Das Johannes-Evangelium: Bilder einer neuen Welt. Erster Teil: Joh 1-10 9783843605120

Drewermanns meisterliche Interpretation des Johannesevangeliums: Umfassend und theologisch aktuell. Das Johannesevangeli

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German Pages 496 [504] Year 2014

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Inhalt
Vorwort
Joh 1,1-18: «Im Anfang war das Wort.» – 1. Teil
Joh 1,1-18: «Im Anfang war das Wort.» – 2. Teil
Joh 1,1-18: «Im Anfang war das Wort» – 3. Teil: Johannes der Täufer oder: «Der nach mir kommt, ist mir zuvor.»
Joh 1,19-34: Das Bekenntnis des Täufers
Joh 1,35-51: Von der Nachfolge oder: Zwei Arten von Berufung
Joh 2,1-12: Die Hochzeit zu Kana – 1. Teil: Die Verwandlung des Lebens
Joh 2,1-12: Die Hochzeit zu Kana – 2. Teil: Das Wunder der Verwandlung
Joh 2,13-25: Die Tempelreinigung oder: Von Götzendienst und Gottesdienst
Joh 3,1-13: Das Nachtgespräch mit Nikodemus oder: Der Wind weht, wo er will
Joh 3,14-21: «der habe unendliches Leben»
Joh 3,22-36: Aus dem Himmel oder aus der Erde?
Joh 4,1-42: Die Frau am Jakobsbrunnen oder: Stufen der Wahrheit
Joh 4,43-54: Geh, dein Sohn lebt
Joh 5,1-18: Die Heilung des Gelähmten oder: Der Sabbat Gottes
Joh 5,19-30: Auferstehung zum Leben
Joh 5,31-47: Vertrautet ihr Mose, vertrautet ihr mir
Joh 6,1-21: Brotvermehrung und Seewandel oder: Großzügiges Geben und furchtloses Gehen
Joh 6,22-51: Ich bin das Brot des Lebens
Joh 6,52-71: Worte unendlichen Lebens hast du
Joh 7,1-31: Die rechte Zeit, der rechte Ort – in Verborgenheit und Öffentlichkeit
Joh 7,32–53a: Der unerreichbare Standpunkt
Joh 7,53b; 8,11: Wer unter euch ohne Sünde ist…
Joh 8,12-20: Ich bin das Licht der Welt
Joh 8,21-47: … und die Unverborgenheit Gottes wird euch freimachen
Joh 8,48-59: Wenn jemand mein Wort hält, wird er den Tod nicht schauen
Joh 9,1-17: Die Heilung eines Blindgeborenen
Joh 9,18-41: … laßt ihn für sich selber reden
Joh 10,1-21: Der gute Hirt
Joh 10,22-42: Das Zeugnis der Werke und das Zeugnis des Johannes
Anmerkungen
Bildbeschreibungen und Bildnachweise
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Das Johannes-Evangelium: Bilder einer neuen Welt. Erster Teil: Joh 1-10
 9783843605120

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Eugen Drewermann

Das Johannes-Evangelium Bilder einer neuenWelt Erster Teil: Joh 1-10

Patmos

Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Joh 1,1-18: «Im Anfang war das Wort.» – 1. Teil . . . . . . . . . . . . . . . Joh 1,1-18: «Im Anfang war das Wort.» – 2. Teil . . . . . . . . . . . . . . . Joh 1,1-18: «Im Anfang war das Wort» – 3. Teil: Johannes der Täufer oder: «Der nach mir kommt, ist mir zuvor.» . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Joh 1,19-34: Das Bekenntnis des Täufers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Joh 1,35-51: Von der Nachfolge oder: Zwei Arten von Berufung . . . Joh 2,1-12: Die Hochzeit zu Kana – 1. Teil: Die Verwandlung des Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Joh 2,1-12: Die Hochzeit zu Kana – 2. Teil: Das Wunder der Verwandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Joh 2,13-25: Die Tempelreinigung oder: Von Götzendienst und Gottesdienst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Joh 3,1-13: Das Nachtgespräch mit Nikodemus oder: Der Wind weht, wo er will . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Joh 3,14-21: «der habe unendliches Leben» . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Joh 3,22-36: Aus dem Himmel oder aus der Erde? . . . . . . . . . . . . . . Joh 4,1-42: Die Frau am Jakobsbrunnen oder: Stufen der Wahrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Joh 4,43-54: Geh, dein Sohn lebt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Joh 5,1-18: Die Heilung des Gelähmten oder: Der Sabbat Gottes . . . Joh 5,19-30: Auferstehung zum Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Joh 5,31-47: Vertrautet ihr Mose, vertrautet ihr mir . . . . . . . . . . . . . Joh 6,1-21: Brotvermehrung und Seewandel oder: Großzügiges Geben und furchtloses Gehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Joh 6,22-51: Ich bin das Brot des Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Joh 6,52-71: Worte unendlichen Lebens hast du . . . . . . . . . . . . . . . . Joh 7,1-31: Die rechte Zeit, der rechte Ort – in Verborgenheit und Öffentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Joh 7,32-53a: Der unerreichbare Standpunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Joh 7,53b; 8,11: Wer unter euch ohne Sünde ist … . . . . . . . . . . . . . . Joh 8,12-20: Ich bin das Licht der Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13 30

51 66 84 99 116 119 141 156 171 187 204 218 235 249 265 280 292 308 322 336 355 5

Joh 8,21-47: … und die Unverborgenheit Gottes wird euch freimachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Joh 8,48-59: Wenn jemand mein Wort hält, wird er den Tod nicht schauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Joh 9,1-17: Die Heilung eines Blindgeborenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Joh 9,18-41: … laßt ihn für sich selber reden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Joh 10,1-21: Der gute Hirt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Joh 10,22-42: Das Zeugnis der Werke und das Zeugnis des Johannes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

371 388 407 423 442 457

Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 473 Bildbeschreibungen und Bildnachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 491 Register der Bibelstellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 494 Farbtafeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 497

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Vorwort «Alles ist gut und reine Güte, wenn ich gut bin, und alles ist gut und reine Güte, wenn keine Angst das Böse ruft – nur still, nur still, nur das Böse nicht gerufen, nur nicht ins Böse kommen mit der Angst, die allein das Böse bringt.» Diese Worte des Bildhauers Ernst Barlach (Plastische Meisterwerke, mit einer Einf. v. Anita Beloubek-Hammer, Ratzeburg 1996, 100) geben in einfachen Worten eine zentrale Aussage der Botschaft wieder, die das Johannes-Evangelium mit der Person des Jesus aus Nazaret verbindet. Wie kein anderes biblisches Zeugnis (außer der Geheimen Offenbarung, die bezeichnenderweise von alters her mit dem Verfasser des Vierten Evangeliums in Verbindung gebracht wird) arbeitet es mit der Sprache absoluter Gegensätze: von Teufel und Gott, von Lüge und Wahrheit, von Dunkelheit und Licht, von Blindheit und Sehen, von Tod und Leben, von Gericht und Glauben, von den «Juden» und dem «Christus». Doch spätestens die letztgenannte Gegenüberstellung macht erschrekkend deutlich, wie gefährlich die johanneischen Antithesen sein können, wenn man sie dogmatisch verabsolutiert. An jeder Stelle wird es nötig sein, den theologischen Antijudaismus der «christlichen» Kirchen, der gerade im Johannes-Evangelium seine vorzügliche Grundlage finden konnte, aus seinen historischen Voraussetzungen zu lösen und als Teil eines typologischen Gegensatzes zweier konträrer Verstehensweisen von «Religion» zu interpretieren: Wem «Gott» immer schon für eine feststehende Größe gilt – aus der Tradition überkommen, von den lehramtlichen Autoritäten moralisch und rechtlich festgelegt, in den Formen des Gruppendenkens institutionell verankert –, der wird den Aufbruch und Aufstand des Jesus aus Nazaret immer von neuem als einen widergöttlichen Aufruhr bekämpfen müssen, – selbst den «Brüdern» Jesu kann im Johannes-Evangelium dieses Mißverständnis widerfahren (Joh 7,3-5); doch dann begreift man sofort die Entscheidungsfrage, auf die das Johannes-Evangelium hinauswill: kann man denn leben mit einem solchen «Gott» der doktrinären Außenlenkung, der vorgeschriebenen Verfestigung in Redensarten und Riten, der verordneten Seelenumdüsterung und Herzensverfinsterung? Übersetzen wir die Rede des Johannes von den «Juden» daher am besten mit dem Wort «Gottesbesitzer», und fragen wir uns, wie unsere eigene Frömmigkeitshaltung von den Elementen dogmatischer Erstarrung und magischer Veräußerlichung geprägt ist. Wie von selber wird dann die Perspektive des Johannes-Evangeliums verständlich, in welcher die ganze 7

Wirklichkeit der menschlichen Existenz sich vor ein unausweichliches Entweder-Oder gestellt sieht. Wie versteht man «Abraham» (Joh 8,3740.56.58)? Wie versteht man «Mose» (5,46; 7,22-23; 9,28-29)? Wie betet man Gott an in «Geist» und in «Unverborgenheit» (Joh 4,23.24)? Nicht um das «Judentum» geht es, es geht im Namen des Gottes Israels um uns als Menschen: woraus leben wir – von «unten» oder von «oben»? Von der «Welt» her oder von «Gott»? Für diese unbedingte Alternative existentieller Entschiedenheit steht die Person Jesu im Johannes-Evangelium. Die Zeit und Kultur, in die es hineinspricht, erfaßt im Hellenismus des 1. nachchristlichen Jahrhunderts zum ersten Mal ein Problem, das fortan für alle Fragen des Menschseins grundlegend geblieben ist: Man kann von der «gnostischen» Infragestellung des antiken Weltbildes sprechen, wenn man den Begriff «gnostisch» nicht in religionshistorischer Absicht überdehnt und alle möglichen (kosmologischen und synkretistischen) Systeme im Johannes-Evangelium repräsentiert finden möchte. Antworten will das Johannes-Evangelium auf Menschen, denen die Welt, der «Kosmos» der Griechen, zutiefst fremd und unheimlich geworden ist – eine Stätte der Heimatlosigkeit und der Leere, ein Ort der Angst und des Todes, ein Raum des Unlebens und der Verweigerung. Die Frage hat in der Neuzeit geradewegs dramatisch an Aktualität gewonnen: Indem die modernen Wissenschaften uns immer genauer in die Wirkungsweise der Natur einführen, wird zugleich die Kluft um so größer, die den Menschen von der ihn umgebenden «Welt» unterscheidet. Niemals dürfen wir Menschen, wollen wir diesen Namen verdienen, mit den Lebewesen an unserer Seite in der Art verfahren, wie die Natur es jederzeit tut. Wir bedürfen eines menschlichen Gegenübers, um unsere Menschlichkeit zu finden, und eben ein solches absolutes Gegenüber unserer Menschlichkeit wollte der Jesus des JohannesEvangeliums uns vermitteln durch die Nähe seiner Person, die geformt ist von dem Vertrauen zu seinem «Vater». Während ich diese Zeilen schreibe, in den Mittagsstunden des 19. März 2003, wird es wohl nur noch wenig dauern, und die Welt befindet sich in einem neuen Krieg, nach dem Willen von US-Präsident George W. Bush in einem Präventivkrieg gegen «das Böse». Auch im Sinne einer moralisierenden Schwarz-Weiß-Malerei läßt sich das Johannes-Evangelium offenbar mißverstehen und sogar zum Kriegführen ideologisch mißbrauchen. In Wahrheit geht es bei der johanneischen Auseinandersetzung auf Leben und Tod zwischen Gott und dem «Teufel» (Joh 8,42-44) indessen nicht um einen ethischen Dualismus, es geht um den Antagonismus der Überwindung eben jenes Abgrunds an Angst, der dazu gehört, ein Mensch, ein In8

dividuum zu sein: Überwindet man die Angst des einen vor dem anderen durch immer schrecklichere Formen der Angstverbreitung, durch die Steigerung der wechselseitigen Bedrohung mit stets noch «effizienteren» Geräten zum Ausrotten von immer mehr Menschen in immer kürzerer Zeit, mit der Flucht in die Pose der Macht beziehungsweise in die Angleichung an die Masse, so bleibt man in den Zwangsmechanismen gebunden, deren Summe Johannes als Welt bezeichnet – als den immer gleichen Kreislauf von Lüge, Blindheit und Tod. Oder es gelingt, das Meer der Angst in einem Vertrauen zu überschreiten, das sich «am anderen Ufer» festmacht; was dann geschieht, ist jenes «von vorn geboren werden» (Joh 3,3), welches das ganze Dasein von Gott her, «aus Geist», sich vollziehen läßt. «Unendliches Leben» (Joh 5,24), das keinen «Tod» mehr kennt (Joh 8,51), ist das Ergebnis eines solchen «neuen Seins». In dieser «Krisis» verläuft unser Leben, – so oder so. Johannes übernimmt nicht die Vorstellung der ersten drei Evangelien eines zeitlichen Nacheinanders, demzufolge «diese Welt(zeit)» unter der Herrschaft des Bösen abgelöst werde durch das Kommen des Messias und die Ankunft des Reiches Gottes. Da Jesus «gekommen» ist, lagern beide Wirklichkeiten: die Gottesnähe wie die Gottesferne, in unserem Herzen ineinander, und es ist «nur» die Frage, ob und wie die Botschaft des Mannes aus Nazaret bei uns «ankommt». Eine Hauptschwierigkeit bei der Auslegung des Johannes-Evangeliums ergibt sich aus der vermeintlichen «Geläufigkeit» der Begriffe und Vorstellungen, die es verwendet. Stelle um Stelle wird es notwendig sein, die im kirchlichen Dogma verfestigten Worte in Erfahrungen rückzuübersetzen, die insbesondere die schroffen Entgegensetzungen der johanneischen «Christologie» verständlich machen können. In Barlachschem Sinne gilt es dabei, immer neu die Problematik der Angst im Untergrund und Hintergrund des «Bösen» im menschlichen Leben zu thematisieren und ihr die Haltung eines jesuanischen Vertrauens gegenüberzustellen. Statt die johanneische Sprache zu metaphysizieren und darin eine Art Selbstdarstellung des «Wesens» Gottes zu erkennen, kommt es vielmehr darauf an, die paradigmatisch aufgeführten Konflikte vor allem der «Offenbarungsreden» des Johannes-Evangeliums psychologisch durchzuarbeiten. Sowohl die «Worte» wie die «Taten» des johanneischen Jesus verweisen dabei symbolisch aufeinander und lesen sich als eine Deutung der menschlichen Existenz, wie sie im Sinne des Vierten Evangeliums erst mit dem Auftreten des Mannes aus Nazaret möglich wurde. Die Bedeutung der Person Jesu wird bei einem solchen Versuch einer symbolisch-psychologischen Auslegung 9

keinesfalls «relativiert», sie gewinnt allererst ihre Verbindlichkeit und Gültigkeit; sie hört auf, eine «fremde» Rede zu sein, und spricht statt dessen mit Macht in unser eigenes Leben und Erleben hinein. Deutlich wird, daß und warum die ganze «Welt» sich ändern muß, um zu einem wirklichen «Leben» zu gelangen: all unsere Gewohnheiten, die Normen unserer sogenannten Normalität, die angeblichen Unvermeidbarkeiten der «Realität» heben sich auf wie eine Nebelbank an einem Frühlingsmorgen, wenn die ersten Strahlen der Sonne das Dunkel durchdringen. «Notwendig» haben das Johannes-Evangelium einzig die Menschen, denen unter einem hohen Maß an Leid und Sehnsucht nach einer ganz anderen «Welt» die scheinbaren Selbstverständlichkeiten der Geschichte der Natur wie der Menschen unerträglich geworden sind. Der Auftrag zu einer solchen Übersetzungsarbeit ergibt sich aus der Eigenart des Johannes-Evangeliums selbst. Es ist, noch weit stärker als die ersten drei Evangelien, in wörtlichem Sinne «Verkündigung», nicht ein historischer Bericht über das Auftreten des Mannes aus Nazaret. Statt die Worte aufzugreifen, die in der mündlichen (und zum Teil auch schon schriftlich fixierten) Jesus-Überlieferung tradiert wurden, bietet es eine durch und durch eigenständige Deutung des Jesus-Geschehens, die es freilich mit dem Gestus authentischer Jesus-Rede zu autorisieren sucht. Johannes möchte, daß wir den Mann aus Nazaret über den wachsenden Abstand der Zeit hinweg, den die Geschichte zwischen das Damals und Heute legt, unmittelbar in unsere Existenz hineinsprechen hören. Eine solche «homiletische» Auslegung der Bedeutung der Person, der Worte und der Taten Jesu verlangt selber nach einer «Übersetzung», die predigtartige Züge trägt. Gerade das soll in dem vorliegenden 1. Bd. eines Kommentars zum Johannes-Evangelium versucht werden. Nicht um einen Kommentar zum gegenwärtigen Stand der historisch-kritischen Erforschung des Vierten Evangeliums handelt es sich, angestrebt ist vielmehr eine meditative Vermittlung der johanneischen Texte als eines dringend benötigten Medikaments zur Linderung der Not unseres Daseins. Die sprachliche Seite dieser «Übersetzungs»-Arbeit, die Wortwahl und der Satzbau in der Wiedergabe des johanneischen Griechisch im Deutschen, ist ausführlich begründet in «Das Johannes-Evangelium in der Übersetzung von Eugen Drewermann, Zürich – Düsseldorf 1997, 5–33» und ist im Anhang des 2. Bandes noch einmal abgedruckt. Die Hinweise und Anspielungen auf bestimmte Zusammenhänge und Sachverhalte in Literatur, Kultur und Geschichte sind in den entsprechenden Anmerkungen belegt; darüber hinaus allerdings verbietet die Stilform der Predigt eine wissenschaftliche Diskussion der oft unter10

schiedlichen exegetisch möglichen Auffassungen und Hypothesen bei der Auslegung einzelner Stellen. Die Geschichte der Forschung spiegelt sich in den berühmten Kommentaren von Rudolf Bultmann (Das Evangelium des Johannes, Göttingen 1941) und Rudolf Schnackenburg (Das Johannesevangelium, 4 Teile, Freiburg 1979–1984); den neuesten Stand der Forschung vor allem um die Worte Jesu im Vierten Evangelium bietet Michael Theobald (Herrenworte im Johannes-Evangelium, Freiburg 2002) … Die Diktion des ursprünglich freien Predigtvortrags ist bei der Drucklegung nur geringfügig verändert worden; die Auslegung jeder einzelnen Perikope sollte als in sich ruhende Meditation verständlich sein; gewisse Wiederholungen mußten daher in Kauf genommen werden. Was hier versucht wird, zeigt am besten wohl das Bild von Rembrandt: Der Auferstandene Christus von 1661 (Leinwand, oval; 78,5 x 63 cm; Alte Pinakothek, München; in: Rembrandt. Das Städel, Frankfurt/M 1. Februar–11. Mai 2003, Nr. 38, S. 198–199). Dargestellt ist nicht der «wiederkehrende» Christus der ersten drei Evangelien, wiedergegeben ist der Christus, der sich im gesamten Johannes-Evangelium ausspricht: eine Lichtgestalt, die den Tod überwunden hat; sie schaut den Betrachter «mit halbgeschlossenen Augen» an, «die voller Verständnis und Mitleid sind. Über seinem Kopf ist kaum sichtbar ein Nimbus angedeutet. Sein voller Bart und das lange, gelockte Haar deuten auf Weisheit hin.» Die Wunden der Kreuzigung sind auf dem entblößten Leib verschwunden. «Auf seinen Schultern liegt ein Mantel in der weißen Farbe der Unschuld, der an der linken Seite herabfällt und rechts in Falten gerafft ist … Das Licht fällt auf die entblößte Brust und auf einen Teil des Gesichts mit dem durchdringend schauenden rechten Auge, das einen zentralen Platz im Gemälde einzunehmen scheint. Doch auch das verschattete linke Auge strahlt eine gewisse Kraft aus.» Es ist gerade dieser Kontrast von Hell und Dunkel, der dem johanneischen Bild des «Auferstandenen» so nahe kommt. Noch ist der Rembrandtsche Christus in zwielichtiges Halbdunkel gehüllt; doch alles wartet darauf, daß das von dem «erhöhten Herrn» ausgehende Licht an der Person des Betrachters sich reflektiere und die Gestalt des «Auferstandenen» in reine Helligkeit hülle … Besonderer Dank bei der Fertigstellung dieses Buches ist Frau Gisela Kranz zu sagen, die mit großer Sorgfalt und erheblicher Mühe diese im Goerdeler-Gymnasium zu Paderborn Mitte der neunziger Jahre in «Wortgottesdiensten» frei gehaltenen «Predigten» vom Band abgeschrieben hat, sowie Frau Beate Wienand, die ebenso zuverlässig wie engagiert die Fassung für die Diskette erstellte. Paderborn, 19. März 2003 11

Joh 1,1-18: «Im Anfang war das Wort.» – 1. Teil 1Am Anfang steht worthafter Geist. Denn worthafter Geist geht nach Gott. Gott selber ist worthafter Geist (17,5; Gen 1,1). 2Von Anfang an geht er nach Gott. 3Alles entsteht nur durch ihn, und ohne ihn entsteht gar nichts. Was immer entsteht, 4ist Leben durch ihn. Leben – das ist der Menschen Licht (8,12). 5Das Licht scheint im Dunkeln, doch das Dunkel begreift’s nicht (3,19). 6Da ward ein Mensch, ein Gottgesandter, geheißen Johannes (Mt 3,1; Mk 1,4). 7Der kam zum Zeugnis, Zeugnis zu geben vom Licht. Alle sollten darauf vertrauen – um seinetwillen. 8Er selber war nicht das Licht, er war, das Licht zu bezeugen. 9Worthafter Geist, der ist das Licht, das einzig wahrhaftige, das jeden Menschen erleuchtet, indem es eingeht in diese Welt. 10Er ist in der Welt, durch ihn gibt es die Welt, doch die Welt kann ihn nimmer erkennen. 11In das, was er selber ist, kommt er, doch obwohl sie er selbst sind, begreifen sie’s nicht. 12Doch die ihn ergreifen, denen schenkt er die Freiheit, Gottes Kinder zu werden, denen, die glauben an seine Art, 13die nicht als Erzeugnis des Blutandrangs sind, – die «Natur» hat’s gewollt, – der Mann hat’s gewollt, – sondern von Gott her (3,5.6). 14Der worthafte Geist ward selber «Natur», er schlug sein Zelt auf, – in uns, daß wir seine Herrlichkeit schauten (Ex 33,18; Jes 60,1; 2 Jes 60,1; 2 Petr 1,16.17), herrlich, weil einzig stammend vom Vater, erfüllt mit Gnade, mit der Unverborgenheit Gottes. 15Johannes bezeugt ihn nur.

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Laut und deutlich hat er gesagt: Der ist’s ja, von dem ich gesprochen: Der nach mir kommt, ist mir zuvor; denn er ist der Ursprung, nicht ich. 16Ja: aus seiner Fülle empfangen wir alle Gnade um Gnade (3,34). 17Denn: das Gesetz ward durch Mose gegeben; die Gnade, die Unverborgenheit Gottes ward durch Jesus Christus (Röm 10,4). 18Gott hat niemand jemals gesehen (6,46). Der einzig Gottgeborene, dessen Sein hingeht zum Erbarmen des Vaters, der ist die Deutung (Mt 11,27).

Im Aufbau des Johannes-Evangeliums sind die Worte des sogenannten Prologs eine Art vorgreifender Verdichtung, ein deutendes Schicksalslied über das Leben des Mannes aus Nazaret und ineins damit der gesamten Menschheit, der gesamten «Welt». Darin verarbeitet ist ein älterer gnostischer Hymnus, der indessen auf Christus bezogen ist. Doch was heißt da «gnostisch», was «hymnisch»? In den ersten zweihundert Jahren unserer Zeitrechnung war das, was wir heute, mit sehr offenen Rändern, nicht klar definierbar, als Gnosis bezeichnen, eine weltanschauliche Haltung, ähnlich in manchem dem, was die Romantik am Anfang des 19. Jhs. ausmachte oder den Existentialismus in der Mitte des 20. Jhs. Die Romantik wußte, sehr im Gegensatz zur Philosophie der Aufklärung und ihres Fortschrittsglaubens, um die Gebrochenheit des menschlichen Lebens, das nie etwas anderes zu bieten vermag, als das Ganze im Fragment zu spiegeln, – stets unvollendet, immer ausständig nach dem Unendlichen, das im Gefühl sich ahnen, doch niemals in Begriffen sich ausformulieren läßt. Dieses Unendliche ist die Lebensbedingung dafür, daß ein Mensch wirklich existiert, und doch gerade deshalb scheitert die menschliche Existenz immer wieder am Gestade des Ozeans, der wie eine Brücke zu jener anderen Welt sich vor uns breitet, zu der wir auf Erden niemals gelangen. Einzig die Liebe verleiht die Energie, uns träumen zu machen und manchmal sogar uns zu trösten; aber auch sie schenkt auf Erden nur ein flüchtiges Glück; auch sie macht uns leiden an ihrer Unerfüllbarkeit. So die Romantik. Ähnlich der Existentialismus im 20. Jh. Die Menschen leben, meinte als einer seiner Hauptvertreter Albert Camus1, in einer absurden Welt, und zwar nicht, weil die Zeitläufte gerade so sind, sondern wesentlich. Wer begreift, was für eine unglaubliche Kostbarkeit ein Mensch ist, und dann den kalten Zynismus der Natur betrachtet, die ungerührt über ihn hinweg14

schreitet, der kann nur revoltieren gegen diese blutige Mathematik einer sich selbst organisierenden Inhumanität; ein solcher bestätigt sich einzig in seinem Protest einen Rest an verbleibender Menschlichkeit. Die «Welt» ist unter diesen Umständen nicht zu verstehen, es gilt, ihr entgegenzustehen, ihr standzuhalten. Jedes gesprochene Wort, meinte Martin Heidegger als der Wegbereiter des Existentialismus, entberge das Sein, führe es auf die Lichtung, werde gehütet vom Menschen als seinem Hirten. Schon die Heideggersche Sprache klingt ungewöhnlich; es ist eine Kunstsprache, die erfunden wurde, um etwas zu sagen, das im gewöhnlichen, im alltäglichen «Gerede» eher erstirbt als lebendig zu werden; doch diese Sprache verrät das Bemühen, einen Rest an Menschlichkeit zu bewahren vor ihrer Bedrohung. Späteren Jahrhunderten vermutlich wird die gesamte Literatur des Existentialismus als sehr merkwürdig erscheinen; einzelne Worte wie «Ausständigkeit», «Vorläufigkeit», «Sorge» oder «Entwurf» wird man kaum noch verstehen, ja, es läßt sich vorhersehen, daß kommende Generationen bald schon sich weigern werden, die Probleme auch nur an sich heranzulassen, die mit Hilfe dieser Begriffe gelöst werden sollten. Doch dann wiederum kann es auch sein, viele Jahrhunderte später, daß Archäologen des Geistes auftreten, die all das wieder ausgraben, es enträtseln und es mitmal ganz modern finden. – So ähnlich ist unsere Situation, wenn wir das Johannes-Evangelium lesen und dabei den geistigen Hintergrund zu verstehen suchen, aus dem heraus es redet und in den hinein es sich wenden möchte: in eben jene Zeitströmung, die wir als Gnosis bezeichnen. Es tut an dieser Stelle nicht not zu erläutern, aus was für Quellflüssen sich der Riesenstrom jener geistigen Bewegung, welche die Gnosis wohl einmal war, gespeist haben mag. Das Alte Ägypten spielte dabei eine überragende Rolle, dieses Kulturland, das immer schon wußte, daß das Leben zwiefach ist: überirdisch, sternengleich, ewig kreisend in sich selbst, und dann wieder anheimgegeben der irdischen Turbulenz, die nichts ist als Sinnentrug: – hier noch das bebaute Land unter den Füßen der Menschen, das fruchtbare Ackerland, der nahrhafte Boden, künstlich bewässert, und wenige Meter weiter die Wüste, der Tod, das Westland des Schweigens. Wie verstehen sich Menschen, die mit ihrem Dasein hineingestellt sind in diesen Kontrast? Das wollten, jenseitssüchtig, die Menschen am Nil im Schatten des Reichs der Pharaonen dreitausend Jahre vor Christus schon wissen. Ganz ohne Zweifel bildeten sie einen Ursprung auch für die Gnosis, für den Willen zu «erkennen», wenn man das Wort wörtlich nimmt. Eine andere Quelle bot der iranische Dualismus, die Mithras-Religion, die Frömmigkeit römischer Legionäre, hinaufgetragen von ihnen bis weit 15

in den Norden Europas. Ihre Sicht zeigt: Die Welt ist aus ihren Gegensätzen nicht zu retten, man muß mit Mut ihre Kontraste klar und deutlich gegeneinanderstellen und als unversöhnbar nebeneinander stehen lassen. Es gilt, das Licht und die Finsternis, den Himmel und die Hölle, das Gute und das Böse anzuerkennen; beide kämpfen miteinander, und ihr Schlachtfeld ist das menschliche Herz; die Guten, die Mutigen ergreifen Partei für die richtige Seite; – sie befreien die Spuren des Lichts durch ihr Leben aus allen Trübungen und sammeln sie zurück in Gott. Ähnlich die Strömung des Neuplatonismus. Gedanken des griechischen Philosophen Platon aus dem 5. vorchristlichen Jahrhundert entwickelten sich weiter. Nicht auf Erden liege der Sinn des Lebens, nicht in den Erscheinungen, sondern dahinter, in den Ideen, in dem, was Geist ist, was nur gebrochen unseren geistigen Augen sichtbar wird, flüchtig, vergänglich im Sinnlichen; Menschen aber, die Augen haben, geistig zu sehen, offenbare sich gleichwohl ein Schimmer der Wahrheit. Wieder sind da zwei Welten, die voneinander getrennt sind wie Sünde und Erlösung, wie Diesseits und Jenseits, wie Welt und Gott, wie Lüge und Wahrheit, wie Finsternis und Licht, wie Tod und Leben. In einen solchen Sprachraum hinein redet das Johannes-Evangelium. Will man wissen, was Gnosis ist, welch ein Problem sie zu lösen beabsichtigt, so muß man sich vor allem – wie in der Moderne heute – eine Welt vorstellen, in der die überkommenen Religionen geistig gestorben sind. Die alten Mythen aus dem Erbe von Jahrtausenden liegen brach, museal konserviert wie in einer Totenkammer. Die Alten Ägypter zum Beispiel wollten den Menschen im Spiegelbild des Himmels rückverbinden mit der irdischen Welt; sie wollten die Sonne, den Mond, das Getreide, den Nil, alles, was man sinnenhaft fühlen kann, sinnbildlich zur Heimat des Menschen machen, zum Zeichen seiner Anwartschaft auf die Ewigkeit; sie wollten helfen, den Menschen als Teil des Kosmos zu verstehen. Das alles scheint vor rund 1900 Jahren schier wie vorüber gewesen zu sein. Osiris, Dionysos, Adonis-Attis, – das ganze Götter-Pantheon der Antike ist den Gebildeten unglaubwürdig geworden. Wohl, man importiert aus dem Orient ins Römische Reich alle möglichen Göttergestalten. Doch ist dieser Synkretismus der Volksfrömmigkeit glaubwürdig? Den Ägyptern sind die Götter längst schon verstorben; die Pharaonen mußten ihre Krone niederlegen vor den Siegern. Es war, wie wenn der Papst heutigentags abdanken müßte, oder wie 1945 der Tenno, der japanische Kaiser, sich seiner Macht begab und aufhörte, Gott zu sein. In einer solchen Zeit ist die Welt aus den Fugen. Und die Frage stellt sich dringlich und unvermeidbar: Gibt es so 16

etwas überhaupt wie Geborgenheit oder Schutz, wie Trost oder Heimat für den in der Welt verlorenen Menschen? Vielleicht läßt sich, was Gnosis ist, in einem Bild als Frage formulieren. Wir besuchen eine ägyptische Ausstellung, und manchmal finden wir eine Mumie, aus dem ersten Jahrhundert womöglich, nicht christlich, ägyptisch, geschaffen von Menschen – man fühlt es förmlich –, die glauben mochten wie die Alten und es doch kaum noch vermochten. Die Toten erwecken zum Leben, Hoffnung setzen gegen die Sterblichkeit – wie? Da finden wir etwa den Körper eines Verstorbenen, umwunden mit den Binden, mit denen man einen Säugling umwickelt, fest geschnürt wie ein Baby. Der Sinn dieses Ritus ist eindeutig: Da soll der Tote erscheinen wie jemand, der sich vorbereitet auf die Wiedergeburt; wohl ist er verstorben, doch gerade im Tode soll er noch einmal werden zum Kind. Erinnerungen und Bildverweise sind das an die alte Vegetationsreligion: Tod, das ist, daß ein Mensch zum Samen der Erde wird … Aber nun kommt etwas wirklich Erschütterndes. Man bleibt bei den Bildern der Alten nicht stehen; man legt auf das Antlitz eines verwesenden Körpers, gemalt auf einen Untergrund von Gold, das Portrait des Verstorbenen. Seine Person soll unsterblich sein, er – als ein individueller Mensch – soll ewig leben. Die paar Jahrzehnte seiner irdischen Existenz sollen sich behaupten gegen eine ganze Ewigkeit des Nicht-Seins. Kann man so denken? Darf man so glauben? Ist das eine Hoffnung, die sich plausibel machen läßt über den Abgrund der Angst hinweg? Was sagen die Götter? Was redet die Welt? In den Wirbel von Fragen dieser Art taucht die Weltanschauung, die wir die Gnosis nennen. Es sind ihre Vokabeln, ihre Fragen, die das JohannesEvangelium aufgreift, indem es seinen Jesus in einer Weise reden läßt, wie dieser niemals im Hebräischen, im Aramäischen, in der Sprache Galiläas, geredet hat. Das Johannes-Evangelium läßt ihn zugleich Antworten auf Problemstellungen geben, die der Mann aus Nazaret historisch nie kannte; und doch, für das Vierte Evangelium ergeben sich die Lösungen der entsprechenden Rätselfragen aus gerade seiner Botschaft und verbinden sich mit gerade seiner Person. – Lesen wir den Prolog des Johannes-Evangeliums, so zerfällt er in zwei Teile; ein Teil entstammt der Tradition dieses Hymnus; darin eingeschaltet aber sind eine Reihe von Stellen über Johannes den Täufer. Alles zusammen klingt dann wie folgt: Am Anfang steht worthafter Geist. Denn: worthafter Geist geht nach Gott. Gott selber ist worthafter Geist. 17

Von Anfang an geht er nach Gott. Alles entsteht nur durch ihn, und ohne ihn entsteht gar nichts. Was immer entsteht, ist Leben durch ihn. Leben – das ist der Menschen Licht. Das Licht scheint im Dunkeln, doch das Dunkel begreift’s nicht. Da ward ein Mensch, ein Gottgesandter, geheißen Johannes. Der kam zum Zeugnis, Zeugnis zu geben vom Licht. Alle sollten darauf vertrauen – um seinetwillen. Er selber war nicht das Licht, er war, das Licht zu bezeugen. Worthafter Geist, der ist das Licht, das einzig wahrhaftige, das jeden Menschen erleuchtet, indem es eingeht in diese Welt. Er ist in der Welt, durch ihn gibt es die Welt, doch die Welt kann ihn nimmer erkennen. In das, was er selber ist, kommt er, doch obwohl sie er selbst sind, begreifen sie’s nicht. Doch die ihn ergreifen, denen schenkt er die Freiheit, Gottes Kinder zu werden, denen, die glauben an seine Art, die nicht als Erzeugnis des Blutandrangs sind, – die «Natur» hat’s gewollt, – der Mann hat’s gewollt, – sondern von Gott her. Der worthafte Geist ward selber «Natur», er schlug sein Zelt auf, – in uns, daß wir seine Herrlichkeit schauten, herrlich, weil einzig stammend vom Vater, erfüllt mit Gnade, mit der Unverborgenheit Gottes. Johannes bezeugt ihn nur. Laut und deutlich hat er gesagt: Der ist’s ja, von dem ich gesprochen: Der nach mir kommt, ist mir zuvor; denn er ist der Ursprung, nicht ich. Ja: aus seiner Fülle empfangen wir alle Gnade um Gnade. 18

Denn das Gesetz ward durch Mose gegeben; die Gnade, die Unverborgenheit Gottes ward durch Jesus Christus. Gott hat niemand jemals gesehen. Dereinzig Gottgeborene, dessen Sein hingeht zum Erbarmen des Vaters, der ist die Deutung. Was bedeutet im Sinne des Johannes-Evangeliums das Leben Jesu, des «Christus», für eine Menschheit, die sich wie verloren fühlt inmitten einer ihr fremd gewordenen Welt? Was hat er zu sagen für das Empfinden derartiger Asylanten des Daseins? Oder, mehr in die Gegenwart hinein formuliert: Wie erreicht er uns, die Verlaufenen, die Verstoßenen, die auf immer ungeborgen Existierenden? Am Anfang steht worthafter Geist. – Das klingt wie der Spruch einer philosophischen Überzeugung, und tatsächlich ließe ein solcher Satz sich gut begreifen auf dem Hintergrund einer langen geistesgeschichtlichen Überlieferung, die mit der ionischen Naturphilosophie im 7., 6. Jahrhundert vor Christus beginnt. Was ist die gestaltende Kraft in allem? Das ist die Vernunft, das ist der Geist, das sind die Gesetze, die alles ordnen – so das griechische Denken. Dieser gnostisch-christliche Hymnus indessen meint: das alles genüge nicht, im Gegenteil, es spotte unser! Gründe für diese Behauptung sind zahlreich. Längst waren die Griechen sehr erfolgreich dabei, den Mechanismus der Naturgesetze zu erkennen. Wir wissen heute, daß es einzig der Mangel an handwerklicher Präzision war, der sie daran hinderte, Kraftmaschinen zu bauen, wie wir sie dem 18. Jh. verdanken: die Bohrungen hätten dem Druck nicht standgehalten; die Konstruktion, das geistige Können dazu allerdings besaßen sie bereits Jahrhunderte vor Christus. Das Ergebnis ihrer Anstrengungen jedoch war ambivalent: Die Gesetze der Natur bilden eine Form von «Ordnung», von Kosmos, aber sie antworten nicht auf die wesentlichen Fragen des Menschen. Die Natur bewegt sich, wie sie muß, aber gerade deshalb tut sie es kalt, gleichgültig und mitleidlos. Als fühlende Menschen, eingespannt mit unserem schmerzempfindenden Fleisch in dieses Räderwerk, erleben wir diese gesetzmäßig geordnete Welt als eine Zumutung! Vernunft? Wir Menschen können sie denken, aber mit Physik Tränen trocknen – das können wir nicht. Dieser Hymnus am Anfang des Johannes-Evangeliums erklärt, daß die ganze Weltvernunft so lange nicht gelte, als sie sich nicht verpaare mit einer Güte, die sich zwar nicht denken, nicht beweisen, nicht durch eine philosophische Theorie demonstrieren lasse, die aber durch lebendige Menschlichkeit fühlbar, berührbar werde und uns zu einer inneren Erfah19

rung und Überzeugung gereichen könne. Nur: wie sollten wir eine solche Erfahrung gewinnen? An genau diese Stelle einer möglichen Antwort, in das Zentrum all dieser Fragen, in den Fluchtpunkt all dieser Perspektiven setzt dieser Hymnus des Johannes-Prologs den Mann aus Nazaret. Er soll am Anfang – nicht sowohl von allem, was es gibt, aber von allem, was uns wirklich etwas angeht, – in unserem Leben stehen. Dieser Hymnus traut Jesus zu, daß er mit seiner Person den sonst unbegreiflichen Hintergrund der Welt in einer nie zuvor gehörten Weise für uns zum Sprechen gebracht habe und immer von neuem bringe. Deshalb sei er, mehr als alle griechische Weltvernunft, worthafter Geist, wortgewordener Sinn. Eine Aussage wie diese kann man zunächst gar nicht schwebend und zögernd genug aufgreifen. Die Welt, die uns schweigend umgibt, das All, das auf uns herniederschaut, ohne uns zu meinen oder besonders wahrzunehmen, soll von der Gestalt Jesu entdeckt werden als etwas, das zu uns zu reden beginnt? In der Sichtweise dieses Mannes wäre etwas verborgen, das sich mitteilen ließe in einer Sprache der Güte, wie sie nie gehört wurde? Und diese Sprache der Güte sei Gott – nicht als Kraft, die sich selber sucht in den Dingen, nicht als Vernunft, die sich selber entwickelt auf den verschiedenen Stufen ihrer irdischen Gestaltung, sondern als etwas, das zu uns reden möchte grad so, wie der Mann aus Nazaret es gefunden hat in seinen Worten und Taten, in seinem Verhältnis zu Gott und in seinem Verhalten zu den Menschen? Daß es sich gerade so verhalte, bildet die Grundüberzeugung des Johannes-Evangeliums. Alles, was der Mann aus Nazaret sagen wollte, verdichtet dieser Hymnus, indem er den an sich schweigenden, den an sich unsichtbaren Gott zur Sprache bringt für uns Menschen. Ja, es geht dieser Hymnus so weit, daß er in zwei Versen das Verhältnis zwischen Gott und «Wort», zwischen «Schöpfer» und «Offenbarer» austauscht: Wir entdecken nicht nur in den Worten Jesu die Gottheit noch einmal ganz neu als eine Person, die mit uns und zu uns reden will, sondern auch umgekehrt: Gott selbst ist worthafter Geist. Erst mit dieser Feststellung ist für Johannes die Bedeutung der «Offenbarung» Jesu wirklich erfaßt. Jedes andere Welterleben, das diese Entdeckung nicht einschließt, erscheint ihm als soviel wie eine Ablenkung, wie eine Irritation. Es muß deshalb nicht schon falsch sein, aber es bietet keine Antwort auf unser Fragen, soweit es religiös gelten soll. Aus dem Abgrund, in den wir uns ohne die Botschaft Jesu verlieren müßten, erhebt sich an der Seite des Mannes aus Nazaret ein Grund, uns selber zu finden. Aus dem stummen Schweigen 20

der Welt, das kein Echo zurückwirft, nicht einmal für den Schrei der Verzweiflung, wird in seinem Munde ein Lied, das sich singt, wenn die Nacht anbricht, wenn das Dunkel uns umfängt. Alles, was uns umgibt, kann und soll, mit seinen Augen gesehen, verstanden werden als ein Geschenk, das uns gegeben wird wie ein Zeichen der Liebe, als ein Gegenüber, das uns etwas zu sagen hat, schon einfach dadurch, daß es zu uns spricht. Nehmen wir ein Beispiel. Es ist mitunter, daß eine Frau nach Hause kommt, sie öffnet die Tür und findet einen kleinen Strauß Blumen vor oder irgend ein Kästchen mit Süßigkeiten oder ein schönes Tuch, das sie einmal in einer Auslage gesehen hat. An sich ist die Blume, das Kästchen, das Tuch nur ein Gegenstand: er liegt einfach da; diese Frau aber weiß, daß der entsprechende Gegenstand ihr gelten und ihr etwas mitteilen möchte. Der andere, der es ihr schenken möchte, ist womöglich abwesend, er kommt erst später nach Hause, er redet nicht jetzt schon mit ihr, und doch ist er gegenwärtig, er ist ein Erwarteter; schon jetzt beginnt ein Austausch der Sehnsucht: Bald wird er kommen! So ähnlich beschreibt sich die Welt für johanneische Augen – für Menschen, die aus der Gnosis befreit werden möchten und sollen zu einem neuen Gefühl, das sie heimisch zu machen vermag auf dieser an sich so fremden Erde. Die Rede ist von einem Gott, wie er durch eine rein philosophische oder naturwissenschaftliche Welterklärung nie zu finden sein wird, einzig durch die Entdeckung des Mannes aus Nazaret erscheint er als möglich; nur durch ihn, meint das Johannes-Evangelium, sei es uns vergönnt, den schweigenden Urgrund des Kosmos anzureden, wie ein Kind seinen Vater anredet: Abba – Väterchen, lieber Vater; oder sagen wir: Mutter – liebe Mutter eben, als eine Macht, der jeder Mensch sich verdankt, weil er aus ihr stammt. Und so wäre es die Übung des «Glaubens» nun, alle Welt anzuschauen! Jedes Ding besitzt da eine eigene Kostbarkeit; ein jedes entdeckt sich in einer Schönheit, die in ihm spielt; ein jedes offenbart sich in einer Größe, die eine eigene Form sucht; in jedem Ding liegt da ein bestimmtes Wort, eine Melodie verborgen, die darauf wartet, gehört beziehungsweise zum Flüstern, zum Schwingen gebracht zu werden. Ohne ein solches worthaftes Geschehen, ohne ein solches «Gischten» des Geistes, meint das JohannesEvangelium, würde gar nichts sein, oder wenn es denn wäre, so bliebe es buchstäblich nichtig und leer in unseren Augen. Denn so fährt dieser Hymnus fort: Was immer entsteht, ist Leben durch ihn, durch solch einen worthaften Geist. – Die Rede ist hier, wohlgemerkt, nicht von der Tatsache, daß es Leben gibt im Sinne der Entstehung organi21

scher Verbindungen aus dem Anorganischen, Prozesse, die wir biochemisch langsam zu entziffern und naturwissenschaftlich zu erklären vermögen. Die Frage hier geht dahin, wie es denn kommt, daß die Lebewesen überhaupt leben wollen, was ihnen geistig die Kraft gibt, sich zu vollziehen. Leben bezeichnet hier nicht die äußere Tatsache der Existenz von etwas, sondern die innere Bedeutung, die Stellungnahme eines Existierenden in Wahrheit. Wie vermag es ein Mensch, wie vermag es ein Lebewesen, dieses Dasein zu akzeptieren in all seinen Belastungen und Zumutungen? Das ist die Frage. Die johanneische Erklärung dazu lautet: Leben – das ist der Menschen Licht. Lassen wir, um diese Aussage zu verstehen, einmal beiseite, was die Biologie von der überragenden Bedeutung des Lichtes zu erklären weiß, – daß es der wesentliche Energielieferant auf dem kleinen Planeten Erde ist, eingefangen mit Hilfe des Chlorophylls, genutzt zur Synthese von Zuckern, eingelagert in die Strukturen der Pflanzen, imstande, alle Tiere davon zu ernähren. Licht ist in der Tat die Brücke des Energiestroms der Sonne, dem alles Leben auf unserer Erde sich verdankt. Doch das ist es nicht, worum es hier geht. Licht hier ist soviel wie eine bestimmte Poesie über unser Dasein, ist eine erhellende Betrachtung inmitten einer Welt ohne Aussicht, inmitten einer Sphäre von Dunkelheit und Finsternis; Licht hier ist keine elektromagnetische, sondern eine buchstäblich existentielle Energie. Was der Aufgang von Licht bedeuten kann, haben wir vielleicht schon einmal erfahren, wenn wir im Spätherbst, sagen wir: an einem Oktobermorgen, von Westen her im Rheintal hinüberschauten nach Osten und sahen, wie über den Bergen langsam die Sonne sich erhebt. Noch liegt über dem Fluß das Wolkenmeer des Nebels, aber dann, vorsichtig, langsam, durchdringen die ersten Strahlen der Sonne den Schleier, berühren die Wasseroberfläche, und plötzlich schimmert und funkelt der ganze Strom; wie gewelltes Silber liegt er da, blendend für die Augen, und führt ein bizarres Schauspiel vor uns auf. Da sehen wir auf den Höhen Burgen und Ruinen liegen, Kirchen inmitten der Dörfer und Städte, und offensichtlich wird es vor dem Hintergrund dieses Meers von Schönheit, daß all diese Prunkstücke der Kulturgeschichte der Menschheit nichts sind als nichtige Versuche, Angst aufwachsen zu lassen zu einer trotzigen Gebärde der Wehrhaftigkeit oder zu einer Gottesverfestigung hinter heiligen Mauern; das wirkliche Leben erglänzt über dem Fluß, und es kann nur unendlich sein. Alle Formationen und Maßnahmen, die es einzufangen und einzugliedern suchen, wirken wie ein Verrat. Das Leben selber ist fließend. 22

Manche mittelalterlichen Mystiker konnten so sprechen: Das fließende Licht der Gottheit, nannte Mechthild von Magdeburg das Zentrum ihrer Frömmigkeit2. Etwas Ähnliches ist hier gemeint: eine «Metaphysik» der Existenz, in der die Menschen sich einem solchen Hellwerden über dem Dunkel verdanken. Alles entscheidet sich an dieser unterschiedlichen Art, die Dinge zu sehen. Es ist wahr: sieht man nur die Welt, wie sie ist, welch eine Mühsal, welch ein Verschleiß breitet sich dann vor den Augen aus, – eine Schopenhauersche Welt gewissermaßen3. Man betrachte nur, meinte er, dieses wahre Tier der Nacht, dieses animal nocturnum, den Maulwurf: all seine Angst hat ihn unter die Erde gezwungen, damit kein Feind ihn mehr findet; seine feingliedrigen Finger sind zu Grabschaufeln umgeformt worden, seine Haut, sein Fellchen ist mittlerweile so transpirierend, daß er nicht einmal schwitzt bei seiner schweren Arbeit, – er darf es ja nicht, sonst würde die Erde sich auf seiner Haut verklumpen; doch nur schon, daß er sich von Fall zu Fall aufrichtet, um sich zu erholen, macht ihn zu einem Feind des Wiesenbesitzers über ihm: – er wird ihm nachstellen, dem unschuldigen Tier! Was in all dem bietet sich für ein Gleichnis auf das menschliche Dasein dar, dachte Schopenhauer. Hatten nicht die alten Lateiner völlig recht, wenn sie meinten: sterben, das sei am besten bezeichnet als defunctus – als «abgewirtschaftet», als «zu Ende funktioniert», als «die Pflicht erfüllt habend»? Was sonst weiter wäre es gewesen? – Ein anderes Bild, das Schopenhauer nicht einfiel, das aber mehr Bezug auf den Menschen gehabt hätte, bot sich schon damals durch die Industrieform seiner Tage, um 1840, an: Man zwang zum ersten Mal Tiere, Grubenpferde, unter Tage zu arbeiten, den Haspel zu drehen, tagaus, tagein, Hunderte von Metern unter der Erde, und nie mehr die Sonne zu sehen, nie mehr frisches Gras duftend wahrnehmen zu können mit ihren Nüstern, nie mehr laufen zu dürfen und die weiche Erde unter ihren Hufen zu spüren. – So etwas muß es heißen: zu leben im Dunkeln. Der russische Dichter Fjodor M. Dostojewski in seinem Roman Die Brüder Karamasow konnte in der Gestalt des Dimitri einmal sprechen von solchen «unterirdischen Menschen»4; doch er sann darauf, wie man gerade diese Niedergedrückten, diese Perspektivelosen, diese Geschundenen, diese Hoffnungslosen ins Leben zurückführen könnte. Welch eine Antwort hätte die «Welt» schon parat als: Mach weiter so! Oder praktischer: Halt dich gesund! Oder sozialer: Denk mal an Urlaub! Oder wirtschaftlicher: Achte auf deine Rente! Oder familiärer: Regle dein Erbe! All das kann doch nicht Leben heißen! – Leben, das ist der Menschen Licht, schreibt Johannes; es 23

ist ein unerhörter Satz. Es muß und soll demnach etwas geben, das, wenn wir morgens aufwachen, einem jeden von uns hilft, in den Tag zu schauen, etwas, das einen Zielpunkt der Freude darstellt! Man kann sich gar nicht klar genug machen, welch ein Standpunktwechsel da gemeint ist. Ein Beispiel: Wir bringen viel Zeit damit zu, unseren Terminkalender mit allen möglichen Eintragungen zu füllen; wir laufen wie ein Hamster in der Trommel durch die Zeit. Wer aber hat uns denn gesagt, daß es zwar Planungen geben soll für die Pflicht, nicht aber für die Freude? Wo finden sich in unserem Leben Planungen für das Licht? Wenn es morgens hell wird, was tun wir dann, damit sich unser Herz weitet, damit es während des kommenden Tages Augenblicke gibt, von denen wir zuversichtlich annehmen, sie gereichten zu unserer Freude, – wir müßten nur auf die Uhr schauen und die Stunden noch zählen, um zu wissen: endlich kommt das Licht! Alles andere dazwischen mag uns vorkommen wie ein Tunnel an Düsternis, dann aber tritt unser Weg heraus, und wir erschauen die Sonne. So etwas wie ein solcher Sonnenaufgang ins Licht wollte Jesus für unser Leben sein, etwas, an dem wir uns aufranken könnten, etwas, das uns unser eigentliches Leben zurückgäbe in einer Freiheit, wie wir sie nie gespürt haben. Tatsächlich ist diese Sicht auch historisch betrachtet nicht nur eine theologische Konstruktion des Johannes-Evangeliums. So war der Mann aus Nazaret wirklich. Nehmen wir nur das 6. Kapitel des Matthäus-Evangeliums in der sogenannten Bergpredigt; da sagt er – sinngemäß –: «Ihr bewundert König Salomo als den mächtigsten Mann in ganz Israel. Ihr bewundert ihn seiner Kleider wegen, seiner Speisen wegen, ähnlich der Königin von Saba; sie sah in ihm einen Wallfahrtsort an Glück und Weisheit. Ich aber sage euch: Jeder von euch ist viel mehr wert als so ein König in all seiner Pracht. Wohl, ihr seid nur arme Leute; aber ihr seid wunderbar. Jeder von euch trägt in sich einen Funken Licht, der nur in ihm zur Flamme werden kann; jeder spürt in sich ein Stück Liebe, das nur er einer ganzen Welt zu schenken vermag. Und dafür zu leben ist alles, was göttlich ist. Das ist Leben, wirkliches Leben.» (Mt 6,25-34) Dabei denkt das Johannes-Evangelium nicht rein phantastisch oder idealistisch. Es geht vielmehr aus von einem vollkommenen Paradox: Das Licht scheint im Dunkeln, doch das Dunkel begreift’s nicht, schreibt es. Dem russischen Dichter Leo TolstoJ waren diese zwei Zeilen ein ganzes Theaterstück wert5. Das Licht scheint im Dunkeln, aber das Dunkel begreift’s nicht. Es ist das unglaubliche Rätsel, wieso wir Menschen sehr genau wissen können, was uns glücklich macht, wo unsere Freiheit 24

liegt, wie es uns atmen läßt, und wie wir dann trotzdem immer wieder an uns selber vorbeigehen und uns förmlich weigern können, ja, anscheinend sogar uns weigern müssen, uns auf dieses unser Wissen einzulassen. Das ist ja «Gnosis» als Karikatur, daß jemand sehr genau ahnt, was für ein Mensch er sein könnte, und daß er dennoch immer wieder Ausreden und Schutzgründe parat hat, die ihn dahin bringen, sich selber zu verraten. Tolstoj zum Beispiel schildert in seinem Drama einen alten Mann, in dessen einfacher Seele so etwas lebt wie die Botschaft des Jesus aus Nazaret: die Menschen sollten das Brot, das sie haben, teilen mit den Hungernden, und das Geld, das sie haben, denen geben, die es brauchen; niemand mehr wäre dann eingeschlossen in seinem Elend. So einfach könnte das Leben sein. Doch schaut man sich um – wie anders sind die Menschen, wie gierig bis zum Verbrecherischen, wie ausbeuterisch gegeneinander, wie hart gesonnen im Besitzstand ihrer Rechte! Tolstoj geht all diese Zustände der Seele wie der Gesellschaft durch. Das, was wir die Jurisprudenz nennen, die Wirtschaftswissenschaft, die Staatskunst, die Politik, das Bankwesen – die ganze bürgerliche Welt –, was ist sie anderes als ein einziger verlogener, unmenschlicher Irrgarten, gemessen an dieser ganz einfachen Botschaft der Menschlichkeit! Und doch kommt man, so wie Leo Tolstoj, mit rein moralischen Mitteln gegen eine solche Welt nicht an. Man hinterläßt am Ende die Zuschauer der Aufführung eines solchen Dramas mit lauter Schuldgefühlen, zerknirscht womöglich, aber im ganzen noch hilfloser. Ein derartiger rigoros prophetischer Ansatz verschlägt nicht. Viel richtiger wäre es, sich um die Angst zu kümmern, die uns Menschen daran hindert, selber zu sein. Statt johanneisch von Finsternis zu sprechen, müßte man deutlicher reden von Verzweiflung, und augenblicklich würde man begreifen, daß man sehr leise reden muß zum Herzen von Menschen, die man aus der Dunkelheit ihres Lebens herausholen will. Eines jedenfalls darf man dabei nie: statt ihrer Not nichts weiter zu sehen als das Böse, das sie, rein moralisch bewertet, tun. Freilich mag man sich fragen, ob das, was Jesus meinte, nicht vielleicht doch utopisch ist, – die Menschen scheinbar sind nicht so. Und überhaupt: Kann man die ganze Welt ändern wollen? Ist es nicht genug, für sich selber das Richtige zu tun, und dann einfach basta? – Offenbar nicht; weil es nicht genügt, zu sagen: es gibt das Gute, und es gibt das Böse, es gibt das Richtige, und es gibt das Falsche, und nun strengen wir uns an mit dem guten Willen, richtig zu handeln. Die ganze Schwierigkeit liegt darin, zu merken, daß kein Mensch etwas wirklich Böses will. Wann nur begreifen wir, wieviel an Seelenumdüsterung auch und gerade in einem Verbrecher 25

wohnt! Vorher wird niemals Frieden sein auf Erden, ehe wir diese Innenansicht der menschlichen Tragödie uns nicht erarbeitet haben. Wie hebt das Dunkel sich auf, daß es das Licht nicht mehr als Bedrohung spürt? Das ist die Frage auch an das Johannes-Evangelium. Dieses aber fährt fort: Worthafter Geist, der ist das Licht, das einzig wahrhaftige, das jeden Menschen erleuchtet, indem es eingeht in diese Welt. – In der Tat, darauf käme es an, auf ein Wort, das den Menschen von innen her ergreift und ihm zu einer eigenen Überzeugung wird. Erst wenn man einen Menschen lehrt, das heißt, nicht von außen an ihn heranträgt, sondern in ihm das Gefühl, das Empfinden reifen läßt, wieviel er wert ist, welch eine Kostbarkeit in ihm lebt, was mit ihm in seiner Person gemeint ist, gewinnt er den Mut, wirklich und richtig zu leben. Dann geschieht es, wie wenn es ihn durchfluten würde, so als dränge Licht durch die hohen Fenster einer Kathedrale, und ihr ganzer Innenraum würde erfüllt von Helligkeit. Noch einmal: Licht ist dabei soviel wie Liebe, die wärmt, wie Kraft, die uns hell macht, wie eine Energie, die uns beseelt mit Freude. Doch dann steigert sich das johanneische Paradox zum Extrem, wenn es heißt: Er ist in der Welt, durch ihn gibt es die Welt, doch die Welt kann ihn nimmer erkennen. Man kann es offenbar nur einander gegenüberstellen, auf EntwederOder, wirklich auf Licht oder Finsternis, wirklich auf Gott oder Welt. Immer wenn wir denen zuhören, die sagen: die Menschen verdienen kein so maßloses Vertrauen, gegen die Bosheit der Menschen müssen wir uns sichern, gegen die Freiheit der Menschen müssen wir Schutzmaßnahmen einrichten, so beruft man sich dabei auf die «Welt», wie sie ist: – auf die Herkunft des Menschen aus der Steinzeit, aus der Tierreihe, aus der Biologie. Vermutlich war im 20. Jh. niemand schrecklicher in dieser Logik der «Welt» als der Diktator des «tausendjährigen Reiches». Wenn man ihm zuhört, vernimmt man, wie er von Gott spricht als von der «Macht, die will, daß der Stärkste siegt». Gewiß ist nichts bestürzender damals gewesen, als daß, dieses lesend, dieses hörend, dieses wissend, keine der Kirchen in Deutschland dem widersprochen hat. Der «Führer» galt den Bischöfen und Theologen als ein gläubiger Mensch, er schien wert, das Konkordat zwischen katholischer Kirche und «Reich» mit ihm zu schließen; ja, 1933 wagten es Bischöfe, die Christen einzuladen, in seine Partei, in die NSDAP, zu gehen, um mit ihm gemeinsame Sache zu machen für den Aufbau des Deutschen Reiches. Was aber nannte denn dieser Mann Gott, außer einen Willen, der da gebietet: Vogel, friß oder stirb! Für einen solchen Mann gab es keinen Frieden, für ihn gab es nur Kampf; für ihn war Friede nichts als 26

die Vorbereitung auf den nächsten Waffengang. In seinen Augen bedurfte es eines unerbittlichen Hasses, um sich als Held zu beweisen und auf dem Schlachtfeld als dem Felde der Ehre zu kämpfen, da Gott einem feigen Volke keine Freiheit gibt und ihm seine verlorenen Gebiete umsonst niemand je zurückschenken wird; vielmehr männlichen Zorn und rücksichtslose Stärke, das will der Gott, der das Vaterland gründete und der die Menschen nicht als Weichlinge schuf, sondern ihnen die Pflicht gab, rüstig zu ringen um ihren Bestand. Alles Schwächliche, so die Nazi-Philosophie, gehört ausgerottet; das ist das Gesetz der Natur, das ist die Welt. Immer wird der Löwe die Gazelle fressen und die Katze die Maus und der Adler die Schlange – und der Adler des Deutschen Reiches seine Feinde! Bis dahin aber gilt es, brutal und fanatisch die eigenen Interessen in Gottes Namen zu verteidigen. Das war damals Religion, das war die «Welt», die wir kennen: – pragmatischer Zynismus! Es gibt zu dieser Hölle auf Erden nur eine Alternative; sie besteht darin, die Dinge noch einmal ganz anders zu sehen. In jener welthaften Haltung erkennt man gar nichts, begreift man gar nichts, da wird keine Gnosis, keine «Einsicht» geboren; es kommt vielmehr darauf an, in den Hintergrund der Dinge zu schauen: Die Menschen sind keine Tiere. Und selbst bei den Tieren gibt es so viel an Güte, daß wir durchaus keinen Grund haben, unsere eigenen gesellschaftlich und psychologisch bedingten Sadismen in sie hineinzuprojizieren. – Unglaublich zärtlich zum Beispiel kann ein Gorillaweibchen sein. Durch die Presse der ganzen Welt ging im September 1996 die Nachricht, wie in einem Zoo ein Kind in ein Gorillagehege gefallen war und das Gorillaweibchen es auf den Armen zurück zu den Menschen trug, als es entdeckte, daß das Kleine von sich aus nicht stehen konnte; es war zu verletzt. Diese Ungeheuer an Kraft denken ganz offensichtlich nicht so brutal, wie man es uns Menschen mit Berufung auf sie als Pflicht zum eigenen Handeln einreden will. Recht betrachtet, könnten wir so viel selbst von den Gesetzen der Natur lernen, die uns umgeben. Doch dazu müßten wir vorweg die entscheidende Frage beantworten: Wie halten wir als Menschen stand? Wie lernen wir aus der Freude zu leben, in der Liebe zu reifen und uns in Freiheit zur Menschlichkeit zu entwickeln? Einzig eine solche Haltung verwandelt alles. Sie allein macht aus Gegnern Freunde, aus Feinden Verbündete, und nur sie verhindert es, daß die Verbündeten schon wieder bloß die Koalitionäre eines noch ausgedehnteren Kampfes sind. Es war die Idee des Mannes aus Nazaret, alle internationalen Beziehungen umzuformen zugunsten einer universellen, globalen Menschlichkeit ohne Grenzen, ohne Ende. 27

Auch dafür ein Beispiel. «Ja, soll das denn heißen», fragte dieser Tage jemand, «daß jeder hier nach Deutschland kommen kann und bei uns wohnen darf? Offenbar entgeht Ihnen, was auf dem Lande los ist. Da sind die Fremden verhaßt; die drehen Däumchen, und die andern müssen arbeiten, die Bauern auf den Höfen schuften sich kaputt, und die sitzen einfach da und leben in den Tag hinein; das sind einfach Drückeberger und Faulenzer!» Eine solche Meinung ist weit verbreitet. Aber wäre es nicht ganz im Gegenteil möglich zu denken, daß niemand aus dem Land seiner Herkunft, Tausende von Meilen weit, fortgeht und alles preisgibt, was er einmal besaß: – den Klang seiner Muttersprache, die Nähe seiner Verwandten, daß er herausfällt aus jedem sozialen Netz und es lernt, Ächtung und Verachtung zu akzeptieren, indem er seine Heimat unter den Arm nimmt wie eine Erinnerung an etwas, zu dem er nie mehr zurückfinden wird, – außer er hätte unendlich viel durchgemacht? Aus jedem «faulen Hund», wenn man denn schon so reden will, wird bei solcher Betrachtung eher «ein armes Schwein». In jedem Falle hätten wir keinen Grund, die Nase zu rümpfen, soviel stünde fest; vor allem: es gäbe überall nur Menschen zu sehen, nicht Einheimische und Fremde, nur Menschen. Da würde das Licht scheinen in dieser Welt, und es gäbe eine Welt überhaupt nur durch dieses Licht, durch die Art einer hell gewordenen Weltsicht. Anders reden wir ja gar nicht von Welt, allenfalls von Interessensphären, von strategischen Einflußzonen – vom Zerfall der «Welt», von der Gegenwelt. Wie zur Zusammenfassung erklärt das Johannes-Evangelium dann: In das, was er selber ist, kommt er, doch obwohl sie er selbst sind, begreifen sie’s nicht. Die ganze Frage unserer Identität hängt nach diesen Worten einzig daran, inwieweit wir begreifen, daß wir wesentlich Gott zugehören. Wir finden uns selber nur, wenn wir auf ein Gegenüber treffen, das uns leben läßt; biblisch gesprochen, vermöge einer reinen Güte, die uns akzeptiert ohne Voraussetzung und die es uns dadurch ermöglicht, zu unserer Wahrheit zu stehen. Wie notwendig schließt sich daran die alles entscheidende «christologische» Erfahrung und Botschaft des Johannes-Evangeliums an: Der worthafte Geist ward selber Natur und schlug sein Zelt auf in uns; ja, aus seiner Fülle empfangen wir alle Gnade um Gnade. – Einzig wer begreift, wie sein Leben noch mal ganz neu beginnt unter dieser Perspektive, in diesem Lichtkegel der Wahrnehmung, den die Person Jesu vermittelt, lernt eine Menschlichkeit, die anders kaum vorstellbar wäre. Da wird es die Frage nach dem Weltentwurf, wie wir uns sehen, – ob von dieser neuentdeckten Art her, Gott so wahrzunehmen, wie Jesus ihn uns bringen wollte, oder von dem her, was vermeintlich immer schon galt: es gibt 28

die Natur, es gibt die Welt, es gibt die Interessen, es gibt die Rücksichtslosigkeit. Die einzige Alternative besteht wirklich darin, zu denken wie Jesus: Das, was der Welt zugrunde liegt, ist gütiger Natur, ist «väterlich» gesinnt (oder «mütterlich»), es meint uns und will uns. So sein zu dürfen – welch ein Geschenk! Ein jeder Tag, verbracht in solcher Dankbarkeit, ist selbst ein Hymnus an die Freude, eine Wandlung zum Licht, ein Anfang wirklichen «Lebens».

