalt, wodurch jenes dreidimensionale Kontinuum erst zum Raum wird, auch den transzendenten Gegenständen zu?“632 Oder anders gefragt: Befinden sich die transzendenten Objekte „in dem Wahrnehmungsraume unseres Anschauens? Existieren die anschaulich-räumlichen Verhältnisse auch unabhängig von ihrem Angeschautwerden“633? Die Durchdringung dieser Fragen ist nicht nur ein Schlüssel zum Verständnis des metaphysischen Dualismus, sondern auch ein unverzichtbarer Bestandteil in der Aufklärung jener ontologischen Verhältnisse, die für die Betrachtung des psychophysischen Problems allein die einzigen sind, die vorausgesetzt werden dürfen. Zunächst sind wir, wie schon bei der Zeit, aufgrund der vorgegebenen theoretischen Bedingungen grundsätzlich nicht dazu berechtigt, „den Dingen an sich ein Dasein im Raume zuzuschreiben, wenn dieses Wort Anschauliches bedeutet [...]“634 . Die anschauliche Welt der Bewusstseinszusammenhänge ist subjektiver Natur, als ontologisches Substrat einer objektiven Welt ist sie unbrauchbar. Ein Philosoph, der jene Unterscheidung nicht macht „und also im Raume die Sonderung zwischen dem begrifflichen Ordnungstypus und dem anschaulichen Vorstellbaren nicht vollzieht“635 , der gelangt unversehens zu der Behauptung der 629
Schlick, Moritz: Allgemeine Erkenntnislehre, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1979, S. 284. 630
Ebenda.
631
Ebenda.
632
a. a. O. S. 286.
633
Ebenda.
634
a. a. O. S. 284.
635
a. a. O. S. 285.
262
transzendenten Realität des anschaulichen Raums. So verhält es sich dann auch in den meisten philosophischen Betrachtungen, und außerhalb der Philosophie in den meisten empirischen Wissenschaften, und es geschieht im Konstitutionsprozess der Alltagsrealität: Der anschauliche Raum, also der Wahrnehmungsraum, und eo ipso die anschauliche Zeit werden unbemerkt für objektive Raum- und Zeitverhältnisse der Außenwirklichkeit gehalten. Und dies wiederum führt bei genauerer Ansicht zu unüberwindbaren philosophischen Problemen.636 Es lassen sich aber auch noch andere Gründe aufzeigen, die gegen die Objektivität des Wahrnehmungsraums sprechen: Die Ordnung der Dinge an sich ist von der anschaulich-räumlichen Ordnung unserer Empfindungen nicht bloß numerisch, sondern wesentlich verschieden; die transzendenten Gegenstände können nicht im Anschauungsraum lokalisiert werden. Denn die objektive Ordnung ist nur eine, der Wahrnehmungsräume aber gibt es mehrere, viele, und keiner von ihnen hat unmittelbare Eigenschaften, die ihn zum alleinigen Träger jener Ordnung stempelten.637
Auch hierin wird der Unterschied zur herkömmlichen, naiven Betrachtungsweise deutlich. Der Wahrnehmungsraum ist nicht ein einziger, sondern es gibt im Gegenteil mehrere Wahrnehmungsräume, denn es lässt sich jedenfalls ein Sehraum, ein Hör- und Tastraum, ein sensomotorischer Raum und ein Geschmacksraum aufweisen. Doch alle diese Räume besitzen untereinander keine anschauliche Gemeinsamkeit. Es ist nichts in ihnen, das als ihr gemeinsames Einziges auszuzeichnen wäre und das sie zu einer objektiven Größe machen könnte. Wenn ich die Gestalt meines Bleistiftes visuell erschaue, so ist das Erlebnis, das ich dabei habe, unvergleichlich verschieden von dem Erlebnis, wenn ich »dieselbe« Gestalt ertaste. Es gibt keine Qualität, die beiden gemeinsam und als die eigentlich räumliche aus beiden auszusondern wäre.638
Eine Vielheit der Räume kann aber für die transzendente Wirklichkeit nicht angesetzt werden, denn das Objektive ist stets nur ein einziges gegenüber der Vielheit des Subjektiven. Gerade dadurch zeichnet es sich ja aus. Aus 636
Vgl. 6.2, Die Widerlegung des naiven Realismus und die fundamentalen Konsequenzen für das psychophysische Problem. 637
Schlick, Moritz: Allgemeine Erkenntnislehre, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1979, S. 287. 638
Ebenda.
263
dem Gesagten folgt: Der Wahrnehmungsraum ist schlechthin subjektiv. Wer ihn für den Raum der transzendenten Wirklichkeit hält, der gerät in die bereits bekannten Probleme. Eine Möglichkeit, das räumlich Anschauliche für „objektiv real zu erklären, würde gegeben sein, wenn man einen Sinn auswählen und seine Daten auf die transzendente Welt übertragen könnte und die Subjektivität der übrigen zugestände“639 . Dafür müsste man allerdings voraussetzen, dass es irgendein Prinzip gibt, wodurch ein ganz bestimmter Wahrnehmungssinn eben als der besondere, der »auserwählte«, auszuzeichnen wäre. Ein solches Prinzip gibt es aber nicht, und selbst, wenn es eines gäbe, wäre die These vom objektiven Wahrnehmungsraum dennoch unhaltbar: Betrachten wir, um uns davon zu überzeugen, etwa die Struktur des Gesichtsraums, und zwar zunächst eines einzigen, um seinen Mittelpunkt drehbaren, sonst aber ruhenden Auges. Sind uns in diesem Raume alle die Eigenschaften anschaulich gegeben, mit denen wir die objektive Ordnung der Dinge begrifflich ausstatten? Ist mit anderen Worten unser optischer Raum zugleich der physikalische? Man weiß, daß dies ganz und gar nicht der Fall ist. Wir bezeichnen zwei Strecken unter Umständen als objektiv gleich, obwohl sie anschaulich vollständig verschieden sind... wenn nämlich die eine etwa sich in größerer Entfernung befindet als die andere. Für den optischen Raum laufen bekanntlich alle geraden Linien, gehörig verlängert, in sich zurück (z.B. die Linie des Horizonts), und alle parallelen Geraden schneiden sich aus Gründen der Perspektive in einem Punkt des Gesichtsfeldes. Wende ich den Blick zur Decke des Zimmers, so ist für das Auge jede ihrer Winkel größer als ein rechter, die Winkelsumme des Rechtecks also größer als vier Rechte. Ebenso ist, wenn ich die Zeichnung eines beliebigen Dreiecks ansehe, seine Winkelsumme wegen der perspektivischen Verzerrung stets größer als zwei Rechte, umso mehr je größer das Dreieck. Kurz: der beschriebene optische Raum ist keineswegs der Euklidische, in den wir die physikalischen Gegenstände einordnen, sondern ein sphärischer, in ihm gilt die sogenannte Riemannsche Geometrie, nicht die gewöhnliche Euklidische.640
Analoge Betrachtungen ließen sich auch für alle anderen Wahrnehmungsräume und den darin herrschenden Gesetzmäßigkeiten durchführen, und für keinen dieser Räume würde die Annahme haltbar 639
Schlick, Moritz: Allgemeine Erkenntnislehre, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1979, S. 291. 640
Ebenda.
264
sein, er gehöre der transzendenten Wirklichkeit an, sondern jeder von ihnen ist etwas vollkommen Subjektives. Subjektives aber gehört zum Bereich des Mentalen, zum Bereich der Bewusstseinswirklichkeit, nicht zum Bereich des Extramentalen, des Transzendenten, des Metaphysischen. Fassen wir die gewonnen Erkenntnisse zusammen, „so müssen wir sagen, [...] daß der physikalische Raum, also die räumlichen Eigenschaften der physikalischen Körper, überhaupt nicht anschaulich vorstellbar sind“641 . Das heißt: Die räumlichen Eigenschaften der Vorstellungsinhalte sind nicht identisch mit denen der physischen Objekte. Die Wahrnehmung, welchem Sinn sie auch angehöre, vermag immer nur den Grund zu liefern, auf dem das begriffliche Gebäude jenes Raums errichtet wird. Es ist von fundamentaler Wichtigkeit, sich darüber klar zu sein, daß jener physische Raum zugleich der metaphysische ist.642
Summa summarum: Die physische Wirklichkeit fällt mit der metaphysischen zusammen. Ich habe bereits an anderer Stelle davon gesprochen, dass es sich hierbei um eine Einsicht handelt, deren Tragweite kaum abzuschätzen ist. Moritz Schlicks Ausführungen hierzu sind von so großer philosophischer Tiefe, dass damit weit über die Untersuchungen im Rahmen des metaphysischen Dualismus hinaus einer der fundamentalsten epistemologischen Irrtümer überhaupt aufgedeckt ist.643 Und zwar nicht nur in der Philosophie, etwa im Hinblick auf den naiven Realismus oder bestimmte Theorien zum Leib-Seele-Problem, sondern auch in vielen empirischen Wissenschaften. So sind sich wohl die wenigsten Hirnforscher der Tatsache bewusst, dass sich ihre Forschungsergebnisse unter keinen 641
Schlick, Moritz: Allgemeine Erkenntnislehre, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1979, S. 294. 642 643
Ebenda.
Dass mir so tiefgreifende philosophische Prinzipien einsichtig wurden, wie ich sie im Rahmen des metaphysischen Dualismus formuliert habe, verdanke ich nicht zuletzt Moritz Schlicks umfassendem und tiefgreifendem Hauptwerk zur Erkenntnistheorie, in welchem er den Dingen mit scharfem analytischem Verstand und philosophischer Exzellenz auf den Grund geht. Das ich mit dem Werk Schlicks (aber auch mit jenem Victor Krafts) überhaupt bekannt wurde, verdanke ich meinem langjährigen philosophischen Lehrer, Herrn Prof. Kleinknecht.
265
Umständen auf die räumlich (und auch zeitlich) ausgedehnten Gegenstände (in ihrem Fall Gehirne) der Anschauung beziehen können. Gegenstände der Anschauung, also Wahrnehmungsgegenstände, sind flüchtige, unstete, sich in jedem Moment verändernde, gänzlich subjektive und alsbald wieder verlöschende Entitäten, ungeeignet, um davon allgemein gültige Gesetzmäßigkeiten auszusagen. Davon haben wir uns zur Genüge überzeugt. Worauf sich alle Wissenschaft und alles naive Denken eigentlich bezieht, wenn es von einer gemeinsamen physischen Wirklichkeit spricht, sind einzig die objektiven Gegenstände der transzendenten Welt, außerhalb jeglichen Bewusstseins und prinzipiell unanschaubar. Die Identifikation des Wahrnehmungsraums mit dem physischen Raum, ja überhaupt die Identifikation der Wahrnehmungswelt mit der physischen Welt insgesamt, führt uns meist unbemerkt in ein Labyrinth, aus dem es kaum mehr einen philosophischen Ausweg gibt. Angesichts dieser Umstände lässt sich nun auch erklären, warum das naive Individuum die Bewusstseinswirklichkeit für unräumlich, unausgedehnt hält, während es für die Außenwelt gerade das Gegenteil voraussetzt. Dass aber diese Auffassung weder erkenntnistheoretisch noch ontologisch haltbar ist, darüber muss nun nicht mehr diskutiert werden. Wenn also früher davon gesprochen wurde, dass der gesamte Bereich dessen, was im naiven Realismus für die Außenwirklichkeit gehalten wird, in Wahrheit der Bewusstseinswirklichkeit angehört, dann war damit nichts anderes gemeint, als dass die anschaulich vorstellbare, räumlich und zeitlich ausgedehnte, kurzum die erlebte Wirklichkeit vollständig subjektiv ist. 644 Unter keinen Umständen handelt es sich dabei um eine transzendente Wirklichkeit, eine metaphysische Realität an sich. Die letzten Unklarheiten, was die Ontologie des Raums betrifft, lassen sich nach Moritz Schlick mit Immanuel Kant ausräumen. Kant bestimmt das Verhältnis von Außenraum und Bewusstseinsraum, d.h. das Verhältnis von unanschaulichem und anschaulichem Raum durch „seine ja auch von uns als richtig anerkannte Lehre von der Subjektivität (oder »Idealität«) des Raumes“645 .
644 645
Vgl. 6.2.6 Ein erkenntnistheoretischer Befund ontologischer Verhältnisse.
Schlick, Moritz: Allgemeine Erkenntnislehre, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1979, S. 342.
266 Sie besagt, daß der Raum - das heißt hier, wie wir wissen, die anschauliche Räumlichkeit - nicht etwas jenseits des Bewußtseins Existierendes ist, sondern etwas unseren Vorstellungen Anhaftendes. Alle räumlich bestimmten Gegenstände sind nicht Dinge an sich, sondern Vorstellungen meines Bewußtseins, oder wie Kant es leider nennt, »Erscheinungen«. Also auch auf dem Standpunkt Kants ist es unsinnig, nach einem Ort der Seele im Raume zu suchen, das Psychische ist nicht im Kopf des Menschen lokalisiert, sondern der Kopf des Menschen ist selbst nur eine Vorstellung im Bewußtsein.646
Das heißt: Alle Gegenstände, die wir im Raum lokalisieren, mithin die räumlich-anschauliche Wirklichkeit insgesamt, gehören der Wirklichkeit des Bewusstseins an. Daraus folgt eine der wichtigsten Einsichten überhaupt, dass nämlich „das Bewußtsein [nicht] irgendwo im Raume lokalisiert werden kann, sondern umgekehrt der Raum im Bewußtsein ist“647 . Die Sphäre des sinnlichen Bewusstseins fällt mit dem anschaulichen Raum zusammen, und dieser Raum ist nicht der physische.648 Damit ist, wie schon im Kontext der Zeit, auch in jenem des Raums eine These von allergrößter Bedeutung eingeführt: Die Welt außerhalb des Bewusstseins, die Außenwelt, ist im Sinne des anschaulichen Raums raumlos. Das heißt demnach, die transzendente, die metaphysische Realität ist nicht räumlich und nicht zeitlich in einem anschaulichen, erlebten Sinn.649 Metaphorisch, aber treffend könnte man mit den Worten Carl Gustav Jungs sagen: Der Mensch ist unerlässlich zur Vollendung der Schöpfung, ja er ist der zweite Weltschöpfer selber, welcher der Welt erst jenes erlebte unmittelbare Sein gibt, ohne das sie ungehört, ungesehen, ungefühlt, lautlos, gebärend und sterbend, durch Hunderte von Jahrmillionen in tiefster Nacht des Nicht-Seins, zu einem unbestimmten Ende hin ablaufen 646
Schlick, Moritz: Allgemeine Erkenntnislehre, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1979, S. 342 f. 647
a. a. O. S. 345.
648
a. a. O. S. 344.
649
Moritz Schlick betonte mehrmals, dass daraus nicht geschlossen werden dürfe, dass es in der transzendenten Realität ein Nacheinander bzw. ein Nebeneinander überhaupt nicht gäbe. Allerdings: Einige Philosophen, wie etwa Reinhard Kleinknecht, vertreten die Auffassung, dass es in der transzendenten Realität jedenfalls kein Nacheinander gibt. Das ist die Idee des Block-Universums.
267
würde. Erst das menschliche Bewusstsein hat die erlebte, unmittelbar gegebene Wirklichkeit geschaffen, und erst dadurch hat der Mensch seine unerlässliche Stellung im großen Seinsprozess gefunden.650 Hiermit wird der fundamentalen Erkenntnis von der Subjektivität der Bewusstseinswelt über ihre ausgezeichnete Stellung in der Philosophie hinaus - ein ganz besonderer Wert im je persönlichen Leben der Menschen eingeräumt. 6.3.3 Die Ontologie der Sinnesqualitäten651 Nachdem Raum und Zeit einer hinreichenden Differenzierung zugeführt sind, ist noch die Ontologie der Sinnesqualitäten zu besprechen. Wir wissen, dass die Gesamtwirklichkeit eine Mannigfaltigkeit aus Qualitäten ist. Einige dieser Qualitäten gehören bestimmten Bewusstseinszusammenhängen an, einige andere der transzendenten Realität. Ganz falsch wäre es aber nun, die transzendenten Dinge mit Sinnesqualitäten auszustatten. Obwohl wir dies im Rahmen der alltäglichen Auffassung des Wirklichen, des naiven Realismus und der meisten empirischen Wissenschaften unbesehen tun, müssen wir im Sinne des psychophysischen Problems dennoch klären, welcher ontologische Status den Sinnesqualitäten tatsächlich zukommt. Wir haben ja bereits in früheren Betrachtungen die Einsicht gewonnen, dass weder die Alltagsauffassung noch der naive Realismus mit einer differenzierten Theorie des Wirklichen in Einklang zu bringen ist. Will man nun eine solche Theorie entwerfen, so muss man die Sinnesqualitäten als schlechthin subjektive Qualitäten auffassen. Wenn die transzendenten Dinge als jene Dinge gelten, die für alle Subjekte objektiv, verbindend und von ihnen selbst unabhängig sind, dann dürfen ihnen keine Sinnesqualitäten zugeordnet werden. „Wir haben uns längst davon überzeugt, daß die Rolle solcher identischen Gegenstände nicht übernommen werden kann [...] von den Verbänden der Sinnesqualitäten, weil diese für verschiedene Individuen eben niemals dieselben sind
650
Vgl. Jung, C.G.: Erinnerungen, Träume, Gedanken, Walter Verlag, Düsseldorf, 1971. 651
Vgl. Waß, Bernd: Die Reale Außenwelt und das Wirklichkeitsproblem, Universität Salzburg, 2009.
268
[...].“652 Sie sind es ja nicht einmal für ein und dasselbe Individuum. Beispielsweise wird das wahrgenommene Grün eines Baumes in einer Wahrnehmungssituation w stets anders erlebt als in der unmittelbar darauf folgenden Wahrnehmungssituation w$. Auch wenn w$ nur durch einen Wimpernschlag von w getrennt ist, so ist es doch ganz unmöglich, dass w$ dasselbe Grün zum Gegenstand hat als w. Der Zustand des wahrnehmenden Subjekts ändert sich nämlich von w zu w$ jedenfalls infinitesimal. Ein objektives Grün müsste jedoch in allen Wahrnehmungssituation (w, w$, w$$, ...) als das Eine identische wahrgenommen werden, das es ist, und zwar vollkommen unabhängig davon, ob es von einem einzigen Subjekt in aufeinanderfolgenden Wahrnehmungssituationen wahrgenommen wird oder gleichzeitig von mehreren Subjekten. „Die Subjektivität der Sinnesqualitäten ist über allen Zweifel erhaben.“653 Sie sind „Bewusstseinselemente, nicht Elemente der transzendenten, nicht gegebenen Wirklichkeit, sie gehören dem Subjekt an, nicht den Objekten“654 . Dieselben Betrachtungen, welche die Einführung einer metaphysischen Wirklichkeit notwendig gemacht haben und welche „die Existenz der Dinge an sich beweisen, lehren zugleich“655 , dass ihr Attribute wie Röte, Wärme, Süße usw. nicht zugeschrieben werden dürfen. Während die Welt an sich subjektunabhängig existiert, existieren die Sinnesqualitäten nur in Abhängigkeit vom Subjekt und dessen Zuständen. Ohne ihre Beziehung zu einem Subjekt verlieren sie überhaupt alle Bedeutung. Wenn diese wichtige Unterscheidung mit aller Strenge gemacht ist, wird man es für höchst unplausibel halten, dass das Geräusch des abbrechenden Asts oder das Braun des Tisches Entitäten sind, die auch dann noch existieren, wenn niemand sie wahrnimmt.
652
Schlick, Moritz: Allgemeine Erkenntnislehre, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1979, S. 298. 653
a. a. O. S. 299.
654
a. a. O. S. 298.
655
a. a. O. S. 299.
269
6.4 Das Grundübel des psychophysischen Problems: Der Fehler der Introjektion656 Verhältnismäßig spät ist die „Quelle des Übels aufgedeckt worden; man glaubte in früheren Zeiten den Grund aller Schwierigkeiten der Frage genügend bezeichnet zu haben, wenn man auf die fundamentale Ungleichartigkeit des Geistigen und Körperlichen hinwies“657 : Auf der einen Seite stehen die nicht-ausgedehnten und nicht-materiellen, jeweils nur einem einzigen Subjekt unmittelbar zugänglichen geistigen Phänomene und Geschehnisse, auf der anderen Seite die materiellen, räumlich ausgedehnten und intersubjektiv zugänglichen Gegenstände und Ereignisse. Daß so verschiedene Dinge [...] aufeinander wirken könnten, erklärte man für ganz unverständlich, und damit hatte man zwei Reiche des Wirklichen, zwischen denen man keine Brücke zu schlagen wußte, von denen man aber auch nicht annehmen mochte, daß sie als zwei schlechthin getrennte Welten nebeneinander bestehen, die gar nichts miteinander zu tun haben.658
Dass dies aber eine Auffassung des Wirklichen ist, die nicht nur einer unhaltbaren naiven Ontologie entspringt, sondern darüber hinaus auch in eine ganz unbefriedigende philosophische Situation führt, das wurde mittlerweile klar. Und hier dämmert nun in der Tat die Einsicht, dass die Quelle des Übels eine ganz andere ist. Weil aber weder die Quelle selbst noch ihr Zusammenhang mit dem psychophysischen Problem richtig erkannt wurde und, wie wir gleich sehen werden, gar nicht erkannt werden konnte, diskutiert man heute immer noch über dieselben Argumente. 659 Darauf zielt wohl auch Kutscheras Kritik ab, wonach ein großer Teil dieser Diskussion die Mühe ernsthafter Auseinandersetzung kaum mehr lohnt.660 656
Der Ausdruck ‘Introjektion’ findet sich bei Richard Avenarius. Für Avenarius legt der Mensch durch Introjektion in sich selbst wie in seine Mitmenschen Vorstellungen von Umgebungsbestandteilen als innere Zustände »hinein«. 657
Schlick, Moritz: Allgemeine Erkenntnislehre, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1979, S. 337. 658
Ebenda.
659
Und das obwohl Schlicks umfassende Erkenntnistheorie auf das Jahr 1918 datiert.
660
Vgl. Von Kutschera, Franz: Philosophie des Geistes, Mentis, Paderborn, 2009.
270
Der eigentliche Grundfehler, der den Anlass zum Leib-SeeleProblem gibt, liegt nämlich darin, dass das Physische, im Gegensatz zum Psychischen, von jeher als etwas Wirkliches betrachtet wird, das anschaulich-räumliche Ausdehnung besitzt. Eine Auffassung, welche durch die Erkenntnistheorie Descartes, erneuert und untermauert wurde. Nachdem dieser den Unterschied des Physischen zum Psychischen als Gegensatz zwischen Ausdehnung und Denken bestimmt hatte, äußerte sich auch Kant noch folgendermaßen: Die Schwierigkeit ... besteht, wie bekannt, in der vorausgesetzten Ungleichartigkeit des Gegenstandes des inneren Sinnes (der Seele) mit den Gegenständen äußerer Sinne, da jenem nur die Zeit, diesen auch der Raum zur formalen Bedingung ihrer Anschauung anhängt.661
Für uns aber liegt der fundamentale Irrtum dieser Formulierungen klar auf der Hand: „[...] Das Seelische schlechthin als unräumlich zu bezeichnen“662 , ist falsch und muss mit äußerster Konsequenz zurückgewiesen werden. Wir wissen ja längst, daß im Gegenteil alle unsere Raumvorstellungen ganz und gar aus dem räumlichen, örtlichen Bestimmtheiten der Empfindungen geschöpft sind, daß nur diesen letzteren psychischen Größen Ausdehnung im anschaulichen Sinne zukommt, und gerade nicht den physischen Dingen. Solange dies verborgen bleibt und noch dazu nicht zwischen der anschaulichen Räumlichkeit und der objektiven Ordnung der Dinge unterschieden wird, gerät man alsbald in Widersprüche, weil dann Physisches und Psychisches sich gleichsam gegenseitig den Besitz des Raums streitig machen; sie erheben Ansprüche auf ihn, die nicht zugleich erfüllbar sind. Die Welt des Physischen nämlich, wie unsere Vorstellungskraft sie ausmalt, ist dann nicht bloß räumlich, sondern sie umfaßt auch alles Räumliche: sie erfüllt als einzige den ganzen Raum und duldet darin nichts anderes neben sich. Die Empfindungsqualitäten haben in diesem Weltbild keine Stelle, denn die »sekundären Qualitäten« werden ja aus ihm, wie wir sahen, mit Notwendigkeit und mit Recht eliminiert. Sie kommen in den Gesetzen nicht vor, welche die Abhängigkeiten in der physischen Welt regeln. Alles, was in jener Welt geschieht, wird allein durch physische Größen bestimmt. Dieses 661
Schlick, Moritz: Allgemeine Erkenntnislehre, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1979, S. 337, zit. n. Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft, B 247. 662
Schlick, Moritz: Allgemeine Erkenntnislehre, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1979, S. 338.
271 Prinzip, vermöge dessen das physische Universum den gesamten Raum beanprucht, wird gewöhnlich als das Prinzip der geschlossenen Naturkausalität bezeichnet.663
Nun wird auch einsichtig, warum die klassischen Ansätze des Dualismus, die ja nicht von unserer ontologisch geläuterten Sichtweise des Physischen, sondern von einem naiven Verständnis desselben ausgehen und mit dem Physischen gleichsam den ausgedehnten Raum der Anschauung identifizieren, in das Problem der kausalen Geschlossenheit der physischen Wirklichkeit geraten. 664 Wenn nämlich die physische Welt kausal geschlossen ist, kann es nach diesem Verständnis des Physischen nur dann psychophysische Wechselwirkungen geben, wenn das Psychische selbst ein Teil des Physischen ist. Doch das kann es nicht sein, weil es darin keinen Platz hat. Den Ort, den das Psychische beansprucht, findet es überall schon „besetzt von physischen Dingen, welche ihre Anwesenheit ausschließen“665 . Gerade deshalb versucht ja die Naturwissenschaft in Form von Physik und Neurowissenschaft wie auch die Philosophie in Form des Materialismus, das Psychische entweder ganz zu eliminieren oder zumindest für irrelevant zu erklären. Wir wissen aber längst, dass dieses Vorhaben scheitert, wenn es in der bereits zur Genüge diskutierten Weise versucht wird. Gegen die These der Räumlichkeit des Psychischen könnte man allerdings einwenden, dass nicht alles Psychische in diesem Sinn räumlich oder örtlich ist. Dem ist ohne weiteres zuzustimmen. Gewiß ist manches Psychische unörtlich; Trauer, Zorn, Freude sind nicht irgendwo: aber das gilt zum mindesten nicht von den Empfindungen; indem sie da sind, sind sie zumeist an einem bestimmten Ort und in einer bestimmten Ausdehnung da. Aber welchen Ort haben die sinnlichen Qualitäten, z. B. das Weiß dieses Papieres, das ich vor mir sehe? Die Naturwissenschaft lehrt nachdrücklich, daß es nicht am Orte des physikalischen Objektes »Papier« ist; sie findet dort nur Körperliches, Materie, Elektronen, oder wie es heißen mag, 663
Schlick, Moritz: Allgemeine Erkenntnislehre, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1979, S. 338. 664
Vgl. 4.1.5.1.2, Das Problem der kausalen Geschlossenheit der physischen Wirklichkeit. 665
Schlick, Moritz: Allgemeine Erkenntnislehre, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1979, S. 340.
272 in bestimmten physikalischen Zuständen. Wir haben uns früher klar gemacht [...], daß es zu Widersprüchen führt, wenn man das Weiß eben dorthin verlegen wollte. Der einzige andere Ort, der noch in Frage kommen könnte, ist das Gehirn. Aber auch dort befinden sich die sinnlichen Qualitäten nicht, denn wenn einer mein Hirn untersuchen könnte, während ich das weiße Papier anschaue, so würde er dort nie das Weiß des Papiers irgendwie vorfinden, weil sich eben im physikalischen Objekt »Gehirn« nichts anderes vorfinden lässt als physikalische Hirnprozesse. Also weder an dieser noch an jener Stelle des physischen Raums können die sinnlichen Qualitäten lokalisiert sein: den Ort, den sie beanspruchen müssen, finden sie überall schon besetzt von physischen Dingen, welche ihre Anwesenheit ausschließen. [...] Die Welt des Physikers ist ganz in sich vollendet, die Welt der Psychologen läßt sich in sie nicht einfügen. Beide kämpfen um den Besitz des Raums. Der eine sagt: An dieser Stelle ist weiß! der andere: an derselben Stelle ist nicht weiß! Diese Lokalisationswidersprüche sind es, und nichts anderes, die das wahre psychophysische Problem bilden. [...] Für uns existieren jene Widersprüche freilich nicht, denn wir wissen, daß unter »Ort« etwas ganz Verschiedenes zu verstehen ist, je nachdem wir das Wort auf das unmittelbar gegebene Psychische oder auf die objektive Welt beziehen; im ersteren Falle nämlich bedeutet es ein anschauliches Datum, im letzteren eine Stelle in einer unanschaulichen Ordnung: bei dieser Sachlage können für uns keinerlei Konflikte entstehen. Erst wenn man jene Unterscheidung zu machen gelernt hat, werden sie vermeidlich.666
Nun wird aber der philosophische Standpunkt, der auf den letzten fast einhundert Seiten erarbeitet wurde, nur selten vertreten, sodass die fundamentalen ontologischen und erkenntnistheoretischen Prinzipien, die hier eingeführt wurden, gewissermaßen wieder aufgehoben sind, wodurch in weiterer Folge „die Lokalisationswidersrpüche unaufhebbar, die psychophysische Frage unlöslich werden.“667 Man gelangt nämlich sofort zu einem falschen Ansatz beim Versuch der Lokalisation des Psychischen, wenn man mit der Naturwissenschaft die räumlichen Bedingungen verfolgt, unter welchen alle Empfindung zustande kommt. Da sieht man nämlich, daß eine Brücke physikalischer Vorgänge geschlagen ist zwischen dem körperlichen Gegenstande der Wahrnehmung und 666
Schlick, Moritz: Allgemeine Erkenntnislehre, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1979, S. 339 f. 667
Ebenda.
273 dem Sinnesorgan, zwischen diesem und der Großhirnrinde. Von der tönenden Saite gehen mechanische Schwingungen der Luft bis zu meinem Ohr, und von dort pflanzt sich durch den Nerv ein Reiz nach dem Hörzentrum des Gehirns fort.[668] Dies führt dazu, die Hirnregung als unmittelbare Bedingung des Erlebnisses ‘Empfindung’ anzusehen, und dies wiederum verführt dazu, das Erlebnis in das Gehirn, also in das räumliche Innere des menschlichen Leibes hineinzuverlegen. Und wenn man auch vielleicht nicht ausdrücklich eine Lokalistation etwa der Sinnesqualitäten selbst in der Hirnrinde behauptet, so pflegt man doch, ohne sich das Nähere klar zu machen, stets so weiter zu denken, als ob das Psychische irgendwie im Kopfe unserer Mitmenschen wohne: Das Bewußtsein, die Seele hat ihren Sitz in dem Leibe.669
Mit diesem Vorgang, den Richard Avenarius als Introjektion bezeichnet hat, ist nun jener fundamentale Fehler gemacht, der für die großen Komplikationen, die uns bei der Erforschung der Leib-Seele-Frage begegnen, wesentlich verantwortlich ist. Aus ihm vermag man sich nicht mehr zu befreien, weil er durch die implizite Voraussetzung einer naiven, unaufgeklärten Ontologie schlichtweg nicht bemerkt wird und sich mit jedem neuen Denkakt ad infinitum reproduziert. Ist die Seele, das Bewusstein oder das Mentale, wie immer man es bezeichnen will, erst einmal in das Gehirn, mithin in das räumliche Innere des Körpers hineinverlegt, so steht man implizit auf dem Standpunkt des naiven Realismus: Der Raum und die Dinge im Raum (Körper, Kopf, Gehirn usw.) bilden unter anderem die physische Außenwelt; die Seele hingegen die unräumliche, unausgedehnte und psychische Innenwelt. Um die Introjektion auszuschalten, muss man den naiven Realismus überwinden; so geschehen im metaphysischen Dualismus. Erst danach wird klar, dass es offensichtlich keinen Sinn hat, inmitten der räumlich (und zeitlich) erlebten, unmittelbar gegebenen, anschaulichen Wirklichkeit, mithin i n m i t t e n d e s j e n i g e n Wi r k l i c h e n , d a s e n t w e d e r e i n e m Wahrnehmungszusammenhang angehört oder dem Denken (im weitesten Sinn des Wortes, also auch einer Vorstellung, einer Einbildung usw.), „nach
668 Anmerkung: 669
Vgl. 6.2.2.1, Verletzung der Eindeutigkeitsbedingung.
Schlick, Moritz: Allgemeine Erkenntnislehre, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1979, S. 341.
274
einem Ort für das Bewußtsein zu suchen“670 , weil dieses Wirkliche „ja selbst sämtlich zum Bewußtsein“671 gehört. Keine andere Auffassung ist adäquat: Einerseits, weil jede andere Auffassung in die schon bekannten Probleme führt; anderseits, weil der Anspruch des Bewusstseins auf den Raum „der ursprüngliche, schlechthin gegebene, nicht hinwegzuleugnende ist, während die physikalischen Objekte, Atome usw. nicht Dinge von gleicher Unmittelbarkeit darstellen; sondern wir gelangen zu ihnen erst durch Schlüsse, durch gedankliche Konstruktionen [...]“672 . Schon vor Avenarius wusste sich ein anderer großer Denker vom Fehler der Introjektion zu befreien: Immanuel Kant. Das ist retrospektiv nicht weiter verwunderlich, stellt doch auch Kants Erkenntnistheorie eine Überwindung des naiven Realismus dar. Auch Kant bestimmt das Verhältnis des Bewusstseins zum Raum zugunsten des ersteren. „Er tut es durch seine ja auch von uns als richtig erkannte Lehre von der Subjektivität (oder »Idealität«) des Raumes.“673 Sie besagt, daß der Raum - das heißt hier, wie wir wissen, die anschauliche Räumlichkeit - nicht etwas jenseits des Bewußtseins Existierendes ist, sondern etwas unseren Vorstellungen Anhaftendes. Alle räumlich bestimmten Gegenstände sind nicht Dinge an sich, sondern Vorstellungen meines Bewußtseins, oder wie Kant es leider nennt, »Erscheinungen«. Also auch auf dem Standpunkt Kants ist es unsinnig, nach einem Ort der Seele im Raume zu suchen, das Psychische ist nicht im Kopf des Menschen lokalisiert, sondern der Kopf des Menschen ist selbst nur eine Vorstellung im Bewußtsein.674
Erst nachdem diese Einsicht in aller Deutlichkeit gegeben ist, d.h. erst wenn absolut klar ist, dass die „Unterscheidung zwischen dem wahrgenommenen anschaulichen Körper außerhalb der Seele und der Wahrnehmungsvorstellung in derselben“675 falsch ist, weil beides ein und dasselbe ist, lässt sich der Fehler der Introjektion vermeiden. „Das 670
Schlick, Moritz: Allgemeine Erkenntnislehre, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1979, S. 342. 671
Ebenda.
672
Ebenda.
673
Ebenda.
674
a. a. O. S. 342 f.
675
a. a. O. S. 343.
275
Verhältnis von Raum und Bewußtsein kann nicht anders bestimmt werden, als es geschieht durch die Einsicht in die Unhaltbarkeit der Introjektion [...].“676 Für Moritz Schlick ist die Aufhebung der Introjektion eine notwendige Bedingung zur Lösung des psychophysischen Problems, wenngleich auch keine hinreichende. Doch solange diese Bedingung nicht erfüllt wird - und das wird sie nicht, solange die entsprechenden Theorien allesamt von den ontologischen Verhältnissen der Alltagsrealität, also von unhaltbaren Vorstellungen über Psychisches und Physisches ausgehen, die letztlich darauf beruhen, dass der naive, oder wie er heute auch genannt wird der direkte Realismus nicht radikal überwunden wird - kommen wir in der psychophysischen Frage theoretisch nicht weiter, weder auf naturwissenschaftlichem Weg noch auf philosophischem.
676
Schlick, Moritz: Allgemeine Erkenntnislehre, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1979, S. 344.
277
7. Erneute Versuche zur Lösung des psychophysischen Problems Mit der Grundlegung des metaphysischen Dualismus ist zwar das LeibSeele-Problem als solches noch nicht gelöst, doch es wurde eindeutig und umfassend herausgearbeitet, welche Probleme die herkömmlichen Ansätze übersehen und dass sie von ontologischen und epistemologischen Verhältnissen ausgehen, die letztlich unfruchtbar sind. Schon der Fehler der Introjektion, inmitten der erlebten Wirklichkeit nach dem Ort des Bewusstseins zu suchen, obwohl das erlebte vollständig dem Bewusstsein angehört, zeigt, dass der Konstitutionsprozess der Alltagsrealität auch vor dem Denken der meisten Philosophen nicht halt macht. Doch nun sind theoretische Grundlagen geschaffen, die erneute Lösungsversuche sinnvoll erscheinen lassen. Ich werde drei Ansätze vorstellen: Der erste Ansatz behandelt den psychophysischen Parallelismus Schlicks; die beiden weiteren betreffen den metaphysischen Dualismus. Das liegt in mehrfacher Hinsicht nahe, denn einerseits gehen die Ausführungen zum metaphysischen Dualismus auf Schlicks Allgemeine Erkenntnislehre zurück, andererseits ergibt sich dadurch ein Gesamtbild, weil das bisher Gesagte noch um einige entscheidende Aspekte ergänzt wird. Darüber hinaus werde ich auch die wichtigsten Probleme dieser Ansätze diskutieren. 7.1 Erster Versuch: Moritz Schlicks psychophysischer Parallelismus Für Moritz Schlick ist das psychophysische Problem im wesentlichen ein semantisches Problem, und zwar deshalb, weil unsere herkömmlichen Vorstellungen vom Begriff des Physischen mit einer differenzierten Betrachtung des Wirklichen, wie sie in den letzten Abschnitten vorgenommen wurde, nicht in Einklang zu bringen ist. Während der Begriff des Psychischen fest umgrenzt ist - er wurde ja mit dem gleichgesetzt, was wir die Bewusstseinswirklichkeiten der Subjekte nennen - scheint der des Physischen unklar zu sein, zumal er der vorgelegten Ontologie nach etwas ganz anderes bezeichnen müsste als dies üblicherweise der Fall ist. In dieser Unklarheit finden sich nach Schlick
278
jene Fallstricke, die das psychophysische Problem in Summe (samt dem Fehler der Introjektion) ausmachen. Sein Lösungsversuch zielt deshalb auf eine Begriffsklärung ab, die letztlich in einem psychophysischen Parallelismus mündet.677 7.1.1 Zeichen und Bezeichnetes Mit dem Begriff des Psychischen ist eindeutig derjenige Teil des Wirklichen zu bezeichnen, den wir mit den Bewusstseinswirklichkeiten der Subjekte, d.h. mit den jeweils gegebenen, unmittelbar erlebten und schlechthin subjektiven Wirklichkeiten identisch gesetzt haben. Die Merkmale des Begriffs des Psychischen wurden mit der Ontologie von Zeit, Raum und Sinnesqualitäten hinreichend genau bestimmt. Damit ist dieser Begriff fest umgrenzt und erlaubt uns, Psychisches und NichtPsychisches sauber zu unterscheiden, denn das Nicht-Psychische ist ja im Gegensatz zum Psychischen das Transzendente, Extramentale, außerhalb allen Bewusstseins Liegende. Was hingegen den Begriff des Physischen betrifft, so haben wir bisher lediglich davon gesprochen, dass das Physische im Prinzip mit dem Metaphysischen zusammenfällt. Nun müssen wir aber überlegen, ob der Begriff des Physischen tatsächlich dasjenige bezeichnen kann, was wir als das Transzendente, außerhalb des Bewusstseins Existierende aufgefasst haben: Nachdem man unter ‘physisch’ alles zu verstehen pflegt „(mag es im übrigen als Ding, Eigenschaft, Vorgang oder was sonst gelten), was nicht der Innenwelt eines bewußten Wesens zuzurechnen ist, also weder dem Zusammenhang des eigenen Ich noch demjenigen eines fremden Bewußtseins angehört“678 , scheint es so, als würden die transzendenten Entitäten, mithin das transzendente Wirkliche, ohne weiteres unter den Begriff des Physischen fallen. „Das ist nur bei näherem Zusehen nicht der Fall.“679 Um hierüber zu völliger Klarheit zu kommen, ist nach Schlick nichts anderes nötig, „als eine deutliche Vergegenwärtigung der im Begriff des Körperlichen 677
Der psychophysische Parallelismus Schlicks lässt sich auch als neutraler Monismus charakterisieren. 678
Schlick, Moritz: Allgemeine Erkenntnislehre, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1979, S. 325. 679
a. a. O. S. 324.
279
vereinigten Merkmale [...]“680 . Sowohl im Commonsense, wie auch im naiven Realismus und in den meisten Wissenschaften werden nämlich dem Begriff des Physischen auch noch andere Merkmale subsumiert, welche gerade als die wesentlichen gelten, die aber hier, nicht zu genügender Klarheit gebracht, ganz am unrechten Orte stehen, und denen man die Schuld an der Entstehung des psychophysischen Problems überhaupt aufbürden muß: es sind die Merkmale der Räumlichkeit.681 Das Körperliche und das Ausgedehnte sind nicht nur fast stets als untrennbar zusammengehörig, sondern oft genug als schlechthin identisch betrachtet worden; so bekanntlich bei Descartes. Räumliche Ausdehnung gehörte immer zur Definition des physischen Körpers; Kant benutzte daher geradezu den Satz: ‘alle Körper sind ausgedehnt’ als Beispiel eines analytischen Urteils. Räumlichkeit ist das wesentliche Merkmal alles Physischen im gebräuchlichen Sinne. Dieser üble Sinn weiß nichts von dem Unterschiede, auf den wir das allergrößte Gewicht legen mußten: das ist der Unterschied zwischen dem Räumlichen als anschaulichem Datum und dem »Raum« als Ordnungsschema der objektiven Welt [...]. Das letztere hatten wir in Ermangelung eines besseren Ausdrucks als den objektiven oder transzendenten Raum bezeichnet [...], zugleich aber betont, daß damit eine übertragene Bedeutung des Wortes ‘Raum’ eingeführt wird, die nicht sorgfältig genug von der ursprünglichen getrennt werden kann, wonach ‘Raum’ durchaus etwas Anschauliches bedeutet. Es war aber das wichtigste Ergebnis früher angestellter Betrachtungen, daß eben diese anschauliche Räumlichkeit der extramentalen Welt, den objektiven Qualitäten, nicht zukommt. Wir wissen, daß vorstellbare Ausdehnung eine Eigenschaft gerade der subjektiven Qualitäten ist; Räumlichkeit in diesem Sinne besitzt also nicht das objektive, sondern im Gegenteil das psychisch subjektive Sein. In jenem populären Begriff des Körperlichen sollen also Merkmale vereint sein, die sich realiter nicht miteinander vertragen: es soll sowohl Ding an sich (d.h. kein Bewußtseinsinhalt) als auch mit der anschaulichen, wahrnehmbaren Ausdehnung behaftet sein. Da beides unvereinbar ist, so muß dieser Begriff des Physischen (Körperlichen, Materiellen) zu Widersprüchen Anlaß geben: es sind eben die Widersprüche, die das psychophysische Problem ausmachen.682
680
Schlick, Moritz: Allgemeine Erkenntnislehre, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1979, S. 324. 681
a. a. O. S. 325.
682
a. a. O. S. 325 f.
280
Um die Widersprüche zu vermeiden, versucht der Idealismus das Physische ganz zu eliminieren; Materialismus und Dualismus versuchen hingegen, Psychisches mit Physischem in Einklang zu bringen. Dass weder das eine noch das andere vollends befriedigte habe ich gezeigt. Vergegenwärtigen wir uns aber die Tatsache, dass diejenigen, die „das Leib-Seele-Problem stellen und zu lösen suchen, unter ‘physisch‘ etwas anderes verstehen als unsere extramentalen Qualitäten; sie legen ja die übliche Vorstellung des anschaulichen räumlich ausgedehnten Körpers zugrunde“683 , so ist das auch nicht mehr sonderbar. Dass aber diese Vorstellung des Physischen unhaltbar ist, bedarf nun keiner weiteren Erklärung mehr. Ein Ausweg bestünde darin, den Begriff des Physischen als falsch gebildet abzulehnen und zu erklären: „Es gibt überhaupt keine physischen Körper.“684 Doch dieser Weg ist unbrauchbar, denn offensichtlich muss sich ein Wirklichkeitsbereich „zur legitimen Anwendung des Wortes finden lassen, da es sonst nicht die eminente praktische und methodische Bedeutung hätte gewinnen können, die es tatsächlich entfaltet hat“685 . Wir müssen also sehen, wie sich dasjenige „ohne Widersprüche ausdrücken läßt, was im hergebrachten Begriffe des Physischen wahrhaft gemeint sein soll. Damit wird dann zugleich endlich für uns festgelegt, welche Bedeutung wir mit dem Worte ‘physisch’ künftighin zu verbinden haben“686. Ich habe bereits weiter oben darauf hingewiesen, dass die Philosophie darüber, worin die transzendenten Dinge aus physikalischer Sicht bestehen, nicht sehr viel sagen kann. Das muss sie der Physik überlassen, auch wenn sie das nicht immer getan hat und auch nicht immer tun konnte. Zweifellos war die Physik in ihren Anfängen Philosophie und die Philosophie Physik. Man denke nur an die griechische Naturphilosophie, an Thales von Milet und die Atomisten, die sehr früh den Begriff der kosmischen Materie, einer Weltsubstanz, gebildet haben; möglicherweise ein Grund für die verwirrenden und unzulänglichen 683
Schlick, Moritz: Allgemeine Erkenntnislehre, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1979, S. 328. 684
a. a. O. S. 326.
685
Ebenda.
686
a. a. O. S. 328.
281
Vorstellungen des Physischen, die sich - weit über die Philosophie hinaus im gewöhnlichen Denken wie in den Wissenschaften und sogar in der Physik selbst festgesetzt haben.687 Ein Weltbild aber, das mit dem Begriff „der physischen Materie, des qualitätslosen, aber ausgedehnten Stoffes, der seit Demokrit bis zu Descartes und über Kant hinaus die naturphilosophische Spekulation“688 beherrschte, konstituiert wird, führt in die bereits zur Genüge diskutierten Schwierigkeiten - auch heute noch. Wir müssen daher die Vorstellung des Physischen als einer ausgedehnten Substanz, als das »Reich« der ausgedehnten Körper, mit aller Konsequenz eliminieren und statt dessen folgendes Postulat einführen: ‘Physisch’ „heißt die Wirklichkeit, sofern sie durch das räumlich-zeitlich-quantitative Begriffssystem der Naturwissenschaft bezeichnet ist“689. Das physikalische Weltbild ist nur ein „System von Zeichen [...], die wir den Qualitäten und Qualitätskomplexen zuordnen, deren Gesamtheit und Zusammenhang das Universum bildet“690 . Es ist sozusagen ein umfassendes begriffliches Ordnungsschema, von dem der unanschauliche Raum und die unanschauliche Zeit, wie wir sie im Rahmen der Ontologie des metaphysischen Dualismus untersucht haben, Teile sind. ‘Physisch’ bedeutet nicht eine besondere Art des Wirklichen, sondern eine besondere Art der Bezeichnung des Wirklichen, nämlich die zur Wirklichkeitserkenntnis notwendige naturwissenschaftliche Begriffsbildung. ‘Physisch’ darf nicht mißverstanden werden als eine Eigenschaft, die einem Teil des Wirklichen zukäme, einem anderen nicht: es ist vielmehr ein Wort für eine Gattung begrifflicher Konstruktion, so wie etwa ‘geographisch’ oder ‘mathematisch’ nicht irgendwelche Besonderheiten an realen Dingen bezeichnen, sondern immer nur eine Weise, sie durch Begriffe darzustellen.691 Übrigens ist der Ausdruck »Weltbild« nicht ungefährlich; wir sollten statt dessen lieber »Weltbegriff« sagen, denn das Wort ‘Bild’ bleibt in der Philosophie besser auf Anschauliches, Vorstellbares beschränkt, und die physikalische Darstellung der Welt ist, weil begrifflich, eben durchaus 687
Vgl. Heisenberg, Werner: Physik und Philosophie, Hirzel Verlag, Stuttgart, 2007.
688
Schlick, Moritz: Allgemeine Erkenntnislehre, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1979, S. 328. 689
a. a. O. S. 329.
690
Ebenda.
691
a. a. O. S. 331.
282 unanschaulich: sahen wir doch, daß z.B. der Raum der Physik keineswegs vorstellbar, sondern ein gänzlich abstraktes Gebilde, ein bloßes Ordnungsschema ist. Natürlich werden die Bestandteile des physikalischen Weltbegriffs, wie alle Begriffe, in unsern Denkprozessen durch anschauliche Vorstellungen repräsentiert, und es versteht sich von selbst, daß man sich zur Illustration der objektiv räumlichen Verhältnisse in erster Linie solcher Vorstellungen bedient, die einem Anschauungsraum, z.B. demjenigen des Gesichtssinnes[692] angehören. [...] Das erkenntnistheoretisch noch nicht abgeklärte Denken verwechselt aber nicht nur leicht den Begriff mit dem realen Gegenstande, den er bezeichnet, sondern auch mit den anschaulichen Vorstellungen, welche in unserem Bewußtsein den Begriff repräsentieren. Wenn wir den wissenschaftlichen Begriff eines bestimmten Körpers denken, so geschieht dies durch Vorstellungen, z.B. Gesichtsbilder[693], die das anschauliche Merkmal der Ausdehnung tragen. Der strenge Begriff des Körpers dagegen enthält davon nichts, sondern nur gewisse Zahlen, welche die »Abmessungen«, die »Gestalt« des Körpers angeben, und das bedeutet nicht - wie ausführlich dargelegt - ein objektives Vorhandensein räumlich-anschaulicher Eigenschaften an dem wirklichen Gegenstande (diese kommen ja nur den Wahrnehmungen und Vorstellungen, nicht etwas Extramentalem zu), sondern es bedeutet jene unanschauliche, unvorstellbare Ordnung, in welcher die objektiven Qualitäten der Welt untereinander stehen.694
Um also den Begriff des Physischen korrekt anzuwenden, d.h. um zwischen Zeichen und Bezeichnetem und zwischen Repräsentant und Repräsentiertem stets sicher unterscheiden zu können, ist es nach Schlick notwendig, drei separate Reiche, wie er es nennt, zu unterscheiden, deren Verwechslung und Vermischung das psychophysische Problem eigentlich mitverschuldet hat: 1. die Wirklichkeit selbst (die Qualitätenkomplexe [...]), 2. die der Wirklichkeit zugeordneten quantitativen Begriffe der Naturwissenschaft, in ihrer Gesamtheit den physikalischen Weltbegriff bildend, und 3. die anschaulichen Vorstellungen, durch welche die unter 2. genannten Größen in unserem Bewußtsein 692 Anmerkung:
Gesichtssinn meint Sehsinn.