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Joh 1,1-18: «Im Anfang war das Wort.» – 2. Teil Wir haben uns bemüht, in einige Grundaussagen, vor allem in einige Grundbegriffe des Johannes-Evangeliums hineinzuhören. Doch sollten wir in einem zweiten Durchgang noch einmal versuchen, uns die gewonnenen Einsichten kulturgeschichtlich, vor allem aber persönlich näherzubringen. Die Schwierigkeiten mit der sehr eigenen und eigenartigen Weltsicht des Johannes-Evangeliums beginnen bereits mit der Sprache. Man kennt die Mühe, die Goethes «Faust» überkommt, als er die Worte aus dem Johannes-Evangelium übersetzen will: «Im Anfang war das Wort.» «Ich kann das Wort», denkt Faust, «so hoch unmöglich schätzen, ich muß es anders übersetzen, wenn ich vom Geiste recht erleuchtet bin. Geschrieben steht: im Anfang war der Sinn.» Aber dann überlegt er: «ist es der Sinn, der alles schafft? Es sollte stehen: im Anfang war die Kraft.» Aber so kann es auch nicht heißen; eine rohe Energie für sich allein ist niemals schöpferisch; da endlich weiß sich Faust doch Rat und schreibt: «Im Anfang war die Tat.»1 – Das dichterische Genie Goethes rät bei diesem Übersetzungsvorschlag gar nicht so falsch. Denn wirklich meint die Bibel, wenn sie vom «Worte Gottes» spricht, nicht bloß Rede, sondern Schöpfung und Tat2. So wie das Wort eines Königs in sich selbst ein entscheidendes Handeln darstellt – was er sagt, schafft eine neue Wirklichkeit –, so wie das Wort eines obersten Richters, in Vollmacht gesprochen, indem es den Sinn eines Gesetzes verkündet, Realität setzt, so wird, wenn Gott spricht, mit höchster Kraft, geleitet von Vernunft und Sinn, etwas an Wirklichkeit in diese Welt hineingesetzt: daß wir leben, weil Gott gesagt hat, daß es so sein soll, – das heißt: «Im Anfang war das Wort». Johannes denkt dabei, wie Goethe meinte, gewiß auch an Kraft und Tat und Weisheit Gottes. Doch eben darin liegt ein erstes Problem. Was heißt: im Anfang? Wir hören dieses Wort als eine Erklärung über den Anfang der Welt. Wir hören das Wort «Anfang» als Beginn in der Zeitreihe. In Wirklichkeit redet das JohannesEvangelium zwar griechisch, aber es denkt semitisch, und das heißt: völlig unphilosophisch, oder wenn schon philosophisch, dann existentiell. Seine Frage ist nicht, wie die Welt entsteht, sondern woraus wir selber leben. Welch einen Grund wir unter den Füßen haben, um zu sein – das möchte Johannes beantworten; was uns wesentlich, zu aller Zeit, grundlegend trägt, das nennt er den «Anfang» im Sinne von Ursprung und Halt3. Wesentlich lebten wir einzig aus dem Wort Gottes, meint er (vgl. Mt 4,4). Den Sinn dieser Aussage versteht man am ehesten, wenn wir uns ihr von 30

der anderen Seite her nähern: wenn wir ausgehen von unserem eigenen armseligen Menschenwort, von der Tatsache, daß wir reden und Sprache verstehen können. Immer mehr bestätigt sich die Ansicht der meisten Anthropologen, daß nichts uns Menschen so sehr eigentümlich sei wie die Fähigkeit zu sprechen. Essen, schlafen, kämpfen, träumen, lieben, hassen, sich erinnern – all das können in analoger Weise Tiere auch; sogar arbeiten, nachdenken, lernen und erfinden sind Tätigkeiten, die sich in etwa auch im Tierreich beobachten lassen. Das einzige, was kein Tier kann, was uns von allen Lebewesen der uns bekannten Welt wesentlich unterscheidet, ist das Sprechen4. Worte zu formen, die etwas bezeichnen, Laute zu bilden, die einen unsichtbaren Gegenstand vertreten, diese Fähigkeit besitzen nur wir Menschen; sie erst macht uns zu dem, was wir sind. Manchmal erleben wir, staunend und erleichtert, mitten im Alltag noch einmal nach, wie ein Wort uns vermenschlicht. Ein Tier, wenn es Angst hat, kann schreien oder fliehen; wir Menschen können uns hinsetzen und sprechen; wir können die Gründe unserer Angst zur Sprache bringen, lallend und stockend oft, und doch beruhigend und klärend. Wie in den Anfangstagen der Menschwerdung, als vor vielen Jahrhunderttausenden jedes neu entdeckte Wort wie eine magische Formel zur Verzauberung der Dinge, zur Milderung ihrer Unheimlichkeit, zu wirken vermochte, so erleben wir, daß wir der Angst Herr werden können, wenn wir ihre Stimmungen in Worte fassen und das sonst Unfaßbare aussprechen. Indem wir es sagen, erleben wir, wie mit jedem Wort der Abgrund der Angst ein Stück weit sich schließt und die Dinge wieder näher an uns heranrücken. Nur die Welt, für die wir Worte haben, ist uns wirklich vertraut; nur sie nimmt uns auf und gibt uns das Gefühl, in ihr zu Hause zu sein. Nur was wir sagen können, ist uns nicht unheimlich. Ein Tier, wenn es gereizt wird, faucht, knurrt oder bellt. Wir Menschen können sagen, was uns stört. Uns müssen die Emotionen nicht fortreißen; wir können ein Gespräch beginnen, und mit jedem Worte merken wir, wie der Andrang der Gefühle sich beruhigt, wie der Schwall der Stimmungen sich verläuft und wie allmählich Übersicht und Nüchternheit zurückkehren. Nur das, was wir besprechen können, wird für uns beherrschbar, so daß wir schließlich nicht nur reden, sondern sogar hören können. Vielleicht ist kaum eine Entdeckung des 20. Jhs. deshalb so wichtig geworden wie die Entdeckung der Psychotherapie, daß Menschen krank werden können, ja, müssen, wenn ihnen für die eigenen Gefühle, für den Reichtum der eigenen Bilder Worte fehlen oder wie mit Absicht entzogen 31

werden, und umgekehrt, daß sie oft nur gesund werden können, wenn sie lernen, von dem zu sprechen, was sie eigentlich wissen, was aber doch erst bewußt zu werden vermag, wenn die Erlaubnis gegeben wird, es ins Wort zu setzen. Um Menschen zu heilen, kommt es entscheidend darauf an, die so peinlich gehüteten und vor unserem eigenen Ich so wohl versteckten Empfindungen und Neigungen aussprechbar zu machen, indem man das seit jeher Unaussprechliche mit Wortvorstellungen verbindet. Doch dazu müßte man die Angst vor Spott und Verurteilung überwinden durch ein tieferes Vertrauen: Es wäre nicht nötig, ganze Teile unserer Seele zu verdrängen, wenn es gelingen könnte, das ehedem peinlich Gemiedene zu verworten und ins Gespräch zu bringen5. Anhand der Lebensbeschreibung eines blinden und taubstummen Mädchens an der Wende zum 20. Jh. läßt sich verdeutlichen, was es bedeutet, zum ersten Mal die Fähigkeit der Sprache zu entdecken6. Oft schon hatte man Helen Keller gezeigt, daß bestimmte Bewegungen ihrer Finger ein Wort ergäben, aber sie hatte nie begreifen können, was ein Wort ist. Eines Tages nun machte ihre Lehrerin mit ihr einen Spaziergang, und da ereignete sich in ihrem Bewußtsein das Geheimnis der Sprache. «Sie brachte mir den Hut», liest man in ihren Erinnerungen von 1902, «und ich wußte, daß ich in den warmen Sonnenschein hinausgehen würde. Dieser Gedanke, wenn man eine wortlose Empfindung überhaupt so nennen darf, ließ mich vor Vergnügen hüpfen und springen. Wir gingen den Pfad zum Brunnenhaus hinunter, angezogen vom Duft des Geißblattes, mit dem es überwachsen war. Jemand pumpte gerade Wasser, und meine Lehrerin hielt meine Hand unter den Strahl. Als der kühle Strom über meine Hand floß, schrieb sie in die andere das Wort Wasser, erst langsam, dann schnell. Ich hielt still, meine ganze Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf die Bewegung ihrer Finger. Plötzlich empfand ich ein nebelhaftes Bewußtsein wie von etwas Vergessenem – den Schauer eines wiederkehrenden Gedankens, und irgendwie offenbarte sich mir das Mysterium der Sprache. Da wußte ich auf einmal, daß W-a-s-s-e-r jenes wunderbare kühle Etwas meinte, welches mir über die Hand floß. Dieses lebendige Wort erweckte meine Seele, schenkte ihr Licht, Hoffnung, Freude und machte sie frei! Es gab zwar noch Schranken, aber die ließen sich mit der Zeit beseitigen. Ich verließ das Brunnenhaus voller Lerneifer. Jedes Ding hatte seinen Namen, und jeder Name gebar einen neuen Gedanken. Als wir nach Hause zurückkehrten, schien jedes Ding, das ich berührte, vor Leben zu zittern. Das rührte daher, daß ich alles mit dem seltsamen neuen Sehvermögen, das mir zuteil geworden war, sah.» 32

Es ist die gleiche Entdeckung, die vor 300 000 Jahren oder mehr, auf der Stufe des homo erectus vielleicht schon, unsere Vorfahren gemacht haben, als sie, vermutlich einen magischen Gegenstand (eine Feuerstelle, einen Baum, eine Quelle, eine Stoßlanze) umtanzend und dabei ekstatisch lallend, herausfanden, daß sie die gleichen Empfindungen von Rausch und Wonne auch ohne ihren fetischähnlichen Kultgegenstand durch einen bloßen Laut, der ihn bezeichnet, jederzeit wiederholen konnten; daß alle Dinge zu uns in eine innige Beziehung treten und zu uns gehören, wenn wir ein Wort für sie in uns tragen, das wir zu Gehör bringen können; daß sie sich uns aufschließen und mit uns zu reden anfangen, wenn wir sie benennen und ihnen einen Namen geben. Alles wird für uns «ansprechend», wenn wir beginnen, in menschlichen Worten die Dinge auszusprechen7. Keine Erfindung am Anfang der Menschheit dürfte grundlegender und folgenreicher gewesen sein als die Entdeckung der Sprache. Selbst heute, wo wir als Erwachsene über ein vollständiges, unsere individuelle Vernunft weit übersteigendes, hochgradig geordnetes und sinnreiches System von Sprache verfügen, benötigen wir viele Monate, um ein Neugeborenes in den Stand zu versetzen, sein Plappern und Lallen zu festgelegten Lauten mit einer festgelegten Bedeutung im Rahmen festgelegter Regeln zu formen8. Erst dann kann ein neugeborenes Menschenkind als ein wirkliches Mitglied der menschlichen Gesellschaft betrachtet werden, erst dann beginnt es wirklich zu sein. Vor diesem Hintergrund ist der Gedanke des Johannes-Evangeliums ungeheuerlich: «Im Anfang war das Wort.» Es ist eine Weltsicht, wie sie in dieser Weise nie bestanden hat, vor allem, wenn Johannes noch hinzufügt: «Und Gott war das Wort.» Schon in unserem eigenen kleinen Leben fällt es uns unglaublich schwer, so zu denken: alles, was uns umgibt, sei wie ein Wort Gottes an uns, in allem spreche Gott zu uns, in allem lebe ein Stück seines Geistes. Allenthalben stehen wir in der Gefahr, aus lauter Angst Bereiche der Wirklichkeit zu verdrängen, aus Ekel zu fliehen oder aus Scham zu verschweigen, – ihnen gewissermaßen also das Wort zu verbieten. Und nun gar zu denken: alles in der ganzen Welt existiere überhaupt nur, weil Gott es selbst zur Sprache habe bringen wollen! Nichts sei in sich dem menschlichen Begreifen verschlossen, nichts in sich dämonisch, nichts an und für sich geistlos oder stumpf, im Gegenteil, alles, was existiere, sei innerlich worthaft und erfüllt von Geist und Leben! Doch gerade das meint Johannes, wenn er sagt: «Nichts, was geworden, ward ohne das Wort.» In jedem Ding liege etwas, das Gott uns zu sagen habe. Die Folgen allein dieser Aussage, macht man sie sich zu eigen, sind enorm. 33

Es ist, wie wenn Johannes mit diesem Gedanken all die sonstigen philosophischen oder mystischen Welterklärungsversuche durch eine gewissermaßen poetische Weltsicht ergänzen oder gar ersetzen wollte. Indem Johannes uns beschwört, zu glauben, nichts an Geschaffenem sei außerhalb des Wortes Gottes selbst entstanden, möchte er, daß wir ein Stück weit lernen, diese Welt zu sehen nach der Weise der Dichter. «Im Anfang war das Wort» bedeutet gerade nicht, von allem in der Welt auf eine Weise zu reden, daß es uns immer ferner rückt, daß es zu einem Objekt der Erkenntnis eingefroren wird, daß es zu einem Lupen- und Seziergegenstand herabfällt, sondern gerade umgekehrt, daß alles, was uns umgibt, sich beseelt, so als trüge es uns selbst mit unseren Gefühlen, unseren Sehnsüchten in sich und redete auf eigene Weise unsere Sprache; mehr noch, als lebte etwas in ihm, das Gott uns zu sagen hätte in unseren eigenen Worten. Und so ist es in der Tat. In den Jahrmillionen, da unsere menschliche Seele wurde, ist all das, was wir Schöpfung nennen, zu einem Bild geworden, um uns selbst zu finden. Wir brauchen nur die Dinge der Welt zu benennen, und wir sprechen die Sprache der ewigen Poesie, einer unsterblichen Dichtung. Sterne sind für ein dichtendes Gemüt keine explodierenden Wasserstoffusionsreaktoren, wie wir sie in Physik und Astronomie kennenlernen, mythisch sind sie seit Urzeit Bilder von Bewußtwerden und Sehnsucht, von Traum und Himmel, von Leben und Tod, von der Überwindung unserer Sterblichkeit. Der Mond ist nicht einfach ein Körper am Firmament, womöglich zeitgleich aus dem Staub des Kosmos gebildet mit unserer Erde9, er ist für unser träumendes Fühlen eine Lichtquelle des Liebens, des Hoffens, des Wahrnehmens in eigentümlich verschwimmenden Formen, Ursprung des Rauschens von Ebbe und Flut am Gestade des Meeres wie in unserem Herzen, der Unruhe wie der Beruhigung unserer rastlosen Seele. Und so quer durch das All: ob die Bäume, das Wasser, die Höhlen, die Meere – in allem leben wir selber; alles, was ist, redet die Sprache der Ewigkeit hinein in unser Leben, ist ein Wort Gottes und nie nur «Begriff», viel eher eine Einheit aus Malerei und Musik, aus Bild und Ton, also eine Aufforderung, das Sprechen noch einmal ganz anders zu lernen. Die Frage freilich ist dann erlaubt: Wo nur verfügen wir Heutigen in unserer Kultur und in unserer Zeit über eine Sprache, die «magisch» genug ist, um religiös zu sein, die so zauberhaft eigenes Erleben verdichtet, daß der Himmel die Erde berührt, die Bilder der Vorstellung freisetzt und ein Stück der Musik der Welt in unser Leben zurückträgt? So aber müßten wir sprechen lernen, um Menschen zu werden, um uns selbst als «begründet» zu erleben. 34

Der Unterschied ist deutlich. Was haben wir Menschen nicht alles unternommen, um herauszufinden, welch einem Sinn oder Zweck bestimmte Erscheinungen der Natur wohl dienen könnten, und doch sind wir dabei niemals viel weiter gekommen, als daß wir bestimmte allgemeine Gesetzmäßigkeiten hätten formulieren können, im 19. Jh. etwa den Satz von der Erhaltung der Energie oder die anderen Hauptsätze der Thermodynamik. Trotz all dieser Theoreme sind wir indessen außerstande, einen wirklichen Grund für die Existenz eines Kieselsteins am Bachbett, eines Dinosaurierskeletts im Museum oder einer Platane im Stadtpark zu geben. Gewiß, wir können bestimmte zufällige Ursachenkombinationen dafür aufzählen, warum es etwas gibt; aber die einfache Umkehrprobe zeigt, daß wir nicht glauben dürfen, auf diese Weise die Existenz des Kiesels, des Dinosaurierskeletts oder der Platane begriffen zu haben: Wenn es all diese Dinge nicht gäbe, kämen wir niemals darauf, daß es sie geben müßte! Die Dinge haben in diesem Sinne keine notwendigen Ursachen, die sie hervorgebracht hätten; mit ihnen ist kein erkennbarer Zweck verbunden, für den sie schlechthin existieren müßten. Wohl, bestimmte Bedingungen haben sie ermöglicht; aber daß es sie wirklich gibt, – das bleibt für uns ein unlösbares Rätsel. Gleichwohl ziehen die Dinge uns gerade deshalb nur noch mehr in ihren Bann und lassen uns nicht los. Immer von neuem müssen wir sie bedenken, beschreiben und zu erfassen versuchen, und hier entsteht der eigentliche Ort der Dichtung. Die naturwissenschaftliche Formel, das Gesetz, erklärt niemals die Existenz oder die Eigenart des Einzelnen. Allein die Poesie vermag ein einzelnes Wesen als in sich notwendig auszusprechen; erst wenn ein Dichter einen Kiesel beschreibt, wie er silbern schimmernd am Flußufer liegt, wie ihn die Wellen umspülen und mit der geduldigen Sanftmut von Jahrtausenden glätten, wie er mit undurchdringlicher Selbstverständlichkeit einfach da liegt und ist, verlieren unsere Fragen nach Ursache und Zweck ihren Sinn, und wir beginnen, an die unabdingbare Notwendigkeit gerade dieses Kiesels zu glauben. Für jeden beliebigen anderen Kiesel mag nach wie vor zutreffen, was Geologie und Chemie von ihm sagen: er sei ein Silikatgemisch von bestimmter Menge, Zusammensetzung und Größe; aber von einem Kiesel, den wir durch die Worte eines Dichters kennenlernen, wird das nicht länger mehr gelten; von einem solchen Kiesel wissen wir, daß es ihn geben muß. Denn die dichterischen Worte haben den vermeintlich so unscheinbaren Stein in seiner nie geahnten Schönheit offenbar gemacht; fast könnte man sagen, wir hätten ihn liebgewonnen; ja, es würde nicht viel fehlen, und wir müßten für ihn einen Namen erfinden, der nur ihm gehört, ist es doch stets eine Beleidigung, etwas mit einem Gat35

tungsbegriff anzureden, das eine individuelle Seele besitzt und schon deshalb eine eigene Bezeichnung verdient, so wie absichtlich ein Lehrer ein Kind in der Schule manchmal nicht mit seinem Vornamen anredet, sondern ihm zuruft: «Mensch, paß auf», eben um es zu kränken. Die frühesten Worte der Menschheit dürften Namen gewesen sein, Benennungen, die jedem Dinge sagen wollten: «Ich kenne dich; du gehörst zu meinem Leben; du bist mein Baum, mein Stein, mein Blatt, du trägst meinen Namen; und daher weiß ich, daß es dich geben muß; für mich muß es dich geben.» «Und nichts, was geworden, ward ohne das Wort», – nach diesem Satz einer ganz und gar poetischen Weltsicht ist Gott wie ein umfassender, alles umgreifender Künstler, der seine Freude daran hat, jedes einzelne Wesen für sich zu beschreiben und es gerade damit als in sich wichtig, ja, in gewissem Sinne als notwendig zu erweisen. Es ist eine Formel zwischen der abstrakten Geistigkeit etwa der Gesetzmäßigkeiten und Notwendigkeiten der Naturwissenschaften, in denen das Einzelne als unbedeutend untergeht, und der geistlosen Zufälligkeit des nur Individuellen, das sich jeder allgemeingültigen Erfassung und Begreifbarkeit entzieht. Johannes meint, es sei der letzte Grund der Dinge, daß Gott mit ihnen spricht beziehungsweise daß Gott selber sich in ihnen ausspricht; die einzige Antwort auf die zahllosen Rätsel und Schrecken der Natur liege in dem Gedanken eines ewigen Zwiegesprächs Gottes mit seinen Kreaturen in ihren zahllosen Unbegreifbarkeiten und wunderbaren «Spielen». Welch eine andere Antwort sollte man auch sonst auf diese Frage finden können, warum es den ganz unglaublichen Phantasiereichtum der Schöpfung gibt? Manche Naturforscher meinen, der Sinn der Evolution liege darin, so viel an Möglichkeiten zu realisieren, wie es nur irgend gehe; in jedem Lebewesen, von den Seerosen bis zu den Makaken, sei ein Drang angelegt, sich so vollkommen zu entfalten und auszureifen, wie es die Umstände gerade noch gestatteten10. Auskünfte dieser Art, so nüchtern sie anmuten, rühren doch unmittelbar an die poetische Weltsicht des Johannes, an das Geheimnis allen Schöpfertums und an die Quelle aller Phantasie; sie sind nicht weit entfernt von dem Satz aus Ps 104,26, daß Gott die Meeresungeheuer geschaffen habe, um über sie zu lachen. Ein Denken ausschließlich nach Ursachen und Zwecken wird in seiner humorlosen Starrheit der Natur offensichtlich nicht gerecht. Aber der Gedanke des Johannes ist bestechend: alle Dinge in der Welt seien mit den Augen eines Künstlers zu betrachten, bis daß wir sie in ihrer Schönheit und Harmonie als vollendete Kunstwerke zu erfassen vermöchten, und selbst dann, wenn dies unserem begrenzten Geiste niemals gelingen könnte, dürf36

ten wir doch glauben, daß an sich alles, was existiert, fähig zur Dichtung sei, offen zum Wort hin, ein möglicher Ursprung schöpferischer Freude. Ein jedes Ding, so betrachtet, sei notwendig, es sei fortan nicht wegzudenken, so wenig wie die kleine Zugbrücke von Langlois oder das Café von Arles, wenn es erst einmal ein Van Gogh gesehen und gemalt hat. Alles muß sein, wenn Gott selbst es durch sein schöpferisches Dichterwort gestaltet hat. Schaut man genau hin, so geht es niemals nur um eine Art Rechtfertigung des Seins durch eine «Kunstanschauung» aller Dinge11, es geht in Wirklichkeit um Religion. Nichts in unserem Leben läßt sich verstehen, solange wir es allein nach den Kategorien von Zweck und Ursache abhandeln. Im Grunde entspricht uns einzig eine existentielle Poesie der Liebe: man steht einem fremden Dasein gegenüber und weiß doch genau, daß hier etwas Einmaliges, etwas absolut Vertrautes und wesenhaft Verwandtes uns gegenüber steht, das wir in immer neuen Bemühungen zeichnen und beschreiben müssen, um es zu verstehen. Wer ist der andere wirklich? Wir sehen die Schönheit seiner Gestalt, wir vernehmen den Klang seiner Stimme, wir versuchen den Gehalt eines flüchtig dahingeworfenen Wortes zu erfassen, und all diese Bemühungen gelten einzig dem Ziel, uns seiner Einmaligkeit und unwiederholbaren Notwendigkeit zu versichern, so als müßten wir es erst langsam lernen, seinen Namen mit allem Liebenswerten anzufüllen. Wie in einer nicht endenden Litanei müssen wir den Namen des anderen liebend wiederholen, denn nur in diesem Namen können wir das Wort erleben, das Gott sprach, als er den anderen erschuf und mit ihm zugleich die ganze Welt. Das muß es heißen, wenn Johannes sagt: «Nichts, was geworden, ward ohne das Wort.» Es drückt die Überzeugung von der prinzipiellen Liebesfähigkeit und Liebenswürdigkeit aller Dinge aus, und ganz besonders sagt es uns, daß wir mit unserem Leben im Grunde einer uns zwar noch nicht wirklich bekannten, aber doch sich vollendenden Dichtung beiwohnen. Mag sein, wir wissen ganz und gar nicht, was ein Leben wie das unsere für einen Sinn oder für eine Bedeutung haben soll; mag sein, wir sind im Gegenteil fest davon überzeugt, daß wir mit unserem Dasein eigentlich vollkommen überflüssig oder jedenfalls gänzlich unbedeutend sind; gleichwohl versucht doch dieser Anfangssatz aus dem Johannes-Evangelium uns dessen zu versichern, auch über unser Leben habe Gott ein ganz bestimmtes Wort der Poesie, der Liebe und der Weisheit ausgesprochen, und nur um dieses Wortes willen seien wir wirklich auf der Welt. 37

Vielleicht gibt es in der Literatur der Gegenwart keine Stimme, die so eindringlich wie die des mundtot gemachten Propheten und christlichen Dichters Alexander Solschenizyn reden könnte über den Grund, aus dem wir leben, fragt der russische Dichter doch gerade in seinem Roman Die Krebsstation selber einmal, was das sei, die Quelle, aus der heraus wir uns vollziehen. Eine der Hauptgestalten seines Romans ist Efrem, der genau weiß, daß er zu Tode erkrankt ist. Dieser Mann hat ein kleines Bändchen von Geschichten Leo Tolstojs in die Hand bekommen; die liest er, darunter eine Erzählung mit dem Titel Wovon die Menschen leben12; und diese Frage läßt ihn nicht los; er gibt sie weiter an seine Zimmernachbarn: «Du, wovon lebst du?» fragt er. Und der eine antwortet: «Halt’s Maul, Mensch; von Brot und Wodka.» So hätte Efrem auch gedacht, vor einer Weile noch: Leben, das ist am Leben bleiben, so gut es irgend geht, und die Fragen darüber wegzuspülen, sie zu vergessen … Aber er fragt weiter, es in ihm fragt weiter: «Wovon lebst du?» Und ein anderer, ein junger Physiker, sagt, er wolle noch eine bestimmte Isotopenverbindung in bestimmten Mineralien finden. Das ist nicht gleich: woraus Menschen leben, aber doch ein Grund, wofür sie leben. Efrem findet, daß die Antwort irgendwie etwas taugt, aber nicht für ihn. Er ist kein Physiker, er ist kein Geologe. Also fragt er den dritten, und der, wie wenn er im Bett unter der Decke die Hacken zusammenschlüge, antwortet: «Für die Partei.» – «Du Dummkopf!» murmelt Efrem; allein gelassen schaut er zurück in das Bändchen Tolstojs. Dort steht: «Die Menschen leben von der Liebe.» Und das ist bitter wahr. Bitter, weil Efrem durchaus weiß, daß seine Frau Apollina, wenn sie Birkenschwämme sammeln ginge, vielleicht noch sein Leben retten könnte – die Ärzte haben so etwas gesagt –, aber seine Frau, nur schon wenn er zu ihr kommen würde, sammelte keine Birkenschwämme, sie würde einen Scheuerlappen holen und ihn zur Tür hinausjagen; – so hat er sie behandelt! «Die Menschen leben von der Liebe», das ist wahr, aber die Antwort kommt zu spät für Efrem, das fühlt er, und daran wird er sterben13. Das eigentlich ist die Antwort, die das Johannes-Evangelium im wesentlichen geben möchte. Die Menschen leben, aber sie wissen nicht zu leben, es sei denn, sie spürten etwas, das sie nicht sehen. Dieses Unsichtbare gibt ihnen Licht und Mut und Hoffnung; dieses Unsichtbare ist die Barmherzigkeit oder die Güte, dieses Unsichtbare ist die Liebe im Grund aller Dinge. Niemand nimmt unmittelbar, wenn er die Welt betrachtet, diese Tatsache wahr, so sehr anders erscheint ihm die Wirklichkeit. Ist die Natur, aus welcher wir stammen, nicht von ganz anderen Gesetzen geprägt? Da sind 38

die Menschen, in der Sprache des Johannes-Evangeliums, das Erzeugnis des Blutandrangs (Joh 1,13) – ein Produkt ihrer Gene, würden wir in der heutigen Biologie sagen, geboren aus der Macht des Egoismus der Gene14–; die erschaffen sich in dem individuellen Körper eine Überlebensmaschine für ein paar Jahre und bestimmen ihn dazu, sie weiter zu reproduzieren, so zahlreich, als es nur irgend möglich ist. Das ist der Lebensdrang, der élan vital, der innere Motor der Natur. Er ist so stark, daß wir Menschen dieser Allmacht der Biologie gegenüber oft genug wie hilflose Marionetten scheinen. «Die Natur hat’s gewollt!» so sagen die Männer. «Mein Mann hat’s gewollt!» so sagen die Frauen. Mit Schopenhauer gesprochen, gibt es eigentlich nur einen blinden Willen, und auch dieses Wort ist schon eine metaphorische Umschreibung, eine Vermenschlichung für eine Energie, der wir einen «Willen» zusprechen, während sie, ohne irgendein subjektives Gefühl für sich selbst oder für irgend etwas an ihrer Seite zu kennen, sich selber aufführt15. Leben wir so, sind wir nichts weiter als Überlebensapparaturen in einer Welt, die uns in absoluter Gleichgültigkeit gegenüber dem individuellen Leben hervorbringt und wieder zurücknimmt. Eine solche Welt ist grausam, und sie erzieht zur Grausamkeit. Denn überleben wollen wir alle; «Kampf ums Dasein» aber, mit Charles Darwin gesprochen, das bedeutet, zu kämpfen um den Platz, an dem man steht16. Unter dieser Voraussetzung hat der griechische Philosoph Heraklit so unrecht nicht, wenn er sagt: «Der Krieg – der Kampf, der Gegensatz, die Auseinandersetzung – ist der Vater aller Dinge.»17 Doch dieser «Vater aller Dinge» hat keine Augen, er hat kein Herz, er hat keine Hände, er hat keinen Mund, und am allerwenigsten hat er Ohren, um die Schreie der Leidenden zu vernehmen. Er ist taub. Er ist nichts als eine gestaltende Kraft in den Dingen, ein «Wollen», das sich selbst nicht begreift. Und begreifen etwa die Menschen sich in dieser «Welt»? Schauen wir uns die menschliche Geschichte an, so vermittelt sie kaum einen anderen Eindruck. Es ist, als wenn wir immer noch nach dem Vorbild der Jahrhunderttausende, die uns vorangegangen sind seit der Steinzeit, die Gesetze der Natur abzubilden versuchten in derselben Härte, in derselben Grausamkeit, in derselben Strenge des Widerspruchs, ganz so, als sei «Humanität» nichts weiter als eine kleine, verträumte Insel, die es manchmal wohl auch gibt, zusammengesetzt aus biologisch begründbaren, doch auch menschlich begreifbaren Regungen wie Brutpflege, Partnerschaft, Rangerhalt, Schutz von Schwächeren; – doch das alles verliert sich wie ein Wirbel im Strom; es handelt sich um Gefühlszustände, die sich 39

manchmal wohl unter dem Druck des Fließgleichgewichts des Ganzen einstellen mögen, die aber nach eben denselben Gesetzen sehr bald auch schon wieder sich abstellen werden18. Wie, muß man sich fragen, ist es möglich, in diesen Alptraum des Lebens, in diese Finsternis des Menschlichen, Licht und Helligkeit zu bringen? Wie ist es möglich, eine Sicht von den Dingen zu gewinnen, die dem Wort «Leben» eine wirkliche Bedeutung verleiht?19 An dieser Stelle berühren wir ein Problem, das in der Zeit der Entstehung des Neuen Testamentes, also in den ersten beiden nachchristlichen Jahrhunderten, jene geistesgeschichtliche Strömung zutiefst geprägt hat, die wir bereits unter dem griechischen Namen Gnosis (= «Erkenntnis») kennengelernt haben. Ihren Ausgangspunkt bildete, im Erbe der griechischen Naturphilosophie (oder Naturwissenschaft), die Fremdheit des Menschen inmitten der Natur20. Gerade diesen Gedanken sollten wir uns noch einmal verdeutlichen. Die unbestreitbare Leistung der Griechen war es, die Naturabläufe aufgrund von Beobachtung und mathematischer Berechnung bereits vor 2500 Jahren als nach Gesetzen «geordnet» erkannt zu haben. Diese «Ordnung», dieser «Kosmos», galt ihnen als Inbegriff der «Welt». Nicht zweifelhafte, launische Götter regelten fortan das Geschehen der Natur; was es herauszufinden galt, waren quantitative Beziehungen zwischen bestimmten Ursachen und bestimmten Wirkungen, waren die «Anfangsursachen», die «Prinzipien», aus denen die Einzelursachen sich ableiten ließen. Dieser Ansatz griechischer Naturwissenschaft war um 500 v. Chr. wohlgemerkt viel weiter entwickelt als um 1500 n. Chr.; – zu rabiat hatte das Christentum die gewonnenen Einsichten zugunsten uralter mythologischer Anschauungen wieder zurückgedrängt; doch läßt sich der «christliche» Widerstand gegen die griechische «Aufklärung» zum Teil gut begreifen. In der Sichtweise der Naturwissenschaft läßt sich (vielleicht) erklären, welche Gesetze der Natur zugrunde liegen, doch so etwas wie «Poesie» oder wie «Liebe» findet man in einer so erklärten Natur gewiß nicht. Eben deshalb mußten alle Versuche der Theologen vom 2. Jh. an bis in die Gegenwart scheitern, Gott aus der «Schöpfungsordnung» zu demonstrieren. Die «Gnostiker» vor 1800 Jahren formulierten das Problem radikal. Es war in ihren Augen nicht allein die «Kontingenzlücke» aller einzelnen Lebewesen, deren konkretes Dasein durch kein allgemeines «Gesetz» begründbar ist; der eigentliche Widerspruch zu den Vorstellungen speziell der Religion ergab sich für sie vor allem aus der «Lieblosigkeit» der Natur. Es ist dieselbe Frage, die unter dem Begriff der «Theodizee», der «Rechtferti40

gung» Gottes angesichts «seiner» Welt, die gesamte Theologiegeschichte der Neuzeit durchziehen wird. Die ebenso ungelöste, wie unlösbare Frage lautet: wie kann ein Gott, der die Weisheit, Güte und Allmacht selbst sein sollte, eine Welt wie die tatsächlich existierende erschaffen – eine Welt voller Drangsal, Qual und Not? Es verhält sich ja keinesfalls so, daß all die Grausamkeiten und Gräßlichkeiten dem Naturverlauf äußerlich oder rein zufällig wären; in den Tagen der Gnosis bereits beginnt man zu ahnen, was sich am klarsten dann in der Mitte des 19. Jhs. bei Charles Darwin aussprechen wird: daß all dieses Furchtbare innerlich in die Gesetze der Welt eingeschrieben ist. Wie der Anblick der Welt auf ein religiös empfindsames Gemüt wirken kann, wirken muß, zeigen in ihrer Sensibilität wohl am eindrucksvollsten die Tagebuchaufzeichnungen der französischen Dichterin Marie Noël. In ihren Erfahrungen mit Gott persifliert sie einmal auf ihre Weise einen Ausspruch Racines: «Den jungen Vögeln gibt Gott Nahrung. Und seine Güte breitet sich über die ganze Natur.» Sie schreibt: «Nimm dich in acht, Mücke, nimm dich in acht! Der kleine Vogel braucht Futter, und der liebe Gott hat dich zu seiner Nahrung gemacht. Nimm dich in acht, kleiner Vogel, nimm dich in acht! Der Habicht braucht Futter, und der liebe Gott hat dich zubereitet für seine Mahlzeit. Nehmt euch in acht ringsum, nehmt euch in acht in der Runde: Ein Bauch wartet auf dich, ein Hunger erspäht dich. Nimm dich in acht vor der Erde, nimm dich in acht … und komme dem Himmel nicht zu nahe. Da ist die Güte Gottes, die den Hunger erschuf und die Beute. Die Güte Gottes, tief und schwarz wie ein Abgrund, der Angst macht.» Und sie fährt fort: «Am Tage deiner Geburt hat der Tod mit deiner Belagerung begonnen. Von allen Seiten hat er dich eingeschlossen. Du hast während einiger Jahre die Belagerung ausgehalten, während du Vorräte hattest und Hilfsquellen, und am Ende – Der Leib, den du so sehr genährt hast, eines Tages löst er sich auf, Der Geist, über den du so sehr gewacht hast, eines Tages geht er zugrunde, Der Tod, den du so oft besiegt hast, eines Abends tritt er ein.»21 Ein großer Theologe und Kirchengründer wie der von der «Orthodoxie» konsequent totgeschwiegene, schlechtweg verdrängte Marcion22 sah sich von gerade diesem Konflikt derartig bedrängt, daß er nicht länger glauben mochte, die Einrichtung der Welt könne von einem «guten» Gott stam41

men, wie ihn im Neuen Testament Jesus gelehrt habe; viel zu deutlich verrieten die Züge dieser Welt das Bild eines bösen, grausamen Gottes als Weltenbaumeister, als «Demiurgen». Nach Marcions Meinung widerspricht das neue Gesetz der Bergpredigt diametral den Gesetzen der Natur und ebenso den Gesetzen des Alten Bundes. Wie im persischen Dualismus lehrte Marcion zwei Götter: einen, der die Welt geschaffen und die «alte» Ordnung erlassen habe, und einen, der als der «Vater» Jesu die Menschen aus dieser Welt herausführen wolle und könne. Nicht in der Welt draußen, nur im Inneren der eigenen Seele, wenn es so steht, offenbart sich der wahre Gott. Noch einmal in den Worten der Marie Noël: «Der wahre Gläubige hat keine Fenster. Er hat sein Licht im Innern. Wenn es anderswo Tag wird, draußen, was weiß er davon? Seine Lampe hat die Welt ausgelöscht. Ich habe zu viele Fenster geöffnet, den Tag draußen zu sehr geliebt. Diese Seele mit den offenen Fenstern, der Wind und die Sonne trüben in ihr ihre Wahrheit, die flackert, schwankt und schlecht leuchtet … Aber welche Wahrheit, welcher Stern steht fest? Die Sterne bewegen sich, zittern am Himmel, beben manchmal vor Kälte. Der Stern der Weisen entzog sich ihren Blicken an einer Straßenkrümmung.»23 Alles Irdische ist zweifelhaft, es bleibt ambivalent, es leitet eher von Gott weg, als zu ihm hin. Das ist die Erfahrung, die auch das Johannes-Evangelium teilt. Es übernimmt dabei (natürlich) nicht die Vorstellung von zwei einander widersprechenden Göttern; aber es akzeptiert die Weltsicht der Gnosis: Wer (philosophisch oder naturwissenschaftlich) nichts weiter sieht als die Welt, die uns umgibt, der kann nicht dahin kommen, sich selbst als Menschen zu erkennen, der wird zur Wahrheit Gottes nicht finden, über dessen Leben lagert als letzte Bestimmungsmacht seines Daseins der Tod. Und der Grund: er wird Gott nicht erkennen; er wird die Liebe nicht finden. Alle Versuche der Theologen vom 2. Jh. an bis heute, Gott zu demonstrieren aus der «Schöpfungsordnung», sind im Grunde müßig, sie sind mißlungen, denn sie führen eher in Verwirrung, als daß sie hilfreich wären. Dieser Abgrund zwischen Welterfahrung und Gottsuche läßt sich nicht schließen, weder aus der Deduktion rein metaphysischer Begriffe, wie das Wesen Gottes an und für sich ist, noch viel weniger empirisch-induktiv, indem man aufsteigt von den Erfahrungen der Welt, wie sie wirklich ist. 42

Eben deswegen geht Johannes einen ganz anderen, einen dramatisch anderen Weg. Man hat seine «Christologie» oder besser, seine radikale Christozentrik immer wieder zu einem Steinbruch dogmatischer Lehrgebäude genommen, gefüllt mit äußerst schroffen, ja, unversöhnlichen Aussagen, nicht zuletzt gegenüber dem Judentum, aber auch gegenüber anderen Religionen. Um so wichtiger ist es, sich die existentielle Wahrheit der Aussagen des Johannes-Evangeliums klarzumachen: Erst wer einen Grund für sein Leben in der Liebe findet, vermag diese Welt als die Schöpfung eines guten Gottes zu entdecken; und nur der wird imstande sein, diese Welt überhaupt als «Schöpfung» wahrzunehmen. Dieser alles verändernde Ausgangspunkt einer Evidenz der Liebe, dieser Anfang eines neuen Menschseins aber ist für das Johannes-Evangelium einzig in dem Mann aus Nazaret gegeben. Zu Recht, muß man sagen. Denn dieser Mann glaubte beim Starren in den Abgrund etwas zu sehen, das er auf seine Art väterlich nannte. Es war nicht länger der «Gott» Heraklits (oder das Naturgesetz Darwins), es sollte ein «Vater» mit menschlichen Gefühlen sein, anredbar, weil selber redend, hörend, weil selber verstehend, – mütterlich auch könnte man ihn, wie gesagt, nennen, denn das ist es, was Johannes eigentlich von ihm sagen möchte: Er ist die Barmherzigkeit. Wörtlich sagt er: auf seinen Schoß hin ist alles; hebräisch ist «Schoß» ein Wort, das in der Mehrzahl (rachamim) eigentlich «mütterliches Erbarmen» bedeutet. Und das ist es, was Jesus entdeckte: daß wir einzig leben aus der Liebe, ja, daß wir überhaupt nur wirklich leben wollen, solange wir ein Gegenüber spüren, das uns anredet und uns meint, das will, daß wir sind. Eben deswegen nannte Jesus diese Macht «Väterchen» – so zutraulich wie ein Kind –; und eben deswegen nannte man ihn den Sohn, vergröbert übersetzt: das (ewige) Kind, der Kind-Gott hätten die Mythen der alten Griechen gesagt. Der Sohn wird die Lieblingsaussage denn auch des Johannes-Evangeliums sein. Von daher läßt sich der Anfangssatz des Johannes-Prologs noch einmal anders, richtiger, übersetzen. Statt von «Anfang» sollten wir sprechen von «Grund», und statt von «Wort» sollten wir sprechen von «Angeredetwerden». Der erste Satz des Johannes-Evangeliums müßte dann lauten: Grundlegend (für das menschliche Dasein) ist es, angeredet zu sein. Entscheidend aber ist jetzt, daß Johannes dieses Angeredetsein ganz und gar in der Person und Gestalt des Mannes aus Nazaret verkörpert («inkarniert») findet. Seine Sprache von dem «Wort» Gottes korrigiert nicht allein die Vorstellungswelt der Gnosis, sondern in gewisser Weise auch die des Judentums jener Tage. 43

In der Vorstellung des Spätjudentums lag der Gedanke enthalten, daß Gott sich eigentlich nicht mehr in der Macht seiner eigenen Person offenbart, – sie ist zu groß für den Menschen, zu schreckgewaltig, und das kleine Menschenwesen ist zu furchtsam geworden, als daß es den Blicken seines Schöpfers standzuhalten vermöchte. Waren nicht die ersten Menschen schon, Adam und Eva, gekrümmt von Schamgefühl aus dem Garten der Welt verstoßen worden, weil sie die Nähe des Kommens Gottes nicht mehr vertrugen? Mußte Gott selbst ihnen nicht Fellröcke nähen, um ihre Scham voreinander zu bedecken (Gen 3,10.21)? Seither jedenfalls hat es nie mehr aufgehört mit der Angst und dem Schamgefühl. Als Gott selber redete im Wolkendräuen am Sinai, war’s da nicht nötig, daß Gewitterwolken sein Antlitz umhüllten (Ex 19,18)? Mußte nicht Mose sogar eine Mauer errichten, auf daß das Volk nicht zu nahe an den Heiligen Berg heranträte (Ex 19,21-24)? Und leuchtete nicht am Ende sein Antlitz auf Grund der Gottesbegegnung so strahlend, daß er es verhüllen mußte, um die Menschen seiner Zeit nicht zu blenden (Ex 34,29-35; 2 Kor 3,7)? Wer vertrüge es schon, Gott zu schauen, und bliebe am Leben? Das ist die Erfahrung; also daß es genügen mußte, der Kraft Gottes zu begegnen, nicht mehr ihm selbst, wie er an sich ist. Vor diesem Hintergrund bildete sich die Vorstellung des Spätjudentums und der mittelalterlichen kabbalistischen Mystik, daß Gott seine eigene Weisheit, sein «Wort», seine Einwohnung (seine «Schechinah») wie eine Verstoßene, wie eine in die Fremde Verbannte unter den Menschen Wohnung nehmen lasse, als ein Etwas, das sich verirrt habe in die Herzen der Menschen und in den Trubel der Geschichte, doch das nun zurück möchte zu seinem eigenen Ausgangspunkt. Wo irgend Menschen von dieser Weisheit Gottes etwas in sich einlassen, kehrt sie ein Stück weit zurück in den Schöpfungsmorgen. Das Wort Gottes oder die Weisheit Gottes wurde auf diese Weise zu einem verselbständigten, im Herzen der Menschen lebenden Gebilde, das zwischen Gott und Mensch vermittelt. Johannes nun will sagen, daß Jesus, der Christus, eben das sei: eine Person, in der die Vermittlung lebe zwischen Himmel und Erde, zwischen Schöpfermacht und Menschenangst. Das ist es, was Johannes meint, wenn er sagt, Jesus sei das Wort, das seit Ewigkeit bei Gott war und das nun in die Nacht, in die Verzweiflung und Dunkelheit unseres Lebens getreten sei, in eine Welt voller Widerstände und Widersprüche, und doch imstande, jeden, der es einlasse, zum Sohn Gottes zu machen, zu «versöhnen» mit der Macht, der wir uns verdanken, und zu «versöhnen» mit dem, was wir selber sind. Ein Haupt«argument» dabei bilden im Johannes-Evangelium zugunsten 44

einer solchen «Christozentrik» die «Zeichen», die der Mann aus Nazaret, auch historisch beglaubigt, wirkte. Wenn Jesus in den ersten drei Evangelien immer wieder Wunder der Heilung vollbringt, oft genug darunter an Menschen, die stumm sind, wenn er ihnen die Zunge öffnet, indem er ihr Herz von den Dämonen befreit, die den Menschen stumm machen, so offensichtlich deshalb, weil er uns selber Redefreiheit zurückgibt. Es ist die äußerst wichtige Erfahrung, daß es nichts gibt in dieser Welt, das einfachhin schlecht wäre, unbrauchbar, überflüssig, teuflisch womöglich. Erst vor dem Hintergrund der Heilungserzählungen der synoptischen Evangelien gewinnt die Aussage des Johannes-Evangeliums von Jesus als dem «Wort» Gottes ihre tiefste Bedeutung: sie löst die therapeutische Dimension von Sprache und Poesie in unserem Leben ein. Von daher können wir alle Evangelien noch einmal ganz neu lesen, indem wir nur darauf achten, wie Jesus dort redet, wie einfach, wie klangvoll, wie viele Stimmungen und Gefühle ausdrückend, wie mutig, indem er es wagt, Probleme beim Namen zu nennen. «Eure Rede», sagt er, «sei: das Ja ein Ja, das Nein ein Nein» (Mt 5,37). Es wäre das Ende der babylonischen Sprachverwirrung. Manch ein Zyniker möchte vielleicht denken, die ganze menschliche Kulturgeschichte bestehe in der wachsenden Fähigkeit, mit Hilfe der Sprache immer Ja und Nein gegeneinander auszutauschen und die Lüge zu vermehren unter dem Druck des immer engeren Zusammenlebens, – eine Flucht in die Sprache der Tarnungen. Seelische Heilung jedenfalls besteht in der Sprache einer reifenden Wahrhaftigkeit, gegründet in Vertrauen («Glauben») und Erkennen («Gnosis») und ermöglicht durch eine «Gnade», die kein «Gesetz» zu verordnen vermag. Immer wieder gibt es freilich Irritationen und Widersprüche, die sich gerade an der Absolutsetzung der Person Jesu in der «Theologie» des Johannes-Evangeliums entzünden. Deshalb ist es nicht ohne Bedeutung, darauf hinzuweisen, daß selbst eine solche Aussage wie: «Im Anfang war das Wort» nicht so singulär ist, wie sie erscheint; religionsgeschichtlich folgt diese Aussage vielmehr einem «archetypischen» Vorstellungsrahmen, zumindest dann, wenn man das «Wort» weit genug nimmt, um es mit Poesie und Musik ineins zu setzen. Vielleicht gibt es in der Geschichte der Menschheit keinen Gesang, der dem Prolog des Johannes-Evangeliums so ähnlich kommt wie ein aztekischer Hymnus aus dem 16. Jh. auf Nahuatl, der Sprache der Azteken, über den Anfang der Musik. Setzen wir statt «worthafter Geist» den «Geist der Musik» als eine Schwingung, die uns zu Herzen geht und die uns Freude schenkt über alle Trauer hinweg, die uns Lebensmut gibt anstelle von Verzweiflung und die uns ein Gefühl der Ein45

heit vermittelt von allem, was ist, statt der zerspaltenden Feindschaft untereinander, dann läßt sich leichthin eine Brücke schlagen zwischen der Botschaft des Johannes-Evangeliums und der Erfahrung der Völker. Stoßen wir uns beim Zuhören dieses Gesangs im folgenden nicht an den indianischen Namen; wir erleben eine wunderbare Geschichte, wie die Musik entstand: Der Gott, der da heißt «der rauchende Spiegel», der Gott der Erde und der Materie, in welcher das Sonnenlicht reflektiert, Tezcatlipoca also, bat eines Tages Quetzalcoatl, den Gott des Windes, die sich windende Schlange, den Hurakan also, der über die Steppe dahingeht, ins Haus der Sonne zu reisen, von der doch das Leben selbst stammt. Tezcatlipoca gab ihm genaue Instruktionen: Wenn er die Küste erreichte, sollte er sich der Hilfe der drei Diener Tezcatlipocas versichern: «Rohr und Meerschnecke», «Wasserfrau» und «Wasserungeheuer», die ihm als Brücken zum Hause der Sonne dienen würden. Dort angelangt, sollte er um Musikanten bitten, um sie zur Erheiterung der Menschen auf die Erde zu bringen. Die Musikanten aber, von der Sonne gewarnt, weigerten sich. Nur ein einziger der Musikanten, in weiße, rote, gelbe und grüne Gewänder gekleidet, widerstand der Versuchung des Windgottes nicht. Er ging mit Quetzalcoatl zur Erde und schenkte den Menschen die Musik; dieser Musikant war ein menschgewordener Himmelssohn, ein Gott, der herabsteigt, um die Menschen die Sprache des Gesangs zu lehren. Der Gesang, aus dem Nahuatl übersetzt, lautet wie folgt24: Tezcatlipoca, Gott des Himmels und der vier Himmelsrichtungen, kam auf die Erde und war traurig. Von den äußersten Punkten der vier Himmelsrichtungen rief er: Komme, o Wind! Komme, o Wind! Komme, o Wind! Komme, o Wind! Über die traurige Erde verteilt, hörte ihn der klagende Wind, erhob sich über alles Geschaffene, peitschte die Wasser des Ozeans und zauste die Bäume, bis er zu Füßen des Himmelsgottes Ruhe fand und seine Sorgen abschüttelte. 46

Da sprach Tezcatlipoca: Wind, die Erde ist des Schweigens überdrüssig. Sie hat Licht, Farbe und Früchte, doch fehlt ihr die Musik. Aller Kreatur soll Musik geschenkt werden. Dem erwachenden Tag, dem träumenden Mann, der wartenden Mutter, dem fließenden Wasser und dem Vogel in der Luft, alles Leben soll die Musik erfüllen. Eile durch die grenzenlose Trauer zwischen dem blauen Dunst und dem Raum zum hohen Haus der Sonne. Umgeben sitzt dort Vater Sonne von Musikanten, die süße Töne ihren Flöten entlocken und mit glühendem Gesange das Licht ausstreuen. Eile, bringe die besten Musikanten und Sänger zur Erde. Die schweigende Erde durcheilte der Wind, durchmaß sie mit der Kraft seines treibenden Atems, bis er erreichte das Dach des Himmels, wo alle Melodien im Lichte wohnten. Vierfarbig waren die Musikanten gekleidet: in Weiß die Sänger der Wiegenlieder, in Rot die Liebe und Krieg besangen, in Himmelblau die Troubadoure der wandernden Wolke, in Gelb die Flötenspieler, die Gefallen fanden am Golde, das die Sonne von den Gipfeln der Welt holte. Keine dunkelgekleideten Musikanten gab es. Glänzend und glücklich waren sie, ihr Blick war nach vorn gerichtet. Als die Sonne den Wind entdeckte, warnte sie ihre Musikanten: Da kommt der lästige Erdenwind. Stellt die Musik ein! Hört auf zu singen! Gebt keine Antwort! 47

Wer nicht gehorcht, muß ihm auf die schweigende Erde folgen. Auf den Lichtstufen des Sonnenhauses rief der Wind mit lauter Stimme: Kommt, Musikanten! Da antwortete keiner. Der listige Wind erhob seine Stimme und rief: Musikanten, Sänger! Der höchste Gott ruft euch! Doch blieben die Musikanten stumm und tanzten im gleißenden Lichte der Sonne. Da ergrimmte der Windgott. Aus der Ferne trieb er schwarze Wolken mit seiner blitzenden Peitsche heran, das Haus der Sonne zu bestürmen. Donner ließ er grollen. Alles verkehrte sich, und die rote Sonne schien zu ertrinken. Angstvoll suchten Musikanten und Sänger nun Schutz beim Windgott. Sanft, damit er die zarten Melodien nicht verletze, nahm der Windgott sie mit sich zur Erde. Unten erhob die Erde ihr Antlitz zum Himmel und lächelte. Die erwachte Stimme seines Volkes, die Schwingen des Quetzalvogels, die Blumen und Früchte grüßten den Gott. Als die Musikanten sich über die Erde verstreuten und das Glück einkehrte, da vergaß der Wind seine Klagen und sang, Täler, Wälder und Seen liebkosend. So kam die Musik auf die Erde. So lernte alles zu singen: der erwachende Tag, der träumende Mann, die wartende Mutter, das fließende Wasser und die Vögel in der Luft. Seit damals ist das Leben voll Musik.

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Die Vorstellung von einem «Musikanten», der aus dem Sonnenhause zur Erde kommt, um den Menschen die Musik zu bringen, besitzt zweifellos eine große Nähe zu der Konzeption von Jesus als dem «Wort» Gottes, das aus der Sphäre Gottes in diese Welt gekommen ist. Einwenden mag man, daß der aztekische Mythos über die «Herkunft» der Musik keine «geschichtliche» Dimension besitze, wohingegen sich im Johannes-Evangelium gerade das Ewige mit dem Zeitlichen in der historischen Person des Jesus aus Nazaret verbinde. Ein solcher Unterschied besteht, und er ist zweifellos sehr wichtig; doch vergleicht man lediglich die archetypischen Darstellungsformen miteinander, so hebt sich diese Differenz natürlich auf; ja, um diese Vorstellungsformen aus den verschiedenen Religionen und Kulturen in ihrer Aussageweite besser zu verstehen, sollte man sie als einander komplettierend und sich wechselseitig kommentierend betrachten. So erzählen die südamerikanischen Yahuna-Indianer am Rio Apaporis, einem Nebenfluß am Oberlauf des Amazonas, von Milomaki, der ihnen die Musik brachte und mit ihr das Wissen um das Geheimnis von Tod und Auferstehung. Die Mythe, die Anfang des 20. Jhs. von dem deutschen Ethnologen Theodor Koch-Grünberg entdeckt und veröffentlicht wurde, lautet wie folgt25: «Vor vielen, vielen Jahren kam aus dem großen Wasserhaus, der Heimat der Sonne, ein kleiner Knabe, der so wunderschön singen konnte, daß viele Leute von nah und fern herbeieilten, ihn zu sehen und zu hören. Der Knabe hieß Milomaki. Als aber die Leute, die ihn gehört hatten, heimkehrten und Fische aßen, fielen sie alle tot nieder. Da ergriffen ihre Angehörigen Milomaki, der inzwischen zum Jüngling herangewachsen war, und verbrannten ihn auf einem großen Scheiterhaufen, weil er schlecht wäre und ihre Brüder getötet hätte. Der Jüngling aber fuhr bis zu seinem Ende fort, wunderschön zu singen, und als schon die Flammen an seinem Leib emporleckten, sang er: ‹Jetzt sterbe ich, mein Sohn, jetzt verlasse ich diese Welt!› Als sein Leib von der Hitze anschwoll, sang er noch immer in herrlichen Tönen: ‹Jetzt zerbricht mein Leib, jetzt bin ich tot!› Sein Leib zerplatzte. Er starb und wurde von den Flammen verzehrt; seine Seele aber stieg auf zum Himmel. Aus seiner Asche erwuchs noch an demselben Tage ein langes, grünes Blatt. Es wurde zusehends größer und größer, breitete sich aus und war am anderen Tag schon ein hoher Baum, die erste Paschiubapalme. Denn vorher gab es diese Palmen 49

nicht. Die Leute aber machten aus ihrem Holz große Flöten, und diese gaben die wunderschönen Weisen wieder, die einst Milomaki gesungen hatte. Die Männer blasen sie bis auf den heutigen Tag, jedesmal, wenn die Waldfrüchte reif sind, und fasten und tanzen zu Ehren von Milomaki, der alle Früchte geschaffen hat. Die Weiber aber und kleinen Knaben dürfen die Flöten nicht sehen, sonst müssen sie sterben.» Eine solche Erzählung kann uns helfen, die Aussage des Johannes-Evangeliums von Jesus als dem «Wort» Gottes so wiederzugeben, daß der Mann aus Nazaret uns lehren könnte, die geheime Musik der Welt im eigenen Herzen zu vernehmen und im eigenen Leben zum Klingen zu bringen. Ganz gewiß aber hilft uns ein solcher Vergleich zwischen den Religionen, die Botschaft des «Christus» nicht länger ausschließend gegenüber den fremden Kulturen und religiösen Überlieferungen zu interpretieren, sondern ihre in Wahrheit universal menschliche, einladende Bedeutung klarer herauszustellen. Erst so verstehen wir richtig. Denn wie anders als universell könnte die Person und die Botschaft Jesu wirklich sein das Licht, das im Dunkeln scheint? Warum die «Welt» es gleichwohl nicht «annimmt», wird die weitere Lektüre des Johannes-Evangeliums nach und nach zeigen; immer wieder werden wir dann erleben, daß das «Licht» sich an der Grenzschicht zur «Dunkelheit» bricht und eine verwirrende Fülle von «Mißverständnissen» bei den «Menschen» der «Welt» erzeugt.

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Joh 1,1-18: «Im Anfang war das Wort» – 3. Teil: Johannes der Täufer oder: «Der nach mir kommt, ist mir zuvor.» In den Johannes-Prolog ist Zug um Zug eine theologische Interpretation eingeschaltet worden, auf die wir in den beiden vorangegangenen Auslegungen noch nicht zu sprechen gekommen sind, betreffend die Gestalt Johannes’ des Täufers. Aus den ersten drei Evangelien oder aus einer Sondertradition ist dem Johannes-Evangelium überkommen, daß Jesus von Nazaret, bevor er in die Öffentlichkeit trat, selber fasziniert gewesen sein muß von einem anderen, seinem «Vorgänger», eben von dem Täufer. Von dieser Person überliefert das Vierte Evangelium kein einziges historisches Wort, schon weil es an dem historischen Auftreten dieses Mannes offenbar nicht interessiert ist. Was das Johannes-Evangelium gleichwohl zu der theologischen Auseinandersetzung um den Täufer bestimmt hat, war vermutlich die Tatsache, daß zu einem bestimmten Zeitpunkt die JohannesBewegung noch parallel zur Jesus-Bewegung existierte; dieser Gruppe gegenüber hält das Vierte Evangelium daran fest: Johannes der Täufer war nicht der Messias, er war nicht das Licht, er wollte es niemals sein! Die Worte, die dem Täufer als Zeugnis für den «Christus» in den Mund gelegt werden, sind in dieser Form sicher nicht historisch zu bewerten. Was aber aus diesen – geschichtlich gesehen – theologischen «Verfälschungen» sich geformt hat, ist eine Frage von äußerstem religiösem Gewicht: Wie findet man als Grundlage des Lebens die Liebe? Historisch wie existentiell ist eine Erfahrung vorauszusetzen, die sich unauflöslich mit einem Mann wie Johannes dem Täufer verbindet: das ist das Leiden an der Wirklichkeit, das ist die Unmöglichkeit, das, was wir Geschichte nennen, noch länger zu ertragen. In den Tagen Jesu war es die Bewegung der Apokalyptik, die in die Erlebnisgrundlage gerade der Frömmsten Eingang gefunden hatte. Man will nicht länger, daß die Welt, die von Menschen gestaltete geschichtliche Wirklichkeit, sich weiter so darbietet, wie sie es tut. Johannes dem Täufer ist dies offenbar klar geworden: Es kann nicht länger mehr dauern, so wie es zugeht, – diese Kette endloser Lügen, endloser Niedertracht, endloser Kriege und Verheerungen. Da soll doch Gott endlich aufstehen und dreinfahren! Das ist der Wunsch dieses Mannes. Das ist seine Gewißheit. Wenn denn Gott ist, wird er die gleiche Ungeduld verspüren, wird er bereitstehen 51

zum Gericht. So lautet der religiöse Anteil der Predigt Johannes’ des Täufers. Was dieser Mann zu sagen hat, was seinen Widerspruch gegen die «Welt» motiviert, ist bei näherer Betrachtung das, was wir in unserer Sprache heute Moral nennen würden. Der Täufer will den Menschen seiner Zeit die Leviten lesen, und er tut es, wie kaum jemand vor ihm, mit äußerstem Ernst. Weil in seinen Augen keine Zeit mehr bleibt, drängt ihn alles. In unglaublichen Katarakten von Fluch und Verwünschung, von Strafandrohung und Warnung redet dieser letzte der Propheten Israels, und es ist so viel, als wollte er auf widerspenstige Pferde mit der Peitsche einschlagen, um sie in die richtige Richtung zu zwingen. Die richtige Richtung sind für Johannes die Vorschriften des Gesetzes, die Weisungen richtigen Handelns entsprechend der gottgebotenen Moral. Im Johannes-Evangelium ist die Gestalt des Täufers reduziert auf die Funktion einer «christologischen» Ansage; von einer Taufe Jesu durch Johannes ist nicht mehr die Rede, und die Erfahrung Jesu während seiner Taufe von der Herabkunft des Geistes (Mk 1,10) ist zu einer Bekenntnisvision des Täufers geworden (Joh 1,32). Doch um sich ein Bild von der Art des Auftretens dieses Mannes zu machen, stehen uns immerhin einige Worte zur Verfügung, die in der Spruchsammlung (der sog. Q-Quelle) enthalten waren und in Mt 3,1-12 und in Lk 3,1-18 aufgegriffen werden; – radikale, eindeutige und einfache Worte lesen wir da. Die Frage aber ist: Wie verhalten sich der «Täufer» und der «Christus», Johannes und Jesus, «wirklich» zueinander, «wirklich» in dem Sinne, daß es für unser Leben einen entscheidenden Unterschied bewirkt? Die übliche kirchendogmatische Auskunft über den Täufer lautet etwa so: Er trat auf und verkündete die Buße, er führte die Taufe ein; doch das war das «Unvollkommene». Danach kam Jesus Christus, der Sohn Gottes, und mit ihm begann das Eigentliche. Ein Bild, das Matthias Grünewald gemalt hat, kann diese Vorstellung verdeutlichen: Da steht ein Mann vor uns, unrasiert, halb nackt, mit einem wilden Gewand um die Schultern, seine ganze Person konzentriert in einem langausgestreckten Zeigefinger: Johannes der Täufer, wie er hinweist auf das «Lamm Gottes». Auch dieses «Opferlamm» hat Grünewald gemalt, so erschütternd wie niemand vor ihm: ein Mensch, der sich in Schmerzen windet am Kreuz, vor einem schwarzen, verfinsterten Himmel. Dazwischen, irgendwo, an der Nullstelle aller Erklärungen, soll wie ein Morgennebel etwas eindringen von der «Freude», die uns Christen beim Anblick dieser beiden Gestalten verheißen ist. Bei Zuordnungen dieser Art versteht indessen niemand, wieso eigent52

lich wir uns «freuen» sollen, daß es so kam, und vollends unklar muß bleiben, was Johannes der Täufer denn nun wirklich bedeutet hat, wieso er das «Vorläufige» gewesen sein soll. Wäre es ihm nur darum gegangen, die «Buße» zu predigen, so hätte er getrost seine Sache dem Mann aus Nazaret überlassen können, denn auch Jesus, weiß Gott, rief zur «Umkehr» auf (Mk 1,15), was immer das heißen mag; und die Taufe des Johannes ist vollends absorbiert von der Sakramentenpraxis der christlichen Kirchen. Worin also besteht das Eigentliche dieses Mannes, das, was sich wirklich als Zugangsweg zum Wesentlichen darbietet und was dann doch liegenbleiben muß, weil es von sich aus nicht weiterführt, ja, weil es gerade für die, die es ernst nehmen, sich als unzulänglich und unzugänglich erweist? Im Grunde sympathisieren wir alle wohl weit mehr und weit eher mit Johannes dem Täufer, als daß wir die wahre Botschaft des Jesus von Nazaret an uns heranlassen würden. Selbst die verfaßten Kirchen stehen der Botschaft des Täufers weit näher als der Provokation des Mannes aus Nazaret. Immer wenn wir uns umschauen, ist uns der Mann am Jordan höchst sympathisch. Wohl, er macht Angst, er redet furchtbare Dinge, er beschimpft seine Zuhörer als «Natterngezücht», aber was er sagt, ist uns so unbekannt und unvertraut gar nicht, – wir denken im Grunde genauso, wie er, bis in die Alltagspraxis hinein. Dieser Mann steht da, und sofort ist die Welt eingeteilt in Schwarz und Weiß, in Gut und Böse, in Gott und Teufel, ganz klar. Wenn ein Johannes richtig loslegt, gibt es eine klare Devise, was zu machen ist, – er weiß das. Wenn die Leute ihn fragen: «Was sollen wir tun?», hat er, aus dem Ärmel, die richtige, die einzig klare Antwort: unbedingt so und nicht anders. Wir brauchen uns bloß umzuhören in irgendeinem Restaurant, wie die Leute miteinander reden, wir brauchen nur mal mit einem Tonband aufzunehmen, wie wir selber reden, wenn wir über andere reden, – es ist genau derselbe Stil: Die Frau X hat dies und das falsch gemacht: – «und weißt du, dieser Mann da, – ganz unmöglich!» Wir wissen scheinbar stets, wie es richtig ist, nur leider unsere Zeitgenossen noch nicht in gleichem Maße; aber das läßt sich ändern. Zwar besitzen wir in aller Regel nicht ganz den Mut eines Johannes des Täufers, wir treten nicht gleich in der Öffentlichkeit mit unserer Erkenntnis auf, aber im Grunde wüßten wir’s schon. Darum bereitet uns ein Mann wie der Täufer bei allem Erschrecken eigentlich ein geheimes Vergnügen. Er redet all die Aggressionen frei aus sich heraus, mit denen wir nicht klarkommen. Und diese scheinbar so verdammenswerte Welt, geordnet und eingeteilt unter seinem Krakeel und Geschimpfe, steht uns im Grund sehr nahe. Ja, wir müssen sogar feststellen: 53

Die Kirche, die wir bis heute erleben, 2000 Jahre danach, ist nach wie vor recht eigentlich eine Johannes-Kirche. Ihre Anweisungen sind streng, ihre Gebote sauber geregelt, das Kirchenrecht ist da ein dickes Buch, und in all dem verwaltet sich das Heil der Menschen nach Rezeptur und Anweisung. Dabei sind die wenigen im Neuen Testament aus dem Munde des Täufers erhaltenen Worte ethisch an sich durchaus bemerkens- und bedenkenswert. Lukas 3,11 zum Beispiel: Wer zwei Röcke hat, der gebe einen dem, der keinen hat, und wer zu essen hat, tue ebenso, lesen wir da. In der Tat, wie anders sähe die Welt aus, würden wir so handeln! Oder: «Wer Soldat ist, verzichte auf Plünderungen, er lasse sich genügen an seinem Sold.» (Lk 3,14) Auch das ist ein Wort, das die Welt hätte verändern können. Welch ein Soldat wird schon Kopf und Kragen in der Schlacht riskieren außer für Plünderung? Wie sprach Stalin, als die Rote Armee in das deutsche Reichsgebiet von Osten her flutete? Es gab für die Rotarmisten kein Motiv mehr, für Volk und Vaterland und Frauen und Kinder zu kämpfen, um sich bis Berlin durchzuschlagen; es brauchte neue, andere Motive: die des Hasses und der Vergewaltigung. Kriegsverbrechen? Völkerrecht? Vielleicht gäbe es überhaupt keinen Krieg mehr, würde das Motiv der Habgier bei den Söldnern abgestellt, und nicht nur bei dem einzelnen Soldaten, sondern vor allem bei den Auftraggebern: den Staaten und den Hintermännern der Politik. Es würde keine Kriege mehr geben für Erdöl, für Absatzmärkte, für Rohstoffe, für strategische Einflußzonen … Eine Moral, wie Johannes der Täufer sie wollte, wäre wirklich in sich das Ende der «Welt», wie wir sie kennen. Und der Mann am Jordan spricht’s klar aus: Entweder wird Gott uns abschaffen – wir würden heute in säkularisierter Form sagen: wir zerstören die Voraussetzungen zum Überleben, wir richten uns selber zugrunde –, oder aber wir richten unser Handeln noch einmal neu aus, allein weil es keine Alternative gibt. Sagen wir selbst: Kann ein Mann mit gutem Willen, mit reiner Menschlichkeit, etwas anderes tun, als so zu reden? Alle haben sie es auf diese Weise versucht, die großen Moralisten der Weltgeschichte, die großen Menschheitsführer. Sie haben Gebote erlassen: – gegen das Chaos das Gesetz, gegen die Willkür die Ordnung, gegen den Abgrund das Gebirge eines moralisch zensierten und sozial organisierten Lebens. Wie auch soll es anders gehen? «Was ist zu tun heute?» fragte man vor Jahren Ex-Bundeskanzler Helmut Schmidt. «Woran sollen wir uns halten?» Und er sagte: «An die Zehn Gebote»; dann fügte er hinzu, im Wissen, daß es allmählich nur noch eine verschwindende Minderheit sein dürfte, die von den Zehn Geboten irgend54

eine Ahnung hat: «Und wenn nicht schon an die, dann an die Ordnung der Freien Hansestadt Hamburg.» Er wollte ganz simpel sagen: Herrschen sollte die Vorstellung, daß Pflichten sein müssen und daß Ordnung zu sein hat. Diese Überzeugung vermittelt einem jeden der gesunde Menschenverstand, und das genügt erst einmal. Nicht gesagt hat Helmut Schmidt, daß wir derzeit eine Jugend erziehen, der wir durch unser wirtschaftliches Handeln alle Werte zerstören, während wir ihr andererseits unentwegt den Werteerhalt predigen. Wir leben in einer Welt, in der im Namen des Geldes jede Art von Wert in der Natur zum Ausverkauf erklärt wird: – Berge, Flüsse, Meere, Wälder, was man will, Menschen, ganze Kontinente stellen sich dar als Spekulationsobjekte für die Meistbietenden. Da besitzt nichts mehr einen Wert, außer dem, was sich auf dem Markt in Geldform als Preisindex realisieren läßt. Was für ein Wertbewußtsein soll unter solchen Umständen eine Jugend entwickeln? Welche Werte soll sie fühlen, wenn sie sieht, mit welcher Gefühllosigkeit über fühlende Wesen, Tiere wie Menschen, hinweggegangen wird? Dieses Gesellschaftssystem, das auf seiten seiner Moral immer wieder von Werten redet, zerstört in Wahrheit alle Werte, und dazwischen, zwischen Wertbeteuerung und Wertzerstörung, zermahlt es die Menschen und alles, was lebt. Die Moral ist, so betrachtet, eine schwankende Größe. Man muß noch hinzufügen, daß sie in sich selbst widersprüchlich ist. Sie formt sich in aller Regel durch die Begriffe von Gut und Böse. Aber taugen diese Begriffe wirklich in Verbindung mit Gott? Es war der große Mystiker Meister Eckhart, der im 14. Jh. verurteilt wurde unter anderem dieses Satzes wegen: «Es ist ebenso sinnlos, Gott gut zu nennen, wie es sinnlos ist, ihn schwarz oder weiß zu nennen.» – «Irrtum!» sagte die Kirche, «todeswürdig»! sagte die Kirche, aber nur, weil ihre Theologen zu wenig nachdachten. Was hat es für einen Sinn, zu sagen: «Gott ist gut», oder: «Gott ist böse», im moralischen Betracht? Was macht es für einen Sinn, zu sagen: «Es gibt Hell und Dunkel», oder: «Es gibt Blau und Rot»? Nicht einmal die Wirklichkeit, wie sie uns optisch erscheint, läßt sich in derart einfachen Typologien begreifen; denn hinter diesen bloßen Einteilungen nach dem Augenschein wird man niemals darauf kommen, daß das Licht weder weiß noch schwarz noch blau oder rot ist, sondern daß da elektromagnetische Wellen existieren, die von unserem Auge in bioelektrische Impulse umgewandelt werden, die unser Gehirn als Farben interpretiert. Die Hertzschen Wellen, die Maxwellschen Gleichungen – wie soll man sie finden, wenn man bei der polaren Zweiteilung der sichtbaren Oberfläche stehenbleibt? Und wie soll man Gott finden, indem man die Wirklichkeit, oder was man 55

dafür nimmt, prima vista moralisch in zwei Kategorien zerlegt, um dann zu verkünden: Wir sehen das Absolute? Gleichwohl erklärt das Vierte Evangelium über Johannes den Täufer, er habe mit seiner Existenz Zeugnis gegeben für das Licht; er habe in seiner zugespitzt moralisierenden Predigt etwas entdeckt, das dieser Welt der Finsternis entgegensteht. Und in der Tat, wenn Johannes recht hätte, so wäre es nicht einfach mehr selbstverständlich, daß Willkür und Barbarei sich hinwegsetzen würden über jede moralische Ordnung der Kultur. Es scheint durchaus nicht verkehrt, es erst einmal mit der Moral zu versuchen oder, genauer gesagt, mit dem Gesetz, das in hebräischen Ohren mit dem Mann Mose und der Verkündigung der Zehn Gebote am Sinai verschmilzt. In der Vorstellung des Gesetzes liegt zumindest eine Erinnerung daran, daß es noch etwas anderes geben muß als die bloßen Regungen und Regelungen der Natur, um als Menschen zivilisiert miteinander zu leben. Die entscheidende Frage lautet nur, wem man das Predigen einer solchen Moral wirklich glauben kann. Diese Einleitung zum Johannes-Evangelium behauptet mit einer unglaublichen Kühnheit: Johannes der Täufer kam, um für das Licht Zeugnis abzugeben, – damit man an das Licht glaube, etwas freier übersetzt. Diese Aussage ist allerdings erstaunlich. Denn sie besagt, das einzige, was die Moral glaubwürdig mache, sei der Umstand, daß sie von einer bestimmten Person gelebt werde; sie lasse sich nicht einfach über das Gesetzbuch verordnen oder über das Strafgesetzbuch durchsetzen; sie lasse sich auf keinem Verwaltungswege den Menschen nahebringen; glaubhaft mache sie sich einfach durch die Person eines Menschen, der sie lebt. Und das freilich hat Johannes der Täufer offenbar getan; darin war er groß. Seinetwegen sollte man zu Gott in ein neues, radikal umstürzendes Verhältnis treten, – «Moral» nicht als eine allgemeine Kategorie des sittlichen Imperativs in logisch eindeutigen Ableitungen, sondern «Moral» als eine menschliche Haltung, die sich fortzeugt, wie Feuer sich fortzeugt, indem der entflammende Glutbrand ein anderes Material erfaßt, das sich in es hineinhält. So Johannes der Täufer. Historisch gesehen, spricht manches dafür, das Johannes der mönchsähnlichen Bewegung der Essener von Qumran nahestand, die, noch pharisäischer als die Pharisäer, aus streng orthodoxer Gesetzesfrömmigkeit den Tempelkult in Jerusalem in den Händen der Sadduzäer strikt ablehnten und die Zeit einer göttlichen Endabrechnung mit Israel wie mit den Völkern für gekommen hielten. Johannes muß diese Überzeugung als letzte Chance zur «Umkehr» nach außen getragen haben. Doch wie gesagt: das Johannes-Evangelium interessiert sich nicht für Geschichte. Es traut dem 56

Täufer etwas zu, das historisch ihm nicht zuzutrauen ist und dennoch im Sinne Jesu sich aus seiner Botschaft wie von selber ergibt: das Gespür nämlich für die Vorläufigkeit aller Moral. Wir berühren hier einen Punkt, der auch mitten im Christentum nur sehr schwer begreifbar zu machen ist. In den meisten Gesprächen über die Art, wie Menschen leben sollten, wird man heute zuvörderst politische Auskünfte erwarten, und wenn diese nicht weit tragen, dann zumindest moralische; doch daß das Nachdenken tiefer gehen sollte, wirklich in den Grund und in die mögliche Begründung aller Moral in der Existenz des Menschen, das ist kaum zu vermitteln. Und dennoch muß es sich so verhalten, einfach deswegen, weil man die Moral nur bis zu einer bestimmten Stelle hin ernst zu nehmen braucht, um zu merken, daß sie nicht tragen kann. Ein Beispiel dafür. Die Moral arbeitet mit dem Wort Gerechtigkeit als mit einem ihrer besten Begriffe. Zweitausend Jahre nach Johannes dem Täufer wären wir in der Tat glücklich, wenn wir sie fänden: Gerechtigkeit zwischen Nord und Süd, Gerechtigkeit zwischen arm und reich, Gerechtigkeit zwischen Mann und Frau, Gerechtigkeit zwischen Schwarz und Weiß – es wäre unerhört, hätten wir endlich Gerechtigkeit auf dieser Erde. Alle moralischen Forderungen hängen an diesem Begriff, so daß ein Papst wie Pius XII. sogar eine Enzyklika schreiben konnte: Opus Justitiae Pax – Das Werk der Gerechtigkeit ist der Friede. Und dennoch sehen wir, daß immer wieder Kriege geführt wurden und werden, um «Gerechtigkeit» auf Erden herzustellen, und wir müssen feststellen, daß die «Gerechtigkeit» stets auch eine Kampfvokabel ist zum Rechthaben. Das genau aber war es, was Jesus historisch gesehen hat. Wenn Menschen sich hinstellen und Gerechtigkeit verlangen, der eine von dem anderen, so machen sie sich hart in den Forderungen ihrer eigenen Interessen und Ansprüche. Gilt ihnen ihr Anliegen erst einmal für recht, ist es erst einmal Recht, so entsteht sogleich die Pflicht, es mit geeigneten Mitteln durchzusetzen, wenn nötig mit den äußersten Mitteln. Eben darin besteht die Gerechtigkeit, daß sie aus einer Forderung sich zur Pflicht, zum Gesetz für jedermann verwandelt. Darin liegt zweifellos ihre Stärke, darin liegt aber zugleich auch ihre Schwäche. Jesus hat diesen Aspekt an der «Gerechtigkeit» von Gesetz wegen so deutlich gesehen: Was Menschen Gerechtigkeit nennen, ist soviel, wie wenn Wasser seine «Ordnung» gewinnt, indem es einfriert – eine glasklare Ordnung entsteht, eine kristallen strukturierte Ordnung; im Unterschied zu allen anderen Flüssigkeiten wird das Eis beim Einfrieren sich sogar ausdehnen. Aber nichts lebt in dem Eis; alles erstirbt in dieser «Ordnung»; man muß im Gegenteil zu dieser Struktur einer Ordnung des Erfrierungszustan57

des Energie hinzufügen, um das Wasser wieder zu verflüssigen, um es schließlich in einen dritten Aggregatzustand zu bringen, daß es sich erhebt und wolkenförmig wird und sich austauscht zwischen Regen, Tau und den aufsteigenden Luftmassen, immer im Kreis. Das wäre die Dynamik des Lebens: ein ungeheurer Energiestrom ständiger Übergänge und ständigen Wechsels. Es geht demnach nicht mehr darum, «Gerechtigkeit» als ein Prinzip der Begrenzung des Egoismus des einen am Egoismus des anderen mit den Mitteln der herrschenden Gewalt durchzusetzen, es geht im Sinne Jesu darum, den anderen wahrzunehmen in seiner Not und dem gerecht zu werden, was der andere notwendig braucht. «Wenn euere Gerechtigkeit nicht größer ist als die der Pharisäer und der Schriftgelehrten», konnte Jesus sagen (Mt 5,20), «werdet ihr in das Himmelreich nicht eingehen.» Wie also wird da aus dem Zeugnis für das Licht im Sinne der Moral das Licht selber, das Wissen um die unbedingte Notwendigkeit der Liebe? Es ist so schwer nicht, diesen Übergang zu finden, wenn wir nur erst einmal unseren Blick in dieselbe Perspektive richten, in die Johannes uns drängen wollte. Nehmen wir an, Menschen wollten wirklich versuchen, so gut es geht, nach der Gerechtigkeit zu leben. Werden sie dann nicht augenblicklich wieder beginnen, die Welt einzuteilen in Gut und Böse, in Gerecht und Ungerecht eben, und wieder Gott zum Produzenten von Stacheldraht erklären, indem sie wohlabgegrenzte Demarkationslinien zwischen den Menschen errichten? Was aber ist es dann mit den Ausgegrenzten? «Die sind selbst schuld», wird man sagen, «die haben die Gebote gekannt und haben sie übertreten; deshalb müssen wir, die Guten, dafür sorgen, daß sie bestraft werden. Es ist das Gesetz der Gruppe, daß man Regeln niemals übertritt, außer daß der Übertreter Strafen für sein Vergehen erleidet. Das ist die ganze Logik der Gerechtigkeit. Das Maß der Strafe drückt das Maß des Wertes aus, den das Gesetz besaß, als es übertreten wurde. Je höher die Ordnung, desto tiefer die Schuld, und um beide Schalen wieder ins Gleichgewicht zu bringen, bedarf es der Strafe.» So einfach also könnte es sein unter uns Menschen, folgte man der Moral des Gesetzes; aber so einfach geht es nicht, das spürte Jesus in der «Nachfolge», in der letzten Konsequenz der Johannes-Predigt. Der Mann aus Nazaret fühlte ganz einfach Mitleid mit den Menschen, die vom Gesetz im Stich gelassen werden, – ähnlich der Parabel Franz Kafkas von dem Mann vom Lande, der zum Gesetz zitiert wird und keinen Eingang findet, weil der Türhüter ihn nicht passieren läßt; er versteht durchaus nicht, wo er sich befindet bzw. mit wem er es wirklich zu tun hat oder was er selber tun soll. Die entscheidende Szene spielt bei Kafka in seinem 58

Roman Der Prozeß in einer Kirche: – die Religion selbst erscheint als reine Gesetzesfrömmigkeit, die in ihrer Unmenschlichkeit die Menschen nicht zum Leben zuläßt. Ewig werden die Menschen Kafkas sich vor diesem «Gesetz» verhocken und nicht wissen, wie sie zu sich selbst gelangen könnten1. Machen wir die Probe aufs Exempel, um diese Sicht der Dinge zu bestätigen. Immer wenn wir uns umschauen und einen Menschen vorfinden, der wirklich Hilfe braucht, werden wir geneigt sein, mit moralischem Anspruch sein Leben zu ordnen: Dies und das muß er tun, – es ist so vernünftig, es liegt so deutlich auf der Hand; der andere ist selber schuld, wenn er einen so guten Ratschlag, wie wir ihn parat haben, nicht sofort aufgreift; er muß ganz von Sinnen sein, wenn er sein Leben nicht entsprechend einrichtet. Aber vielleicht ist der andere in seiner Not ein Stück weit von Sinnen; vielleicht ist es ihm gar nicht möglich, das, was wir Vernunft nennen, einfach so in sein Leben zu übernehmen. Je mehr ein Mensch in Not ist, desto deutlicher werden wir sogar mit Sicherheit feststellen, daß es sich so verhält. Hinter dem, was der andere tut, steht eine ganze Geschichte; oft genug ist es gerade das, was er selber auf viele Jahre hin hat vermeiden wollen. Bald schon werden wir merken, daß es mit keinem Gesetz der Welt möglich ist, daran irgend etwas zu verbessern. Vor allem, wenn wir sehen, wie Menschen an den Gesetzen, die sie eigentlich einhalten möchten, immer wieder zerbrechen, werden wir spüren, wieso Johannes der Täufer sehr wohl Zeugnis gibt für das Licht und doch niemals selber das Licht sein kann: Er lebt nichts weiter als das Gesetz des Mose; das aber langt nicht aus für die Verzweifelten, für die am Boden Liegenden, für die Zerbrochenen. Schauen wir uns also einmal an, wie die Welt aussähe, wenn Johannes der Täufer das letzte Wort Gottes an uns geblieben wäre und wir die Absage, die Abwendung seines eigenen Schülers Jesus von Nazaret nie kennengelernt hätten. Unser Leben verliefe dann so, wie wir es überall bei denen antreffen, die im Gesetzessinne nicht «rechtschaffen» sind, sondern die im bürgerlichen Sinne als Gescheiterte gelten müssen. Eigentlich nur aus deren Perspektive, an den Rändern unserer Normalität, stellt sich das moralisch-bürgerliche Weltbild, das wir gewohnt sind, «notwendig» in Frage. Wenn wir uns aber erst einmal auf diese Infragestellung einlassen, beginnt die Welt sich zu drehen, am Anfang sehr verunsichernd, fast chaotisch, dann aber äußerst lebendig, äußerst kreativ, von innen heraus fruchtbar. Dazwischen liegt eine Phase, die fast unerklärbar ist, zu der man im Grunde keinen Menschen zwingen kann; doch wer sie einmal an sich 59

selbst oder im Kontakt mit den Menschen, die ihm am liebsten sind, durchlebt und durchlitten hat, gerät unweigerlich in diesen merkwürdigen Strudel einer Umorientierung in allem. Es beginnt damit, daß wir merken, wie Menschen an der Über-Ordnung zerbrechen. In den Ohren all der Leute, die das Sagen darüber haben, wie man den Sozial-Körper Kirche oder Gesellschaft durchformen muß, hört sich der folgende Satz vermutlich skandalös an, aber er drückt eine einfache menschliche Wahrheit aus: Jede gewaltsame Ordnung ist Unordnung; und jede Ordnung enthält ein Stück Gewalt, die nicht von innen her, aus der Identität eines Menschen mit sich selber erwächst, sondern die ihm von außen «verordnet» wird. Was da gemeint ist, hat nichts Abstraktes an sich. Ich kenne Menschen, die wortwörtlich zu Mördern geworden sind einfach aus verzweifelter Liebe. Sie haben wochenlang alptraumartig von dem, was sie nie tun wollten, geträumt, sie haben Nächte durchlitten in Lady-Macbeth-Visionen voller Blut, aber in Wirklichkeit suchten sie nur nach Leben, und die einzige Stelle, an der sie es fanden, verweigerte sich, kränkte sie, tötete ihre Seele. – Ich kenne Menschen, die haben abgetrieben, nur weil die Frucht ihrer zerstörten Liebe sie selbst fast umgebracht hätte. – Ich kenne Menschen, die homosexuell geworden sind, weil ihr Bemühen um «Reinheit» so groß war, daß sie es nie wagten, eine Frau zu berühren. – Andere sind zu chronischen Dieben geworden nur aus dem Unvermögen, irgend etwas erlaubtermaßen als ihr Eigentum zu empfinden. – Ich kenne Menschen, die in ihrer Ehe zerbrochen sind, nur weil unter dem Schatten ihrer moralischen Ideale kein wirkliches Gefühl und keine gerade Rede reifen konnte. – Ich kenne Menschen, die heute 30 Jahre alt sind und vollkommen asozial leben, aber ich kannte sie bereits, als sie fünfzehn waren, damals hatte die ganze Gemeinde sie lieb, damals führten sie die Ministrantenjugend an, damals opferten sie sich für den bankrotten Haushalt ihrer allzu früh verwitweten Mutter, – sie führten ihr Geschäft, sie suchten für sie nach einem Mann, aber es gab ihn nicht, und sie konnten ihn nicht ersetzen. In all dem zeichnet sich immer wieder die gleiche Tragödie ab. Was Menschen umbringen kann und immer wieder umbringen wird, ist dieses: daß sie sich verzweifelt an eine Ordnung klammern, innerhalb deren sie es ganz gut meinen; es fragt aber in ihrem Leben niemand, wie es ihnen selber dabei geht. Menschen mit einem derart überfordernden Überich, psychoanalytisch gesprochen, stehen da, wie die Figuren an manchen Häusern um 1900, die mit der Kraft eines Atlas oder Herkules den Balkon vor dem Fenster im 2. Stock über der Tür tragen müssen. Das Firmament der 60

ganzen Welt ruht auf ihren Schultern; der Himmel würde offenbar einstürzen, wenn es sie nicht gäbe. Irgendwann aber brechen sie unter der Last zusammen. Dann sind die andern erschrocken, dann schicken sie zum Arzt, dann wissen sie nicht, woran das liegt, dann verstehen sie die Welt nicht mehr. Aber wie, wenn ein solches Nichtverstehen einmal sich wandeln würde zu einem tieferen Nachschauen? Das zweifellos wäre das Ende all der richtigen, so vernünftigen, so gradlinigen Redensarten. Es wäre auch das Ende der religiösen Verklärung oder Stilisierung Johannes’ des Täufers zu einer eigenen Lichtgestalt, wie sie in den Kreisen seiner Jünger sich in der Bewegung der Mandäer2 zum Teil erhalten hat. Dieser Mann wäre wirklich vorläufig. Ja, es gäbe auch und gerade ihm etwas Entscheidendes zu sagen, das etwa so klingen würde: «Als wenn die Welt aus Schwarz und Weiß bestünde! Genau dazwischen, guter Johannes, liegt das ganze Spektrum des wirklichen, farbigen Lebens; du aber erklärst es nicht, du leugnest es einfach zugunsten deiner Schablonen, zugunsten deiner fertigen praktischen Einteilungen. Noch nicht mal Grautöne sind in deiner Wahrnehmung vorgesehen! Was also verstehst du, gutwillig prophetischer Mann, vom Leben? Du magst denken, in der Wüste sähest du klar; aber komm nach Jerusalem, komm nach Galiläa; geh über irgendeinen Basar in Nazaret – du wirst dich wundern, wie unterschiedlich die Menschen wirklich sind! Sie sind keine Steine, über die der Wind weht, um sie blankzuschmirgeln. Dein Mund hat nicht das Recht, derart rigoros über Menschenköpfe hinwegzureden. Was in den Herzen der Menschen vor sich geht, das müßtest du sehen; dann würdest du merken, wie ein bißchen Tau, wie ein bißchen Wasser, wenn es in den Boden eindringt, mitten in der Wüste üppiges Leben erschafft. Im wirklichen Leben ist alles kompliziert. Da ist überhaupt nichts erklärt mit deinen Worten eines moralischen Entweder-Oder. Da wächst ein reines Wunder in den Herzen der Menschen auf, wenn man es nur zuläßt.» Mit solchen Worten geschähe es, daß wir das Leben noch einmal ganz von vorn lernen würden und wir wüßten, daß niemandem geholfen ist, indem wir ihm sagen, was er tun muß. Wenn wirklich ein Mensch nicht weiß, was er tun muß, dann wissen wir es als Außenstehende gewiß auch nicht; dann ist die seelische Verwirrung des anderen so groß, daß sie sich nicht beruhigt, indem wir ihm erklären, wo es nach unserer Auffassung langgeht. Dann hilft nichts anderes, als daß wir uns zu ihm setzen und ihm einen kleinen Raum schaffen – von Gnade, müßte man sagen, wäre dieses Wort in der Kirchensprache nicht so verfeierlicht, daß es nurmehr als eine frömmelnde Redensart empfunden würde. Aber wollten wir im Sinne Jesu 61

dem anderen Augenblicke schaffen, in denen er in Ruhe atmen kann, in denen er gerade nicht mehr denken muß: Was soll ich tun?, sondern: Wo stehe ich eigentlich? Wie bin ich dahin gekommen? Was geht in mir vor sich? – dann würden womöglich in ihm Kräfte freigesetzt, die noch niemals zum Leben zugelassen waren; bis dahin galten diese Seiten in ihm als das nicht weiter Ansehnliche, als das Unpraktische, als das Abweichende; jetzt aber zeigt sich, daß es zu seinem Leben gehört, und er begreift, daß er unvollständig, ja, eigentlich gar nicht wirklich gelebt hat und leben kann, solange er das verdrängte Material nicht in sich einläßt. Allem Anschein nach gehen wir mit dem Leben immer noch so um, wie man es uns in der Schule beigebracht hat. In Geometrie zum Beispiel haben wir gelernt, wie man Dreiecke, Vierecke, Kreise und Ellipsen berechnet, und wir haben eine Menge Arbeiten über solche Themen geschrieben, die uns im Rückblick womöglich immer noch stolz machen auf jene glorreiche Zeit, in der wir all das wußten. Dann aber schauen wir uns um in der Welt, und wir finden, daß es eigentlich keine Wolken gibt, die Kugeln wären, keine Berge, die aussähen wie Dreiecke, keine Bäume von viereckiger Gestalt. Und dennoch halten wir fest an den idealen Formen der euklidischen Geometrie. Das Strauchwerk, die Zweige passen absolut nicht zu dieser Geometrie, sie lassen sich überhaupt nur summarisch berechnen, und doch berechnen wir die Stämme immer noch als angenäherte Säulen mit kreisförmiger Grundfläche. Denn in der Tat: In jedem Sägewerk bewährt sich diese Art von Geometrie, nur in der Natur kommen wir mit ihr nicht zurecht. Genau besehen wissen wir nicht die Dynamik und Gestalt einer einzigen Wolke exakt zu beschreiben. Wohl verfügen wir über eine Menge an Meßstationen, Computerdaten, satellitengestützten Großaufnahmen, aber das einzige, was wir jeden Abend beim Wetterbericht erleben, ist die Tatsache, daß wir für den morgigen Tag vielleicht die Großwetterlage einigermaßen richtig beschreiben können, daß aber die lokalen Ereignisse, ob es in Bad Driburg schneien wird oder ob es in Paderborn regnet, sich nur vermuten lassen, weil die Natur viel zu kompliziert ist, um präzise Vorhersagen zu erlauben. Doch nun brauchen wir diese Einsicht nur auf den Menschen zu übertragen. In jedem Fingerhut unseres Gehirns sieht die Welt unendlich viel komplizierter aus als in den Turbulenzen einer Wolke. In unseren Köpfen bestehen 1014 Verbindungen zwischen etwa 14 Milliarden Neuronen. In unserem kleinen Finger ereignet sich unablässig an Zufälligkeiten weit mehr als in den Strömungen aller Weltmeere und als in allen Vorgängen der gesamten Atmosphäre. Und das ist erst der Anfang dessen, was für uns Menschen Leben bedeutet. Unsere Seele indessen ist 62

das Allerkomplizierteste. Wir haben am Ende des 20. Jhs. vielleicht zum ersten Mal eine gewisse Ahnung davon bekommen, wie weit Gott uns geschaffen hat, wie groß das ist, was wir Menschsein nennen; dieses Weite und Große umfaßt alles, auch das uns ungeheuerlich Erscheinende, selbst das Verbrecherische; es umfaßt alle Triebbereiche, alle Sehnsucht, alle Leidenschaft; es umschließt freilich auch die Hochherzigkeit, auch die Güte, auch das Streben nach Vollendung, auch den Mut, sich immer wieder aufzurichten, auch die Fähigkeit, unsere Träume zu bewahren und nicht aufzuhören, weiter zu kämpfen, weiter zu leiden und weiter zu dulden. Wir Menschen sind etwas Großartiges auf dieser Erde, und alles, was uns verkürzt, und wär’s im Namen Gottes oder bestimmter heiliger Gebote, schadet am Ende weit mehr, als es nützt. Gott jedenfalls möchte, daß wir leben, ganz und intensiv und groß – nicht weniger, sondern mehr. Dann freilich ist keine «Ordnung» unter «Gläubigen» länger mehr glaubhaft, die sich eher mit Johannes dem Täufer vereinbaren würde als mit der Botschaft des Jesus von Nazaret. Denn dann hat es keinen Zweck mehr, zurückzukehren in die heimlichen Beruhigungen, es sei trotz allem möglich, Menschen den Kopf gerade zu setzen oder ihnen gegebenenfalls den Kopf abzuschlagen. Wir könnten insgesamt damit aufhören, uns aufzuführen wie große, verängstigte Kinder; wir könnten die Herausforderungen der Wirklichkeit, die ebenso verwirrend ist wie wunderbar, an uns heranlassen und auf sie antworten mit der Kraft, sie gelten zu lassen, sie zu bejahen und, so gut es geht, sie zu verstehen. Das Johannes-Evangelium gelangt bei der Interpretation der Gestalt Jesu im Gegenüber der Botschaft des Johannes schließlich zu einer schier unglaublichen Formel: «Das Gesetz», sagt es, «ward durch Mose gegeben; die Gnade, die Unverborgenheit Gottes (die Wahrheit) ward durch Jesus Christus.» Dieser Satz, der wie eine Zusammenfassung der gesamten paulinischen Theologie klingt, stellt es in aller Klarheit in der Person des Täufers und in der Person Jesu einander gegenüber: Verurteilen oder Verstehen, Anklagen oder Annehmen, Gesetz oder Gnade, – dazwischen gilt es zu wählen als zwischen Entweder-Oder. Alle Moral, sagten wir, wirke wie ein Licht im Winter: – es weise Wege in eine vereiste Welt, doch es schenke nicht die Kraft, diese Wege zu gehen, es bringe kein Leben in diese Welt. Nun aber, aus der Unmöglichkeit, mit Hilfe von Gesetzen menschliches Leben zu gestalten, entdeckt sich plötzlich etwas ganz Neues, etwas viel Tieferes, und das muß Gott sein: nicht ein oberster Gesetzgeber nach Maßgabe des Mose am Sinai, sondern eine Güte, die begleitet und versteht. Sie ist die Grundlage aller «Wahrheit», der Unverborgenheit, in der er, Gott, 63

selber erscheint, als eine Energie, die macht, daß in unserem Leben überhaupt so etwas wie Wahrheit zustande kommt. Keine Macht führt dahin, daß wir mit uns selber zusammenwachsen und zu unserer eigenen Identität hinreifen, als dieses Gespür: Es darf uns geben. Der Psychoanalytiker Erich Fromm, vor fünfzig Jahren schon in seinen frühen Schriften, stellte sich einmal zur Erläuterung der Botschaft Jesu vom «Reich Gottes» vor, wie eine Gesellschaft aussähe, in welcher es keine staatlich verfügten Strafen mehr gäbe3. Man wird von seiten unserer Politiker sofort sagen, wer so denke, sei ein Phantast, ein Träumer, ein Utopist; aber Erich Fromm meinte es sehr ernst. Er meinte, eine Gesellschaft, die strafe, weigere sich zu verstehen, sie bleibe patriarchalisch, denn ihre Strafen seien nichts weiter als der Stock, den der Herr im Hause schon auf den Schrank gelegt habe, um notfalls den Kindern «heimzuleuchten». So werde nicht Moral begründet, sondern Gewalt; nicht Menschlichkeit, sondern Herrschaft werde da ausgeübt. Wirklich von innen her lasse ein Kind, lasse ein Mensch, lasse ein Erwachsener sich nur verändern, wenn man ihm Raum gebe, sich selbst zu begreifen. Das stimmt. Alles weitere mögen Schutz- und Notmaßnahmen sein, – Aktionen einer Hilflosigkeit, in der wir immer wieder uns wohl befinden; Worte aber wie «Gerechtigkeit» oder «Strafe» sind unendlich weit entfernt von dem, was im JohannesEvangelium sich mit der Person Jesu verbindet. Von daher versteht man die nur scheinbar zeitliche Zuordnung, die der Täufer vornimmt, wenn er von Jesus erklärt: Der nach mir kommt, ist mir zuvor; er ist der Ursprung, nicht ich. Es geht bei diesen Worten nicht um eine historische Abfolge von vorher und nachher; es geht um die Frage, was unserem Leben «Ursprung» zu geben vermag: Was ist der Quell, was ist die Energie, die uns trägt? Johannes erklärt sinngemäß: «Es ist wie bei Wasser, das fließt: Man sieht nicht die Quelle, man sieht nur zunächst den strömenden Fluß, und so mag auch ich manchem erschienen sein; aber der Ursprung, der Ort, da das Gestein aufbricht und seinen Mund gewinnt, um Leben zu schenken, das bin ich nicht, das ist etwas anderes; die sich verströmende Energie, die alles kanalisiert, verkörpere nicht ich.» Sagen wir so: Hinter aller «Gerechtigkeit», wenn sie den Namen verdient, kann und darf nur die Liebe stehen. So ist der «Anfang», der «Ursprung» der «Welt». Das jedenfalls macht die Erfahrung des Jesus von Nazaret aus; deshalb ist er die Deutung unseres Lebens, das entscheidende Wort, der Schlüssel zum Verständnis von allem. Unvermeidbar erhebt sich an dieser Stelle die Diskussion bis heute zwischen Juden und Christen: Ist in Jesus der «Messias» gekommen? Ist er der 64

Messias, der «König»? Antworten läßt sich auch im Sinne des JohannesEvangeliums auf diese Frage nur, daß dieses Problem sich nicht mit Bibelzitaten entscheiden läßt, sondern einzig in der Weise des Täufers: durch die eigene Existenz, unseretwegen, der «Glaubenden» wegen, sollte man’s glauben, wenn man’s denn glauben kann. Gerade da aber wird es schwer halten, einen Menschen zu finden, der aufgrund eigener Erfahrung sagen würde: «Was ihr Christen uns vorlebt, führt tatsächlich dahin, daß man wirklich denken darf, die ganze Welt im entscheidenden habe sich verändert durch die Ankunft jenes Mannes aus Nazaret, den ihr als den Gründer des Christentums versteht.» Was demnach bleibt, ist eine Vertiefung der Erkenntnis im eigenen Leben, die wie von selbst in die Entdeckung Jesu hindrängt: Keines Menschen Leben löst sich nach Art der Gebotemoral; die zu Ende gedachte «Gerechtigkeit» ist der Tod, und zwar nicht nur für den Schuldiggewordenen, sondern auch und gerade für den, der meint, sie zu befolgen. Die einzige Erklärung, die «Deutung», dafür, daß es uns überhaupt gibt, liegt in der Haltung, die der Mann aus Nazaret im Namen Gottes in unsere Welt bringen wollte; sie besteht darin, wahr zu werden in der Liebe und so zu lieben, daß es in uns und um uns wahr wird. Es gibt in der Spruchsammlung Q einen Satz, der im Lukas-Evangelium (16,16) so aufgegriffen wird; er lautet: «Das Gesetz und die Propheten reichen bis zu Johannes. Von da an wird das Evangelium vom Reich Gottes gepredigt.» – Sich zu Jesus zu bekennen ist diesen Worten nach identisch damit, in Gott nichts weiter zu sehen, zu glauben, zu hoffen als eine Liebe, die nicht verstößt. Das ist das «Reich Gottes», das «Wort», das Jesus zu bringen kam und in seiner Person verkörpern wollte. Es ist die einfache Wahrheit, die Jesus am Ende der Bergpredigt so formuliert: «Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet.» (Mt 7,1) Oder, wie Paulus (Röm 2,1) schreibt: «Worin du den anderen richtest, verdammst du dich selbst, weil du eben dasselbe tust, was du verurteilst.»

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Joh 1,19-34: Das Bekenntnis des Täufers 19Dies

ist das Zeugnis des Johannes: Als die Juden von Jerusalem aus Priester und Leviten zu ihm sandten, ihn zu befragen: Du, wer bist du? – 20da legte er sein Bekenntnis unzweideutig ab; er bekannte: Ich bin nicht der Messias. 21Da fragten sie ihn: Was dann? Bist du Elia (Mal 3,23; Mt 17,10-13)? Und er sagt: Ich bin es nicht. – Bist du der Prophet (Dt 18,15)? Und er antwortete: Nein. 22Da sagten sie ihm: Wer bist du? – damit wir denen Antwort geben können, die uns gesandt haben. Was sagst du von dir selbst? 23Er sprach: Ich: die Stimme eines, der ruft: In der Wüste Macht gerade den Weg des Herrn, wie der Prophet Jesaja gesprochen (Jes 40,3). 24Doch die Abgesandten waren von den Pharisäern. 25Und so befragten sie ihn weiter; sie sagten zu ihm: Warum taufst du dann, wenn du nicht der Messias bist und nicht Elia und nicht der Prophet? 26Geantwortet hat ihnen Johannes, er sagte: Ich taufe in Wasser. Mitten unter euch steht einer, den ihr nicht kennt (Lk 17,21); 27der kommt nach mir; dem auch nur die Sandalen zu lösen bin ich nicht wert. 28Das geschah in Betanien, jenseits des Jordans, wo Johannes zum Taufen war. 29Tags darauf sieht er Jesus auf sich zukommen und sagt: Da, das Lamm (der Knecht) Gottes, das die Sünde der Welt hinwegträgt (Jes 53,7). 30Der ist es, von dem ich sprach: Nach mir kommt einer, der ist mir zuvor, denn er ist der Ursprung, nicht ich (1,15). 31Auch ich kannte ihn nicht; doch daß er Israel sichtbar werde, deswegen bin ich gekommen, in Wasser zu taufen. 32Und Johannes hat es bezeugt, er sagte: Ich habe geschaut, wie der Geist herabstieg, gleich einer Taube vom Himmel, und er blieb auf ihm. 33Auch ich kannte ihn nicht; doch der mich schickte, in Wasser zu taufen, der hat mir gesagt: Auf wen du den Geist herabsteigen und auf ihm bleiben siehst, der ist es, der in heiligem Geist tauft. 34Ja, ich, gesehen hab ichs und bezeuge es hiermit: Dieser ist der Sohn Gottes.

Gott hat niemand jemals gesehen. Der einzig Gottgeborene, … er ist die Deutung – das waren die Worte des sogenannten Prologs. Eingestreut dort waren Hinweise auf Johannes den Täufer, der seinerseits, wie das Vierte Evangelium es sieht, ein Hinweis ist auf den Mann aus Nazaret. Nicht wer war er, wer ist er? In immer neuen Kreisen greift es diese Frage auf, formuliert seine Antworten, legt ihre Bedeutung aus und legt dabei ältere, überaltert erscheinende Vorstellungen wie unbemerkt beiseite. 66

Gott hat niemand jemals gesehen, nur er, der Sohn. Das ist die Zusammenfassung des johanneischen Prologs. Sie erfährt im Munde des Täufers jetzt noch einmal eine Vertiefung. Was haben wir bisher gehört? Der Mann aus Nazaret, meinte der Johannes-Prolog, ist, wie wenn aus den Weiten des Kosmos Licht hineindrängt in die Tiefe der Nacht. Er ist, wie wenn aus dem Schweigen des Dunkels eine leise Stimme sich erhebt. Er ist, wie wenn aus dem Rauschen des Meeres die Brandung Leben ans Land spült. Er ist, wie wenn aus dem Wehen des Windes sich ein sanfter Atem um einen Menschen legt. Jesus, meint das Johannes-Evangelium, hat in die Wortlosigkeit der Welt eine Anrede an uns Menschen getragen. Weil er selber sich angeredet fühlte, begann er, das schweigende Geheimnis der Welt, den unsichtbaren Urgrund von allem, anzureden wie ein Gegenüber, wie etwas, das uns gleichförmig ist, um uns selber sich gleichförmig zu machen. Das Rätsel des Daseins gewinnt so seine Auflösung: Der «Sohn» ist’s, der den «Schöpfer» der «Welt» erscheinen läßt als väterlich. Dieser mit sich versöhnte Mensch, Jesus von Nazaret, wird die Deutung von allem. Es war im 20. Jh. Martin Buber, der theologisch wohl am tiefsten darüber nachgedacht hat, was wir als Person bezeichnen. Buber meinte, kein Mensch vermöge sein eigenes Ich auszusprechen, außer es habe über ihm, «vor ihm» einen Mund gegeben, der ihn angesprochen hätte als Du, als mein Du, und sei zu ihm in ein ganz und gar inniges Verhältnis der Liebe, der Zugewandtheit, der Geborgenheit getreten1. Wann irgend jemand auf ein solches Du mit seinem eigenen Ich antwortet, beginnt eine wirkliche menschliche Rede, ein Dialog zwischen Ich und Du, in dem beide sich austauschen und beide sich wechselseitig einander verdanken. Ein solcher Dialog, meinte Buber, sei der Grund aller Religion. Wie wir mit Menschen, wie wir mit Lebendem, mit Tieren, mit Pflanzen, mit Dingen, in einen Dialog träten oder einen solchen Dialog verweigerten, das entscheide darüber, ob sich unsere Welt öffne für Gott oder sich schließe vor ihm. Beginnen wir, um diesen Zusammenhang zu erläutern, mit einem einfachen Beispiel. Es ist möglich, etwa einen Hund, eine Katze, zu betrachten wie einen Gegenstand. Es, das Tier, ist und bleibt in solcher Betrachtung ein Es. Es ist ein Gegenstand von Zuchtversuchen, von Dressurversuchen, von Manipulationen, um es auf dem Markt besser zu verkaufen, es ist eine Ware, die sich austauscht gegen Geld. Was dieses Es fühlt und empfindet, gilt dabei für nichts, es spielt keine Rolle, es ist nur ein Es, es ist niemals ein Teil unserer menschlichen Welt. Aber wie menschlich ist eine solche Welt, die ein fühlendes Wesen als Neutrum, als Es betrachtet und behandelt? Wie eng macht sie sich, wie verroht wird sie sein? Ein Kind schon 67

wird mit seinem Hund, mit seinem Kätzchen anders verfahren. Ein Kind, das seinen Hund oder sein Kätzchen streichelt, tritt, kaum daß es reden kann, mit diesem ihm eigentlich unbekannten Wesen in ein Gespräch. Für ein spielendes Kind wird sein Tier ein Gegenüber, ein Du; es gibt diesem Du einen Namen, und fortan ist dieses Du nicht mehr irgendein Hund, irgendeine Katze; das angeredete Tier tritt in die Welt dieses Kindes als etwas Einzigartiges ein, das nur (zu) ihm gehört; und eines Tages wird sich’s begeben, daß allein schon das lautmalende Geräusch der Tonfolge seines ausgesprochenen Namens dem Hund, der Katze, sagt, daß sie gemeint sind von diesem Kind, von diesem einen Menschen, und eine Brücke spannt sich zwischen Mensch und Kreatur. Zwei ganz verschiedene Weisen sind das, Welt zu erleben: das Es oder das Du, und je nachdem, welche dieser beiden Weisen wir bevorzugen, entscheiden wir darüber, was für Menschen wir sind. Es entscheidet auch darüber, wie wir die Kernaussagen des Christentums verstehen. In der christlichen Dogmatik wird Jesus der Sohn Gottes genannt. Wie aber, wir sähen in ihm ein Du, das uns nie zu einem Es macht, das nie zum Zentrum einer Aktivität wird, die uns in Objekte verwandelt, sondern das bleibend etwas ist, das mit sich reden läßt und das wir anreden dürfen? Dann verstünden wir das Johannes-Evangelium in seiner «christologischen» Aussage sehr tief. Denn in der Tat, das wollte Jesus sein: Träger der Überzeugung, Gott lasse mit sich reden, er sei ein ewiges Du, freilich so, daß bei ihm all unser Reden ans Ziel kommt und sich selber wiederfindet in seinem Ursprung. Mit Gott reden wir, weil wir immer schon angeredet wurden von ihm. Dieses Du ist ein Ich, Jesus aber steht in den Augen des Johannes-Evangeliums dazwischen als die Person, die uns mit seinem Ich ein absolutes Vertrauen in jenes unsichtbare Du schenken möchte. Er spricht, um uns einzuladen, selber zu reden. Er kommt auf uns zu, um uns anzubieten, mit ihm zu gehen. Er streckt seine Hand aus, damit wir ihm die unsere reichen und uns von ihm die ganze Welt und unser eigenes Leben noch einmal ganz neu zeigen lassen. Auch unter uns Menschen ist dieser Unterschied zwischen Du und Es oder Sie und Er deutlich spürbar. Wir reden über einen anderen Menschen in der dritten Person: da ist er, der Sowieso, oder sie, die Sowieso, und scheinbar wissen wir von ihm oder von ihr allerhand; wir tauschen über ihn, über sie Informationen aus, richtige oder erdichtete, wohlmeinende oder gehässige, ehrliche oder hämische; in solcher Rede verfügen wir über den anderen als über einen Gegenstand unserer Beurteilung, denn unsere Worte und Qualifikationen legen ihn fest, sie machen ihn zu einem Beute68

gut unserer Vorurteile und Redensarten, wir wissen vermeintlich Bescheid über ihn. Da ist er oder sie nichts weiter als Er oder Sie, als ein Teil der objektiv festlegbaren Es-Welt. Wie aber, der Spuk löste sich auf und aus dem Nebel träte die Person des anderen wirklich an uns heran? Wir könnten gar nicht mehr über sie reden, sondern es wäre unvermeidlich, mit ihr zu sprechen, mehr noch, sie sprechen zu lassen. Alles verflöge dann plötzlich, außer der andere, gezwungen vom Druck der ihm auferlegten fremden Meinung, wäre sich selbst gegenüber bereits so entfremdet, daß er nur noch den Redensarten getreu beziehungsweise in Reaktion von Widerstand und Widerspruch darauf zu antworten vermöchte. Wirkliches Menschenwort, das den anderen anspricht als Du, schenkt ihm Freiheit, sich wirklich zu äußern; Ich und Du aber finden zueinander einzig in der Liebe. Deshalb bezeichnet das Vierte Evangelium Jesus als den Sohn, sagen wir besser: als den Versöhnten, als den in der Mitte seiner selbst anderen Frieden und Liebe Schenkenden. Kann man Gott beweisen? Kann man zeigen, wie aus der Hand eines absoluten, allmächtigen Wesens die Welt hervorging? Im Sinne des Johannes-Evangeliums entzieht sich das Geheimnis der Schöpfung jeder Einsicht, jeder «gnostischen» Spekulation. Aber ein Mensch, der selber als Mensch leben will, setzt eben dieses unergründbare Geheimnis als duhaft voraus, ohne diese seine Voraussetzung tiefer begründen zu können, als daß allein eine solche Perspektive auf ein absolutes Du den Grund dafür bietet, sich überhaupt als ein individuelles Wesen, als ein Ich, zu riskieren, das Sklavendasein wechselseitiger Verfügbarkeiten zu verlassen und als eine freie Person in diese Welt zu treten. Das Johannes-Evangelium hat diese Zusammenhänge in eigentümlichen Wendungen, die der Gnosis entlehnt sind, zu beschreiben versucht. Mit seiner Schilderung der Person des Täufers aber knüpft es an Überlieferungen an, die in den ersten drei Evangelien vorliegen: Alles beginnt dort mit dem Auftreten des Täufers. So auch hier. Doch nicht wie dieser Mann historisch gewirkt hat, ist die Frage des Johannes- Evangeliums, sondern wie er dazu tauglich ist (oder tauglich gemacht wird), das Geheimnis der Person Jesu wiederzugeben, der zum Grund des Muts wird, selber als Menschen Personen zu werden, – das ist die Frage hier. Da kommen von Jerusalem aus Priester und Leviten an den Jordan und richten an den Täufer ihre Fragen. Noch bei Matthäus (3,7), noch bei Lukas (3,12-14) sind es (entsprechend der Überlieferung der sogenannten Q-Quelle) alle möglichen Gruppen, die sich zu ihm drängen: Sadduzäer und Pharisäer bei Matthäus, Zöllner und Soldaten bei Lukas, und sie fragen nicht: Wer bist du?, sondern: Was sol69

len wir tun? Sie sind dort allesamt selber Betroffene, selber Suchende, selber Fragende, weil persönlich In-Frage-Gestellte. Nur solche, auch historisch gesehen, dürften sich damals aufgemacht haben an den Step-penrand der judäischen Wüste, um ihr Leben unter der Botschaft des Täufers vor Gott in Ordnung zu bringen. Hier, im Johannes-Evangelium, verhält es sich anders. Sie kommen – man bekommt das Wort in dieser Betonung schwer über die Lippen – als Juden zu Jesus. Das Wort bezeichnet für das Vierte Evangelium eine Gruppe von Menschen, die über ein festgelegtes Vorwissen von Gott verfügt, das in ihren Augen unveränderlich und unkorrigierbar gilt und das als gegebenes Wort Gottes durch keine neue Erfahrung zu erschüttern ist. Bezogen auf das Judentum, das es wirklich gibt, kann diese Darstellung wie eine bittere Karikatur erscheinen; doch bezogen auf uns selbst kann sie eine gültige Typologie für eine Gefahr abgeben, die in jeder Religion zu jeder Zeit und an jeder Zone der menschlichen Geschichte schlummert. Nur jedenfalls wenn wir die Darstellung des Johannes-Evangeliums von den «Juden» in diese Richtung auf uns selbst hin weiterverfolgen, läßt der theologisch begründete Antijudaismus, der in diesen Wendungen immer wieder durchschimmert, sich ein Stück weit auflösen. Machen wir uns den Text also für unseren eigenen Gebrauch zunutze, statt selber gegenüber «den Juden» in einem falschen Wissen dazustehen, wonach wir, die Christen, die Hände erheben, mahnend und strafend über jene anderen, jene Mörder an ihrem Messias, wie es das ganze sogenannte christliche Abendland aus Texten wie diesen abgeleitet hat. Nehmen wir deshalb auch «Jerusalem» und den «Tempel», in dem die Priester und Leviten ihren Dienst verrichten, für einen symbolisch auf uns selber bezogenen, nicht länger mehr historischen Raum. Dann müssen wir sagen, die Frage der Leute am Jordan gehe im Johannes-Evangelium danach, wie überhaupt ein religiöses Reden von Gott sich beglaubigen lasse. Der erste Ort einer solchen Beglaubigung steht scheinbar schon immer ganz einfach fest: Was man von Gott weiß, lernt man im Kultus, lernt man im Ritual, vollzieht man in bestimmten Zeremonien; in diesen wohnt dann die Gottheit. Es gibt in der Religionswissenschaft tatsächlich die Meinung, man habe die Gottheit als ein Du überhaupt erst bezeichnet in den Zurufen, in den Akklamationen des Kultes, wenn die Gemeinde bis an den Rand des Ekstatischen gedrängt wurde und es aus ihr herausschrie: oho! und joho! In solchen Erfahrungen sei Gott als Jo oder Johu geboren worden, als eine Anrede im Taumel der Sinne2. Der Kult in Israel war in den Tagen des Johannes weit weg von großen ekstatischen Erlebnissen, doch immer noch hielt sich die Vorstellung, gegenwärtig sei Gott, wo Priester 70

ihn herbeiriefen, wo Rauchopfer zum Himmel stiegen und das Blut der Tiere dampfend mit dem Fettgeruch ihm in die Nase dringe, um den Zorn der Gottheit wie in den Tagen des Noah zu versöhnen mit der Schuld der Menschen (Gen 8,20-22). Blutrünstige und archaische Opfer erschienen nötig, damit Gott aus der unendlichen Ferne seiner Gerechtigkeit und Strafmacht, ein wenig milde geworden, sich wieder herabbeuge zum Menschen – eine religionspsychologisch schreckliche Vorstellung, weil immer wieder gebunden an Opfer, an Vorleistungen, an Einschränkungen und an die Qualen unschuldiger Lebewesen, aber – so will es die Religionsgeschichte – immer auch ein bequemer Weg, das Persönliche an das vermeintlich Objektive des Priesterdienstes zu delegieren. Da ist die Antwort auf jede lebendige Frage des menschlichen Lebens schon immer vorhanden. Nichts Neues gilt es zu entdecken, nur immer gründlicher das Vorangegangene zu erforschen. Ihm getreu zu obliegen ist der ganze Inhalt einer solchen Religion. So also kommen sie von «Jerusalem», Priester und Leviten, erstaunt über Johannes den Täufer. Indem er messiasgleich den Anschein erweckt, etwas Eigenes, anscheinend Neues, so noch nie Gehörtes unabhängig vom Tempel- und Priesterdienst zu sagen, muß er sich ohne jeden Zweifel erst einmal vor den Hütern von Tradition und Gesetz beglaubigen. Die Gründe einer solchen Beglaubigung aber liegen längst fest: Der Messias am Ende der Tage wird die jüdische Religion wiederherstellen in ihrer Reinheit, er selbst wird auftreten als der Oberste der Priester; eigentlich unvorstellbar deshalb, daß er nicht selbst aus der Kaste der Priester hervorgehen würde! Aber selbst wenn man Gott freie Hand gäbe, seinen Messias in unsere Welt und Geschichte zu senden, wie es ihm beliebte, so bestünde die einzige Legitimation im Grunde darin, die (sadduzäische) Priesterherrschaft abzulösen durch die Herrschaft des Messias. Wenn er käme, so würde neu eingesetzt werden, was König David einmal verkörperte, das Großreich Israel, die nationale Macht des auserwählten Volkes, der Krafterweis Gottes durch den Sieg der Tochter Zion. Religion und Thron, Ideologie und Herrschaft, Kult und Königsdienst werden in dieser Vorstellung austauschbar, ja, sie sind ein und dasselbe, Himmel und Erde würden so miteinander verschmelzen. Johannes der Täufer, gefragt, wer er sei, kann auf dieses Ansinnen im Johannes-Evangelium nur mit einem einzigen Wort entgegnen: Das ist er nicht! Das heißt: so will er’s nicht. Was ihm vorschwebt, ist etwas vollkommen anderes. Man muß, in Erinnerung an die ersten drei Evangelien, auch unter historischer Perspektive nur einmal sehen, wie dieser Mann da71

steht: Nichts hat er an sich von einem David oder Salomo, ganz im Gegenteil: hären gewandet, asketisch, bettelarm, todernst, bohrend, suchend wie eine ausgestreckte Hand, die zum Himmel weist, wartend, ob dort Antwort zu vernehmen sei. Ein Messias-Anspruch läßt sich durchaus nicht verbinden mit einem Mann wie Johannes dem Täufer. Doch man ahnt in seiner Nähe die Richtung, in die hinein man weiterfragen muß. Es gibt andere historisch tradierte Hoffnungen, die Erwartung der Wiederkunft des Propheten Elia zum Beispiel. Auch das würde sich priesterlich und levitisch reimen. Elia ist nach einem Prophetenwort aus Maleachi 3,23 verheißen für das Ende der Tage. Noch heute, bei jeder Pessah-Feier im jüdischen Kult, wird man im Kreis der Familie einen Stuhl frei lassen, könnte es doch sein, daß, wie damals in den Tagen des Aufbruchs, der Befreiung aus dem Glutofen Ägyptens, der Engel Gottes erneut aufträte in der Gestalt des Elia. Was dieser Mann bedeutet, ist verschmolzen mit dem Sturz des heidnischen Götterglaubens, mit dem Kampf gegen die Religion Kanaans, mit dem Sturz des Baalskults (1 Kön 18,1-40). Elia war es, in der Legende vom Gottesurteil auf dem Karmel, der die Altäre der Fremdpriester zerstörte, der die Priester selber vernichtete und den zerfallenen Altar Jahwes neu errichtete. Wenn Elia wiederkäme in dieser Pose eines Propheten mit dem Schwert, könnten die Priester zufrieden sein. Er würde sein Werk in ihnen erfüllt sehen und ihnen selbst die Vollendung ihres Tuns unter göttlichem Segen schenken. Johannes der Täufer aber hat mit dem Tempel in Jerusalem historisch so wenig zu tun wie mit dem Königsthron in Jerusalem. Nicht nach der Art versteht er sich; Prophet ja, aber der wiedergekehrte Elia, zum ideologischen Freibrief der Sadduzäer womöglich, – so nicht. Ob er denn der Prophet sei? So erwartete man nach einem Rätselwort aus dem Buch Deuteronomium (Dtn 18,15) Mose selbst. Er war der Prophet, von dem es heißt: Niemand mehr aber trat auf in Israel, der gewesen wäre wie er, mit all den Taten und Wunderzeichen und Krafterweisen, ein Mann, mit dem der Herr geredet hätte von Angesicht zu Angesicht (Dtn 34,10-12). Mose verkörpert religiöse Führung und Erneuerung in einem Umfang, dem Johannes nicht entsprechen kann; was er predigt ist kein neuer Aufbruch, sondern Gottes Abbruch, das Ende dieser Welt. Wie überhaupt kommt die Vorstellung zustande, es müsse aus der Vergangenheit jemand wiederkommen, um das Alte wiederherzustellen und damit das Neue in seine Wahrheit zu setzen? – Es geht uns Menschen immer wieder so, daß wir in Zeiten geraten, in denen wir vor lauter Schmerz kaum in die Zukunft zu schauen vermögen. Wenn es gegen den 72

Druck der Wirklichkeit irgend noch Hoffnung geben soll, dann muß sie in Bildern dessen liegen, was wir einmal erlebt haben. Wir träumen uns zurück, um die Gegenwart zu ertragen; wir malen in den Bildern der Vergangenheit die Verheißungen der Zukunft. Nicht eigentlich um Reinkarnation geht es dabei, daß etwa Elia, noch einmal wiedergeboren, in einer anderen Gestalt käme, oder Mose, es geht darum, daß das, was sie damals taten, dringend heute geschehen müßte. Nur wie soll es geschehen? Und wie kann es überhaupt geschehen? Wie kann ein Mensch auf die Frage antworten: Du, wer bist du? Negativ kann er viele Antworten geben. All die Modelle, die man über ihn zu legen sucht, erscheinen unzulänglich. All den Schubladen, in die man ihn zu stecken trachtet, wird er entsteigen, – er findet sich an jeder Stelle anders. Aber wie bestimmt er sich positiv? Das eigentümliche Geheimnis dessen, was wir eine menschliche Person nennen, besteht darin, daß wir auf die Frage: Du, wer bist du? eigentlich aus uns selber heraus gar nicht zu antworten vermögen. Im JohannesEvangelium wird es später immer wieder die Frage auch an Jesus sein: Womit begründest du dein Zeugnis? Und die Antwort Jesu wird lauten, daß jedes Selbstzeugnis ein Trugbild sei, eine Wunschphantasie, ein Ideal, das ein Mensch sich zurechtmacht. Wer ist er wirklich? Jesus wird sagen: Nicht ich beglaubige mich, sondern der, der mich gesandt hat (Joh 5,31.32.36.37). In diese Richtung hinein spricht auch hier schon Johannes, den wir den Täufer nennen. Verdeutlichen wir uns das Gemeinte in einem Gedankenexperiment. Wenn man uns fragt, wer wir sind – einen jeden von uns –, werden wir nur sagen können, nicht: «Ich bin dies und das», sondern: «Ich verhalte mich wesentlich zu diesem und jenem. Um mich zu verstehen, muß ich dich einladen zu schauen, was mir wirklich wichtig ist, woraus ich lebe, was für Überzeugungen, was für Motive es sind, die mich tragen, auf welch ein Ziel hin ich blicke, wenn ich sage: Ich existiere. Was ist der Inhalt, der Sinnentwurf meines Daseins? Daraus bestimmt sich, was für eine Person ich bin.» Wir müßten nur, statt von «Entwurf» und «Sinnrichtung» zu reden, erneut für uns ein bestimmtes Gegenüber wählen, das uns wesentlich ist. An dem gemessen, auf das hin bestimmt sich, wer und was eine Person in ihrem Innersten ist. Die einzige Antwort auf die Frage: Du, wer bist du? müßte demnach heißen: «Was ich bin, ergibt sich aus dem, was ich liebe; das ist’s, was meine Seele sucht; das ist’s, wohin meine Gefühle wandern, ungewiß noch, wo ihr Halteort sein wird. Dieses andere bedeutet für mich eine Zone der Ruhe, ein Angekommensein, ein Mich-selber-Finden.» 73

Keine Person gründet in sich, sondern was sie von sich sagen kann, ist einzig diese Bewegung, in der sie sich zu etwas verhält, von dem her sie auf sich zurückkommt und dem sie sich eigentlich verdankt. So redet an dieser Stelle Johannes der Täufer, indem er als erstes ein Wort des Propheten Jesaja (40,3) zitiert: Ich – eines Rufers Stimme. Soll man daraus schließen, Johannes definiere sich hier als eine reine Sehnsucht, als jemanden, dessen ganzes Ich darin bestehe, etwas mitzuteilen, das weit über ihn hinausgehe? So viel ist wahr: Der Inhalt von all dem, was er ausruft, was er anruft, ist dieses Prophetenzitat, das wahr werden soll in seiner Gestalt in der Wüste: Macht gerade den Weg des Herrn! Wir sind gewöhnt und werden so erzogen, in der Religion im wesentlichen ein bestimmtes Ensemble von lehrhaften und satzhaften Wahrheiten zu erblicken. Religion erscheint uns als stimmig, wenn wir in ihrem Umkreis bestimmte Thesen, bestimmte Dogmen hersagen können, aufsagen können, ansagen können. Ganz anders, viel einfacher indessen ist die Erfahrung im Judentum mit seinem Gott: Gott findet sich gerade nicht im Aufsagen von Doktrinen, Gott ist vielmehr das Gegenüber, das uns meint, das Gegenüber, das mit sich reden läßt, das Gegenüber, das uns zur Sprache bringt. Und jetzt Johannes der Täufer. Er wählt zu seinem Aufenthalt den Landschaftsraum der Wüste, aber doch nur, um zu zeigen, wie wir leben, – wie verwüstet unser Dasein ist. Da hinein, in eine Welt, die keine ist, in einen Ort, der niemals Heimat wird, in eine Verlassenheit, die ein Überleben nicht gewährleistet, da hinein will er Wahrheit und Richtung bringen. Macht gerade den Weg (des Herrn)! Als Lebenskunst erklärt man uns in aller Regel nicht, wie man richtig lebt, sondern wie man überlebt, mit welchen Tricks und Finten, mit welchen Verstellungen und Verdrehungen. Alles geht da kreuz und quer, niemals geradeaus. Aber das, meint Johannes der Täufer, sei doch der Anfang von allem: Macht gerade den Weg! Denn nur auf einem solchen werde Gott in unser Leben treten. Es ist ungeheuer viel, was Johannes der Täufer sich hier vornimmt, denn er mutet uns zu, diese «Begradigung» unseres Lebens wirklich zu finden, – keine Ausreden mehr, keine Tricks mehr, keine Doppelbödigkeit mehr, nur noch geradeaus! Es wäre das Ende der Versteckspielerei, es wäre das Ende der Angst des einen vor dem anderen, es wäre das Ende der ständigen Mimikry, nach außen anders zu scheinen, als man in Wirklichkeit ist. – Geradeaus leben, das ist, daß Außen und Innen endlich eins werden. Alles schon steckt in diesem so kurz formulierten Programm, und die Frage stellt 74

sich allein, wie wir’s denn können. Die Sehnsucht danach hätten wir alle gewiß, so sein möchten wir schon; nur: wie gelangen wir dahin, an die Stelle, wo der Weg gerade wird? Es wirkt fast hilflos, wenn Johannes im folgenden ein zweites Mal auf die Fragen der Abgesandten aus «Jerusalem» antworten muß. Das Johannes-Evangelium erklärt sie für «Pharisäer». Das kann historisch kaum sein. Die Pharisäer waren eine zwar kleine, aber mächtige Laienbewegung, die sich einer möglichst genauen Gesetzesbefolgung hingab, die Priester aber im Tempel sind keine Pharisäer, sondern Sadduzäer, sie vertreten eine gänzlich andere Geistesrichtung, die, gestützt nur auf die Thora (die ersten fünf Bücher Mose), in Kooperation mit den Römern Religion und «Realpolitik» als gleichberechtigte Ziele betrachtet; – gleichviel, das Johannes-Evangelium verbindet mit den «Juden» schlechterdings diejenigen religiösen Kräfte, die in seiner Entstehungszeit (Ende des 1. Jhs.) wirksam sind. Das sind die Pharisäer, indem diese nach der Zerstörung des Tempels im Jahre 70 und nach dem Ende der Sadduzäer mit der Konzentration auf die Bibelauslegung die Grundlage des Talmuds und des Judentums heutiger Prägung schufen; diese Kreise sind Johannes bekannt als sehr genau untersuchende, eben gesetzeskundige Leute, die alles auf Gramm und Milligramm auf die Waagschale ihrer Thorainterpretation legen. Denen traut er die folgende Frage zu: «Wie kommst du, Johannes der Täufer, dahin, taufen zu wollen im Jordan, wenn du alles das nicht bist, was wir eben noch von dir hören wollten: nicht der Messias, nicht ein zweiter Elia, nicht ein zweiter Mose – wer also dann?» Das soll heißen: «Was gibt dir das Recht, einen Kult zu begründen, der nicht von uns, den Gesetzestheologen, oder von uns, den priesterlichen Autoritäten, ausgeht? Berufen kannst du dich nicht auf die Weissagung des Ezechiel (47,1-12) von dem Strom, der dem Tempelinneren entspringe wie im Paradies die vier Quellströme (Gen 2,10-14), er durchfließe die ganze Stadt und mache die Wüste fruchtbar. Hier fließt der Jordan, wild und frei, er hat nichts zu tun mit Jerusalem, und an seinen Ufern stehst du, Johannes! Wieso?» Nichts steht über diesem Mann, der sich vermißt, Gottes Wort den Weg zu bereiten, keine Behörde, keine Instanz, vor der er sich beglaubigen könnte. So aber wollen sie’s; anders sprechen sie ihm jede Legitimation ab. Also noch einmal: Wie kommt er dazu, zu taufen? Johannes der Täufer wiegelt in seiner Antwort die Frage als unwichtig ab. Priesterlich ist es zu denken, daß allererst der Kult Gott in die Kirche bringe, daß es die Priester seien, die im Kult zu «Gottesvätern» würden: die Priester zeugten und erzeugten durch ihre rituellen Aufführungen aller75

erst die Gegenwart des Göttlichen. So die Vorstellung der Priester in allen Religionen. – Johannes der Täufer denkt da viel einfacher, viel persönlicher, weil «prophetischer»: «Ich habe getauft», sagt er, «mit Wasser»; will sagen: «Alles, was ich tun konnte, bestand darin, der Sehnsucht der Menschen nach Reinheit rechtzugeben.» Sie lebt in allen. Irgendwann möchten sie aussteigen und aufsteigen aus dem Schmutz, aus dem Elend, aus dem ständigen Hinabgezogensein in den Morast von Lüge, Anpassung, Korruption und Selbstverrat; irgendwann möchten sie noch einmal ganz von vorn anfangen, wie wenn sie wieder neu zur Welt kämen, so ursprünglich, so unverfälscht wahr, wie sie’s im Grunde sind. «Bewirken kann ich das nicht», sagt Johannes ausdrücklich dabei, «aber den Menschen Recht geben in ihrem Verlangen nach einem unverfälschten Leben, das muß und möchte ich unbedingt. Denn den Menschen das abzusprechen, das hieße, sie für Gott unfähig zu machen.» In der Tat: die Sehnsucht der Menschen am Jordan nach Reinheit und Wahrheit ist unendlich viel mehr wert als all die geheiligten Zeichen und Bilder der Tempelverwaltung. Hier sind Menschen, die einfach sich vor Gott hinstellen. Und für diese Haltung der Gottunmittelbarkeit steht selber Johannes der Täufer; das ist die Art seiner Gottesvorbereitung, seiner «Prophetie». Worauf er hinweist, ist etwas schlechterdings Unbekanntes, Neues, Unableitbares, das keine Gesetzesauslegung und Schriftauslegung zu erklügeln vermag. Es wohnt mitten im Menschen und ist dennoch nicht greifbar. Das Paradox der «Menschwerdung» ergibt sich immer wieder daraus, daß das, was uns am Ende rettet, sich nicht einstellt aus verbesserten Verfahren kirchlicher oder gesellschaftlicher Einordnung; im Gegenteil, wir lassen uns ein auf etwas, das mitten in uns lebt; und dieses «etwas» tritt in Erscheinung, völlig überraschend für die anderen, unvermutet in jeder Hinsicht, ganz anders als von uns selber gedacht. Doch eben darin besteht die Chance unserer Personwerdung; da ist etwas, das in jedem geschehen kann, wenn ein wenig Liebe ihn berührt. Plötzlich entsteht da etwas, das in ihm schon immer angelegt war, und trotzdem: es existierte noch nicht, so daß man’s hätte vorhersehen oder vorhersagen können. Wenn es jetzt in Erscheinung tritt, so offenbart es sich deshalb wie ein reines Wunder. In einer merkwürdigen Verschränkung von Zeitlichem und Wesentlichem fügt Johannes jetzt hinzu: «Das, was da kommen wird, ergibt sich nicht aus dem, was ich bin, sondern umgekehrt verhält es sich: indem ich’s vorbereiten will, erweist es sich als Grund von allem, was ich möchte.» Sagen wir so: Alle Sehnsucht der Menschen wäre nicht vorhanden, 76

wenn sie sich nicht einer Wahrheit verdanken würde, die schon immer in ihnen liegt. «Du würdest», sagte der französische Philosoph Blaise Pascal einmal, «mich doch nicht suchen, wenn du mich nicht immer schon gefunden hättest.»3 Von keinem Gegenstand auf Erden läßt sich so etwas sagen. Unsere Brille, wenn wir sie suchen, haben wir eben nicht gefunden, ja, wir finden sie um so schwieriger, als wir sie, ohne es zu wissen, auf der Nase tragen. Bei jeder sachlichen Wahrheit, bei jedem Verhältnis zu einem Es, ist das erkenntnistheoretische Prinzip des Blaise Pascal schlechterdings unsinnig; aber im Persönlichen, im Religiösen, gilt es unbedingt: Wir sehnen uns nur nach etwas, das uns im Grunde immer schon gemeint hat. Wir lieben eigentlich immer nur das, was uns als innere Kraft von Ewigkeit her durchströmt, nur daß es sich plötzlich zusammenfügt: Es wird in uns ganz, es verschmilzt mit uns in einer neuen, so nie gekannten Form des Daseins. All die Fragen der Priester, der Leviten, der Pharisäer an Johannes den Täufer müßten wir jetzt noch einmal durchgehen, um sie in der Gestalt des «Christus», wie Johannes ihn sieht, konvergieren zu lassen. Er, dieser bis dahin Unbekannte, sagt der Täufer, sei das Lamm Gottes. Die Bibelausleger haben die begründete Vermutung, daß wir dieses Wort noch anders übersetzen sollten, weil das aramäische Grundwort im Griechischen schon mißverstanden worden sein könnte. Die johanneischen Schriften, so viel steht fest, also das Vierte Evangelium, die Johannes-Briefe und vor allem dann die Geheime Offenbarung, die ebenfalls unter dem Namen Johannes firmiert, stellen die einzige Schicht im Neuen Testament dar, die von Jesus redet als dem Lamm Gottes. Was sich damit verbindet, entstammt im Grunde priesterlichem Gedankengut und bietet eine Deutung des Kreuzestodes Jesu nach dem Vorbild einer Prophezeiung aus Jesaja 53,7: der Knecht Gottes werde wie ein Opferlamm an der Schlachtbank sterben, ohne Widerstand, ohne Klage. Auch das Pessahlamm, das man schlachtete, um im Vergießen seines Blutes Gott mit den Sünden der Menschen zu versöhnen, verband sich mit dieser Vorstellung. Das also sieht Johannes der Täufer vor sich, als ihm Jesus begegnet. So der wörtliche Text des Johannes-Evangeliums. So denn auch malten es vor allem die Maler des Mittelalters und der Renaissance-Zeit: Johannes der Täufer weist hin auf ein Lamm, aus dessen Seite das Blut in den Kelch der christlichen Abendmahlsfeier fließt (Abb. 1). So betrachtet, wiese Johannes der Täufer auf Jesus hin als auf den Neubegründer eines nun nicht mehr jüdischen, sondern christlichen Kultes. So aber denkt der Evangelist eigentlich nicht; gerade dem Johannes-Evangelium liegt nicht an der Einrichtung von «Sakramenten», sondern an der Änderung der menschlichen 77