693
Anmerkung: Gesichtsbilder sind visuelle Vorstellungen; im Gegensatz etwa zu tonalen Vorstellungen. 694
Schlick, Moritz: Allgemeine Erkenntnislehre, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1979, S. 330.
283 repräsentiert werden. Dabei ist 3. natürlich ein Teil von 1., nämlich ein Unterteil desjenigen Teiles der Wirklichkeit, den wir als unser Bewußtsein bezeichnen.695
In welchem dieser Reiche das Physische gesucht werden muss, lässt sich jetzt eindeutig sagen: Es ist das erste Reich. Niemand wird bestreiten, dass wir stets etwas Wirkliches meinen, wenn wir von Physischem reden, das Wort geht also zweifellos auf Gegenstände des ersten Reiches. Aber offenbar nicht direkt und bedingungslos, sondern nur auf jene wirklichen Gegenstände, denen Begriffe aus dem zweiten Reiche zugeordnet sind oder vielmehr zugeordnet werden können.696
Wir wissen also jetzt, dass derjenige Teil der Wirklichkeit, den wir als die extramentale, die bewusstseinstranszendente Wirklichkeit bezeichnet haben, dem Begriff des Physischen, natürlich nur in der von uns aufgeklärten Semantik, ohne weiteres subsumiert werden kann. Hiermit ist auch eine Vervollständigung jener ontologischen Verhältnisse erreicht, die im Zusammenhang mit der Lösung des psychophysischen Problems die einzigen sind, die vorausgesetzt werden dürfen: Die Gesamtwirklichkeit umfasst den Bereich der subjektiven, unmittelbar erlebten, anschaulichräumlichen und anschaulich-zeitlichen Bewusstseinswirklichkeiten der Subjekte und den Bereich der bewusstseinstranszendenten, objektiven, nicht erlebten, nicht-räumlichen und nicht-zeitlichen Wirklichkeit, außerhalb subjektiver Gegebenheiten. Das erste bezeichnen wir als psychisch, das zweite als physisch. Somit ist eine Ordnung hergestellt, in der die Gesamtwirklichkeit ohne Widerspruch gedacht werden kann, und ohne dass dabei Begriffe oder Wirklichkeitsbereiche eliminiert werden, die sowohl für unsere Alltagsrealität als auch für die Wissenschaften elementar sind. Darüber hinaus sind alle Vorbereitungen für eine semantische Lösung des Leib-Seele-Problems getroffen.
695
Schlick, Moritz: Allgemeine Erkenntnislehre, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1979, S. 330. 696
Ebenda.
284
7.1.2 Die semantische Lösung des psychophysischen Problems Für eine semantische Lösung des psychophysischen Problems im Sinne des Parallelismus bedarf es nun einer Antwort auf folgende Frage: Ist das Begriffssystem der Physik, jenes abstrakte Ordnungsschema, das zur Bezeichnung der bewusstseinstranszendenten Realität dient, dazu geeignet, Vorgänge und Gegebenheiten im Bereich der Bewusstseinswirklichkeit zu bezeichnen? Mit anderen Worten: Lässt sich die Gesamtwirklichkeit physikalisch, in der hier festgelegten Bedeutung des Ausdrucks, erfassen? Die Bedeutung dieser Fragestellung ist fundamental, denn ihre positive Beantwortung hätte zur Folge, dass die Gesamtwirklichkeit physischer Natur ist (in der hier festgelegten Bedeutung des Ausdrucks) und dass das psychophysische Problem insofern gelöst ist, als wir hoffen dürfen, dass wir irgendwann über eine physikalische Theorie der Gesamtwirklichkeit verfügen werden. Zumindest wäre die prinzipielle Möglichkeit hierfür gewahrt. Bevor ich mich aber gleich der Beantwortung der Frage widme, soll alles Unbehagen ausgeräumt werden, das sich unweigerlich einstellt, wenn man das hier Gesagte mit früheren Ausführungen vergleicht: Weder handelt es sich nämlich um eine Erneuerung des semantischen Physikalismus noch um eine solche der Identitätstheorie.697 Schlick will weder die psychologische Sprache in die physikalische übersetzen oder mentale Prädikate mit Hilfe physikalischer Ausdrücke definieren noch will er auf dem ontologisch-semantischen Weg der Identitätstheorie zeigen, dass Psychisches und Physisches ontologisch identisch ist.698 Für Schlick gibt es keinen Zweifel: Es ist nicht der geringste Grund vorhanden, dem Bereich des Psychischen hinsichtlich seiner Bezeichenbarkeit durch das Begriffssystem der Physik irgendeine ausgezeichnete Rolle zuzuschreiben, also z.B. anzunehmen, daß die Grenze des Physischen, also des durch räumlich-zeitliche Begriffe beschreibbaren Wirklichen [...] mit der Grenze zwischen erlebter und
697 698
Vgl. 4.2.1, Semantischer Physikalismus. Vgl. 4.2.2, Identitätstheorie.
Letzteres versteht sich natürlich von selbst, weil ja das Physische ganz anders aufgefasst werden muss, als es noch in der Identitätstheorie der Fall war.
285 nichterlebter Wirklichkeit, d.h. zwischen psychischen und außerpsychischen Qualitäten zusammenfiele.699
Eine derartige Grenze scheint es nicht zu geben, sodass die raumzeitlichen Begriffe zur Beschreibung jeder beliebigen Wirklichkeit ausnahmslos geeignet sind, also auch der Bewußtseinswirklichkeit. Daß wir die letzteren außerdem noch durch die sogenannten »psychologischen« Begriffe beschreiben, bietet keinen Anlaß zu irgendeiner Denkschwierigkeit, schafft keinerlei Gegensatz zwischen Physischem und Psychischem.700
Beides leuchtet ein, denn das logische Prädikat ‘x ist physisch’ bedeutet jetzt ja nicht mehr, dass x irgendein Stoff ist oder eine Substanz, oder irgendeine Eigenschaft an den Objekten, sondern nur, dass bestimmte Entitäten auf bestimmte Weise beschrieben werden. Die Idee hinter Schlicks semantischer Lösung ist der Versuch, den Unterschied zwischen Seele und Körper in einem Unterschied der Betrachtungsweisen aufzulösen: Die Gesamtwirklichkeit ist eine Mannigfaltigkeit von Entitäten. Einige davon gehören den Zusammenhängen der Bewusstseinswirklichkeiten an, einige davon der außerbewussten Wirklichkeit. Die bewusstseinswirklichen Entitäten beschreiben wir mit psychologischen Begriffen und bezeichnen das damit Beschriebene als psychisch. Die außerbewussten Entitäten beschreiben wir mit physikalischen Begriffen und bezeichnen das damit Beschriebene als physisch. Auf diese Weise haben wir es nicht mehr mit einem ontologischen Dualismus zu tun, sondern lediglich mit einem semantischen. „Es ist ein und dasselbe Wirkliche, [...] nur durch zwei verschiedene Begriffssysteme bezeichnet, nämlich das psychologische und das physikalische.“701 Gelingt es uns, die Hypothese zu begründen, dass die „naturwissenschaftliche Begriffsbildung zur Bezeichnung jeder beliebigen Wirklichkeit, also auch der unmittelbar erlebten, geeignet ist“702 , so ergibt sich zwischen Psychischem und Physischem statt einer unüberwindbaren Kluft, wie sie noch im ontologischen Dualismus besteht, Identität. Ohne den auf herkömmliche Weise ontologisch determinierten 699
Schlick, Moritz: Allgemeine Erkenntnislehre, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1979, S. 330. 700
a. a. O. S. 331.
701
Ebenda.
702
a. a. O. S. 335.
286
Begriff des Physischen, lässt sich also die Gesamtwirklichkeit als ontologisch unbestimmt oder neutral auffassen. Ihre monistische Färbung, wenn man so will, erhält sie erst dadurch, dass man zeigt, dass sich die Gesamtwirklichkeit vollständig physikalisch beschreiben lässt. So führen uns rein erkenntnistheoretische Gründe auf den Standpunkt eines psychophysischen Parallelismus. Über den Charakter dieses Parallelismus aber wollen wir uns ganz klar sein: er [...] bedeutet nicht ein Parallelgehen zweier Arten des Seins (wie etwa bei Geulincx), noch zweier Attribute einer einzigen Substanz (wie bei Spinoza), noch zweier Erscheinungsarten eines und desselben »Wesens« (wie bei Kant), sondern es ist ein erkenntnistheoretischer Parallelismus zwischen einem psychologischen Begriffssystem einerseits und einem physikalischen Begriffssystem andererseits.703
Nehmen wir nun an, dass es tatsächlich zutrifft, dass sich die Gesamtwirklichkeit als etwas Physisches auffassen lässt, d.h. dass wir sowohl alles Bewusstseinswirkliche wie auch alles Bewusstseinstranszendente vollständig in das quantitative Begriffssystem der Physik einordnen können, ohne dabei etwas auszulassen oder in Widersprüche zu geraten, so ist das psychophysische Problem gelöst: Auf der einen Seite lässt sich der ontologische Dualismus ad absurdum führen: Wenn nämlich davon die Rede ist, dass „zwischen dem physikalischen Objekt ‘Gehirn’ und der erlebten Wirklichkeit ‘Bewußtseininhalt’ eine innige Beziehung besteht“704, so ist die Behauptung, dass es sich hierbei um eine Beziehung zwischen zwei disjunkten Arten von Seiendem handelt, unhaltbar. Wäre nämlich das „Bewußtsein, das Ich, ein besonderes von den »Gehirnvorgängen« verschiedenes Objekt“705 , so wäre es einer Bezeichnung durch physikalische Begriffe prinzipiell nicht zugänglich. Denn da die Begriffe von Gehirnvorgängen nach dieser Annahme eben schon etwas anderes bezeichnen sollen [...], könnten dem Bewußtseinsinhalt überhaupt keine physikalischen Begriffe zugeordnet werden. Außerdem wäre es dann auch unmöglich, alle Hirnprozesse selbst physikalisch verständlich zu machen, [...] denn ihre Ursachen würden ja zum Teil in den psychischen
703
Schlick, Moritz: Allgemeine Erkenntnislehre, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1979, S. 336. 704
a. a. O. S. 334.
705
a. a. O. S. 335.
287 Prozessen zu suchen sein, die eben durch physikalische Begriffe nicht darstellbar wären [...].706
Doch entsprechend unserer Annahme kann es nichts im Universum geben, das sich nicht physikalisch beschreiben lässt. Auf der anderen Seite kann die behutsam begründete Ontologie dieselbe bleiben, denn es muss nichts Essentielles daraus entfernt werden - Erlebnisse haben ebenso ihren Platz darin wie Ereignisse. 7.1.3 Probleme der semantischen Lösung Es wäre wohl nicht die Philosophie, könnte man sich nun, aller Schwierigkeiten entledigt und das Leib-Seele-Problem endgültig gelöst wissend, beruhigt zurücklehnen. Schon im nächsten Moment klopft einem nämlich der Zweifel an die Tür des Denkens, und man wird mit Fragen belästigt, die man nicht abweisen kann. Zwar ist die semantische Lösung des Parallelismus eine philosophisch wesentlich differenziertere, als es die herkömmlichen Lösungen des Materialismus sind, zumal sie auf einer abgeklärten Ontologie 707 beruht, aber dennoch müssen zwei schwerwiegende Einwände angeführt werden: Der erste Einwand ist äquivalent mit dem Einwand des prognostischen Arguments, das sich gegen den eliminativen Materialismus richtet: Im eliminativen Materialismus, wie er z.B. von Paul Feyerabend und Richard Rorty vertreten wurde und von Paul Churchland immer noch vertreten wird, wird behauptet, dass die psychologische Sprache in absehbarer Zeit durch jene der Neurowissenschaft ersetzt wird.708 Die 706
Schlick, Moritz: Allgemeine Erkenntnislehre, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1979, S. 335. 707
Schlicks psychophysischer Parallelismus beruht auf derselben Ontologie, wie sie im metaphysischen Dualismus vorgestellt wurde. Die Ontologie des metaphysischen Dualismus versteht sich als eklektisches Destillat jener Ontologie, die von Schlick in der Allgemeinen Erkenntnislehre grundgelegt wird. 708
Vgl. Feyerabend, Paul: Materialism and the body-mind problem, Revue of Metaphysics 17, 1963. Vgl. Rorty, Richard: Mind-body identity, privacy an categories, Revue of Metaphysics 19, 1965. Vgl. Rorty, Richard: The world well lost, The Journal of Philosophy 69, 1972. Vgl. Churchland, Paul: Eliminative materialism an propositional attitudes, The Journal of Philosophy 78, 1981.
288
Sprache über Psychisches wird diesem Ansatz nach ganz verschwinden und mit ihr die Annahme psychischer Zustände und Vorgänge. Wir reden ja heute auch nicht mehr von Dämonen, ohne eine Identität von Dämonen z.B. mit Halluzinationen anzunehmen [...] Wir kommen bei der Beschreibung der Welt ohne die Annahme von Dämonen aus und daher hat die Rede von ihnen für uns keinerlei Interesse mehr. Im gleichen Sinn werde die Annahme von Psychischem obsolet werden [...].709
Darüber hinaus glaubt man, dass neben der psychologischen Sprache auch die Psychologie als solche von Biologie und Neurologie verdrängt wird. Den Hintergrund dieser Idee, und das ist bemerkenswert, bildet Carnaps pragmatische Auffassung des Materialismus. In seiner frühen, radikal empiristischen Phase sah Carnap alle metaphysischen Aussagen als sinnlos an. „[...] Die These des Materialismus ‘Es gibt nur Physisches’ wurde [daher] ersetzt durch: Alle Aussagen der Wissenschaften lassen sich in der physikalischen Sprache formulieren.“710 Schlick behauptet in der Allgemeinen Erkenntnislehre, schon einige Jahre zuvor, nahezu gleiches: Das quantitative Begriffssystem der Physik ist zur Beschreibung jeder Wirklichkeit geeignet: Zur Beschreibung der bewusstseinstranszendenten Wirklichkeit ebenso wie zur Beschreibung der bewusstseinsimmanenten; was nichts anderes heißt, als dass die Gesamtwirklichkeit, insofern sie wissenschaftlich erfasst wird, in physikalischer Sprache beschrieben werden kann.711 Berücksichtigt man nun die Genese des eliminativen Materialismus, so sieht man, dass sich das prognostische Argument auch gegen Schlicks semantische Lösung richtet: Der eliminative Materialismus, so das Argument, ist eine „Prognose über künftige wissenschaftliche Entwicklungen und Veränderungen unserer Sprache in ihrem Gefolge“712. Über Vorhersagen dieser Art lässt sich nach Kutschera aber schlecht streiten, weshalb der eliminative Materialismus nichts anderes ist, als eine
709
Von Kutschera, Franz: Philosophie des Geistes, Mentis, Paderborn, 2009, S. 159.
710
Ebenda.
711
Vgl. Schlick, Moritz: Allgemeine Erkenntnislehre, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1979. Die theoretische Nähe von Schlick und Carnap ist wohl kein Produkt des Zufalls: Schlick war der Begründer des Wiener Kreises und Carnap war einer der Protagonisten dieser philosophischen Runde. 712
Von Kutschera, Franz: Philosophie des Geistes, Mentis, Paderborn, 2009, S. 159.
289
These ohne sachliches Interesse. 713 Schlick hat aber im Prinzip dasselbe getan: Er stellt nämlich im Parallelismus implizit eine prognostische These auf, indem er einräumt, dass man bei der Erforschung der Gehirnprozesse noch keineswegs so weit sei, dass man Erlebnisse Gehirnprozessen eindeutig zuordnen könne, sodass eine physikalische Beschreibung möglich wäre. Bald einhundert Jahre später sind wir von der Erfüllung dieser Prognose immer noch Lichtjahre entfernt, denn selbst einfachste Handlungen und Abfolgen von Handlungen lassen sich nicht in physikalischen Gesetzen erfassen. Das führt mich noch zu einem anderen Gedanken: Die Annahme, dass die Gesamtwirklichkeit in physikalischer Sprache beschrieben werden kann, schließt nicht aus, dass sie nicht auch in einer dualistischen, idealistischen oder vielleicht sogar in einer mathematischen oder logischen Sprache beschrieben werden könnte. Mit anderen Worten: Solange die Gesamtwirklichkeit nicht vollständig physikalisch beschrieben ist, dürfen wir vom Standpunkt der semantischen Lösung aus nicht ohne weiteres sagen, dass diese Wirklichkeit physischer Natur ist. Genauso gut könnte sie nämlich psychophysischer, psychischer, mathematischer oder logischer Natur sein - je nachdem, welche Sprache sich tatsächlich als diejenige erweisen wird, mit deren Hilfe alle Phänomene vollständig zu erfassen sind. Keine ist sozusagen per se der anderen vorzuziehen, weil eine vollständige Beschreibung der Gesamtwirklichkeit zum gegenwärtigen Zeitpunkt fehlt. Der zweite Einwand betrifft das Nagel’sche Fledermausargument714 : Schlick sagt, dass die unmittelbar erlebte Wirklichkeit niemals selber in die physikalischen Theorien eingeht. Sie wird unter allen Umständen eliminiert. An die Stelle des Erlebten, des Phänomenalen, treten physikalische Begriffe. Die erlebte Wirklichkeit bleibt an sich selbst und in jeder Betrachtungsweise psychisch.715 Das Gelb dieser Sonnenblume, der Wohlklang jenes Glockentons sind seelische Größen, ‘Gelb’ und ‘Ton’ sind psychologische Begriffe; die physikalischen Gesetzmäßigkeiten handeln nicht von ihnen, sondern von Schwingungszahlen, 713
Vgl. Von Kutschera, Franz: Philosophie des Geistes, Mentis, Paderborn, 2009.
714
Vgl. 4.2.5.4, Fledermaus-Argument
715
Vgl. Schlick, Moritz: Allgemeine Erkenntnislehre, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1979.
290 Amplituden und dergleichen Größen, und diese bauen sich nimmermehr aus subjektiven Qualitäten auf.716
Die entscheidende Frage ist nun jene nach der Vollständigkeit: Ist die Gesamtwirklichkeit vollständig beschrieben, wenn sie physikalisch vollständig beschrieben ist, und zwar, obwohl das Psychische als solches nicht mehr darin vorkommt? Schlick bejaht diese Frage bekanntermaßen: S o w o h l d e r j e n i g e Te i l d e s Wi r k l i c h e n , d e r i r g e n d e i n e m Bewusstseinszusammenhang angehört, als auch derjenige Teil des Wirklichen, der keinem Bewusstseinszusammenhang angehört, lässt sich prinzipiell vollständig physikalisch beschreiben. Das quantitative Begriffssystem der Physik ist für beide Bereiche gleichermaßen geeignet. Doch gegen diese These ist einzuwenden, dass eine physikalische, also quantitative Beschreibung desjenigen Teils des Wirklichen, der einem Bewusstseinszusammenhang angehört, jenes Charakteristikum vernachlässigt, das dafür essentiell ist. Es handelt sich hierbei um den bereits bekannten phänomenalen Gehalt mentaler Phänomene oder den subjektiven Charakter von Erlebnissen. Es mag sein, dass der Ton, den ich gerade höre, durch die Formel ‘Welle mit bestimmter Frequenz’ beschreibbar ist, doch die Art und Weise, wie ich ihn höre, d.h. wie ich diesen Ton erlebe, entzieht sich einer solchen Beschreibung. Erlebnisse sind nicht (vollständig) objektivierbar, denn sie sind an eine „individuelle Erste-Person-Perspektive gebunden [...], an den individuellen Standpunkt, von dem aus ich selbst die Welt erlebe“717 , und gerade das zeichnet sie ja aus. Sie sind eben subjektiv und nicht objektiv, und sie können dem Objektiven durch keinen Vorgang so hinzugefügt werden, dass sie dabei dieselben bleiben, bzw. so, dass nichts von ihrem Gehalt verloren geht. Das heißt also: Auch wenn wir annehmen, dass sich die Abfolge der Töne z.B. in Mozarts Zauberflöte und sämtliche Hirnprozesse im Gehirn eines Zuhörers irgendwann einmal physikalisch vollständig erfassen lassen, werden wir auf diese Weise dennoch nichts darüber aussagen können, wie
716
Schlick, Moritz: Allgemeine Erkenntnislehre, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1979, S. 332. 717
Metzinger, Thomas: Philosophie des Geistes; Das Leib-Seele-Problem, Mentis, Paderborn, 2007, S. 25.
291
es für diesen Zuhörer ist, Mozarts Zauberflöte zu hören. 718 Mit anderen Worten: Die Frage ‘Wie ist es, Mozarts Zauberflöte zu hören?’ kann nicht vollständig in physikalischer Sprache beantwortet werden, denn das Wie des Erlebnisses ist eine seelische Größe, und die Größen der Physik handeln nach Schlick nicht davon. Es mag durchaus sein, dass wir in Zukunft die erlebte Wirklichkeit zu einem Teil physikalisch beschreiben werden können, aber nicht vollständig. Was bliebe denn letzten Endes vom Erleben der Zauberflöte über, wenn man den subjektiven Charakter dieses Erlebens, das Wie-Sein, abzieht? Radikal zugespitzt könnte man auch sagen: Der subjektive Charakter von Erlebnissen ist etwas an der erlebten Wirklichkeit, das nicht von ihr wegzudenken ist, ohne dass sie dabei selbst weggedacht wird. Ein Erlebnis ohne subjektiven Charakter ist kein Erlebnis mehr, weil ja im Grunde nichts mehr übrig bleibt, was es konstituiert. Denkt man den subjektiven Charakter vom Erlebnis weg, so denkt man ein Ereignis. Damit ist aber auch die Grenze zwischen erlebter und nicht erlebter Wirklichkeit, zwischen Subjektivem und Objektivem, zwischen Metaphysischem und Bewusstseinswirklichem aufgehoben. D a s heißt also: Die semantische Lösung des psychophysischen Problems scheitert nicht nur am prognostischen Argument, sondern auch am subjektiven Charakter von Erlebnissen, denn dieser lässt sich in physikalischer Sprache nicht erfassen. Würde man den subjektiven Charakter von Erlebnissen in einer physikalischen Beschreibung der Welt z.B. als Epiphänomen - ausklammern, so könnte man jedenfalls Schlicks Ontologie nicht aufrechterhalten, denn für Schlick besteht ein Unterschied
718
Davon einmal abgesehen ist auch die moderne Physik nicht in der Lage, selbst die Phänomene der transzendenten Realität objektiv zu beschreiben. „Eine objektive Beschreibung von Vorgängen in Raum und Zeit ist nur dort möglich, wo wir mit Gegenständen oder Vorgängen in einem verhältnismäßig großen Maßstab zu tun haben, wo nämlich Plancks Konstante [Plancks Wirkungsquantum] als praktisch unendlich klein angesehen werden kann.“ (Heisenberg, Werner: Physik und Philosophie, Hirzel Verlag, Stuttgart, 2007, S. 230)
292
zwischen erlebter und nicht-erlebter Wirklichkeit. 719 Und dieser Unterschied muss sich in einer Theorie über die Welt niederschlagen. Aus dem Scheitern der semantischen Lösung folgt nun eine allgemeine aber sehr weitreichende Erkenntnis: Die Aussage ‘Die Gesamtwirklichkeit ist physischer Natur’ ist falsch, denn diese Aussage wäre ja nur dann wahr, wenn sich die Gesamtwirklichkeit vollständig physikalisch beschreiben ließe. Die Gesamtwirklichkeit lässt sich aber nicht vollständig physikalisch beschreiben. Insofern ist sozusagen das letzte Wort über die Grundbeschaffenheit der Gesamtwirklichkeit noch nicht gesprochen. 7.2 Zweiter Versuch: Metaphysischer Dualismus qua ontologischer Dualismus Obwohl die semantische Lösung, wie sie im letzten Abschnitt diskutiert wurde, auf einer ausgezeichneten Erkenntnistheorie beruht, vermag sie das psychophysische Problem nicht vollständig zu lösen.720 Das ist für den Dualisten ein Indiz dafür, dass wir es entgegen der monistischen Intuition doch mit zwei verschiedenen Arten von Entitäten zu tun haben und dass dementsprechend die Entitäten, die der Bewusstseinswirklichkeit angehören, auf irgendeine ontologische Weise von jenen Entitäten verschieden sind, die der transzendenten, mithin der metaphysischen Wirklichkeit angehören. Man will sozusagen den Entwurf einer Theorie nicht so einfach aufgeben, die der Tatsache Rechnung trägt, dass wir uns im Allgemeinen als Lebewesen begreifen, die zwar in gewisser Hinsicht selbst zur materiellen Wirklichkeit gehören, die aber auch fundamental davon verschieden sind. Aus diesen Gründen versteht sich der metaphysische Dualismus als ontologischer Dualismus, auch wenn sein Fundament, nämlich Schlicks erkenntnistheoretischer Realismus, auf der 719
Die erlebte Wirklichkeit ist uns nach Schlick unmittelbar gegeben, schlechthin bekannt. Die nicht-erlebte, die transzendente Wirklichkeit ist uns nicht unmittelbar gegeben und nicht bekannt (was freilich nicht heißt, dass diese Wirklichkeit unerkennbar wäre. Schlick unterscheidet zwischen erkennen und bekannt sein. Vgl. Schlick, Moritz: Allgemeine Erkenntnislehre, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1979). 720
Vgl. Schlick, Moritz: Allgemeine Erkenntnislehre, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1979.