Existenz durch das Wort, das in der Person Jesu erklingt. Dem griechischen «Lamm» liegt denn auch der aramäische Ausdruck talja zugrunde, der soviel heißen kann wie Diener oder Knecht, und so wäre ursprünglich der Text wohl zu verstehen gewesen: Nicht das Lamm, sondern der Knecht Gottes im Sinn des Jesaja, sei Jesus in den Augen des Johannes, er sei die Verkörperung des leidenden Gerechten, der durch seine Person alle Menschenschuld auf sich geladen und fortgetragen habe, um uns zu befreien. Der Unterschied zwischen beiden Vorstellungen liegt auf der Hand. In dem einen Fall geschieht das Entscheidende durch ein priesterliches Ritual, in dem anderen Fall durch die persönlich gelebte Existenz. Beide Auffassungen müssen sich nicht absolut widersprechen, aber richtig verstehen läßt sich beides wohl nur, wenn wir begreifen, was denn unter der Schuld zu verstehen ist, die weggenommen wird durch das «Opfer» eines Unschuldigen (Tiers oder Menschen). Gewöhnt sind wir an die Lehre der kirchlichen Dogmatik, daß Jesus durch das Opfer seines Lebens Gottes Zorn beschwichtigt habe; er, der allzeit Gerechte, habe uns, den Ungerechten, schließlich vergeben aufgrund des Sühneopfers des einzig Sündelosen. Lehren, die so paradox sind, lassen sich nicht rational auflösen; sie sind schlechterdings archaisch; wenn man sie überhaupt sinnvoll interpretieren will, muß man sich an die Psychologik der Vorstellungen und Mechanismen im Unbewußten des Menschen halten. Es geht um die Frage: wie ereignet sich «Erlösung»? Gehen wir, statt von dem kultischen Bild des sterbenden «Gottesknechtes», einmal aus von der Erfahrung, wie ein Mensch einem anderen «Schuld» «fortnehmen» kann. Ein Erfahrungsraum, an dem das geschehen kann, ist idealtypisch ein therapeutisches Gespräch, ein heilsamer Dialog zwischen Ich und Du, bei dem einer der Gesprächspartner eintaucht in die Fragen, Klagen, Anklagen, Vorwürfe, Entwürfe, Übertragungen, kurz, in die unbeglichenen Rechnungen im Leben des anderen. Was man dabei deutlich spürt, ist die Tatsache, daß es nicht möglich ist, sich über Schuld zu unterhalten wie über einen fremden Gegenstand, also sich gewissermaßen von Amts wegen wie ein Pastor im Beichtstuhl, in objektiver Distanz, anzuhören, wie der andere seine Vergangenheit ausbreitet. Nur wenn der Hörende selbst mitbetroffen ist durch die Erkenntnis seiner eigenen Fehlbarkeit, kann sich zwischen zwei Menschen Vergebung ereignen. Es ist natürlich nicht damit getan, daß der eine dem anderen sagt: «Ich habe hier und da dies und das falsch gemacht», es geht vielmehr darum, daß der eine dem anderen hilft, die Frage zu beantworten: Wer bin ich denn selbst, wenn ich auf diesem Wege gegangen bin, der mir im Rück78

blick oder schon damals als Schuld erscheinen muß oder mußte? Wo stand ich damals? Wer war ich damals? Diese Frage: wer bin ich denn selbst? läßt sich nur beantworten, wenn jemand ohne Vorwurf und ohne zu richten begleitend mitgeht. Eben deshalb kann das Beispiel eines psychotherapeutischen Gesprächs als Modell hilfreich sein. Eine Frau, ein Mann klagen sich wegen bestimmter Vorkommnisse oder Verhaltensweisen in ihrem Leben an; Erlebnisse sind das, derentwegen sie sich immer schon geschämt haben bis in die Gegenwart, – so wie sie damals waren, wollten sie nicht sein. Sie haben sich ihren Fehler im Grunde niemals verziehen, vor allem weil ihnen die Folgen ihres Tuns so deutlich vor Augen stehen. Sie haben anderen Menschen weh getan, sie haben andere Menschen durch ihr Verhalten für immer geschädigt; das ist ihre Schuld, und sie läßt sich nicht durch irgendeine magischsakramentale Absolutionsformel aus der Welt schaffen. Wie soll ein solcher Konflikt sich anders lösen, als indem der eine (der «Therapeut») mit dem anderen sich auf den Weg macht und noch einmal alles durchgeht, was damals war? Zu fragen ist also: Wie stellte die Situation sich damals dar, als es zu der Schuld kam? Wie viele Möglichkeiten, sich anders zu verhalten, gab es eigentlich? Wieviel Spielraum hatte das eigene Ich, anders zu handeln, als es dann tat? Wieviel Einsicht stand ihm zur Verfügung? – Je genauer man hinsieht, desto gerechter wird das Urteil, das heißt genauer gesagt: desto sicherer hebt all die «Gerechtigkeit» einer äußeren Bewertung sich auf; es gibt keine Maßstäbe mehr, die starr die Welt einteilen könnten nach Richtig und Falsch, nach Gut und Böse; und vor allem: der übliche retrospektive Trick versagt, das Zurückliegende vom sicheren Ufer der Gegenwart aus zu bewerten, sozusagen aus Schaden klug geworden. Alles, was war, erzählt sich unabgegolten noch einmal, so offen, wie es damals war, und die Frage stellt sich, was jetzt zu tun ist. Eine Antwort darauf läßt sich nicht von außen finden; nur durch eine langsam reifende Bewußtwerdung der damaligen Motive und Zusammenhänge, nur durch eine tiefere Einsicht in die Art der eigenen Persönlichkeit, legt nach und nach eine Lösung sich nahe. Bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist die alte Schuld der Seele eingebrannt wie ein fremder Besitzstempel; und sie läßt sich ins Leben nur integrieren, wenn man die Situation von damals durch eine neue Stellungnahme in die eigene Freiheit übernimmt. Je dichter ein Mensch einem anderen auf den Stadien seines Lebensweges kommt, wird dieses Gefühl einer Akzeptation im ganzen, einer Aufhebung der Schuld, sich ausbreiten. Und wie hängt dies mit dem Bild von dem Opferlamm oder dem Got79

tesknecht zusammen? mag man sich fragen. Nun, da wird jemand willentlich belastet durch das, was einem anderen Menschen so schwer war; er kann das um so leichter, als es ja sein Leben nicht ist; nur – er trägt es weg durch seine Nähe, er nimmt es fort durch seine Worte, durch seine Person und am meisten durch seine Liebe. Das alte Bild in den Gottesknechtsliedern des Jesaja meint: Menschen, die so handeln, tun, was Gott will; sie sind die Dienstboten Gottes; – der Ausdruck «Knecht Gottes» klingt in unseren Ohren, wie aus dem Umfeld der Sklaverei entlehnt, entwürdigend; sagen wir daher: Sie sind Gottes Lieblinge, sie sind seine wirklichen Kinder, sie sind seine eigentlichen Söhne. In dieser Deutung ahnen wir auch bereits, was das Johannes-Evangelium sagen will, wenn es Jesus immer wieder als den Sohn (Gottes) bezeichnet; das Bild vom Lamm Gottes aber setzt nur kultisch nach außen, was mit der Rede vom Knecht Gottes gemeint ist. Erst damit löst die Paradoxie der christlichen Opfertheologie sich auf. Denn natürlich möchten wir das niemals, daß jemand stellvertretend für uns leidet; wir wollen nicht durch eigene Schuld einen anderen Unschuldigen zugrunde richten. Was bleibt, ist allerdings die Notwendigkeit, daß wir manchmal durch verschlossene Türen gehen müssen; daß dabei mancher Weg, der sich neu öffnen könnte, oft genug verbarrikadiert wird von alten Ängsten; daß die Umgebung in aller Regel Menschen ablehnen wird, die etwas Neues versuchen; daß insbesondere in Sachen Gottes jede Freiheit wegzensiert zu werden pflegt von den Festeingefahrenen, von den Gottesbeamteten, die als Gottesdiener auftreten, von den Gottesexperten, die den Suchenden im Wege stehen, von den mit Gott Geld und Geltung Verdienenden, die alle Sich-Öffnenden als eine Gefahr empfinden. Eben daran liegt es, daß das Schicksal von dem «leidenden Gerechten» in Israel in den letzten Jahrhunderten vor Christus zu einem Typus religiöser Existenz werden konnte: Wer im Namen Gottes den Menschen Freiheit bringen möchte, gerät notgedrungen immer wieder in einen Konflikt auf Leben und Tod. Die Größe Jesu ohne Zweifel lag und liegt darin, daß er vor dieser Herausforderung nicht zurückwich. Normalerweise macht der Tod uns Angst, wir ziehen uns zurück, wir lassen uns von der drohenden Zukunft wieder zurückdrängen in den breiten Strom des Immer-Gewesenen; das Überschreiten der Schwelle fällt uns zu schwer. Jesus aber war diese Öffnung quer durch die Sperrwand der Angst; er ging hindurch durch seine Angst. Deshalb war er der Gottesknecht oder das Gotteslamm oder schlechtweg: die Tür. Es wird eines der schönsten Worte der Gehei80

men Offenbarung schließlich sein, wenn es gleich am Anfang schon heißt: «Ich sah eine Tür geöffnet im Himmel.» (Offb 4,1) Das ist die wohl sprechendste Deutung des Bildes vom Gotteslamm: Grenzen zu überschreiten, Zwingburgen der Vergangenheit für die Zukunft zu öffnen, Menschen zu erlösen von Angst und Schuld – eine Tür zu werden für Eingeschlossene. Von daher können wir das, was einmal Messias oder Elia oder Mose hieß, in unsere Sprache neu übertragen. Jesus nimmt wirklich das auf, was Johannes nicht sein konnte und wollte. Wohl, er ist kein «König» nach der Art von David oder von Salomo, er ist kein nationaltheologischer Heros, er ist kein Führer auf dem Weg in einen heiligen oder gerechten Krieg, bei dem die himmlischen Heerscharen auf seiten der schärferen Schwerter stets siegreich fechten, ganz im Gegenteil: Jesus tritt auf als jemand, der den Menschen ein Gefühl für ihre eigene Souveränität, für ihre eigene königliche Natur schenkt. Das macht ihn zum «Messias» am «Ende der Tage», das zum Vollender des Glaubens. In gleichem Sinne ist Jesus in gewisser Weise auch ein wiedergekehrter Elia, doch wieder ganz anders als das historisch-legendäre Vorbild. Jesus mordet nicht wie jener die Baalspriester, er kämpft nicht mit Haß und Fanatismus gegen die Götzen der Heiden, er löst ganz einfach die Angst in unserer Seele auf, die immer wieder geneigt macht, Gott zu einem Götzen zu erniedrigen und die eigene Psyche in eine Vielzahl von Schreckgestalten zu zerlegen. Das Vertrauen, das der Mann aus Nazaret vermittelte, gab den Menschen ihr Ich zurück und zeigte ihnen Gott als eine einzige in sich vertrauenswürdige Person. Das in der Tat ist Jesus: ein Elia, der nicht mehr gewalttätig kämpfen muß gegen die Zersplitterung der Seele des Menschen in eine Vielzahl widersprüchlicher «Götzen», sondern der die zugrundeliegende Angst auflöst durch seine gütige Gegenwart. Eine Nebenbemerkung scheint sinnvoll. In der Religionsgeschichte der Menschheit gab es niemanden, der dieser Elia-Zeichnung des Jesus näher käme als im Alten Indien der Buddha. Er kämpfte nicht wie Elia am Karmel gegen den Götzen-, Dämonen- und Brahmanenglauben, er beseitigte all das ganz einfach, indem er zeigte, woher in der Seele des Menschen all diese Vorstellungen aufsteigen; wenn ein Mensch sich nur ruhig hinsetzt und zu sich selbst findet, so die Erfahrung und Lehre des Buddha, so würden all die Gespenster von selber sich auflösen; der Buddha mußte die Götter des Brahmanismus nicht ausrotten; eine Seele, die sich klärt, beseitigt wie von selbst die Projektionsformen der abgespaltenen Anteile der menschlichen Psyche nach außen. Ist dazu eine Taufe nötig? Der Ritus des Taufens war schon im Alten Indien bekannt; aber der Buddha erledigte das 81

Baden im Ganges unter den Augen der Priester mit einem einzigen Satz: «Warum zum Flusse gehen? Er ist nur Wasser!» – Daß ein Mensch rein wird nicht durch eine Formel noch durch einen Ritus, sondern allein durch die Reinheit seines Lebens, das war um 500 v. Chr. gelebte geistige Überzeugung in Indien. Johannes der Täufer wird selbst die Gestalt des Mose in Jesus vorweggenommen und wiedergekehrt finden, dargestellt in dem Bild vom Auszug aus Ägypten, in dem Symbol für das Ende der Unterwürfigkeit unter fremdem Machtbefehl. Für eine solche Befreiung nach innen wie außen steht die Person Jesu auch in historischem Sinne. Wer aufhört, Gott auf neurotische Art zu fürchten, wer frei wird im Vertrauen auf Gott, für den gibt es auch keine menschlichen Mächte mehr, die im Namen Gottes über ihn regieren könnten. Was für ein Irrtum deshalb, aus diesem Mann aus Nazaret einen neuen Römischen Staat in Form einer zentral regierten Kirche entwickelt zu haben, erneut mit der Unterwerfungsforderung gegenüber den allzu gehorsamen Untertanen! Welch ein Irrtum dann, die Freiheit des Mose beim Auszug aus dem Land der Fremdherrschaft in Ägypten rückzuverwandeln in ein vatikanisches Staatswesen, in das Menschen eingegliedert werden wie gehorsamspflichtige, weisungsabhängige Untertanen! Welch ein Unding vor allem, aus diesem zweiten Mose in Gestalt der Papstmonarchie einen römischen Cäsar gemacht zu haben, zum Verwechseln ähnlich dem historischen David, aber nicht diesem neu verstandenen Bild des Messias! Johannes der Täufer wird im Johannes-Evangelium seine Überzeugung in der Gestalt eines neu sich entwickelnden Mythos wiedergeben. Die ersten drei Evangelien sprechen von einer Erfahrung, die Jesus bei seiner Taufe gemacht habe; das Vierte Evangelium hingegen erklärt, Johannes habe gesehen, wie der Geist Gottes zu dem Mann aus Nazaret herabstieg gleich einer Taube und auf ihm ruhte. Die Frage bleibt natürlich, wie man die Geistbegnadetheit eines Menschen erkennt, außer indem man sich selber vergeistigt. Nur ein inneres Sehen mit den Augen der Seele nimmt den Herabstieg einer solchen Taube des Geistes wahr. Sucht man für die Taube als Bild des Heiligen Geistes ein religionsgeschichtliches Vorbild, so müßten wir es unter anderem im Alten Babylon suchen. Die Taube war dort ein Symbol für die Göttin der Liebe, für die Göttin Ischtar. In dieser Bedeutung übernehmen im 4. Jh. vor Christus die Griechen das Symbol der Taube. Überall in den Tempeln der Astarte oder der Aphrodite findet sich ihr Bild. Die Griechen nannten sie denn auch «das Tier der Astarte» – so eng gehörten für sie die Taube und die göttli82

che Kraft der Liebe zusammen. Auch in der christlichen Ikonographie ist das Bild des Heiligen Geistes identisch mit der Liebe Gottes, die alles durchzieht. Was Johannes der Täufer, so verstanden, bei der Herabkunft des Geistes über den Mann aus Nazaret im Bilde der Taube sieht, weist darauf hin, daß das ewige Gespräch zwischen Ich und Du, zwischen Mensch und Gott, daß der Dialog der Liebe sich so verinnerlicht und so vergeistigt, daß er den ganzen Menschen umgreift. Der Mann, der ausziehen wird, den Menschen die Augen zu öffnen im Dunkeln, auf daß sie das Licht sehen, das sie umspielt, und der sie erfüllt mit dem Traum einer schwebend fragenden Liebe, der selber wird hier gesegnet mit eben der Kraft, auf die er zugeht. Alles ist da ganz innerlich, alles gebunden an den Rapport eines unzerstörbaren Vertrauens. Dieser Mensch ist für das Johannes-Evangelium der Sohn. Wir können auch sagen: Er ist das ewige Du; er ist der, mit dem wir sprechen können, wenn sonst niemand sich findet; er ist das Zwischen-uns, wann immer ein Mensch den andern findet. Er ist in allem das Wort, das Licht, die Wahrheit, die Gnade, das Leben … Noch haben wir nicht einmal auch nur das erste Kapitel des Johannes-Evangeliums miteinander gelesen, da halten wir bereits die Aussage des Vierten Evangeliums in Form einer fraktalen Darstellung des Ganzen in Händen; und wir lernen vor allem bereits, wie sich die sonst nur sehr schwer verständlichen, weil dogmatisch verfestigten (und zudem antijudaistisch belasteten) Christusbekenntnisse und Offenbarungsreden des Johannes-Evangeliums Zug um Zug in unser eigenes Leben und Erleben übersetzen lassen.

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Joh 1,35-51: Von der Nachfolge oder: Zwei Arten von Berufung 35Tags

darauf stand Johannes wiederum da und zwei von seinen Jüngern. 36Und sein Blick fiel auf Jesus, wie er eben des Wegs kam; da spricht er: Da, das Lamm (der Knecht) Gottes! 37Da hörten die beiden Jünger, wie er sprach, und sie sind Jesus gefolgt. 38Umgewandt hat sich Jesus, er sah sie folgen, und sagt zu ihnen: Was sucht ihr? Die aber sprachen zu ihm: Rabbi – das heißt übersetzt: Meister –, wo ist deine Bleibe (14,2)? 39Sagt er ihnen: Kommt, seht selbst. Sie gingen also und sahen, wo seine Bleibe war, und sie blieben bei ihm jenen Tag. Es war um die zehnte Stunde. 40Nun war Andreas, der Bruder des Simon Petrus, einer von den beiden (Mt 4,18-20), die es von Johannes her gehört hatten und ihm gefolgt waren. 41Der findet zuerst seinen eigenen Bruder, den Simon, und sagt ihm: Wir haben ihn gefunden, den Messias! – das heißt übersetzt: Christus (den Gesalbten). 42Geführt hat er ihn zu Jesus. Als sein Blick auf ihn fiel, hat Jesus gesagt: Du bist Simon, der Sohn des Johannes. Du sollst Kephas genannt werden, übersetzt: Petrus (der Fels) (Mt 16,18). 43Tags darauf wollte er ausziehen nach Galiläa. Da findet er Philippus, und Jesus sagt ihm: Folge mir! 44Philippus aber war aus Betsaida, aus der Stadt des Andreas und Petrus. 45Philippus findet Natanaël, und er sagt ihm: Von dem Mose schrieb im Gesetz (Dtn 18,18) und auch die Propheten (Jes 53,2; Jer 23,5; Ez 34,23), den haben wir gefunden: Jesus, den Sohn des Joseph von Nazaret. 46Doch Natanaël hat ihm gesagt: Aus Nazaret – kann da was Gutes sein (7,41)? Sagt ihm Philippus: Komm, sieh! 47Gesehen hat Jesus Natanaël auf sich zukommen und sagt über ihn: Da, wahrhaftig, ein Israelit, an dem kein Trug ist. 48Sagt ihm Natanaël: Woher kennst du mich? Geantwortet hat Jesus, er hat ihm gesagt: Bevor dich Philippus rief, als du unter dem Feigenbaum warst, hab ich dich gesehen. 49Geantwortet hat ihm Natanaël: Rabbi, du bist der Sohn Gottes, du bist der König Israels (6,69; Ps 2,7; Jer 23,5; Mt 14,33; 16,16). 50Geantwortet hat Jesus, er hat ihm gesagt: Weil ich zu dir sprach: Gesehen habe ich dich unterm Feigenbaum, vertraust du? Mehr als das wirst du sehen! 51Und er sagt ihm: Bei Gott, ja, bei Gott, ich sage euch: Ihr werdet sehen: den Himmel geöffnet und die Engel Gottes aufsteigen und niedersteigen über dem Menschensohn (Gen 28,12; Mt 4,11).

Im Deutschen liegen die Worte Beruf und Berufung dicht beieinander; sie kommen zusammen, wenn Innen und Außen ganz zusammenstimmen, – 84

wann aber ist das der Fall? Der «Beruf», in dem jemand sein Geld verdient, um zu leben, steht oft genug im Widerspruch zu dem, wozu er sich eigentlich «berufen» fühlt. Wer schon hätte nach eigener Wahl entscheiden dürfen, was er beruflich macht und was im Beruf aus ihm gemacht wird? In rein mechanischem Tun mehr als ein Drittel des Lebens vollkommen sinnlos, von außen getrieben, in Zusammenhängen, die die eigene Person kaum meinen, dahinzubringen, – das ist das Schicksal der absolut überwiegenden Zahl der Menschen in den Industrienationen. In seinem Film-Drehbuch Rote Erde erzählt Peter Stripp zum Beispiel die Geschichte des Ruhrbergbaus; Klaus Emmerich hat in den achtziger Jahren im Auftrag des WDR in neun Teilen den Stoff für das Fernsehen bearbeitet. Gezeigt werden Menschen, die von früh bis spät unter der Last der gesellschaftlichen Verhältnisse leiden und kaum dazu erwachen, ihre eigene Persönlichkeit zu entfalten. Diese Männer unter Tage leben wie in ewiger Nacht, selbst wenn sie erschöpft und ermüdet schließlich ausfahren. Und die Frauen an ihrer Seite nicht anders. Sie mögen schön sein, sie mögen intelligent sein, sie mögen voller Träume sein, – sie werden in Wirklichkeit immer wieder dieselbe Wäsche waschen, verschmutzt bis zur Unkenntlichkeit, für die Gefährten ihres Lebens, an die sie in einer Art Haßliebe und durch wirtschaftliche Abhängigkeit gebunden oder gefesselt sind. Nur ganz selten geschieht es, daß so etwas in ihr Leben dringt wie ein Ruf zu sich selbst, und wenn er sich ereignet, so führt er in aller Regel zu einem Leben am Rande des Legalen, des Verborgenen, des wieder Dämmrigen und Zwielichtigen. Eigentlich sollte die Religion Menschen, die so leben müssen, um so mehr und um so notwendiger zeigen, wozu sie berufen sind, was mit ihnen als Personen gemeint ist. Aber die Religion, die diese Menschen vorfinden, besteht im wesentlichen aus Riten und Redensarten. Eine der Schlüsselszenen dieses Films, etwa um 1910 spielend, behandelt die Frage, ob ein evangelisch Getaufter und eine Katholische einander heiraten dürfen. Die Kirche steht dagegen; die Römische Kirche erlaubt eine solche Eheschließung nur im Fall des Versprechens, daß alle Kinder katholisch erzogen werden – eine Bestimmung, die im Prinzip sich bis heute nicht geändert hat. In dieser Situation geht der pommersche Kumpel Bruno Kruska zu dem alten Pfarrer, der mit ihm so oft zusammen getrunken hat, – man hat ihn versetzt auf eine andere Stelle wegen seiner arbeiterfreundlichen, gewerkschaftsnahen Haltung. Der Pfarrer schenkt wieder als erstes dem heiratswilligen Bruno ein Glas ein, aber auch er kann nicht anders sprechen, als es die katholische Kirche ihm vorsagt. Es kommt sinngemäß zu folgendem Dialog: 85

«Ich will mal so fragen: Was würde denn Jesus Christus über die Sache denken, nehmen wir mal an, wenn es gar keine Kirche gibt, keine katholische und auch keine protestantische? – Du bist dir hoffentlich klar darüber, … daß solche Fragen nur ein Ketzer stellt? – Ich meine ja nur … Würde er uns seinen Segen geben oder nicht?»1 An Problemen dieser Art scheitern unter der Verwaltung des Glaubens im Namen der Kirchen Menschen seit vielen Generationen. Das, was sie von Gott hören, ist nicht das, was Gott sagen würde und was sie brauchen würden, um zu leben und zu lieben. Alles muß deshalb offenbar noch einmal von vorn anfangen. Aber wie? Im kirchlichen Sinn durchaus kein Gläubiger war der norwegische Maler Edvard Munch; eines seiner schönsten Bilder widmete er dem Thema der Berufung. In einer weißen norwegischen Nacht unter dem Spiel des Mondes malte er eine blau-weiß gekleidete Frau, die Arme auf den Rücken gelegt, wie passiv hingegeben, den Kopf nach hinten geneigt, auf etwas lauschend – einen unhörbaren Ruf, der nur sie meint und der aus der Stille ihr Herz berührt. Die Stimme heißt denn auch dieses Bild, das Edvard Munch immer wieder in verschiedenen Techniken dargestellt hat (Abb. 2). Jeder spürt beim Anblick dieser Frauengestalt, daß sie eine sehnsüchtig Wartende ist; ihr Ruf, – das wäre ein leises Wort der Liebe, das nur ihr, ganz intim und persönlich, gilt, unvertauschbar, nur an sie gerichtet; man weiß nicht, träumt sie oder erfährt sie’s wirklich, glaubt sie’s nur oder trifft es ein? Wo ist die Trennung zwischen dem einen und dem andern? Ununterscheidbar in dieser Mondnacht fließt alles ineinander, wie das Licht und das Wasser, wie Meer und Festland, wie Wind und Ufer. Seit dem 19./20. Jh. wird man Religion gar nie mehr anders verstehen denn als eine Form der Wiedergeburt in jenem allerpersönlichsten und allerprivatesten Raum, den wir Liebe nennen. Das Johannes-Evangelium jedenfalls schildert die Religion in gerade dem Zustand, der in manchem der Not und dem Leid, dem Zerbrechen und dem Suchen vieler Menschen in der Moderne entspricht. Alles bei der Berufung durch Jesus und zu Jesus beginnt im Kreise Johannes’ des Täufers, in einer Gruppe von Menschen also, die der offiziellen Religion der Sadduzäer und der Pharisäer den Rücken gekehrt haben. Die meisten Interpretationen des Johannes-Evangeliums, wenn sie sich mit der Gestalt des Täufers beschäftigen, übersehen diesen Ausgangspunkt. Sie stellen in christlicher Absicht die Zusammenhänge sehr harmonisierend 86

dar: Johannes der Täufer sei der «Vorläufer» gewesen, Jesus die Erfüllung; in dieser Betrachtung ist Johannes im Grunde selber ein vorweggenommener Christ. Aber man vergißt bei dieser Darstellung, daß Johannes der Täufer als erstes mit dem Jerusalemer Tempel, mit dem Kult des priesterverordneten Gottes im Heiligtum ebenso gebrochen hat wie mit den thorajuristischen Ableitungen der Schriftgelehrten, die mittlerweile Gott kasuistisch in einem unglaublichen Netzwerk von verschachtelten Erklärungen verpackt hatten. Johannes der Täufer demgegenüber meint den Menschen, weil er sich selber von Gott gemeint fühlt. Er ist selber die gestaltgewordene Berufung, und daraus resultiert sein Beruf, Gott durch sein Ich, durch seinen Mund, durch seine Person zur Sprache zu bringen und die Menschen herauszurufen aus dem Gitterwerk der vorgefertigten Erklärungen aus verfeierlichter Tradition und verwalteter Macht. Johannes der Täufer möchte die Menschen zurückbringen zu ihrem Ursprung. Dieses Ziel verrät vor allem das Bild der Taufe. Niemand – soviel besagt allein diese äußere Szenerie seines Auftretens – wird die Person Jesu suchen, finden oder verstehen, der sich nicht vom Offiziellen weg bis zu diesem Grenzort am Jordan, am Rande der Wüste, hinbewegt hat, – nicht räumlich, sondern existentiell. Wer immer noch festhält an der einfachen Gleichung: das Tradierte ist das Wahre, das Volksübliche und Allgemeine ist das in sich selber immer schon Göttliche, wer diese Vermengung der herkömmlichen Art von Gottesauskunftei mit wirklichem Glauben nicht überwindet, der braucht Jesus nicht wesentlich, der darf sich nicht einmal erlauben, auch nur die Fragen zu stellen, auf welche der Mann aus Nazaret entscheidend antworten könnte. Alles entsteht hier aus einem ungeheuren Aufbruch, aus einer göttlichen Ungeduld, aus einem Wissenwollen unter Inkaufnahme des Zerbrechens von allem, was war. Erst nachdem diese Bewegung vollzogen ist, soll und kann, nach der Erklärung des Johannes-Evangeliums, der Täufer selber seine eigenen Jünger hingewiesen haben auf den Mann, der da kommt, auf Jesus von Nazaret. Erkannt hat er ihn selbst für sich am Vortage schon; nun aber gibt er diese seine innere Erkenntnis den eigenen Schülern mit auf den Weg: Er ist das Lamm Gottes. Das ist ein Wort, von dem wir schon wissen, daß es nur in den johanneischen Schriften auftaucht und vermutlich eine Fehlübersetzung aus dem Aramäischen darstellt. Gemeint gewesen sein dürfte einmal die Aussage, Jesus sei der Diener oder der Knecht Gottes; beide Vorstellungen gehen zurück auf Texte des Zweiten Jesaja und meinen, ineinanderfließend, die Person eines Menschen, der nichts weiter will als zu tun, was Gott von ihm möchte; doch indem er das tut, wird er notwendig ausgesetzt 87

sein allem Spott, allem Haß, aller Verfolgung und schließlich sogar einem ehrlosen Tod; er wird ihn auf sich nehmen wie ein Lamm an der Schlachtbank (Jes 53,7). Beides, die Dienerschaft Gottes und das Eintreten bis zum Opfer, ist da ein und dasselbe. Wenn wir von dem Lamm Gottes hören, ist uns die rituelle Vorstellung unausweichlich, daß Gott ein Opfer dargebracht werden soll, um ihn, den Gerechten, mit der Schuld der Menschen zu versöhnen. Wir haben dieses theologische Konstrukt bereits erörtert; hinzufügen müssen wir aber, daß religionspsychologisch diese Rechnung niemals aufgeht. Solange Menschen ihrer Gottheit opfern müssen, leben sie in der Angst vor Strafe, vor Hinrichtung für ihre Schuld, wähnen sie, daß sie Vorleistungen bieten müssen, um den Zorn der Gottheit, im letzten Moment womöglich noch, von sich abzuwenden. Unter diesen Umständen lieben sie Gott und hängen sie an ihm; aber indem sie ihn fürchten und als bedrohlich erleben, hassen sie ihn auch immer wieder als einen unabwendbaren Verfolger, als einen unnachsichtig Strafenden, als einen grimmigen Würgeengel, und zwischen Liebe und Haß kommen die Menschen nicht zurecht; in ihnen spaltet sich das Bild von Gott, und damit spaltet sich zugleich ihr eigenes Ich. Wenn sie Gott unter diesen Umständen «gehorsam» sind, dann sind sie zugleich auch immer rebellisch; nie sind sie in sich geschlossen, nie einfach ganz. Es ist deswegen außerordentlich wichtig zu begreifen, daß gerade der Prophet Jesaja Gott immer wieder schildert als jemanden, der vergibt: Wenn eure Schulden rot wären wie Scharlach, abwaschen will ich sie, spricht der Gott Israels, daß sie weiß werden wie Schnee, weiß wie Wolle. Würde selbst Vater und Mutter dein vergessen, dann doch nicht ich, dein Gott (Jes 1,18; 49,15). Es ist der Prophet Jesaja, der Israel in ein Vertrauen rufen möchte, das unbedingt und absolut gilt über jeden Bruch, über jede Zerstörung. Gerade das aber muß die Gestalt des Gottesknechtes bei Jesaja immer wieder in den Augen der Priester und der Schriftgelehrten zweifelhaft und suspekt gemacht haben: Dieser Mann wird durch die Gassen gehen, nicht laut schreiend und rufend, sondern mit leiser Stimme. Er wird die zerbrochen am Boden Liegenden nicht unter den Füßen seiner Rechthaberei zertreten, er wird sie aufrichten. Er wird den glimmenden Docht, der doch ringt, Licht zu sein und zu bleiben, nicht verlöschen lassen. Er wird die Wärme und das Licht retten im Wind und seine Hände und sein Herz darum schließen (Jes 42,2-4). In diesem Sinn hat das Zeugnis, das Johannes dem Täufer in den Mund gelegt wird, vollkommen recht: Jesus ist der Knecht Gottes, der Diener Gottes, das Lamm, das hinwegnimmt die Sünden der Welt. Nicht daß 88

Jesus selber sich hätte opfern wollen, um Gott zu versöhnen – diese priesterliche Idee war ihm vollkommen fremd so wie vielen Propheten seines Volkes –, aber er scheute nicht die äußerste Auseinandersetzung. So war es. Er wollte nicht einen Zentimeter zurückweichen hinter seine Überzeugung, hinter das, was ihm für seine Berufung galt, was ihm als Wille Gottes feststand. Wenn denn einzutreten für Gott immer wieder bedeuten muß, über gewisse Grenzen hinwegzuschreiten und einzudringen in die Verteidigungszonen der Gesetzesbesitzer, dann wagte er’s, dann riskierte er’s. Das war’s ihm wert. Wenn man den Einsatz von allem für etwas, das sich lohnt, als Opfer bezeichnet, dann freilich wäre es nicht ganz falsch, zu sagen: Jesus «opferte sich»; zumindest wollte er nicht vermeiden, was sich aus seinem Verhalten ergab; da wurde er zum Lamm Gottes. Das alles bis dahin ist nichts weiter als ein Hinweis aus dem Munde des Täufers, es ist soviel wie das johanneische Glaubensbekenntnis. Wir Heutige aber haben gerade damit ein Problem. Mehr oder minder nämlich gibt es wohl niemanden, der nicht im Rahmen einer «christlichen Erziehung» in dieser Auffassung geradewegs erzogen wurde; so hat man’s ihm beigebracht, so mußte er’s glauben: Jesus Christus ist das Ziel aller menschlichen Bemühungen. Doch nun kommt etwas ganz Erstaunliches. Zum einen sollte man denken, daß Johannes der Täufer selber sich aufgemacht hätte, Jesus zu finden. So weit aber geht die historische Verformung offenbar denn doch nicht, um die Zusammenhänge in dieser Weise darzustellen. Erzählt wird zum anderen, aus dem Jüngerkreis des Johannes hätten zwei sich aufgemacht, Jesus zu suchen; aber wie sie das tun und daß sie es überhaupt tun, wird im folgenden zu einem symbolischen Leitfaden existentieller Sinnsuche. Wie findet man Jesus? Offenbar genügt es für den Vierten Evangelisten überhaupt nicht, eine bestimmte Formel, ein bestimmtes Bekenntnis über Jesus vernommen und sich so eingeprägt zu haben, daß man es wieder und wieder hersagen könnte. Entscheidend für ihn ist, daß alles, was man jemals von Jesus gehört hat, zu einer Standortveränderung führt, weg von all dem, was man bis dahin ideologisch gelernt hat. Es gilt, dem nachzugehen, was man da gehört hat, ganz wörtlich, ganz buchstäblich, doch dieses «Nachgehen» kann sehr, sehr lange währen. Durchsetzt ist es in aller Regel mit eigenen Zweifeln, mit eigenen Stufen der Verzweiflung. Weiß man denn, ob es so stimmt? Wie wird das von außen Gehörte zu einer eigenen Überzeugung und Einsicht? Wie findet man im eigenen Leben Anruf und Berufung, und welch eine Rolle kann dabei die Person des Mannes aus Nazaret spielen? 89

Vorgelegt ist uns auch und gerade im Johannes-Evangelium eine Art garantiert richtiger christologischer Bekenntnisformel, aber wie erfüllt sich ein solch fertiges Bekenntnis in unserem Leben? Das ist das Entscheidende. Die dogmatische Formel selber kann in der Tradition noch so oft geschrieben sein, – entdecken wir nicht, jeder für sich, ihre Wahrheit, so ist oder bliebe alles umsonst. Niemand hat in diesem Punkte klarer gesehen als vor 150 Jahren der dänische Religionsphilosoph Sören Kierkegaard. Er meinte, zweitausend Jahre Christentum bewiesen überhaupt gar nichts, weder für seine Wahrheit noch für die eigene persönliche Existenz als Kirchen-Christ. Daß jemand mitmarschiert, wie man’s ihm beigebracht hat, daß er dabei im großen Haufen ist, – was hat das zu tun mit der eigenen Person? Selbst daß bestimmte Lehren der Kirche durch die Geschichte gehen und sich eine Weile lang dort erhalten, beweist keinerlei Wahrheit, im Gegenteil, es ist gerade das religiös Verführerische; es bringt uns dahin, uns sicher zu wähnen in dem Geschichtlichen, statt selber zu leben heute2. Nicht die Berufung damals, sondern die eigene Existenz jetzt ist entscheidend. Religion ist durchaus nichts zum Aufsagen, sie ist ein Anruf zum Selber-Tun, besser: zum Selber-wirklich-Werden. Wie entdeckt man Jesus im eigenen Leben? Wie wird man ihm «gleichzeitig»? Das war die Frage, die Herausforderung dieses Vaters der Existenzphilosophie, wie man ihn nennt, in Wirklichkeit dieses womöglich letzten großen Propheten des «christlichen» Abendlandes: Sören Kierkegaards. Das Johannes-Evangelium erzählt, daß Menschen, die suchend dem nachgehen, was sie gehört haben, etwas Eigentümliches erleben werden. Sie suchen nach Jesus von Nazaret, der aber sieht sie kommen und dreht sich zu ihnen um, er wendet sich ihnen zu und redet sie an mit der Frage: Was sucht ihr? Was in dieser Szene erscheint wie eine einmalige Bewegung, stellt in unserem Leben oft einen Prozeß dar, der lange Zeit in Anspruch nehmen kann. Über weite Strecken können wir in Unruhe zubringen, ohne recht zu wissen, wonach wir eigentlich suchen, was der Inhalt unserer Vermutungen, unserer Sehnsüchte, unseres Verlangens ist. In der Tat stellt es die erste wirklich religiöse Aufforderung dar, einmal zu klären, wonach wir eigentlich unterwegs sind. «Wonach sucht ihr? Was ist das Ziel eurer inneren Bewegung?» Diese Frage ist nicht nur psychologisch von Bedeutung, sie steht am Anfang jeder menschlich glaubwürdigen Form von Religion. Die Antwort der Jünger auf diese Frage hält sich durchaus auf der Höhe der Herausforderung, die Jesus an sie richtet. Sie fragen nicht: «Meister, wer bist du?», 90

oder: «Hat die Erklärung unseres Meisters recht, wenn er behauptet, du seiest das Lamm, das die Sünden der Welt hinwegträgt?» In der ersten Annäherung der Jünger geht es um so etwas wie eine Vergewisserung: Meister, Rabbi, wo ist deine Bleibe? Es ist eine erschütternde Frage. Denn etwas anderes suchen wir religiös und menschlich überhaupt gar nie als eine derartige Stätte der Ruhe, der Einkehr, des Bleibendürfens. Wir sollten die Stelle nicht übersetzen wie es gewöhnlich geschieht: Meister, wo wohnst du? so als ginge es um die Erkundigung nach einer bestimmten Straße oder nach einem bestimmten Gebäude; in Wahrheit zielt die Frage auf den Punkt einer inneren Übereinstimmung, einer Ruhe an dem «Ort», an dem ein Verweilen möglich wird; wo Jesus selbst einen solchen (Stand)Ort findet, das ist die Frage, um die es geht. Und richtig: Nie würde die Person des Mannes aus Nazaret sich beglaubigen können, außer sie verstünde zu zeigen, woher ihr inneres Gleichgewicht kommt, worin sie selbst sich «zu Hause» fühlt. Denn tatsächlich wird es im ganzen Johannes-Evangelium so weitergehen: Jesus wird auf diese «Welt» immer zugehen, wie wenn er aus einer anderen Wirklichkeit käme. Und fragt man ihn, woher er die Kraft gewinnt gegenüber all den Anfeindungen, gegenüber all den Irritationen, die er auslöst, so wird er immer von neuem auf diesen unsichtbaren Punkt verweisen, den er Gott nennt. Freilich sollte man nun denken, daß Jesus an dieser Stelle eben davon gesprochen hätte; des längeren und ausführlich hätte er erklärt, worin er gründet, was ihn denn hält, woher seine Ausgeglichenheit kommt. Die Gelegenheit zu einem solchen Kommentar böte sich gerade jetzt. Wie denn auch sollte ein Mensch von Gott anders Zeugnis geben, als indem er sich in solch einem Lehrvortrag selber zum Thema machte, – es wäre immerhin noch das Beste, das Persönlichste, was jemand über Gott sagen könnte, wenn er mitteilte, wie er ihn selber erfahren hat. Alle «charismatischen» Bewegungen setzen mittlerweile auf dieses Stilmittel der «Verkündigung» und der «Neuevangelisation». Um so erstaunlicher mutet es an, daß Jesus von sich selber an dieser Stelle mit keinem Wort redet. Er fordert die Jünger lediglich auf, mit ihm zu kommen und selber zu sehen. Mit Erstaunen hört man da völlig richtig. Religion, so verstanden, besteht in keiner Form in der Mitteilung einer inhaltlichen Lehre, sie legt niemals einen anderen Menschen auf das Vorbild der eigenen Biographie fest, sie ist als erstes ein Weg zu einer eigenen Einsicht, zu einer eigenen Erfahrung. Jeder, der diesen Text zum ersten Mal liest oder hört, müßte erwarten, daß zumindest nachgeholt jetzt irgendeine Erklärung käme, irgend etwas Begriffliches for91

muliert würde, das als fertige Formel sich tradieren ließe; doch statt dessen hören wir nichts weiter als diese Einladung, selber zu schauen, selber ein Einsichtiger, ein Sehender, ein Visionär zu werden. Es gibt im «orthodoxen» Christentum eigentlich nur sehr schwach ausgebildete Überlieferungen und Lehrverfahren, die jenseits der Dogmatik den Menschen dahin führen könnten, eine Schule innerer Einsicht und eigener Wahrnehmung zu bilden. Gegeben hat es die Bewegung der Mystik, doch stets unter kirchlicher Zensur, stets verdächtigt als zu subjektivistisch, als zu personalistisch, stets angesiedelt am Rande der Ketzerei. Religionsgeschichtlich betrachtet, steht das Johannes-Evangelium mit der Erzählung der ersten «Nachfolger» Jesu deshalb eigentlich dem Buddhismus näher als dem verfaßten Christentum. Dort, in der Schule des Buddha, würde man eine Szene wie diese augenblicklich verstehen; denn so hätte er selber gesagt, der weise gewordene Siddharta Gautama; auf die Frage: «Wo wohnst Du?», hätte er geantwortet: «Du möchtest irgendwo bleiben; gut denn, so komm und versuche zu bleiben, versuche als erstes in Dir selber zu wohnen. Du nimmst Platz bei mir, doch schon die Art, wie Du sitzt, drückt aus, wie Du selber Dich fühlst. Du krümmst Deinen Rücken, und es zeigt, daß Du keine Ruhe findest; Du atmest wie unter einer Last, und es zeigt, wie quälend Deine Gedanken sind. Versuch einmal, ruhig zu werden, versuch, bei Dir selber zu bleiben, versuch, Dich zu klären wie Wasser, das nicht mehr von Strömung und Wind verwirbelt wird. Nimm Deine Frage wirklich mal ernst: Wo ist eine Bleibe? Wo ist Deine Bleibe?» Wie lernt man, mit dem inneren Auge auch nur einen Sonnenaufgang wahrzunehmen oder einen Baum im Herbst zu betrachten oder einem spielenden Hund zuzusehen? Was für ein Schauspiel! Wieviel Schönheit liegt in all dem! Doch um sie wahrzunehmen, bedarf es einer eigenen Aufmerksamkeit. Mitunter sehen wir Tiere daliegen, einen Hund auf dem Sofa, eine Katze im Körbchen, – sie sind eine einfache hingegossene Ruhe. Wir beneiden solche Tiere, ja, sie machen uns Menschen gerade in ihrer Ruhe nicht selten sogar ein wenig traurig, denn sie kennen die Aufregung nicht, die unser Dasein durchzieht. Sie werden bald schon, ohne zu klagen, hinweggehen aus ihrem Leben, als wären sie nie gewesen. So können wir Menschen nicht leben. Wir lagern dicht an dem Abgrund, gerade mit unserer Suche nach stiller, wissender Ruhe. Deshalb verändert sich unter der Hand die Frage, die Jesus an die Jünger stellt: Was sucht ihr? Eigentlich meint sie: «Wen sucht ihr?» Stets suchen wir, um ruhig zu werden, nicht etwas, keine Sache, sondern eine Person. Den ganzen Tag über seien die Jünger bei ihm geblieben, erzählt das Johannes-Evangelium. Wenn man so will, 92

unterscheidet dieses Moment das Christliche denn doch vom Buddhistischen. Der Buddha hätte, wenn ein Schüler in der Meditation versunken war, sich leise von ihm verabschieden können, denn der Schüler hätte seines Meisters nicht länger bedurft. Die Erfahrung, die wir christlich nennen, besteht hingegen darin, Bleibe nur finden zu können in der Nähe eines Menschen, der nicht weggeht, der nie weggeht. Erst eine solche Zuversicht schafft die Ruhe, nach der wir uns sehnen. Die «Versunkenheit», das «Bleiben» der Johannes-Jünger, findet statt in einem Austausch ohne Worte; sie ist ein einfaches Miteinandersein, ein gemeinsames Zueinander-Kommen unter den Augen dessen, der unausgesprochen und schweigend zwischen ihnen vermittelt; dieses Zwischen, dieser Grund allen Vertrauens, ist das, was Jesus selbst seinen (und unseren) «Vater» nennen wird und worin er sein «Bleiben» gefunden hat. (Vgl. Lk 2,49!) Das alles, erzählt das Johannes-Evangelium, habe sich ereignet um die zehnte Stunde. Die meisten Interpreten halten diese Zeitangabe für nichts weiter als für eine genaue Erinnerung, für eine quasi historische Reminiszenz. Unmöglich ist das an sich nicht. Es gibt durchaus Erfahrungen, die unser ganzes Leben entscheiden und die wir schon deshalb nie mehr vergessen werden, weil in ihnen die Zeit stillzustehen scheint; da bildet sich ein einziger Augenblick, der alles enthält und zusammenfaßt, was vorher war und späterhin wurde. Die zehnte Stunde hier aber bezeichnet nicht einen Zeigerstand der Uhr, sondern eine Stunde, da das Leben in gewisser Weise schon zur Dämmerung reift. Da ist etwas, das man erst in älteren Jahren findet, eine Lebenseinstellung, die nur langsam reift, eine Innerlichkeit, mit welcher das Leben nicht beginnen kann, auf die es nur nach und nach in den zehn Stunden des «Tages», bis über die Lebensmitte hin, sich hinauszuentwickeln vermag. Diese innere Reifung ist die Voraussetzung für die wichtigste Entdeckung im Leben der beiden Johannes-Jünger. «Wir haben ihn gefunden, den Messias», den König, den «Gesalbten», den Christus, so sagen sie. Das Eigenartige an dieser Stelle ist, daß überhaupt die Rede von einem König sein kann. Wann immer sonst in der menschlichen Geschichte von Mächtigen die Rede geht, sollte so etwas wie eine öffentliche Proklamation zu erwarten stehen, eine öffentliche Huldigung durch das Volk, prunkvolle Aufmärsche und Kundgebungen – irgend etwas dergleichen müßte jetzt gewissermaßen standesgemäß organisiert werden. Statt dessen erleben wir erneut etwas geradezu Intimes, bei dem die Intensität der Innerlichkeit dem Anspruch der öffentlichen Bedeutung diametral zu widersprechen scheint. Wir haben ihn gefunden, den Messias, sagen Andreas und der andere Jün93

ger. Nirgendwo sonst beglaubigt man auf diese Art einen König; und man versteht richtig: Es geht überhaupt nicht um ein «Königtum» der Herrschaft und der Macht, es geht durchaus nicht um den Titel eines römischen Cäsaren oder um die Neuerrichtung eines davidischen Großreichs; worum es geht, ist eine innere Entdeckung: So wie der Mann aus Nazaret denkt und lebt, so stellt es die einzige Macht dar, die das Herz eines Menschen zu regieren vermag, ohne es zu entfremden. Alle Macht gehört nur dem, der es vermag, das Menschenherz zu beruhigen, und das ist er, der da einlädt zum Bleiben, zum Verweilen, zum In-sich-Stillwerden. Im Grund findet hier zwischen den Zeilen etwas Ungeheures statt: Hat man je davon gehört, daß ein «König» so beschrieben wird wie hier, mit dem Anspruch, die gesamte Tradition Israels in einer einzigen Erfahrung zu verdichten? Die beiden Jünger haben gerade ihren Eindruck von Jesus gewonnen, und nichts geben sie weiter als diese ihre Erfahrung. Auch der Andreas-Bruder Simon kann nur eingeladen werden, sich auf diese Erfahrung einzulassen und ein Gleiches zu erleben. Man bringt ihn zu Jesus, und der spricht ihn an auf seine Herkunft, auf seine Person: Du bist Simon. Das hieß bislang nichts weiter als: Du bist der Sohn des Johannes; du bist jemand, der ganz und gar geformt ist von seinem Elternhaus, von dem, was ihm Erziehung und Erbgut und soziale Prägung wie ein Schicksal auferlegt haben. Doch einem Mann wie Jesus zu begegnen, das bedeutet, angesprochen zu werden auf seine wirkliche Berufung. Da wird aus dem, was einmal «Simon» war, eine Stütze und ein Halt für andere Menschen: – Kephas wirst du heißen. Sprachen wir eben noch davon, daß es so etwas zu lernen gebe wie: zu ruhen und zu bleiben, so ist Kephas, «der Fels», offenbar der Mann, der mit seiner Person wieder anderen Grund und Grundlage, Festigkeit und Halt schaffen wird. Mit keinem Wort wird hier gesagt, wie so etwas möglich ist; im Gegenteil, wir werden später noch eben diesen «Kephas», diesen Felsenmann «Petrus», erleben als jemanden, der seinen Herrn verraten wird vor lauter Angst (Joh 18,15-18). Wir werden ihn – im 8. Kapitel bei Markus (8,32) – erleben als jemanden, der Jesus förmlich mit Zwang davon abhalten möchte, sich nach Jerusalem zu begeben und sich in die Hände der Schriftgelehrten, der Pharisäer und der «Heiden» zu geben; Jesus aber wird ihn geradewegs schroff zurückweisen und ihm entgegenschleudern: Du denkst nur, wie Menschen halt denken; weiche von mir, Satan (Mk 8,33). Wenn irgend etwas felsenhaft Festes in diesem «Simon» steckt, so ergibt es sich jedenfalls nicht aus seiner besonderen Charakterfestigkeit; entscheidend ist, daß Simon im Gegenüber dessen, den er seinen 94

Meister, seinen Rabbi nennt, lernt, was Menschlichkeit bedeutet. Wirklich zu sein, das bedeutet, aufzuwachsen zur Größe der eigenen Person, doch das ist nur möglich, wenn jemand begreift, wofür zu leben sich lohnt, – was seine Berufung ist. Es ist am anderen Tag, es ist mit anderen Worten eine komplementäre Szene, daß Jesus Philippus findet. Alles kehrt sich nun um und schließt sich zu einem Ring des Erlebens. Nicht mehr die Jünger ziehen hier aus, um Jesus zu finden, sondern er, Jesus, findet zum ersten Mal einen eigenen Jünger und redet Philippus einfach an mit «Folge mir!», wie ein Befehl, wie ein Auftrag. Der gleiche Mann, der Menschen Bleibe und Ruhe gibt, der Festigkeit und Halt in den sonst Schwachen wachsen läßt, sagt offenbar nur, was für den anderen stimmt; er drückt mit diesem Befehl «Folge mir!» offensichtlich nur aus, was der andere selbst sich schon immer ersehnte und wünschte. In einem bloßen Nebensatz wird erklärt, daß Philippus aus Betsaida war, aus der Stadt des Andreas und Petrus, ganz so, als hätte sich in räumlicher Nähe innerlich alles schon vorbereitet, was diese neuerliche Berufung aus dem Munde Jesu bewirkt. Und wie wenn ein Stein ins Wasser geworfen wird und nun ringförmig Kreise zieht, die sich am Ufer brechen und wieder zurückschlagen, so setzt sich’s fort: Philippus findet Natanaël und erklärt ihm, was der christlichen Schriftauslegung entspricht: Von dem Mose schrieb im Gesetz und auch die Propheten, den haben wir gefunden. Jesus als die «Erfüllung» von «Gesetz» und «Prophetie» – die gesamte Verheißung Israels verdichtet in ihm, in Jesus von Nazaret – so ist es die Überzeugung aller Texte des Neuen Testamentes. Uns aber nötigt dieser Standpunkt zu der Frage, wie denn der Mann Mose und die Prophetie Israels zusammenkommen können. Mose war jemand, der einem ganzen Volk sagen konnte: Folge mir!, und indem die Leute es taten, wurden sie frei von aller Menschenabhängigkeit im Glutofen Ägyptens. Dieser Ruf des Mose «Folge mir!» bedeutete nichts weiter als eine solche Anrede und einen solchen Auftrag, alle Angst zu überwinden bis hin zu jener Szene am Schilfmeer, als die Reiterwagenabteilungen des Pharao von hinten her, aus der Vergangenheit, die Flüchtenden einzuholen drohten und vor den Flüchtenden nichts mehr stand als das unwegsame Meer (Ex 14,1-31). Wie durchschreitet man eine Angst, die von hinten und von vorn einen Menschen im Würgegriff umklammert hält? Die verkörperte Antwort darauf war Mose; daß das, was in ihm geschah, sich wiederhole, war alle Hoffnung in Israel. Doch diese Hoffnung gilt jetzt für erfüllt in dem Mann aus Nazaret, nicht freilich für ein ganzes Volk zunächst, so als sei Jesus ein Volks- oder Heerführer, sondern so, daß in der Seele jedes Ein95

zelnen eine neue Form der Identität sich bildet: nicht mehr Sohn des Johannes zu sein, wie es eben hieß, sondern ein Petrus zu werden, nicht mehr Kind in Betsaida zu bleiben, sondern heranzureifen wie hier Philippus zur Nachfolge einer Berufung. So auch jetzt Natanaël. Mit ihm schließt sich diese Kette von Berufungen. In Natanaël verkörpert sich, was sein Name bereits ausdrückt: Gott hat’s gegeben; er selber ist ein Gottesgeschenk, ein Israelit, der in Rechtschaffenheit so denkt, wie es getreulich und wahr ist. Es ist eine Stelle, an der man vorweg schon lernen kann, wie der angebliche «Antijudaismus» des Johannes-Evangeliums zu verstehen ist. Gerade als «Israelit, an dem kein Trug ist», der also sagt, was er denkt, und der tut, was er sagt, ist Natanaël beladen mit Vorurteilen und behindert von Scheuklappen; eine stehende Redewendung zum Beispiel lautet: Aus Nazaret – kann da was Gutes sein? Rein räumlich schon ist es die Frage: Wie können Prophetie und unmittelbare Gottesrede sich erfüllen in einem Mann, der von draußen kommt, aus Galiläa, nicht aus dem Kernland, aus Judäa? – Doch gerade wenn man die jüdische Orthodoxie konsequent ernst nimmt, wird man hinfinden zu Jesus, zu dem Juden aus Nazaret. Waren nicht gerade die Propheten immer wieder aufrührerisch wesentlich auch und gerade in Judäa? Für Natanaël beginnt eine Welt auseinanderzubrechen. Die Ordnung, der er so treu und lauter dienen wollte und mochte, und dieses ganz Neue, dieses über Mose hinaus jetzt wahrhaft Prophetische, – wie soll beides zueinander zu bringen sein? Doch es ist und bleibt die Hoffnung des Johannes-Evangeliums, daß man gerade durch die Treue zu dem, was «Israel» ist und meint, Jesus ganz und gar verstehen wird. Genau betrachtet geht es indessen nicht einmal darum, daß Natanaël Jesus verstünde, sondern umgekehrt: Ich habe dich gesehen, Natanaël, unter dem Feigenbaum. Jedes Moment an diesem Satz ist kostbar. Wir suchen nach unserer Berufung; wir möchten das Ziel unseres Lebens kennen; wir müssen, um sinnvoll zu sein, erkennen, was mit uns gemeint ist; doch eben deshalb endet alles Suchen damit, zu entdecken, daß wir immer schon angeblickt worden sind. Wir schlagen unsere Augen auf, eigentlich nur, um das herauszufinden: umfangen zu sein von den gütigen Augen eines anderen! Alle Einsicht, die wir im menschlichen Leben gewinnen können, wird darin kulminieren, ein Ansehen, buchstäblich, immer schon gehabt zu haben. Die Philosophie des Existentialismus, Jean-Paul Sartre, diskutierte immer wieder die Frage, ob unter den Augen eines anderen zu leben nicht damit identisch sei, bis ins Innerste hinein entfremdet zu werden und eine Ansicht 96

von sich selbst präsentiert zu bekommen, die man niemals teilen werde, weil sie ganz fremde Qualifikationen und Wertungen über das eigene Ich lege3. Ist nicht gerade der Blick des Anderen das Bedrohliche, das Fixierende, bedeutet er nicht in sich schon das Ausgesetztsein unter einer fremden Wahrnehmung? Die Wahrheit ist, daß ein Mensch nur zu sich finden kann, wenn er in einem Gegenüber Augen wahrnimmt, die ihn voller Güte anschauen und deshalb sein Herz zu öffnen imstande sind auch für sich selbst. Immer schon, Natanaël, müßte man sagen, habe ich dich gesehen. Aber der Ort dieses «Ansehens» ist der Feigenbaum. Er ist in der Antike ein Bild für den Tod, indem seine Früchte verführerisch süß sind wie das Leben, aber in ihrer Süßigkeit im Munde schon bitter werden; sie zeigen an, wie schwer der Abschied vom Leben sein kann. Ein Feigenbaum ist ein Ort, an dem ein Mensch, wach werdend, begreift, daß er, mitten im Genuß des Daseins, ein dem Tode Verfallener ist. Wie hält ein Mensch dieses Wissen aus, im Unterschied zu dem schlafenden Tier, im Unterschied zu dem einfachen glücklichen Dasein der Kreaturen? Es ist so unendlich wichtig, angesichts aller Todesangst den Blick ins Weite zu richten und diese Augen zu sehen, die uns immer schon gütig anblickten, nie richtend, nie wertend, nie vorwurfsvoll, niemals zensierend, nicht maßnehmend oder maßgebend, sondern die uns meinen in unserem Sein und uns darin berufen wollen, das eigene Leben zu ergreifen. Wenn Religion im Sinne dieser Texte irgendeinen wesentlichen Sinn machte und aufhörte, nur eine äußere und veräußerlichende Rede zu sein, so bestünde sie in dieser Erfahrung, wie es möglich ist, einen Menschen dahin zu bringen, daß er sich entdeckt, in dem Vertrauen, schon immer entdeckt und umfangen, geliebt und gemocht worden zu sein und eben deshalb im Schatten des Feigenbaums leben zu dürfen. Natanaël ist über diese Feststellung beinah erschrocken. Nun, als ein stets schon Erkannter, bekennt er Jesus mit eben der Formel, die im Johannes-Evangelium eine entscheidende Rolle spielt: Du bist der Sohn Gottes, du bist der König Israels. Beide Worte sind austauschbar. Was Natanaël meint, ist, daß Jesus als Versöhnter vor ihm steht und dies nur sein kann in der Dichte eines Vertrauens, das gründet in Gott, nicht im Abgrund der Welt, sondern in dem Halt eines anderen in sich absoluten Daseins. Jesus wird dieser Überzeugung nicht widersprechen, er wird sie nur fortführen. Natanaël erkennt sich und bekennt sich zu dem Mann aus Nazaret, weil er selbst sich von ihm umgriffen fühlt. Aber mehr als das wird er sehen, indem er entdeckt, daß über dem Haupte des Menschensohns die Engel Gottes aufsteigen und niedersteigen – wie in dem Traum des Jakob in BetEl: In dem Gotteshaus, auf der Flucht vor seinem härenen Bruder Esau, 97

sah der Sohn Isaaks eine Leiter an den Himmel gestellt, darauf herniedersteigend die Engel Gottes über dem Steinkreisheiligtum von Luz, wie es vormals hieß (Gen 28,10-22). Da hebt sich der Unterschied zwischen Himmel und Erde vollkommen auf; da wird der Sperr-Riegel zwischen Gott und Mensch beseitigt. Und gerade das ist es, was sich an der Seite Jesu, in seiner Nähe lernen läßt: Es gibt keinen Unterschied mehr zwischen Gott und Mensch in der Kluft der Schuld, im Abgrund des Vorwurfs, in der Hinfälligkeit des menschlichen Daseins, sondern alles an Schutz, an Behütetheit, an Geborgenheit geht hin und her in einem ständigen Austausch, so wie es im 4. Kapitel bei Matthäus (Mt 4,6.11) heißt, nachdem Jesus den ewigen Verführer zur Linderung aller nur äußeren Not, zu teuflichem Machtgewinn und zum Ausprobieren des göttlichen Beistandes in Aberglauben und Magie, zurückgeschickt hat in die Wüste: daß Engel kamen, ihm zu dienen, und daß das Versprechen sich einlöste, sie würden ihn tragen auf Händen, daß er niemals mehr strauchele und sich stoße den Fuß an einem Stein (Ps 91,11.12). Über die Erde zu gehen wie schwebend und leicht durchs Leben zu schreiten, das ist die Art der Engel, – hinaufsteigend, herabsteigend, über dem Haupte Jesu. So zu leben wird Natanaëls «Einsicht». Alles, was die christliche Religion sagen möchte, und vor allem: wie sie sich selber begründet, indem sie sich erfahrbar macht, verraten diese zwei Berufungsszenen im Johannes-Evangelium. Sie lassen etwas aufleuchten von der Schönheit unseres eigenen Seins und von der Größe unserer eigenen Berufung. Wie wunderbar ist ein jeder Mensch, wenn wir ihn nur richtig sehen, wenn wir ihn mit den Augen Jesu wahrnehmen, so wie dieser Natanaël schaute! Wie wunderbar sind die Worte eines Menschen, wenn sein Mund sich öffnet und er uns sagt, was er als sein Heiligstes erfuhr, und es wird uns zur Einladung, mit ihm und geführt durch ihn ein Gleiches zu erfahren! Alle religiöse Überlieferung hörte dann auf, bloße Lehre, bloße Doktrin, bloßes Dogma zu sein. Sie würde wieder Eingang finden in unsere gelebte Existenz. Es könnte dann sein, daß wir äußerlich womöglich unser Leben weiter verbringen in einem Beruf, den man uns sozial wider Willen aufgepreßt hat; und doch wird es die innere Berufung nicht mehr zerstören. Selbst das scheinbar Sinnlose wird sich erfüllen durch unsere innere Berufung, und sie wird uns durchtränken wie ein Bachbett die Wüste, denn jenseits der Entfremdung haben wir Heimat gefunden, haben wir eine Bleibe erlangt. Ein einziger Augenblick solcher Erfahrung, eine einzige solche zehnte Stunde, wie hier bei Andreas, bei Simon und bei Natanaël muß und mag oft für ein ganzes Leben genügen.

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Joh 2,1-12: Die Hochzeit zu Kana – 1. Teil: Die Verwandlung des Lebens 1Und am dritten Tag fand eine Hochzeit statt im galiläischen Kana, und die Mutter Jesu war dort. 2Eingeladen war aber auch Jesus und seine Jünger zur Hochzeit. 3Und als es an Wein zu mangeln begann, sagt die Mutter Jesu zu ihm: Wein haben sie keinen (mehr). 4Da sagt ihr Jesus: Was mir, was dir, Frau? Noch ist nicht gekommen meine Stunde (7,30; 8,20; 13,1; 17,3). 5Sagt seine Mutter den Dienern: Was immer, – wenn er zu euch spricht, tut’s! 6Es waren aber dort steinerne Wasserkrüge, sechs (an der Zahl), aufgrund des Reinigungsbrauchs der Juden aufgestellt, mit einer Fassung bis zu zwei oder drei Maß. 7Sagt ihnen Jesus: Füllt die Krüge mit Wasser. Und sie füllten sie bis oben. 8Und er sagt ihnen: Schöpft jetzt und bringt dem Oberkellner. Da brachten sie es (ihm). 9Wie aber kostete der Oberkellner das Wasser – Wein war es geworden, und nicht wußte er, woher es ist, die Diener aber wußten es, die das Wasser geschöpft hatten –, ruft den Bräutigam der Oberkellner 10und sagt ihm: Jedermann als erstes setzt den besten Wein vor, und (erst) wenn sie berauscht sind, den geringeren. Du hast aufbewahrt den besten Wein bis jetzt! 11Dies wirkte als Anfang der Zeichen Jesus im galiläischen Kana, und aufscheinen ließ er so seine Herrlichkeit, daß zum Vertrauen an ihn kamen seine Jünger (1,14). 12Danach stieg er hinab nach Kafarnaum (7,3), er und seine Mutter und seine Brüder und seine Jünger (Mt 13,55). Doch dort blieben sie nicht viele Tage.

Der Autor des Vierten Evangeliums, den wir Johannes nennen, hat als eine seiner Quellen eine Sammlung von Wunderlegenden aus einer Tradition übernommen, in der sechs verschiedene Erzählungen zusammengefaßt sind, beginnend mit dieser ersten Geschichte vom Weinwunder, endend schließlich mit der Erzählung von der Auferweckung des Lazarus (Joh 11). Was diese offenbar im griechischen Bereich angesiedelten Erzählungen einmal von Jesus, auf den sie übertragen wurden, aussagen mochten, zeigt sich in einem der letzten Sätze der Erzählung aufs deutlichste: So wirkte als Anfang der Zeichen Jesus … und aufscheinen ließ er so seine Herrlichkeit. Das soll heißen: er ließ sich erkennen als der große, machtvolle Wundertäter. Wer von seinen Taten hört, muß ins Staunen geraten über die Wunder, die zu vollbringen er imstande war, und eben diese ungewöhnlichen wunderbaren Taten waren der Grund auch, weswegen seine Jünger zum Glau99

ben kamen und alle, die jetzt davon hören, zum Glauben kommen sollten. Dennoch fragt man sich gerade bei dieser Geschichte vom Weinwunder, was da eigentlich so Wunderbares sich begibt. Scheint da nicht ein Übermaß an Kraft auf eine beinahe lächerliche Nebensache vergeudet zu werden? An Not in der Welt, weiß Gott, gäbe es ein Ungeheures zu lindern und zu heilen, – da wünschte man Gott am Werke! Aber daß irgendwo ein Bräutigam, dem der Wein ausgeht, seine Gäste für eine Weile auf dem Trockenen sitzen läßt, nachdem sie offensichtlich schon genug getrunken haben bis zum Rauschzustand – also daß da ein Gott ausgerechnet in dieser Situation aktiv wird in der Person des Jesus von Nazaret, das spottet beinahe mehr, als daß es tröstet angesichts des Leids der Menschen. Was soll das? fragt man sich, gerade wenn es den gesamten vorweggenommenen Inhalt, die Ouvertüre von allem weiteren, darstellen soll. Es kommt, wenn man sich dieser Geschichte nähert, an Verquerem der Gebrauch hinzu, der speziell in der römischen Kirche von dieser Erzählung Jahr für Jahr gemacht wird. Man nimmt sie, um in der Leseordnung der Gottesdienste an den Jahresanfang eine Erzählung zu setzen, die Jesus mit der Szene einer Familiengründung in Zusammenhang bringt, Grund genug für die Kirche, gleich zu Jahresanfang alle Verheirateten und solche, die es werde möchten, in die Pflicht zu nehmen. Das ganze Jahr soll so begangen werden, daß Christus jederzeit gegenwärtig sein könnte, bei jeder Hochzeit, bei jeder «Lustbarkeit» unter den Menschen, dann aber auch näherhin im ehelichen Leben selber – man merke die Moral von der Geschichte. Andererseits dient umgekehrt wieder gerade diese Erzählung als ein Alibi, daß bei so viel Lustfeindlichkeit der katholischen Moral man denn doch als Christ nicht denken dürfe, es sei Jesus selber schon so fernab aller Sinnenfreude gewesen, war er doch Zeuge selbst einer Hochzeit. Voilà. Da muß doch auch Freude gewesen sein, Wein wurde getrunken, es ging offenbar nicht asketisch zu. Und wie auch nicht gar! Der rechte Christ hält halt die Mitte zwischen Selbstbeherrschung und Freude, und just diese Wohltemperiertheit der Seele geht merklich aus der Geschichte hervor. Wieder fragt man sich: was soll das alles? vor allem, wenn das Johannes-Evangelium selber sagt, der ganze Christenglaube hänge an diesem «Anfang», das heißt, er hänge wesentlich an dem, was hier erzählt – oder ganz wörtlich: aufgetischt wird. Man begreift die Bedeutung der Geschichte ein wenig besser, wenn man die Übermalungen von ihr nimmt und ihren Wurzeln nachgräbt. Dann springt’s eigentlich jedem, der im griechischen Kulturraum ein wenig zu Hause ist, in die Augen: Ein Gott, der seine Macht zeigt und bezeugt, 100

indem er Wasser in Wein verwandelt und ihn den Menschen zu trinken gibt bis zur Ekstase, bis zur Weinseligkeit, das ist ursprünglich nimmermehr ein Christengott; das kennt man in Griechenland seit Jahrhunderten vordem von einem ganz anderen Gott, von Dionysos. Und kaum fällt dieses Stichwort, öffnet sich ein breiter, langer Weg zu einer ganz bestimmten Deutung des menschlichen Daseins. Was da auf dem Spiel steht, hat vermutlich zum erstenmal wieder Friedrich Nietzsche vor 130 Jahren gesehen. Er hat das Christentum im Kern angreifen wollen der Verleugnung des Dionysos wegen. Nietzsche war der Meinung, daß die ganze Moral des Christentums geboren sei aus dem Ressentiment von Zukurzgekommenen, die sich die Welt mit Skrupeln und kleinlichen Moralvorstellungen verbieten1. Mickrige, muckrige Seelen, die sitzen zu Rate, wie die Welt sein solle und wie Gott sie zu schaffen habe; sie selbst aber kommen mit nichts zurecht, das war Nietzsches Meinung, – mit sich selber nicht, mit der Welt nicht, mit der Geschichte nicht, nicht einmal mit ihrem eigenen Religionsgründer. Das Ganze fände überhaupt erst wieder Ehrlichkeit und Wahrheit, wenn man statt des Gekreuzigten Dionysos zum Gegenstand der Frömmigkeit machen würde, zurück hinter zweitausend Jahre Christentum, rückwärts in die Vergangenheit, um nach vorn hin die Zukunft zu retten. Denn wer war Dionysos? Für Nietzsche verbarg sich hinter der Chiffre dieses Gottes ein gewaltiges Panorama der Welt. Die Wirklichkeit der Natur, die Majestät des Kosmos läßt sich nicht beckmesserisch nach den Vorstellungen der menschlichen oder gar der christlichen Moral begreifen. Alle Einteilungen von Gut und Böse, von Richtig und Falsch, von Lohn und Strafe zerbrechen an dieser grausigen, großartigen, unheimlichen, schrecklichen, beglückenden Weltwirklichkeit. So wie sie ist, erweist sie sich an jeder Stelle ungleich viel größer als all unser menschliches Fragen; dieses Geheimnis aber lebte in Dionysos, in dem Gott, der kurz nach seiner Geburt zerrissen und gegessen wurde und gleichwohl in seinem Tode lebendig blieb. In Dionysos malt sich das Geheimnis des Lebens selber, er selbst ist die gestaltgewordene Vegetation. Sie stirbt, um sich durch den Tod zu vervielfältigen2. Das Geheimnis der Welt gründet darin, daß alles von allem lebt; selbst der Schmerz erfüllt seinen Dienst als Teil in einem höheren Maße an Lust. Statt an der kosmischen Ordnung zu leiden, war es Nietzsches Bestreben, die Menschen zu lehren, diese Welt auszuhalten, und nicht nur auszuhalten, sondern in sie einzutauchen als in eine taumelnde Freude3. Jeder, der wähnt, diese Welt sei gemacht von einem Gott, der rational plant, von dem Gott des Isaac Newton oder womöglich des Thomas von Aquin, wird 101

das, was sich vor unseren Augen darbietet, niemals verstehen. Aber wollte man denken, Gott sei der Komponist eines großen Kunstwerks, er sei wie ein Maler, wie ein Musiker, wie ein Dichter, dann begreift man plötzlich, daß die Dissonanzen der Welt nicht fehlen dürfen, um ihre höhere Harmonie zu tragen und vorzubereiten. Dann versteht man, daß die Kontraste nicht weggelassen werden können, sondern daß sie um so stärker die Einheit des Ganzen, die Schönheit des Werks, hervorheben. Gott als Künstler, das hieß für Nietzsche auch, daß da ein taumelnder Gott in einem Übermaß seiner Kraft sich ausdrücken will. Nichts ist da nur rational berechnet, alles ist vitaler Drang, dem Unbewußten entsteigend, sich selber aufführend im Werk. Vielleicht gibt es in der Gegenwart keinen besseren Parallelvergleich zu dem, was Nietzsche unter der Chiffre des griechischen Dionysos meinte, als den Hindugott Shiva, wie er im Süden des indischen Subkontinents verehrt wird4. Shiva wird dort vorgestellt als der Tänzer in einer Feuermandorla von vierundzwanzig aufscheinenden Weltenflammen; immer von neuem erschafft er den Kosmos und vernichtet ihn wieder, und der Rhythmus seines Wirkens ist der Kreistanz seiner Lust. Gefragt, warum das alles, bietet dieser Tänzer von Gott keine andere Erklärung, als daß der pulsierende Rhythmus seiner Musik, die in ihm Gestalt gewinnt, lustvoll bis zum letzten sich aufführt. «War das das Leben?» läßt Nietzsche seinen Zarathustra einmal sagen, «wohlan, noch einmal!»5 Nichts gibt’s da zu bereuen, sondern immer nur von vorn zu beginnen, immer neu eintauchend in den Kreislauf. Nietzsche meinte, daß Schmerz, daß Leid nur möglich sei bei Menschen, die in einem Übermaß der Freude spürten, wie ihre Kräfte in sich selbst zurückbrächen. Der Schmerz sei nur der Teil eines größeren Empfindens an Lust und Leben. Die Tragödie, meinte Nietzsche, werde geboren aus diesem Wissen eines zerreißenden Widerspruchs, der doch umfangen werde von einer beseligenden Ahnung, wie alles sich zusammenfüge6. Da war einmal eine Religion in Griechenland, die das Entstehen und Blühen der Pflanzen begriff als die Zeit, da Dionysos auf seinem Wagen Einzug hielt auf den Fluren und die Menschen lehren wollte, in der Freude des Frühlings den Schmerz des Todes zu akzeptieren, öffnet doch auch er sich nur wieder zu einem neuen Anfang. Weise werden sollten die Menschen am Schauspiel der Natur; sie sollten als Kreaturen ihr Maß finden an der Größe des Kosmos. Wenn das den Hintergrund dieser Geschichte von einer Hochzeit im galiläischen Kana bildet, ahnt man zumindest die Aufgabe, die Johannes sich stellt, wenn er nicht zögert, diese auf Jesus übertragene Geschichte in sein 102

Evangelium aufzunehmen. Natürlich kann die Erzählung nicht so bleiben, wie sie erzählt wurde, – es läßt sich nicht einfach aus Dionysos schnell ein «Christus» machen. Der Sinn der ganzen Erzählung muß geändert werden; doch daß es um eine Interpretation auf Leben und Tod und von Leben und Tod geht, das kann und muß bleiben; das ist ein gültiges Thema. Zudem muß man noch hinzufügen, daß Johannes seine gesamte sechsteilige Wunderquelle in jedem Betracht nicht so übernimmt, wie es die ersten drei Evangelien noch getan hätten: die Tradition ist heilig, und die Taten als solche verdienen berichtet zu werden als quasi historische Dokumente. Johannes glaubt in diesem Sinn an überhaupt kein «Wunder». Was immer als Wunder aus dem Leben Jesu überkommen ist, bedeutet ihm kein Mirakel mehr, keinen Krafterweis im Zerbrechen der Naturordnung, sondern ein Zeichen, das innerlich verstanden sein will. Nichts liegt da im Äußeren. Es geht nicht darum, daß an irgendeinem Nachmittag oder Spätabend ein Bräutigam vor einer Blamage bei seiner Hochzeit bewahrt wurde und daß die Hochzeitsgäste nun wirklich noch einmal kräftig zulangen konnten, um den Pokal mit noch besserem Wein zu erheben. Eine solche Auslegung, so oft sie auch klerikal schmunzelnd vorgetragen wird, bliebe ähnlich albern wie später, im 6. Kapitel des Johannes, als Jesus Brot verteilt an die Menge; sehr scharf wird er da sinngemäß sagen: Ihr glaubt lediglich, weil ihr Brot gegessen habt; aber das ist kein Grund zum Glauben – für nichts ist das ein Grund zum Glauben; denn es ist genau die falsche Religion, auf Essen (und Trinken) seine Hoffnung zu setzen (Joh 6,26.27). Alles ist innerlich für Johannes oder überhaupt nicht. Darum kennt er eigentlich nur ein einziges Wunder, – das sind die Worte, die Jesus spricht. Sie verwandeln den Menschen, der sie versteht, oder sie lassen endgültig denjenigen draußen, der sich ihnen verschließt. Licht oder Finsternis, Helligkeit oder Schatten, beides ereignet sich je nach der Einstellung, aber entschieden wird’s im Moment, da es geschieht; so denkt Johannes über die «Wunder» Jesu. Man kann sie nur verstehen, wenn man ihre Bedeutung verwortet und die Worte selbst für so wichtig nimmt, daß sie ein ganzes Leben ändern. Also erzählen wir uns die Geschichte von der Hochzeit in Kana noch einmal. Achten wir dabei vor allem auf die Worte, die da gesprochen werden, von wem sie ergehen, an wen sie gewendet sind, und wie man sie aufgreift. Alles beginnt mit dem Bild der Hochzeit selbst. Der Ort Kana in Galiläa ist eigentlich gleichgültig, er ist nur ein Verweis darauf, daß bei allem, was jetzt gesagt wird, die Person des historischen Jesus nicht aus den Augen 103

verloren gehen soll. Aber was sich jetzt begibt, ist eine dichterische Ausdeutung der überzeitlichen Bedeutung des historischen Wirkens dieses Mannes. Die Hochzeit ist seit eh und je in den Märchen, in den Mythen, ein Bild für die Einheit des Menschen mit sich selbst, für die Verschmelzung von Geist und Körper, von Seele und Gefühl, von Apoll und Dionysos griechisch gedacht, eine Einheit der äußersten Gegensätze. Wenn ein Mensch selber aus den Kontrasten seiner Seele zur Harmonie findet, wenn der Himmel die Erde berührt, wenn Gott und Mensch aufhören, wie unversöhnte Gegner, wie unverständige Widersacher einander gegenüberzustehen, dann begibt sich dieses Liebeslied der Welt, dann ereignet sich die Hochzeit des Menschen, dann gelangt zur Aufführung die Symphonie des Alls. Da geht an diesem «Hochzeitstag» das Mittel der Freude, der Wein, zur Neige, und es ist die Mutter Jesu, die ihren Sohn darauf hinweist, es verhalte sich so. Darin liegt schweigend eine Aufforderung, nun etwas zu tun. Es ist mehr als schroff, wenn wir Jesus abrupt und kraß seiner eigenen Mutter entgegensetzen hören: Was mir, was dir, Frau? – Fremder, entfremdeter läßt sich nicht sprechen; es ist das genaue Gegenteil jeglicher Vertrautheit. Schon deswegen hat es an Auslegern nicht gefehlt, die gerade an dieser Stelle so etwas erblicken wollten wie eine Familiengeschichte aus dem Leben Jesu. Sie nahmen’s zum Beweis, wie miserabel Jesus sich mit seiner eigenen Mutter verstanden habe, sie wiesen darauf hin, daß sein Vater in der Erzählung gar nicht erst erwähnt werde. Daß am Ende einvernehmlich seine Mutter und seine Brüder (solche hatte Jesus offenbar, vgl. Mk 6,3) zusammen mit den Jüngern nach Kafarnaum hinabziehen, wird als artig gelobt, aber schwierig bleibt es für eine Familienidylle denn doch: am Anfang offensichtlich versteht Jesus sich mit seiner Mutter ganz und gar nicht. Der Fehler solcher Auslegungen liegt von vornherein darin, daß man vorschnell biographisch psychologisieren möchte, was als ein Symbol zu verstehen ist. Die Mutter Jesu ist für Johannes keinesfalls die historische Maria aus Nazaret. Sie wird ein zweites Mal, aber nur dann, noch einmal auftauchen unter dem Kreuz, wo keiner der ersten drei Evangelisten sie gesehen hat, Johannes ja (Joh 19,25-27). Es geht also nicht darum, Wein zu vermehren, es geht auch nicht um die Frage, wie sich ein Junge zu seiner Mutter verhält, – es geht um die Frage: Wie steht Jesus zu der Verwandlung unseres Lebens? Er kam, den Menschen alles Glück zu bringen, doch was für ihn selbst draus werden wird, ist ein geradliniger Weg nach Golgota, hinein in den Karfreitag. Das wird 104

die Hochzeit seines Lebens sein. Alles, was eine Mutter, was seine Mutter dazu sagen könnte, sähe sie es kommen, wäre gewiß nichts als ein entsetzter, sorgenvoller Widerspruch. Jeder, der einen Menschen liebt und ein solches Schicksal für ihn ahnt, wird versuchen, ihn davor zu bewahren. Welch eine Mutter könnte damit einverstanden sein, zu sehen, wie Folter, Verleumdung und Kreuzigung ihres Sohnes warten? Tatsächlich war es ein schwerer Fehler und ist es noch heute, wenn die römische Kirche immer wieder hervorhebt, mit wie freudiger Opferbegeisterung Maria ihren Sohn am Kreuz dahingegeben habe. Eine solche fälschlich historisierende Theologie ist weitab von allem menschlichen Empfinden. Aber wenn man einmal denken würde, wie es noch vor 60 Jahren in Deutschland möglich war, eine Mutter müsse sich fragen, wozu sie ihren Sohn erzieht, was für Ideale sie ihm auf dem Lebensweg mitgibt, was eigentlich sie für ihn wünschen kann, so würde gewiß auch die Leidvermeidung die Pflicht und die Aufgabe vieler Bemühungen bleiben; könnte es aber dann nicht sein, daß es Zeiten gibt, in denen eine Mutter unter sehr vielen Schmerzen, doch in gewissem Sinne auch nicht ohne Stolz erleben wird, wie ihr Junge sich wehrt gegen die Dunkelmänner, gegen die Seelenverfinsterung, gegen die ständige Schikane, die man im Namen Gottes über Menschen legt, und daß er Mut genug aufbringt, dagegen anzugehen und Worte zu setzen, die den Menschen das Rückgrat stärken, um ihr eigenes Leben zu riskieren, ja, daß selbst die Angst und die Einschüchterung, daß die ständige Drohung ihn nicht zurückweichen lassen? Dann könnte man denken, daß die Szene am Kreuz von Johannes so verstanden worden wäre: Da erfüllt sich all das, was menschlich ist, und die eigene Mutter, als Bild für den Ursprung des Lebens, stünde am Ende dabei und fühlte mit ihrer Liebe, mit ihrem Wohlwollen, mit ihrem Wunsch nach Glück sich nicht widerlegt, sondern trotz allem bestätigt. Sie hat es so nicht gewollt, wie es kam, aber daß es, als es drauf ankam, nicht vermieden wurde, das mußte sie wollen, weil nur auf diese Weise Ehrlichkeit, Menschlichkeit und Glück in unser Leben zurückkehren können. Wenn das der Preis ist, ist er selbst dann nicht zu hoch bezahlt. Entscheidend ist, so betrachtet, in der Geschichte von der Hochzeit zu Kana, daß Jesus auf seine Mutter gar nicht erst hört. Sie selber wird im Johannes-Evangelium bis zum Ende lernen müssen, wer Jesus ist, worin seine Mission besteht, wen sie da eigentlich zur Welt gebracht hat. Doch das ist das Übliche. Welch eine Mutter, welch ein Vater wüßten schon um das Geheimnis ihrer Kinder, – was Gott in ihnen sprechen wird? Viele Jahre gehen dahin, in denen Eltern ihren Kindern sagen, was es von der Welt und für 105

die Welt zu lernen gibt. Aber immer mehr werden sie selbst lernen müssen, auf etwas zu hören, das nur Gott im Leben ihrer Kinder zu sagen vermag. Es ist deshalb unbedingt nötig, die ganze Spannung am Anfang schon zu formulieren: Frau, was mir? was dir? – Es sind zwei völlig getrennte Sphären des Lebens, zwei vollkommen verschiedene Zonen der Wirklichkeit. Es ist nicht möglich, noch länger zu hören, was die Mutter möchte. Es gibt eine andere Bestimmung. Jesus nennt sie hier «meine Stunde». Nur wenn sie gekommen ist, wird sich das Entscheidende tun lassen. Im Johannes-Evangelium ist es nicht einen Augenblick lang zweifelhaft, was «die Stunde Jesu» meint; es ist der Augenblick im 13. Kapitel des JohannesEvangeliums, da Jesus in einer langen Rede Abschied nimmt von seinen Jüngern und hinübergeht in seinen Tod, wie ein König der Romanik, majestätisch, wissend, unangefochten und groß (Joh 13,1). Nichts liegt für Johannes an Demütigung, Schwäche und Erniedrigung in der Kreuzigung Jesu. Es verrät eine ungeheure Dimension, über den Menschen derart zu denken, derart an ihn zu glauben: Physisch kann man Menschen vernichten, aber ihnen die Würde zu rauben, das ist nicht möglich, solange sie an sich selber glauben im Namen Gottes. Die Stunde der Entscheidung läßt sich nicht willkürlich bestimmen. Schon das ist, dogmatisch betrachtet, eigentümlich, daß auch Jesus, der «Sohn Gottes», nicht weiß, was geschieht, wann etwas zur rechten Zeit geschehen muß. Es gibt auch für ihn nur ein Warten auf den Augenblick, da es reif ist. Dann entscheidet sich’s, indem alle Energie und alle Kraft auf diesen Moment konzentriert sind. Maria scheint in diesem Augenblick zu ahnen, daß es sich so verhält; jedenfalls gibt sie den Dienern keine speziellen Weisungen mehr, sondern nur noch die Empfehlung, sich bereitzuhalten für das, was er sagt. Da stehen nun, aus Gründen der Reinigungszeremonien der Juden, steinerne Krüge, sechs an der Zahl, zwei bis drei Maß messend, aber nicht mit Wasser gefüllt, wie man erwarten sollte. Es ist an Jesus, den Dienern zu sagen, sie sollten das notwendige Wasser für die Krüge holen; und dann plötzlich geht alles sehr geschwind: Augenblicklich eingefüllt, sollen die Diener dem Oberkellner von dem geschöpften Wasser bringen, und siehe, es ist Wein. Eine launige Szene, ganz im Sinne der Manifestation des Dionysos, folgt: Der Oberkellner läßt den Bräutigam strammstehen und lehrt ihn Mores; – das alles war einmal gewiß sehr lustig, aber so ist es nicht länger gemeint. Wenn wir schon wissen, daß es um die Verwandlung von Wasser in Wein äußerlich gar nimmer geht, dann sollten wir den Wein, der so gewandelt wurde, nicht wieder aufs neue verpanschen, indem wir’s oberflächlich verwässern oder asketisch zu Essig umkippen lassen. Worum 106

also geht es? Nehmen wir die gesamte Erzählung einmal wie ein Bild, wie einen Traum, den jemand haben könnte zur Deutung seines eigenen Lebens, so wäre alles ein Symbol für etwas, das in ihm und mit ihm gemeint ist; insbesondere das Bild der leeren Krüge und der Reinigungswasser bedürfte dann einer eigenen Interpretation. Was besagen diese Chiffren über das Leben eines Menschen? Zugegeben, die Vorstellung, eine biblische Erzählung in ein Traumbild aufzulösen, erscheint ungewöhnlich und mutet irgendwie «gespenstig» an; doch wenn bereits die «Hochzeit» selbst als ein Symbol der Vermählung des Himmels mit der Erde (oder Gottes mit der Tochter Zion) verstanden werden kann, warum sollte man dann die Hochzeitsrequisiten nicht auch als Bilder lesen? Unter dieser Voraussetzung müßten wir speziell die «leerstehenden Krüge» und die Gestalt des «Bräutigams» ohne «Wein» als Bilder für ein bestimmtes Lebensgefühl in etwa so deuten: Denken wir uns einen Menschen, der sich sein Leben lang schämt für das, was er ist. Alles könnte äußerlich sein wie ein Fest; mit seinem ganzen Dasein könnte er sich fühlen wie eingeladen zu einer Stunde der Freude, und trotzdem fühlt er sich selber wie abgetrennt, wie gar nicht wirklich dazugehörig, wie blamiert bis ins innerste Herz. Denn was er den anderen zu bieten hat, scheint niemals genug. Grad in der Stunde, da es drauf ankommt, ist er entlarvt als Versager. Und diese Sequenz der «Traumgeschichte» ist ein Wesensbild für sein Grundgefühl, für die Stimmung seines ganzen Lebens. Denn das ist jetzt die Frage der eigentlichen Verwandlung von Wasser in Wein: Wie ist eine Heilung möglich aus einer solch negativen Selbstwahrnehmung der Schande, der Demütigung, des ewigen: Ich hab’s nicht! Ich kann’s nicht! Ich bring’s nicht! Wie läßt ein Mensch sich retten, so daß das anfangs überaus Vermißte am Ende überreich zuhanden ist? Wie läßt sich ein solches Wandlungswunder im Leben eines Menschen bewirken, das aus dem ewigen Zuwenig ein Überreich zum Vorschein bringt? Es gehört zur Art von Erzählungen, wie sie diese Wundergeschichte darbietet, daß sie uns in keinem Betracht helfen, zu verstehen, was sich da Schritt für Schritt in der Seele eines Menschen begibt; noch weniger geben sie uns Anweisungen, wie man denn ein Gleiches zu tun vermöchte. Es soll offensichtlich ganz betont um diesen Eindruck gehen: Was da geschieht, ist ein Wunder, – für keinen «Kellner» auf Erden begreifbar, einzig für die Diener. Doch dann scheint es beachtenswert, wozu diese «Diener» bestellt wurden: sie sollten das Reinigungswasser nachliefern, das sonderbarerweise nicht vorhanden ist. Setzen wir dieses Traumbildmotiv uns einfach einmal so vor Augen: Da wartet in uns etwas wie ein leeres Gefäß; es hat 107

nie zu etwas getaugt, es war nie gefüllt. Aber wie nun wäre es, wir selber könnten in unserem Leben oder für einen anderen zu einem solchen «Diener» werden – wir würden in Anbetracht unseres eigenen Lebensverlaufs oder in Anbetracht einer fremden Biographie ein solches «Reinigungswasser» herbeischaffen? So besehen, wäre dies das erste und Wichtigste, was wir aus dem Munde Jesu hören sollten: Es wäre möglich, ein wie leer dastehendes Leben zu füllen, es wäre möglich, das vermeintlich so Unreine zu «reinigen», bis daß es sich unter den Augen der anderen wieder zum Vorschein bringen könnte. Konkret gesprochen: Immer wieder werden Menschen uns mitteilen, daß sie sich vorkommen wie etwas Schmutziges, wie etwas Unansehnliches, wie etwas Zu-kurz-Gekommenes oder Ewig-Vertanes. Dann bestünden die Wasser der Reinigung ganz oft einfach darin, daß jemand es uns erlaubte, mit ihm noch einmal durchzu«waschen» oder durchzuarbeiten, was denn an Möglichkeiten in uns wirklich vorhanden ist. Die «Reinigungswasser» können oft genug in immer wieder sich ausweinenden Tränen bestehen, sie können in immer wieder neuen Gedanken von Traurigkeit und Schmerz Gestalt gewinnen, – dann aber ließe sich gerade aus solchen Gestimmtheiten schöpfen, und es würde aus der Trauer die Freude, es würde aus dem Unglück von einst ein so nie zu ahnendes Glück. Allein diese Möglichkeit schon stellt etwas an sich Unglaubliches dar; doch wenn wir dies nicht verstehen, begreifen wir die Verwandlung, die Jesus in unser Leben tragen möchte, durchaus nicht. Versuchen wir deshalb, uns diese «unglaubliche Möglichkeit» mit ein paar Beispielen zu verdeutlichen. Eine Frau berichtet davon, daß sie sich chronisch unzufrieden fühlt. Sie hat regelmäßig einen angestrengten, langen Arbeitstag, und doch gibt es niemals so etwas wie die Empfindung: Jetzt war es genug, jetzt kann ich froh sein, es geschafft zu haben. Es kann sein, daß die Kollegen die Frau sogar loben für das, was sie getan hat – sie hat im Büro einen ganzen Stoß von Akten durchgearbeitet, auch ihr Chef ist mit ihr wirklich zufrieden; sie aber wird ganz umgekehrt empfinden: Er lobt mich nur, wird sie denken, damit ich noch fleißiger arbeite. Es ist fast so wie in dem Grimmschen Märchen vom Rumpelstilzchen, in dem eine Müllerstochter einem König versprochen wird unter der Auskunft, sie sei imstande, Stroh in Gold zu spinnen, – ein Bild, das ähnlich paradox ist wie die Verwandlung von Wasser in Wein. Nacht um Nacht muß die arme Müllerstochter unter Androhung der Todesstrafe eine ganze Kammer von Wertlosem in Gold spinnen. Das Mädchen ist über diese Forderung schier verzweifelt; einzig indem es einen Teil seiner selbst von sich abspaltet, nur 108

mit Hilfe eines Gnoms, des Rumpelstilzchens, gelingt es ihm, aus dem Unwerten das Kostbare zu machen; doch je besser ihm das gelingt, werden die Aufgaben, die man ihm stellt, nur immer größer und immer größer. Es ist am Ende wie verhext. Nicht einmal das «Kind», das es zur Welt bringt, wird ihm selbst gehören, – der Rumpelstilzchen-Gnom wird es für sich beanspruchen. Es selbst hat keinerlei «Eigentum», nichts, worauf es Anspruch hätte, es gehört sich selbst nicht; sein ganzes Leben ist nichts als eine einzige Schikane, und je besser es seine Aufgaben erledigt, desto höher wächst der Grad seiner Ausbeutung. Ganz so erzählt diese Frau: «Wenn man mich lobt, ist das niemals eine Beruhigung, sondern nur ein neuer Anspruch: noch mehr! noch besser!, denn im Grunde bin ich des Lobes des andern gar nicht wert. Würde er mich kennen, wie ich wirklich bin, hätte er gar keinen Grund, positiv von mir zu denken; also muß ich seine Anerkennung nacharbeiten, um sie hinterdrein wenigstens zu verdienen.» In dieser Weise kann ein ganzes Leben dahingehen, jahraus und jahrein, und es ist nichts anderes als – im Bild gesprochen – eine Anzahl von sechs Krügen, die leer dastehen; und es ist schon viel, wenn es sich nach und nach wenigstens mit reinigenden Tränen füllt; denn sie zeigen doch zumindest, daß ein Gefühl für sich selbst dabei wächst, eine Art Einsicht auch in den «Sinn» des Schmerzes. Wenn ein Gespräch erst einmal bis zu diesem Punkt gekommen ist, kann es durchaus sein, daß sich nach und nach die ganze Wahrnehmung ändert. Plötzlich entdeckt sich, daß diese Frau, die bislang immer wieder beteuerte, sie habe alles falsch gemacht, in Wahrheit, betrachtet man es auch nur ein bißchen freundlicher, ja gerechter, über alle Maßen wertvoll war und ist. Was sie permanent entwertet, ist überhaupt nicht der Zustand ihrer Person, durchaus nicht das, was sie wirklich tut, sondern ein fixer Maßstab, der in ihrem Kopf steckt. Dieser absurde und erniedrigende Bewertungsmaßstab erklärt ihr jeden Tag, jede Stunde, daß das, was sie macht, nicht gut genug sei. Woher dieser Maßstab kommt, ist dann natürlich eine entscheidende Frage. Um sie zu beantworten, müssen wir meist weit in die Kindheit zurückgehen: Die Mutter dieser Frau, der Vater dieser Frau, der Bruder dieser Frau – wer eigentlich hat ihr gesagt, daß sie «unwert» sei? Als Erklärung kann es hunderterlei Formen biographischer Tragödien geben. Eine Frau kann als Mädchen sehr schön gewesen sein; das aber reizte den Vater, mit frivolen Bemerkungen alles ins Zweideutige zu setzen. Was soll ein Mädchen unter solchen Umständen denken außer, es sei gar nicht schön, es habe überhaupt kein Recht, als eine Frau sich zu entfalten, 109

es sei zu verführerisch, es sei moralisch schlecht und gemein? Es ist unter diesen Umständen ein «gutes» Kind nur, wenn es sich selber verhüllt, wenn es sich selber verachtet und unterdrückt; nur wenn es traurig ist, ist es moralisch einwandfrei. Da ist ein Kind vielleicht erst zwölf Jahre alt, und doch geht die Sonne über seinem Leben bereits unter. Viele Jahre werden später damit hingehen, zu betteln und zu suchen, ob es so etwas wie Anerkennung nicht trotzdem finden könnte. Kommen solche Zusammenhänge erst einmal zur Sprache, so zeigt sich gewiß nur um so mehr noch, wie kostbar in Wirklichkeit das Leben eines solchen Menschen ist, wieviel Glück darin liegt, wenn er es nur erst einmal wagt, sich mitzuteilen! Freilich, innerlich stehen da immer noch die «Kellner» herum, die Leute, die ganz einfach wissen, wie man lebt; vor allem für die erste Phase des Lebens: da kommt das Beste, da muß «serviert» werden; in den ersten dreißig bis vierzig Jahren muß das äußere Leben aufgebaut werden, da muß man erfolgreich sein und den Grundstein der Karriere legen. Glück, Sinn, Persönlichkeit, Selbstentfaltung – all das kommt später. Erst gilt es nach «Kellner»-Logik, die erwarteten «Leistungen» zu erbringen und die Gesellschaft zufriedenzustellen, dann erst erlaubt sie Fehler und kleinere Schwächen, aber zunächst einmal, in den ersten dreißig, vierzig Jahren kommt es vermeintlich darauf an, das Leben zu meistern, sich durchzubeißen, die Umwelt von sich selber zu überzeugen. Wenn so die «Strategie» des «normalen», des standardisierten Lebens aussieht, fragt es sich natürlich, was mit all denen sein wird, bei denen das Beste überhaupt erst am allerspätesten auftaucht, weil sie an sich selber erst in der zweiten Lebenshälfte zu glauben beginnen? Dann freilich geschieht es zur Überraschung all dieser «Kellner»: sie werden niemals wissen, was im Leben eines Menschen sich plötzlich verändert hat, der nach langen Phasen des Leerstehens, des Nicht-mehr-weiter-Wissens, mit einer unvermuteten Kostbarkeit aufwartet. Die «Diener», die unmittelbaren Helfer wissen im Grunde auch nicht, wie es kam, allenfalls, wie es vor sich ging, können sie sagen; doch etwas Wunderbares bleibt es: Wasser der Reinigung wurde zu Wein. Man muß die Szene jetzt nur so nehmen, und man hat das Wunder eines ganzen Lebens vor sich, und man begreift plötzlich all das, was Jesus in diese Welt zu bringen kam. Im 15. Kapitel des Johannes-Evangeliums sagt er einmal, er selber sei wie ein Weinstock, und man könne überhaupt nur etwas «wirken» im Verbund mit ihm. Man kann auch so sagen: Jesus kam, um uns zu lehren, wie wir Menschen betrachten könnten mit den Augen der Güte und der Liebe, nicht des Vorwurfs; er mochte, daß wir das: ich 110

kann nicht! und: ich habe nicht! des anderen nicht länger triumphal ausbeuten, um uns selber wichtig zu machen; im Gegenteil, er wollte, daß wir genau hinschauen, indem wir dem andern nicht glauben, daß er nichts sei, nichts habe, nichts könne, nichts werde, sondern daß wir durchaus uns fragen: Warum kommt dieser andere zu einem solchen Eindruck? Denn dieser Eindruck stimmt in aller Regel überhaupt nicht. Kein Mensch kann nur schlecht sein; was also hat ihm den Blick auf sich selber derart verstellt? Das müssen wir herausfinden, um klarer zu sehen. Vor unseren eigenen Augen werden wir dann die Verwandlung von «Wasser» in «Wein» miterleben, den Übergang von dem vermeintlich Wertlosen in das berauschend Schöne; es hängt nur alles von der Art ab, mit welchen Augen wir sehen beziehungsweise bildlich gesprochen: auf welch einem «Zweig» die «Früchte» wachsen sollen. Selbst wenn ein Mensch objektiv all die Jahre über wirklich so belastet war, daß er kaum noch hochkam, geht daraus schon hervor, daß sein Leben vertan ist? Kann man nicht auch denken, es solle doch erst einmal ein anderer mit der Hypothek, die er zu tragen hatte, fertigwerden? Vor einer Weile erklärte ein junger Mann, wie sein Leben aussah, – ein Frührentner, knapp über dreißig, äußerlich gescheitert, für seine Eltern eine chronische Belastung, für die Krankenkasse eine Katastrophe, für die Sozialversicherung erbärmlich – was also soll aus einem solchen werden, aus diesem ständigen Versager, der mehrfach in die Psychiatrie mußte? Was dieser Mann selber schildert, zeigt ihn indessen als einen ganz anderen, als es nach außen hin erscheint. «Ich», sagt er jetzt, «habe das, was ich sagen möchte, seit vielen Jahren geahnt, aber nie wirklich gewußt. Sie dürfen das folgende nicht so verstehen, wie wenn ich mein Leben nach einem bestimmten Mythos eingerichtet hätte, es war umgekehrt: Was man mir später sagte, hat nur bestätigt, was ich all die Zeit über spürte – nämlich daß ich verflucht war, schon als ich zur Welt kam. Eines Tages hat meine Mutter es mir gestanden. Sie wollte mich nicht katholisch taufen lassen, aber der Pastor am Ort hat mich dafür verflucht. Ich sei und ich bleibe ein Kind des Teufels, hat er erklärt. Alles, was ich bin, ist deshalb falsch, war seither falsch, und auch was das Christentum sonst noch lehrt, hat mir nie geholfen. Sagen Sie selber, – was ist das für eine Lehre, wonach jemand getötet und gegessen werden muß, damit die Menschheit erlöst wird! Das ist doch Wahnsinn! Das ist doch kannibalistischer Wahnsinn! Eine solche Theologie ist ein prähistorisches Relikt. Aber wie lange hat es gedauert, bis ich mir sagte: Nicht ich bin verrückt, sondern die so sagen, das sind die Leute für die Psychiatrie. Mir hat man beigebracht: Ich bin ein Sünder! Ich bin 111

ein Sünder! und ich hab’ das geglaubt. Ich glaube heute an gar nichts. Aber ich suche nach Gott. In jeder Gruppe fühle ich mich belastet. Sobald jemand sagt: ‹Du mußt etwas›, ist es wie ein Erdbeben, das meinen ganzen Körper erschüttert, alles verspannt sich, und ich kann die einfachsten Dinge nicht mehr.» – Seit vielen Jahren ist dieser Mann nun dabei, sein Leben aufzuzeichnen, tagebuchähnlich, Eintragung für Eintragung; «vielleicht», denkt er, «kann ich doch mit meinem Empfinden für das, was Schmerz ist, anderen helfen. Ich weiß nicht, was Religion sein könnte, aber ich weiß, was sie sein müßte, und vielleicht nutzt es irgend jemandem.» Vielleicht lohnt es sich, diese Erfahrung, die ganz von innen kommt, gegen ein rein äußeres «Glück» abzugrenzen. Unter dem Titel Rausch der Verwandlung erschien 1982 aus der Feder Stefan Zweigs7 ein Roman aus dem Nachlaß, der von einer einfachen Postassistentin erzählt, die von amerikanischen Verwandten ins Engadin eingeladen wird und dort für eine Adlige gehalten wird; das unscheinbare Wesen, gedrückt unter den Sorgen der Nachkriegszeit, erlebt eine märchenhafte «Verwandlung», ein «rauschhaftes» Glück – sie lebt endlich so, wie sie es immer schon sich hätte wünschen mögen; dieses neue Leben ist (fast) ihre Wahrheit. Doch in Wirklichkeit führt Stefan Zweigs «Christine von Boolen» ein reines Doppelleben; sie wagt nicht, ihre eigentliche Identität kundzutun, sie muß fürchten, daß die Wahrheit alles zerstören würde, was doch zu greifen sich nahelegt; und in der Tat: kaum lüftet sich das Geheimnis ihrer Person, zerbricht diese Welt eines äußeren Mißverständnisses, und das Elend, das ihrer wartet, wird nur noch bitterer und verzweifelter. – Auch in dieser Erzählung kommt es zu einem «Rausch der Verwandlung», doch handelt es sich erkennbar nur um eine Verwandlung der Lebensumstände, nicht des Wesens eines Menschen. Im Gegensatz dazu möchte das Johannes-Evangelium gerade das «Wunder» der Wesensverwandlung im Leben eines Menschen beschreiben, und so beginnt es gerade mit der «Katastrophe», mit dem Einsturz der bisherigen Lebenseinstellung, mit der Entdeckung innerer Kostbarkeit. Die Hochzeit zu Kana erzählt uns nicht das Leben als Märchen, sie verdichtet und deutet vielmehr in märchenhaften (beziehungsweise mythischen) Bildern die Verwandlung des menschlichen Daseins; und eine wichtige Frage, die sich dabei stellt, gilt gerade uns, den Zeugen des «Wunders»: Was können wir dazu beitragen, daß derlei sich ereigne? Wir können eigentlich nur die Begleiter einer solchen «Wandlung» sein, indem wir an den anderen glauben trotz aller Widerstände: wie, wenn sein «Wasser» doch «Wein» ist? Freilich, da wir keine «Kellner» sind, werden wir nie verfügen können, 112

was aus dem Leben eines anderen Menschen wird; aber in diesen Momenten, in denen jemand gegen ein Meer von Leid, gegen einen Abgrund von Selbstmißtrauen und Angst langsam keimend den Mut gewinnt, an sich selber zu glauben, wird deutlich, wie aus dem Wasser der Tränen irgendwann ein Wein der Freude wird, ein «Rauschtrank» sogar für die anderen, wenn sie’s nur recht begreifen. Freilich: wieviel an Leid und Auseinandersetzung ist nötig, um auch nur im eigenen Leben diesen «Wein» des Glücks zu keltern! Es ist der Punkt, an dem sich das Wunder der Verwandlung von Wasser in Wein mit der Deutung des Karfreitags im Johannes-Evangelium verbindet. Denn das ist der eigentliche Sinn der Geschichte von der Hochzeit zu Kana im Vierten Evangelium: Es sei durchaus nicht nötig, daß wir aus falschen Gründen das Leid scheuen, das darin besteht, uns selber zu fühlen, uns selber zu sehen und herauszufinden, wer wir selbst sind. Immer wieder laufen wir davor weg, eine ehrliche Bilanz zu machen und uns selbst anzuschauen; immer wieder haben wir Angst vor der Verurteilung der anderen, wir weichen ihnen aus, wir verbiegen die Wahrheit. Wie aber, das Johannes-Evangelium hätte in einem seiner kostbarsten Sätze vollkommen recht, wenn es sagt: die Wahrheit (die Unverborgenheit) wird euch freimachen (Joh 8,32)? Man müßte dann nicht länger sich selber ausweichen. Es wären wirklich, wie in der Religion des Dionysos, Freude und Leid, Schmerz und Seligkeit ein und dasselbe; es käme zu dem Erleben einer großen Entfaltung, nur nicht länger mehr in der äußeren Natur, sondern mitten in unserer Seele. In dieser Art wird das Johannes-Evangelium auch späterhin all die vorliegenden Geschichten seiner «Wunderquelle» aufgreifen. Aus dem Mythos der Natur macht es eine existentielle Parabel, in dem, was draußen spielt, sieht es das Symbol für die Aufführung einer seelischen Reifung, für eine Verwandlung in allem, für die Heilung von Leid in Glück, für die Umformung von Tod in Leben, für den Aufgang des Lichts aus der Nacht. Die Geschichte selbst endet quasi familiär. Der engste Umkreis Jesu setzt sich einmütig und in Eintracht jenseits der anfangs anklingenden Spannungen wieder zusammen: Alle gehen gemeinsam hinunter an den See von Gennesaret, hinüber in die Stadt, die in den ersten drei Evangelien als seine, als Jesu Stadt selber, bezeichnet wird, nach Kafarnaum; aber man bleibt dort nicht lange; das neu gefundene Glück ruht, wenn man so will, nicht aus, es wird weitergehen, es wird auf Wanderschaft bleiben. Was also ist die Geschichte von der Hochzeit zu Kana? Wir haben vor uns eine einzige kleine Wundergeschichte, die indessen all das verdichtet, 113

was man wissen muß, um Jesus zu verstehen, eine Geschichte zwischen Licht und Schatten, zwischen Verzweiflung und Hoffnung, zwischen Traurigkeit und Freude, kurz, die Geschichte eines Wunders der Verwandlung, die erzählt, wie aus angstgeprägtem Menschenwillen Gotteswille wird, wie menschliche Not in Begnadung mündet und wie aus dem Empfinden des allzu Geringen sich ein Kunstwerk Gottes gestaltet. Vielleicht geht es uns ja in allem so: Wir können unser Leben stets daraufhin betrachten, wie ein Stück nach dem anderen von uns weggenommen wird; kaum fünfzig geworden, können wir die Unterschiede deutlich erkennen: Was waren wir noch vor fünfzehn Jahren, und was sind wir heute? Wir sind erkennbar schwächer geworden, und viele Möglichkeiten unseres Lebens sind gar nicht erst zur Entfaltung gekommen; immer wieder gab es Behinderungen; und sehen wir nur das, so können wir in eine nicht endende Klage darüber geraten. Vielleicht aber hat sich mitten in all dem, worin wir uns unglücklich fühlen und worüber wir uns beschweren möchten, auch etwas ganz anderes vollzogen. Vielleicht war es, wie wenn Gott unsichtbar ein Stück Holz in die Hand genommen hätte, um Span für Span, Fuge für Fuge etwas daraus wegzunehmen und herauszuschneiden, um eine schönere, zuvor nie so gesehene Gestalt daraus zu modellieren. Jeder Holzschnitzer weiß, daß die Gestalt im Holz selbst liegt und daß man am Material bereits ersieht, wie sich’s gestalten wird. Doch nur ein Künstler hat solche Augen, nur er wird, wenn er wegnimmt, in Wirklichkeit schenken. Die «Hochzeit zu Kana» aber möchte uns lehren, Menschen zu werden, die mit Künstleraugen zu sehen vermögen – liebevoll, kreativ und gerade dadurch alles verwandelnd. Es mag sein, daß sich gegen eine solche Betrachtung immer noch der Selbstzweifel richtet: ist das alles vielleicht nicht doch nur ein allzu frommes Wähnen? Was ein Mensch ist, steht ja unverändert immer noch da: verwachsen, verkrümmt, unscheinbar. Vielleicht hilft deshalb ein anderer Vergleich. Es ist gewiß nicht gleichgültig, wo jemand aufwächst. Es kann sein, daß wir im Hochgebirge Meter für Meter der Sonne entgegenwandern, aber der Wind wird kälter, das Wetter schroffer, irgendwann gelangen wir in die Zonen, an denen die Wälder aufhören; anstelle der stattlichen Kiefern finden wir jetzt nur noch Krüppelkieferbewuchs; – aber soll man deshalb diese Bäume der Höhe verachten, weil sie von Wind und Wetter modelliert wurden? Sollte man nicht viel eher sagen: Diese Bäume sind Zeugnisse dafür, bis wohin das Leben sich vorwagt? In dieser Höhe gibt es überhaupt keine Häßlichkeit mehr, es gibt nur noch Dokumente des Muts, dort auszuharren; keine Verachtung gebührt sich dort, sondern Anerken114

nung und Stolz darauf, unter den Umständen, das zu leben: – keine noch so schöne Kiefer irgendwo im Wald, windgeschützt, hat einen Anspruch auf soviel Wertschätzung und Dankbarkeit. Wirksam gegen die sonst drohende Gletschergefahr sind wesentlich diese vereinzelten Bäume am Hang … Es gibt einen anderen Akzent, der in der Geschichte der Hochzeit zu Kana mitschwingt, das ist die Frage von Gebet und Erhörung, von Menschenwille und Gotteswille. Davon jedoch in einer zweiten Meditation.

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Joh 2,1-12: Die Hochzeit zu Kana – 2. Teil: Das Wunder der Verwandlung Es gibt Evangelien, die auf besondere Weise aktuell zu sein scheinen. Das Evangelium von der Hochzeit zu Kana gehört dazu. Denn es scheint, als wenn die Zeit erst richtig käme, für die es aufgeschrieben ist. Hochzeit zu Kana – das heißt, daß Heilige Nacht zur Karfreitagsnacht wird. Und über unsere Zeit ist solche Nacht her-eingebrochen; unsere Schatten werden länger, die Straßen liegen dunkel da. «Als sie noch jung war, unsere Religion, da hatte sie noch Liebhaber; sie umarmten sie aus Leidenschaft; sie heirateten sie aus Hoffnung. Mit ihr heirateten sie ihr Reich von Morgen, das wunderbar auf Erden zu wachsen begann. Nun, da sie alt geworden ist, hat unsere Religion nur Söhne noch, Ernährer der Familie, die sie behüten, ernähren, halten werden wie eine verarmte Mutter, die ihnen zur Last fällt; und eine große Zahl hat sie von denen, die von ihrem Ersparten leben, auf ihre Kosten, und die sie dennoch nie besuchen kommen.» So schreibt die französische Schriftstellerin Marie Noël1. Die Hochzeitstafel unseres Königs ist sehr klein geworden. Manch einer kennt wohl noch den brasilianischen Spielfilm aus den sechziger Jahren: 40 Stufen zur Gerechtigkeit. Dieser Film erzählt die Geschichte eines Mannes, der bettelarm ist; sein einziger Besitz ist ein alter dürrer Esel, der ihm zu allem helfen muß: als Lasttier, als Reittier, zum Pflügen und zum Dreschen. Da stürzt eines Tages das Tier so unglücklich, daß es sich ein Bein bricht und sich kaum noch richtig bewegen kann. Für diesen armen Bauern ist das eine Katastrophe, und so fleht er in seiner Not zum Himmel um die Gesundung seines Esels; er gelobt Opfer und Wallfahrten, wenn nur sein Tier gesund wird. Im Leben eines jeden von uns gibt es derartige Momente, äußerste Augenblicke unserer Not, in denen wir ganz ähnlich zu Gott gerufen haben um seine Hilfe und um seinen Beistand. Jener brasilianische Film wurde gedreht, um die Religion mit bitterem und beißendem Spott verächtlich zu machen: «Du bekommst von Gott niemals das, was du gern möchtest; Gott und seine Beamtenschaft, die sogenannten Geistlichen, verstehen dich doch nicht; niemand von ihnen hört dich. Verlasse dich auf dein eigenes Handeln. Was du selber nicht machst, wird auch der liebe Gott nicht tun.» Das war die Botschaft dieses Films. Es ist stets richtig, Fragen, die das Leben stellt, so intensiv und provokativ wie möglich aufzugreifen; erst dann wird man entdecken, daß dieses 116

Evangelium von der Hochzeit zu Kana von gerade dem Gefühl sprechen möchte, wie es ist, wenn man bei allem berechtigten Bitten abgewiesen wird. Vielleicht macht unsere Zeit religiös zum ersten Mal nach dem Ende aller Magie und aller Verklärung der Wirklichkeit in der Breite der Bevölkerung diese Erfahrung mit der Religion: Beten rentiert sich nicht; beten ist Zeitvergeudung. Nicht einzelne nur, fast alle erleben das so. Die Frau, die für ihr krankes Kind betet, der Mann, der sich mit dem Gebet vor einem Arbeitsunfall schützen möchte, das Schulkind, das um eine gute Note betet – an wen wenden sie sich? Früher vielleicht, da gab es dieses unbändige oder abergläubige Vertrauen auf Gott; über uns aber hat sich eine bleierne Müdigkeit gebreitet, die die Hände sinken läßt, ohne sie zu falten, und die die Augen schließen läßt, ohne das Kreuz an der Wand noch zu sehen, wie in einer stumpfen Resignation, wie bei einem, der allzu lange um Hilfe gerufen hat und der nun mit Entsetzen wahrnimmt, daß das, was er als Antwort hörte, nur sein eigenes Echo von den Wänden war. So etwas erfährt ein Mensch nicht nebenher, so etwas verwandelt ihn. Es gibt keine Erfahrung, die trauriger und trostloser wäre als diese: wie jahrein, jahraus geplagte Menschen in ihrer Not sich zu Gott wenden, und es ist niemand da, der hilft. Doch gerade so verhält es sich in der Erzählung von der Hochzeit zu Kana! Maria kommt und bittet den Herrn in ihrer Not. Sie tut es nicht einmal für sich; sie tut es aus lauter Mitleid, für andere. Sie kennt den Herrn und steht ihm näher als nur irgend sonst ein Mensch. Und dennoch dieses schroffe: «Was habe ich mit dir zu schaffen, Frau?» – Nichts anderes als Antwort als die Ablehnung! So spricht der Herr zu seiner eigenen Mutter! Warum das? Warum Maria gegenüber? Wenn er nicht hören könnte, nun, man könnte lauter rufen; aber er hört, er lehnt nur rundweg ab! «Meine Stunde ist noch nicht gekommen.» Damit begründet Jesus seine Abweisung. Er lehnt nicht ab wegen der Menschen – Maria ist nicht eine unwürdige Beterin wie wir; ihre Beweggründe sind nicht selbstsüchtiger Art wie oft bei uns –, aber wann ist schon Not imstande, an andere zu denken! Nicht um des Menschen willen lehnt Jesus die Bitte seiner Mutter ab; er tut es offenbar einzig um seinetwillen: «Meine Stunde ist noch nicht gekommen». Der Herr darf offenbar nicht handeln. Das ist die Erklärung. Wir wissen, was im Leben Jesu «seine Stunde» bedeutet: Sie ist gekommen in Getsemane, auf Golgota. Da wird er selber beten, wie ein Mensch nur beten kann, am Rande der Verzweiflung «unter lauten Schreien und Rufen» (Mt 27,46.50) – und Gott wird den Kelch nicht vorübergehen las117

sen. Das ist seine Stunde: der Augenblick der tiefsten Ohnmacht, ein Leiden äußerster Erniedrigung. Und eben dies ist für Johannes die Hochzeit zu Kana: das Bild einer furchtbar scheinenden und doch scheinbar fruchtbaren Verwandlung von Wasser in Wein, von Menschenwillen in Gotteswillen. «Meine Stunde ist noch nicht gekommen», sagt Jesus, und doch, indem er diese Worte spricht, ist sie im Grunde schon gekommen. Wer sich so restlos in den Willen Gottes stellt, der steht bereits unter dem Kreuz der Ergebung! Die französische Dichterin Marie Noël zog schon vor Jahren daraus diesen Schluß: «Man kann auf Gott nicht rechnen, um von irgendeinem Unglück verschont zu bleiben, denn Unglück ist nicht Unglück, Tod ist nicht Tod in den Augen Gottes. Wir werden ohne Barmherzigkeit den Kelch der bösen Viertelstunde trinken, den Kelch der Geißelung, den Kelch der Eisennägel. Aber kommt das Unglück, kommt der Tod, so bitten wir Gott dennoch um Erlösung. Wir werden ihn bitten wie ein kleines Kind. Wenn das Kind betet, fleht der Glaube: Verschone mich … gib mir … rette mich … Die Ergebung fügt hinzu: Wie du willst. Die Erfahrung, der Zweifel murmeln zitternd: Oft, fast immer, willst du nicht. Die Hoffnung verhüllt sich. Aber die Anbetung beugt sich: Wie du willst. Und die Liebe, traurig-vollendet, sagt: ich danke dir.»2 Nur so geschieht das Wunder der Verwandlung. Über ihm liegt das unbesiegbare Versprechen der Erlösung und der Auferstehung. Denn es bedeutet, daß ich einmal alles, was zu mir gehörte, Gott übergebe – und Gott gibt es mir zurück. Es ist die einzige Art, in der ich zu mir selber komme: ein Verzicht, der dennoch keine Resignation ist, ein Überlassen, das dennoch am Ende dazu führt, daß wir uns selbst gehören. Und was ist zu tun, wenn wir Gott alles überlassen? Nicht viel. Nur, was Maria tut. In unserer Zeit bleibt vielleicht überhaupt nur dieser bescheidene Dienst Mariens. Von Jesus hat sie nichts anderes gehört als Ablehnung, und es scheint die unbegreifbare Härte unserer Zeit zu sein, immer wieder auf diesen Widerstand Gottes zu stoßen, auf sein glattes Nein zu unserem Wollen. Und dennoch hofft und vertraut Maria weiter. «Was immer, – wenn er zu euch spricht, tut’s!» Vielleicht ist es nur das, was Gott von uns heute verlangt: ihm blind, die Ablehnung noch in den Ohren, die Krüge, die Gefäße hinzustellen, die seine Liebe füllen und verwandeln kann. Dann ist es möglich, daß am Ende auch die Speisemeister dieser Zeit jene merkwürdige Verwandlung spüren; sie werden nur erstaunt sein, – nichts weiter. Aber die Diener Gottes werden wissen, woher der Wein in ihren Krügen stammt. 118

Joh 2,13-25: Die Tempelreinigung oder: Von Götzendienst und Gottesdienst 13Denn

nah war das Pessah der Juden, und so stieg hinauf nach Jerusalem Jesus (5,1; 7,10). 14Da fand er im Heiligtum die Händler: Rinder, Schafe, Tauben, und die Münzwechsler, wie sie da saßen; 15da machte er eine Peitsche aus Stricken, und allesamt warf er sie hinaus aus dem Heiligtum, auch die Schafe, auch die Rinder, und von den Wechslern schüttete er aus die Münze, und die Tische stieß er um, 16und den Taubenhändlern sagte er: Schafft das weg von hier! Macht nicht das Haus meines Vaters zu einem Handelshaus. 17Erinnert wurden seine Jünger daran, daß geschrieben ist: Der Eifer um dein Haus verzehrt mich (Ps 69,10). 18Geantwortet haben da die Juden (die Gottesbesitzer) und ihm gesagt: Welch ein Zeichen weisest du uns, daß du das tust (Mt 21,23)? 19Geantwortet hat Jesus und hat ihnen gesagt: Löst diesen Tempel auf, und in drei Tagen errichte ich ihn (Mt 26,61)! 20Gesagt haben da die Juden (die Gottesbesitzer): In 46 Jahren wurde dieser Tempel gebaut, und du – in drei Tagen errichtest du ihn?! 21Er aber sprach vom Tempel seines Leibes (1 Kor 6,19). 22Als er dann auferweckt ward von den Toten, wurden erinnert seine Jünger, daß er das gesagt hatte, und sie gelangten zum Vertrauen durch die Schrift (Hos 6,2) und durch das Wort, das Jesus gesprochen hatte. 23Wie er dann in Jerusalem war zum Pessah, in der Festmenge, gelangten viele zum Vertrauen auf seine Wesensart hin (3,18), schauten sie doch von ihm die Zeichen, die er tat. 24Selbst aber brauchte Jesus auf sie kein Vertrauen zu gründen, dadurch daß er wußte um alle 25und weil er nicht nötig hatte, daß jemand sich erklärte über den Menschen; er selbst wußte ja, was im Menschen war (Mk 2,8).

Nach der Geschichte der Hochzeit zu Kana im 2. Kapitel erzählt das Johannes-Evangelium von der Tempelreinigung in Jerusalem, – ein scheinbar scharfer, kontrastreicher Szenenwechsel; wir aber werden sehen, daß beide Themen innerlich zusammengehören, indem die «Tempelreinigung» so etwas enthält wie eine Grundsatzerklärung, wie das Programm, das Jesus sich für alles Weitere setzen wird. In der Tat war die Tempelreinigung, geistig betrachtet, nicht ein einmaliger Aufstand, eine Symbolhandlung, die sich wie zufällig zu Jesu Leben verhielte; sie drückt vielmehr aus, was der Mann aus Nazaret insgesamt wollte. Literarisch betrachtet, ist die Geschichte von der Säuberung des Tempels eine der wenigen Stellen im Johannes-Evangelium, die mit den Texten der drei ersten sogenannten 119

synoptischen Evangelien übereinstimmen. Wir haben deshalb noch einmal Gelegenheit, die Art, wie Johannes vorgegebene Stoffe übernimmt und bearbeitet, an dieser Stelle genauer zu betrachten. Was sich schon im Markus-Evangelium in dieser Szene begibt (Mk 11,15-17), läßt sich historisch einigermaßen zuverlässig rekonstruieren. Von einem bestimmten Zeitpunkt an muß Jesus von Galiläa aufgebrochen sein, um hinüberzugehen in das Zentrum des Glaubens seines Volkes. Es wird ein Gang gewesen sein, der eine Entscheidung erzwingen wollte. Vorangegangen war die Phase einer großen, begeisterten Aufnahme seiner Worte beim einfachen Volk in den Dörfern Galiläas, zugleich aber auch eine Zeit der wachsenden Entfremdung gegenüber den Jerusalemer Behörden. Wenn uns das Markus-Evangelium ein getreues Bild von den Ereignissen malt, muß sehr früh bereits das Mißtrauen der religiösen Institutionen begonnen haben (Mk 3,6.22). Da scheint sich in der Person Jesu etwas zu verselbständigen, da passiert mit diesem Mann etwas nicht Kontrollierbares, da entgleitet etwas der zentralen Lenkung und Aufsicht; ja, hört man genau hin, so folgt es nicht den Weisungen, die von den Thora-Theologen in Auslegung der Gebote des Mose für alle verpflichtend gemacht werden. Zudem kommt offensichtlich etwas noch Ärgeres hinzu. Unter Theologen ist es eine weitgehend offene Frage, wie Jesus zum Jerusalemer Tempel stand. Eines kann man von vornherein mit Sicherheit sagen: Er hat sich nie als zugehörig in irgendeinem Sinne zum Tempelpersonal verstanden. Er wollte nie in irgendeinem Betracht Priesterdienste verrichten. Und vor allem, es gibt ein Gleichnis aus seinem Munde, das so zugespitzt kritisch zu all dem steht, was da im Tempel passiert, daß man den Einfluß seines Lehrers, Johannes’ des Täufers, darin wiederzuhören meint. Es ist die Geschichte aus dem 10. Kapitel des Lukas-Evangeliums (Lk 10,25-37), die antworten soll auf die Frage, was denn das wichtigste aller Gebote sei, was Inhalt und Kern von allem darstelle, was Mose vom Sinai für sein Volk und für die Menschen aller Zeiten mitgebracht habe. Jesus hat in Lk 10,27 ganz nach Schriftgelehrtenart unter Berufung auf zwei Bibelstellen (Dtn 6,5; Lev 19,18) zur Antwort gegeben: Liebe Gott und liebe deinen Nächsten. – Aber wer ist das, mein Nächster, und wie kann das aussehen, den Nächsten zu lieben? – Darauf erzählt er das folgende Gleichnis: Ein Mann ist am Wege von Jerusalem nach Jericho überfallen worden und liegt schwerverletzt da. Da kommt ein Priester vorbei – jeder, der diesen Satz hört, muß denken, nun erführe er, wie man sich zu verhalten habe. Ein Priester ist das Vorbild, die institutionalisierte, die beamtete Antwort auf die Fragen des menschlichen Lebens, er ist das Offizielle in Per120

son; so wie er sich verhält, ist es verpflichtend und beispielgebend für jeden. Von daher begreift man den Affront, der darin liegt, wenn Jesus fortfährt: Der Priester sah den Verletzten – und ging vorüber, – weiter nach Jerusalem, soll man denken, um pünktlich, nach Ritus und Gesetz, koscher, mit nicht-entheiligten Händen, kultisch rein seinem Dienst zu obliegen und damit den Willen Gottes ungeschmälert abzuleisten. In seinen Fußspuren, gleich ihm folgend, geht des Wegs ein Levit, und auch er verhält sich ganz wie sein vorangegangener geistiger Führer: Auch er sieht und übersieht den Verletzten am Wegrand; er geht vorüber. – Da wird eine Geschichte erzählt, die schockierend wirkt und schockieren will, und zwar weil man das alles nur allzu gut kennt: diese Zwänge, diese heiligen Traditionen, diese verordneten Denkbahnen und Vorschriften. Danach hat ein Priester sein Leben lang nicht den Leichnam eines Menschen zu berühren, hat er sich die Hände nicht «schmutzig» zu machen an dem Blut eines Verletzten, wenn er das Opferblut am Altare des Herrn darbringen will und muß! Von derart festgelegten «Amtsträgern» ist nicht zu erwarten, daß sie aus ihren Gleisen ausscheren. Ihre scheinbare Unmenschlichkeit ist ein fester Bestand und ein integraler Bestandteil der verordneten Ordnung ihrer Religion. Man spürt, daß Jesus den Zorn seiner Hörer mobilmachen will. Das ganze Gleichnis – als Antwort auf die Frage: wie liebe ich meinen Nächsten? – enthält eine massive Polemik gegen den Tempelkult mit all den entsprechenden Auflagen: Menschen sind nach Priesterlogik vor Gott angenehm, wenn sie sich an Moral, Ritus und Gesetz orientieren, genau das aber führt sie erkennbar an dem Menschen vorbei, der in Not ist, denn ein derartiges Reglement ist nicht flexibel, es ist ein ewiges ödes Einerlei, es ist in sich selbst das immer Richtige und also das dauernd Falsche. Schon wer die Geschichte Jesu bis dahin begleitet, weiß, daß jemand, der so spricht, sich um jeden Kredit bei den vorgesetzten Instanzen bringen wird, daß er sich um Kopf und Kragen redet. Nun aber treibt Jesus es zum Äußersten, wenn er ausgerechnet einen Samariter in die Geschichte einführt. Ein Samariter war in den Tagen Jesu jemand, den ein orthodoxer, nationaltheologisch denkender Jude hassen mußte, wenn er seinen Glauben bekennen wollte. Die Samariter hatten sich mittelbar schon mit dem Nordreich (Israel) im 10. Jh. v. Chr. vom Süden (Juda) gelöst, und vollends als sie um 520 nach dem babylonischen Exil nicht als wahre Israeliten anerkannt wurden, weil sie nur die fünf Bücher Mose als Gotteswort verstanden, war der Bruch unvermeidbar. Die ganze Weiterentwicklung der judäischen Rabbinen nach der Rückkehr aus dem Exil war an ihnen vorübergegangen, und wie immer, wenn Menschen eng zusammengehören 121

und sich dennoch nicht verstehen, haßten sich Samariter und Juden am heftigsten – in Gottes Namen! Sie waren «Erbfeinde» seit einem halben Jahrtausend! Wenn Jesus also gerade einen Samariter in sein Gleichnis einführt, stockt einem der Atem, denn ausgerechnet von dem erzählt er, dieser sei hinübergegangen zu dem Verletzten, und er habe alles getan für ihn, was er tun konnte! Und der Grund: Er hat offensichtlich nicht den Opferdienst und die Reinheitsvorstellungen der Priester und Schriftgelehrten im Kopf; und eben deshalb hat er die Augen und das Herz frei, zu sehen und zu tun, worauf es vor Gott und den Menschen einzig ankommt: Menschen in Not zu helfen, so gut es geht. Eine solche «Lehre» freilich ist revolutionär. Sie besagt: Vergiß alles, was sie dir über Gott beigebracht haben unter den Augen der Zensoren in Jerusalem, streif das ganze Offizielle des religiösen Betriebs ab, laß alles Beamtete beiseite, – es bringt Gefahr, dich falsch auf den Weg zu schicken; es treibt nicht, was Gott will, es macht aus Gott einen Popanz, einen Götzen, eine fixe Idee. Denn es gibt keinen anderen Gottesdienst, als auf Menschen zuzugehen, die Hilfe benötigen. Nur in solchem Tun wohnt Gott. Wer aber sagt, Gott wohne im Tempel in Jerusalem, dort müsse man ihn besuchen und dann erst könne man den Weg zu den Menschen finden, der stellt alles auf den Kopf. Ein solcher Tempelgott ist gleichbedeutend mit der Leugnung Gottes, ein solcher Tempeldienst ist der Inbegriff der Unmenschlichkeit; er ist überflüssig, hinderlich und schädlich. Eine solche Rede besitzt tatsächlich den Atem der Wüste, sie verrät deutlich den Geist Johannes’ des Täufers, sie ist radikal kritisch gegenüber dem Jerusalemer Tempel; und sie hebt diese Kritik ins Wesentliche. Die Wüstenväter von Qumran lehnten den Tempel ab, weil in ihren Augen die Einhaltung der Riten von den Priestern der Söhne Sadoks, den Sadduzäern, nicht genau genug beachtet wurde und weil die gesamte Beamtenschaft am Tempel für korrupt galt; Johannes der Täufer ignorierte offenbar aus prophetischen Gründen den Tempelkult, und in den Fußspuren dieses Mannes begann Jesus seine eigene Mission, Gott und Mensch in ein vertrauensvolles, entängstetes, heilsames Verhältnis zueinander zu bringen. Man kann kaum anders denken, als daß Jesus die Hohen Priester im Umkreis des jüdischen Heiligtums ernst genug genommen hat, um sie mit seinem Gang nach Jerusalem zu einer Entscheidung zu nötigen. Es wird ihm nicht verborgen geblieben sein, wie die Dinge im Untergrund zusammenhingen. Was er in Galiläa in den Dörfern rund um den See Gennesaret immer wieder antraf und zu bekämpfen suchte, nennen wir in verharmlosendem Theologendeutsch die Frage der Vergebung der Sün122

den: ist sie «priestervermittelt» lebbar? Das Wort «Sünde» ist derart verstaubt, verfeierlicht und mystifiziert, daß so recht niemand mehr etwas damit anfangen kann. Würden wir statt «Er vergab die Sünden» sagen: «Er kämpfte gegen jede Art von Außenlenkung, Unterdrückung, Angstabhängigkeit und verinnerlichter Gewalt», dann würden wir die Dinge beim Namen nennen. Denn das sah Jesus: wie man die einfachen «Leute auf dem Lande» im Namen Gottes immer wieder einsperrte in die Fesseln einer Gehorsamsethik, die sie erstickte und nicht leben ließ und die am Ende aus Gott einen Tyrann machte, so daß man ihn nur fürchten und vermeiden konnte, statt zu ihm Vertrauen zu gewinnen und sich ihm zu öffnen. Diese Art von Religion, da glaubte Jesus sich sicher, verleumdet Gott, der väterlich ist zu den Menschen und der uns miteinander leben lassen möchte als Geschwister. Was auf der einen Seite die Tyrannei im Sprechen von Gott ist, stellt sich auf der anderen Seite als Ursache und Folge, als Motiv und Ziel, als ein sehr berechnetes, wohlkalkuliertes System von Macht und Geldgewinn dar. Die Art, wie man an der Religion verdient, ist immer wieder die gleiche. Sie läßt sich festmachen an zwei Punkten, die strukturell die Religion zu stabilisieren vorgeben, während sie diese in Wirklichkeit unterminieren. Das eine ist: man verwandelt die Gotteserfahrung, die persönliche Begegnung, in eine Lehre von außen, eben in eine Doktrin von Gesetzlichkeit und Zwang, gerade wie Jesus sie im Herzen der Menschen als Besessenheit und Krankheit wiederfand und aufzulösen suchte; das andere ist: man beutet die religiöse Angst der Menschen aus zu Machtanhäufung und Bereicherung. Machen wir die Probe aufs Exempel, wie das Christentum sich darstellt. Bei einiger Ehrlichkeit kommen wir nicht umhin zu sagen, spätestens seit dem 4. Jh., seit 1500 Jahren also, präsentiere sich das Kirchenchristentum wesentlich, ja, fast ausschließlich als Lehrbetrieb, eingerichtet von bestimmten Schichten, die auslegen, wie man an Christus glauben muß, das heißt besser: welche Formeln man sprechen muß, um zu beteuern, daß man an Christus glauben würde; und wer diese Sprache nicht exakt zu Wege bringt, gilt nicht als Mitglied der Kirche, der ist als Ungläubiger auszustoßen. Um ein solches System aufrechtzuhalten, braucht man sehr viel Geld, ganz ohne Frage: man benötigt Geld für eine jahrelange Ausbildung der Gottesexperten – mehr als 600 000 Euro pro Priester, Geld für die Einrichtung gewaltiger Bibliotheken, Geld für den Aufbau eines riesigen Systems zur Machtverteilung, stets wie bei einer Pyramide von oben nach unten. Ein solches System erhält sich, indem dem kleinen Mann vorge123

macht wird, daß seine Erfahrungen, seine Gefühle nichts gelten vor Gott, es sei denn, sie würden beglaubigt durch das Sprachspiel der Experten. Die wissen, wann man gläubig ist und auf dem rechten Wege befindlich, und bevor nicht dies gewährleistet ist, gilt nichts in Sachen Gott und Jesus Christus. Was würde Jesus tun, käme er nach 2000 Jahren zurück in diese Welt? Mit was für Peitschen müßte er zuschlagen, um uns heute zu treffen? Man braucht viel Macht, um das kirchlich etablierte System fortzusetzen. Man braucht den Zugang zu den Bildungsmonopolen, man braucht die Kollaboration mit der Staatsmacht, man braucht die Rückversicherung der öffentlichen Ordnung, man ist am Ende sogar selber systemerhaltend für die bürgerliche Ordnung, man liefert die metaphysische Rechtfertigung ihrer Ethik, und man wird immer abhängiger, immer ohnmächtiger und entfernt sich immer weiter von Gott. Gibt es, wenn wir Jesus vor Augen haben, nicht diese Traurigkeit, die uns überkommen muß, wenn wir die kostbarsten Leistungen des Christentums im Abendland aufgereiht sehen in großartigen Domen und Kathedralen, so schön, daß sie als Museen ein erhabenes Zeugnis der Baukunst, der stilistischen Sensibilität, des Opfermutes und des Reichtums vergangener Epochen darstellen, aber wie behaftet mit Blut und Krieg! Die römischen Basiliken – sie wurden ausgekleidet mit dem Gold der Azteken und der Inka-Peruaner, geschändeter und erwürgter Kulturen, im Dienst für Gott, gewiß, aber für welchen Gott, muß man fragen. Den Vater Jesu Christi? Sicher nicht. Dann muß man sich vorstellen, daß es all das ja nicht nur draußen gibt, daß es nicht nur in einer Institution existiert, sondern wesentlich noch einmal in uns selber, die wir es besser offenbar nicht wünschen, die wir uns damit beruhigen, daß die Dinge einfachhin so laufen, wie sie sind, die wir dazugehören und uns nicht zu entscheiden wagen zwischen den Evangeliaren aus Gold, die man an erhabenen Stellen aufblättert, um das Wort Jesu vor Kaisern und Königen, Fürsten und Statthaltern sorgfältig und weise auszulegen, und dem Evangelium – nach dem Vorbild des heiligen Franziskus etwa, der seine letzte Bibel nahm, um sie für einen Bettler zu verkaufen. Wenn Gott nur im Herzen spricht, ist alles, materiell betrachtet, sehr billig, aber wir selber sind, geistlich betrachtet, sehr reich. Und das ohne Zweifel wollte Jesus. Darin muß der Sinn seines «langen Marsches» bestanden haben, mit dem er an der Spitze seiner Anhänger von Galiläa aus hinübergeht in die Heilige Stadt. Alles wartet in den Pessah-Tagen darauf, wie man dort reagiert. Jeder, der sich als Berater Jesu in pragmatischen Fragen des Vorgehens hätte verdient machen wollen, würde gewiß geraten haben, er solle unmittelbar mit 124

den dort amtierenden Hohen Priestern reden, vor allem, er solle abwarten, er solle Geduld walten lassen, er solle die nötigen Verhandlungen einleiten und sich überhaupt erst einmal in diesen Kreisen, die ihn nur vom Hörensagen und durch die Aussagen von Spitzeln kennen, persönlich bekannt machen; er solle etwa vorhandene Vorurteile – auch auf seiner Seite! – womöglich abbauen. Statt dessen kam von Anfang an alles ganz anders. Wir sehen einen Jesus vor uns, der auf Taktik offensichtlich nicht den geringsten Wert legt. Nichts wird da klug überlegt, nichts auf seine Folgen hin berechnet. Jesus will keine «Verhandlungen», er will Entscheidungen. Doch was er dann erlebt, als er den Tempel betritt, übersteigt schlicht all seine Vorstellungen. Was er anstelle des «Gebetshauses» im Sinne des Jesaja (56,7) vorfindet, nennt Johannes ein Handelshaus, – die Synoptiker nennen’s mit einem wörtlichen Zitat aus Jeremia 7,11 eine Räuberhöhle. Spätestens dieser Anblick stellt auch Jesus vor ein Entweder-Oder; angesichts dieses Zustandes gibt es für ihn keinen Kompromiß. Die Synoptiker erzählen, Jesus habe die Händler hinausgewiesen; Johannes fügt hinzu, er habe sich eine Peitsche aus Stricken geflochten und draufgeschlagen; er habe sie hinausgejagt – die Händler, die Tiere – raus! Mit einem heiligen «Eifer», das heißt empört und wütend. Was in der Szene der Tempelreinigung auf dem Spiel steht, ist auch historisch klar. Es geht, äußerlich betrachtet, zunächst darum, daß man im Tempel nicht mit römischem, heidnischem Geld handeln darf; also muß am Tempeleingang die römische Münze eingetauscht werden gegen jüdisch geprägtes Geld, und das tun die Münzwechsler. Die Tierhändler wiederum sind nötig, um sich die Tiere zu kaufen, die man für die Opferstätten braucht. Von all dem lebt die offizielle Religion. Dahinter aber waltet «die unsichtbare Hand», sie kassiert die Mehreinnahmen; sie kontrolliert den gesamten Geldumlauf. Die «unsichtbare Hand», das sind die Hände des Hannas; nach ihm sind die Hallen benannt, in deren Umgebung diese Szene spielen muß. Hannas ist der Schwiegervater des Hohen Priesters Kajaphas. Den Mann kennen wir näher; ihm wird später das Todesurteil über Jesus zugeschrieben, und es wird von ihm nicht zuletzt auch politisch motiviert: «Ihr bedenkt nicht einmal», spricht er, «daß es nur zuträglich ist für euch, daß ein Mensch stirbt für die Leute und nicht das ganze Volk zugrunde geht.» (Joh 11,50) In dieser Haltung taktierender Angst hat Kajaphas das Kunststück fertigbekommen, als Hoher Priester länger als ein Dutzend Jahre Freundschaft zu pflegen mit den heidnischen Römern, die das Land seit 63 v. Chr. besetzt halten. Mindestens nach außen muß Kajaphas von diplomatischer Raffinesse gewesen sein. Als Realpolitiker 125

muß er verstanden haben, daß die römische Militärmacht nicht durch die Wahnideen der Bandenkrieger, der «Zeloten» (Eiferer) und «Sikkarier» (Dolchmänner) in den Bergen Galiläas, aus Palästina zu vertreiben ist; man muß sie dulden, man darf sie nicht reizen, man muß mit ihr koalieren, gerade wenn man als Hoher Priester für das Volk Gottes Verantwortung trägt. Schon daß man statt des einen Hohen Priesters von den Hohen Priestern spricht, liegt im Grunde an den Römern. Denn ursprünglich waren die Hohen Priester aus dem Geschlecht der Makkabäer Besitzer des Königstitels; erst Herodes «der Große» und die Römer, als deren Kreatur er regierte, nahmen ihnen diesen Titel und hoben auch die Erblichkeit des Amtes auf, das fortan nicht mehr lebenslänglich ausgeübt wurde. Dafür wurden alle Mitglieder der fünf hohenpriesterlichen Familien als «Hohe Priester» bezeichnet. Zudem baute Herodes den wiedererrichteten Tempel aus der Zeit nach dem Exil äußerlich prachtvoll in erweiterter Form mit großen Säulenhallen wieder auf; in dem äußeren Tempelvorhof, der auch von «Heiden» betreten werden durfte, wird die «Reinigungsszene» hier gespielt haben. Doch was dort stattfindet, ist ein Spiegelbild der ganzen Konstruktion dieses Tempels: es wendet nach außen, was innerlich sein müßte; und im Rahmen dieser Mesalliance von Thron und Tempel, von Macht und Ideologie, fungiert auch der «Hohe Priester». Mit anderen Worten: Kajaphas verkörpert Religion, wie sie in etablierter Form immer wieder auftritt: Es gilt, das Volk zu organisieren, zu «führen», durch die Jahrhunderte zu bringen und nur ja nicht zu beunruhigen; es gilt, den Gefahren auszuweichen; man sieht Religion daher immer auch als eine Spielart der Politik. So scheint es «pragmatisch», so scheint es erfolgreich; aber ist es auch legitim? Um diese Frage geht es in der Szene von der Tempelreinigung. Was eigentlich ist unter «Gottesdienst» zu verstehen? Je konservativer geprägt die Gedanken über Gesellschaft, Frömmigkeit, Moral und Recht sich gestalten, desto paradoxer wird man immer wieder auf zwei Elemente stoßen, die sich scheinbar nicht miteinander vertragen und die im Untergrund doch logisch einander bedingen. Der eine Gedanke ist der des Opfers. Immer wieder wird im konservativen Raum dem Einzelnen gepredigt, daß er sich «opfern» muß für den Dienst am Allgemeinen, daß er zumindest auch «Opfer» bringen muß für die Notwendigkeiten des Ganzen. Der Einzelne hat, so betrachtet, kein Recht auf sein eigenes, nur privates Glück, sondern er ist verflochten mit allen, er hat sich der Allgemeinheit (der Kirche, dem Staat, der Partei, der Ordensgemeinschaft) einzuordnen und unterzuordnen, indem er den Anordnungen und Weisungen Folge lei126