293
einen Seite ein neutraler Monismus und auf der anderen Seite ein semantischer Dualismus ist. Doch in welcher Form ist ein ontologischer Dualismus in der Lage, die Beschaffenheit der Wirklichkeit theoretisch befriedigend zu erfassen? Um diese Frage zu beantworten, werde ich den metaphysischen Dualismus in Form eines ontologischen Qualitätendualismus skizzieren und in einem Verhältnis zu Substanz- und Eigenschaftsdualismus diskutieren. Darüber hinaus ist zu klären, was aus der Sicht dieses Dualismus zum Problem der psychophysischen Kausalität zu sagen ist bzw. was zur Lösung dieses Problems beigetragen werden kann. Nachdem der metaphysische Dualismus als ontologischer Qualitätendualismus weder auf der prästabilierten Harmonie (Parallelrelation) noch auf einem okkasionalistischen Ansatz (Relation der indirekten Kausalität) und ebensowenig auf einer Supervenienzrelation beruht, wird seine philosophische Relevanz letztlich an seinem Beitrag hierzu zu messen sein. 7.2.1 Der metaphysische Dualismus qua ontologischer Qualitätendualismus Bevor wir uns nun dem metaphysischen Dualismus qua ontologischem Qualitätendualismus widmen, sei noch gesagt, dass alle Überlegungen, die wir bis zu diesem Zeitpunkt angestellt haben, ihre Gültigkeit behalten und dass sie hier vorausgesetzt werden müssen. Vor allem die Erkenntnisse, die im Zusammenhang mit der Grundlegung des metaphysischen Dualismus gewonnen wurden, sind maßgebend, denn der Qualitätendualismus ist ja lediglich ein Versuch der speziellen Ausformung desselben. In diesem Sinn müssen wir uns zunächst klarmachen, was wir unter dem Ausdruck ‘Qualität’ verstehen wollen: Eine Qualität sein heißt irgendwie sein. 721 Alles, was existiert, existiert irgendwie, oder negativ formuliert: Nichts existiert, ohne irgendwie zu existieren. Daher fällt Entität-Sein und Qualität-Sein stets zusammen. Schlick sagt in der allgemeinen Erkenntnislehre: „Das Universum stellt sich uns dar als eine unendliche 721
Ich gebrauche den Ausdruck in Anlehnung an die Gebrauchsweise Moritz Schlicks. Damit sei gleichsam klargestellt, dass ich den Ausdruck nicht in einer der vielen anderen Bedeutungsweisen gebrauche, die sich in der philosophischen Tradition entwickelt haben.
294
Mannigfaltigkeit von Qualitäten.“722 Demnach zeichnen sich alle Qualitäten des Universums dadurch aus, dass sie auf eine ganz bestimmte Weise existieren. Und so will ich Qualitäten, in Anlehnung an Volker Gadenne, als irgendwelche individuellen Entitäten verstanden wissen, die an bestimmten Raum-Zeit-Stellen existieren. 723 Entweder an solchen, die durch das quantitative Begriffssystem der Physik erfasst werden, oder an solchen, die anschaulicher Natur sind. Alle diese individuellen Entitäten lassen sich nun der Ontologie des metaphysischen Dualismus nach in zwei Kategorien gliedern:724 In individuelle Entitäten, die irgendeinem Bewusstseinszusammenhang angehören, und in individuelle Entitäten, die keinem Bewusstseinszusammenhang angehören. Das gilt analog zur Argumentation Schlicks.725 Erstere sind Erlebnis-Qualitäten und konstituieren die Bewusstseinswirklichkeit kognitiver Subjekte (wir haben in diesem Kontext auch von Erlebniswirklichkeit gesprochen), letztere sind Ereignis-Qualitäten und konstituieren die metaphysisch transzendente, die subjektunabhängige Wirklichkeit (auch Ereigniswirklichkeit oder Außenwirklichkeit). Man könnte statt dessen auch von subjektiven und objektiven Qualitäten sprechen, wobei die subjektiven Qualitäten die gegebenen und bekannten sind, während ihnen die objektiven als nicht gegeben und nicht bekannt gegenüber stehen. Die subjektiven Qualitäten bezeichnen wir gemeinhin als psychisch, die objektiven Qualitäten als physisch. Dass wir darin gerechtfertigt sind, die objektiven Qualitäten als Ereignisqualitäten auszuzeichnen, folgt aus Schlicks Überlegung, der zufolge das Physische nicht dinghaft oder substanziell gedacht werden darf, sondern als Geschehnis oder Prozess aufgefasst werden muss. Einige subjektive Qualitäten stehen darüber hinaus in einer Zuordnungs- bzw. Koordinationsrelation zu einigen objektiven Qualitäten: So ist etwa die 722
Schlick, Moritz: Allgemeine Erkenntnislehre, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1979, S. 324. 723
Vgl. Gadenne, Volker: Wirklichkeit, Bewusstsein und Erkenntnis, Ingo Koch Verlag, Rostock, 2003. 724 725
Vgl. 6.3, Die Ontologie des metaphysischen Dualismus.
Auch Schlick differenziert zwischen Qualitäten, die einem Bewusstsein angehören, und solchen, die das nicht tun. (Vgl. Schlick, Moritz: Allgemeine Erkenntnislehre, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1979, S. 324.)
295
subjektive Qualität ‘gelbe Sonnenblume’ der objektiven Qualität Q koordiniert, die sich an einer bestimmten transzendenten Raum-Zeit-Stelle befindet. Q wird, nach allem, was wir bisher über das Universum wissen, sehr wahrscheinlich ein bestimmtes »physisches« Ereignis sein, d.h. ein Ereignis, das wir im Schlickschen Sinn physikalisch beschreiben können und das zudem auch bestimmte Hirnprozesse umfasst. An dieser Stelle muss noch einmal auf den Fehler der Introjektion hingewiesen werden:726 Das Gehirn, dem die Gehirnprozesse, von denen hier die Rede ist, zugeordnet werden und das der Neurowissenschaft nach dafür verantwortlich ist, dass es überhaupt so etwas wie Erlebnisqualitäten gibt, darf unter keinen Umständen mit jenem Gehirn identifiziert werden, das wir wahrnehmen, wenn wir den Schädel eines Patienten öffnen. Die Wahrnehmungen von Gehirnen sind nämlich selbst sämtlich erlebte Wi r k l i c h k e i t ; s i e g e h ö r e n , g e n a u s o w i e a l l e a n d e r e n Wahrnehmungszusammenhänge, der Erlebniswirklichkeit eines Subjekts an, also nicht der Ereigniswirklichkeit.727 Wahrgenommene Gehirne und gelbe Sonnenblumen sind wie Häuser, Bäume, Hunde, Tische, Sonne, Mond, Stühle, Steine usf., lediglich Repräsentanten transzendenter Qualitäten, oder anders formuliert: Repräsentanten eines transzendenten Irgendwie-Sein. Ich habe schon an anderer Stelle mit aller Deutlichkeit darauf hingewiesen, dass wir den Repräsentanten in einer differenzierten Betrachtung des Wirklichen nicht mit dem, was er repräsentiert, identifizieren dürfen. Gehirne und Gehirnprozesse sind transzendente Entitäten. Sie sind ein Teil der metaphysischen Wirklichkeit und dürfen nicht mit Wahrnehmungen und Vorstellungen davon identifiziert werden. Des weiteren wird angenommen, dass zwischen allen Qualitäten im Universum eine ontologische Wechselbeziehung besteht. Das heißt, dass die Qualitäten einander wechselseitig beeinflussen - „die Geschehnisse in meinem Bewußtsein werden nicht nur durch die transzendente Welt
726
Vgl. 6.4, Das Grundübel des psychophysischen Problems: Der Fehler der Introjektion. 727
Gleiches gilt natürlich auch für alle anderen Körperteile, die wir wahrnehmen, egal, ob es unsere eigenen sind oder diejenigen anderer Subjekte.
296
bedingt, sondern jene haben auch umgekehrt auf diese Einfluß [...]“728 . 729 Allerdings: Es handelt sich weder um eine Symmetrierelation der Kausalität noch um eine Asymmetrierelation der Kausalität, und ebenso wenig um eine Parallelrelation oder eine Supervenienzrelation.730 Wodurch aber unterscheidet sich, ontologisch gesehen, das Irgendwie-Sein von Erlebnissen vom Irgendwie-Sein von Ereignissen, also Subjektives von Objektivem? Erlebnisse sind anschaulich räumlich oder anschaulich zeitlich ausgedehnt oder beides, und sie sind phänomenal determiniert, d.h. sie sind irreduzibel an eine individuelle Erste-PersonPerspektive gebunden. Wie es für mich ist, einen Sonnenuntergang zu erleben, so ist es für niemanden sonst. Ereignisse hingegen sind nicht räumlich und nicht zeitlich ausgedehnt, wenn damit die Verhältnisse des räumlichen und zeitlichen Erlebens gemeint sind, und ebensowenig sind sie phänomenal determiniert. Ein Gehirnprozess zu sein, ist nicht irgendwie. Das Irgendwie-Sein von Erlebnissen ist daher mit dem Irgendwie-Sein von Ereignissen ontologisch nicht identisch. Was aber nicht identisch ist, das ist voneinander verschieden. 731 Die Gesamtwirklichkeit »zerfällt« also diesen Überlegungen nach in eine Zweiheit aus Erlebnisqualitäten und Ereignisqualitäten, aus Subjektivem und Objektivem, aus Bekanntem und Unbekanntem, aus Immanentem und (metaphysisch) Transzendentem. Freilich, und das darf nicht übersehen werden, muss der Dualismus der Qualitäten von der althergebrachten Unterscheidung zwischen Psychischem und Physischem samt den damit einhergehenden und unhaltbaren Vorstellungen bereinigt 728
Schlick, Moritz: Allgemeine Erkenntnislehre, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1979, S. 271. 729
Es ist wichtig, dass hier zunächst nicht von kausaler Wechselbeziehung die Rede ist. Warum, das wird sich im weiteren Verlauf der Überlegungen noch zeigen. 730
Vgl. 2.2.2.3, Das psychophysische Problem als Relationsproblem. Darüber hinaus habe ich auch zu Beginn von Kapitel 6 von einer ontologischen Wechselbeziehung gesprochen, die nicht mit herkömmlichen Modellen identifiziert werden darf. (Vgl. 6. Metaphysischer Dualismus - Grundriss einer Theorie) 731
Es mag sein, dass die angegeben Merkmale zur vollständigen Charakterisierung von Erlebnissen und Ereignissen nicht hinreichend sind, doch gleichgültig, welche Merkmale Erlebnisse und Ereignisse sonst noch haben mögen, sie haben jedenfalls die angegebenen Merkmale.
297
gedacht werden. Wir haben ja einerseits gesehen, dass das Physische nicht mit dem Bereich der räumlich und zeitlich ausgedehnten Wahrnehmungsgegenstände identifiziert werden darf; andererseits sahen wir, dass sich eine konsistente Auffassung des Psychischen nicht mit unseren herkömmlichen Vorstellungen davon in Einklang bringen lässt. Obwohl die Dichotomie der Wirklichkeit im metaphysischen Dualismus, anders als bei Schlick, nicht erkenntnistheoretischer, sondern ontologischer Natur ist, so wird mit der ontischen Andersartigkeit von Erlebnissen und Ereignissen dennoch nicht derselbe unüberwindbare Graben aufgerissen, wie es noch im Fall der naiven Vorstellung von Psychischem und Physischem konstatiert werden musste. Das wird sich in den nächsten Abschnitten noch zeigen. 7.2.2 Metaphysischer Dualismus versus Substanzdualismus Der metaphysische Dualismus ist kein Substanzdualismus, weil jedenfalls die Erlebnisqualitäten keine Substanzen im Sinne der ontologischen Kategorie ‘Substanz’ sind. 732 Erlebnisqualitäten sind existenziell abhängig von bestimmten transzendenten Qualitäten. Die Erlebnisqualität ‘Baum’ z.B. ist abhängig von bestimmten transzendenten Gehirnprozessen und von bestimmten anderen transzendenten Ereignissen, etwa vom Ereignis ‘Lichtwelle mit bestimmter Frequenz’. Natürlich sind auch Häuser, Hunde, Steine, andere Menschen usf. keine Substanzen, sofern damit wahrnehmungsimmanente Repräsentanten transzendenter Qualitäten gemeint sind. Der gesamte Bereich dessen, was wir im Wirklichkeitsmodell der Alltagsrealität für die subjektunabhängige Wirklichkeit halten, muss ja, dem metaphysischen Dualismus entsprechend, als etwas von den Bewusstseinszuständen eines Subjekts Abhängiges gedacht werden und ist somit keine Substanz. Was den Substanzdualismus als solchen betrifft, könnte man nun eine kritische Frage stellen: Wenn das, was wir üblicherweise für Substanzen erachten, in Wahrheit keine Substanzen sind, welche Entitäten sind dann im Sinne des Substanzdualismus überhaupt noch als Substanzen auszuzeichnen? Zunächst gilt trivialerweise, dass die Existenz von Substanzen 732
Vgl. 4.1.3, Substanzdualismus, insbesondere die Definition des Ausdrucks ‘Substanz’.
298
ausschließlich für die transzendente Realität angenommen werden darf. Doch wenn man diese Realität als Prozess- oder Ereignisrealität auffasst, so muss man die Frage stellen, ob Prozesse oder Ereignisse tatsächlich Substanzen sind. Ich möchte daher als Gedankenexperiment, folgende Abhängigkeitsverhältnisse vorschlagen: (1) Alle Erlebnisqualitäten sind abhängig von bestimmten Ereignisqualitäten und somit keine Substanzen. (2) Alle Ereignisqualitäten sind voneinander abhängige Qualitäten und somit ebensowenig Substanzen. (3) Jede Ereignisqualität ist von jeder Erlebnisqualität unabhängig. Das Problem dieses Experiments liegt aber sofort auf der Hand: Wenn jede Ereignisqualität von jeder Erlebnisqualität unabhängig ist, dann ist jede Ereignisqualität eine Substanz. Ereignisqualitäten sind also zugleich Substanzen und Nicht-Substanzen ein logischer Widerspruch. Dieser ließe sich zwar dadurch aufheben, dass man nicht den einzelnen Ereignisqualitäten, sondern der transzendenten Realität als Ganzer, die ja in ihrer Gesamtheit von den Ereignisqualitäten konstituiert wird, den ontologischen Status ‘Substanz’ zuschreibt doch dann ergibt sich sofort ein neues, nämlich mereologisches Problem: Es stellt sich nämlich die Frage, ob die Teile einen anderen ontologischen Status haben können als das Ganze selbst.733 Ganz abgesehen davon, ist der metaphysische Dualismus bestrebt den Erkenntnissen der Neurowissenschaft Rechnung zu tragen, denen zufolge Bewusstseinszustände von Gehirnprozessen abhängig sind, und auch dies ist mit dem Substanzdualismus nur schwer zu vereinbaren, wenn überhaupt.
733
Es ist natürlich nicht prinzipiell ausgeschlossen, dass ein Gegenstand einen anderen ontologischen Status hat als sämtliche seiner Teile. Wenn mit ‘ontologischer Status’ die Zugehörigkeit zu einer ontologischen Kategorie gemeint ist, dann ist das mereologisch zulässig. Man geht aber im Allgemeinen doch davon aus, dass die Gegenstände, welche in der Teil-Ganzes-Beziehung zueinander stehen, zur selben ontologischen Kategorie gehören.
299
7.2.3 Metaphysischer Dualismus versus Eigenschaftsdualismus Der metaphysische Dualismus ist kein Eigenschaftsdualismus, wenn damit gemeint ist dass Personen Substanzen sind, und damit Träger sowohl psychischer als auch physischer Eigenschaften.734 Nachdem sich die Entität ‘Person’ nicht von ihren Eigenschaften gelöst denken lässt, ist sie weder der transzendenten Realität noch der Bewusstseinswirklichkeit eindeutig subsumierbar. Das widerspricht aber dem metaphysischen Dualismus, denn ihm zufolge »zerfällt« die Gesamtwirklichkeit in Entitäten, die entweder dem einen angehören oder dem anderen. Der metaphysische Dualismus ist auch keine Ausprägung der Emergenztheorie, der zufolge auf einer gewissen Ebene struktureller Komplexität aus Mengen von physischen Eigenschaften psychische Eigenschaften entstehen. Im metaphysischen Dualismus gibt es nämlich außer den Fundamentaleigenschaften735 keine Eigenschaften, sondern nur individuelle Entitäten. 736 Z.B. ist ‘Gelb’ keine Eigenschaft der wahrgenommenen Sonnenblume, sondern die gelbe Sonnenblume ist eine individuelle Entität die in diesem Fall einem Bewusstseinszusammenhang angehört. Überhaupt ist die Rede davon, dass bestimmte Eigenschaften andere Eigenschaften hervorbringen, und dass diese dann aufeinander wirken, unverständlich. Sicher haben physische Entitäten, wie etwa Gehirnzellen, bestimmte Eigenschaften, und das, was aus dem Zusammenspiel dieser Zellen hervorgeht, wie etwa Bewusstsein, hat ebenfalls bestimmte Eigenschaften, doch es ist eine verfehlte Ausdrucksweise einfach nur von Eigenschaften zu reden, denn weder trifft es zu, dass Gehirnzellen nichts anderes sind als Eigenschaften noch das Bewusstseinsphänomene nichts anders sind. Doch nichtsdestoweniger ist die Emergenztheorie für die Weiterentwicklung des metaphysischen Dualismus interessant. Denkt man nämlich statt der Genese emergenter Eigenschaften aus einer Menge von Eigenschaften die Genese emergenter Erlebnisqualitäten aus einer Menge von Ereignisqualitäten, so wäre dies 734
Vgl. 4.1.4, Eigenschaftsdualismus.
735
Die Fundamentaleigenschaften des metaphysischen Dualismus sind anschauliche Räumlichkeit, anschauliche Zeitlichkeit, Subjektivität, Objektivität, unanschauliche Räumlichkeit und unanschauliche Zeitlichkeit. 736
Vgl. 4.1.4, Eigenschaftsdualismus, Emergenztheorie.
300
grundsätzlich ein gangbarer Weg zur Erklärung der Genese der Erlebniswirklichkeit. Offen bleibt natürlich die Frage, ob es tatsächlich der Fall sein kann, dass aus einer Menge von Ereignisqualitäten Erlebnisqualitäten hervorgehen. Nachdem aber die klassische Unterscheidung zwischen Psychischem und Physischem im metaphysischen Dualismus aufgehoben ist und das Physische nicht mehr mit der materiellen und räumlichen Wirklichkeit im herkömmlichen Sinn identifiziert werden darf, erscheint dies zumindest prinzipiell denkbar. Das ist insofern wichtig, als der metaphysische Dualismus die Genese der Erlebnisqualitäten jedenfalls dann erklären müsste, wenn er als Theorie auftreten wollte. Und endlich ist der metaphysische Dualismus auch kein E p i p h ä n o m e n a l i s m u s .737 A b g e s e h e n d a v o n , d a s s a u c h i m Epiphänomenalismus unklar ist, was es heißt, dass eine Eigenschaft kausal unwirksam ist, wird das Psychische, oder besser gesagt: werden die Erlebnisqualitäten im metaphysischen Dualismus nicht als Nebenprodukte der transzendenten Prozesse aufgefasst, so wie z.B. Kohlendioxid als Nebenprodukt bestimmter Stoffwechselvorgänge im menschlichen Körper aufgefasst wird, sondern sie stellen einen eigenständigen Bereich des Wirklichen von gleichem »Realitätswert« dar. Es gilt, wie Moritz Schlick sagt, mit äußerster Konsequenz die Ansicht durchzusetzen, dass kein Teil der Wirklichkeit, welchen Zusammenhängen er auch immer angehört, das »Wesen« der Welt mehr repräsentiert als irgendein anderer. 738 „Wir gelangen vielmehr zu einem [...] befriedigerenden Weltbilde, wenn wir allen realen Objekten ohne Unterschied die gleiche Wirklichkeit zuschreiben [...].“739 Die Idee, die Gesamtwirklichkeit als Zusammenspiel von Teilen mit verschiedenem Realitätsgrad zu begreifen, findet sich
737
Vgl. 4.1.4, Eigenschaftsdualismus, Epiphänomenalismus.
738
Vgl. Schlick, Moritz: Allgemeine Erkenntnislehre, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1979. 739
Schlick, Moritz: Allgemeine Erkenntnislehre, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1979, S. 271.
301
bereits bei Platon, doch weder Platons noch ein anderes System ähnlichen Musters vermochte diese Idee theoretisch befriedigend umzusetzen.740 7.2.4 Der metaphysische Dualismus und das Problem psychophysischer Kausalität Neben der Frage nach der Genese von Bewusstseinsphänomenen oder Erlebnisqualitäten ist die Frage nach der Beziehung zwischen Psychischem und Physischem, oder in unserem Fall die Frage nach der Beziehung zwischen Bewusstseinswirklichkeit und transzendenter Realität, zwischen Erlebnisqualitäten und Ereignisqualitäten, die Gretchenfrage aller ontologischen Dualismen. Das wurde bereits durch frühere Untersuchungen klar. Nicht zuletzt deshalb, weil die Auffassung, dass der Bereich der Erlebnisse in gar keiner Beziehung zu jenem der Ereignisse steht, in der Philosophie niemals ernsthaft vertreten wurde. Aber wenn es eine Beziehung gibt, dann müssen dualistische Theorien eben erklären, wie diese möglich ist. Hierzu sind zwar in der Geschichte der Philosophie bekanntermaßen ganz verschiedene Konzeptionen formuliert worden, doch die einzige Variante, die heute noch sinnvoll erscheint, ist jene der psychophysischen Kausalität, d.h. der kausalen Wechselbeziehung zwischen Psychischem und Physischem. Doch leider mussten die Probleme, die in diesem Zusammenhang auftauchten, schon an anderer Stelle als schwerwiegende Einwände gegen die Realisierbarkeit einer dualistischen Ontologie vorgebracht werden.741 Es stellt sich also die Frage, wie der metaphysische Dualismus den Problemen der psychophysischen Kausalität begegnet und in welcher Hinsicht er zu einer Lösung derselben beitragen kann.
740
Platon selbst etwa wendet gegen seine Ideenlehre ein, dass die Beziehung zwischen den Einzeldingen und den Ideen unklar ist, und Aristoteles erklärt, dass die Annahme von Ideen zu einer unnötigen Verdoppelung des Seienden führt. Viele Jahrhunderte später finden sich beide Einwände gegen Kants Auffassung von den Erscheinungen der Ding an sich wieder. (Vgl. Schlick, Moritz: Allgemeine Erkenntnislehre, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 197) 741
Vgl. 4.1, Der Dualismus. Vgl. 4.1.5, Allgemeine Probleme des Dualismus.
302
7.2.4.1 Das Problem fehlender psychologischer Gesetze Das Problem fehlender psychologischer Gesetze ergibt sich aus der These einer Anomalie des Psychischen, die Donald Davidson in Verbindung mit der Regularitätstheorie der Kausalität in die Diskussion eingeführt hat. 742 Nach Davidson gibt es „keine strengen, deterministischen Gesetze, mit Bezug auf welche mentale Ereignisse[743] vorausgesagt und erklärt werden können (die Anomalie des Mentalen)“744 . Dem wird im metaphysischen Dualismus widersprochen. Vielmehr gilt, dass es nicht für alle Erlebnisqualitäten, d.h nicht für alle Vorkommnisse individueller Entitäten, welche die Bewusstseinswirklichkeit, also das individuell Psychische konstituieren, deterministische Gesetze zu deren Vorhersage und Erklärung gibt. Das zeigt sich am besten in Bezug auf die kausale Erklärbarkeit von menschlichem Verhalten. Man kann nicht kausal erklären, warum jemand während seines Frühstücks den Standard liest und nicht die Kronen Zeitung. Es lassen sich nämlich hierfür keine Ursachen finden, sondern bloß Gründe. Gründe sind aber keine Ursachen. Sie bewirken keine Handlung, denn selbst, wenn jemand gute Gründe hat, während seines Frühstücks den Standard zu lesen und nicht die Kronen Zeitung, so tut er dies nicht in jedem Fall. Es wäre ja ohne weiteres denkbar, dass ihm irgendetwas dazwischen kommt, sodass er den Standard nicht liest. Es gibt also einige mentale Vorkommnisse, die nicht durch strenge Gesetze zu erfassen sind, und das gilt auch im metaphysischen Dualismus. Es gibt aber auch Vorkommnisse, auf die das nicht zutrifft: So lassen sich etwa Wahrnehmungsvorstellungen ohne weiteres kausal erklären: Z.B. ist die Ursache für die Wahrnehmungsvorstellung (Erlebnisqualität) ‘gelbe Sonnenblume’ eine transzendente Qualität Q (Ereignisqualität), die sich an 742
Vgl. 4.1.5.1.1, Das Problem fehlender psychologischer Gesetze.