stet; er muß Verzicht tun. So die soziologische Doktrin, so auch das theologische Dogma. Da ist ein Gott, dem man sich nur nahen kann, indem man Opfer darbringt. Ein Mensch gilt da für so angenehm, für so willkommen und für so wertvoll, als er an Opfern mitzubringen und einzubringen hat. So die subjektive Seite, die zeigt, was diese Einstellung den Menschen abverlangt. Auf der anderen Seite liegt das ganze Bestreben in diesen Gedankenbahnen darauf, Reichtum, Macht und Geld anzuhäufen, – in dieser Zielsetzung zeigt sich die objektive Seite des Systems. Dieselbe Gesellschaft, dieselbe Religionsgemeinschaft, die dem Einzelnen jede Art von Entsagung auferlegt, legt selber den größten Wert darauf, Macht, Geld und Geltung für sich selber zu erwerben. Und man versteht: im Grunde ist das eine nur das Mittel für das andere. Je weniger der Einzelne für sein persönliches Glück, für seine Entfaltung Energien übrigbehält, desto mehr wird an seinem Opfer sich die Allgemeinheit mästen; sie wird das aber wiederum nur können, wenn sie den Erwerb von Geld und Macht für etwas Unverzichtbares, für etwas Gottgewolltes verklärt. Gerade so finden wir’s hier, im Alten Israel. Jeder, der sich Gott nahen will im Tempel, hat Opfer darzubringen, indem er den Priestern den Mittlerdienst überläßt. Gleichzeitig wird die Tempelverwaltung, werden die Hohen Priester ihre Machtmittel und Geldmittel aus den Händen der Gläubigen immer stärker vermehren. Die Erniedrigung des Einzelnen und eine quasi kapitalistische Wirtschaft als Ordnung des Allgemeinen – beides sind nur die zwei Seiten ein und derselben Prägung, ein und derselben Münze, und dies seit den Anfängen eines institutionalisierten Priesterdienstes in tempelähnlichen Gebäuden. Historisch gesehen, waren die Tempel als erstes Banken, in denen die Schuldgefühle der Menschen in Opfergelder der Tempelkasse verwandelt wurden1. Man könnte sich fragen, was Jesus denn gegen diese so weit verbreitete, in jeder Religion und in jeder Kultur vorkommende Einrichtung und Gewohnheit geltend zu machen hatte. Statt in historischen Detailbegründungen stecken zu bleiben, sollten wir noch einmal die Frage weitergeben an den Zustand der Religiosität heute, zum Beispiel der römisch-katholischen Kirche als der mitgliederstärksten religiös-staatlichen Institution. Wie predigt man das Evangelium im 3. Jahrtausend? Die Antwort der römischen Zentrale darauf ist ganz klar: Was wir als erstes brauchen, ist Macht und Einfluß, und zu deren Unterhalt benötigen wir Geld. Nur ein gut ausgestatteter, mit Geldmitteln wohl versehener Apparat kann sich stark genug durchsetzen auf dem Markt der meinungsbildenden Medien, nur er verfügt über die Energie, die Seelen der Einzelnen 127

zu beeinflussen und große Menschengruppen zu erreichen. Geld ist die Seele der Verkündigung, gewissermaßen die Basisvoraussetzung von allem anderen. Ohne Geld läuft überhaupt nichts, bringt man uns bei; Geld ist das Energiemittel, das Adenosintriphosphat sozusagen, das in jedem energetischen Prozeß des Körpers sich austauschen muß, um das Leben einer religiösen Gemeinschaft, wenn sie so verfaßt ist, in Gang zu halten. Den Propheten der Kirchengeschichte stellt sich quer durch zwei Jahrtausende das Problem immer wieder: Girolamo von Savonarola im 15. Jh. zum Beispiel – er wurde verbrannt auf dem Marktplatz von Florenz2; oder Martin Luther, als er die Ablaßpredigt, mit deren Hilfe man in deutschen Landen den Menschen in ihrer Angst vor dem Fegefeuer Geld zum Bau des Petersdoms abpreßte, nicht länger als eine göttliche Botschaft dulden wollte. Immer ging es auch um Geldopfer dabei; – 86. These beim Anschlag an der Schloßkirche zu Wittenberg deshalb: Wenn denn der Papst, wo er der reichste Krassus ist, zum Bau des Petersdoms Geld nimmt, warum dann nicht sein eigenes statt das der armen Gläubigen?3 Wahrscheinlich war diese These Luthers noch viel schlimmer für die römischen Ohren als seine Meinung, daß Gott die Sünde der Menschen vergebe aus reiner Gnade, ohne jede Vorleistung. Denn diese Aussage griff lediglich den Theologenstand an und brachte ihn geistig auf neue Gedanken, der Satz vom Geld des Papstes aber war gerichtet gegen die materielle Ausbeutung als ein Prinzip geistlicher Herrschaft. Da steht buchstäblich für eine so verfaßte Frömmigkeitsordnung alles auf dem Spiel. Beides hängt auf diese Weise zusammen, das Opfer wie das Geld, und wir müssen, schon gestützt auf das Zeugnis der Synoptiker, denken, daß Jesus beides ineins abschaffen will: die Opferrituale im Tempel ebenso wie die Geld- und Schuldeneintreiberei für die Tempelkasse – vor allem das Thema der obligaten Tempelsteuer, die jeder fromme Jude zwangsweise zu entrichten hat, spielt da mit (vgl. Mt 17,24-27). Das Handeln Jesu wird von Johannes nach Psalm 69,10 wie ein sich erfüllendes Schriftwort dargestellt: Der Eifer um dein Haus verzehrt mich. Und in der Tat, es geht darum, Gott für die Menschen zurückzugewinnen. Übersetzen wir, was sich da abspielt, nur in unsere Tage; begeben wir uns an irgendeinen Wallfahrtsort, ob nach Fatima, Lourdes, Kevelaer, Tschenstochau oder Guadelupe, oder gehen wir direkt nach Rom, – wir finden überall dasselbe Schauspiel: man macht aus der Religion ein Geschäft, und der Grund: man hat immer einen Gott, der zuerst versöhnt sein will durch seine Priester, aus deren Händen die Opfer dargebracht werden müssen, die die Gläubigen zu bringen haben, damit endlich die Heilswerke der Kirche den Him128

mel erreichen können. Genau so nicht! meint Jesus, meinen alle Reformatoren. Wenn die Prophetie je irgendeinen Sinn gehabt hat im jüdischen Volk, wenn irgend sie in der Person Jesu Gestalt gewonnen hat, dann kann man nur laut sagen: So nicht! Diese Überzeugung ist es, die Jesus anscheinend schon übernommen hat von Johannes dem Täufer, aber er setzt sie unverzüglich ins Werk. Raus und Schluß damit! das ist seine Reaktion auf die Aufführungen der Priester, ohne jeden Kompromiß, ohne jede Diskussion. Es gibt bei Johannes zur Begründung nicht einmal mehr das Wort des Jesaja: Mein Haus ist ein Haus des Gebetes. Für das Johannes-Evangelium genügt es, daß Jesus von dem Tempel als dem Haus seines Vaters spricht. Kindliches Vertrauen und priesterlicher Opferdienst gehen nicht zusammen. «Wenn ihr betet», sagte er einmal sinngemäß, «stellt euch nicht an die Straßenecken und in die Synagogen. Es genügt, ihr geht in euer eigenes kleines Zimmerchen, und Gott wird euch hören. Er sieht im Verborgenen.» (Mt 6,5) Überhaupt nichts ist nach Jesu Meinung nötig an offizieller Vermittlung zwischen Gott und Mensch. Ein Mensch, der spricht aus seinem Inneren, so daß es stimmt, der ist bei Gott; besser braucht es nicht zu sein; alles andere ist nichts weiter als mutwillige Komplikation, als Vermehrung von Zwang, als Ausnutzung menschlicher Angst; ein solches Vorgehen hilft nicht, es tötet – erst die Tiere, dann die Menschen, schließlich die Seele. Am Ende ist überhaupt kein Gott mehr, nur noch ein priesterlicher Fetisch. Wofür Jesus eingetreten ist in Galiläa und jetzt in Jerusalem, ist erkennbar die Unmittelbarkeit eines jeden zu der Macht, die er seinen und unseren Vater nannte. Da bedarf es keiner Opfer, keiner Vorleistungen, das einzige, was nötig ist, besteht darin, zu wissen, daß wir allesamt nur leben aus der Liebe und aus dem Verstehen. Über die Klippe der Angst hinwegzuspringen und Gott zuzutrauen, daß er nicht der Strafende, der ewig Ambivalente ist, der in einer Priesterreligion gehätschelt und gepflegt werden muß, das schon ist der ganze Mut einer vermenschlichten Religiosität im Sinne Jesu; es ist identisch mit dem Überflüssigwerden alles Priesterlichen. Da ist der Tempel dem Prinzip nach längst zu Ende, ehe daß er «gereinigt» wird; er wird einfach freigegeben für alle. Er braucht keine Kontrolle mehr, er benötigt keine Beamtenschaft mehr, er legt keinen Wert mehr auf diensttuende hierarchische Instanzen. Gott wohnt, wo er will, im Herzen jedes Menschen, der sich ihm nahen möchte. So bereits die Synoptiker. Allerdings haben die Synoptiker diese Geschichte ganz am Ende des Lebens Jesu erzählt, – historisch wohl zu Recht; danach ging alles sehr schnell, ein Katarakt sich überstürzender Ereignisse, der Jesus hinweg129

spülte. Seine Aktion und Provokation im Tempel muß das Faß zum Überlaufen gebracht haben. Hetz- und Haßtiraden in Galiläa, das mag man sich geduldig von ferne angehört haben, aber jetzt: Insubordination, Unruhe, Chaos und Aufstand unter den Augen des Tempelpersonals und der Römer mitten in Jerusalem – da muß Schluß sein, endgültig Schluß sein. Und es wird ganz rasch Schluß gemacht werden. Historisch wird es wohl so gewesen sein. Es hat ein Wort gegeben, das Johannes hier aufgreift und das eine gewisse Rolle wohl auch historisch im Verhör vor Kajaphas gespielt haben wird. Es ist schwierig, herauszufinden, wie weit man der Überlieferung an dieser Stelle historisch trauen kann, aber daß Jesus ein Wort zum Vorwurf gemacht wurde, das zwischen ihm und dem Tempel einen Vergleich anstrebt, das scheint sicher. So ähnlich muß Jesus wohl wirklich gesagt haben: Löst diesen Tempel auf, und in drei Tagen errichte ich ihn – ein Rätselwort offenbar, ein Maschal, ein sehr sonderbarer Satz. Markus (14,58) schreibt dabei, die zwei Zeugen, die den Satz vorgetragen hätten, seien im Widerspruch zueinander gewesen; gestützt nur auf dieses Wort, hätte man Jesus nicht zum Tode verurteilen können. Aber wenn wir denken, die Aussage: Ihr könnt den Tempel niederreißen, hätte Jesus wirklich gemacht, dann wären wir dicht an der Stelle eben des Konfliktes, der sich wohl auch historisch so zugetragen haben wird: der Kampf gegen die verwaltete Religion, gegen den Tempelkult. Wir können diesen Gedanken allein gar nicht ernst genug nehmen. Vor allem die Dogmatik der römischen Kirche behauptet bis heute, daß Jesus eine neue Priesterschaft in seinem Namen gegründet habe. Nichts ist historisch unglaubwürdiger als dieser Gedanke; denn niemals hat Jesus gegen die Priesterschaft in Jerusalem, sozusagen in Konkurrenz zu ihr, eine eigene priesterdienstliche Kaste gestiftet. Was dem Mann aus Nazaret vorschwebte, war die Überzeugung, daß nur Menschen, die zu Gott unmittelbar sind, untereinander hilfreich sein können, entstehende Hindernisse auf dem Wege zu Gott beiseite zu räumen. Wenn wir «priesterlich» jeden Menschen nennen, der dem anderen Mut macht zu sich selber und ihm zu dem Vertrauen hilft, Gott umfange sein Dasein ganz, dann mag man sagen, Jesus habe ein «neues Priestertum» gegründet. Doch dann muß man alle Worte in diesem Zusammenhang anders definieren, als es in der Religionsgeschichte üblich war. Keine neuerliche Behörde, keine Instanz mit rituellem Vermittlungsauftrag kann im Sinne des Mannes sein, der den jüdischen Tempel «gereinigt» hat. Das Johannes-Evangelium, indem es die Tempelszene vor Augen hat, 130

weiß natürlich um die Tödlichkeit ihres Ausgangs. Um so eigenartiger mutet es an, daß es die Begebenheit, die bei allen anderen Evangelisten am Ende des Lebens Jesu steht, programmatisch nach vorne zieht: Noch ehe Jesus in die Öffentlichkeit hineinspricht, ereignet sich dieser Aufstand am Ort des Heiligtums in Jerusalem. Für das Vierte Evangelium liegt in dieser zeitlichen Anordnung die wesentliche Aussage, daß Jesu Kampfansage gegen die verfaßte und verhaßte Religion eine fundamentale, prinzipielle Bedeutung besitzt und in sich bereits alles Weitere, inklusive des tödlichen Ausgangs, enthält. Johannes ist diese thematische Einheit so bewußt, daß er die Zerstörung des Tempels geradewegs identisch setzt mit der Hinrichtung Jesu, mit der Tötung seines Leibes; Jesus wird den Tempel abschaffen, er wird ihn wirklich einreißen, um den Preis seines eigenen Lebens, aber er wird ihn (in Wahrheit, geistig) wiedererrichten in drei Tagen durch seine «Auferstehung». Siegen wird das Leben; doch gerade hier beginnt dieser Neuanfang. Man mag zwischendrein fragen, was denn überhaupt noch bleibt. Soll denn diese prophetische Radikalität, mit der Jesus hier agiert, wirklich gelten? Abräumen kann schließlich jeder, etwas für unnötig zu erklären, das scheint ein leichtes, aber was kommt danach? Am Ende hat man vielleicht nichts als Chaos, als Beliebigkeit, als Willkür! Wie beschreibt sich nach so viel Negation der positive Inhalt? Das Matthäus-Evangelium hat sich bei dieser Szene genau darüber Gedanken gemacht. Matthäus «erfindet» den positiven Inhalt der Tempelreinigung, indem er erzählt, als Jesus den Tempel gereinigt habe, seien zu ihm die Lahmen, die Blinden gekommen und auch die Kinder; die einen habe Jesus geheilt, die anderen hätten ihn gepriesen (Mt 21,14-15). Man kann nicht anders sagen, als daß eine der wichtigsten Weichenstellungen für die Interpretation dessen, was Jesus sagen wollte, an dieser Stelle des Ersten Evangeliums vorliegt. Matthäus will offensichtlich bewußt akzentuieren: Gott wohnt bei den Armen, er wohnt bei den Bettlern, er ist nahe den Kranken, er steht bei den Notleidenden; die Solidarität mit den Menschen, die ihn brauchen – das ist der ganze Gottesdienst; mehr ist in seinen Augen nicht nötig, als sich Menschen zuzuwenden, die wie blind, wie in einem dunklen Raum, sich bewegen; ihnen Licht zu schenken heißt zu tun, was Gott will. Wer die Umdüsterung einer Menschenseele auflöst und schenkt ihr den Schein des Himmels wieder, der «dient» nicht nur Gott, der schafft den Raum eines Heiligtums; der ist, in seiner Art zu leben, selber der Tempel. Und einen anderen braucht es nicht. Das ist so viel wie die Weiterführung des Gleichnisses Jesu vom barmherzigen Samariter aus dem 131

Lukas-Evangelium in der Interpretation des Matthäus. Der Tempel, mit einem Wort, wird «gereinigt», damit eine zweckfreie, reine Menschlichkeit nachwachse. Und es sind die Kinder, die diese Botschaft verstehen. Sie sind dem Jesus von Nazaret dankbar. In diesem Bild geht es natürlich nicht um kleine Kinder in nazarenerbildchenhafter Süßlichkeit, es geht darum, daß man, um Jesus zu verstehen, ein Mensch geworden sein muß, der noch einmal neu zu leben gelernt hat, reinweg aus Güte. Nicht mehr, was von den «Erwachsenen» an Anstand und Wohlstand, an Opfer und Geldgewinn abverlangt wird, – einzig das, was im Herzen der Menschen wirklich leben möchte, das atmet plötzlich auf, das fühlt sich befreit und wird ein großer Lobgesang. Das heißt es im Sinne Jesu, wie Matthäus ihn versteht, Gott zu verehren. Und diese Deutung bietet die Brücke auch für das JohannesEvangelium. Natürlich steht hinter der Auseinandersetzung um den Tempel die scharfe Dissonanz zwischen der frühen Jesusgemeinde und dem nach dem Jahre 70, nach dem Untergang Jerusalems, pharisäisch neu organisierten Judentum. Die frühe Jesusgemeinde hatte zum Tempel von Anfang an keinen Zugang, jetzt nach dem Jahre 70 will sie ihn auch nicht mehr haben; sie hofft durchaus nicht mehr auf Rückkehr zu den alten Verhältnissen, und so rechtfertigt sie ihre Einstellung auch mit Geschichten dieser Art. Das freilich bleibt das Bitterste am Johannes-Evangelium, daß der Vierte Evangelist, der so viel sonst von der Liebe spricht, das Wort «Jude» auf eine Weise intoniert, die durch das ganze Abendland schrecklich hallen wird. Sie ist nicht übersetzbar. Wollte man den Johannestext ins Deutsche bringen, käme man an vielen Stellen nicht umhin, von Juden in historisch korrektem Sinne zu sprechen: Es war aber das Pessah der Juden – in einer solchen Wendung ist deutlich, daß Johannes für Nichtjuden schreibt, doch bietet er eine religionsgeschichtlich korrekte Erläuterung. Aber wenn es dann heißt: Die Juden aber fragten ihn: Welch ein Zeichen weisest du uns, daß du das tust – dann darf man nicht mehr von «Juden» sprechen als von den Menschen, die wir als Juden kennen; dann haben wir es mit einem bestimmten Typ von Religiosität zu tun, den man am besten durch die Behauptung, Gott zu wissen und rituell zu besitzen, gekennzeichnet findet; statt «die Juden» sollte man daher besser setzen «die Gottesbesitzer», diejenigen, die sich scheinbar völlig klar sind, wie man Gott verehren muß; Tradition, Institution und Autorität sagen es ihnen ja unzweideutig und unfehlbar. Vielleicht aber läßt sich gerade von den Propheten Israels lernen, daß man Gott gar nicht besitzen kann, daß Religion sich gar nicht verwalten läßt, sondern daß die verwaltete Religion in sich selbst das Ende 132

der Religiosität darstellt. Dann ist dieser Konflikt überhaupt nicht zu beziehen auf eine bestimmte historische Gruppe, sondern er geht quer durch alle konfessionellen und religiösen Grenzziehungen. Schauen wir uns den Satz aus dem Johannes-Evangelium daraufhin noch einmal genauer an, wenn Jesus erklärt: Löst diesen Tempel auf, und in drei Tagen errichte ich ihn. Im Johannes-Evangelium ist dieser Satz die Antwort auf die Zeichenforderung der «Juden»; das also ist das Zeichen, auf das sich alles gründet! Aber wieso? Was meint das Vierte Evangelium gegenüber den Synoptikern? Matthäus hatte es zu tun mit einem gewissermaßen moralischen Appell; dieser Evangelist mochte, daß man aus der Botschaft Jesu eine gelebte Menschlichkeit ableite, und darin liegt gewiß eine richtige Nutzanwendung des Tempelmotivs. Doch für Johannes ist diese Denkungsart offenbar immer noch zu äußerlich. Was ihm vorschwebt, ist eine vollkommene Neuinterpretation. Wo ist der «Tempel» Gottes? Die Antwort des Matthäus lautete: an jeder Stelle, an welcher Menschlichkeit gelebt wird. Aber wie kann man das? Darauf antwortet Johannes, indem er erklärt, wahre Religion liege natürlich nicht im Räumlichen, aber auch nicht einfach in einem bestimmten Verhalten, sie liege in dem «Körper», in der Person des Jesus von Nazaret. Diese «christologische» Zentrierung bedeutet: Religion, wie Jesus sie lebte und lehrte, hört auf, institutionalisierbar zu sein; sie ist in ihrem wesentlichen Inhalt gebunden an die Person; sie ist eine Form des Lebens, die überhaupt nicht an etwas Äußeres zu delegieren ist. Das Niederreißen des Tempels und die Zerstörung des äußeren Lebens Jesu, beides parallel, vermittelt einen Wechsel von der Religion der abgeleiteten Zwänge und der äußeren Vorschriften zu der reinen Innerlichkeit persönlicher Überzeugung. Das Ende des Tempels und die Auferstehung des Menschen, das ist es, was Johannes in der Interpretation der Botschaft des Mannes aus Nazaret vorschwebt. Überlegen wir, angesichts dieser Texte, wo wir selber heute stehen, so werden wir sehr bald merken, wie genau wir in dieselbe Problematik und möglicherweise in ihre Lösung eintreten. Jeder, der die westliche Gesellschaft betrachtet, wird zugeben, daß das, was bisher Religion hieß, in eine schwere Krise geraten ist. Schon 1995 brachte die Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft in Hannover ein neues Heft heraus, darauf, auf dem Vorderblatt, die Situation des Religionsunterrichtes: Da sieht man am Katheder einen Lehrer sein Bestes tun, um einer Reihe von papierenen Attrappen sein Wissen zu vermitteln, während die Schülerinnen und Schüler auf allen vieren hinter den Bänken zum Ausgang streben; unterschrieben war die Karikatur mit den Worten: Das rauslaufende Modell 4. Die GEW 133

wollte sagen, es liege nicht an den Lehrern – sie täten, was sie könnten; es liege auch nicht an den Schülern – sie würden schon bleiben, sie hinterließen ja sogar ihre Pappmachéimitationen zum Zeichen ihres Willens zur Anwesenheit; nur, es paßt offenbar beides nicht zusammen: was gelehrt wird und was gefühlt wird, was gepredigt wird und was gedacht wird, was gesagt wird und was gelebt wird. Die Folge: die gesamte Jugend stirbt der religiösen Erziehung weg; die noch um religiöse Erziehung im Kirchensinn bemühten Eltern leiden darunter am meisten. Es genügt heute, dreizehn Jahre alt zu sein, und man kommt mit der Sprache der Kirche nicht mehr zurecht; sie paßt nicht nur nicht in unsere Zeit, sie ist in den vermittelten Inhalten einfach falsch, weil viel zu äußerlich, zu objektivistisch, zu fundamentalistisch. Das geht bis in den Kern des Gottesbildes hinein. Äußerlich herrscht da die Vorstellung von einem Gott, der von außen die Welt lenkt wie ein altorientalischer König seinen Staat: Er nimmt das Szepter und befiehlt, und dann laufen die Boten, und es geschieht, was er sagt. Nach dieser Vorstellung sitzt Gott immer noch irgendwo auf seinem Thron im Himmel und sorgt dafür, daß die Welt in Ordnung bleibt; doch da dies offenbar eine zu schwere Arbeit für ihn darstellt, hat er seine Stellvertreter auf Erden, an der Spitze den Papst und die Bischöfe, installiert, und die allerdings würden es schon richten, wenn man nur auf sie hören wollte. Das ganze Vorstellungsschema ist wie eine dogmatisierte Repräsentation der staatlichen Verhältnisse im Alten Orient vor 5000 Jahren. Im Geschichtsunterricht indessen wird jeder Heranwachsende mit zwölf, dreizehn Jahren darüber belehrt werden, daß die Monarchie seit 200 Jahren zugunsten einer demokratischen Verfassung abgeschafft wurde; in Erdkunde, Physik und Biologie wird er belehrt, daß die Natur viel zu kompliziert ist, als daß man sie von außen regulieren könnte. Es war der Pastorensohn Charles Darwin, der vor 150 Jahren begriff, daß sich das größte Wunder auf dem Planeten Erde ganz von innen ereignet durch das Spiel des Lebens selber, inklusive freilich der grausamen Kämpfe zwischen den Lebewesen; die Maschinerie zur Gestaltung lebender Formen liegt im Inneren der biologischen Strukturen, sie ist nicht von außen vorweggedacht, sie wurde nicht vorwegkonstruiert. Die Natur bewegt sich demnach niemals auf etwas zu, sie entwickelt sich nur weiter. Derartige Paradoxa müssen spätestens die Sechzehnjährigen in Biologie begreifen. Vorstellungen dieser Art passen aber nicht zu den Theorien der Stunde darauf im Religionsunterricht; im Gegenteil, sie gelten für Unglauben; hinzu kommen die Absurditäten einer bestimmten Art von Moral, die sich für Empfängnisverhütung, Abtreibung und vorehelichen Verkehr 134

brennend interessiert, nicht aber gleichermaßen für die Probleme der Überbevölkerung oder für Gewalt in der Ehe; und dann ist da die ohnmächtige Langeweile des Rituellen, die auch mit Papstevents in Megameßfeiern nicht langfristig verändert wird. Gewußt haben um diese Zusammenhänge die Intellektuellen vor 200 Jahren schon in den Tagen der Aufklärung, es erreicht nur heute die Masse der Zeitungsleser, der Fernsehkonsumenten, es erreicht jeden mehr oder minder. Aus dieser Krise gibt es keinen anderen Weg, als ihn vor 200 Jahren verschiedentlich Philosophen und Dichter bereits vorgeschlagen haben: Alles Äußere soll und muß in der Religion so schnell verschwinden wie möglich, damit das Innere wächst. Denn nur dort, im eigenen Denken, im eigenen Fühlen, im eigenen Urteilsvermögen kann die Person Gottes selber sich aussprechen. Nichts, was nicht Person ist, kann ihr Echo bilden. Alles Äußere, alles nur Mechanische, alles nur Maschinelle hingegen kann nicht Träger des Religiösen sein. Nur die Dichte des persönlichen Lebens zeugt von Gott. Die kleine Szene der Tempelreinigung markiert in johanneischem Sinne gerade diesen Übergang vom äußerlich Verfaßten weg ganz und gar ins Innerliche der persönlichen Existenz. Dieser Übergang ist es, den Jesus an dieser Stelle vorlebt. Wollten wir seinen Rätselsatz über den Tempel auflösen, müßten wir sagen: «Ihr könnt mich für meine Haltung zu Gott totschlagen, es wird sich überhaupt nichts an der Sache ändern. So zu leben ist das einzige, was sich lohnt, und dafür einzutreten die ganze ‹Wahrheit› eines Menschen. Ihr werdet sie nicht aus der Welt schaffen, ihr werdet sie nicht töten können; alles wird von innen her wieder auferstehen. Und zwar schneller als gedacht! Mögt ihr unter eurem famosen König Herodes dem ‹Großen› sechsundvierzig Jahre lang herumgebaut haben an eurem schönen Tempel – daß Menschen wach werden in ihrem Leben und auferstehen zu ihrem Leben, das läßt sich schneller machen. Das ist keine Frage der zeitlichen Erstreckung, das ist eine Frage der Intensität der Lebensführung.» An dieser Stelle lernen die Jünger, was Glauben im Sinne Jesu ist. Das Johannes-Evangelium entwickelt keine theologische Theorie über den Glaubensbegriff, aber in einem einzigen Satz verschlüsselt es, was darunter zu verstehen sei. Die Jünger, sagt es, gelangten zum Vertrauen (an Jesus) durch die Schrift und (jetzt) durch das Wort, das Jesus gesprochen hatte. Das soll heißen, daß alles, was an heiligen Überlieferungen einmal tradiert wurde, sich erst verstehen läßt, wenn es lebendig wird durch die Worte eines lebenden Menschen. Beides steht im Wechsel: Erst von der «Schrift» her läßt sich verstehen, was Jesus sagte, und umgekehrt von ihm her all 135

das, was ihm vorausging. Plötzlich öffnen sich die Augen, wie im LukasEvangelium den Jüngern auf dem Weg nach Emmaus (Lk 24,13-35). Es war nicht alles falsch, was in der Tradition lag, aber sie bekommt jetzt erst ihre Seele zurück, da sie durch den Mund eines lebenden Menschen sich selbst verlebendigt und sich in seiner Gestalt neu gestaltet. Natürlich kann man gleich sagen: Aber auch das, was Jesus sprach, ist uns wiederum doch nur zugänglich in einem Buch, das wir lesen müssen, das jedoch schon sehr alt geworden ist und grau. Wer überhaupt wird noch die Bibel lesen? Und wenn er es tut, wie wird er sie dann verstehen, und wenn er sie versteht, wie wird er sie dann nicht mißverstehen? Muß man sie nicht Stelle um Stelle erklärt bekommen? Was aber gilt dann von all dem? Die Antwort des Johannes auf diesen berechtigten Einwand wäre gewesen so wie vor zweitausend Jahren: Es gilt bei allem Geschriebenen einzig, was das persönliche Leben betrifft, so wie Jesus es uns vorgemacht hat. Einzig durch die Erfahrung, was Menschen leben läßt, wird sich herausfiltern lassen, was an überlieferten Worten Gottes wirklich von Gott war und ist. Man könnte denken, diese Feststellung bilde den Abschluß, sie lasse sich nicht weiter steigern. Und doch wird da noch etwas angehängt, etwas sehr Merkwürdiges: in der Festmenge gelangten viele zum Vertrauen auf seine Wesensart hin, schauten sie doch von ihm die Zeichen, die er tat. Johannes hat aus der Tradition, wie gesagt, eine Reihe von Wundergeschichten übernommen, die er als «Zeichen» interpretiert. Aber wieder: was er darunter versteht, ist die Durcharbeitung alles Äußeren auf die innere Bedeutung hin. An dieser Stelle hier, im Zusammenhang der Tempelreinigung, erwähnt er überhaupt keine Wunder, keine Taten, nichts, was man spektakulär festmachen könnte, sehr im Unterschied zu Matthäus 21,14, der von der Heilung der Blinden und der Lahmen erzählt. Das einzige Zeichen für Johannes ist Jesus selber, die Art, wie er lebt. Wenn man daran nicht merken würde, wie zu leben sei, wie sollte man es dann verstehen? Auf ihn muß man schauen, wie er als Mensch vor uns steht, und daran Menschlichkeit lernen. Der «Inhalt» dann, was es in formalem Sinne zu lernen gibt, ist eigentümlich formuliert. Die Menschen glauben an Jesus, sie fassen in seiner Nähe Vertrauen, sie lernen an ihm, sich aufzuranken und Halt zu gewinnen; von Jesus aber sagt Johannes: Selbst brauchte Jesus auf sie kein Vertrauen zu gründen, dadurch daß er wußte um alle und weil er nicht nötig hatte, daß jemand sich erklärte über den Menschen; er selbst wußte ja, was im Menschen war. – Worte wie diese hören sich sehr danach an, als wollte Johannes fast im dogmatischen Sinne so etwas wie die All136

wissenheit des Gottessohnes Jesus Christus andeuten. Tatsächlich aber läßt sich das, was er wirklich sagt, auf eine weit einfachere und verbindlichere Art verstehen. Wie denn faßt ein Mensch Vertrauen in der Nähe eines anderen, außer er fühlt sich von dem anderen verstanden? Es gibt zwei Arten, wie Verstehen erlebt werden kann: Es ist möglich, daß man sich «durchschaut», im Sinne von «ertappt» fühlt; dann ist das vermutete Wissen des anderen etwas Unheimliches, Bedrohliches, es raubt einem jeglichen Schutz, dessen man doch bedarf, um selber einen Rest noch an eigener Identität und Sicherheit zu behalten; man kann sich vor den Augen des Wissenden nicht verstecken. Es kann aber das Verstehen um den anderen, statt bedrohlich und ängstigend zu sein, auch ganz im Gegenteil angstlindernd und vertrauenfördernd wirken, dann nämlich, wenn ein Mensch spürt, er werde von seinem Gegenüber auch in den bislang unliebsamen Seiten seiner Person akzeptiert, der andere gebrauche sein Verstehen nicht dazu, Macht zu gewinnen in der Pose: ich doch kenne mich aus! ich weiß Bescheid um dich!, sondern er verwende sein «Wissen» einzig dazu, daß ich mir selbst auf die Spur komme und merke, wo meine Wahrheit liegt, wo meine Person am schönsten, reichsten und glücklichsten sein könnte, und er wolle mir helfen, dieses Wissen auch zu leben. Es ist so ungewöhnlich nicht, daß jemand mitunter besser Bescheid weiß im Leben eines anderen als dieser selbst. Man muß nur denken, daß jeder, der in Angst, in Niedergedrücktheit, in innerer Verwirrung lebt, seine zwei Augen kaum dazu benützen kann, nach innen zu schauen; er wird vielmehr wie verloren, wie getrieben nach außen umherblicken und sichern; er wird für sich selber kaum die genügende Sensibilität aufbringen, um zu begreifen, was in ihm vor sich geht. Ein anderer hingegen, der relativ ruhig dabeisitzt, hat viel mehr Möglichkeiten, genauer hinzuschauen. Was Wunder, daß er manchmal klarer sieht als der Betroffene. Aber es gibt kein Klarer-Sehen, außer es bestätigte sich durch den anderen und es verhülfe dem anderen dazu, selber zu sehen; denn erst wenn es so zusammenkommt, beginnt es der Entwicklung, der Selbstfindung, der Heilwerdung zu dienen. – Gerade so müssen wir uns das Verhältnis Jesu zu den Menschen vorstellen. Es muß geprägt gewesen sein durch ein solch tiefes, vorlaufendes Verstehen. Man hat in der Psychoanalyse oft diskutiert, was Verstehen sein könnte. Der Begründer der analytischen Psychotherapie, Sigmund Freud, hat über lange Zeit hin gemeint, Verstehen sei so etwas wie ein vorurteilsfreies, unzensierendes, nicht von persönlichen Interessen geleitetes, tunlichst objek137

tiv beobachtendes Geschehen; eine frei schwebende Aufmerksamkeit machte Freud sich und seinen Schülern deshalb zur Auflage; sie sollten einfach innerlich notieren, feststellen, möglichst präzise beobachten, aber sie sollten das, was sie sähen, nicht durch eigenes Wünschen, durch eigenen Gefühlswiderstand, durch persönliche Eintragungen verfälschen. Wir wissen heute, daß Freud an dieser Stelle ein Ideal aufgestellt hat, das sich so nicht halten läßt. Niemand wird einen anderen verstehen, wenn er sich selber völlig aus dem Spiel hält. Ganz im Gegenteil. Das, was in ihm vor sich geht, ist die einzige Art, Verbindung zu dem anderen zu bekommen. Nicht eine schwebende Wolke hilft, den anderen zu erkennen, sondern nur der gereinigte Spiegel der eigenen Seele vermag das Bild des anderen in sich aufzunehmen. Aber dann geht es Punkt für Punkt um das Bemühen, dem anderen sein Bild zurückzugeben, so rein, so schön, so liebenswert, wie es nur irgend sein kann, und zwar nicht, weil man den anderen in idealer Weise sehen wollte, sondern weil immer klarer wird, daß all die Gründe, die das Bild des anderen verfälscht haben, vor allem historischer, biographischer Natur sind; sie gelten nicht dem Wesen des anderen, sondern lediglich all dem, was er durchgemacht hat. Es ist deshalb nicht anders denkbar, als daß man selbst sich ins Spiel bringt, indem man aus eigener Erfahrung das Fremde deutet und es zu sich zurückkehren läßt wie ein Geschenk zur Deutung auch des eigenen Lebens. Es ist dies der Punkt, an dem in allen Evangelien Jesus fast herausgenommen wird aus dem Dialog. In gewissem Sinne geht von ihm alles aus, er wirkt auf die Menge hin, aber es wird nie gesagt, was von den Menschen zu ihm zurückkam. Aber so muß es doch gewesen sein. Es muß, wenn Jesus einen «Blinden» heilte, auch um ihn und in ihm selber sehender geworden sein. Die Entdeckung, daß Verstehen Menschen aufrichtet, muß auch ihn selber aufgerichtet haben. Zu spüren, daß seine Vorstellung, wie nah Gott dem Menschen sein könnte, bis in den Innenbereich von Seele und Körper Menschen guttun kann, muß auch ihm selbst Mut gemacht haben, bis zum Äußersten sein Leben einzusetzen. Wohl mag das Johannes-Evangelium recht haben: es gibt eine Art von Verstehen, die nicht länger fragen muß, kein fremdes Zeugnis braucht, sondern in die Seele des anderen so unmittelbar und offen fällt, wie Jesus, zum Himmel schauend, Gott vor sich sieht; aber es liegt in dieser Durchsichtigkeit, in dieser Luzidität der Wahrnehmung die große Dankbarkeit auch eines gemeinsamen Gehens, eines Weges miteinander und nie mehr ganz allein. Wenn also Johannes sagt, daß Jesus des Zeugnisses keines Menschen bedurfte, um klar zu sehen, dann vor allem, weil er um seine eigene Menschlichkeit im 138

Vertrauen auf Gott ganz und gar «wissend» ward. Niemand sagt uns, wie Jesus zu diesem Vertrauen angesichts der menschlichen Not gelangt ist. Niemand überliefert uns biographisch, woher er wußte, daß Gott einzig im Innern der Menschen zu Hause sei. Aber wir können spüren und merken, daß, wenn wir diesem Gedanken nachfolgen, wenn wir auf seine Wesensart hin vertrauen, es sich Punkt für Punkt so bestätigen wird. Vielleicht hat Jesus ein einziges Mal nur sein Herz genommen und in den Himmel geworfen, und es ward ihm zurückgegeben als Geschenk für alle. Als im 14. Jh. Meister Eckhart über dieses Evangelium predigte, meinte er: Der Tempel von Jerusalem, den Jesus reinigte, das ist unser Herz. Dort gibt es das alles, die Angst und die Antwort darauf: die Machtgier, die Geldgier, den Untertanengeist, die Abhängigkeit; es gibt darin aber auch die Sehnsucht nach Freiheit, den Mut zu leben, das Glück der Menschlichkeit und die Kraft der Liebe. Der Bereich, den Jesus im Tempel reinigte, war, wie gesagt, der Vorhof der Heiden; doch gerade das wollte er: daß es keine Religion mehr gebe, die sich vor den Menschen verschließt. Jeder Mensch, und sei er ein «Heide», kann auch ohne Opferkult und Ritual Gott finden, denn er ist als Mensch, als Geschöpf seines Vaters, unmittelbar in den Händen des Ewigen. Wer ihn dort findet, lebt Jesus Christus. Wer sich dem weigert, und sei es unter den frömmsten Formeln, verrät ihn. Zum Abschluß seien in eigener Übersetzung Worte aus dem im Text zitierten Psalm 69 vorgetragen; sie werden in der hebräischen Überlieferung auf David zurückgeführt, passen aber sehr viel besser zu dem Propheten, der Jesus am nächsten war gerade im Ringen um die Deutung der Tempelzerstörung, zu Jeremia, diesem großen, schattenumwölkten, mutigen, tragischen Propheten des 6. vorchristlichen Jahrhunderts. Rette mich, Herr, denn die Wasser stehen mir bis zum Hals. Versunken bin ich in Schlamm und Morast, und es gibt keinen Halt; ich bin so tief ins Wasser geraten – gleich droht die Strömung mich fortzuspülen. Ich habe mich müde gerufen, meine Stimme ist heiser, meine Augen sind stumpf vom Warten auf dich, meinen Gott. So viele hassen mich ohne Grund – mehr als die Haare auf meinem Haupt; 139

stark sind, die mich vernichten wollen, meine Feinde, voll Intrigen. So soll ich zurückgeben, was ich nie genommen! Ach Herr, du weißt um meine Torheit, meine Vergehen – vor dir sind sie nicht verborgen. Laß doch nicht meinetwegen die Menschen unglaubhaft werden, die auf dich hoffen, mein Herr, du König der Scharen; laß doch nicht meinetwegen Menschen sich schämen müssen, die um dich ringen, du, Gott Israels … Meinen eigenen Brüdern bin ich fremd geworden, den Kindern meiner Mutter wie jemand von draußen. Ja, der Eifer um dein Haus hat mich verzehrt, trotz des Spotts all der Spottenden, der auf mich fiel … Über mich klatschen, die sitzen am Stadttor, zum Witz für den Stammtisch bin ich geworden. Aber ich – mein Gebet zu dir, Herr, wenn es recht ist, o Gott, in der Fülle deiner Huld gib Antwort mir; auf deine Hilfe ist doch Verlaß … Denn einer, der auf die Armen hört, ist der Herr; die für ihn in Ketten gehen müssen, mißachtet er nicht. Ach preiset ihn, Himmel und Erde, Meer und alles, was sich tummelt darin. Denn Gott wird Zion erretten, die Stätte Judas baut er wieder auf. Sie dürfen dort wieder wohnen; sie dürfen es wieder zum Eigentum nehmen. Die Nachkommen seiner Knechte werden es erben; die seinen Namen lieben, dürfen darin wohnen.

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Joh 3,1-13: Das Nachtgespräch mit Nikodemus oder: Der Wind weht, wo er will 1Da war aber ein Mensch, aus (dem Kreis) der Pharisäer, Nikodemus mit Namen, ein Anführer der Juden (7,50; 19,39). 2Der kam zu ihm bei Nacht und sprach zu ihm: Rabbi, wir wissen, daß von Gott du gekommen bist als Lehrer; niemand nämlich kann diese Zeichen tun, die du tust, wenn nicht Gott mit ihm ist. 3Geantwortet hat Jesus und hat ihm gesagt: Bei Gott! Ja, bei Gott, ich sage dir: Wenn nicht jemand von vorn geboren wird, kann er das Königtum Gottes nicht sehen (1 Petr 1,23). 4Sagt zu ihm Nikodemus: Wie kann ein Mensch geboren werden, im Alter noch? Er kann doch nicht in den Schoß seiner Mutter ein zweites Mal eingehen und geboren werden! 5Geantwortet hat Jesus: Bei Gott! Ja, bei Gott, ich sage dir: Wenn nicht jemand geboren wird aus [Wasser und] Geist (Ez 36,25-27; Mt 3,11; Tit 3,5), kann er nicht eingehen in das Königtum Gottes. 6Fleischgeborenes ist Fleisch (1,13; Röm 8,5-9), Geistgeborenes ist Geist. 7Verwundere dich nicht, daß ich dir sagte: Nötig ist euch, von vorn geboren zu werden. 8Der Wind, – wo er will, weht er; wohl, sein Brausen hörst du, aber nicht weißt du, woher er kommt und wohin er geht. So ist jeder Geistgeborene. 9Geantwortet hat Nikodemus und hat ihm gesagt: Wie kann das geschehen? 10Geantwortet hat Jesus und hat ihm gesagt: Du bist der Lehrer Israels, und das verstehst du nicht? 11Bei Gott! Ja, bei Gott, ich sage dir: Was wir wissen, reden wir, und was wir gesehen haben, bezeugen wir, doch unser Zeugnis nehmt ihr nicht an. 12Wenn ich von Irdischem sprach zu euch und ihr nicht Vertrauen gewinnt, wie, wenn ich spreche zu euch von Himmlischem, werdet ihr Vertrauen gewinnen? 13Doch niemand ist hinaufgestiegen in den Himmel, wenn nicht der aus dem Himmel Herabgestiegene: der Menschensohn.

Der Sprache des Johannes zuzuhören ähnelt einer Erfahrung, die wir als Kinder wahrscheinlich einmal gemacht haben: Man hielt uns das Gehäuse einer Wellhornschnecke oder, konnte es sein, das Gehäuse einer Porzellanschnecke aus der Südsee ans Ohr und sagte uns: «Hörst du, wie es rauscht? Das ist der Gesang des Meeres.» – Erwachsen geworden, wissen wir, daß wir in den Gängen der Porzellanschnecke der Südsee oder in den Windungen der Wellhornschnecke der Nordsee nichts anderes gehört haben als das Rauschen unseres Blutes im eigenen Ohr. Aber was wir als Kinder erlebt haben, machte uns sehnsüchtig nach dem Ufersaum des 141

Strandes, an dem diese Muscheln gesammelt wurden, ließ uns davon träumen, in die Weite des Windes einzutauchen und sich dem offenen Horizont hinzugeben, und es schenkte uns den Wunsch, der Sonne zuzuschauen, wie sie mit ihrem Strahlenband aus Silber und Gold sich teppichgleich über die Fluten legt, vom Ende der Welt scheinbar her bis hin zu unseren Augen, bis zu unserem Gesicht, bis zu unseren Füßen, und es war wie eine Einladung, dem Weg der Sonne zu folgen. – Manche Ethnologen erklärten sich die Eroberung der Weiten des Pazifiks, die großen Wanderbewegungen der Polynesier zur See, unter anderem tatsächlich auch mit dem geheimnisvollen Rauschen des Windes. Man nennt diese Völker selber Nomaden des Windes1, die sich mit ihren kleinen Booten dem Wehen des Westwindes überließen, um hinauszusegeln in Tausende von Meilen eines unbekannten salzigen Wassers, immer der Spur des Sonnenaufgangs entgegen, immer folgend dem Funkeln der Sterne bei Nacht, in denen sie die Seelen der Verstorbenen oder die Inseln, auf denen sie lebten, zu erschauen meinten. Alles, was da sich spiegelt im Himmel, auf der Erde und im Wasser, ist genommen aus dem Drang des Menschen nach Unbegrenztheit, nach Unendlichkeit, aber es braucht dieses Echo, das uns den Klang des Rauschens des eigenen Herzens vernehmen läßt; – so das Johannes-Evangelium in diesem Nachtgespräch zwischen Jesus und einem Ratsherrn aus Israel. Die äußere Szene ist leicht vorstellbar. Wenn die Hitze des Tages vorüber ist und langsam in der Dämmerung der Abendwind sich erhebt, zieht man noch heute in den arabischen Dörfern in diesen Stunden sich gerne zurück auf das Dach, das aus Estrich und Reisig geformt ist; man möchte die beginnende Abendkühle wohltuend auf der Haut spüren, man möchte das Aufziehen der Sterne am Himmel beobachten, und dann geschieht es, daß alles, was Sinne und Sinnen uns schenken können, in uns zu träumen beginnt und nachdenklich Einkehr hält. Eine solche Stunde, wenn längst der Abendwind eingesetzt hat, muß der Beginn dieser rätselhaften Unterredung gewesen sein zwischen Jesus und einem Mann, den das Johannes-Evangelium als Vertreter der Partei der Pharisäer, als einen Anführer der «Juden», vorstellt. Immer wenn dieses Wort im Johannes-Evangelium fällt, stockt einem der Atem, man mag es nicht aussprechen, so abgrenzend, feindselig, kontrastiv im Negativen wird es gebraucht. Um es zu übersetzen, sollte man es durch ein anderes Wort ersetzen, denn es geht nicht um Juden, weder ethnisch noch historisch; allenfalls und allerdings geht es um einen bestimmten Typ von Frömmigkeit. Ihn sollte man, wie vorgeschlagen, am treffendsten wiedergeben als die Haltung der «Gottesbesitzer», als die Einstellung derer, die von sich zwar 142

glauben und erklären, daß sie Gott als Herrn anbeten, die aber in Wirklichkeit Gottes Herren geworden sind, indem sie alles, was Gott ihnen durch seine Offenbarung zu sagen hat, bereits wissen, so daß Gott ihnen lebendig und neu nimmermehr etwas mitzuteilen vermag. Alles ist da erstorbenes Wort und gegenwärtiges Gerede. Da wird die lebendige Erfahrung erstickt im Vergangenen, da wird jeder Aufbruch verbarrikadiert durch die Weisungen des Gestrigen, und alles verkehrt sich in die Tretmühle einer endlos ritualisierten, justifizierten Praktik aus Magie, Gehorsam und Aberglauben. Das Gottesbesitzertum ist das wirkliche Thema im Johannes-Evangelium, wenn es von «Juden» spricht. Es macht damit ein wesentliches Problem an einer historischen Gruppe fest, die wir sinnvoller in unserem eigenen Herzen suchen sollten, in unserer Gegenwart, in jenem Typ von Religion, der sich festlegt auf den bekannten Gott. Es wird immer wieder der Trick dieser Gottesbesitzer sein, daß sie zwar zugeben, man könne Gott nicht wissen, daß sie dann aber – voller Demut, versteht sich – betonen, Gott habe sich ja in den «Vätern» «geoffenbart» und es sei also die Pflicht, ihn zu kennen; der ganze Inhalt eines solchen Glaubens besteht fortan darin, das fertige Wissen der Gottesgelehrten um Gott zu akzeptieren und hinzunehmen, ganz so, wie diese Partei der «Ausgelosten» oder der «Ausgesonderten», der «Kleriker» oder der «Pharisäer», in wörtlichem Sinne es immer schon wußte. Treue, Gehorsam, Anpassung und Knechtschaft bilden den ewigen Ausweis dieser Art von Religion. Ein einziges Bild des Johannes-Evangeliums hingegen bringt jeden, der diesen Text liest, erneut ins Träumen von einer anderen Welt: Er sieht sie vor sich, offen bis zum Horizont, uneingegrenzt von jedem Sperr-Raum äußerer und innerer Gefangenschaft. Allein schon das Bild des Windes gibt wieder, was als Verlangen nach Unabhängigkeit, Freiheit und Selbständigkeit in einem Jeden von uns atmet und was wir brauchen, um als Menschen wirklich zu leben: Du hörst das Rauschen des Windes, aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er geht. Für den französischen Filmregisseur Robert Bresson bildete dieses Wort aus dem 3. Kapitel des Johannes-Evangeliums im Jahre 1956 das Leitmotiv und den Grundgedanken eines seiner besten Filme, Ein zum Tode Verurteilter ist entflohen. Geschildert wird nach einem Bericht von André Devigny in Form einer Parabel auf die menschliche Existenz die Geschichte des Widerstandskämpfers Fontaine, der in der Zeit der Besetzung Frankreichs in einem Gefängnis der Gestapo inhaftiert ist. Ihm gehört nichts mehr, man hat ihm alles genommen. Er hat kein Recht mehr auf sich selbst, er gilt als gefährlich für das Regime des Terrors und der Unter143

drückung. Ab und an schiebt man ihm einen Blechteller und einen Löffel in die Zelle. Aber da gelingt es ihm einmal, das Gerät der Nahrungsaufnahme, den Löffel, zu verstecken. Es ist fortan das einzige, was er besitzt, und es soll ihm zu einem Instrument der Freiheit werden. Er beginnt, an der Zellenwand den Griff des Löffels zu schleifen, bis seine Kante scharf wird wie ein Messer, und diese Gerätschaft nun benutzt er, um Span für Span die Zellentür im Bereich des Riegels aufzuschneiden. Aus den Spiralen der Matratze und aus dem Leinenstoff des Bettuchs fertigt er eine einigermaßen haltbare, elastische Aufhängung, grad lang genug, daß sie aus dem Gefängnis herausführen könnte. Das verzweifelte Vorhaben kostet ihn den Einsatz von allem. Sein ganzes Leben ruht auf dieser einen mutigen Aktion. Aber: ist nicht die Gefangenschaft selbst schon der Tod? Rechtfertigt der Aufbruch in die Freiheit nicht jegliches Wagnis? – In dem Film von Robert Bresson wird im Grunde kaum ein Wort gesprochen. Ein einziges Mal nur im Waschsaal, an dem großen Bassin, wo die Männer bei der Morgentoilette zusammenkommen, fällt dieses Losungswort: Der Wind weht, wo er will; du hörst sein Rauschen, aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er geht. – Das ganze Geheimnis des Menschen spiegelt sich für Robert Bresson in diesem einen Satz; er drückt für ihn die ganze Göttlichkeit des Menschen aus. Denn in der Tat: Wer Menschen beherrschen will, muß sich einreden, genau zu wissen, woher der andere kommt. Kennt er seine Biographie, weiß er, wie er großgeworden ist, kennt er seine Eltern, das Milieu, die Einflüsse der Erziehung, die Inhalte der Prägung, scheint ihm das Menschenleben aufzugehen wie eine sichere Rechnung, und sogar ganz sicher wird er sich wähnen, wenn er weiß, wohin der andere geht, wenn er seine Ziele kennt. Ein Mensch scheint so leicht berechenbar, auf so simplem Wege ausnutzbar, wenn man erst einmal weiß, woran er glaubt, wonach er sich richtet, worauf er hofft. Alle Kerkermeister des Menschen stellen sich ihre Verfügungsgewalt so einfach vor, wie man einen Hund mit einer Wurst lenken und führen kann: Man weiß um die Ausrichtung seines Instinkts, dem er triebhaft folgen wird, und schon kann man mit ihm machen, was man will. – Wie aber wäre es, das menschliche Leben sei unbekannt, sowohl in seiner Herkunft als auch in seinem Ziel? Dann fiele jede Herrschaft von außen über Menschen dahin. Nur: woran merken wir, daß es sich so verhält, durch welche Erlebnisse entdecken wir unsere scheinbar so selbstverständliche Gefangenschaft, und woher gewinnen wir den Mut, ihr zu entfliehen? Der Aufbruch des Nikodemus im Johannes-Evangelium hat zu tun mit einer Beobachtung. Jesus, so sagt er, hat Zeichen gewirkt, an denen sich 144

erkennen läßt, daß der Mann aus Nazaret aus Gott sein muß. Was für Zeichen? möchte man fragen. Bis zu dieser Stelle des Johannes-Evangeliums war nur von einem einzigen Zeichen die Rede, bei der Hochzeit von Kana, in der Geschichte, wie sich Wasser wandelt in Wein, wie die vermeintlich unwerte Außenseite des menschlichen Lebens sich füllt mit berauschendem Glück und mit einer Seligkeit, die alles verändert. Johannes wird von den «Zeichen» Jesu noch manches Mal berichten. Wenig später nach dem Gespräch mit Nikodemus, im 4. Kapitel, wird er erzählen, wie ein römischer Hauptmann zu Jesus kommt und für seinen Sohn bittet, der sterbenskrank darniederliegt (Joh 4,43-54). Aufs bloße Wort hin wird Jesus ihn heilen. Ein Gelähmter liegt im 5. Kapitel des Evangeliums an einem Teich in Jerusalem, und Jesus wird ihn anreden: Nimm deine Bahre und geh selber – und er wird’s tun (Joh 5,1-9). Ähnlich wird Jesus im 9. Kapitel einen Blinden heilen (Joh 9,1-7) und im 11. Kapitel einen schon Verstorbenen auferwecken (11,1-44), und in all dem spürt man, daß es kein einziges «Wunder» Jesu gibt, das nicht auf eine Wandlung des ganzen menschlichen Lebens hinausliefe. Es gilt, aufzustehen in eine eigene Freiheit; es gilt, nicht länger mehr zu warten in der ständigen Angst der Konkurrenz vor anderen, – sie könnten uns zuvorkommen; es gilt, den Engel der Gnade, der das Wasser im Teich von Betesda aufrührt und in dessen Wirbeln nur ein einziger Gelähmter geheilt zu werden vermag, als Führer in ein Selbstvertrauen zu betrachten, das es erlaubt, selber die Bahre zu nehmen und mit Mut in das Leben zu treten, das Gott für uns vorgesehen hat. Blindheit und Tod, Gelähmtheit und Krankheit – das sind für Johannes Symptome eines Lebens, das an sich selber zerbricht. Diese Sicht vom Menschen, die das Johannes-Evangelium von Anfang an einnimmt, wird es nie verlieren; es wird uns Menschen schildern wie Grubenpferde, die 700 Meter unter der Erde, in ewiger Nacht, den Haspel drehen, wohlgenährt zwar und gestriegelt, um als Sklavenvieh tauglich zu bleiben, aber unfähig, auch nur einen eigenen Schritt noch zu gehen, außerstande, am Tage die Augen zu öffnen. Es ist eine Sicht, wie sie im Hintergrund dieser Denkweise von dem griechischen Philosophen Platon geprägt worden ist. Er erzählt in seinem Dialog Der Staat2 in dem berühmten Höhlengleichnis einmal von Menschen, die so sehr an die Nacht gewöhnt sind, daß sie die Wirklichkeit draußen nur sehen wie ein Schattenspiel von fern; sie halten die Abbildung der Wirklichkeit für die Realität, für die Wahrheit der Dinge selber. Käme nun aber jemand und würde sie herauszulocken suchen, auf daß sie die bunte Welt in all ihrer Schönheit zu sehen vermöchten, so würden sie gewiß Klage führen über den Schmerz 145

ihrer Augen. Sie würden lieber sich weiter verhocken, als in die offene Sphäre von Sonnenlicht, Weite und Wind zu treten. Das Motiv, das Jesus im Gespräch mit Nikodemus für ein solches Verhalten nennt, lautet eigentlich: Scham und Angst. Es kann sein, daß wir sehr deutlich so viel schon falsch gemacht haben und uns so sehr in das Netz der eigenen Lügen, der eigenen Fehler verstrickt haben, daß es die Reste unseres besseren Ichs gewissermaßen sind, die uns daran hindern, frei zu werden. Es kann sein, daß wir so sehr identifiziert sind mit dem Negativen, daß wir schließlich unseren Stolz in das setzen, was ersichtlicherweise nicht stimmt, und wir behaupten unsere Würde, reklamieren unser besseres Sein grad an den Punkten, wo wir’s am wenigsten sollten. Wir fürchten, alles zu verlieren, würde uns auch das noch genommen. Einfacher ausgedrückt: Es kann sein, daß wir eines Tages wie Fledermäuse, wie nachtaktive Tiere, an die Dunkelheit so sehr gewöhnt sind, als wäre unser ganzer Biorhythmus auf diese Phasen des Schattens eingestellt, als müßte das ganze Leben noch einmal umgekrempelt werden, sollten wir hervorgezogen werden aus den Höhlen und den verhuschten Angstformen des Daseins in die Ruhezonen des Lichts und der Helligkeit des Tages. Genau das aber ist es, was Jesus uns zumutet. Er möchte, daß wir die eigentliche Sehnsucht nach einem Leben der Helligkeit, der Freude und des Glücks nicht weiter mit Füßen treten. Ganz so sieht es Johannes in seinem Evangelium. Fragen wir uns, welche Zeichen denn Nikodemus bisher gesehen haben sollte, so müßte man im Sinne dieses Evangelisten sagen: im Grunde gar keins. Es genügt, daß Jesus selbst ein «Zeichen» wird. Da weht eine erste Ahnung ihn an, daß es inmitten seiner bisher völlig geschlossenen Welt noch etwas anderes geben könnte. An dieser Stelle kann Nikodemus sich durchaus nicht erklären, was dieses andere sein könnte, aber da ist ein Zeichen, ein winziges Zeichen, und das beweist alles. Man hat vor Jahren einmal das Kinderbuch von Hector Malot Heimatlos3 aus dem 19. Jh. für eine Serie des Deutschen Fernsehens verfilmt. Darin gibt es eine erstaunliche Episode. Der kleine Rémi ist unter der Not seines Vaters an einen umherziehenden Musikanten verkauft worden. Fortan ist er ganz in die Hand dieses betagten Vitalis gegeben, eines Mannes, der mit zwei Hunden, einem Äffchen und einer Harfe durch die Lande zieht. Der Junge ist diesem alten Mann nach anfänglicher Scheu recht zugetan, denn was Vitalis dem Kind beibringt, ist viel an Weisheit, beruhend auf seiner eigenen Nomadenexistenz, seinem Vagabundenleben, seiner Sehnsucht, den Straßen Frankreichs zu folgen. Eines Nachts sitzen die bei146

den in einer Scheune; es ist stockdunkel und kalt. Da richtet Vitalis die Frage an Rémi: – Schau mal in die Ecke dieser Scheune. Ob du etwas siehst? Und Rémi, um dem Alten eine Freude zu machen, sagt: – Ja, ich sehe, ganz hell. Aber Vitalis wird böse: – Du sollst nicht lügen. Kein Künstler darf lügen, sagt er. Jetzt noch einmal: Schau in die Ecke; was siehst du? Und Rémi sagt: – Ich sehe langsam, ganz langsam ein kleines Licht, da hinten in der Ecke ein winziges, kleines Licht, das näherkommt. – Du bist ein großer Künstler, sagt Vitalis, du hast Begabung. Ein kleiner Funken Licht, der nur zu sehen ist mit der Kraft der Imagination, das ist das ganze «Zeichen», – nichts Beweisbares, nichts nach außen zu Tragendes, etwas ganz und gar innerlich zu Entdeckendes. Glaubt man dieser Vision, zeigt sich mit mal eine ganz andere Welt. Es öffnet sich eine Scheune und wird zu einer lichtdurchfluteten Kathedrale, und selbst deren Fenster sind in den großen Glasstürzen Öffnungen für das Licht von draußen, in dem wir sehen, was uns sonst verborgen wäre. So tritt Jesus im Johannes-Evangelium in unsere Kerkerwelt mit betondicken Wandungen ein als ein «Zeichen» dafür, daß eine ganz andere Welt existieren muß. Man kann an dieser Stelle schon protestieren und erklären: Das wollen wir nicht. Wir wollen nicht hören und nicht sehen, eine andere Welt sei möglich und wirklich; diese unsere Welt genügt uns vollkommen! Gewiß, man kann an der Seite des Nikodemus sich sehr anders entscheiden. Man muß durchaus nicht auf der Suche sein nach einem Mann, der selbst in seiner Existenz sich als ein Zeichen begreift für eine andere Welt, die von Gott sei. In den synoptischen Evangelien wird die Gruppe der Pharisäer, von der Johannes hier historisch redet, augenblicklich, im 3. Kapitel des Markus schon, sich festlegen darauf, daß Jesus mit all seinen Zeichen, wenn er denn Kranke heilt, in Wirklichkeit nichts weiter tut, als dem Satan zu dienen (Mk 3,22), denn es kann in ihren Augen nicht sein, daß man für die Menschen Partei ergreift gegen die Gotteswisser, gegen die Gefängnisverwalter des Menschen im Namen der Religion. Also gilt der Aufbruch zur Freiheit, für den Jesus steht, als nichts weiter denn als Anmaßung, Insubordination, Anarchie und Phantasterei – als das Gegenstück von dem, 147

was ein frommer Bürger leben sollte. Es ist unter solchen Umständen sehr mutig von Nikodemus, seinem eigenen Urteilsvermögen zu folgen und die Heilung von Kranken für einen Ausweis von Wahrheit zu erachten. Man weiß nicht, ob dieses Gespräch nicht auch deshalb zur Nachtzeit geführt wird, weil man Angst hat, es öffentlich zu halten. Ganz sicher beginnt für Nikodemus in diesem Moment ein Gang durch die zwölf Stunden der Nacht, da der Himmel sich verdunkelt in Erwartung eines anderen, neuen Sonnenaufgangs. Denn was ist es mit diesem rätselhaften Bild, geboren zu werden «von vorn»? Alles, was Jesus mit der Freiheit des Windes, mit der Nichtfestgelegtheit des Menschen meint, wird in diese Chiffre einer neu beginnenden Existenzform gekleidet; für Nikodemus ist dies ein sinnloses Bild, ist doch ein wirklicher Neuanfang schon biologisch ganz unmöglich. Die Uhr des Alterns dreht sich unerbittlich weiter, und was in der Biologie so klar erscheint, sollte das nicht auch so sein in der Psyche des Menschen? Ist nicht die Idee eines Neuanfangs eine unsinnige Hoffnung, der Traum von einer Kindlichkeit, der sich nie erfüllt? Was Jesus meint, gilt dennoch, wenn man es nur richtig versteht. Er meint nicht: «von vorn» geboren zu werden als Ungeschehenmachen des Zeitablaufs, was er meint, ist: «von oben», vom Himmel her geboren zu werden. Plötzlich stehen einander zwei ganz verschiedene Arten, das menschliche Leben zu sehen, gegenüber: «fleischlich» nennt das Jesus einen Satz später. Fleischgeborenes ist fleischlich, sagt sein Rätselwort, Geistgeborenes aber Geist. Da hätte es ein Mensch in der Hand, wie er sich selber versteht: von unten oder von oben, und alles hängt davon ab, wieweit er diese Entscheidung sich überhaupt zutraut und sie ergreift. Ein Mann, der sehr verzweifelt war um 1920, war der österreichische Dichter Joseph Roth, ein Träumer, ein wehmütiger, melancholischer Phantast. Er litt unter der Dekadenz seiner Zeit und betrauerte dennoch voller Schmerz den Niedergang von soviel Schönheit. Österreich, die Donaumonarchie, würde untergehen, das stand ihm fest, längst ehe es geschah, und als es dann soweit war, verklärte er immer noch den kaiserlichen Glanz einer Herrschaftsform, die so viele Völker umspannt hatte. Joseph Roth beschreibt in der Gestalt des Leutnants Tunda einmal ein Leben, das einer einzigen Flucht gleichkommt, – schon der Titel seiner Novelle heißt dementsprechend Die Flucht ohne Ende. Äußerlich geht es erneut darum, daß jemand aus Gefangenschaft entkommen ist. Leutnant Tunda, 1918 in russischer Gefangenschaft, erlebt in Sibirien eine Odyssee, innerlich wie äußerlich. Kaum willens oder fähig, in die Heimat zurückzukehren, gelingt es ihm am Ende dennoch, wieder in Wien aufzutauchen, 148

doch was er dort vorfindet, ist eine völlig fremd gewordene Welt. Die Weite Rußlands, die Andersartigkeit der Menschen, denen er begegnete, haben ihn so entrückt von allen alten Vorurteilen, daß er nicht mehr weiß, wie er mit den Menschen in den Alltagsgewohnheiten gemeinsam sein soll. Da wird er eines Abends zu einem Diner geladen und steht mit einem Mal mitten in einem Kreis arrivierter Leute, die es schon wieder zu etwas gebracht haben. Man befragt ihn nach seinen Erfahrungen, jetzt, nach 1917, nach der russischen Revolution. Was hat sich verändert nach dem Sturz des Zaren? Tunda weiß von allen diesen Dingen, die gesellschaftlich und politisch gewiß überaus interessant sind, kaum eine Auskunft zu geben. Schon fällt ein Dozent für Slawistik ihm ins Wort, ein wirklich gelehrter Mensch, der sich auskennt. Tunda indessen möchte erzählen von den Abenderinnerungen am Kaspischen Meer in der Stadt Baku, wie es war, wenn abends der Wind hereinfiel über Batumi am Schwarzen Meer. Doch niemanden scheint das zu interessieren. Später dann nimmt ein Textilfabrikant Tunda beiseite und sagt zu ihm sinngemäß: «Hab’ ich denn eben nicht genau verstanden, was Sie da sagen wollten, Tunda, als Sie vom Wind über Baku erzählten? Ja, aber ich frag’ Sie: Sind wir denn hier Meteorologen? Niemanden interessiert der Wind in Baku. Schon wenn Sie sich umschauen: wie die Leute hereinkommen in den Saal, wie sie gekleidet sind, wie sie reden, wie sie auftreten – von weitem schon können Sie sagen, was sie dann sprechen werden, wie sie denken werden. Hier gehört niemand sich selbst; die Haut, in der ein jeder steckt, ist ihm fremd. Jeder lebt hier unter einem bestimmten Gesetz, nach dem er antritt, und dieses Gesetz wird seine Augen bei Tag und bei Nacht über ihm nicht schließen. Als ich Fabrikant für Textilien wurde, wußte ich denn, was aus mir wurde? Hab’ ich Zeit für Museen, Synagogen, Kathedralen oder zum Lesen von Büchern? Jeder lebt festgelegt, streng geformt, so wie das Gesetz es will. Den Wind von Baku, Tunda, – niemand hier hört ihn.»4 Was Joseph Roth mit dieser kleinen Episode der Flucht sagen will, ist wie eine schmerzhafte, wehmütige Erinnerung daran, daß es im Menschen doch wenigstens eine Ahnung gäbe, er wäre als Bürger nicht einfach die Prägeausgabe des Allgemeinen, er wäre nichts weiter als ein Exemplar des Offiziellen, sondern er hätte die Kraft zu einem eigenen Wort, zu einer eigenen Existenz, zu einer eigenen Freiheit. Dann würde er spüren, daß er nicht festgelegt ist durch Herkunft und Ankunft, sondern genau dazwischen selber entscheidet und sich von neuem formt. Freilich, das zu entdecken ist wie der Beginn eines neuen Lebens, es ist eine neue Geburt. Alles Alte vergeht dort, es hat keine Macht mehr. 149