743
Anmerkung: Davidsons Rede von mentalen Ereignissen ist im Sinne der Terminologie des metaphysischen Dualismus unzulässig. Mit der Anwendung des Ausdrucks ‘Ereignis’ auf mentale Entitäten, wie sie Davidson vornimmt, geht nämlich eine Mehrdeutigkeit einher, wodurch große Probleme entstehen. So wird etwa suggeriert, dass mentale Vorgänge Vorgängen ähnlich sind, die wir im Bereich des Physischen vorfinden. 744
Davidson, Donald: Mentale Ereignisse, in: Bieri, Peter: Analytische Philosophie des Geistes, Beltz Verlag, Weinheim und Basel, S. 74.
303
einer bestimmten transzendenten Raum-Zeit-Stelle befindet und die sich dieser Vorstellung exakt zuordnen lässt. Man wird Davidson aber dennoch in zweierlei Hinsicht zustimmen müssen: Erstens sind Ursache-WirkungsKetten dieser Art für eine befriedigende Theorie des Dualismus zwar notwendig, aber nicht hinreichend. Zweitens sind solche Gesetzmäßigkeiten in dem Sinn nicht exakt, als sie nur unter nicht genauer bestimmten Normalbedingungen gelten. Ein optischer Reiz ruft [...] eine Farbempfindung bestimmter Qualität und Intensität hervor - sofern die Versuchsperson wach ist, sich auf ihre Empfindungen konzentriert, nicht unter dem Einfluss von Drogen steht, gesund ist usf. Ein solches »und so fort« hat in exakten Gesetzen keinen Platz.745
7.2.4.2 Das Problem der kausalen Geschlossenheit der physischen Wirklichkeit Eines der wichtigsten Teilprobleme des Dualismus stellt die These der kausalen Geschlossenheit der physischen Wirklichkeit dar. Während das Problem fehlender psychologischer Gesetze noch keinen prinzipiellen Einwand gegen die Möglichkeit kausaler Wechselbeziehung zwischen Psychischem und Physischem darstellt, sondern lediglich ein Problem für deren Erklärbarkeit aufzeigt, so verhält es sich im Fall der kausalen Geschlossenheit deutlich anders. Wenn man von kausaler Geschlossenheit spricht, dann geht man im Allgemeinen davon aus, dass es im physischen Universum nichts gibt, das eine nicht-physische Ursache hat.746 Dieses Prinzip heißt methodologischer Physikalismus und ruht auf der Annahme, dass gilt: Wenn ein physisches Ereignis zu einem bestimmten Zeitpunkt t eine Ursache hat, dann hat es zu t eine physische Ursache.747 Ursachen wie Wirkungen von etwas Physischem gelten uns wieder als etwas Physisches. Wenn der methodologische Physikalismus zutrifft, dann folgt daraus aber nicht nur, dass es keine kausale Wechselbeziehung zwischen Psychischem 745
Von Kutschera, Franz: Philosophie des Geistes, Mentis, Paderborn, 2009, S. 220.
746
Vgl. 2.2.2.3, Das psychophysische Problem als Relationsproblem, Die Symmetrierelation der Kausalität. Vgl. 4.1.5.1.2, Das Problem der kausalen Geschlossenheit der physischen Wirklichkeit. 747
Vgl. Metzinger, Thomas: Philosophie des Geistes; Das Leib-Seele-Problem, Mentis, Paderborn, 2007, S.14.
304
und Physischem geben kann, sondern viel mehr, dass das Psychische überhaupt keinen Platz im physischen Universum hat: Nachdem sich nämlich für diejenigen physischen Vorgänge, die ihren Ausgang im Bereich des Psychischen nehmen keine physischen Ursachen angeben lassen, lässt sich das Prinzip des methodologischen Physikalismus nur dadurch aufrecht erhalten, dass man das Psychische entweder ganz eliminiert oder behauptet, das alles Psychische in »Wahrheit« Physisches ist. Dass dieser Weg aber in den Materialismus führt, ist hinlänglich bekannt ebenso wie die Tatsache, dass der Materialismus unhaltbar ist. Der einzige Ausweg bestünde darin, das Prinzip einfach aufzugeben, aber das ist ein problematischer Weg, weil es sich hierbei um ein ganz grundlegendes Prinzip unseres wissenschaftlichen Weltbildes handelt. Zwar hat etwa nach Kutschera, die Physik selbst die These der kausalen Geschlossenheit bereits aufgegeben, doch diese Ansicht ist kontrovers.748 So ist es z.B. nach Gossler zwar zutreffend, dass ein strenger kausaler Determinismus aufgegeben wurde, doch man darf daraus nicht, wie manche Philosophen, den Schluss ziehen, dass die Annahme mentaler Verursachung „nunmehr auch physikalisch möglich sei. Dies ist [...] ein Mißverständnis, weil der physikalische Indeterminismus zwar unverursachte, nicht aber willentlich beeinflußte Ereignisse zuläßt“749 . Trotz alledem lässt sich das Problem der kausalen Geschlossenheit der physischen Wirklichkeit im metaphysischen Dualismus leicht lösen. Es beruht nämlich lediglich auf einem gewaltigen Irrtum, hervorgebracht durch mangelnden philosophischen Tiefblick. Dieser Irrtum besteht darin, dass das physikalische Universum mit der Gesamtwirklichkeit identifiziert wird, und dies wiederum ist auf den Fehler der Introjektion zurückzuführen. Dabei wird, wie in Kapitel 6 erläutert, das Psychische als etwas Unräumliches aufgefasst, während das Physische,
748
„Die Quantenphysik betrachtet vielmehr Systeme unter dem Einfluss von Beobachtungen als äußeren Eingriffen, untersucht also gerade nicht geschlossene Systeme.“ Von Kutschera, Franz: Philosophie des Geistes, Mentis, Paderborn, 2009. S. 222. 749
Gossler, Marcus: Über die Nichtidentität des physikalischen und philosophischen Indeterminismus, in: Coneptus, Nr. 47, Verband der wissenschaftlichen Gesellschaften Österreichs, Wien, 1985, S. 63.
305
ganz selbstverständlich, für etwas Räumliches gehalten wird. 750 Die Welt des Physischen, „wie unsere Vorstellungskraft sie ausmalt, ist [aber] dann nicht bloß räumlich, sondern sie umfaßt auch alles Räumliche: sie erfüllt als einzige den ganzen Raum [...]“751. Diese Auffassung ist jedoch falsch. Wir wissen ja längst, daß im Gegenteil alle unsere Raumvorstellungen ganz und gar aus den räumlichen, örtlichen Bestimmtheiten der Empfindungen geschöpft sind, daß nur diesen [...] psychischen Größen Ausdehnung im anschaulichen Sinne zukommt, und gerade nicht den physischen Dingen.752
Das »physische Universum« umfasst nicht den gesamten Raum - im Gegenteil, es darf überhaupt erst außerhalb des anschaulichen Raums angesetzt werden. Räumliche Ausdehnung gehört dem Bewusstseinszusammenhang an, nicht der transzendenten Realität. Insofern gilt zwar, dass x mit y identisch ist, doch wenn für x der Ausdruck ‘physisches Universum’ eingesetzt wird, dann darf man für y, will man einen wahren Satz erhalten, nicht den Ausdruck ‘Gesamtwirklichkeit’ einsetzen, sondern lediglich den Ausdruck ‘transzendente Realität’. Das physische Universum ist nicht identisch mit der Gesamtwirklichkeit, sondern ausschließlich mit der transzendenten Realität.753 Jetzt kann in einem weiteren Schritt alles Physische, das mit Psychischem wechselwirkt, aus dem »physischen Universum« eliminiert werden, denn es gehört ganz offenbar nicht zum physischen Universum. Für dieses gilt ja kausale Geschlossenheit. Es geht aber auch nicht »verloren«, denn es bleibt ja
750
Vgl. 6.4, Das Grundübel des psychophysischen Problems: Der Fehler der Introjektion. 751
Schlick, Moritz: Allgemeine Erkenntnislehre, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1979, S. 338. 752 753
Ebenda.
Dass das physische Universum mit der transzendenten Realität identisch ist, war auch ein Ergebnis früherer Untersuchungen. Vgl. 6.3.1, Die Ontologie der Gesamtwirklichkeit und die Metaphysik des Materiellen.
306
gänzlich Teil der Gesamtwirklichkeit. 754 Auf diese Weise entgeht man dem Bieri-Trilemma755, und man kann nun ganz unproblematisch behaupten: Es gibt nichts im physischen Universum, das nicht eine physische Ursache hat und es gibt eine Wechselbeziehung zwischen Psychischem und Physischem. Somit ist auf der einen Seite das Prinzip des methodologischen Physikalismus gewahrt, und auf der anderen Seite ist es überhaupt nicht notwendig, von der Gesamtwirklichkeit als solcher zu sagen, sie sei kausal geschlossen. Darüber hinaus bleibt auch die Erklärbarkeit der rein physischen Wirklichkeit allein auf der Grundlage physischer Zusammenhänge gewahrt, und man muss nicht behaupten, dass es im Universum nichts geben kann, das sich einer physikalischen Erklärung entzieht. Das wäre auch eine ganz unangebrachte Behauptung, denn der Glaube daran, dass es im gesamten Universum nichts gibt, das sich der physikalischen Erklärung prinzipiell entziehen könnte, ist unplausibel. Natürlich bleibt festzuhalten, dass eine Theorie der Gesamtwirklichkeit irgendein vernünftiges Erklärungsmodell für die Wechselbeziehung zwischen Physischem und Psychischem benötigt - der metaphysische Dualismus verfügt allerdings nicht über eine solches Modell. 7.2.4.3 Das Problem der explanatorischen Lücke Das Problem der explanatorischen Lücke besagt, dass es zwischen dem Bereich des Physischen und dem Bereich des Psychischen eine »Lücke« gibt, die es uns nicht erlaubt, durch das »Abschreiten« einer UrsacheWirkungs-Kette von dem einen Bereich in den anderen zu gelangen: Geht man von einer physischen Ursache aus, etwa von der Ursache einer Rotempfindung, und verfolgt die Kette ihrer Wirkungen, so bleibt man 754
Die Wahrheit, dass nämlich das Psychische, also die Erlebnisqualitäten, keinen Platz im physischen Universum haben, dass sie also zu Recht vollständig daraus entfernt werden müssen, musste auch im Verlaufe der Untersuchungen zum metaphysischen Dualismus eingesehen werden. (Vgl. 6, Metaphysischer Dualismus Grundriss einer Theorie) Doch die Entfernung des Psychischen aus dem Reich des Physischen stellt nun, anders als im Materialismus, kein Problem mehr dar. 755
Vgl. 2.2.2.3, Das psychophysische Problem als Relationsproblem, Die Symmetrierelation der Kausalität.
307
stets im Bereich des Physischen. Gleiches gilt auch, wenn man umgekehrt von einer physischen Wirkung ausgeht, etwa davon, dass sich meine Hand hebt, und die Kette ihrer Ursachen zurückverfolgt.756 Psychisches kommt weder in dem einen noch in dem anderen Fall jemals vor. Es besteht sozusagen ein unerklärlicher Sprung vom Physischen zum Psychischen, und dieser Sprung muss im Rahmen einer kausalen Wechselbeziehungsthese kausal erklärt werden. Das gilt auch für den metaphysischen Dualismus, ist also unabhängig davon, ob man Psychisches und Physisches in einem herkömmlichen Sinn versteht oder ob man von transzendenter Realität und Bewusstseinswirklichkeit spricht. Wie sich gleich zeigen wird, ist aber das Problem der explanatorischen Lücke nicht nur ein Argument gegen die Erklärbarkeit einer kausalen Wechselbeziehung von Physischem und Psychischem, sondern auch ein Argument gegen ihre Möglichkeit. Legt man nämlich das übliche Verständnis der kausalen Geschlossenheit der physischen Welt zugrunde, so ist die Erklärbarkeit des Sprungs genauso unmöglich wie der Sprung selbst: Das eine ist deshalb unmöglich, weil jede physische Ursache notwendig eine ebensolche Wirkung hat und umgekehrt und man daher per Definition auf einem kausalen Weg niemals in den Bereich des Psychischen kommt. Das andere ist deshalb unmöglich, weil das Prinzip der kausalen Geschlossenheit nur dann gewahrt bleibt, wenn man das Psychische entweder ganz eliminiert oder behauptet, dass alles Psychische in »Wahrheit« Physisches ist. Dementsprechend ist der ontologische Dualismus, insbesondere der metaphysische Dualismus, falsch. Ich möchte zwei Einwände gegen diese Auffassung vorbringen: Zunächst ist da die interessante Tatsache, dass manche Philosophen, wie beispielsweise Joseph Levine, das Problem der Sprunghaftigkeit nicht als Argument gegen den Dualismus deuten, sondern, im Zusammenhang mit Qualia757, als Argument gegen den Materialismus. In den Augen der Qualia-Freunde zeigt die Existenz einer Erklärungslücke, dass der Physikalismus falsch ist: Wäre er richtig, dann müssten sich phänomenale 756 757
Vgl. 4.1.5.1.3, Das Problem der explanatorischen Lücke.
Der Ausdruck ‘Qualia’ (Mehrzahl) oder ‘Quale’ (Einzahl), ist ein Terminus technicus, der gleichbedeutend mit ‘die Art und Weise, wie uns die Dinge erscheinen’ gebraucht wird, oder auch gleichbedeutend mit dem schon bekannten Ausdruck ‘phänomenaler Charakter mentaler Phänomene’.
308 Eigenschaften als natürliche Phänomene vollständig aus ihren materiellen Bedingungen heraus erklären lassen; da die Erklärungslücke dies unmöglich macht, kann der Physikalismus nicht richtig sein.758
Des weiteren lässt sich die These von der Unmöglichkeit psychophysischer Wechselwirkung im metaphysischen Dualismus nicht aufrecht erhalten. Hier konnte ja das Problem der kausalen Geschlossenheit gelöst werden. Doch selbst dann, wenn man diese Lösung akzeptiert und für physische Wirkungen psychische Ursachen zulässt und umgekehrt, so muss man dennoch zugeben, dass sich der Bereich des Psychischen der Zugänglichkeit durch kausale Erklärungen bis dato entzieht. 7.3 Dritter Versuch: Metaphysischer Dualismus qua semantischer Dualismus Im dritten und letzten Versuch will ich mit dem semantischen Dualismus eine Variante des metaphysischen Dualismus skizzieren, die sich an die semantische Lösung Schlicks anlehnt, die aber aus dem Parallelgehen psychischer und physischer Beschreibungssysteme einen ganz anderen Schluss zieht. Tatsächlich ist der Schritt vom metaphysischen Dualismus qua ontologischem Dualismus zum metaphysischen Dualismus qua semantischem Dualismus ein kleiner, denn die ontologische Verschiedenheit zwischen jenen Qualitäten die der transzendenten Realität angehören, und jenen Qualitäten, die den Bewusstseinswirklichkeiten der Subjekte angehören, lässt sich auch von einem semantischen Standpunkt aus betrachten. Die These, die vom Scheitern des semantischen Physikalismus inspiriert ist, lautet: Die Notwendigkeit, die Beschaffenheit der Welt, in zwei heterogenen Beschreibungssystemen zu erfassen, rechtfertigt uns darin, ihre ontologische Verschiedenheit anzunehmen. Während Schlick also behauptet, dass sich alle Qualitäten im Universum, unabhängig davon, welchen Zusammenhängen sie angehören, physikalisch beschreiben lassen, und daraus den Schluss zieht, dass die Gesamtwirklichkeit physischer Natur ist, behauptet der metaphysische Dualist als semantischer Dualist, dass sich einige Qualitäten im Universum
758
Heckmann, Heinz-Dieter; Walter, Sven: Qualia, Mentis, Paderborn, 2006, S. 29.
309
nur physikalisch beschreiben lassen und einige nur psychologisch759 , und er zieht daraus den Schluss, dass die Gesamtwirklichkeit psychophysischer Natur ist. Bei all dem darf man freilich, was häufig allzu schnell passiert, niemals den Punkt aus den Augen verlieren, dass ein Dualismus von Psychischem und Physischem solcher Art in gleicher Weise ein bloß semantischer ist, wie es auch der Monismus des Physischen im Sinne Schlicks ist. Die Entitäten an sich, also das, was mit den psychologischen und physikalischen Begriffen bezeichnet wird, dürfen nicht mit dem Bezeichneten verwechselt werden. Es stellt sich also ganz allgemein die Frage, ob mit strikt semantischen Lösungsversuchen, überhaupt gehaltvolle ontologische Aussagen über die »Ausstattung« der Wirklichkeit mit bestimmten Arten von Entitäten gemacht werden können, oder ob man damit nicht eigentlich immer einen neutralen Monismus vertritt, oder gar einen Fehlschluss begeht. Es könnte ja auch sein, dass der Schein trügt, d.h. dass dem Ansatz der konstruktivistischen Ontologie folgend, der Glaube an eine ontologische Verschiedenheit von Psychischem und Physischem daher rührt, dass die Grundstrukturen des Seienden Projektionen der Grundstrukturen der Sprache sind, d.h. dass die Art unserer sprachlichen Bezugnahme auf die Welt, einen ontologischen Dualismus bloß suggeriert. Mit anderen Worten: Die bezeichneten Entitäten sind ontologisch gesehen irgendetwas oder vom Standpunkt des psychophysischen Problems aus betrachtet, ontologisch neutral. Erst dadurch, dass wir die Entitäten mit bestimmten Begriffen bezeichnen, werden sie zu dem, wofür wir sie halten. Unabhängig davon gerät der semantische Dualismus in zwei Schwierigkeiten: Erstens weist das psychologische Begriffssystem bei weitem nicht dieselbe Präzision auf wie das physikalische. Wollte man also den Bereich psychischer Zusammenhänge ähnlich genau beschreiben wie den Bereich der physischen Zusammenhänge, so müsste man das psychologische Begriffssystem bedeutend weiterentwickeln. Und zweitens kann auch der semantische Dualismus, jedenfalls mit dem im Moment zur 759
Wenn hier von psychologischer Beschreibung die Rede ist, so ist damit natürlich nicht gemeint, dass es sich nur um die Sprache der Psychologie handelt, denn diese befasst sich z.B. auch mit neurophysiologischen Qualitäten, sondern es ist damit gemeint, dass sich einige Qualitäten im Universum ausschließlich in einer nichtphysikalischen Sprache beschreiben lassen.
310
Verfügung stehenden psychologischen Begriffssystem, das Problem der explanatorischen Lücke nicht lösen. 7.4 Die Probleme des metaphysischen Dualismus und eine Kritik des Kausalbegriffs Die wichtigste Leistung des metaphysischen Dualismus besteht zweifelsfrei darin, dass es diese Konzeption erlaubt, Psychisches und Physisches widerspruchsfrei als fundamentale ontologische Bestandteile ein und derselben Wirklichkeit aufzufassen. Außerdem gibt es in dieser Form des Dualismus überhaupt keinen Grund mehr anzunehmen, dass es keine psychophysische Wechselwirkung geben kann, denn weder nötigt uns das Prinzip der kausalen Geschlossenheit zu einer solchen Annahme noch kennen wir irgendein anderes Gesetz, wonach die Dinge, die aufeinander wirken sollen, gleichartig sein müßten; die Erfahrung zeigt vielmehr überall, daß das Allerverschiedenste in [...] Wechselwirkung steht; und wenn sie es sonst auch nicht zeigte, so liegt doch im Begriff der Wechselwirkung nichts, was seine Anwendung auf gleichartige Dinge beschränkte. Warum sollte wohl die Wirkung von der Ursache nicht beliebig verschieden sein können?760
Damit allein ist zwar das psychophysische Problem noch nicht gelöst, doch die verbleibenden Schwierigkeiten liegen auf der Hand (sie wären im übrigen für den metaphysischen Dualismus qua semantischem Dualismus dieselben) und lassen sich deutlich eingrenzen: Es handelt sich um die theoretisch befriedigende Erklärung der Genese des Psychischen und um die Erklärung der psychophysischen Wechselbeziehung. Im metaphysischen Dualismus lässt sich nämlich einerseits systematisch nicht erklären, wie das Psychische überhaupt in die Welt kommt. Das ist auch der Grund dafür, warum die Existenz der Bewusstseinswirklichkeiten am Beginn der Untersuchungen als unentstandene Entitäten vorausgesetzt wurden mussten. Man postulierte: „[...] Das gesamte Reich der eigenen Bewußtseinsdaten [ist uns] schlechthin bekannt, es ist einfach da, vor allem Fragen, vor aller Erkenntnis, die daran nichts ändern, nichts
760
Schlick, Moritz: Allgemeine Erkenntnislehre, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1979, S. 337.
311
wegnehmen und nichts hinzusetzen kann.“761 Andererseits lässt sich auch keine durchgängige und strikte Erklärung der Wechselbeziehung angeben, weil sich der große Bereich der Handlungen bzw. des Verhaltens ganz offensichtlich einer strikten Beschreibung im Sinne eines Kausalgesetzes entzieht.762 Beide Schwierigkeiten wurden ja schon im Zusammenhang mit dem Problem fehlender psychologischer Gesetze und dem Problem der explanatorischen Lücke einsichtig. Ganz allgemein gesagt scheint die endgültige Lösung des psychophysischen Problems aus heutiger Sicht an einem fehlenden Begriffsapparat zu scheitern, der es erlauben würde, die Gesamtwirklichkeit, basierend auf ihrer ontologischen Verschiedenheit, psychologisch und physikalisch vollständig zu beschreiben und diese Beschreibungssysteme durch geeignete Brückengesetze miteinander zu verbinden. Einen wesentlichen Grund dieses Scheiterns sehe ich im Zusammenhang mit dem Kausalbegriff und der Regularitätstheorie der Kausalität. Sie sollen daher abschließend etwas genauer betrachtet werden, denn während etwa kausale Erklärungen in der modernen Physik, insbesondere in der Quantenmechanik, zur Erklärung der dort auftretenden physischen Phänomene als unbrauchbar erkannt wurden, weil ein Laplacescher Determinismus763 selbst im Bereich des Physischen nicht mehr durchzuhalten ist, sind sie in der Philosophie des Geistes, was den Zusammenhang mit dem psychophysischen Problem betrifft, immer noch das Maß aller Dinge.764
761
Schlick, Moritz: Allgemeine Erkenntnislehre, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1979, S. 201. 762
Unter dem Ausdruck ‘Kausalgesetz’ versteht man entweder (1.) den Grundsatz der Kausalität, der besagt, dass jedes Ereignis die Wirkung einer wohlbestimmten Ursache sei (auch: Kausalitätsprinzip), oder aber (2.) ein beliebiges Naturgesetz, auf das sich die Behauptung stützen lässt, dass ein Ereignis Ursache bzw. Wirkung sei. 763
Vgl. De Laplace, Pierre Simon: Philosophischer Versuch über die Wahrscheinlichkeit, Harri Deutsch Verlag, Frankfurt, 1996. 764
So weist etwa auch Franz von Kutschera darauf hin, dass die Physik selbst das Prinzip der kausalen Geschlossenheit aufgegeben hat. „Die Quantenphysik betrachtet [...] Systeme unter dem Einfluss von Beobachtungen als äußeren Eingriffen, untersucht also gerade nicht geschlossene Systeme.“ (Von Kutschera, Franz: Philosophie des Geistes, Mentis, Paderborn, 2009, S. 221 f.)
312
Worum geht es also? Nehmen wir z.B. an, dass Franz ein Stein auf den Fuß fällt und er einen stechenden Schmerz verspürt oder dass Hans zum Kühlschrank geht, um sich ein kaltes Bier zu holen. Das sind ganz alltäglich beobachtbare Wechselbeziehungen zwischen Psychischem und Physischem. Vor allem von den Materialisten wird nun gefordert, dass eine befriedigende Theorie des Geistes eine kausale Erklärung dieser Wechselbeziehungen vorzulegen hat, die auf der Regularitätstheorie der Kausalität beruht. Doch weder im ersten noch im zweiten Beispiel ist eine solche Erklärung möglich.765 Nun ist es zwar naheliegend, darüber zu diskutieren, dass es möglicherweise falsch ist, eine ontologische Art von Entitäten anzunehmen, die sich einer kausalen Erklärung entzieht, doch wenn selbst die Physik heute Zufallsereignisse annimmt, die sich mit den Gesetzen der klassischen Physik nicht mehr erklären lassen, so ist es ebenso legitim, die Frage zu stellen, ob die Regularitätstheorie, die für alle Ursache-Wirkungs-Beziehungen einschlägige Naturgesetze fordert, in dieser Hinsicht nicht zu eng ist. Darüber hinaus ist weder der Kausalbegriff selbst noch die Regularitätstheorie der Kausalität frei von Schwierigkeiten. Zunächst zum Kausalbegriff: Unserer traditionellen Auffassung einer Ursache-WirkungsBeziehung entsprechend verstehen wir nämlich unter Kausalität die Relation einer notwendigen Folge. Doch „demgegenüber hat Hume betont, daß wir durch Beobachtungen keine Notwendigkeiten feststellen können, sondern nur Fakten“766 . Wenn wir uns unter äußeren Gegenständen umsehen und die Wirksamkeit der Ursachen betrachten, so sind wir in keinem einzigen Fall imstande, irgendeine [...] notwendige Verknüpfung zu entdecken, irgendwelche Eigenschaft, die die Wirkung an die Ursache bände und die eine zur unfehlbaren Folge der anderen
765
Zwar lässt sich im ersten Fall zumindest eine Ursache angeben, doch es gibt keine Naturgesetze, aus denen folgt, dass Franz immer einen stechenden Schmerz verspürt, wenn ihm ein Stein auf den Fuß fällt. Im zweiten Fall scheitert man bereits am Versuch, eine eindeutige Ursache finden zu wollen. Geht Hans zum Kühlschrank, weil er durstig ist, oder etwa, weil er sich zur Feier des Tages ein kaltes Bier gönnen möchte? 766
Von Kutschera, Franz: Die falsche Objektivität, de Gruyter, Berlin, 1993, S. 41.
313 machte.767 Was wir beobachten, ist zunächst nur die zeitliche Aufeinanderfolge zweier Ereignisse, und wenn eine solche Aufeinanderfolge regelmäßig eintritt, bezeichnen wir das erste Ereignis als die Ursache des zweiten Ereignisses.768
Kausale Erklärungen sind deshalb keine logisch strikten Erklärungen, sondern im besten Fall nomologisch strikte Erklärungen. Aber auch die Naturgesetze, die wir heute kennen, beruhen auf dem, was wir bisher beobachtet haben, und unsere zukünftigen Beobachtungen könnten uns zu ganz anderen Annahmen zwingen. Nun zu den Schwierigkeiten der Regularitätstheorie: Die erste Schwierigkeit besteht darin, dass die Regularitätstheorie nicht „zwischen einer Ursache und der Wirkung einer gemeinsamen Ursache unterscheiden kann“769 . Darauf hat John Stuart Mill mit folgendem Beispiel hingewiesen: Wenn es 12 Uhr schlägt, ertönen in einer Fabrik in London und in einer Fabrik in Manchester die Sirenen. In beiden Fabriken gehen daraufhin die Arbeiter zum Mittagessen. Es gilt also, daß die Arbeiter in Manchester immer zum Essen gehen, nachdem die Fabrikssirene in London ertönt. Nach der Definition [der Regularitätstheorie der Kausalität][770] [...] wäre damit das Ertönen der Fabrikssirene in London die Ursache dafür, daß die Arbeiter in Manchester zum Essen gehen, was absurd ist. Die angebliche Ursache ist hier nur eine frühere Wirkung der gemeinsamen Ursache, daß es 12 Uhr schlägt.771
767
Hume, David: Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, Meiner, Hamburg, 2005, S. 77. 768
Von Kutschera, Franz: Die falsche Objektivität, de Gruyter, Berlin, 1993, S. 41 f.
769
a. a. O. S. 42.
770
Anmerkung: Kutschera geht in diesem Beispiel von folgender Definition der Regularitätstheorie aus: „Ein Ereignis E ist Ursache eines Ereignisses E$, wenn es eine Menge G von Gesetzen gibt und eine Menge A von wahren Antezedensbedingungen, so daß gilt: E$ folgt logisch aus G, A und E, aber weder aus A und E allein, noch aus A und G allein, und wenn das Ereignis E$ sich auf einen späteren Zeitpunkt bezieht als E und die Antezedensbedingungen aus A.“ (Von Kutschera, Franz: Die falsche Objektivität, de Gruyter, Berlin, 1993, S. 42) 771
Von Kutschera, Franz: Die falsche Objektivität, de Gruyter, Berlin, 1993, S. 42.
314
Die zweite Schwierigkeit besteht darin, dass „die weitaus überwiegende Anzahl kausaler Erklärungen, die wir im Alltag wie in den Wissenschaften angeben, nicht die von dieser Theorie verlangte Form hat“.772 Wir sagen z.B., Fritz habe sich das Bein gebrochen, weil er auf einer Bananenschale ausgerutscht sei. Wir akzeptieren diese Erklärung, obwohl wir keine Gesetze und Antezedensbedingungen kennen, mit denen die Wirkung aus der Ursache ableitbar wäre. Die meisten kausalen Erklärungen sind also im Sinne der Regularitätstheorie nicht korrekt, und das spricht dagegen, diese Theorie als eine adäquate Explikation des Ursachenbegriffs[773] anzusehen.774
Der Vollständigkeit halber sei noch gesagt, dass weder die kontrafaktische Analyse 775 noch die Wahrscheinlichkeitstheorie der Kausalität776 und ebensowenig die modallogische Theorie der Kausalität777 den
772
Von Kutschera, Franz: Die falsche Objektivität, de Gruyter, Berlin, 1993, S. 42.
773
„Eine kausale Erklärung eines Ereignisses besteht ja in der Angabe einer Ursache, und wann ein Ereignis als Ursache eines anderen anzusehen ist, sagt uns eine Theorie der Kausalität.“ (Von Kutschera, Franz: Die falsche Objektivität, de Gruyter, Berlin, 1993, S. 41) 774
Von Kutschera, Franz: Die falsche Objektivität, de Gruyter, Berlin, 1993, S. 42 f.
775
„Eine kontrafaktische Analyse von Kausalsätzen ist - in unterschiedlichen Formen vor allem von David Lewis in (1973a) und John L. Mackie in (1974) vertreten worden. Der Grundgedanke ist: Das Ereignis E ist Ursache des Ereignisses E$, falls gilt: Wäre E nicht eingetreten, so auch nicht E$.“ (Von Kutschera, Franz: Die falsche Objektivität, de Gruyter, Berlin, 1993, S. 43) 776
In der Wahrscheinlichkeitstheorie der Kausalität gilt: „E ist Ursache von E$, wenn die Wahrscheinlichkeit von E$ aufgrund von E höher ist als die nichtbedingte Wahrscheinlichkeit von E$ , E und E$ tatsächlich stattfinden und E früher ist als E$.“ (Von Kutschera, Franz: Die falsche Objektivität, de Gruyter, Berlin, 1993, S. 46) 777
„Nach der modallogischen Kausalitätstheorie ist eine Ursache des Ereignisses E$ ein Ereignis, mit dessen Eintreten das von E$ erst notwendig wurde. Das läßt sich so präzisieren: Ein Ereignis E ist Ursache des Ereignisses E$, wenn es einen Zeitpunkt t gibt, in dem E beginnt, und wenn es in t notwendig ist, daß E$ eintritt, falls E eintritt, während das Eintreten von E$ in t noch nicht notwendig ist, E$ aber vom Beginn seines Eintretens an notwendig ist.“ Von Kutschera, Franz: Die falsche Objektivität, de Gruyter, Berlin, 1993, S. 49)
315
Ursachebegriff so adäquat expliziert, dass man damit sämtliche UrsacheWirkungs-Beziehungen erfassen könnte. Die Forderung nach einer kausalen Erklärung der Gesamtwirklichkeit im Sinne der Regularitätstheorie der Kausalität erscheint mir viel zu stark, denn sie ist ja noch nicht einmal dazu geeignet, alle Phänomene der transzendenten Welt einwandfrei zu erfassen. Was die erlebte Wirklichkeit betrifft, gilt: Auch wenn es ohne Zweifel Erlebnisse gibt, die Ursachen haben, wie etwa das Auftreten der Erlebnisqualität ‘gelbe Sonnenblume’, so sind Ursache-Wirkungs-Beziehungen, so wie wir sie im Moment verstehen, zur Erklärung eines weitaus größeren Bereichs des Psychischen, nämlich jenem des Verhaltens, Denkens, Fürwahrhaltens und Urteilens, unbrauchbar. Nicht zuletzt deshalb, weil es für die meisten dieser Erlebnisqualitäten schlicht und einfach überhaupt keine Ursachen gibt, sondern nur Gründe. Gründe sind aber keine Ursachen. Zwar behaupten manche Forscher, dass wir sehr bald die ganze Bandbreite der geistigen Wirklichkeit kausal in Form von Gehirnprozessen erklären werden können, doch dies ist eine illusorische Vorstellung, wie bereits früher gezeigt wurde. Selbst dann, wenn wir alle Vorgänge im Gehirn in physikalischer Sprache beschreiben können, werden wir nichts darüber sagen können, warum z.B. Franz glaubt, dass es Gott gibt, und wir werden ebensowenig darüber sagen können, wie es für Franz ist, an Gott zu glauben. All dies spricht nun aber insgesamt viel weniger gegen einen Dualismus der Entitäten als vielmehr gegen einen Monismus der Erklärungen. Wir müssen wahrscheinlich einsehen, dass die Sprache der Physik, zumindest in ihrer gegenwärtigen Form, samt der Rede von kausalen Zusammenhängen, nicht dazu geeignet ist, das gesamte Universum, also das Transzendente, das Extramentale, außerhalb allen Bewusstseins Liegende und unanschauliche auf der einen Seite, und das unmittelbar erlebte anschaulich Wirkliche, das Subjektive, jeweils nur einem einzigen Subjekt zugängliche auf der anderen Seite, zu beschreiben. Diese Einsicht zwang uns ja auch, Schlicks semantische Lösung des psychophysischen Problems zurückzuweisen.
317
8. Schlussbetrachtung Philosophie, so könnte man sagen, ist in letzter Konsequenz, die Beschäftigung mit Fragen, auf deren Nichtaufwerfen die Stabilität unserer Lebenspraxis beruht.778 Es sind die sogenannten letzten Fragen - Fragen über „das Dasein des Menschen, das Wesen des Seins, die Strukturen der Welt, die Möglichkeit von Erkenntnis - aber auch schlichte Fragen von der Art: Worin besteht das Leben“779 , die für die Philosophie charakteristisch sind. Auch die Frage nach der Existenz der Seele und ihrem Verhältnis zum Physischen ist eine solche. Was diese Fragen insgesamt auszeichnet, ist ihre Tiefe, denn das, worauf sie abzielen, ist die Art von Erkenntnisgewinn, der das »Wesen« des befragten Gegenstandes selbst offenlegt. Wer also diese und ähnliche Fragen stellt, der stellt mithin philosophische Fragen, und wer sie zu durchdringen sucht, der muss vom Diktat der Alltagsrealität Abstand nehmen. Ohne einen solchen bleiben sie unzugänglich, denn dort, wo die Räume enger definiert und die Zeiten knapper bemessen sind, fehlt jener kontemplative Zustand eines Lebens in der Theorie, den es hierfür einzunehmen gilt. Das gilt auch oder gerade für die Leib-Seele-Frage. In unserem praktischen Leben gibt es nämlich keinen Zweifel: Menschen sind [...] auf der einen Seite biologische Lebewesen: Sie atmen und nehmen Nahrung zu sich, sie paaren sich und pflanzen sich fort, sie wachsen, altern und sterben. Auf der anderen Seite haben sie aber auch ein mentales Leben: Sie nehmen wahr und erinnern sich, sie denken nach und fällen Entscheidungen, sie freuen und ärgern sich, sie f ü h l e n S c h m e r z u n d Erleichterung.780
Für den Philosophen aber ist kaum etwas ein größeres Problem als dieses offensichtliche und gemeinhin für trivial gehaltene Zusammenspiel von Körper und Geist, von Physischem und Psychischem; handelt es sich doch letztlich um die philosophisch äußerst bedeutende Frage, wie die Gesamtwirklichkeit grundsätzlich beschaffen und theoretisch befriedigend 778
Dieser Satz stammt aus einem Interview mit Robert Spaemann.
779
Schmid, Wilhelm: Philosophie der Lebenskunst, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1998, S. 27. 780
Beckermann, Ansgar: Analytische Einführung in die Philosophie des Geistes, de Gruyter, Berlin, 2008, S. 1.
318
zu erfassen ist. Je nach philosophischer Überzeugung, mit welchen Arten von Entitäten die Gesamtwirklichkeit »ausgestattet« ist, vertritt man entweder einen Dualismus, Materialismus, Idealismus oder neutralen Monismus. Das sind, wie wir gesehen haben, die klassischen ontologischen Grundpositionen zum psychophysischen Problem. Und obwohl alle vier Denkrichtungen dasselbe Ziel verfolgen, nämlich die theoretisch befriedigende Erfassung der Gesamtwirklichkeit, die darin vorkommenden Entitäten und ihr Verhältnis zueinander betreffend, sind ihre philosophischen Programme dennoch grundverschieden: Der Dualismus versucht die These zu verteidigen, dass die Gesamtwirklichkeit irreduzibel psychophysischer Natur ist und dass sie sich ohne einem der beiden Bereiche theoretisch nicht befriedigend erfassen lässt. Der Materialismus hingegen will zeigen, dass die Gesamtwirklichkeit fundamental physischer Natur ist und dass sie sich nur als physische Wirklichkeit theoretisch befriedigend erfassen lässt. Der Idealismus wiederum geht, diametral zum Materialismus, davon aus, dass die Gesamtwirklichkeit fundamental psychischer Natur ist und dass sie sich nur als psychische Wirklichkeit theoretisch befriedigend erfassen lässt. Und endlich der neutrale Monismus, der das psychophysische Problem dadurch zu lösen versucht, dass man einen ontologisch unbestimmten »Weltstoff« annimmt, der sich in einer bestimmten Anordnung als etwas Psychisches und in einer anderen als etwas Physisches interpretieren lässt. Weit gefehlt wäre aber nun die Annahme, dass es sich hierbei jeweils um ein einziges abgeschlossenes System oder eine Theorie handeln würde, deren Argumentationsstrang klar und deutlich eingesehen und deren Schwierigkeiten man ohne weiteres habhaft werden könnte. Im Gegenteil, die Anzahl der Denkgebäude, mit welchen man die Thesen zu verteidigen und die damit einhergehenden Probleme zu lösen suchte, ist heute kaum mehr überschaubar. Das liegt unter anderem wohl daran, dass sich die Philosophie schon seit den Vorsokratikern, insbesondere seit den Orphikern, den Pythagoreern und den Mechanisten, mit der Leib-Seele-Frage beschäftigt und dass sich zweieinhalbtausend Jahre des Nachdenkens auch quantitativ auswirken; wohl aber auch daran, dass die meisten Philosophen, wahrscheinlich häufiger als andere Denker, dem Zweifel Descartes anheim fallen, was dazu führt, dass es in der Philosophie, mit Ausnahme vielleicht gewisser Sätze der Logik, nur sehr wenige Aussagen gibt, deren Wahrheit auch noch des letzten Zweifels enthoben ist; und endlich auch daran, dass das
319
psychophysische Problem im Fortgang der modernen Wissenschaften eines der letzten großen Rätsel ist, das gelöst werden will. Handelt es sich also bei einer Arbeit zum psychophysischen Problem nicht um ein Lebenswerk, so ist es unumgänglich, eine Auswahl zu treffen, oder anders gesagt, die Ansätze, mit denen man sich zu beschäftigen wünscht, einzugrenzen. Für die vorliegende Abhandlung bedeutete dies im Fall des Dualismus die Konzentration auf Substanz- Eigenschafts- und metaphysischen Dualismus; im Fall des Materialismus die Konzentration auf den semantischen Physikalismus, den Funktionalismus, die Identitätstheorie und den nicht-reduktiven Physikalismus; und im Fall des Idealismus die Konzentration auf den transzendenten Idealismus. Was hingegen den neutralen Monismus betrifft, so wurde auf seine Behandlung weitestgehend verzichtet. Einerseits, weil es höchst fraglich ist, ob der neutrale Monismus tatsächlich im Stande ist gehaltvolle ontologische Aussagen zu machen, und andererseits, weil sich neutrale Monismen auch als eine Spielart des Eigenschaftsdualismus bzw. semantischer Dualismen charakterisieren lassen. Summa summarum wurden aber jene Ansätze in Betracht gezogen, welche aus meiner Sicht die Grundzüge des psychophysischen Problems am deutlichsten herausstreichen. Doch worin besteht dieses Problem nun eigentlich? In der Retrospektive dieser Arbeit könnte man sagen, dass sich das psychophysische Problem einerseits um die Frage dreht, mit welchen prinzipiellen Arten von Entitäten die Gesamtwirklichkeit »ausgestattet« ist, und wie sie aus ontologischer und erkenntnistheoretischer Sicht gedacht werden muss, sodass sich ein begründetes und widerspruchsfreies Ganzes ergibt, ohne allerdings unser Selbstverständnis von dem, was ist und wie es sich zueinander verhält, zu eliminieren. Andererseits, dass es sich aber auch um eine Situation handelt, die der Philosoph mitunter als Aporie bezeichnet, denn egal, welche Denkrichtung man präferiert, immer stößt man auf Schwierigkeiten, aus denen man sich nicht mehr zu befreien vermag. Das spiegelt sich auch im Ergebnis der vorliegenden Betrachtungen wieder. Keines der diskutierten Denkgebäude konnte das psychophysische Problem lösen: Der transzendente Idealismus scheiterte bei dem Versuch, die physische Realität zu eliminieren, weil sich ein Zusammenhang der Geschehnisse ohne Rückgriff auf eine göttliche Entität nicht mehr konstituieren lässt. Als ebenso wenig fruchtbar erwies sich der Versuch der materialistischen Theorien, das Geistige als einen Teil des Physischen begreifen zu wollen,
320
weil es jedenfalls analytisch unmöglich ist, die Erlebnisperspektive eines Subjekts vollständig in eine physikalische Weltanschauung zu implementieren. Was den Dualismus betrifft, so vermochten die klassischen Ansätze nicht zu zeigen, wie sich Psychisches und Physisches, im Sinne irreduzibel heterogener Teile des Wirklichen, ohne Widerspruch, als »Bewohner« ein und derselben Wirklichkeit verstehen lassen, und der metaphysische Dualismus wiederum, als ein Sonderfall dualistischen Denkens, scheiterte an der Erklärung psychophysischer Wechselwirkung und an der Erklärung der Entstehung des Psychischen. In der nun folgenden Zusammenschau wird der Weg der Untersuchungen noch einmal abgeschritten und werden die wichtigsten Erkenntnisse dargestellt. Ich beginne beim Idealismus und ende beim metaphysischen Dualismus: Die Kernthese des Idealismus besagt, dass die Gesamtwirklichkeit in letzter Konsequenz psychischer Natur ist. Zwar gibt es unterschiedliche Richtungen idealistischen Denkens, doch erst im transzendenten ontologischen Idealismus wird das idealistische Programm umfassend realisiert. Dort heißt es, dass es denkende Wesen (Geister) und geistige Inhalte gibt, sonst aber nichts. Der transzendente Idealismus ist der verlockende Versuch, die Gesamtwirklichkeit allein auf der Grundlage psychischer Entitäten zu konstituieren. Der Grund für diese Verlockung liegt auf der Hand: Wer ganz ohne die Existenzbehauptung materieller, also physischer Entitäten auskommt, der muss nicht erklären, wie Psychisches und Physisches widerspruchsfrei als »Bewohner« in ein und derselben Wirklichkeit gedacht werden können, und zwar weder im Sinne eines Reduktionismus noch im Sinne ontologischer Zurückführbarkeit. Sowohl die Probleme der materialistischen wie auch jene der dualistischen Ansätze sind daher mit einem Schlag obsolet. Dennoch birgt der transzendente Idealismus eine andere fundamentale Schwierigkeit in sich, nämlich die Frage nach der Kohärenz der Gesamtwirklichkeit: Ohne den Rückgriff auf eine göttliche Instanz lässt sich ein durchgehender Zusammenhang der Bewusstseinsvorgänge nicht herstellen. Doch eine solche Instanz ist als theoretische Entität, zumindest in diesem Kontext, unbrauchbar, weil die Probleme, in die man gerät, um ein Vielfaches größer sind als diejenigen, die man zu lösen versucht. Der einzige Ausweg bestünde darin, die physische Wirklichkeit durch geistige Konstrukte zu ersetzen, wobei sich die Frage stellt, wie das gehen soll:
321 Geistige Konstrukte, wie wir sie kennen, sind abstrakte Gegenstände, also Begriffe, Propositionen, Mengen, Funktionen und Zahlen, ferner Theorien, Normen, Ideale und dergleichen. All das sind immaterielle Objekte, die nicht in Raum und Zeit existieren. In ihrem Bereich gibt es kein Geschehen und daher auch keine Kausalbeziehungen. Physische Objekte existieren hingegen in Raum und Zeit, sie sind materiell, und physikalische Ereignisse stehen untereinander in kausalen Beziehungen. Die physische Welt ist ein Reich des Geschehens, nicht des zeitlosen Seins. Die Welt geistiger Konstrukte ist zwar nicht privat, sondern eine gemeinsame Welt, aber doch von ganz anderer Art als die physische Welt [...].781
Nicht zuletzt aus diesen wie auch aus den zuvor genannten Gründen mussten wir von den Ansätzen des Idealismus Abstand nehmen. Ausschlaggebend war auch die Ansicht, dass das idealistische Denken mit den Paradigmen der modernen Wissenschaft letztlich, alles in allem nicht in Einklang zu bringen ist. Der Materialismus verfolgt im Prinzip dieselbe Idee wie der Idealismus, allerdings in einem umgekehrten Sinn. Seine Kernthese besagt, dass die Gesamtwirklichkeit in letzter Konsequenz physischer Natur ist. Damit will man im Materialismus sagen, „dass sich Psychisches in letzter Analyse als etwas Physisches erweist, oder, [...] dass sich Psychisches auf Physisches reduzieren lässt und so keine eigenständige Realität neben dem Physischen darstellt“782 . Doch mit diesem »Scheindualismus« geht eine ganze Reihe von Problemen einher, die allesamt die Frage betreffen, wie das Psychische als Teil des Physischen gedacht werden kann. Alle Antwortversuche beruhen entweder auf dem Ansatz der Theorienreduktion oder auf jenem der ontologischen Zurückführbarkeit. Doch keinem dieser Ansätze ist es gelungen, das materialistische Programm theoretisch befriedigend zu realisieren. Neben den Definitions- und Übersetzungsproblemen des semantischen Physikalismus, den mengentheoretischen Schwierigkeiten der Identitätstheorie und dem Problem der fehlenden Theorie der kausalen Rollen im Funktionalismus scheitert der Materialismus im Wesentlichen an der Irreduzibilität der Erlebnisperspektive. Jedenfalls für einige mentale Zustände, wir haben sie im Gegensatz zu den Ereignissen Erlebnisse genannt, gilt, dass sie 781
Von Kutschera, Franz: Philosophie des Geistes, Mentis, Paderborn, 2009, S. 250.
782
a. a. O. S. 136.
322
perspektivisch sind, d.h. „dass sie an eine individuelle Erste-PersonPerspektive gebunden sind, an den individuellen Standpunkt, von dem aus ich selbst die Welt erlebe“783 . Doch dieser Standpunkt ist einer materialistischen Erklärung der Welt nicht zugänglich. „Wenn nämlich Erlebnistatsachen [...] nur einer bestimmten Perspektive zugänglich sind, dann ist es ein Rätsel, wie der wahre Charakter von Erlebnissen“784 in physischen Phänomenen entdeckt werden könnte, die sich ja gerade dadurch auszeichnen, dass sie von verschiedenen Individuen und aus verschiedenen Perspektiven beschrieben werden können. Lange vor Thomas Nagel, dessen Fledermaus-Argument aus heutiger Sicht der wichtigste Einwand gegen eine reduktionistische Erklärung des Psychischen ist, findet sich in Leibniz’ Mühlenbeispiel ein zwar einfaches, aber höchst plausibles Argument für die Unhaltbarkeit des Materialismus: „Angenommen es gäbe eine Maschine, deren Struktur zu denken, zu fühlen und Perzeptionen zu haben erlaubte“785 , und angenommen, diese Maschine wäre so groß, dass „man in sie eintreten könnte wie in eine Mühle. Dies vorausgesetzt würde man, indem man sie von innen besichtigt, nur Teile finden“786 , die erklären, warum die Maschine läuft, doch niemals etwas, was Gedanken, Gefühle und Perzeptionen dieser Maschine erklären würde. Wenn also der Materialismus verteidigt werden soll, „müssen phänomenologische Eigenschaften selbst physikalisch erklärt werden. Wenn wir aber ihren subjektiven Charakter untersuchen, scheint so etwas unmöglich zu sein“787 . Es wird zwar von einigen Materialisten immer wieder eingewendet, dass es unzulässig sei, sich einzig auf den Standpunkt der Irreduzibilität der Erlebnisperspektive zurückzuziehen, doch dieser Einwand kann kein ernsthafter Versuch sein, dem Argument der Irreduzibilität zu begegnen. Solange wir nämlich in unseren Erklärungen der Welt, aus welchen Gründen auch immer, bestimmte 783
Metzinger, Thomas: Das Leib-Seele-Problem, Mentis, Paderborn, 2007, S. 25.
784
Nagel, Thomas: Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?, in: Bieri, Peter: Analytische Philosophie des Geistes, Beltz Verlag, Weinheim und Basel, 2007, S. 267. 785
Leibniz, G. W.: Monadologie, Reclam, Stuttgart, 2008, S. 19.
786
Ebenda.
787
Nagel, Thomas: Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?, in: Bieri, Peter: Analytische Philosophie des Geistes, Beltz Verlag, Weinheim und Basel, 2007, S. 262.