Beziehen wir die Situation des Nikodemus nur einmal unmittelbar auf die Ebene des Religiösen in unseren Tagen. Jahrhunderte sind dahingegangen in einer Religion, die sich verfestigt hat, indem sie als «Wahrheit» ihre Dogmen zur Vorschrift erhob. In dieser Religion war der Einzelne gehalten, so zu sein, wie alle sein mußten; er durfte keine Ausnahme bilden, er hatte nicht ein Individuum zu sein, etwas, das unvertauschbar nur er selber wäre. – Ein Beispiel: Am 21. Juni 1995 veröffentlichte die Bischofskonferenz der katholischen Kirche in Deutschland den Erwachsenenkatechismus, Teil 2, den Moral-Katechismus. Dieses Buch wird aller Wahrscheinlichkeit nach Gültigkeit haben für die nächsten dreißig Jahre; es war die Ouvertüre des vor uns liegenden Jahrtausends. Im Index festgehalten ist das Wort, gegen das dieser Katechismus sich am allermeisten richtet: Selbstverwirklichung; «selbstverwirklichen» wird sogar im Kleindruck als Verb in ein Wort gepreßt5, denn es bedeutet das Gegenteil von allem, was der Römischen Kirche lieb ist. Besser ist es offenbar, nicht sich selbst zu verwirklichen, sondern, – ja, was: Kirche zu verwirklichen, Kirchenmoral zu verwirklichen, gesellschaftliche Moral zu verwirklichen, im Grunde jedenfalls sich selber abzuschaffen. Irgendwo kommt dann noch vor, daß zum Beispiel zur Wahrhaftigkeit die Ganzheit gehöre, aber wo soll sie wohl herkommen, die Wahrhaftigkeit, wenn der Mensch sein Selbst nicht verwirklichen darf? Wie soll Integration, Personalisation, Individuation, kurzum Vermenschlichung, Humanisation, gelingen, wenn ein Mensch nur existieren soll im Gehorsam nach außen, wenn er ständig einer Institution bedarf, um sich in den paar Jahrzehnten seines Lebens zurechtzufinden? Immer erklärt man ihm – um in dem Anfangsbild zu bleiben –, daß es die Muschel sei, die das Geräusch mache, nie sein eigenes Herz. Stets hält man ihn wie ein Kind, dem man beibringt, daß das Fremde das Eigene ersetzen könnte. In Wirklichkeit ist das Äußere nur die Echowand des Inneren, ist es nur der Aufnahmetrichter, um auf sich selbst sensibler zu hören. Doch um diese Frage geht es nun entscheidend bei jener Neugeburt des Religiösen. Es ist möglich, daß man sogar Religion im Sinne des JohannesEvangeliums auf die Art von «Fleisch» hat. Das ist ein Wort, das ins Deutsche sich wörtlich nicht übersetzen läßt, man muß es paraphrasieren: als ein Verständnis des menschlichen Daseins, das ganz und gar irdisch ist. Eine solche «fleischene», sagen wir besser: geistlose Religion hat einen mächtigen Sinn und Hunger für und auf alles Irdische. Sie versteht sehr gut, mit Geld und Macht umzugehen, sie rechnet in großen Zahlen, in Mega-Events von Jugendfestspielen und Papstschauspielen zum Beispiel, sie ist besser zu Hause in ihrem Gottes-Staat als alle Staatsverwalter sonst, 150

denn zusätzlich zur Macht über die Menschen beansprucht sie eine absolute Beglaubigung durch Gott selber. Sie ist, mit einem Wort, ein Cäsaropapismus reinster Form, sie ist die Gefangenschaft der Menschen, projiziert in Gott hinein, und ideologisiert mit himmlischem Anspruch. Keinerlei Freiheit, keinerlei Geist ist da erlaubt, – Dostojewskis Vorstellung vom Großinquisitor ist die offenbare Erfüllung veräußerlichter Religion6. Aber es ist trotz allem möglich, in die verordnete Gefangenschaft ein eigenes Denken, den Atemwind der Freiheit, die Offenheit des Geistes zu tragen. Dazu gehört, daß fortan nichts akzeptiert wird, was nicht durch eigene Erfahrung, durch eigenes Urteil, durch eigene Menschlichkeit gelebt und beglaubigt wird. Dann kann religiös nichts richtig sein, was nicht in unserem eigenen Leben Gestalt gewonnen hätte und unser eigenes Leben als unvertauschbar prägen würde. Die Alten Griechen glaubten, es sei der Wind selber, der die Blüten der Blumen und Bäume bestäube, sie glaubten sogar, er sei die Kraft, welche die Tiere gebären lasse, – eine zeugende Macht, welche die ganze Welt durchatme. So müßte es sein, wenn unsere eigene Schönheit und Vitalität aufblühte im Atemwind eines solchen Geistes. Wovon da die Rede geht, kann uns schmerzlich ankommen, denn es mag zunächst erscheinen wie ein geistiges Sterben. Rückkehr in den Mutterschoß – dieses Bild ist nicht ganz falsch, wenn wir es setzen für den Schoß der Mutter Erde selbst, für die Auflösung mithin von allem, was wir sind. Anders als derart total wird ein solcher Neuanfang sich nicht gestalten können. Worum es dabei aber geht, ist dieses «von vorn» oder «von oben», vom Himmel her. Man müßte genauer sagen: Die geheime Kraft allen Lebens, das nichts ist als Fleisch, das geistlos bleibt, abhängig also und gefangen, besteht wesentlich in der Angst des einen vor dem anderen. Jede Verformung der eigenen Person besteht darin, daß man nur auf das schaut, was die anderen tun, was die anderen wollen, was die anderen sagen, schlimmer noch: was die anderen sagen könnten, was sie sagen werden, was sie sagen würden. Diese Abhängigkeit vom Urteil anderer gewinnt am Ende eine fast allmächtige Kraft über uns. «Von oben» geboren zu werden, das ist soviel, wie daß der Himmel selber eine gütige Gottheit ist, wie es die Alten Ägypter in der Gestalt der Nut sich vorstellten, einer Muttergöttin, die uns am Ende des Lebens empfängt, so wie sie die Sonne an jedem Abend im Westen fortküßt und in ihre Arme aufnimmt, um sie neu im Sonnenaufgang wiederzugebären, jünger und schöner denn je. Es ist die Meinung des Johannes-Evangeliums über die Person Jesu, daß 151

man ihn nur versteht als den Menschensohn, indem man erkennt, daß er buchstäblich «von oben» herabgekommen ist, vom Himmel auf die Erde. Nur deshalb kann er so hoch steigen, daß er alle Menschenangst, alle Abhängigkeit und irdische Gefangenschaft in Überlegenheit überwindet. Er ist insofern das Vorbild für uns alle auf dem Wege, Menschen zu werden. Mit den Worten des Johannes-Prologs können wir, fast platonisch, wiederum sagen, daß ein Mensch nicht geboren ist aus dem Staub der Erde, nicht aus dem Wollen des Mannes, nicht als Erzeugnis des Blutandrangs, nicht also aus Soziologie, Psychologie und Biologie, sondern buchstäblich aus Gott (Joh 1,12-13). Es ist, als wäre im Himmel ein Kunstwerk hergestellt worden, dem wir nun auf Erden gleichzuwerden versuchen sollten, eine Leihgabe an die Zeit, die langsam reifen möchte zu ihrem Urbild. Darin lag die Größe der Hoffnung Jesu für dieses unser Leben; diese Überzeugung war es, die er in seiner eigenen Person nach dem Zeugnis des Johannes verkörperte. Würde diese Vision wahr, so entstünde eine völlig neue Form der Religion, die darin gründete, daß die Menschen, vom Himmel auf die Erde kommend, alle Fußfesseln einer rein irdischen Existenz in Freiheit aufzulösen vermöchten. Nichts mehr könnte sie halten, nichts mehr besäße schreckende und schreckliche Kraft über sie; sie würden beginnen, sich selbst zu gehören. Und mit einem Mal schließt sich das Bild zum Verständnis auch von allem anderen. Heilung von Krankheit – wie oft sieht man Menschen gerade so vor sich: Sie leiden entsetzlich darunter, daß sie förmlich erstickt werden durch all das, was ihnen seit Kindertagen aufgeprägt wurde und was in immerwährenden Zyklen sich nun wiederholt, und es gibt keinen Horizont, kein Aufschauen, keinen leuchtenden Funken in dem dunklen Kerker ihres Lebens. Vor einer Weile sagte eine Frau: «Ich sehe bei meiner Mutter deutlich, was man ihr zu glauben beigebracht hat. Ihre Knie tun ihr seit Kindertagen weh vom vielen Knien, aber sobald die Glocke am Sonntagmorgen läutet, muß sie in die Kirche gehen. Der Arzt sagt ihr, sie solle sich schonen, ich sage ihr, sie solle sich schonen, aber sie trägt in sich eine solche Angst, daß sie eine schwere Sünde begehe, wenn sie die Sonntagsmesse versäume. Und wenn ich ihr sage: ‹Mutti, es hat doch der liebe Gott nicht gern, daß du dich quälst›, sagt sie: ‹Halt den Mund!›, und so sprach sie immer schon. Ich entsinne mich, wie es war, wenn ich als ein kleines Mädchen in die Kirche gehen mußte. Es konnte passieren, daß ich, vielleicht nicht ganz aufmerksam, im Gesangbuch herumblätterte; dann kam sie von hinten nach vorn in die Reihe der Kinder, um mich zur Rede zu stellen; ich sollte auf152

passen. In solchen Momenten war meine Mutter wie ausgewechselt, sie war nicht mehr meine Mutter. Ich weiß heute, unter wieviel Angst sie selber litt; aber diese Angst gab sie weiter – diese Gewissensnot, etwas falsch zu machen; und das Schuldgefühl, ihr Kind nicht richtig zu erziehen, hinderte sie, menschlich zu sein, das hindert sie noch heute, eine Frau weit über siebzig, mit sich selbst ein bißchen gütig umzugehen. Das ist doch», sagte diese Frau, «keine Religion! Das hat doch Gott so nicht gewollt! Da macht man alles falsch, indem man alles richtig macht!» – Das ist wahr. Eine solche Form von Religion treibt nicht die Sache des Menschensohnes aus Nazaret, sie treibt nichts weiter als die Interessen der Gottesbesitzer und der Gottesverwalter. Ein anderes Beispiel: Eine Frau erzählt, wie sie als Kind aufgewachsen ist. Sie fühlt sich heute völlig am Ende, leistet im Beruf nicht mehr, was sie möchte und sollte, sie fühlt sich unnütz und wie zerbrochen. Dabei läge ein halbes Leben noch vor ihr. Wenn sie redet, taucht sie ihr Gesicht mitunter in die Hände, stammelt vor sich hin, fährt sich mit den Händen durch die Haare wie wirr, reißt die Augen auf voller Angst. «Was soll ich denn tun? Schaff’ ich’s noch? Sagen Sie mir, daß ich’s noch schaffe.» – «Und was möchten Sie schaffen?» – «Ich will wieder die alte sein.» Aber genau das geht nicht. «Die alte», das war einmal ein Mädchen, dem man alles übelnahm, was es tat, was es hatte, was es wünschte, was es mochte. Als es sechs Jahre alt war, kamen die Russen in sein Dorf, und es wurde seine Schuld, ein deutsches Mädchen zu sein. Dieses Kind konnte nichts dafür, aber das Volk, dem es angehörte, um so mehr. Später dann, als die Mutter mit noch drei anderen Kindern, für die sie sorgen mußte, irgendwo Unterschlupf gefunden hatte, gelang es nach und nach durch Sparsamkeit, Fleiß und chronische Überarbeitung, daß dieses Mädchen schließlich sogar die höhere Schule besuchen durfte. Dort hatte es fleißig zu sein, strebsam zu sein und gute Noten zu bringen; doch wenn es nach Hause kam, nahmen die anderen drei Geschwister ihm übel, daß es was Besseres sein wollte, daß es nicht körperlich hart arbeiten mußte wie die anderen. Diese Frau war noch nicht fünfzehn Jahre alt, da hatte sie ihr ganzes Leben sich verdienen und ständig gegen einen Wust von Schuldgefühlen rechtfertigen müssen. Das, was sie konnte, das, was sie an Möglichkeiten sich selbst erarbeitet hatte, war für sie nie etwas Selbstverständliches, es blieb vielmehr ihr ständiges Gefühl: «Wenn du irgendwo zu Hause sein möchtest, werden sie wiederkommen und werden dich erneut vertreiben – aus dem Herzen deines Mannes, aus dem Haus, das du bewohnst, aus dem Beruf, den du ausübst – im Grunde gibt es keine Rechte, nur Pflichten, nur Ängste, nur 153

Schuldgefühle; und vor allem: alle anderen sind besser als du.» Im Grunde fühlte und fühlt diese Frau sich immer noch wie fremd. – Jetzt, wo dieser ganze Lebensaufbau zusammenbricht, wo es ihr vorkommt wie ein Tod, da hofft sie, so zu sein wie früher, und es ist für sie schwer zu merken, daß Gott sei Dank nichts mehr sein wird wie früher und endlich alles sich ändern darf. Was ihr bevorsteht, ist wirklich wie eine neue Geburt unter einem gütigeren, mütterlicheren Himmel. Ihr ganzes Leben müßte noch einmal neu gelernt werden. Heute noch kommt es vor, daß es, wenn sie im Bett liegt, für sie das Schlimmste ist, aufzuwachen; der ganze Tag liegt vor ihr wie eine riesige Müllhalde, unübersteigbar, grau und eklig. Schlafen – das ja, das ist ihre ständige Sehnsucht; aber Aufwachen und Die-AugenAufmachen, da beginnt der Alptraum. Wie aber wäre es, es sei ihr wirklich vergönnt, endlich einmal in Ruhe zu schlafen? Und dieser Wunsch wäre heute nicht länger mehr ein Symptom, er wäre in Gottes Namen endlich berechtigt! Er wäre nicht eine Schwachheit, eine Krankheit, die man wegtherapieren müßte, er wäre vielmehr etwas, das längst schon hätte sein müssen: Es gäbe ein Recht für diese Frau, auch mal nichts zu tun; ja, in ihrer «Krankheit» versteckte sich der überaus berechtigte Wunsch, einmal gratis und unbeschwert leben zu dürfen. Tun das vergleichsweise nicht 99 Prozent aller Menschen? Sie legen sich irgendwo in die Sonne, irgendwo an den Strand, stundenlang, tagelang, sie machen Urlaub. Wenn das nicht reicht, gehen sie in Kur, sie schwänzen die Arbeit, sie gehen fünfmal um die ganze Pader, bis hinten zum See und wieder zurück zum Quellgebiet, – der kürzeste Fluß in ganz Deutschland, aber fünfmal abgeschritten, kann lang genug sein zur Erholung. Oder der eigene Hund! Auch der lernt dabei, wenn Frauchen endlich Freiheit hat. Wie schön wäre es, mit ihm springen zu gehen, laufen zu gehen! Diese Frau läuft heute gern, aber nur, um zu erleben, daß sie noch fit ist, daß sie’s noch kann, drei Kilometer im Dauerlauf. – Wie wär’s, man liefe nicht der Gesundheit hinterher, sondern man wartete, daß sie auf uns zu käme und schlösse uns in die Arme? Wohlbefinden – das wäre kein neuer Zwang, so weiterzumachen oder noch mehr zu leisten, es wäre die Erlaubnis, endlich selber zu leben! Nichts im Leben derart entfremdeter Menschen wird jemals gut außer durch eine buchstäblich neue Geburt. Im Leben dieser Frau lag keine Schuld bei ihrer Mutter; sie hat alles getan, was sie konnte, nur daß es objektiv nicht langte, ein Kind glücklich in die Welt zu begleiten. Aber gerade wer so aufgewachsen ist wie diese Frau, kann lernen, zur Schwester oder zum Bruder des «Menschensohnes» zu werden und das eigene Leben «von vorn» zu beginnen – als Gotteskind, als Kind des Lichts, – als «Nomade 154

des Windes» im Aufbruch in eine Freiheit, wie sie nie war. In deren Schatten allein wachsen Glück und Mut und Reife und Menschlichkeit. Auf diese Weise begreift man das erste Mal, daß ein Mensch mehr ist als seine Pflichten, als der Terror der Umstände oder als die Angst vor den Umstehenden. Da beginnt das Vertrauen, von Grund auf sein zu dürfen. Du hörst das Rauschen des Windes, aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er geht. Eine Muschel, geboren in der Weite des Ozeans, angespült am Gestade der Ewigkeit, geformt aus der Schönheit der Wellen nach den Gestaltungsgesetzen des Lebens – wir halten sie an unser Ohr, und wir hören die Sehnsucht unseres Herzens drin rauschen. Eine Wiedergeburt aus Geist nennt das Johannes-Evangelium eine solche Erfahrung.

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Joh 3,14-21: «der habe unendliches Leben» 14Und

wie Mose die Schlange erhöht hat in der Wüste (Num 21,8.9), so erhöht werden muß der Menschensohn, 15damit jeder, der in ihm ein Vertrauender ist, unendliches Leben habe. 16Ja, so geliebt hat Gott die Welt, daß seinen Sohn, den einzigen, er gegeben hat, damit jeder, der auf ihn hin ein Vertrauender ist, nicht zugrunde gehe, sondern unendliches Leben habe (Röm 5,8; 8,32; 1 Joh 4,9). 17Denn nicht gesandt hat Gott den Sohn in diese Welt, damit er die Welt richte, sondern damit gerettet werde die Welt durch ihn (Lk 19,10). 18Wer auf ihn hin ein Vertrauender ist, wird nicht gerichtet. Wer aber kein Vertrauender ist, der ist schon gerichtet, weil er nicht vertrauend geworden ist, nicht einmal auf die Wesensart des einzigen Sohnes Gottes hin (2,23; 5,24; 12,48). 19Das aber ist das Gericht: das Licht ist gekommen in diese Welt, und geliebt haben die Menschen mehr die Finsternis als das Licht (1,5;12,47). Denn böse war von ihnen das Tun. 20Ja, jeder, der faule Dinge tut, haßt das Licht, und nicht kommt er ans Licht (Eph 5,13), damit nicht nachgewiesen werde sein Tun. 21Wer aber jemand ist, der die Unverborgenheit Gottes tut, kommt ans Licht, damit sichtbar werde von ihm das Tun, denn in Gott ist’s getan (1 Joh 1,6.7).

Im 3. Kapitel des Johannes-Evangeliums geht es – wie fast immer bei diesem Evangelisten – um die Beschreibung einer absoluten Alternative zwischen Gott und Welt, zwischen Licht und Finsternis, um ein «Gericht», um eine Trennung, um eine Entscheidung. Wer den Worten des Johannes-Evangeliums zuhört, dem wird es ähnlich gehen wie am 18. Dezember 1994 einer Gruppe französischer Paläontologen: Im Tal der Ardèche tat sich vor ihren Augen eine Höhle auf, und sie entdeckten plötzlich zu ihrer Überraschung die vielleicht schönsten Malereien der Eiszeit, die Menschen je gesehen hatten, 20 000 Jahre alt. Was sich ihren Augen darbot, war faszinierend und zugleich schwer interpretierbar. Offensichtlich war alles, was da gemalt worden war, in irgendeiner Weise religiösen Ursprungs. Es diente der Sehnsucht nach Leben. Tiere waren da zu sehen, endlose Herden von Pferden, aber auch Löwen, Bären, Wisente. All diese Tiere zeugten zugleich von den Schrecken des Todes. Beschworen wurde da tief im Schoß der Erde eine Welt mit magischen Ritualen, in Szenen, die schwer einander zuzuordnen sind; oft überlagern sie sich, vermutlich im Abstand von Jahrhunderten oder von Jahrtausenden. Was gehört da zu wem? Menschliche Gestalten sieht man fast gar nicht, 156

wie wenn sämtliche menschlichen Gefühle in die Dinge, in die Lebewesen selber hineinverlegt worden wären, – kein einziges Menschengesicht, nichts, was als ein unmittelbarer Ausdruck für das Leben der Spezies Homo gelten dürfte1. Hören wir das Johannes-Evangelium, so erfahren wir ganz analog in einer Fülle von Szenen, die einander überlagern, die schwer voneinander zu trennen, aber noch schwerer einander zuzuordnen sind, in einer Kaskade von Bildern und Worten immer wieder etwas von Gott als der Quelle allen Lebens. Wir ahnen dann, daß wir gerade in dieser Welt, die da beschworen und bezaubert wird, leben können, leben sollen, doch ist es nicht leicht zu verstehen, wie. An welcher Stelle halten wir uns da selber auf? Gemeint, soviel ist von vornherein klar, sind all die Worte des JohannesEvangeliums als Beschreibungen der Wandbilder in jener Höhle, die unsere irdische Existenz ist; Licht fällt darüber und verwandelt die Sehnsucht nach Leben in Wirklichkeit. Den Einstieg der vorliegenden johanneischen Meditation bietet eine Szene aus dem Alten Testament, die wie im Zeitraffer zusammengedrängt ist; wir müssen sie in einzelne Handlungen, einzelne Erinnerungen und einzelne Erfahrungen zerlegen, um sie überhaupt verstehen zu können. Ausgangspunkt ist jene Begebenheit im 4. Buch Mose (Numeri) im 21. Kapitel, eine Erzählung, die wir literarkritisch dem sogenannten Elohisten zuordnen, einer sehr frühen Quellenschrift der fünf Bücher Mose (des «Pentateuchs»), die den Namen Gott, fast heidnisch, als «Gottheit», als «Elohim», bezeichnet. Als Israel unter der Führung des Mose aus Ägypten in seine Freiheit zog, wich es aus lauter Angst vor dem feindlichen Stamm der Moabiter immer wieder aus ins Unwegsame und Unwirtliche, in die Wüste. Die Folge dieser Manöver waren Entbehrung und wachsende Angst, die sich entluden in einem Aufschrei gegen diesen Elohim, gegen diese Gottheit und ihren Mose. Man hatte nichts zu essen, man war dabei, zu verdursten, man sah den Weg nicht mehr vor den eigenen Füßen, und aller Zorn, alle Verzweiflung kulminierte in einer Rückerinnerung: Besser doch wäre es gewesen, in Ägypten zu bleiben; da hätte man gewußt, woran man war! Zwar wäre man von früh bis spät hin und her kommandiert worden von den Fronaufsehern des Pharao; zwar hätte man seine Zwangsarbeit verrichten müssen, aber nach vielen Stunden Arbeit hätte man doch auch gewußt, wofür: für Fisch, Gemüse und Gurken (Num 11,4.5) – für etwas Ordentliches zu essen und für ein paar Stunden ruhigen Schlafs. Was will ein Mensch denn mehr? – besser als diese ungeheuerliche Schinderei, die offensichtlich doch in einem Fiasko endet! An manchen 157

Stellen während des Wüstenzugs wird das Volk unter Mose sogar dahin zitiert, daß sich der eigene Gott, dieser Jahwe, lächerlich machen werde in den Augen aller anderen Götter wie aller anderen Völker. Sie werden sagen, dies sei ein Dämon von Gott, der dem Mann an der Spitze eine Wahnidee eingegeben habe; absichtlich führe dieser Mann Mose sein Volk ins Nichts, nur um es vorzuführen in einer Narretei bis zum Untergang (Num 14,1-3; 20,3-6). Freilich: welch ein Mensch weiß denn überhaupt, wenn er aufbricht, was richtig und falsch ist, was Fortschritt oder Rückschritt darstellt? Nichts scheint mehr klar in dieser Stunde des 21. Kapitels im Buche Numeri. Doch es kommt noch ärger. Wie immer in der Bibel, wenn Gott straft, tut er von sich her gar nichts. Er überläßt die Menschen ganz einfach dem Zustand, den sie selber sich bereitet haben, nur daß die Menschen für gewöhnlich keine Ahnung haben, daß sie selbst ihn sich bereitet haben. Gott «strafte», erzählt die Bibel, «sein» Volk, indem er Schlangen in das Lager der Israeliten schickte. Schlangen sind seit alters her Symbolträger menschlicher Angst2; sie verkörpern das gähnende Nichts unter den Füßen, sie lauern im Wüstensand und im Gebüsch, unvorhersehbar greifen sie an, angelockt durch die Körperwärme eines Säugetiers, sie sehen bei Nacht mit Hilfe der Infrarotwahrnehmung; sie stoßen zu, wenn’s keine Rettung mehr gibt. Der hebräische Ausdruck für die Schlangen an dieser Stelle lautet Seraphe, in der christlichen Theologie ist daraus eine Gruppe von Engeln geworden; aber ursprünglich handelte es sich um die mythische Gestalt von Branddrachen, wie sie zum Beispiel in Gen 3,24 mit Flammenschwertern in den Händen den Paradieseseingang den Menschen verstellen. Hier ist es, als wollten sie endgültig den Weg in das Land der Verheißung versperren. Dann aber, als das Volk wieder um Hilfe schreit, gibt Gott dem Mose ein Rettungszeichen: er soll aus Bronze, aus Erz, genau dieses Bild der Angst seines Volkes formen und an einer Stange aufgereckt vor dem Lager aufstellen. Jeder, der von den Branddrachen, von den Schlangen, gebissen werde und schaue dieses Bild, der werde gerettet werden; – das ist die Erzählung, auf die Johannes hier anspielt. Die frühe Gemeinde muß an der Seite Jesu etwas gelernt haben, das die Lektüre dessen, was wir heute das Alte Testament nennen (und was doch in vielem ewig jung bleibt), völlig verändert hat. Ohne daß er je die fünf Bücher Mose midraschartig ausgelegt hätte, scheint Jesus die Jünger gelehrt zu haben, daß es nicht genügt, beim Ritual der Pessahnacht stehenzubleiben und sich daran rituell zu erinnern, was unter Mose geschehen ist, – ein kultisches Spiel, ein heiliges Gedächtnis, eben: eine etablierte Religion. 158

Im Sinne Jesu genügt es durchaus nicht, zu sagen: «Wir sind ein auserwähltes Volk, denn ‹wir› sind unter Mose vor dem Pharao geflohen.» Wohl: Die ganze Religion der Bibel kreist im Alten Testament um das Erlebnis am Schilfmeer, als das Volk nicht mehr ein noch aus wußte: vor sich die undurchschreitbare Wasserwand des Meeres, hinter sich die Reiterwagenabteilungen des Pharao; und in dieser Ausweglosigkeit gerettet worden zu sein, einfach weil an der anderen Seite des Meeres der Mann Mose stand. Er nahm seinen Stab, der in der Berufungserzählung selber sich in eine Schlange der Angst verwandelt hatte (Ex 4,3.4), und streckte ihn aus über das Wasser und redete zu seinem Volk, es solle gehen in das Wasser hinein, es werde ein Weg sich dort zeigen, wo er nie war, – dieses Wunder der Rettung in schierer Ausweglosigkeit und Verzweiflung bildet den ganzen Glaubensinhalt des sogenannten Alten Testamentes (Ex 14,21). Das, was wir das Neue Testament nennen, kreist vor allem im JohannesEvangelium um ein anderes Bild, das mit der Exodusszene zu tun hat, aber auch als Kontrast dazu empfunden wird. Das ist der Augenblick, da Jesus am Kreuz wieder vor sich das reine Nichts sieht; er vernimmt den Hohn und den Spott der Menge, und doch geht er durch die Wand des Todes hindurch, und doch spricht er solche Worte wie sie der Legende nach von Lukas ihm zugetraut werden: In deine Hände geb’ ich meinen Geist, ja, er sagt sogar: Vergib denen, die das tun, denn sie wissen nicht, was sie da machen (Lk 23,34.46), und überwindet so den Haß durch das Verstehen und die Verzweiflung durch das Hoffen. Alle neutestamentliche «Theologie» kreist um diese Frage: was passierte, als Jesus starb, oder genauer: was passiert, wenn ein Mensch stirbt so wie er? Was ist die letztgültige Antwort auf alle Fragen und auf alle Klagen unseres Lebens? Soviel jedenfalls steht fest: Jesus wollte, daß wir die ganze Exodus-Geschichte noch einmal aufrollen, jeder für sich in seinem Leben. Die Ebene der Auseinandersetzung ist nicht mehr ein Volk, ein Kollektiv, es geht nicht mehr um einen Aufbruch im Allgemeinen ins Allgemeine, es geht um die Frage an jeden Einzelnen, wie denn er existiert. Was in dem Gespräch mit Nikodemus zuvor in dem Bild von dem wehenden Wind als Aufbruch in Freiheit umschrieben wurde, läßt sich jetzt wiedergeben als Frage an unsere Existenz: wie, von innen her, machen wir uns frei von all den falschen Fesseln? Im Leben eines jeden von uns gibt es eine Reihe angemaßter Autoritäten, existiert eine nie überwundene Pharaonenherrschaft, die immer wieder nur eine einzige «Beglaubigung» besitzt: sie verfügt über die Macht zu töten, und schlimmer noch, sie kann in den Tod treiben wie zur Strafe, so 159

als verdiente jemand durch eigene Schuld seine Hinrichtung. Die Angst vor dem Tod und die Angst, schuldig zu sein auf den Tod hin, sind die beiden Marterinstrumente, die die Menschen in Schach halten wie die Fangeisen ein zu jagendes Tier, das sich aus Hunger vom Köder der Falle ins Tödliche hat verlocken lassen. Wie befreit man Menschen dahin, den Tod nicht wie hypnotisch als die letzte Macht über ihrem Leben zu betrachten, und wie befreit man sie dahin, positiv an ihre Unschuld wieder zu glauben? Der Ausgangskontrast ist im Johannes-Evangelium ganz deutlich. Er besteht in einer massiven Kritik an der Vorstellung von der ehernen Schlange des Mose. Worum, müßte man mit Johannes fragen, handelt es sich da eigentlich? In kulturhistorischer Erinnerung scheint alles recht einfach: In der beginnenden Metallzeit, am Rande des Neolithikums, hat man einen neuen Werkstoff gefunden. Schon in dieser Erfindung schwingt Furcht und Magie mit: – die Schmiede stehen den Göttern nahe3. Zudem: Man kann – auch dies ein technischer Fortschritt – fortan die Angst der Menschen in einer neuen Form, mit Hilfe der Metallurgie, Gestalt gewinnen lassen. So kommt es offenbar zu dem Bild der ehernen Schlange: Man nimmt den Menschen ihre Angst, indem man die Angstfigur selber zur Anbetung freigibt. Wo in der Religion ist nicht im Grunde die Angst selber Gott? Religion wird so zu einer Form von kollektivem Wahnsinn. Aber wo in der Kulturgeschichte war sie je etwas anderes? In Mittelamerika zum Beispiel konnten alleine bei der Thronbesteigung eines Aztekenhäuptlings wie Ahuitzotl (1486–1502) an die über zehntausend Menschen in ein paar Tagen geschlachtet werden auf den Tempelterrassen des Gottes Huitzilopochtli, des Stammesgottes der kriegerischen mittelamerikanischen Indios4. Und wie war es, als im Jahre 1099 die Kreuzfahrer unter Gottfried von Bouillon wie in einem Blutrausch das Massaker von Jerusalem anrichteten und die gesamte Bevölkerung niedermetzelten?5 Gerade das Bild von der Erhöhung des Menschensohns, den Gott aus Liebe in diese Welt gegeben hat, ist in seiner Interpretationsgeschichte nicht frei von derartigen Perversionen geblieben, und es hat zum Teil gerade diejenigen Elemente, gegen die es eigentlich gewendet war, in sich aufgesogen. Wie denn auch nicht? Gott hat seinen Sohn in den Tod gegeben – ist dann der Tod nicht doch etwas Gottwohlgefälliges? Und wenn schon Gott die Welt derart liebte, daß er seinen eingeborenen Sohn am Kreuze dahingab, muß man dann nicht geradewegs Mitleid haben mit einem derartigen Gott, mehr als mit den geschundenen Menschen? Wird dann nicht alles an menschlichem Gefühl in eine theologische Projektion hinein absorbiert, die wieder entfremdet, die wieder niederdrückt? 160

In bezug auf das «Zeichen» von der Schlange am Stab und dem Christus am Kreuz sieht man erst wieder klar, wenn man sich zurückerinnert an das, was Jesus tatsächlich wollte. Sein Tod ist ein deutendes, zusammenfassendes Zeichen für sein Leben, darin sind alle Evangelisten sich einig; aber es läßt sich das Leben Jesu nicht von seinem Tod her verstehen noch auf seinen Tod hin auslegen; umgekehrt, nur aus dem Umkreis dessen, was er für das Leben und als das Leben wollte, ist der Sinn seines Sterbens begreifbar; das Johannes-Evangelium spricht sogar von unendlichem Leben, von einem Leben also, das den Tod aufhebt. Darin bestand in der Tat Jesu Lösung, daß er die Angst nicht zur Religion erhob, sondern Gott als eine Kraft setzte, die den Menschen, jeden einzelnen, aufrichtet zu einem Vertrauen, das ihn leben läßt! Aus lauter Angst können Menschen die furchtbarsten Verbrechen begehen, wie unter Zwang, wie vollkommen unfrei, als bloße Marionetten und Spielzeuge ihrer Herren; wie aber, es ließe die Angst sich überwinden durch ein neues Vertrauen? Das ist das Stichwort hier. Das griechische Wort heißt eigentlich «Glauben» und ist in dieser Form mißinterpretierbar durch alle möglichen dogmatischen Assoziationen; aber im Grunde meint das griechische pistis in seiner hebräischen Entsprechung soviel wie «Vertrauen», und so lautet die Frage, die Johannes sich stellt: Was eigentlich hat man von Jesus gelernt? Hat man wirklich auf ihn hin, auf seinen Namen hin, in Anbetracht all dessen, was er als wesentlich verkörpert, zurückgefunden zu einem Vertrauen, das den Menschen erhöht? Auch dieses Wort ist im Johannes-Evangelium ganz und gar doppeldeutig. Noch ist die Rede ja nicht von dem Sohne Gottes, sondern von dem Menschensohn, der erhöht wird. Da ist der Unterschied deutlich: auf der einen Seite sehen wir das Angstbild des Menschen, das sich in den Kultus hineinprojiziert, auf der anderen Seite erleben wir jetzt umgekehrt eine heilige Verehrung der Größe des Menschen voller Vertrauen. Es ist eine absolute Differenz, die Johannes hier sieht und zieht, eine Differenz, die über alles entscheidet, eine Alternative wie immer im Vierten Evangelium zwischen Entweder-Oder: Es ist möglich, in dieser Welt so zu leben wie die Israeliten in der Wüste, – dann kämpft jeder für sich und das Volk kollektiv gegen eine unbarmherzige, grausame Umwelt ums Überleben, und man wird daran ersticken, man wird am Ende überhaupt nicht mehr wissen, wofür man existiert hat. Oder man lernt an der Seite des Mannes aus Nazaret, sich noch einmal in Ruhe zu fragen, was denn das für Kräfte sind, die tragen können, die weiterführen. Vertrauen oder Angst, Zugrundegehen oder Hoffen, das sind die Vorzeichen vor der Klammer, die das ganze Leben umschließt. 161

Fragen wir, wie die Sprache von Gott bei Johannes gebraucht wird, fällt der Ausdruck auf: «Gott hat gegeben». Er ist wieder eine zentrale Chiffre, die man etwa so übersetzen kann: Ein Mensch, der lernt, Vertrauen zu finden, wird merken, daß er als Mensch eine Größe hat und eine Würde besitzt, die als ein unglaubliches Geschenk betrachtet werden muß. Diese Haltung der Dankbarkeit muß man fast jeden Tag einüben. Menschen, die immer wieder am Abgrund lagern, die sich wie schwebend über dem Abgrund fühlen, jederzeit angesogen von dem Loch unter ihrer Existenz, werden keinen anderen Halt finden, als daß sie es buchstäblich trainieren, die kleinen Dinge des Alltags zunehmend als ein Geschenk ihrer Schönheit, als eine Gunst ihres Ansehens zu betrachten. Alles, was ein solches Vertrauen begründen kann, verdient Beachtung. Die paar Jahrzehnte, die wir hier auf Erden verbringen, können wir vertun in einer permanenten Hast, in einer endlosen Fronarbeit, ständig imprägniert mit dem Gefühl, in unserem ganzen Dasein unberechtigt zu sein und überhaupt erst verdienen zu müssen, daß es uns geben soll. Wir können aber auch denken, alles, was wir sind, sei ein wunderbares Geschenk, zu dem wir mit unseren Möglichkeiten etwas beizutragen vermöchten, so daß auch andere durch uns sich gefördert und bereichert fühlen; das wäre dann unser eigentliches Leben. Wie wunderbar wäre es, wir könnten eines Tages, gefragt nach der Summe von allem, sagen: «Es hat uns gegeben, und es hat unser Leben das Dasein anderer ein wenig erleichtert» – es wäre noch einmal ein weiterer Grund, von Herzen dankbar zu sein. Das Leben des Menschen als ein Geschenk, und darin versöhnt zu werden mit der eigenen Angst, mit der eigenen Schuld – das meint die Chiffre von dem «Menschensohn» in seiner Erhöhung, in seiner Überhöhung, bezogen auf unsere Existenz. Beide Themen: Angst wie Schuld, besitzen dabei ihr eigenes Gewicht. Schlimmer noch als die Angst, daß wir irgendwann biologisch sterben müssen, ist die Angst, schuldig zu sein. Wenn Sterben schließlich bedeutet, hingerichtet oder beseitigt zu werden, weil alles irgendwie falsch war, weil unser Leben nicht gelungen ist, weil es am Wesentlichen vorbeiging, oder sogar vielleicht weil es mutwillig zu Schaden geführt hat, dann in der Tat ist alles nur noch dunkel, zum Verzweifeln, zum Nicht-mehr-leben-Mögen. Aber wieder auch umgekehrt: Wenn sich zeigen würde, daß wir selbst in unseren Fehlern uns doch bemüht haben, richtig zu sein und das zu geben, was wir geben konnten, und das zu werden, was in uns angelegt war, wenn wir verstehen würden, daß selbst unsere sogenannten bösen Taten nichts weiter waren als ein reifendes, ringendes Suchen nach uns selbst bezie162

hungsweise nach einem anderen Menschen, den wir dringend gebraucht hätten, wäre es dann nicht möglich, Vertrauen zu setzen in alles und Versöhnung zu spüren auch mit dem, was wir waren? Dann stünde das Bild des Menschen(sohnes) groß und erhaben vor uns, – wir hätten eine Religion der Menschlichkeit, des Kults auf den Menschen. Das wäre die Erhöhung des Menschensohnes, die Beseitigung aller Angst und Schuld. Man muß den johanneischen Gedanken von der Vermenschlichung des Menschen radikal nehmen. Denn genau das hat Jesus gewollt, davon ist der Vierte Evangelist fest überzeugt; doch genau dafür hat man den Mann aus Nazaret zu töten versucht, und zwar notwendigerweise. Derart an den Menschen zu glauben schwemmt alles hinweg, was die Freiheit zu unterdrücken trachtet. Da ist ein Kampf im Gange zwischen den Verwaltern der Angst und der Auflösung der Angst, zwischen denen, für die Angst das rechte Instrument ihrer Machtbehauptung ist beziehungsweise umgekehrt die Ausrede für alle kleinmütig Gewordenen, für alle Eingeschüchterten, für alle gefügig Gemachten auf der einen Seite und diesen ewig Aufständischen auf der anderen Seite, die resistent sind gegenüber dem Ressentiment, die sich nie bis dahin kujonieren lassen, daß sie ihre Haut zu retten suchen, indem sie sie selber zu Markte tragen. Wenn irgend etwas in den ersten drei Evangelien historisch zutreffend geschildert wird, ist Jesus nicht blind in den Tod gegangen, sondern sehenden Auges, mit innerer Konsequenz. Irgendwann muß er sich gedacht haben: «Laß sie machen, was sie wollen, es hat jedenfalls keinen Zweck, ihnen länger auszuweichen, und auf gar keinen Fall ist es möglich, vor ihnen zurückzuweichen; vielmehr gilt es, aufrecht und grade weiter zu sprechen, weiter zu tun, was der Freiheit der Menschen dient; und dann werden sie selber sehen, dann werden sie noch einmal neu entscheiden, oder sie müssen ihre Blindheit zum Urteil erheben. Das alles sei dann ihr Problem.» Es war jedenfalls nicht mehr das seine, als er mit der Gruppe derer, die sich ihm angeschlossen hatten, hinüberging nach Jerusalem – in sein Pessah, wie Johannes sagt. Da wird der Menschensohn Jesus am Galgen des Kreuzes aufgehängt; doch das ist seine Erhöhung, sein Ruhm, sein Triumph über alle Todesangst, seine Freiheit gegenüber einem Rechtssystem, das nicht zum Leben hilft, sondern nur töten kann im Getto der Obsessionen von Schuld und Strafe. Freilich, es ist möglich, gerade mit dem Vorbild Jesu noch einmal alles zu rechtfertigen und zu verteidigen. Jeder hat die Möglichkeit, zu sagen, am Beispiel Jesu lasse sich erkennen, wie wenig bei einer solchen Lebenseinstellung herauskomme, diese Freiheit sei eine Illusion, ein solcher Glaube an den Menschen sei ein leerer Wahn; was real sei, was in der 163

Menschheitsgeschichte zähle, das seien halt die kleinen Regeln, wie man Institutionen gründet, wie man Menschen in den Nacken tritt, wie man sie am Boden herumkrebsen läßt, bis daß sie am Ende doch wieder als Sklaven ihre Arbeit tun; das Alte sei das Altehrwürdige, das Bewährte, und es sei zäh, es lasse sich nicht einfach aus der Welt schaffen; vor allem: die Menschen seien, wie sie sind; sie seien schon immer böse gewesen, und gegen das Böse gebe es nun mal nur das Böse, gegen kläffende Hunde halt die Peitsche, gegen Wölfe den Dreschflegel, gegen Kriminelle den Strang, – so gehe das, und anders sei die Welt nun mal nicht, und so werde sie auch bleiben, und jeder, der sie zu ändern versuche, sei halt ein blauäugiger Phantast, ein betroffenheitsethisch verwirrter Gesinnungsmoralist, aber kein Mann der Tat. Mit solchen Tiraden sind wir ihn los, den Jesus von Nazaret; denn unter uns gesprochen: es hat mit ihm zwei Jahre zu lange gedauert, in denen er den Menschen Illusionen und Halluzinationen wie Drogen verabreichen konnte; jetzt aber ist Schluß; an uns liegt es, seine Verführungskünste mit Vernunft und Pragmatik wieder zurechtzurücken. Das Kreuz, ja! Wir zeigen ihn vor, – erhöht am Kreuz, damit jeder sieht, wo er mit ihm dran ist. – So kann man denken. Man kann aber auch anders denken. Man kann sagen: Dieser Mann hat sich nicht kleinkriegen lassen; lieber war ihm der Tod als ein Leben, das keines ist; lieber ließ er sich totschlagen, als ein ganzes Leben lang geduckt zu gehen; lieber ließ er sich verhöhnen und verspotten, als ein ganzes Leben lang sich selber zu begeifern und zu besudeln. Er hat es uns gezeigt: Angst ist kein Argument. Besser für schuldig in allem gehalten zu werden, als schon dadurch sich selbst und allen anderen alles schuldig zu bleiben, daß man gar nicht selbst wird, daß man gar nicht selbst ist, daß man chronisch unauffindbar bleibt, – ein anonymes Material, ein mustergültiges Exemplar des Allgemeinen, aber kein Mensch. Besser, man macht in den Augen aller anderen alles falsch, als daß man auf diese Weise, aus lauter Angst, etwas falsch machen zu können, niemals zum Leben kommt und niemals etwas richtig macht. Für diese Überzeugung steht er. Für sie ist sein Leben das Zeichen und sein Tod der Beweis. Wenn das so zu sehen ist, dann ist das Kreuz Jesu die Aufrichtung des Menschen, dann ist seine Hinrichtung die überragende Erhöhung des Bildes eines Menschen, der mit sich versöhnt ist. Dann ist sie die Erhöhung des Menschensohns. Man begreift, daß hier buchstäblich alles zur Disposition steht. Wer nach wie vor in den Kategorien des bürgerlichen Durchschnitts zu denken gewöhnt ist, dem muß das alles an dieser Stelle wie Wahnsinn erscheinen, 164

wie eine Versuchung geradewegs zu etwas Anomalem und Verrücktem, zu etwas Pathologischem. Ordentlich leben, wie jeder doch weiß, das heißt als erstes, Geld zu verdienen, ein Haus zu bauen und einen Hausstand zu gründen, die Rente möglichst früh abzusichern, zu sorgen für die Krankenbezüge, – all diese Dinge, wohlgemerkt, müssen geregelt sein, sonst ist nicht richtig zu leben. Zu schaffen, zu erwerben und Steuern zu zahlen – in dieser Zirkulation von Arbeitskraft, Ware, Geld und Staatsmacht bleibt bürgerlich die menschliche Existenz eingespannt. Wer so denkt: Leben, das bedeutet, möglichst nett und gut zu leben, das bedeutet vor allem, abgesichert zu leben, der merkt womöglich gar nicht, wie tief er diese beiden Kräfte – die Angst vor dem Tod und die Angst vor der Schuld – verinnerlicht hat. Ihm ist der Rückenwind dieser Angst womöglich so selbstverständlich, daß er meint, rasch voranzukommen, während er gar nicht spürt, welch eine Energie ihn vor sich herschiebt. – Und wieder umgekehrt. Wenn es möglich wäre, man könnte das tun, was Jesus wollte, man orientierte sich statt an der Menschenangst in einem langsam reifenden Vertrauen an dieser unbekannten, unsichtbaren, unvorstellbaren Macht, die in den Religionen Gott genannt wird, dann müßte man, dann dürfte man tatsächlich sagen: Gott hat diese Welt geliebt, das heißt im Präsens: Er steht ihr in unendlicher Liebe gegenüber. Was Johannes da formuliert, ist nicht ungefährlich, weil es die übliche Theologensprache nahelegt, in welcher aus der Perspektive Gottes auf den Menschen hin gesprochen wird, und diese Sprechweise kann sehr entfremdend wirken. Doch wenn wir das, was Johannes von Gott her sagt, aus der Sicht des Menschen betrachten, so besitzt seine Aussage eine wirklich große Energie von Aufbruch und Freiheit. Die entscheidende Entdeckung lautet: Was die Welt im ganzen trägt, ist Liebe. An sie dürfen wir glauben, an sie können wir glauben, ja, wir vermögen von daher sogar ein Stück weit an uns selber zu glauben. Da formt sich unser Blick auf den Menschen noch einmal ganz neu. Ohne diese neue «Sichtweise» besteht die ganze Welt nur aus Angst, doch selbst dieser Umstand muß uns nicht länger irremachen. Die Menschen mögen in ihren Ängsten alle möglichen Verbrechen begehen, doch selbst in ihren Abgründen und Verlorenheiten bleiben sie nur um so mehr nach Liebe suchend und der Liebe bedürftig. Es ist nichts als eine Selbsttäuschung, die Menschen einzuteilen in diejenigen, die wir lieben können und sollen, weil sie die «guten» Menschen, die richtigen Menschen sind, und in jene anderen, die wir abschieben und verabscheuen, weil wir sie zu den «bösen» Menschen rechnen. Eine derart eingeteilte Welt besteht nach Johannes immer noch nur aus Angst; sie mag sich nach 165

Gesetzen richten, doch sie kennt keine Gnade. Wer hingegen sie entdeckt, dem ist’s, wie wenn ein Licht aufginge mitten in der Finsternis; der fängt an, alle Dinge noch einmal ganz anders zu sehen. Da hat Christian Fürchtegott Gellert völlig recht: «Wer sagt, er liebet Gott, und hasset seine Brüder, der treibt mit Gott nur Spott und zieht ihn ganz hernieder.»6 (Vgl. 1 Joh 4,20.) Natürlich kann man das machen: man kann Gott benutzen, um im Namen Gottes Menschen untereinander entlang bestimmter «Glaubens»grenzen zu trennen. Auch die Sprache des Johannes-Evangeliums steht in dieser Gefahr, wenn sie die Menschen in Lichtbesitzer und in Finsternisbewohner teilt, in zum Glauben Gekommene und in nach wie vor Ausständige. Doch was das Vierte Evangelium als erstes vermitteln möchte, ist dieses Erfahrungswissen, diese Möglichkeit zumindest: die ganze Welt, in der wir uns befinden, ließe sich entdecken als getragen von Liebe, und alle Menschen vorbehaltlos und unterschiedslos gehörten dazu. Allerdings muß man das Johannes-Evangelium an dieser Stelle über den Raum seiner unmittelbaren Einsichten und Gedanken hinaus interpretieren; man muß die Richtung, in die es spricht, ein Stück weit extrapolieren über den Bereich hinaus, den es verbal definiert. In den Tagen der Entstehung des Johannes-Evangeliums muß es eine schreckliche Erfahrung gewesen sein, mitzuerleben, daß alles, was man Menschen sagen kann, gelebt und erfüllt sein mag in der Person des Mannes aus Nazaret, und daß es dennoch möglich ist, daß die menschliche Geschichte sich nach wie vor so aufführt, als sei das Leben Jesu nichts weiter als eine belanglose Episode: zu übergehen und zu verdrängen in der jüdischen Selbstreflexion, uninteressant für die römische Geschichtsschreibung, – sie wird das Leben Jesu, außer einer kurzen Notiz bei Tacitus7, kaum erwähnen; für sie hat sich nichts geändert auf der Welt. Da wird ein Mensch getötet seiner Menschlichkeit wegen, und alles bleibt, wie es ist! Da kommt der Himmel auf die Erde, und keiner will ihn haben! Es soll möglich sein, daß einem Menschen alles angeboten wird, was er zum Leben braucht, und er verweigert es! Zu spüren, daß es sich gerade so verhält, ist für Johannes so bitter, daß er aus dem Licht heraus neue Schatten sich werfen und eine neue Dämmerung über die Erde fallen sieht. Er, der vom Licht kündet, weiß im Grunde kein Mittel mehr, die Finsternis zu besiegen. Der Kontrast bleibt in diesem Evangelium bestehen. Johannes nennt das die «Krisis», die Entscheidung, und er setzt sogar fest: das Gericht hat längst stattgefunden. Die Menschen, die jetzt immer noch sagen: «Wir sind, wie wir sind», die jede Änderung ablehnen, sind schon «gerichtet», was soviel heißt wie: bei diesen wird nie mehr etwas passieren, deren Einstellung hat sich endgültig festge166

legt; bei denen ist nichts mehr zu machen. Das wirklich ist das Gefühl dieses Evangelisten; selbst Gott werde nicht, noch wolle er an diesem Zustand je noch etwas ändern. Es gibt indessen Menschen, an denen auch etwas anderes sichtbar wird, und diese Beispiele möchte man Johannes gewissermaßen zur Korrektur seines nahezu fatalistischen Standpunktes vorhalten. Geboren wird in diesen Menschen, ohne daß sie selbst zu sagen wüßten, warum, trotz allem der Gedanke eines unendlichen Lebens aus der Freude an den Atemzügen dieses so kurzen irdischen Daseins. Wie zu ihrer eigenen Überraschung spüren sie den Wind der Liebe und tragen ihn hinaus; sie heben die Grenzen fort; für sie gilt nicht die Todesdrohung des immer nur allzu flüchtigen Existierens im Rhythmus der Zeiten. Solche Menschen möchten nur eins: daß alles sich fortsetze und nie mehr aufhöre. Friedrich Nietzsche konnte so sagen im «Zarathustra»: man solle, gefragt: War das das Leben?, antworten dürfen: Wohlan, noch einmal!8 Es sollte sich alles wiederholen, wünschte er. Dieses Gefühl, vital genug zu existieren, dachte er, sei die höchste Annäherung an die Idee des Seins, und er stellte sich dabei eine ewig kreisende Spirale vor – ohne Verzicht, ohne Reue – eine ständige Bejahung. Nietzsche glaubte nicht an ein ewiges Leben im Sinne des Christentums, und doch kam er dem nahe, was Johannes hier verspricht: unendliches Leben aus einer Liebe, die vor nichts mehr zurückzaudert und zurückschaudert, sondern die es wagt, zu sein. Dann stellt sich um so mehr die Frage, was denn mit all denen werden soll, von denen das Johannes-Evangelium erklärt, sie wagten nicht ans Licht zu gehen, weil sie fürchteten, in der Wirklichkeit als diejenigen entdeckt zu werden, die sie sind? Soll man diesen bitteren Satz, der so wahr ist, daß ihn jeder in seiner Realität gleich begreift, nicht gegen den Wortlaut des Johannes-Evangeliums noch einmal beziehen auf das, was wir gerade gehört haben? Es kam doch die Versöhnung von Gott, es kam doch Jesus in diese Welt nicht, um zu richten, sondern, wenn schon, um zu retten, um aufzurichten; nicht um hinzurichten, sondern herzurichten, um richtigzumachen! Dann müßten wir in diese Dunkelheit noch einmal hineinleuchten. Es ist für uns rein psychisch absolut wahr: Selbst wenn wir die Chance erhielten, Licht in unser Leben zu bringen – wir könnten bewußt noch einmal durchgehen, wie wir geworden sind –, so fehlte uns aller Wahrscheinlichkeit nach der Mut, unser Leben anzusehen, aus lauter Schamgefühl. Es wäre uns zu peinlich, zu erniedrigend, uns anzuschauen, was wir sind, wie wir waren; – besser also, wir verdrängen’s, wir halten’s im Unbewußten, wir schauen gar nicht erst hin, wir machen es uns nicht 167

klar; diese ganze Höhle unseres mißratenen und verpfuschten Daseins, – das soll gar nicht zum Licht, das flüchtet angstgescheucht wie die Fledermäuse lieber in immer tiefere Höhlengänge, es traut sich allenfalls hervor bei Nacht im Laut von Stimmen, die für Menschenohren nicht gemacht sind, – ein Heulen und Klagen eher als ein Reden. Und doch sollten wir das Johannes-Evangelium an dieser Stelle wörtlicher nehmen, als es sich selbst versteht: Es kam der Sohn Gottes, nicht um die Welt zu richten, Jesus wollte Menschen nicht verloren geben, selbst wenn er historisch an ihrem Widerstand scheiterte. Wäre es nicht möglich, zumindest Gott mehr an Liebe und mehr an Geduld und mehr an Weisheit und mehr an Einfühlung zuzutrauen, als wir angesichts der Verlorenheit von Menschen aufbringen? Oft werden wir erleben, daß ein Mensch so sehr aus Angst besteht, daß er mit ihr wie verwachsen scheint, er kennt sie nicht, er kann von ihr nicht sprechen. Es wird schon viel sein, wenn wir entdecken, wie sehr er sich zurückzieht aus Furcht, in dem, was er ist, entdeckt zu werden. Nur wenn wir diese Fluchtbewegungen der Angst im Unbewußten, im Dunkeln, mitvollziehen, wird langsam ein Mut wachsen, wenigstens ein Stück weit sich festzumachen gegen die Angst. Eines Tages dann gelingt es vielleicht sogar, Worte für all das zu finden, wofür man sich schämt, wofür man fürchtet, vom anderen verlassen zu werden, weswegen man Angst hat, auch der andere werde einen fallenlassen, wenn er dies erführe. Wenn man erst einmal soweit wäre – weit noch entfernt von aller religiösen Rede; noch sind wir nicht beim Sprechen von Gott –, wäre bereits unglaublich viel gewonnen; wir würden das Gefühl begründen, selbst wir, die wir nur Menschen sind, würden den anderen bestimmt nicht verlassen, ihn bestimmt nicht im Stich lassen, ihn bestimmt nicht wegschicken, ganz im Gegenteil. Schon weil der andere so fühlt, sehen wir ganz deutlich, daß er nicht freiwillig, durch eigene Entscheidung, wie Johannes sich das in etwa vorzustellen scheint, in die Dunkelheit hineingetaucht ist, sondern daß da ganz sicher schon über seine Kindheit Schatten gefallen sind, über die Schwäche seiner Jugend, über ganze Jahre seines Lebens. Was ist damals passiert, als er fürchten lernen mußte: seinen Vater, seine Mutter, seinen Pastor, seinen Lehrer, seinen Bruder, seine Schwester, seinen Onkel, wen auch immer, in einem Ausmaß, daß er sich jahraus, jahrein nie auch nur in Andeutungen vorzuwagen traute? Alle Angst in der Gegenwart, die wir kaum aufzulösen vermögen, hat ihre Gründe in vergangenen Erlebnissen, und sie nun hervorzuholen ist in der Tat eine Höhlenwanderung, eine paläontologische Suche wie in der Höhle im Tal der Ardèche, wie in der Grotte Chauvet. Da werden wir uralten Höhlenmalereien begegnen, die 168

wir neu deuten müssen, und es ist bereits viel wert, das Licht darauf zu werfen und die Augen ans Licht zu gewöhnen. Nie ist die eigene Gestalt, wenn wir sie nur erst richtig beleuchten, so, wie wir dachten: verächtlich, häßlich, minderwertig, unansehnlich, ein Gespött; – im Gegenteil! Wenn wir sie nur wirklich wahrnehmen, werden wir die Erhöhung des Menschen(sohnes) miterleben. Schon für das, was man Menschen angetan hat, wird man sie oft genug lieben können. Schon für das, was sie sich angetan haben, wie um vorgreifend auf die befürchtete Strafe sich selber zu quälen, wird man sie lieben müssen. Und je mehr man sie versteht, wird man von ihnen nicht mehr loskommen. Es wird immer enger sich miteinander verbinden, immer mehr sich versöhnen, immer tiefer eins werden. Am Ende sind Himmel und Erde gar nicht die Gegensätze, für die wir sie hielten, sie sind – das eine wie das andere – die eine einzige große, wunderbare Welt Gottes; und der Psalm 23 stimmt dann aufs Wort, wenn er spricht von dem Gott, der ein Hirte ist und uns lagert auf grüner Au: Und müßt’ ich auch wandern durch Todschattenschlucht, so fürcht’ ich kein Unheil, denn du bist bei mir. Es gibt in der Literatur nur schwerlich eine poetischere Bearbeitung johanneischer Sprache in den Ausdrucksformen unserer Tage als die Worte, die der libanesische Dichter Khalil Gibran in seinem Buch Jesus Menschensohn einmal Maria von Magdala, dreißig Jahre nach dem Tod Jesu, in den Mund gelegt hat und in denen er sich vor allem bemüht, die Verstellungen des christlichen Dogmatismus dichterisch aufzulösen. Er läßt diese Zeugin der Auferstehung, der Erhöhung des Menschensohnes, johanneisch gesprochen, sagen9: Noch einmal wiederhole ich, daß Jesus den Tod durch den Tod besiegte und daß Er vom Grabe auferstand als ein Geist und eine Kraft. Er durchschritt unsere Einsamkeit und besucht die Gärten unserer Passion. Er liegt nicht mehr dort in der Felsenspalte hinter dem Stein. Wir, die wir Ihn lieben, sahen Ihn mit diesen unseren Augen, die Er sehend machte, und wir berührten Ihn mit diesen unseren Händen, die Er lehrte, weiter als gewöhnlich zu reichen. Ich kenne euch, die ihr nicht an Ihn glaubt. Ich war eine von euch. Jetzt seid ihr noch zahlreich, aber eure Zahl wird schnell abneh169

men. Ist es nötig, daß man eine Harfe oder Leier zerbricht, um die Musik darin zu entdecken? Ist es erforderlich, einen Baum zu fällen, um daran glauben zu können, daß er Früchte trägt? Ihr lehnt Jesus ab, weil jemand aus dem Land des Nordens behauptete, daß Er Gottes Sohn sei. Und ihr verachtet euch gegenseitig, weil jeder von euch sich zu erhaben dünkt, um der Bruder seines Nächsten zu sein. Ihr haßt Ihn, weil jemand behauptete, daß Er von einer Jungfrau geboren wurde und nicht aus dem Samen eines Mannes. Ihr kennt nämlich weder Mütter, die als Jungfrauen begraben werden, noch Männer, die, an ihrem eigenen Durst erstickt, zu Grabe getragen werden. Ihr wißt nicht, daß die Erde mit der Sonne vermählt wurde und daß es die Erde ist, die uns in die Berge und Wüsten aussendet. Es gibt einen klaffenden Abgrund zwischen denjenigen, die Ihn lieben, und denjenigen, die Ihn hassen, zwischen denen, die an Ihn glauben, und denen, die nicht an Ihn glauben. Wenn aber die Jahre eine Brücke über diesen Abgrund geschlagen haben werden, dann werdet ihr wissen, daß derjenige, der in uns lebte, unsterblich ist, daß Er der Sohn Gottes ist, wie wir selber Kinder Gottes sind, daß Er aus einer Jungfrau geboren wurde, wie wir aus der Erde geboren werden, die – ohne einen Gemahl zu kennen – das Leben schenkt. Es mag seltsam erscheinen, daß die Erde den Ungläubigen weder die Wurzeln verleiht, um sie an ihrer Brust zu stillen, noch die Flügel, damit sie sich in die Lüfte aufschwingen und am Tau des Himmels erquicken. Ich aber weiß, und das genügt mir.

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Joh 3,22-36: Aus dem Himmel oder aus der Erde? 22Danach

kam Jesus und seine Jünger ins jüdäische Land, und dort verweilte er mit ihnen und taufte (4,12). 23Es war aber auch Johannes beim Taufen, in Ainon, nahe Salim, denn Wasser war dort viel, und sie fanden sich ein und ließen sich taufen. 24Noch nicht war nämlich ins Gefängnis geworfen worden Johannes (Mk 1,14). 25Es entstand nun eine Streiterei seitens der Jünger des Johannes mit einem Juden über die Reinigung. 26Und sie kamen zu Johannes und sagten ihm: Rabbi, der mit dir war jenseits des Jordan, dem du Zeugnis gegeben hast, da, der tauft, und alle kommen zu ihm (1,26-34). 27Geantwortet hat Johannes und hat gesagt: Nicht kann ein Mensch etwas (an)nehmen, auch nicht eins nur, wenn es ihm nicht gegeben worden ist vom Himmel (Hebr 5,4). 28Selbst seid ihr mir Zeugen, daß ich gesagt habe: Nicht bin ich der Messias, sondern: ein Vorausgesandter bin ich vor jenem her (1,30). 29Wer die Braut hat, ist der Bräutigam. Der Freund des Bräutigams aber, der dabeisteht (als Diener) und ihm gehorcht, der freut, ja, der freut sich ob der Stimme des Bräutigams. Diese Freude, die meine, hat sich erfüllt (Mk 2,15). 30Jener muß wachsen, ich aber abnehmen. 31Der von oben her kommt, ist oberhalb aller (8,23). Wer west aus der Erde, aus der Erde ist der und aus der Erde redet der. Der aus dem Himmel her kommt, ist oberhalb aller. 32Was er gesehen und gehört hat, das bezeugt er; doch sein Zeugnis nimmt niemand an. 33Wer sein Zeugnis angenommen hat, der hat besiegelt, daß Gott wahr ist. 34Wen nämlich Gott geschickt hat, – die Worte Gottes redet der, denn nicht mäßig gibt er (Gott) den Geist (1,16). 35Der Vater liebt den Sohn; alles hat er in seine Hand gegeben (5,20; Mt 11,27). 36Wer auf den Sohn hin ein Vertrauender ist, hat unendliches Leben. Wer aber (sogar) dem Sohn mißtraut, wird Leben nicht sehen, sondern der Zorn Gottes bleibt bei ihm.