323
Gegenstände auslassen müssen, weil wir diese Gegenstände nicht adäquat erklären können, können wir auch nicht behaupten, dass wir den Gegenstandsbereich, zu dem diese Gegenstände gehören, vollständig erklären können. Genauso wenig nämlich, wie der Physiker behaupten kann, dass er das physische Universum vollständig erklärt hat, ohne beispielsweise das Phänomen fallender Gegenstände erklärt zu haben, kann der Materialist behaupten, dass Psychisches in letzter Konsequenz nichts anderes ist als Physisches, oder anders gesagt, das Schmerzen nichts anderes sind als feuernde C-Fibern, ohne dabei den phänomenalen Charakter mentaler Phänomene berücksichtigt zu haben. Zusammenfassend kann man daher sagen, dass auch der Materialismus das psychophysische Problem nicht zu lösen vermochte. Wegen seiner Unhaltbarkeit sind endlich auch die Konsequenzen für das menschliche Selbstverständnis verfehlt, die man heute aus der materialistischen Antwort auf das Leib-Seele-Problem zieht. Nicht nur Freiheit wird zur Illusion erklärt, sondern absurderweise auch Ich und Bewusstsein, also das, was für uns am sichersten ist. Man fragt sich nicht einmal, wessen Illusion denn das sein soll; Illusionen sind ja falsche Ansichten und die können nur Wesen mit Bewusstsein haben. Man begreift offenbar nicht, dass man sich damit selbst zu einem Zombie erklärt, einem Wesen ohne Bewusstsein und Freiheit, das von äußeren Kräften bewegt wird und unfähig ist zu rationalem und verantwortlichem Reden und Tun.788
So wenig fruchtbar es erscheint, lediglich von geistigen Entitäten auszugehen, so wenig fruchtbar erscheint es, lediglich materielle anzunehmen. Bleibt also nur noch der Dualismus übrig, um das LeibSeele-Problem im Ausgang der Grundpositionen zu lösen. Die Kernthese der dualistischen Wirklichkeitsauffassung besagt ja, dass die Wirklichkeit aus Psychischem und Physischem besteht und dass Psychisches und Physisches so verschiedenartig sind, dass man sie nicht aufeinander reduzieren bzw. zurückführen kann. Anders formuliert könnte man auch sagen: Menschen besitzen „außer einem Körper auch einen von allen körperlichen Dingen verschiedenen nicht-physischen Geist [...]“789 und 788 789
Von Kutschera, Franz: Philosophie des Geistes, Mentis, Paderborn, 2009, S. 11.
Beckermann, Ansgar: Analytische Einführung in die Philosophie des Geistes, Gruyter, Berlin, 2008, S. 43.
324
dieser nicht-physische Geist lässt sich nur als eine eigenständige Entität sinnvoll begreifen. Mit dieser These entspricht der Dualismus zwar unserer herkömmlichen Auffassung der Realität, was die »Ausstattung« dieser Realität mit bestimmten Arten von Entitäten betrifft, am besten, er gerät aber gerade deshalb in große philosophische Schwierigkeiten. Aus heutiger Sicht handelt es sich hierbei vor allem um das Problem der psychophysischen Kausalität. Nach Franz von Kutschera lässt es sich in drei Subprobleme aufspalten: In das Problem fehlender psychologischer Gesetze, in das Problem der Erklärungslücke und in das Problem der kausalen Geschlossenheit der physischen Wirklichkeit. Letzteres ist für den Dualismus das schwierigste. Betrachten wir nämlich die Vorgänge in unserem Leben, so lässt sich unschwer feststellen, dass wir es die meiste Zeit mit einem Phänomen zu tun haben, das wir als mentale Verursachung oder abwärtsgerichtete Kausalität bezeichnen: Hans holt sich ein Bier aus dem Kühlschrank; Heinz setzt sich seine neue »Philosophenbrille« auf; Berta weint usw. Alle diese Vorgänge finden ihren Anfang im Bereich des Psychischen: Hans holt sich deshalb ein Bier, weil er glaubt, dass er sich zur Feier des Tages ein solches verdient habe; Heinz setzt seine neue Brille deshalb auf, damit er besser sehen kann, und Berta weint, weil sie traurig ist. Doch nach dem Gesetz der kausalen Geschlossenheit der physischen Wirklichkeit sind Vorgänge dieser Art unmöglich. Jede physische Wirkung muss hiernach eine physische Ursache haben. Nach diesem Verständnis des Physischen [...] kann es nur dann psychophysische Wechselwirkungen geben, wenn das Psychische selbst Teil des Physischen ist, wie der Materialismus annimmt; lehnt man also den Materialismus ab, so kann Psychisches nicht mit Physischem interagieren. Anders ausgedrückt: Gibt es psychophysische Wechselwirkung, so kann es nach der dualistischen Annahme einer Wesensverschiedenheit beider Bereiche keine Autonomie des Physischen geben, keine Unabhängigkeit von Nichtphysischem. Gehen wir umgekehrt von dieser Autonomie aus, die dem Verständnis der physischen Natur weithin zugrunde liegt, so ist die Annahme einer Wechselwirkung nicht mit dem Dualismus vereinbar.790
Das Psychische hat, wenn man so will, im physikalischen Universum als kausales Agens keinen Platz. Nirgendwo gibt es eine »Stelle«, an der es sich den Raum mit dem Physischen teilen könnte. In den klassischen 790
Von Kutschera, Franz: Philosophie des Geistes, Mentis, Paderborn, 2009. S. 221.
325
Ansätzen des Dualismus findet sich kein Weg, das in diesem Zusammenhang besprochene Bieri-Trilemma zu überwinden. Doch selbst dann, wenn man die Geschlossenheitsthese aufgibt, d.h. wenn man zulassen würde, dass physische Wirkungen psychische Ursachen haben, ließe sich die Interaktion zwischen Psychischem und Physischem nicht kausal im Sinne der Regularitätstheorie der Kausalität erklären: Hans holt sich nicht notwendigerweise ein Bier, wenn er glaubt, dass er sich zur Feier des Tages ein solches verdient hat; Heinz setzt sich nicht notwendigerweise seine neue Brille auf, weil er sonst schlecht sieht, und Berta weint nicht notwendigerweise, wenn sie traurig ist. Kausale Erklärungen verlangen aber nomologische Notwendigkeit, der zufolge denselben Ursachen immer dieselben Wirkungen folgen. Vor allem für Handlungen scheint diese Forderung nicht erfüllbar zu sein, denn Handlungen haben keine Ursachen, sondern Gründe. Gründe sind keine Ursachen, denn sie bewirken nicht in jedem Fall eine Handlung, ebensowenig wie sie in jedem Fall dieselbe Handlung bewirken. Abgesehen davon scheitert man im Dualismus bereits an der ontologischen Bestimmung der Entitäten: Bestimmt man das Psychische als Substanz, d.h. als eine existenziell vom Physischen unabhängige Größe (das Physische wird als Substanz vorausgesetzt), so argumentiert man gegen alle empirischen Befunde der Hirnforschung, wonach Psychisches radikal abhängig ist von bestimmten neuronalen Aktivitäten. Bestimmt man Psychisches und Physisches als wesensverschiedene Akzidentia, so hat man einerseits das Problem, dass es Entitäten geben muss, die sowohl Träger psychischer als auch physischer Eigenschaften sind, und also auch das Problem, zu welchem der beiden exklusiven Wirklichkeitsbereiche diese Entitäten gehören. Andererseits kann man aufgrund des Leibniz-Gesetzes nicht erklären, wie aus rein physischen Eigenschaften rein psychische Eigenschaften hervorgehen können. Aufgrund dieser unlösbaren Probleme mussten wir in letzter Konsequenz auch die klassischen Ansätze des Dualismus, d.h. Substanzdualismus, Eigenschaftsdualismus und Emergenztheorie, als unbefriedigend zurückweisen. Wir verfügen also weder über eine befriedigende idealistische, noch über eine befriedigende materialistische und ebenso wenig über eine befriedigende dualistische Theorie des Geistes. Summa summarum stellt sich daher die Frage, ob wir angesichts dieses Befundes nicht doch dazu gezwungen sind, die Auffassung von Emil Du Bois-Reymond zu
326
akzeptieren, die dieser in der Abhandlung über die Grenzen des Naturerkennens vertritt, und auf die ich bereits am Anfang der Arbeit hingewiesen habe: Gegenüber den Rätseln der Körperwelt ist der Naturforscher längst gewöhnt, mit männlicher Entsagung sein ‘Ignoramus’[791] auszusprechen. Im Rückblick auf die durchlaufende siegreiche Bahn trägt ihn dabei das stille Bewußtsein, daß, wo er jetzt nicht weiß, wenigstens unter Umständen wissen könnte, und dereinst vielleicht wissen wird. Gegenüber dem Rätsel aber, was Materie und Kraft seien, und wie sie zu denken vermögen, muß er ein für allemal zu dem v i e l s c h w e r e r a b z u g e b e n d e n Wa h l s p r u c h s i c h e n t s c h l i e ß e n : ‘Ignorabimus’[792].793
Mit anderen Worten: Wir versuchen seit langer Zeit, das Leib-Seele-Problem zu lösen. Es hat sich hartnäckig unseren größten Anstrengungen widersetzt. Das Rätsel bleibt bestehen. Ich denke, es ist Zeit zuzugeben, dass wir das Rätsel nicht lösen können.794
Nun, dass wir das Rätsel niemals werden lösen können ist wahrscheinlich eine ebenso starke Behauptung, wie jene, dass wir es lösen werden können, wenngleich man zugeben muss, dass die erste, zumindest aus historischen Gründen, de facto als die vernünftigere erscheint. Zweifellos kann man aber sagen, und zwar auch angesichts der vorliegenden Untersuchungen, dass es sich beim Leib-Seele-Problem tatsächlich um ein ganz schwieriges und außergewöhnliches Rätsel handelt. Worauf uns die Rede vom Rätsel aber außerdem noch aufmerksam macht, ist die Tatsache, dass sich manche Rätsel dadurch auszeichnen, dass ihre Lösung durch irreführende Angaben erschwert wird und sie nur deshalb als unlösbar erscheinen. Der Rätsellöser geht nämlich infolgedessen von falschen Voraussetzungen aus, 791
‘Ignoramus’ war die Formel der geschworenen Altenglands im Falle ihrer Unentschiedenheit, ob eine Anklage begründet oder unbegründet sei. 792 Anmerkung:
‘ignorabilis’ (lat.) unbekannt.
793
Du Bois-Reymond: Über die Grenzen des Naturerkennens, Veit & Comp, Leipzig, 1916, S. 51. 794
McGinn, Colin: Can we solve the mind-body problem?, Mind, Oxford University Press, 1998, S. 349-366, in: Metzinger, Thomas: Das Leib-Seele-Problem, Mentis, Paderborn, 2007, S. 464. Hinweis: Emil Du Bois-Reymond hat lange vor McGinn auf die Möglichkeit der Unlösbarkeit des Problems hingewiesen.
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und solange er das nicht bemerkt, kann er das Rätsel tatsächlich nicht lösen. Dass eine solche Irreführung tatsächlich vorliegt, war eine der wichtigsten Erkenntnisse dieser Arbeit und ich will diese Erkenntnis zusammenfassend als Problem des göttlichen Standpunkts bezeichnen:795 Die Annahme, daß wir einen externen, gewissermaßen göttlichen Standpunkt einnehmen könnten, von dem aus wir die Welt - einschließlich unserer selbst befreit von den Bedingtheiten menschlichen Erfahrens und Denkens so sehen können, wie sie an sich ist, ist die epistemologische Ursünde, deren Resultat nur eine vernunftlose Sicht der Dinge sein kann.796
Doch genau diese »Ursünde« wird im herkömmlichen Diskurs zur LeibSeele-Frage begangen; die latenten Konstitutionsprozesse der Alltagsrealität führen unbemerkt zum Anschein als stünden wir auf einem göttlichen Standpunkt. Die Bedingtheiten der Erfahrungswirklichkeit bleiben deshalb unreflektiert, und infolgedessen wird von jener naiven Konstitution des Wirklichen ausgegangen, die von der Alltagsrealität hervorgebracht und vom naiven Realismus philosophisch formuliert wird: „Auf der einen Seite stehen die unausgedehnten und nicht materiellen, jeweils nur einem einzigen Subjekt unmittelbar zugänglichen geistigen Vorkommnisse, auf der anderen Seite die materiellen bzw. räumlich ausgedehnten“797, durch die Wahrnehmung intersubjektiv und unmittelbar zugänglichen physischen Gegenstände und Ereignisse. Da nur die Außenwelt räumlich ausgedehnt ist, handelt es sich beim »Ort« der Innenwelt lediglich um ein metaphorisches »Innen«. Doch damit sind im Sinne der Rätselmetapher gleichsam alle irreführenden Angaben gemacht, die eine Lösung des psychophysischen Problems in weite Ferne rücken lassen. Eine Aufklärung desselben führt daher einzig über den Weg der erkenntnistheoretischen und ontologischen Dekonstruktion unserer alltäglichen Auffassung des Realen. Das ist mithin das Programm des metaphysischen Dualismus.
795
Es handelt sich um das präpsychophysische Problem, von dem in Kapitel 3 die Rede war. 796 797
Von Kutschera, Franz: Die falsche Objektivität, de Gruyter, Berlin, 1993, S. VI.
Willaschek, Marcus: Der mentale Zugang zur Welt, Klostermann Verlag, Frankfurt, 2003, S.101.
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Der metaphysische Dualismus ist zu allererst darum bemüht den naiven Realismus zu überwinden. Erst die Einsicht, dass die Außenwirklichkeit als Realgrund für die Sinneseindrücke des Subjekts im epistemologischen Sinn konstruiert ist; dass das, was vom naiven Realisten im ontologischen Sinn für die Außenwirklichkeit gehalten wird, bloß Erscheinungscharakter hat; dass die Erscheinungen nur Repräsentanten von außenwirklichen Gegenständen sind; dass die Identifikation von Repräsentant und Repräsentiertem ein logischer Fehler ist, dem zufolge die subjektabhängige Wahrnehmungswirklichkeit für die subjektunabhängige Außenwirklichkeit gehalten wird, und dass aus diesem Grund die Strukturen der Wahrnehmungs- bzw. Bewusstseinswirklichkeit (d.i. Räumlichkeit, Zeitlichkeit, Gegenständlichkeit, Körperlichkeit und Attributbeladenheit) zu Unrecht auf die Außenwirklichkeit übertragen werden, führt zu der Erkenntnis, dass die klassischen Lösungsversuche zum Leib-Seele-Problem, jedenfalls was den Materialismus und den Dualismus angeht, von ontologischen Verhältnissen ausgehen, die aus philosophischer Sicht schlichtweg unbrauchbar sind. Welche aber sind brauchbar? Die Antwort, die der metaphysische Dualismus gibt, beruht auf Moritz Schlicks erkenntnistheoretischem Realismus: Allen Teilen der Wirklichkeit muss derselbe Realitätsgrad zugebilligt werden, denn kein Teil repräsentiert das Wesen des Wirklichen mehr als ein anderer. Psychisches und Physisches sind, wie schon im Fall des Dualismus, irreduzible eigenständige Teile des Wirklichen; wenngleich, und das ist freilich fundamental, die Strukturen dieser Teile diametral zu jenen Strukturen gedacht werden müssen, die uns aus der Alltagsrealität bekannt sind: Die räumlich und zeitlich ausgedehnten und nicht materiellen, jeweils nur einem einzigen Subjekt unmittelbar zugänglichen, geistigen Vorkommnisse, stehen den räumlich und zeitlich unausgedehnten, metaphysisch transzendenten Gegenständen und Ereignissen gegenüber. Diese Ontologie weicht erheblich von unserem herkömmlichen Weltbild ab, und zwar in zwei Punkten: Erstens: Nicht die Außenwelt ist räumlich und zeitlich ausgedehnt, sondern die so genannte Innenwelt. Anschauliche Räumlichkeit und anschauliche Zeitlichkeit sind für den metaphysischen Dualismus Kategorien des Bewusstseins, nicht Kategorien der Außenwelt. Die Außenwelt ist nicht räumlich und nicht zeitlich, wenn mit diesen Ausdrücken etwas Anschauliches, d.h. etwas Erlebtes, bezeichnet wird.
329
Der anschaulich erlebte Raum und die anschaulich erlebte Zeit gehören dem Bewusstseinszusammenhang an, nicht dem Zusammenhang der Außenwelt. Das korrespondiert auch mit der „seit Kant so weithin anerkannten Lehre von der Subjektivität des Raums und der Zeit“798 . Beides sind ja „nach dieser Lehre bloße Formen unserer Anschauung“. 799 Für eine brauchbare Raum- und Zeitontologie ist es daher unabdingbar, explizit zwischen dem subjektiv erlebten Raum und der subjektiv erlebten Zeit sowie dem objektiven Raum und der objektiven Zeit zu unterscheiden. Das eine sind Erlebniszusammenhänge, das andere sind abstrakte begriffliche Ordnungsschemata vom Typus eines dreidimensionalen bzw. eindimensionalen Kontinuums. Letztere sind unanschaulich, weil sie nichts anderes sind als bloße Begriffe. Zweitens: Die Gegenstände und Ereignisse der Außenwelt sind nicht wahrnehmbar, und zwar unter keinen Umständen, denn die Außenwelt ist metaphysisch transzendent. Negiert man diese These, so gerät man nicht nur in eine ganze Reihe unaufhebbarer Widersprüche, wie sie uns im naiven Realismus begegnet sind, sondern man muss außerdem die These aufgeben, dass die Außenwelt objektiv bzw. subjektunabhängig ist. Die Konstitution von Wahrnehmungsinhalten ist, vereinfacht gesagt, abhängig vom Zustand des Subjekts, doch Objektivität bzw. Subjektunabhängigkeit schließt Subjektivität bzw. Subjektabhängigkeit aus. Erst durch die Einführung der metaphysischen Außenwirklichkeit ist eine Wirklichkeit eingeführt, die für alle Subjekte und deren Erlebniszusammenhänge als objektive, identische und dadurch als eine gemeinsame gelten kann. Damit ist aber nicht nur die eine, allen Subjekten als gemeinsame Grundlage dienende, sie miteinander verbindende und schlechthin subjektunabhängige Wirklichkeit eingeführt, „auf welche Worte und Begriffe der miteinander verkehrenden Menschen sich beziehen“800 , sondern es kann nun auch der Gegenstandsbereich der empirischen Wissenschaften, jedenfalls jener der Physik, an die richtige Stelle gerückt werden. Er fällt nämlich mit dem Bereich der metaphysischen Wirklichkeit zusammen. Das Physische ist das Metaphysische. In diesem Sinn kann 798
Schlick, Moritz: Allgemeine Erkenntnislehre, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1979, S. 276. 799
Ebenda.
800
a. a. O. S. 298.
330
man auch von der Metaphysik des Materiellen sprechen, denn die Physik muss sich für die Beschreibung der gemeinhin als materiell aufgefassten Außenwirklichkeit unumgänglich auf die metaphysische Außenwirklichkeit beziehen, wenn die Wahrheit ihrer Aussagen über eine bloß subjektive Bedeutung hinausgehen soll. Das leuchtet mit aller Klarheit ein, denn die Wissenschaft will ja allgemeine Gesetzmäßigkeiten formulieren, nicht solche, die bloß für einen einzelnen Erlebniszusammenhang, für ein einzelnes Bewusstsein, Gültigkeit beanspruchen können. Der Preis für diese Allgemeingültigkeit ist die unaufhebbare, für die Wahrnehmung gleichsam unüberwindliche Grenze zwischen dem Bereich je eigener subjektiver Erlebniszusammenhänge und dem Bereich außerhalb davon. Erst jetzt kann der Grundfehler entlarvt werden, der das psychophysische Problem zu einer so vertrackten Angelegenheit macht: Er liegt nämlich darin, dass das Physische im Gegensatz zum Psychischen, von jeher als etwas Wirkliches betrachtet wird, das anschaulich-räumliche Ausdehnung besitzt. Eine Auffassung, welche durch die Erkenntnistheorie Descartes, erneuert und untermauert wurde. Nachdem dieser den Unterschied des Physischen zum Psychischen als Gegensatz zwischen Ausdehnung und Denken bestimmt hatte, äußerte sich auch Kant noch folgendermaßen: „Die Schwierigkeit ... besteht, wie bekannt, in der vorausgesetzten Ungleichartigkeit des Gegenstandes des inneren Sinnes (der Seele) mit den Gegenständen äußerer Sinne, da jenem nur die Zeit, diesen auch der Raum zur formalen Bedingung ihrer Anschauung anhängt.“801 Der fundamentale Irrtum dieser Formulierungen liegt nun aber klar auf der Hand: „[...] Das Seelische schlechthin als unräumlich zu bezeichnen“802 , ist falsch und muss mit äußerster Konsequenz zurückgewiesen werden. Wir wissen ja längst, daß im Gegenteil alle unsere Raumvorstellungen ganz und gar aus den räumlichen, örtlichen Bestimmtheiten der Empfindungen geschöpft sind, daß nur diesen letzteren psychischen Größen Ausdehnung im anschaulichen Sinne zukommt, und gerade nicht den physischen Dingen. Solange dies verborgen bleibt und noch dazu nicht zwischen der anschaulichen 801
Schlick, Moritz: Allgemeine Erkenntnislehre, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1979, S. 337, zit. n. Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft, B 247. 802
a. a. O. S. 338.
331 Räumlichkeit und der objektiven Ordnung der Dinge unterschieden wird, gerät man alsbald in Widersprüche, weil dann Physisches und Psychisches sich gleichsam gegenseitig den Besitz des Raums streitig machen; sie erheben Ansprüche auf ihn, die nicht zugleich erfüllbar sind. Die Welt des Physischen nämlich, wie unsere Vorstellungskraft sie ausmalt, ist dann nicht bloß räumlich, sondern sie umfaßt auch alles Räumliche: sie erfüllt als einzige den ganzen Raum und duldet darin nichts anderes neben sich. Die Empfindungsqualitäten haben in diesem Weltbild keine Stelle, denn die »sekundären Qualitäten« werden ja aus ihm, wie wir sahen, mit Notwendigkeit und mit Recht eliminiert. Sie kommen in den Gesetzen nicht vor, welche die Abhängigkeiten in der physischen Welt regeln. Alles, was in jener Welt geschieht, wird allein durch physische Größen bestimmt. Dieses Prinzip, vermöge dessen das physische Universum den gesamten Raum beansprucht, wird gewöhnlich als das Prinzip der geschlossenen Naturkausalität bezeichnet.803
Das ist auch der Grund, warum die klassischen Ansätze des Dualismus, in denen ja nicht von unserer geläuterten Sichtweise des Physischen, sondern von einer naiven Vorstellung desselben ausgegangen, und der Bereich des Physischen gleichsam mit dem ausgedehnten Raum der Anschauung identifiziert wird, nicht in der Lage sind, Psychisches und Physisches konsistent als »Bewohner« ein und derselben Wirklichkeit zu denken. Wenn nämlich das Physische den gesamten Raum umfasst, dann gibt es für das Psychische keinen Platz mehr darin. Den Ort, den das Psychische beansprucht, findet es nämlich überall schon „besetzt von physischen Dingen, welche ihre Anwesenheit ausschließen“804 . Gerade deshalb versucht ja die Naturwissenschaft in Form von Physik und Neurowissenschaft wie auch die Philosophie in Form des Materialismus das Psychische entweder ganz zu eliminieren oder zumindest für irrelevant zu erklären. Wir wissen aber längst, dass dieses Vorhaben unter allen Umständen scheitert, wenn es auf die bereits zur Genüge diskutierten Weisen versucht wird. Mit der Grundlegung des metaphysischen Dualismus konnte das Leib-Seele-Problem zwar ebenso wenig gelöst werden, doch es wurde jedenfalls gezeigt, welche Probleme die herkömmlichen Ansätze übersehen 803
Schlick, Moritz: Allgemeine Erkenntnislehre, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1979, S. 338. 804
a. a. O. S. 340.
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und dass sie von ontologischen und epistemologischen Verhältnissen ausgehen, die letztlich unfruchtbar sind. Außerdem wurde ein theoretisches Fundament geschaffen, aufgrund dessen ein erneuter Lösungsversuch sinnvoll erschien. Es wurden drei Ansätze vorgestellt: Der psychophysische Parallelismus Moritz Schlicks, der metaphysische Dualismus qua semantischer Dualismus und der metaphysische Dualismus qua Qualitätendualismus. Der psychophysische Parallelismus Moritz Schlicks begreift das psychophysische Problem als ein semantisches Problem. Diesem Ansatz nach besteht es im Wesentlichen darin, dass unsere herkömmliche Vorstellung vom Begriff des Physischen mit einer differenzierten Betrachtung des Wirklichen nicht in Einklang zu bringen ist. Während nämlich der Begriff des Psychischen fest umgrenzt ist - er wurde ja mit dem gleichgesetzt, was wir die Bewusstseinswirklichkeiten der Subjekte genannt haben - ist der Begriff des Physischen unklar, weil er der vorgelegten Ontologie des metaphysischen Dualismus nach etwas ganz anderes bezeichnen müsste als dies üblicherweise der Fall ist. In dieser Unklarheit finden sich nach Schlick jene Fallstricke, die das psychophysische Problem in Summe (samt dem Fehler der Introjektion) ausmachen. Sowohl im Commonsense, wie auch im naiven Realismus und in den meisten Wissenschaften werden nämlich dem Begriff des Physischen auch noch andere Merkmale subsumiert, welche gerade als die wesentlichen gelten, die aber hier, nicht zu genügender Klarheit gebracht, ganz am unrechten Orte stehen, und denen man die Schuld an der Entstehung des psychophysischen Problems überhaupt aufbürden muß: es sind die Merkmale der Räumlichkeit.805
Die Identifikation des Physischen mit dem anschaulichen Raum bzw. mit den sich in diesem Raum befindlichen ausgedehnten Körpern findet sich bereits bei Thales von Milet und den Atomisten und wird über Descartes und Kant bis in die Gegenwart hinein beibehalten. Dass aber diese Vorstellung vom Physischen ganz und gar unhaltbar ist, vermochte der metaphysische Dualismus ausgehend von Schlicks erkenntnistheoretischem Realismus eindeutig zu zeigen. Dementsprechend wird vorgeschlagen, unter dem Begriff des Physischen nichts anderes zu 805
Schlick, Moritz: Allgemeine Erkenntnislehre, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1979, S. 325.
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verstehen als ein System von Zeichen: ‘Physisch’ „heißt die Wirklichkeit, sofern sie durch das räumlich-zeitlich-quantitative Begriffssystem der Naturwissenschaft bezeichnet ist“806. Das physikalische Weltbild ist nur ein „System von Zeichen [...], die wir den Qualitäten und Qualitätskomplexen zuordnen, deren Gesamtheit und Zusammenhang das Universum bildet“807. ‘Physisch’ bedeutet nicht eine besondere Art des Wirklichen, sondern eine besondere Art der Bezeichnung des Wirklichen, nämlich die zur Wirklichkeitserkenntnis notwendige naturwissenschaftliche Begriffsbildung. ‘Physisch’ darf nicht mißverstanden werden als eine Eigenschaft, die einem Teil des Wirklichen zukäme, einem anderen nicht: es ist vielmehr ein Wort für eine Gattung begrifflicher Konstruktion, so wie etwa ‘geographisch’ oder ‘mathematisch’ nicht irgendwelche Besonderheiten an realen Dingen bezeichnen, sondern immer nur eine Weise, sie durch Begriffe darzustellen.808
Der Begriff des Physischen impliziert somit keine ontologischen Qualitäten mehr. Es ist weder etwas in ihm, wodurch ein besonderer ontologischer Bereich des Wirklichen überhaupt erst konstituiert, noch etwas, das ihn an einen solchen Bereich binden würde. Mit diesem aufgeklärten Begriff des Physischen ausgestattet, erscheint die Lösung des psychophysischen Problems zum Greifen nahe: Moritz Schlick behauptet ja, dass sich damit nicht nur die Entitäten der metaphysischen Realität bezeichnen lassen, sondern auch diejenigen der Bewusstseinswirklichkeiten von Subjekten. Für ihn gibt es nämlich keinen Zweifel: Es ist nicht der geringste Grund vorhanden, dem Bereich des Psychischen hinsichtlich seiner Bezeichenbarkeit durch das Begriffssystem der Physik irgendeine ausgezeichnete Rolle zuzuschreiben, also z.B. anzunehmen, daß die Grenze des Physischen, also des durch räumlich-zeitliche Begriffe beschreibbaren Wirklichen [...] mit der Grenze zwischen erlebter und
806
Schlick, Moritz: Allgemeine Erkenntnislehre, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1979, S. 329. 807
Ebenda.
808
a. a. O. S. 331.
334 nichterlebter Wirklichkeit, d.h. zwischen psychischen und außerpsychischen Qualitäten zusammenfiele.809
Eine derartige Grenze scheint es nicht zu geben, sodass die raumzeitlichen Begriffe zur Beschreibung jeder beliebigen Wirklichkeit ausnahmslos geeignet sind, also auch der Bewußtseinswirklichkeit. Daß wir die letzteren außerdem noch durch die sogenannten »psychologischen« Begriffe beschreiben, bietet keinen Anlaß zu irgendeiner Denkschwierigkeit, schafft keinerlei Gegensatz zwischen Physischem und Psychischem.810
Beides leuchtet ein, denn das logische Prädikat ‘x ist physisch’ bedeutet jetzt ja nicht mehr, dass x irgendein ausgedehnter Stoff ist oder eine Substanz oder irgendeine Eigenschaft an den Objekten, sondern nur, dass bestimmte Entitäten auf bestimmte Weise beschrieben werden. Die Idee hinter Schlicks semantischer Lösung ist der Versuch, den Unterschied zwischen Seele und Körper in einem Unterschied der Betrachtungsweisen aufzulösen: Die Gesamtwirklichkeit ist eine Mannigfaltigkeit von Entitäten. Einige davon gehören den Zusammenhängen von Bewusstseinswirklichkeiten an, einige davon der außerbewussten, mithin der metaphysischen Wirklichkeit. Die bewusstseinswirklichen Entitäten beschreiben wir mit psychologischen Begriffen und bezeichnen das damit Beschriebene als „psychisch“. Die metaphysischen Entitäten beschreiben wir mit physikalischen Begriffen und bezeichnen das damit Beschriebene als „physisch“. Auf diese Weise haben wir es nicht mehr mit einem ontologischen Dualismus zu tun, sondern lediglich mit einen semantischen. „Es ist ein und dasselbe Wirkliche, [...] nur durch zwei verschiedene Begriffssysteme bezeichnet, nämlich das psychologische und das physikalische.“811 Schlicks Gedankengang könnte man in etwa so deuten: Ohne den auf herkömmliche Weise ontologisch determinierten Begriff des Physischen, ist die Gesamtwirklichkeit ontologisch unbestimmt oder neutral. 812 Würde sich nun zeigen, dass sich diese Wirklichkeit tatsächlich 809
Schlick, Moritz: Allgemeine Erkenntnislehre, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1979, S. 330. 810
a. a. O. S. 331.
811
Ebenda.
812
Insofern könnte man Schlicks psychophysischen Parallelismus auch als einen neutralen Monismus charakterisieren. Schlick selbst hat aber in der Allgemeinen Erkenntnislehre nicht davon gesprochen.
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vollständig physikalisch beschreiben lässt, so könnte man in letzter Konsequenz dennoch ohne weiteres behaupten, dass es sich um eine physische Welt handelt. Das Leib-Seele-Problem wäre somit gelöst, denn an die Stelle von Verschiedenheit tritt Identität. Obwohl man das Gefühl nicht los wird, dass uns das ontologisch Eigentliche dieser Welt in gewisser Weise verborgen bleibt, bleibt trotzdem alles erhalten, was ihr unserem anthropozentrischen Selbstverständnis nach inhärent ist; Bewusstsein, Wahrnehmungen, Gefühle, Gedanken usw., und zwar nicht nur als Epiphänomen, sondern kausal relevant. Doch der psychophysische Parallelismus musste an zwei Problemen scheitern: Am Problem des prognostischen Arguments und am Problem der Nagelschen Fledermaus. An jenem deshalb, weil die Behauptung, die Gesamtwirklichkeit ließe sich physikalisch beschreiben, zum Zeitpunkt ihrer Aufstellung lediglich eine „Prognose über künftige wissenschaftliche Entwicklungen und Veränderungen unserer Sprache in ihrem Gefolge“813 ist. Schlick räumte ja in der Allgemeinen Erkenntnislehre ein, dass eine vollständige Beschreibung zum gegebenen Zeitpunkt nicht möglich ist. Nach Kutschera ist aber eine solche Prognose ohne sachlichem Interesse, denn über das, was sich möglicherweise zu einem späteren Zeitpunkt zeigen wird, lässt sich schlecht streiten. An diesem deshalb, weil sich der subjektive Charakter von Erlebnissen bekanntermaßen nicht in physikalischer Sprache erfassen lässt. Mit dem metaphysischen Dualismus qua semantischem Dualismus wurde eine Variante des metaphysischen Dualismus diskutiert, die sich an die semantische Lösung Schlicks anlehnt, die aber aus dem Parallelgehen psychischer und physischer Beschreibungssysteme einen ganz anderen Schluss zieht. Tatsächlich ist der Schritt vom metaphysischen Dualismus qua ontologischem Dualismus zum metaphysischen Dualismus qua semantischem Dualismus ein kleiner, denn die ontologische Verschiedenheit zwischen jenen Qualitäten, die der transzendenten Realität angehören, und jenen Qualitäten, die den Bewusstseinswirklichkeiten der Subjekte angehören, lässt sich auch von einem semantischen Standpunkt aus betrachten. Die These, die vom Scheitern des semantischen Physikalismus inspiriert ist, lautete: Die Notwendigkeit, die Beschaffenheit der Welt in zwei verschiedenen Beschreibungssystemen zu erfassen, 813
Von Kutschera, Franz: Philosophie des Geistes, Mentis, Paderborn, 2009, S. 159.
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rechtfertigt uns darin, ihre ontologische Verschiedenheit anzunehmen. Während Schlick also behauptet, dass sich alle Qualitäten im Universum, unabhängig davon, welchen Zusammenhängen sie angehören, physikalisch beschreiben lassen, und daraus den Schluss zieht, dass die Gesamtwirklichkeit physischer Natur ist, behauptet der metaphysische Dualist qua semantischer Dualist, dass sich einige Qualitäten im Universum nur physikalisch beschreiben lassen und einige Qualitäten nur psychologisch, und er zieht daraus den Schluss, dass die Gesamtwirklichkeit psychophysischer Natur ist. Doch auch diese Variante ist nicht frei von Schwierigkeiten: Erstens stellt sich ganz allgemein die Frage, ob mit strikt semantischen Lösungsversuchen überhaupt gehaltvolle ontologische Aussagen über die »Ausstattung« der Wirklichkeit mit bestimmten Arten von Entitäten gemacht werden können oder ob man damit nicht eigentlich immer einen neutralen Monismus vertritt oder gar einen Fehlschluss begeht. Es könnte ja auch sein, dass der Schein trügt, d.h. dass dem Ansatz der konstruktivistischen Ontologie folgend, der Glaube an eine ontologische Verschiedenheit von Psychischem und Physischem daher rührt, dass die Grundstrukturen des Seienden Projektionen der Grundstrukturen der Sprache sind, d.h. dass die Art unserer sprachlichen Bezugnahme auf die Welt, einen ontologischen Dualismus bloß suggeriert. Mit anderen Worten: Die bezeichneten Entitäten sind ontologisch gesehen irgendetwas oder vom Standpunkt des psychophysischen Problems aus betrachtet, ontologisch neutral. Erst dadurch, dass wir die Entitäten mit bestimmten Begriffen bezeichnen, werden sie zu dem, wofür wir sie halten. Zweitens weist das psychologische Begriffssystem bei weitem nicht dieselbe Präzision auf wie das physikalische. Das heißt, wollte man den Bereich psychischer Zusammenhänge ähnlich genau beschreiben wie den Bereich der physischen Zusammenhänge, so müsste man das psychologische Begriffssystem bedeutend weiterentwickeln. Und drittens kann auch der semantische Dualismus, zumindest mit dem im Moment zur Verfügung stehenden psychologischen Begriffssystems, das Problem der explanatorischen Lücke nicht lösen. Endlich wurde mit dem metaphysischen Dualismus qua Qualitätendualismus jene Spezifikation des metaphysischen Dualismus diskutiert, die seiner Ontologie am besten entspricht. Für ihn lässt sich die Gesamtwirklichkeit in zwei ontologische Kategorien zergliedern: in
337
individuelle Entitäten, die irgendeinem Bewusstseinszusammenhang angehören, und in individuelle Entitäten, die keinem Bewusstseinszusammenhang angehören. Die einen sind ErlebnisQualitäten (subjektive Qualitäten) und konstituieren die Bewusstseinswirklichkeit kognitiver Subjekte (wir haben in diesem Kontext auch von Erlebniswirklichkeit gesprochen), die anderen sind Ereignis-Qualitäten (objektive Qualitäten) und konstituieren die metaphysisch transzendente, die subjektunabhängige Wirklichkeit (auch Ereigniswirklichkeit oder Außenwirklichkeit). Einige subjektive Qualitäten stehen darüber hinaus in einer Zuordnungs- bzw. Koordinationsrelation zu einigen objektiven Qualitäten: So ist etwa die subjektive Qualität ‘gelb’ der objektiven Qualität Q koordiniert, die sich an einer bestimmten transzendenten Raum-Zeit-Stelle befindet. Q wird nach allem, was wir bisher über das Universum wissen, sehr wahrscheinlich ein bestimmtes physisches Ereignis sein, d.h. ein Ereignis, das wir im Schlickschen Sinn physikalisch beschreiben können und das zudem auch bestimmte Hirnprozesse umfasst. Der metaphysische Dualismus qua ontologischer Dualismus ist aber weder ein Substanzdualismus noch ein Eigenschaftsdualismus. Ersteres ist er nicht, weil jedenfalls die Erlebnisqualitäten keine Substanzen im Sinne der ontologischen Kategorie ‘Substanz’ sind. Erlebnisqualitäten sind existenziell abhängig von bestimmten transzendenten Qualitäten. Die Erlebnisqualität ‘gelbe Sonnenblume’ z.B. ist abhängig von bestimmten transzendenten Gehirnprozessen und von bestimmten anderen transzendenten Ereignissen, etwa vom Ereignis ‘Lichtwelle mit bestimmter Frequenz’. Letzteres ist er nicht, weil damit zum Ausdruck gebracht wird, dass Personen Substanzen sind, die Träger sowohl psychischer als auch physischer Eigenschaften sind. Da sich aber die Entität ‘Person’ nicht von ihren Eigenschaften gelöst denken lässt, ist sie weder der transzendenten Realität noch der Bewusstseinswirklichkeit eindeutig subsumierbar. Das widerspricht dem metaphysischen Dualismus qua ontologischer Dualismus, denn ihm zufolge »zerfällt« die Gesamtwirklichkeit in Entitäten, die entweder dem einen angehören oder dem anderen. Ebensowenig darf der metaphysische Dualismus qua ontologischer Dualismus mit der Emergenztheorie oder dem Epiphänomenalismus in Verbindung gebracht werden, denn einerseits gibt es im metaphysischen Dualismus außer den Fundamentaleigenschaften keine Eigenschaften, sondern nur individuelle
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Entitäten, und andererseits gilt es mit äußerster Konsequenz die Ansicht zu verteidigen, dass kein Teil der Wirklichkeit, welchen Zusammenhängen er auch immer angehört, das »Wesen« der Welt mehr repräsentiert als irgendein anderer. Freilich darf nicht verschwiegen werden, dass auch der metaphysische Dualismus qua ontologischer Dualismus das psychophysische Problem nicht lösen kann. Er scheitert vor allem am Problem fehlender psychologischer Gesetze, am Problem der explanatorischen Lücke und letztlich auch am Problem der Erklärbarkeit der Entstehung des Psychischen. Ich bin nun am Ende meiner ontologischen und erkenntnistheoretischen Untersuchungen zum psychophysischen Problem angekommen. Nachdem aus dem Gesagten hervorgeht, dass das psychophysische Problem nicht gelöst werden konnte, stellt sich unweigerlich die Frage, welche Leistung der metaphysische Dualismus im Kontext des psychophysischen Problems tatsächlich erbrachte und wie es um das Erreichen des epistemischen Ziels der vorliegenden Abhandlung bestellt ist. Nun, die wichtigste und gleichsam vorzüglichste Leistung des metaphysischen Dualismus besteht zweifelsfrei darin, dass es dieses Denkgebäude erlaubt, Psychisches und Physisches widerspruchsfrei als fundamentale ontologische Bestandteile ein und derselben Wirklichkeit zu denken. Die diametrale Ontologie des metaphysischen Dualismus deckt dabei nicht nur den Fehler der Introjektion auf, sondern weist sowohl dem Psychischen als auch dem Physischen den »richtigen« Platz im Gefüge der Gesamtwirklichkeit zu. Darüber hinaus konnte auf der Grundlage eben dieser Ontologie dasjenige Teilproblem gelöst werden, das manche Philosophen für das schwierigste und manche sogar für das eigentliche Problem halten: Das Problem der kausalen Geschlossenheit der physischen Wirklichkeit bzw. das Problem der mentalen Verursachung. Dieses beruht nämlich lediglich auf einem gewaltigen Irrtum, hervorgebracht durch mangelnden philosophischen Tiefblick. Es wird nämlich das physikalische Universum mit der Gesamtwirklichkeit identifiziert und dies wiederum ist auf den Fehler der Introjektion zurückzuführen. Dabei wird das Psychische als etwas Unräumliches aufgefasst, während das Physische ganz selbstverständlich für etwas Räumliches gehalten wird. Die Welt des Physischen, „wie unsere Vorstellungskraft sie ausmalt, ist [aber] dann nicht bloß räumlich, sondern sie umfaßt auch alles Räumliche: sie erfüllt als
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einzige den ganzen Raum [...]“814 . Diese Auffassung ist jedoch falsch. Die Ontologie des metaphysischen Dualismus hat gezeigt, daß im Gegenteil alle unsere Raumvorstellungen ganz und gar aus dem räumlichen, örtlichen Bestimmtheiten der Empfindungen geschöpft sind, daß nur diesen [...] psychischen Größen Ausdehnung im anschaulichen Sinne zukommt, und gerade nicht den physischen Dingen.815
Das »physische Universum« umfasst nicht den gesamten Raum - im Gegenteil, es darf überhaupt erst außerhalb des anschaulichen Raums angesetzt werden. Es ist daher mit der Gesamtwirklichkeit nicht identisch, sondern ausschließlich mit der metaphysischen Realität. Das hat zur Folge, dass Physisches, das mit Psychischem in Wechselwirkung steht, aus dem Reich des Physischen eliminiert werden kann, ohne dass es dadurch verloren geht, denn es ist ja immer noch ein Teil der Gesamtwirklichkeit. Das heißt: Die Geschlossenheit der physischen Realität bleibt erhalten, und dennoch gibt es mentale Verursachung, und zwar als ein Geschehen in der Gesamtwirklichkeit. Die Frage, ob sich mit Hilfe des metaphysischen Dualismus das psychophysische Problem lösen lässt, muss dennoch negativ beantwortet werden, weil sich das Problem eben nicht hat lösen lassen. In gewisser Weise lässt sie sich aber auch positiv beantworten, weil ich glaube, gezeigt zu haben, dass sich einige der fundamentalen Probleme, die einer Lösung der Leib-Seele-Frage seit langem im Wege stehen, überhaupt erst mit Hilfe des metaphysischen Dualismus identifizieren lassen. In diesem Sinne möchte ich meine philosophischen Überlegungen zum Leib-Seele-Problem mit einem Zitat von Ansgar Beckermann abschließen: „Fortschritt in der Philosophie bedeutet im allgemeinen nicht die Lösung, sondern die Klärung von Problemen.“816 Hierzu meine ich etwas beigetragen zu haben.
814
Schlick, Moritz: Allgemeine Erkenntnislehre, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1979, S. 338. 815 816
Ebenda.
Beckermann, Ansgar: Analytische Einführung in die Philosophie des Geistes, de Gruyter, Berlin, 2008, S. IX.
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Zu guter Letzt noch einige Worte über die Zukunft der Philosophie des Geistes bzw. über jene des Leib-Seele-Problems: Einige Philosophen, wie etwa Robert Spaemann oder Ernst Tugendhat, sind der Überzeugung, dass die Philosophie nichts oder nur sehr wenig darüber sagen kann, was in Zukunft sein wird. Zum einen deshalb, weil die Philosophie keine Prophetie ist, und zum anderen deshalb, weil wir jetzt nicht wissen können, welche Fragen wir in Zukunft stellen werden. Insofern man also derselben Auffassung ist wie diese Philosophen, ist auch ein Ausblick auf zukünftige Entwicklungen auf dem Gebiet der Philosophie des Geistes ganz oder zumindest teilweise unmöglich. Dennoch: Entscheidet sich die Philosophie zugunsten der fragwürdigen Doktrin des Materialismus, der zufolge die materialistische Position als die einzig vernünftige anzusehen ist, die man in der Leib-Seele-Frage beziehen kann, also für eine doktrinäre Verengung der Sichtweise, so könnte es durchaus sein, dass die Lösung des LeibSeele-Problems aus philosophischer Sicht mit der Lösung aus neurowissenschaftlicher Sicht zusammenfällt. Doch eine solche Lösung dürfte zumindest für manche Wissenschaftler, seien sie nun Philosophen oder nicht, unbefriedigend sein, und zwar deshalb, weil sie möglicherweise nicht allzu viel dazu beiträgt, das Problem in seiner ganzen Tiefe zu verstehen. Entscheidet sich die Philosophie hingegen für eine offene und vielschichtige Diskussion, so dürfte eine baldige Lösung nicht in Sicht sein. Doch dafür wäre zumindest eine Abkehr vom Wettlauf mit den Naturwissenschaften gefordert. Letztlich scheint nämlich gerade hierin der eigentliche Schlüssel für eine gedeihliche Entwicklung der Philosophie des Geistes im Allgemeinen und des Leib-Seele-Problems im Besonderen verborgen zu sein, und zwar auch in Hinblick auf eine Zusammenarbeit mit den Naturwissenschaften, insbesondere mit den Neurowissenschaften: Es macht nämlich aus philosophischer Sicht überhaupt keinen Sinn, das LeibSeele-Problem auf derselben Abstraktionsebene lösen zu wollen, wie es beispielsweise von der Neurowissenschaft versucht wird, denn die Philosophie ist eben nicht Neurowissenschaft, ist nicht Naturwissenschaft. Und wenn diese behauptet, dass sie der Philosophie im Großen und Ganzen nicht bedarf, um ihre eigenen Probleme zu lösen, dann hat sie unbestritten recht. Man muss in dieser Angelegenheit ganz ohne Eitelkeit zugeben, dass man alle Einzelwissenschaften sehr gut betreiben kann, ohne
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ihr philosophische Grundlagen zu geben.817 Allerdings, und das ist die Quintessenz, „Verstehen [...] kann man sie in ihrer letzten Tiefe niemals ohne solche“818 . Darin liegt wohl auch der eigentliche Wert der Philosophie im Kontext der Wissenschaften. Das philosophische Denken bemüht sich um ein Verstehen von der Art, das einen Endpunkt des Erklärungsprozesses zu setzen vermag, weshalb die Probleme, mit denen es die Philosophie zu tun hat, in letzter Konsequenz immer andere sind als jene in den Einzelwissenschaften, und sie liegen auch in einer ganz anderen Richtung. Sie sind umfassender, greifen weiter, denn während etwa der Neurowissenschaftler für die Erforschung seiner Welt, also die Welt des Gehirns, zumeist von einer realistischen Konzeption ausgeht, nach der es eine vom menschlichen Bewusstsein unabhängige Wirklichkeit gibt, und sich seine Probleme sämtlich innerhalb dieser Konzeption darstellen, wird dem Philosophen schon die Konzeption als solche zum Problem. Man muss sich nämlich die Wissenschaften als ein ineinander geschachteltes System vorstellen, „in welchem die allgemeinere immer die speziellere umschließt und begründet“819 . So behandelt die Chemie nur einen begrenzten Teil der Naturerscheinungen, die Physik aber umfaßt sie alle; an sie also muss sich der Chemiker wenden, wenn er seine fundamentalsten Gesetzmäßigkeiten, etwa die des periodischen Systems der Elemente, der Valenz usw. zu begründen unternimmt. Und das letzte, allgemeinste Gebiet, in welches alle immer weiter vordringenden Erklärungsprozesse schließlich münden müssen, ist das Reich der Philosophie [...]. Denn die letzten Grundbegriffe der allgemeinsten Wissenschaften - m a n denke etwa an den Begriff des Bewusstseins in der Psychologie, den des Axioms und der Zahl in der Mathematik, an Raum und Zeit in der Physik gestatten zuletzt nur noch eine philosophische [...] Aufklärung.820
Gleiches gilt wohl auch für das Leib-Seele-Problem. Auch hier muss der forschende Geist der Einzelwissenschaft irgendwann in ein philosophisches Denken einmünden. Spätestens aber an jenem Punkt, an 817
Vgl. Schlick, Moritz: Allgemeine Erkenntnislehre, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1979. Schlick, Moritz: Allgemeine Erkenntnislehre, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1979, S. 17. 818
819
a. a. O. S. 18.
820
Ebenda.
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dem die Frage zu beantworten ist, mit welchen Konsequenzen wir es zu tun haben, wenn wir das Psychische, also jenen Bereich des Wirklichen, der es uns überhaupt erst erlaubt, die Welt zu erschließen und uns als freie, entscheidungsfähige, fühlende und vernünftige Wesen zu betrachten, zugunsten einer materialistischen oder naturalistischen Erklärung der Welt zu eliminieren. Will also die Philosophie, insbesondere die Philosophie des Geistes, einen ernsthaften Beitrag zur Lösung des Leib-Seele-Problems liefern, so wird sie sich früher oder später ihrer eigentlichen Aufgabe besinnen müssen, nämlich der Klärung jener Voraussetzungen, auf denen das einzelwissenschaftliche Denken beruht und von wo aus es anhebt. Nur auf diese Weise werden wir in der Lage sein, das Leib-Seele-Problem zu lösen und zugleich zu verstehen, wie die Welt, in der wir leben, prinzipiell beschaffen ist.
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Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Grund- und Subpositionen zum Leib-Seele-Problem, bezogen auf die vorliegende Abhandlung, Grafik: Bernd Waß.