In den Worten des Johannes-Evangeliums soll nicht gesprochen werden über Jesus, sondern es soll die Gestalt Gottes in der Person des Mannes aus Nazaret unter uns Gegenwart werden; nicht Erinnerung an Vergangenes, sondern Verwirklichung in lebendiger Erfahrung ist in der Sprache und in der Form des Johannes-Evangeliums intendiert. Gleichwohl berührt uns fast jeder Satz aus dem Vierten Evangelium wie fremd. Es ist, wie wenn hier eine unglaubliche Fülle von Leben unter hohem Druck zusammengepreßt worden wäre und hätte nur noch versteinerte Spuren hinterlassen. Texte wie diese auszulegen ähnelt fast einer paläontologischen Arbeit; wer sich ihr unterzieht und die Mühe nicht scheut, kann immer wieder auf 171

überraschende, zum Umdenken nötigende Einsichten stoßen. – Im Bilde gesprochen: In den siebziger Jahren des 20. Jhs. entdeckte ein britischer Paläontologe beim Durchmustern von Funden, die 60 Jahre zuvor in der kanadischen Provinz Britisch-Kolumbien gemacht worden waren, mittels einer neuen Präparationstechnik, daß diese uralten Spuren des Lebens nicht so flächig zusammengedrückt waren, wie man geglaubt hatte. Es gelang ihm, die Abdrücke dreidimensional aufzulösen, die Schichten durch eine bestimmte Bohrtechnik aufzufräsen und darunter Strukturen freizulegen, die so noch niemand gesehen hatte. Für die Fachwelt geriet das Bemühen von Harry B. Whittington zu einer Sensation. Man entdeckte, daß in der Frühzeit der Lebensentstehung, im frühen Kambrium, vor 540 Millionen Jahren, Leben in einer Fülle existiert haben muß, die alles übertrifft, was seitdem auf Erden sich entwickelt hat. Über die Gesetze des Lebens selber mußte man und muß man offenbar seither noch einmal ganz neu nachdenken1. Fast so ähnlich verhält es sich mit dem Vierten Evangelium im Neuen Testament. Da war einmal eine Dichte und Fülle von Erfahrung vorhanden, die jetzt wie abgestorben scheint. Nur noch ganz wenige Sprachformen, um das Geheimnis der Person Jesu wiederzugeben, haben im Verlauf der Kirchengeschichte überlebt. Das Kirchendogma ist daraus hervorgegangen; doch wie übersetzt man die versteinerte Sprache ins Leben zurück, daß es der Fülle der Vielfalt, die einmal bestand, zurückgegeben wird? Für die meisten Theologen ist allein schon durch einen solchen Abschnitt aus dem Johannes-Evangelium eine ganz bestimmte Tradition der Dogmengeschichte festgeschrieben und festgelegt. Jesus ist der Sohn Gottes, wird hier gesagt; er ist von Gott gekommen; Gott selber beglaubigt seine Wahrheit einzig in ihm; und Johannes der Täufer ist der Vorläufer des Christus, – seine Worte selber bezeugen es. – Die Worte, die man in der verfestigten Form der Dogmatik wiedergibt, stehen dem Klang nach tatsächlich so da, und dennoch sind sie, so oft man sie auch wiederholen mag, in unseren Tagen nicht nur unverständlich geworden, sie erreichen vor allem nicht mehr das, was sie einmal haben sagen und bewirken wollen. Wie gelingt es uns, diese so zusammengedrückte Sprache wieder aufzulösen, so daß ihr ursprüngliches Leben in ihr wieder erscheint? Wir müssen den Gedankengang des Johannes uns so nacherzählen, daß er schrittweise einen Prozeß formuliert, den wir durchlaufen können, um an den letzten Sätzen dieses Abschnitts anzulangen: Der Vater liebt den Sohn. Wenn das nicht eine reine dogmatische Bekenntnisformel bleiben soll, sondern die Zusammenfassung einer erschütternden Erfahrung voller 172

Ergriffenheit vermitteln möchte, dann muß jeder Satz in diesem Text etwas von unserem eigenen Leben wiedergeben. Tatsächlich zeigt denn auch die Einleitung bereits, was gemeint ist. Dokumentiert wird der Bruch zwischen der frühen Jesusbewegung und dem Judentum, parallel dazu herausgebrochen wird die Johannesbewegung; – das ist der historische Ort, den wir noch greifen können. Mehrere Achsen der Entwicklung werden da geformt, und nur eine einzige soll als von Gott beglaubigt erscheinen; alle anderen werden beiseite geschoben. Das ist das historische Thema: Religionsformen in Konkurrenz miteinander. Aber was wirklich auf dem Spiel steht, ist bei dieser Themenangabe etwas deutlich anderes; worum es geht, ist die bohrende Frage nach dem, was Religion überhaupt sein kann und soll. Sie ändert sich, soviel ist klar, aber warum? Aus welchen Kräften muß sie sich ändern? Was bewegt sich, wenn sie sich ändert? Fassen wir die Frage so auf, verstehen wir plötzlich, daß dieser scheinbar so ferne Text sehr aktuell wird, denn genau dem wohnen wir heute in geradezu dramatischer Weise bei: der Wandlung von Religion. Nichts scheinbar gilt mehr von dem, was einmal war. Es hilft nicht, beschwörend die alten Formeln immer wieder neu zu sagen, sie lassen sich nicht weitergeben, besonders an die Generation, die jetzt heranwächst, nicht. Eltern erleben, wie sie ihren Kindern die Sprache der Bibel, die Sprache der Kirche schlechterdings nicht mehr vermitteln können. Man vermutet, daß pro Jahr durchschnittlich eine halbe Million Menschen aus den verfaßten Kirchen weggeht, die Kirchen selbst aber scheinen sich nicht zu fragen, was aus diesen Menschen wird. Man wird sie vermissen als Kirchensteuerzahler, schon wohl, doch was wird aus ihnen selbst, und was geht in ihnen vor sich, wenn sie weggehen? Wohin gehen sie? Was ist ihre Beanstandung an all dem Ungenügenden, mit dem sie kirchenintern nicht leben können? Scheinbar in historischen Wendungen schildert Johannes, was er als überlebte, Gott sei Dank hinter sich gelassene Religion vor Augen hat. Da kommt Jesus mit seinen Jüngern ins judäische Land, und es ist, wie wenn er ein letztes Mal anknüpfen wollte an die Religion, in der er selber groß geworden ist. Da soll in einer Rückwendung der Aufbruch des vollkommen Neuen noch einmal sich verwurzeln im Vergangenen. Auch Jesus tauft, so wie sein eigener Lehrer Johannes der Täufer (im Widerspruch freilich zu der Bemerkung in Joh 4,2!). Da wird die Zukunft noch einmal verschmolzen mit der Vergangenheit. Aber Johannes muß das nur andeuten, und er beschreibt gewissermaßen die Farce des Religiösen. Grade seine historisch zu verstehenden Angaben wirken wie eine Travestie. Religion, das heißt zu taufen? Das heißt, ein Ritual, eine bestimmte Formel einzuhal173

ten, in die hinein man Gott bannt? Es bedeutet, in dem rein Äußerlichen zu verbleiben, daß man viel Wasser für den Ritus zur Verfügung hat und daß man breite Menschenmassen anzieht? Um die Karikatur vollständig zu machen: Religion, auf solche Weise institutionalisiert, wird identisch mit den entsprechend zufließenden Ressourcen, sie «bezeugt» sich selber durch ihr ausgesprochenes Interesse an Massenbewegungen! In einem einzelnen solchen Satz läßt sich der Verlust jeder wirklich innerlichen Erfahrung kaum klarer beschreiben, als es hier geschieht. Und natürlich: augenblicklich bricht Streit aus im Umkreis einer solchen Religion. Augenblicklich tritt sie in einen rein quantitativen Rivalitätskampf darüber ein, wer in bezug zu welchen Menschengruppen «erfolgreicher» sei. Der Streit aber hat ein dogmatisches Thema: Was heißt Reinigung? Diese Frage allerdings ist religionsgeschichtlich sehr alt, genau gesprochen, über ein halbes Jahrtausend älter als das Christentum. Es war im Grunde einmal eine buddhistische Frage: Wie kann man dem Menschen ein Gefühl für seine Unschuld, für den Einklang mit sich selber, für die Integrität seines Lebens zurückgeben? Prinz Siddhartha hatte vor Augen, wie es die Brahmanen am Ganges zu tun pflegten: Der große, breite Strom, der aus dem Haupte Shivas, aus dem Berge Kailasha im Himalaya, dem Haus des Schnees, entspringt, sollte das Reinigungswasser zwischen Leben und Tod bilden. Bei Sonnenaufgang sollten die Menschen sich diesem breiten Menschheitsstrom nähern und darin eintauchen, wie wenn sie ihr Leben der Macht Gottes selbst überantworteten, und wenn sie sich aufrichteten, sollten sie wie neugeborene Kinder zurückkehren in den Tag. Ein ehrwürdiges, großes, uraltes Menschheitsritual von Erneuerung, Wiedergeburt und dem Nachlaß aller Schuld bildete sich auf diese Weise. Dem Buddha aber kamen Zweifel, ob so praktisch und pünktlich ein Mensch, sozusagen morgens um sechs, weil ein Priester dabeisteht, all das als gültig erleben kann, was der Ritus verheißt. Wir haben seinen Ausspruch schon einmal zitiert: «Warum zur Ganga gehen? – Sie ist nur Wasser!» Der Tathagata, der Hinübergelangte, der Buddha wollte sagen: «Reinigung des Menschen, das ist ein innerer Vorgang; nichts Äußeres ist dazu nötig, zum allerwenigsten ein Kult, geleitet von einem Fachmann im Ausüben von Kulten. Entweder es stimmt für dein Leben wirklich und wird zu deiner inneren Überzeugung, oder es gilt überhaupt nicht.» Manchmal hat man den Eindruck, daß im Judentum Gedanken anderer Kulturen sehr viel später nicht grade eingedrungen wären, sondern kongenial nacherlebt und auf eigenem Wege wiedergefunden worden seien. Was bedeutet Reinigung für einen Menschen? Johannes der Täufer, der von den 174

eigenen Schülern hier in Ainon, nahe Salim, gefragt wird, antwortet, entsprechend dem Johannes-Evangelium, indem er seine eigene Tätigkeit des Taufens abgibt, sie übersteigt und für etwas im Grunde bereits Überwundenes erklärt. Weder er noch die Juden, sagt er, langen an das heran, wonach sie sich eigentlich sehnen, was sie rituell bezeichnen, worauf sie in Wahrheit hoffen. Sie müssen, um richtig zu sehen, begreifen, daß alles, woran sie jemals geglaubt haben, noch einmal über sie hinweggehen wird. Religion gelangt da zu ihrer Wahrheit, indem sie sich selber als Hinweis begreift, nicht länger als Ziel, nicht länger als Zweck, einzig als Mittel. Selbst seid ihr mir Zeugen, daß ich gesagt habe, erinnert Johannes hier seine Jünger: Nicht bin ich der Messias, sondern ein Vorausgesandter bin ich vor jenem her. Und als erste Zusammenfassung von allem Folgenden spricht er die Worte: Nicht kann ein Mensch etwas nehmen, auch nicht eins nur, wenn es ihm nicht gegeben worden ist vom Himmel. Das ist das Zeugnis des Johannes über Jesus. Aber nehmen wir es einmal als das Durchgangsstadium eines notwendigen Schrittes zur menschlichen Wahrheit, zur Reinigung unserer Existenz; dann wäre Johannes ein Beispiel, wie wir uns selber verstehen könnten und sollten. Was sagt er dann uns? Wieviel kostet es, einem Menschen das Gefühl seiner Reinheit zu schenken? Es ist fast paradox. Man sollte glauben, die Religion bestehe wesentlich – ob buddhistisch, ob johanneisch, ob christlich – in diesem einen Bemühen um die Reinigung der menschlichen Existenz, und doch scheint es, wie wenn alle etablierte Religion ein Interesse daran hätte, den Menschen als erstes beizubringen, wie unrein, wie unfähig, wie schuldig, wie darniederliegend sie seien. Den Grund kennen wir bereits. Nur solange Menschen sich ohnmächtig fühlen, braucht es des ganzen Apparats von Vermittlungsinstanzen, um sie wieder aufzurichten. Rein werden die Menschen in Wahrheit auf diese Weise nie, allenfalls abhängig. Wie sensibel muß man demgegenüber mit Menschen verfahren, ehe sie auszusprechen lernen, was in ihnen seit Kindertagen verformt wurde! Unrein sind Menschen ja nicht an sich selbst. Wenn Religion überhaupt einen Sinn macht, besteht sie in der Zuversicht, jeder Mensch sei unmittelbar aus den Händen Gottes hervorgegangen. Nichts an ihm ist da unrein; aber man kann ihm sehr bald die eigenen Augen dahin richten, sich selbst nur noch kritisch zu betrachten. Dann beginnt der Ekel vor dem, was man ist; dann beginnt der Wunsch, ein ganz anderer zu sein; dann beginnt das Gefühl, sich selbst nicht riechen, nicht anschauen, nicht hören zu können; man ist für sich selbst etwas Schmutziges geworden, und alle Menschen, die fortan in 175

unser Leben treten, versichern und bestätigen uns in dieser Basisüberzeugung. Wenn sie freundlich reden, steht es uns fest, daß sie uns etwas vormachen; wenn sie auch nur andeuten, wir hätten einen Fehler gemacht, wird sich das Echo der Kritik zwanzigfach in unserer Seele verstärken – fast haben die anderen kaum eine Chance, uns noch etwas zu sagen, das positiv bestätigend auf uns wirken könnte. Was also hilft da anderes, als nicht mehr eine Taufe zu verabreichen, sondern mit einem Menschen das lebendig zu machen, was eine Taufe dem Zeichen nach bedeutet? Das rituelle Bild wirkt nicht durch sich selbst, es wird zu einem Auftrag psychologischer Durcharbeitung. Man muß den anderen bei der Hand nehmen und zu seinem Ursprung zurückführen; man muß ihn auffordern, seine Erlebnisse, die schmerzhaftesten vor allem, noch einmal durchzugehen und zu sagen, woran er gelitten hat, wie er darum gerungen hat, vielleicht doch anders zu sein, als man’s ihm beigebracht hat. In welchen Augenblicken der Kindheit gab es bestimmte Momente vielleicht doch des Protestes gegen das Kleinmachen, das Herunterziehen, das Unreinmachen? Wo gibt es gewisse Erinnerungen, daß vielleicht das fremde Urteil schon damals so gar nicht gestimmt hat? Wie richtet ein Mensch sich langsam auf in dem Empfinden einer Schönheit, die nach und nach wieder sichtbar wird? Reinheit, als Lebensgefühl, ist nichts, das man rituell erwaschen könnte; sie ist etwas, das man, unter Tränen oft, nur nach und nach wiedererringen kann als eine Form der Zuversicht. Man ahnt bereits, worum es da geht. Es hat zu tun mit Sohnschaft und Liebe im Gegenüber Gottes. Johannes spricht davon an dieser Stelle noch gar nicht, aber was er bezeichnet, deutet schon in diese Richtung. Nicht, sagt er, kann ein Mensch etwas nehmen, auch nicht eins nur, wenn es ihm nicht gegeben worden ist vom Himmel. Das betont noch einmal die völlige Ohnmacht des Menschen. Warum? Ein Satz wie dieser stimmt für alles, was äußerlich, was pragmatisch zu geschehen hat, in dieser Form durchaus nicht. Mit diesem Satz soll uns denn auch nicht so etwas wie praktische Vernunft, wie eigenes Urteilsvermögen abgesprochen werden; was Johannes meint, geht sehr viel tiefer: Das Entscheidende, eben dieses Gefühl der Reinheit, das Empfinden, berechtigt zu sein, das Gespür, gut genug zu sein, kann man mit keiner Anstrengung der Welt sich beschaffen; man kann so viel unternehmen, wie man will, an Arbeit, an Leistung, an Engagement – es wird nie dahin führen, sich selbst für in Ordnung zu finden. Alles, was da geschieht, wird den Kessel der Kompensationen niemals verlassen. Reinheit findet ein Mensch in diesem Sinne erst, wenn er nach und nach spürt, daß sein Leben, sein scheinbar so verformtes und verhunztes Leben, 176

ein Geschenk des Himmels ist. Dann kann er sich’s nehmen, dann darf er es sich herausnehmen, dann hat er die Fähigkeit, zuzugreifen in eine Wirklichkeit voller Glück. Wie also schenkt man, noch einmal so gefragt, einem Menschen das Empfinden, es sei gut, daß es ihn gibt, – er selbst sei ein Geschenk des Himmels, er selbst sei etwas vom Himmel Ermöglichtes? Was sich hier anbahnt, formuliert erneut ein Entweder-Oder. Es ist möglich, Menschen zu sehen entweder von unten her oder von oben her. Man kann sie betrachten als die Opfer eben der Prozesse, die sie ermöglicht und hervorgebracht haben, man kann sie betrachten in den Fesseln der Zwänge, in denen sie aufgewachsen sind, man kann sie insgesamt rein «irdisch» als festgelegt betrachten; – es ist aber auch möglich, in ihnen etwas zu erschauen, das ein Stück vom Himmel auf die Erde bringt. Wenn wir uns fragen, wie «Reinheit» sein kann und welche Kriterien es dafür gibt, so antwortet dieser Text mit einem buchstäblich märchenhaften Bild. Johannes der Täufer erklärt: Wer die Braut hat, ist der Bräutigam. Das Bild der Braut und des Bräutigams, der Heiligen Hochzeit, steht allerorten als eine Chiffre für Menschen, die in sich ganz werden. Die Exegeten werden es so verstehen, daß hier der Messias sich vereine mit der Jungfrau Israel. Diese Erklärung wird religionshistorisch zutreffen, doch die Chiffre selbst meint psychologisch sehr viel mehr. Denn wer ist der Messias, wer ist der Gottesgesandte außer demjenigen, der Menschen dahin bringt, in Liebe aufzublühen und in der Energie eines neu gefundenen Vertrauens in sich selbst zusammenzuwachsen, zwischen den Kräften, die wir in männlich und weiblich oder die wir nach Verstand und Gefühl, nach Denken und Empfinden einteilen? Es geht um die Bewegung innerer Freude, und schon das ist in der bleiernen Zeit der verwalteten Religion ein absolutes Novum. Religion hört an dieser Stelle auf, eine von außen herangetragene Last zu sein, sie beginnt, zur seelischen Erfüllung zu werden. Sehnsucht reift da und Verlangen und wird zu dem erfahrenen Glück, endlich am Ziel anzulangen, wie es Jesus mit der «Ankunft» des «Himmelreiches» aussprach (Mk 1,15). Was eben noch als Suche nach «Reinheit» beschrieben wurde, wird jetzt zu der Freude, sich als geschenkt zu entdecken und sich als ein Geschenk an andere weitergeben zu können. Schon sind wir hier in den Zonen, da Liebe Wirklichkeit wird im Bild des Bräutigams. Fragen wir uns aber: Wie findet man denn eine solche neue Religion?, so erhalten wir hier die erste gültige Antwort für alles. Vorhin noch haben wir gehört, Religion bestehe darin, Gruppen von Menschen nach bestimmten äußeren Kriterien ein- und aufzuteilen. Dann geriet diese ganze Einstellung in Zweifel, und wir wußten nicht mehr, woran wir 177

selber waren. Jetzt aber lautet die Antwort aus dem Munde Johannes’ des Täufers: Es gibt etwas, das in allem noch so Unsicheren und Schwankenden Bestand hat, das ist: Du verstehst dein eigenes Leben, deine eigene Existenz als einen Auftrag, anderen Menschen zu helfen, zu ihrer Freude zu finden, zu ihrer Reinheit zu gelangen, und es wird für dich selbst die größte Freude sein, zu erleben, daß dir so etwas gelingt. Um dich her breitet sich ein bescheidenes Feld von Glück; und was irgend du dazu beiträgst, daß ein Mensch bei sich ankommt, daß er anfängt, bei sich selbst sich zu Hause zu fühlen, daß er andere Menschen zu sich einlädt und sich in die Nähe anderer hinüberwagt, – das zeigt dir den ganzen Inhalt der Religion. Nur so wird es weitergehen; – kein neues Dogma, keine neue Welterklärung, aber etwas überaus Wichtiges in Form gelebter Menschlichkeit. Das ganze Konkurrenzgehabe zwischen den Religionen und Konfessionen vergeht wie von selbst, wir bewegen uns nicht länger auf der Ebene des Vergleichs in bezug zu anderen; es ist nur noch wichtig, den anderen zu fördern, daß er größer wird, selbständiger, kräftiger, unabhängiger, strahlender, – und selber dahinter zurückzutreten. Das zu begreifen als Freude und Glück, welch eine wunderbare Religion! Man hat das Zeugnis des Johannes im Liturgiekalender mit dem Tag der Sonnenwende verbunden – dem 21. Juni, dem Moment, an dem die Sonne ihren Höchststand im Zenit erreicht, um dann langsam hinabzusinken in den Herbst und in den Winter: Johannes der Täufer als Patron des Tags der Sonnenwende, – da wäre er immer noch der Maßstab, der Kulminationspunkt äußerer Größe. Wovon der Text hier wirklich spricht, ist indessen etwas viel Schöneres: Das Größte unter den Menschen besteht darin, andere Menschen groß werden zu lassen und ihnen beim Wachsen und Reifen zu helfen; so etwas zu sein wie ein Bräutigamsführer, ist das Bild, das Johannes für sich selber ersinnt. Wer die ersten drei Evangelien einigermaßen gut in Erinnerung hat, weiß, was der Vierte Evangelist hier macht: Er nimmt ein Wort, das Jesus selbst für sich verwandt hat, aus dem 2. Kapitel des Markus-Evangeliums und legt es Johannes dem Täufer in den Mund. Jesus hat einmal wirklich so von sich sinngemäß gesagt: Wo der Bräutigam ist, da wird nicht gefastet, sondern da ist Freude, und die Freude des Bräutigams kennt keine Trauer (Mk 2,19). So wollte Jesus die neue Religion: mit neuem Wein für neue Schläuche (Mk 2,22)! Eine Religion nicht in Zwang, Angst und Schuldgefühl, in menschlicher Erniedrigung, unter Priesterherrschaft und Theologendoktrin, sondern eine Religion des Glücks. Dazu beizutragen war die ganze Art, wie Jesus selber sich verstand. 178

Es bleibt an dieser Stelle überhaupt die Frage: Was ist ein Mensch? Was nennen wir Person? Vielleicht hatte der dänische Religionsphilosoph Sören Kierkegaard vollkommen recht, als er vor über 150 Jahren meinte, man könne diese Frage nicht nach der Art der Metaphysik beantworten, so als lasse sich die Person eines Menschen festschreiben wie ein substantielles Fixum, als etwas, das objektiv zu bestimmen sei. Kierkegaard beschrieb als erster in der Philosophiegeschichte des Abendlandes den Begriff der Person rein dynamisch. Er meinte, Person sei definiert durch das, wem sie gegenüberstehe, Person sei für sich selbst wie ein Spiegel, der ein Bild einfange von dem, woraufhin sie sich wesentlich verhalte. Mit anderen Worten: wer wir selber sind, wird sich nie ergeben, indem wir nach innen reflektieren, um es herauszufinden; das, worauf wir uns beziehen, die Gemeinschaft, in die wir eintreten, die Richtung, die unser Leben gewinnt, die zeigt an, wer wir als Personen sind, was wir als Menschen sind; dadurch erfahren wir den Inhalt unseres Lebens. Person für sich selbst ist in diesem Sinne noch gar nichts; sie ist etwas, das sich entwirft, indem sie Inhalte aufnimmt. Gerade das aber ist nun die Frage des Johannes-Evangeliums, woraus wir leben. Es ist ein wunderbares Bild: möglich, um zu verstehen, wer wir sind, wäre es, unmittelbar vom Himmel her sich zu verstehen. Wer von oben her kommt, ist oberhalb aller. Wer west aus der Erde, aus Erde ist der und aus der Erde redet der. Dieses Wort gemahnt an das Fluchwort Gottes auf den ersten Bibelseiten über Adam bei der Vertreibung aus dem Paradies: Aus Erde genommen bist du, und zur Erde mußt du zurück (Gen 3,19). Wenn Gott den Menschen im biblischen Sinn verflucht, so redet er nie nach der Art eines irdischen Richters; er stellt nur fest, was eingetreten ist. Adam steht da für die Grundbefindlichkeit des Menschen ohne Gott: Wenn Menschen den Grund ihres Lebens durchaus nicht mehr als Geschenk empfinden, sondern als geradezu bedrohlich, wenn sie ein gewisses Vertrauen in die Kräfte, denen sie entstammen, durchaus nicht mehr aufbringen, wenn sie sich im Gegenteil abgesprengt fühlen von jeder Güte, dann bleibt in der Tat nur noch der Zynismus dieser Bestandsaufnahme übrig: Menschen seien bloße Staubgeburten; und sie könnten schuften und gegen den Staub anarbeiten, wie sie wollten, es werde ihnen nie wieder etwas anderes zuteil werden als die reine Vergänglichkeit, als der Kreislauf der Vergeblichkeit. Der Dichter Hermann Kasack hat in einem seiner frühen Romane Die Stadt hinter dem Strom diese Situation einmal zu beschreiben versucht. Da existiert eine absurde Stadt, in der die Menschen wie Sklaven antreten 179

müssen, um Steine in Staub zu zermahlen. Das Staubmaterial wird anschließend zum Stadtausgang herausgefahren zu einer Ziegelei, in der der Staub zu neuen Ziegeln gebrannt wird, die an der anderen Seite der Stadt wieder zurücktransportiert werden zur Gesteinsmühle2. Alles, was wir tun, meinte Kasack, sei nichts weiter als eine solche sinnlose Vergeudung, als ein Sich-Drehen im Kreise, als ein Selber-zermahlen-Werden in der Mühle der Mühsal, der Zeit, der Zerstörung. In der Tat ist dies etwa das Bild, das Johannes dem Täufer hier vorschwebt für Menschen, die sich verstehen aus Erde. Menschen dieser Art lassen nur gelten, was man sehen kann. Ihre einzige Frage ist, wie man über die Runden kommt. Ihr Hauptinteresse gilt allein dem Problem, wie man sich die nötigen Lebensmittel beschafft und wie man nach außen so viel für sich erwirbt, daß man keinen Mangel leidet. Eine solche Welt ist die Hölle auf Erden, ein endloses Ringen, ein ständiges Kämpfen, als wären wir Menschen wie in einem glitschigen Trichter gefangen und die paar Jahrzehnte unseres Daseins bedeuteten nichts als ein unaufhaltsames Gleiten nach abwärts. Ein jeder kann dabei sein Ende genau vorhersehen; gleichwohl wird er versuchen, sich wie ein Ertrinkender an den anderen zu klammern, er wird versuchen, auf dessen Kopf zu steigen, er wird mit seinen Beinen gegen dessen Leib treten, er wird den anderen in das Loch seines eigenen Untergangs hineinstoßen, immer im Wahn, dadurch wenigstens für sein persönliches sinnloses Leben noch eine kleine Verlängerung zu erhaschen: – eine endlose Grausamkeit, eine nicht endende Tortur! Dieses Denken von der Erde her ist wie ein Rachen, der den Menschen verschlingt. Doch eben dieses Denken ist absolut «normal». Wenn wir morgens die Zeitung aufschlagen, können wir sie lesen wie einen Kommentar zu einem solchen Denken «aus der Erde». Wir können so viele Seiten durchblättern, wie wir wollen, wir werden belehrt werden über den Konkurrenzkampf des Geldes zur Vermehrung von viel Geld in noch mehr Geld; ein Hauptthema auf vielen Seiten wird es sein, wie die Mächtigen sich durchsetzen gegen die mächtig zu werden Drohenden, – mit welchen Finessen sie einander auszutricksen suchen, wie sie um den Beifall der Menge ringen, welche Informationen sie ausstreuen, damit man auf sie schaut, wie man Menschen nach bestimmten Interesseneinheiten von einander trennt, ideologisch womöglich zum Willen des Allerhöchsten selber. So gestaltet sich das Reden aus Erde. Es ist ein endloser Schrei des Entsetzens von unten, der sich selbst freilich nicht so begreift, sondern sich intoniert als ein Jubellied auf die eigene Tüchtigkeit. Da glaubt man, alles zu verstehen und alles zu sehen, und wird doch nur für jede Unmenschlich180

keit die passende Rechtfertigung bereithalten: daß es anders nicht gehe, daß es nur so realistisch sei, und daß es eben deshalb nur so verantwortlich sei. Alles dreht sich da im Kreise, denn jede Vision darüber hinaus gilt für eine Illusion, jedes Denken in Alternativen erklärt man für eine gefährliche Träumerei. Es darf nichts anderes zugelassen werden, als so weiterzumachen, um das System immer noch ein Stück weiter zu perfektionieren. – So dieses Denken aus Erde. Johannes freilich vertritt eine gewisse Hoffnung, nicht auf die Geschichte, in der er lebt, nicht auf die Menschheit, mit der er lebt, nicht auf den Fortschritt der Kultur, den er nicht sieht, sondern auf die einzige Person, von der er Heilung erfahren hat, auf das einzige Wort, das er gehört hat und für das er mit diesem Evangelium, mit gerade diesen Zeilen, Zeugnis ablegen möchte, so gut er kann, für die Menschen seiner Zeit, die es hören möchten, und für die Menschen aller Zeit, die nach ihm kommen werden. Er sagt gleich dabei, es werde ja doch niemand hören, aber – man muß es fast im Konjunktiv übersetzen – wenn es doch jemand hören würde, so würde er es besiegelt finden, daß Gott wahr ist. Allein diese Aussage bedeutet nicht mehr und nicht weniger, als daß alles, was man zuvor erzählt hat, eine einzige Lüge war, daß nichts von all dem stimmt, daß überhaupt nichts von dem sein mußte, was man sich selbst und anderen zugefügt hat, womöglich im Namen Gottes, im Namen des Staates, im Namen des Geldes, im Namen all der Mächte, die gelten, solange man von unten, von der Erde her denkt. Von der Erde her sind Menschen überhaupt nie etwas anderes als ein amorphes Material, – man wird sie sich schon gefügig pressen; vielleicht in Massen sind sie stark, als Einzelne nie, und so leicht kann man sie einschüchtern mit der Peitsche der Angst. Aber es gibt ein alternatives Beispiel für Johannes, ein einziges: den Mann aus Nazaret! Er zeigt ihm, daß alles ganz anders sein kann. Wenn ein Mensch sich versteht aus dem Himmel her, dann ist er oberhalb aller, meint in der Darstellung dieses Evangelisten der Täufer; er ist mit anderen Worten nicht zu greifen von den Tentakeln der Angst, von den Wucherungen der Schlingpflanzen des Geistes, er schwebt gewissermaßen darüber; er taucht ein in alles, aber er ist trotzdem wie eine Wolke am Himmel: – man sieht sie ziehen und weiß, daß es für sie keine Grenzen gibt. Sie wurde geboren unter den Strahlenhänden der Sonne in den Weiten des Ozeans, und sie wird das Land berühren zu nichts anderem, als unter dem Regen Erquickung und Fruchtbarkeit zu schenken. Sich «von oben» her zu verstehen, das heißt, Gott wieder unmittelbar zu spüren. Da ist der Aberglaube zu Ende, Menschen hätten über Menschen etwas zu sagen oder zu ent181

scheiden, so als wären sie immer noch dieses Preßmaterial Kasackscher Ziegelsteine. Da sind Menschen hervorgegangen unter den Händen Gottes, der den Töpferton nahm und ihn zu seinem Kunstwerk bildete (Gen 2,7). Kein Mensch hat daran mehr etwas zu verbessern, und kein Mensch kann daran noch etwas verbessern. Menschen, die erst einmal spüren, wer sie selber vor Gott sind, handeln anders, sie sind kreativ, sie finden neue Möglichkeiten. Der Alptraum der Welt hat für sie ein Ende. Es geht an dieser Stelle nicht schon darum, ein gültiges Jesus-Bekenntnis abzulegen, es geht darum, sich zu fragen, ob solch eine Sichtveränderung in allem, ob solch eine perspektivische Drehung um 180 Grad überhaupt möglich ist – von oben her statt von unten her. Beides steht, wie gesagt, alternativisch einander gegenüber, für Johannes existiert da kein Kompromiß, keine mögliche Synthese; nennen wir es noch einmal das johanneische Entweder-Oder: Menschen leben entweder aus den Händen Gottes oder sie sind Verlorene. Was dabei Gott heißt, hat Johannes gelernt aus dem Munde Jesu selbst: Gott ist der Vater. Wie immer man dieses Wort an dieser Stelle übersetzt, es drückt die Zuversicht aus, daß es eine Hand gibt über unserem Leben, die gütig ist, die uns behütet und der wir nie entgleiten können; da ist um uns ein Schutz, der uns niemals verlassen wird. Aus solch einem Vertrauen heraus gestaltet sich ein Leben von oben her. Alles, was wir eben Reinheit oder Freude oder Glück oder Hochzeit genannt haben, gewinnt jetzt seinen tieferen Grund, seine innere Begründung: Der Vater liebt den Sohn. Wie soll man derlei glauben, außer Menschen begönnen, sich im Gegenüber eines väterlichen Gottes mit sich selbst zu versöhnen, sie fingen an, sich selbst anzunehmen? Es ist unter diesen Voraussetzungen nur natürlich, wenn Johannes erklärt: was dieser «Sohn» selbst gesehen habe und was er gehört habe, davon rede er. Religion ist fortan nicht mehr das Hersagen von dem, was andere vorsprachen, sondern sie besteht in der Wiedergabe und Weitergabe einer eigenen Erfahrung. Vertrauen, das geboren wurde im eigenen Herzen und das sich weiterzeugt und weiterschenkt an andere, das wird jetzt zum Feld der Religion. Um zu verstehen, was diese Aussage bedeutet, muß man sich wieder verdeutlichen, wie diese Wahrheit, diese Bestätigung Gottes in unserem Leben, sich darstellt. Wir treffen Menschen, die an sich selbst womöglich schon seit langem nicht mehr glauben. Was sie kennengelernt haben, kommt ihnen vor wie eine Bilanz, die ihnen bestätigt, daß sie keine Reserven mehr haben, um weiterzumachen. Was wollen wir in diesem Falle tun, außer daß wir in einen solchen Menschen womöglich mehr Vertrauen setzen, als dieser in 182

sich selber hat? Wir können ein solches Vertrauen wohlgemerkt nicht rechtfertigen, wir kennen den anderen ganz sicher viel weniger als dieser sich selbst. Wenn er sagt: «Ich weiß nicht weiter», – woher dann wollen wir es wissen? Aber es ist möglich, mit einem gewissen Vertrauensvorsprung auf Menschen zuzugehen und zu denken, für irgend etwas müsse das Leben des anderen doch gut sein. Wohl hat der andere sich selber nie so sehen können, doch das allein will noch nicht viel besagen. Über der Stirn eines jeden Menschen wölbt sich ein solcher offener Himmel, auf den wir zugehen können. Es ist wie in einem amerikanischen Spiritual: Wenn der Himmelswagen kommt, möchte ich dahinter nicht zurückbleiben. Irgendwann wird der Himmelswagen kommen3 – so die Sehnsucht von Menschen, denen man hier auf Erden von Geburt an nie etwas anderes gesagt hatte in New Orleans oder in Alabama um 1830, als daß sie die Kinder von Sklaven sind und daß sie Sklaven zu sein haben, daß sie mit anderen Worten nichts weiter sind als das variable Kapital in den Händen der Großgrundbesitzer und der Menscheneigner; diese Sklaven werden nie lesen und schreiben dürfen, sie werden nie frei sein dürfen, sie werden niemals wählen dürfen, wen sie lieben – man wird ihnen vorschreiben, mit wem sie sich zusammentun, um Kinder zu produzieren, die wieder nichts weiter sein werden als die Leibeigenen ihrer Herrschaft; keinerlei Würde werden sie besitzen; sie sind ja nur Farbige, Schwarze, Nigger. Ein solches Spiritual sollte einen Ausblick bieten, daß man nicht bis zum Himmel würde klettern müssen auf der Himmelsleiter Jakobs (Gen 28,10-22), Ezechiel würde recht haben: ein Wagen würde kommen und sie abholen, wie wenn sie Prinzen wären, und alles wartete auf einen hochzeitlichen Festzug (Ez 1,4-28; 10,1-22)! Das Bild des Johannes-Evangeliums dreht auch diese Aussage noch einmal um: nicht von der Erde hinaufschauen zum Himmel sollten wir, sondern ganz ruhig und sicher vom Himmel herab sollten wir uns verstehen. Und wirklich, die Leute, die jene Spirituals sangen auf den Baumwollfeldern der Südstaaten der USA, konnten glauben, daß nicht einmal die Jahrzehnte der Schikane, daß nicht einmal die Peitsche ihrer Treiber, daß nicht einmal die Fluchworte ihrer Aufseher ihre Würde zerstören würden; was immer sie sozial wären, wie immer man sie definierte, – sie würden Menschen bleiben! Sie müßten sich nicht einmal wehren, um für ihre Würde zu kämpfen! Sie besäßen sie einfach. Da gewinnen Menschen plötzlich ungeahnte Möglichkeiten der Freiheit, denn sie sind oberhalb aller. Sie erklären ganz simpel: «Ihr mögt zugunsten eures Besitzstandes rechnen, wie immer ihr wollt; viel größere Sklaven als 183

wir seid ihr. Denn ihr werdet nie etwas verstehen, weil Gott für euch nichts weiter ist als eine Unterschrift für eine falsche Rechnung. Menschen, wißt ihr, sind frei, und ihr könnt sie nicht kaufen. Verhökern könnt ihr sie auf dem Markt, zwingen zu allem Möglichen könnt ihr sie, aber jeder Mensch, hört ihr, kommt vom Himmel, und dahin kehrt er zurück. Das besiegelt, daß Gott wahr ist und daß er Geist ist.» Es ist ein wunderschönes Wort, das Johannes hier vorwegnimmt: Er, Gott, schenkt seinen Geist – wörtlich steht da griechisch noch dabei: nicht nach Maß, –, was man im Deutschen wiedergeben kann mit den Worten: Gott schenkt seinen Geist nicht mäßig. Mit anderen Worten: Gott rechnet überhaupt nicht. Die ganze Zahlbarkeit und Zählbarkeit macht keinen Sinn, wenn es um freie Menschen geht. Was man da Geist nennt, ist wieder, äußerlich gesehen, schwer definierbar; kein Psychologe weiß genau, worum es sich da handelt, eher schon die Biologen: Sie sagen, Geist sei eine Struktureigenschaft komplexer Systeme. Dann kommen die Theologen und machen ein göttliches Prinzip aus dem «Geist» oder eine «Person» in der Gottheit; und wieder wird «Geist» gebunden an Ritus und Dogmatik. Was Geist eigentlich wirkt, beschreibt dieser Text: aufzuatmen in einer Freiheit, die Gott schenkt, und von innen her zu leben mit einer Kraft, die von außen nicht mehr zu manipulieren ist. Der nächste Satz schon zeigt, was für Johannes Geist in diesem Sinne bedeutet; seine begeisternde Erfahrung ist: Der Vater liebt den Sohn, – Gott liebt den Menschen als sein «Kind»! Man kann eine solche «Versöhnung» nicht herbeireden, nicht herbeizaubern, aber man kann einander geduldig begleiten, um Teile davon zu verwirklichen. Alles, was wir einander zu schenken vermögen, ist das Geschenk eines solchen wechselseitigen Empfindens der Liebe. «Was denn sehen Menschen», fragte dieser Tage nach einem Vortrag jemand in der Diskussion, ein altgewordener, weiser Mann, «wenn sie sich selber gefunden haben?» Ich versuchte, im Sinne dieser Johannes-Stelle zu antworten: «Menschen, die sich selber gefunden haben, sind wie ein See zwischen den Bergen, der ruhig daliegt und den Himmel in einem reinen Spiegelbild in sich aufnimmt.» Ein Mensch, der sich selber findet, sieht über sich die Liebe, sieht um sich her das Licht, sieht Gott, und er begreift, daß alles, was er ist, sich dieser Macht verdankt, die er nicht sehen kann und die doch alles Sichtbare erst richtig zu sehen lehrt. Wie läßt sich ein Vertrauen begründen in einen solchen Hintergrund der Liebe, der uns trägt? Es ist diese Alternative des Johannes, die sich bis zuletzt durchhält: Entweder man lernt, ein Vertrauender auf den Sohn hin zu 184

werden, dann wird man unendliches, äonisches Leben erlangen, oder man mißtraut (sogar) dem Sohn, dann wird der Zorn Gottes bei einem solchen Menschen verbleiben für immer. Diese Worte sind ein Paukenschlag, dunkel und dumpf, wieder eine Drohung, wieder die alte Angst-Religion scheinbar. Was Johannes indessen sagen will, ist umgekehrt zu verstehen; er will sagen: «Es gibt nur diese beiden Möglichkeiten: Das Alte ist die Religion der Angst; in ihr ist Gott ungnädig, in ihr beharrt er auf Vorleistungen, in ihr ist er ständig strafbereit, – ein zornmütiger Wüterich. Das ist die Religion der Angst, wie wir sie kennen; sie frißt die Seelen der Menschen. Aber es ist doch auch möglich, auf den Sohn hin zu glauben.» Jesus, gefragt, warum er spricht, was er sagt, warum er tut, was er macht, konnte immer wieder, auch in den ersten drei Evangelien, nur antworten, indem er zum Himmel aufschaute. Man fragte ihn: «Warum kümmerst du dich um Menschen, an die keiner mehr glaubt? Warum gehst du denen nach, die keiner mehr haben will? Warum gehört ausgerechnet den Kranken, den Hilfebedürftigen immer wieder dein Hauptinteresse? Was eigentlich liegt dir an Huren, an Zöllnern, an Dirnen?» – Vernünftig war das nie, wie Jesus sich verhielt, sozialpsychologisch zu rechtfertigen kaum; moralisch wenigstens einwandfrei? Nicht einmal das. Aber für all das hatte Jesus eine Erklärung: «Gott hat alle Menschen gemacht. Er ist traurig über jeden, der verloren ist; und ich sage euch: Er freut sich über einen einzigen, den man findet, mehr als über neunundneunzig andere (Lk 15,7.10). Und wenn Gott so ist – wie sollten wir dann anders sein?» Alle derartigen Vorstellungen von Gott entstammen erkennbar der Menschlichkeit Jesu, aber sie begründeten von oben her alles, was er tat, und es gab keine Grenzen mehr; es gab keinen Zwang mehr zu all den vermeintlich ethisch notwendigen, staatsverordneten, dogmenerzwungenen Grausamkeiten. Plötzlich ließen sich die Mauern zwischen den Menschen niederreißen, und die Menschen, auf der Suche nach sich selber, konnten endlich den Mut gewinnen, in Gott auf sich selbst zu vertrauen. Plötzlich begann und beginnt da ein Leben, von dem man nie mehr wünscht, daß es jemals zu Ende sein könnte. Alle Religion der Angst lagert bleischwer auf den Menschen, – irgendwann hält man sie nicht mehr aus. Zu denken aus der Erde läßt es am Ende fast als Erlösung erscheinen, zu Erde zu werden. Doch irgendwann muß Schluß sein mit all dem Sinnlosen, mit all dem Zermürbenden, mit all dem Gleichgültigen, mit all dem seelenlos Grausamen. Und umgekehrt: Diese Art der Menschlichkeit wirft sich aus in eine Zukunft, die nie aufhören wird und in der wir einander nie loslassen. Georges Bernanos’ Roman Tagebuch eines Landpfarrers hat in diesem Punkte 185

sehr recht, wenn es aus dem Munde eines todkranken Priesters erklärt: «Es gibt kein Reich der Lebenden und kein Reich der Toten, nur ein einziges Reich der Liebe, in dem wir unabtrennbar zusammen sind.» «Alles ist Gnade.»4 Ein kleines Kapitel aus dem Johannes-Evangelium, – ein Versuch, von Jesus her eine ganze Welt zu verändern; eine Hoffnung, es lasse sich entdecken, daß Gott wahr sei und daß diese Welt, dieser Raum der Dunkelheit und Verzweiflung, durchdrungen sein könnte von Licht, wenn nur die Menschen oberhalb aller frei leben würden: ungebunden und weit, daß ihre Stirne träumend die Sterne streifte. Es hat im «Stundenbuch» Rainer Maria Rilke einmal auf sehr sublime Weise Gott als etwas beschworen, das wie ein Echo ist auf diese Worte des Johannes-Evangeliums: Ich liebe dich, du sanftestes Gesetz, an dem wir reiften, da wir mit ihm rangen; du großes Heimweh, das wir nicht bezwangen, du Wald, aus dem wir nie hinausgegangen, du Lied, das wir mit jedem Schweigen sangen, du dunkles Netz, darin sich flüchtend die Gefühle fangen. Du hast dich so unendlich groß begonnen, an jenem Tage, da du uns begannst, – und wir sind so gereift in deinen Sonnen, so breit geworden und so tief gepflanzt, daß du in Menschen, Engeln und Madonnen dich ruhend jetzt vollenden kannst. Laß deine Hand am Hang der Himmel ruhn und dulde stumm, was wir dir dunkel tun.5

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Joh 4,1-42: Die Frau am Jakobsbrunnen oder: Stufen der Wahrheit 1Wie nun Jesus erfuhr, gehört hätten die Pharisäer, daß Jesus mehr Jünger mache und taufe als Johannes (3,22.26), – 2und doch, Jesus selber pflegte nicht zu taufen, sondern (nur) seine Jünger – 3verließ er Judäa und ging weg, wieder nach Galiläa. 4Er mußte aber (dabei) Samarien durchqueren. 5Er kommt also in eine Stadt Samariens, genannt Sychar, nahe dem Feld, das Jakob Josef, seinem Sohn, gegeben hatte (Ex 48,22; Jos 24,32). 6Es war aber dort eine Quelle Jakobs. Jesus also, ermüdet vom Unterwegssein, setzte sich einfach an der Quelle nieder. Es war etwa die sechste Stunde (12 Uhr mittags). 7Da kommt eine Frau aus Samarien, Wasser zu schöpfen. Sagt ihr Jesus: Gib mir zu trinken. 8Seine Jünger nämlich waren fortgegangen in die Stadt, um Nahrungsmittel zu kaufen. 9Sagt da zu ihm die Frau, die Samariterin: Wie? Du? Ein Jude? Von mir zu trinken bittest du? Von einer Frau? Einer Samariterin? Nicht nämlich verkehren Juden mit Samaritern (Lk 9,52.53 f.; Mt 10,5). 10Geantwortet hat Jesus und hat ihr gesagt: Wenn du wüßtest um die Gabe Gottes und wer der ist, der zu dir sagt: Gib mir zu trinken, – du bätest ihn, und er gäbe dir lebendiges Wasser (7,38.39). 11Sagt ihm die Frau: Herr! Nicht einmal ein Schöpfgefäß hast du, und der Brunnen ist tief. Woher also hast du Wasser, lebendiges? 12Nein! Du? Größer bist du als unser Vater Jakob? Der hat uns den Brunnen gegeben, und er selbst hat aus ihm getrunken und seine Söhne und sein Vieh … 13Geantwortet hat Jesus und hat ihr gesagt: Jeder, der von diesem Wasser trinkt, wird wieder Durst bekommen (6,58). 14Wer aber trinkt von dem Wasser, von dem ich ihm geben werde, nein, nicht wird der Durst bekommen ins Unendliche hin, sondern das Wasser, das ich ihm geben werde, wird in ihm zur Quelle eines Wassers, das aufsprudelt zu unendlichem Leben (6,35; 7,38; Ps 36,10). 15Sagt zu ihm die Frau: Herr, gib mir dieses Wasser, daß ich nicht mehr Durst bekomme und nicht mehr hierher kommen muß, um zu schöpfen. 16Sagt er ihr: Geh, ruf deinen Mann und komm (wieder) hierher. 17Geantwortet hat die Frau und hat ihm gesagt: Ich habe keinen Mann. Sagt ihr Jesus: Richtig hast du gesagt: Einen Mann habe ich nicht. 18Fünf Männer nämlich hast du gehabt, und jetzt hast du einen, der nicht dein Mann ist. Da hast du Wahres gesagt. 19Sagt die Frau zu ihm: Herr, ich sehe: Ein Prophet bist du. 20Unsere Väter – auf diesem Berg haben sie im Gebet sich verneigt; doch ihr sagt: In Jerusalem ist der Ort, wo man im Gebet sich verneigen muß (Dtn 12,5; Ps 122). 21Sagt ihr Jesus: Ver-

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traue mir, Frau, es kommt die Stunde, da ihr weder auf diesem Berg noch in Jerusalem im Gebet euch vor dem Vater verneigen werdet. 22Ihr verneigt euch im Gebet zu etwas, das ihr nicht kennt (2 Kön 17,29-41); wir verneigen uns im Gebet zu etwas, das wir kennen, denn Rettung ist (nur) von den Juden her (Jes 2,3). 23Aber: Es kommt die Stunde und jetzt ist sie, da die wahrhaft im Gebet sich Verneigenden im Gebet sich verneigen vor dem Vater in Geist und Unverstelltheit. Und ja: der Vater – solche sucht er, die sich verneigen im Gebet zu ihm. 24Geist ist Gott (2 Kor 3,17), und die sich verneigen im Gebet zu ihm, müssen in Geist und Unverstelltheit im Gebet sich verneigen (Röm 12,1). 25Sagt ihm die Frau: Ich weiß: Der Messias kommt, der sogenannte Christus (der Gesalbte) (1,41); wenn er kommt, wird er kundtun uns alles. 26Sagt ihr Jesus: Ich bin! Der mit dir redet! 27Indem kamen seine Jünger und wunderten sich, daß mit einer Frau er im Gespräch war. Niemand freilich hat gesagt: Was suchst du? Oder: Was sprichst du mit ihr? 28(Stehen) gelassen hat da ihr Wassergefäß die Frau; fortging sie in die Stadt und sagt den Menschen: 29Dort! Seht einen Menschen, der hat mir alles gesagt, was ich getan habe! Ob der nicht der Christus (der Gesalbte) ist? 30Heraus gingen sie aus der Stadt und kamen zu ihm. 31Indem unterdes baten ihn die Jünger und sagten: Rabbi, iß! 32Er aber hat ihnen gesagt: Ich? Eine Speise habe ich zu essen, die ihr nicht kennt. 33Sagten die Jünger zueinander: Es hat doch nicht jemand ihm zu essen gebracht! 34Sagt ihnen Jesus: Mein Brot ist es, daß ich den Willen dessen tue, der mich gesandt hat (6,38), und daß ich sein Werk vollende (17,4). 35Sagt ihr nicht selber: Noch vier Monde ist es, dann kommt die Ernte? Da! Ich sage euch: Hebt eure Augen und schaut die Felder - weiß sind sie zur Ernte (Mt 9,37). Schon 36empfängt der Erntearbeiter den Lohn und sammelt die Frucht zu unendlichem Leben, auf daß der Sämann zugleich sich freue mit dem Erntearbeiter. 37Denn darin ist das Sprichwort wahr: Einer ist der sät, ein anderer ist der erntet. 38Ich habe euch gesandt zu ernten, um was ihr euch nicht abgemüht habt. Andere haben sich gemüht; ihr seid (nur) in ihre Mühe eingetreten. 39Aus jener Stadt aber gelangten viele zum Vertrauen auf ihn von den Samaritern wegen des Wortes der Frau, die bezeugt hatte: Er hat mir alles gesagt, was ich getan habe. 40Wie sie also zu ihm kamen, die Samariter, baten sie ihn, zu bleiben bei ihnen. Und er blieb dort zwei Tage. 41Und noch viel mehr gelangten zum Vertrauen wegen seines Wortes; 42und der Frau sagten sie: Nicht mehr deiner Rede wegen vertrauen wir; selber nämlich haben wir gehört und wissen: Dieser ist wirklich der Retter der Welt (Apg 8,5-8).

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In dem Gespräch zwischen Jesus und dem Ratsherrn Nikodemus wurde gewissermaßen mitten im Judentum über die Frage gehandelt, wie ein Mensch von vorn geboren werden kann und was es heißt, aus Geist zu leben, so frei wie der Wind und ebenso wenig festzulegen. Jetzt, im 4. Kapitel des Johannes-Evangeliums, wird dieselbe Frage aufgegriffen mit einer anderen Adressatin. Wieder wird die Rede sein von Geist, aber der Gesprächspartner ist kein Mann, ist kein Jude, sondern, an der Grenzzone zwischen dem Volk der Erwählung und den sogenannten Heiden im Gebiet von Samaria, eine Frau aus dem Jakobsort Sychar. Daß all diese Details im Johannes-Evangelium absichtsvoll arrangiert sind, läßt sich schon daran erkennen, daß gleich im nächsten Abschnitt die Rede sein wird von einem römischen Hauptmann; dieser gehört an sich gar nicht in diesen Zusammenhang, nicht einmal räumlich; Jesus muß lange Wanderungen von Judäa nach Galiläa zurücklegen, um ihm zu begegnen. Aber diese Staffelung: ein Jude, eine Samariterin und ein Römer (ein Heide), verrät, wie Johannes seine Reden komponiert hat und wie seiner Darstellung zufolge die Botschaft von Gott sich fortsetzt, indem sie sich vermenschlicht, indem sie universell wird. Die am meisten erregende und zugleich die am meisten hilflose Frage der Religion im 20. Jh., gestellt von Eltern und Lehrern nicht minder als von Theologen auf den Kathedern, lautet, wo und wie sich im Menschen ein «Anknüpfungspunkt» finden lasse für die Rede von Gott. Ist nicht in unseren Tagen schon das Wort von Gott oder von einem unendlichen Leben etwas Fremdgewordenes, Mißbrauchverdächtiges, Herrschaftsideologisches? Ist nicht allerorten und zu allen Zeiten die Furcht nur allzu berechtigt, daß religiöse Verkündigung den Menschen in fremden Redensarten verformt, ihn von außen her prägt und ihm das eigene Leben stiehlt statt ermöglicht? Zu viel Gewalt ist im Namen Gottes aus dem Munde der Prediger und in den Händen ihrer Handlanger an Menschen verübt worden. Das sogenannte Johannes-Evangelium stellt sich am Ende des 1. nachchristlichen Jahrhunderts Zug um Zug derselben Erfahrung und derselben Wirklichkeit. Gott, meint es, ist kein Gegenstand irdischer Erfahrung, wesenhaft ist er anders als alles, was wir greifen und begreifen können, und dennoch vermittelt gerade dieses Vierte Evangelium in diesem Gespräch zwischen Jesus und der Samariterin auf klassische Weise die Art, wie wir, auch in der Sprache des sogenannten historischen Jesus, uns den Weg vorstellen können, der zum Herzen der Menschen führt und ein Stück vom Himmel auf die Erde holt. Die ersten drei Evangelien berichten immer wieder, daß Jesus in Bildern 189

von Gott als von seinem Vater zu reden liebte. Er trug einfache Erfahrungen vor, die er in Wegweiser und Fenster auf diese ganz andere Wirklichkeit hin verwandelte, die wir doch spüren müssen, um inmitten der Angst der Welt beruhigt und getröstet zu werden und aufrecht unser Leben führen zu können. Alle Welt wurde für Jesus zu einem möglichen Gleichnis: eine Frau, die den Teig für ein Brot mengt (Lk 13,18-21), ein Sämann auf dem Acker (Mk 4,26-29), eine Frau auf der Suche nach einer verlorenen Drachme (Lk 15,8-10), ein Hirt, der seine Herde begleitet (Lk 15,1-7), – nichts war für Jesus zu niedrig, zu alltäglich, zu gewöhnlich, um von seiner Poesie inmitten aller Vergänglichkeit nicht als ein Zeichen entdeckt zu werden für das, was ewig gilt. Das Johannes-Evangelium enthält so gut wie kein einziges Wort, das der historische Jesus so gesagt haben könnte; das Johannes-Evangelium trägt vielmehr seine Worte weiter und formuliert sie so, wie sie gesagt werden müßten zu Menschen, die kulturell und geistig unter ganz anderen Verhältnissen leben. Wo also ist der «Anknüpfungspunkt»? Diese Frage stellt sich im Vierten Evangelium auf Schritt und Tritt. Wenn Jesus mit einem jüdischen Ratsherrn wie Nikodemus über Gott redet, spricht er zu jemandem, der über einen langen Zeitraum rückverbunden ist mit Mose und Abraham, mit einem Mann also, der sich selber für eingeführt glaubt in die Geheimnisse Gottes. Ihm nahezubringen, daß es nichts Fertiges gibt im Umgang mit Gott, sondern daß nur das Umgewandelte, das Wiedergeborene, den Atemwind des Geistes und der Begeisterung in sich trägt, ist das Kunststück, das diesem Gespräch zwischen Jesus und der Samariterin vorausgeht. Wie aber redet man mit einem Nicht-Juden? Kennzeichnend ist schon der Ausgangspunkt. Jesus begibt sich von Judäa weg, nicht nur räumlich, sondern geistig. Er ist angewidert von der dort herrschenden Religion in ihrer institutionalisierten und verwalteten Außenseite, etabliert als ein Tummelplatz merkwürdiger Erfolge. Der Anblick ist uns vertraut. Religion, wie wir sie kennen, ist ein Gegenstand fleißiger Statisten und Statistiker. Da hat man Religion, wenn man einem bestimmten Bekenntnis, einem bestimmten Ritus, einer bestimmten Tradition zugehört und gleichzeitig einen gewissen Geldbetrag als Schmiermasse für die Funktionsfähigkeit dieses religiösen Bekenntnissystems zur Verfügung stellt. Bekannt wird da eigentlich gar nichts außer dem, was nicht längst schon bekannt ist, aber auch und gerade um dieses allzu Bekannte kann man in Rivalität geraten. Wer hat mehr Anhänger, wer bringt mehr an zählbarer, quantitativ bestimmbarer Menschenmasse hinter sich, wer organisiert mehr an Menschenmaterial 190

zugunsten der Priesterherrschaft, – das sind jetzt die Fragen. Sogar die Reformbewegungen zur Zeit Jesu scheinen im Rückblick des Johannes-Evangeliums auf diese Weise sich zu zersetzen und zu vernutzen. Es gibt Ende des 1. Jhs. immer noch offenbar eine Bewegung aus dem Erbe Johannes’ des Täufers; wir finden sie später wieder in ihren gnostischen Ausläufern in der Religion der Mandäer, in Restspuren vertreten noch heute im Süden des Irak1. Texte sind da entstanden von einer ehedem heißen Glut, doch wie verlodert unter der Asche. Für die Bewegung der Gemeinde, die sich um den Nazarener geschart hat, scheinen die Johannesjünger indessen rein durch ihre Stoßkraft, die das sadduzäische Judentum zu zersprengen drohte und sich auch gegenüber den Pharisäern als selbständig behauptete, so etwas wie eine Konkurrenz geworden zu sein, und augenblicklich erhebt sich jetzt die Frage: Ist man ein Johannesjünger, ist man ein Jesusjünger, ist man noch ein Jude, und wenn ja, in welchem Sinne? Wie bleibt man im Bekenntnis zu Gott unter der Herrschaft von Menschen einzuordnen? Jede dieser Gruppierungen glaubt, die ganze Wahrheit Gottes für sich zu haben, in Erbpacht sozusagen, und wer das nicht glaubt, verletzt und verläßt die Grenzen der jeweiligen Bezugsgruppe. Es ist das Johannes-Evangelium, das mit Blick auf die gegenwärtigen Streitereien rein hypothetisch, aber dann sehr energisch, affirmativ, rückwärts zu fragen sucht, was Jesus dazu hätte sagen mögen, – und also gesagt hat! Er, behauptet das Johannes-Evangelium, würde mit Widerwillen diesem Geschacher um Seelen und Menschen den Rücken gekehrt haben, – und also hat er es getan! Er selber, Jesus, um es klar zu sagen, hat überhaupt nicht getauft; auf dieser Ebene Johannes’ des Täufers und der Tauferei der Jesusjünger ist ein Vergleich mit dem Mann aus Nazaret nicht möglich. Nie hat Jesus sich an Riten festgemacht, um Menschen darauf festzulegen. Wohl hat sich das Christentum sehr früh «sakramental» geformt, – die Taufe wurde sogar zur formalen Eintrittsbedingung, um als ein wirklicher Jünger Jesu in Erscheinung zu treten, doch das war durchaus nicht die Praxis Jesu selber. Nicht einmal das Grundsakrament aller sieben Sakramente der Römischen Kirche stammt von Jesus selber, erklärt das Johannes-Evangelium hier gleich in der Einleitung. Was da kirchendogmatisch so über alles wichtig genommen wird, wie wenn das Heil der Welt daran hinge, erscheint hier als ganz unwichtig; die entscheidende Frage lautet vielmehr, wie man mit Jesus in ein inneres Gespräch kommt. Solange man dabei bleibt: man hat die Religion quantifizierbar und garantierbar im Rahmen eines undialogischen, weil ideologischen Wahrheitsanspruchs, der einfach durch das Gefüge verwalteter Macht auf die Menschen herun191

tergedrückt wird, hat man von Jesus überhaupt nichts verstanden; man vertreibt Jesus vielmehr immer von neuem – fort aus «Judäa». Es ist dabei wieder nicht nur eine rein topographische Angabe, daß Jesus auf dem Weg in seine Heimat (die doch unsere sein sollte), nach Galiläa, quer durch Samaria ziehen muß. Wenn wir von Samaritern hören, haben wir noch das Gleichnis des Lukas im 10. Kapitel in den Ohren (Lk 10,25-37). Da ist der Samariter die Gestalt einer vorbildlichen Menschenliebe, sozusagen der Tugendbock der Barmherzigkeit, der den Halbtoten am Wege nicht liegen läßt, sondern seinen Weg unterbricht und alles dafür einsetzt, ihn gesundzupflegen. Man ahnt bei dieser Erinnerung an ein wichtiges Gleichnis Jesu nicht die Brisanz, die der Nazarener historisch in diese Geschichte hineingelegt hat. Von Samaritern zu reden bedeutete in seinen Tagen, wie schon bei der Erzählung von der Tempelreinigung erläutert, den Erbfeind jedes ordentlichen, jedes orthodoxen Juden auf die Bühne seiner Geschichte zu bringen. Die Samariter, die Bevölkerung des sogenannten Nordreichs von ehedem, das bereits am Ende des 8. vorchristlichen Jhs. unter dem Ansturm der Assyrer zusammengebrochen war, haben sich nie ganz, auch religiös nicht, mit den Leuten im Süden, in Judäa, gemeinsam gefühlt. Nachdem Anfang des 6. Jhs. auch der Süden, Jerusalem, von den Babyloniern besetzt und seine Bevölkerung deportiert worden war, machte man sich nach der Rückkehr aus der babylonischen Gefangenschaft daran, den Tempel neu zu errichten, die heilige Stadt wieder aufzubauen und das Gesetz des Mose wieder einzusetzen; doch bei all dem blieben die Juden unter sich; sie schlossen die Samariter aus. Diese wiederum blieben treu den fünf Büchern Mose, der Thora, dem Gesetz, aber sie schlossen sich nicht dem wiedereingerichteten Tempelkult an, sie fügten sich nicht der Priesterherrschaft im Süden, sie hielten sich sozusagen unabhängig. Historisch gesehen blieben sie stehen, traten sie auf der Stelle, wurden sie in gewissem Sinn extrem konservativ. Aber ihr Zorn auf den Tempel in Jerusalem, den sie von Anfang an nicht gewollt hatten, zu keiner Zeit, nicht einmal unter Salomo, lieferte ihnen die Energie zur Selbstbehauptung. In den Tagen Jesu streuten sie Leichenteile auf den heiligen Platz, um ihn zu entehren und um jedem Juden einen Skandal zu bieten, – so groß war der Haß zwischen den Samaritern und den Leuten in Judäa, geschürt mehr als ein halbes Jahrtausend lang. Wenn Jesus also einen Samariter in seine Geschichte einführt, möglicherweise als ein Vorbild für ein «richtiges Leben vor Gott», für die «größere Gerechtigkeit» (Mt 5,20), dann will er nicht mehr und nicht weniger sagen, als daß der ganze Kult im Tempel, daß der ganze Priesterdienst, Tiere zu schlachten für einen eifer192

süchtigen Gott, religiös null und nichtig ist. Es ist, erzählt er, möglich, daß ein Priester Gott so koscher und so rituell richtig verehrt, daß er zu den Menschen gar nicht mehr findet; doch das beweist nur, daß sein Gott nichts weiter ist als ein ideologischer Popanz und daß die Priester in ihren Ämtern ganz allein sich selbst zelebrieren. Gott dient das nicht, und den Menschen dient es auch nicht. Ein Samariter indessen, der den Tempel überhaupt nicht im Kopf hat, so ein antijüdischer Erzfeind womöglich, ist frei genug, um außerhalb der ideologischen Zwänge menschliches Mitleid gelten zu lassen. Er findet, nach dem Verständnis Jesu, Gott wirklich. Da braucht’s keinen Tempel, – nur offene Augen, nur ein offenes Herz, nur eine offene Hand; die tragen Gott. Das ist die Botschaft des historischen Jesus. Johannes hat daran scheinbar kaum eine Erinnerung. Für ihn ist Samaria der Topos und Typos für ein gottloses Land. Wohl, daß darinnen noch Spuren der Bibel zu finden sind, – Jakob, erinnert die Ortslegende, hat dort gelebt; die Söhne Jakobs haben dort gesiedelt (Gen 48,22), manche Ortsnamen gehen bis in die Tage der Patriarchen zurück. Aber wie kann man reden zu einem Volk, das von der Religion scheinbar nichts weiter mehr weiß als die folkloristische Außenseite? Nehmen wir diese Frage auf und machen wir uns ihre Problematik für unsere Tage nur einmal recht deutlich. Wie können Eltern ihren Kindern erklären, was Christentum ist? Es gibt dazu Gelegenheiten. Es gibt zum Beispiel den Heiligen Nikolaus zu feiern am 6. Dezember; es kommt mit aller Sicherheit der Heilige Abend, es wird Weihnachten sein; es wird das Neujahr geben; es werden die Drei Könige kommen – die Kirchenfeste laufen gewissermaßen durch die Zeit. Aber was von alledem läßt sich religiös einem Kind noch vermitteln? Und was gar einem Erwachsenen? Man geht in die Geschäfte, man sieht eine Menge Flitter, man verdient eine Menge Geld, der Einzelhandel ist dankbar für die Gratisreklame, die Deutschen konsumieren wie im Rausch und treiben damit die Konjunktur voran, – eine Energiequelle für jede Form von Geldeinnehmen und Geldausgeben erschließt sich, und das alles beruft sich nominell auf gewisse religiöse Überlieferungen, doch erkennbar hat es damit nur entfernt noch zu tun. Genau diesen Zustand des (religiösen?) Bewußtseins hat Johannes vor Augen in Gestalt der Samariterin. Sie erklärt Jesus, daß der Platz, an dem er sitze, die Quelle von Vater Jakob sei, einem ehrfurchtgebietenden Patriarchen also. Von dem gibt es mithin ein Lebenselixier in Gestalt des Wassers, eine vorzügliche Kostbarkeit. Von ihm hat er getrunken und seine Söhne, und die Frau vergißt nicht hinzuzufügen: auch sein Vieh. Alles ist 193

da gebannt ins ganz und gar Unmittelbare, ins Naturhafte; und mehr als dies will nicht sein und soll nicht sein für diese Frau – und auch, wie es scheint, auf seiten Jesu nicht. Er ist ermüdet vom Unterwegssein; er hat Durst; das sind seine unmittelbaren Empfindungen; doch sonderbarerweise werden gerade diese Momente physischer Bedürftigkeit zu dem gesuchten Anknüpfungspunkt für ein Gespräch zwischen einem Mann und einer Frau, zwischen einem Juden und einer Samariterin. Von Gott ist anfangs dabei gar noch nicht die Rede. Aber was wird in dieser «Einleitung» menschlich geleistet! Was für Gräben werden da überbrückt! Die Frau selber wundert sich und spricht auf griechisch einen Satz, bei dem hinter jedem Wort ein Fragezeichen zu setzen ist, so überrascht und erstaunt ist sie: Wie? Du? Ein Jude? Von mir zu trinken bittest du? Von einer Frau? Einer Samariterin? Da werden wie selbstverständlich eine ganze Reihe von Tabuzonen durchschritten, und die leise Ironie in der Sprache der Frau, im Vibrieren ihrer Verwunderung, deutet an, wieviel an Menschlichkeit man braucht, um die religiös kompakte Grenzziehung aufzusprengen. Für einen anständigen Juden ist es nicht erlaubt, sich soweit herabzulassen, daß er als Mann mit einer Frau ungeschützt ins Gerede kommt und sich selbst damit fast ins Gerede bringt. Es ist ihm als Juden nicht verstattet, mit einer Samariterin – in der Sprache des Kaiserreiches hätte man gesagt: – zu «fraternisieren», mithin sie anzuerkennen als gleichberechtigten Menschen. Genau das aber geschieht, und es ist bereits eine erste äußerst wichtige Lektion: Wären wir auch nur imstande, auf der Ebene von Durst, Hunger und Müdigkeit uns einzufühlen in die Not eines anderen Menschen, so gäbe es keine Grenzen mehr! Alles, was man uns beibringt: du bist ein Gläubiger – du bist ein Ungläubiger, du bist ein Deutscher – du bist ein Sudanese, du bist ein Katholik – du bist ein Protestant, all das erweist sich als bloßer Spuk. Was es gibt, sind Menschen, die als erstes physiologisch empfinden können. Sie haben Grundbedürfnisse; und diese Bedürfnisse haben sie alle gemeinsam, Menschen wie Tiere. Allein das zu entdecken ist der Einstieg in ein wahres Gespräch. Wer andere Voraussetzungen will als diese, wird nicht auch nur einen Zentimeter religiöser Wahrheit im Leben eines anderen erzeugen oder begleiten können. So falsch wäre es daher nicht, den Menschen dabei zu helfen, in ihren unmittelbaren Wünschen glücklich zu sein. Freilich deutet Johannes hier bereits an, daß «Durst» noch viel mehr sein kann als Durst, er kann ein Bild für ein geistiges Bedürfnis sein, aber es lassen sich transzendente Bilder nur formen, wenn man die Realität erst einmal zuläßt und für wirklich 194

nimmt; um Gott in Chiffren ins Gespräch zu ziehen, ist erst einmal die Rede von durchaus kreatürlichem Verlangen. Die Antwort freilich, die Jesus der Samariterin gibt, ist für sie eben dieser Spannung zwischen Gegenstand und Zeichen wegen nicht verstehbar; sie ist für niemanden verstehbar, der diesen Text zum ersten Mal liest, und doch enthält diese Antwort den ganzen weiteren Gang der Rede. Wenn du wüßtest, sagt Jesus, um die Gabe Gottes und wer der ist, der zu dir sagt: Gib mir zu trinken, – du bätest ihn, und er gäbe dir lebendiges Wasser. – Es gibt also eine Gabe, die Menschen einander schenken können, doch wenn sie diese Gabe einander schenken, so liegt darin ein Hinweis auf etwas, das Gott uns schenkt; was aber Gott uns schenkt, ist niemals eine Sache, niemals ein Gegenstand, es ist immer eine Person, und zwar gerade die, die uns als wesentlich gegenübersteht, mit der unser Herz redet in all den Fragen und Einsamkeiten. Sie ist das «Geschenk Gottes». Das Wasser aber, das lebendige, ist an sich ein Motiv aus den Märchen oder aus der Poesie der Romantik: Irgendwo fließt ein Quell, der wie ein Jungbrunnen ist; er erquickt die Seele wie den Leib, er schafft unser Leben stets neu, er ist wie jenseits des Alterns. Da wird etwas gefunden, mit dem wir so verwurzelt sind, daß es uns schützend und begleitend durch die Zeit trägt. Doch deutlich wird dabei der Unterschied und die Einheit, die in dem Wort Wasser zwischen Begriff und Bild liegt. Was in den Märchen als ein magischer Gegenstand gesucht wird, ist für den johanneischen Jesus von Anfang an gebunden an die Form der Begegnung mit dem, der mit dir redet. Auch diese neuerliche Umwandlung des Gegenständlichen ins Personale kann die Samariterin noch nicht verstehen. Im Gegenteil, erneut ironisiert sie, was sie da hört. Herr! sagt sie lächelnd, nicht einmal ein Schöpfgefäß hast du, und der Brunnen ist tief. Sie spielt ihre Überlegenheit auf der Ebene aus, an der sie sie besitzt. Auch darin aber liegt eine Nuance, die wir nicht überlesen sollten, weil sie den Kontrast zu der Art markiert, in welcher die offizielle Religion nach dem «Anknüpfungspunkt» für ihre «Missionsarbeit» oder für ihre «Neuevangelisierung» sucht. Zu «verkündigen» ist für die verfaßte Form von Religion, die wir vor Augen haben, überhaupt nur möglich unter dem Einsatz vieler Geld- und Machtmittel. Da bedarf es einer Menge von «Schöpfquellen» und «Schöpfkellen», um den Menschen etwas «aufzutischen», um ihnen etwas «zu geben», wie man meint. In diesem Gespräch hier aber vertauschen sich die Rollen von Geben und Nehmen vollständig. Wirklich gebend ist hier der Habenichts, der auf die Hilfe des anderen angewiesen ist, – er braucht überhaupt nichts, um von Gott zu reden, am wenigsten Macht, Geld und den Pomp 195

der Eitelkeiten! Ein Mann, der müde am Brunnenrand sitzt, wenn er nur recht spricht in die Seele dieser Frau hinein, wird ihr Gott nahebringen, ja, er wird in ihr selbst etwas freisetzen, das den Quell des Lebens nicht von außen an sie heranträgt, sondern in ihr selber offenlegt. Wir merken, daß nach wenigen Sätzen dieses Gespräch wirklich anfängt zu sprudeln wie ein Wasser, dessen Wellen, vorangetrieben von einem heißen, drängenden Wind, sich selbst fast überrollen. Gerade noch war die Rede von einem Wasser, das lebt, da lautet der nächste Satz sinngemäß schon: «Frau, du wirst es finden in dir selbst. Was ich dir zu geben habe als ein Geschenk Gottes, besteht darin, daß in dir selbst etwas aufspringt, das hinüberfließt in etwas Unzerstörbares, in eine Form von Leben, die dir nie mehr genommen werden kann.» Auch diesen Satz versteht die Frau freilich noch einmal auf ihre Art: Wäre es möglich, Wasser zu besitzen in dieser Weise, so litte sie niemals mehr Durst, und das bedeutete, sie müßte nicht Tag für Tag, womöglich in der Glut der Mittagshitze, aus dem Dorf Sychar zur Jakobsquelle gehen, um mit einem Krug, schwer zu tragen auf dem Kopf, das nötige Wasser in ihr Haus zu holen. Die Plage der täglichen Mühsal wäre vorüber; ein artesischer Brunnen wäre gefunden, eine sprudelnde Wasserleitung in der eigenen Kammer gewissermaßen. Wessen also bedürfte man noch? Es ist immer wieder die Frage, was für einen Zivilisations- und Kulturbeitrag die Religion leisten kann, um den Menschen materiell zu helfen. Diese Frage ist sehr dringlich, denn man kann von Gott nicht wahrhaft reden, solange Menschen Durst und Hunger leiden, solange sie verdursten und verhungern. Es gibt keine Gottesrede, die an diesem Problem sich vorbeidrücken könnte. Auf der anderen Seite stimmt es nur um so mehr, was der russische Dichter Fjodor M. Dostojewski in seinem Roman Der Jüngling einmal gesagt hat: «Das ganze Geheimnis des Menschen besteht darin, daß, wenn er gegessen und getrunken hat, er sich den Mund wischen und fragen wird: Und was kommt jetzt?»2 Die Antwort, die der johanneische Jesus hier gibt, ist merkwürdig und scheinbar unzusammengehörig. Sie drückt etwas aus, das wir zum Thema Durst (und Hunger) vermutlich von der Weltreligion des Buddhismus am tiefsten lernen können. Es war der Buddha, der unter dem Baum der Erleuchtung in Bodhgaya feststellte, wie sehr die Menschen sich im Rad der Qual und der Mühsal drehen, und er erkannte, daß der Motor dafür der Durst ist, die Trishna, die Lebensgier3. Immer wieder möchten Menschen, daß ihr Mund, daß ihr Magen sich füllt, und immer wieder nur zieht sie’s in die gleichen Kreisläufe hinein, welche die Natur ihnen vorschreibt, von 196

Wachen und Müdigkeit, von Hunger und Sättigung, von Begierde und Erfüllung; immer mehr verklammern sie sich mit ihren Bedürfnissen in diese Welt, pumpen sie die Erde aus wie Süchtige und werden doch am Ende niemals befriedigt. An dieser Stelle findet sich die Botschaft des JohannesEvangeliums vorzüglich kommentiert in einer der weisesten und gütigsten Religionsformen, denen wir in unseren Tagen begegnen können. Da brauchen wir offenbar die ostasiatische Weisheit, um auch nur einen einzigen wichtigen Satz über den Durst aus dem Munde einer Samariterin in der Bibel zu verstehen. Der johanneische Jesus aber, nicht anders als der Buddha es tat, nimmt diese Frau förmlich bei der Hand, indem er ihr Denken sprunghaft auf einer anderen Ebene in Frage stellt. «Geh», sagt er, «hole nicht Wasser, sondern ruf deinen Mann.» Das soll doch wohl heißen: «Frau, selbst wenn du Wasser, wie du es verstehst, zum Trinken hättest, äußerlich-materiell, in Hülle und Fülle, wäre dein Durst dann wirklich gestillt? Wonach dürstest du wirklich? Was suchst du in deiner Sehnsucht? Wenn du genügend gegessen und getrunken hast, wird nicht dann dein Verlangen nach Liebe erst wirklich groß? Ist das, was dich sättigen und deinen Durst stillen könnte, nicht in Wahrheit die Suche nach einem Gegenüber, das dich in die Arme schließt, das dich meint und liebt und begleitet und will?» Man kann das seelische Bedürfnis nach Begegnung und Liebe ins Äußere verschieben. Dann wird es wie eine Droge dahin wirken, das, was eigentlich gesucht wird, suchtartig an einem Surrogat zu befriedigen; und doch wird man nur um so deutlicher spüren, daß ein Mensch Hunger und Durst nach einem anderen Menschen hat. Viel stärker noch als die Begierde des Körpers nach Nahrung ist dieses Verlangen der Seele nach Liebe. Die samaritanische Frau aber muß jetzt gestehen, was ihre Wahrheit ist: keinen Mann hat sie. An dieser Stelle lernen wir etwas, das zu dem entscheidenden Wendepunkt dieses ganzen Gesprächs wird. Jesus greift verstärkt auf, was die Frau sagt: Richtig hast du gesagt: Einen Mann habe ich nicht. Damit unterstreicht er, daß in dem, was die Frau da mitteilt, ein Moment ihrer Selbsterkenntnis liegt, das sie persönlich bemerken muß; und dieser Hinweis ist entscheidend. Immer ja verhält es sich in solchen Gesprächen, die wir tief genug miteinander führen, so, daß der andere eigentlich alles sagt, was ihm helfen könnte; er aber überhastet es, er überredet es, er merkt es gar nicht selbst. Die ganze Hilfe besteht dann darin, dem anderen keine fremde Wahrheit aufzuoktroyieren, sondern ihm dazu zu helfen, daß er die Wahrheit selber erkennt, die er äußert. So sagt Jesus hier: Richtig hast du 197

gesagt: Einen Mann habe ich nicht. Und er erklärt’s: Fünf Männer nämlich hast du gehabt, und jetzt hast du einen, der nicht dein Mann ist. Da hast du Wahres gesagt. Diese Frau hat in ihrer Sehnsucht offenbar in ewigen Enttäuschungen sich an einen Mann nach dem anderen geklammert, ratlos, rastlos, nie zufrieden. Die Moralisten werden ihr naserümpfend sagen, daß sie nunmehr gar eine Ehebrecherin oder eine billige Konkubine geworden sei; sie hat einen Mann, der nicht der ihre ist, und man wird hinzufügen dürfen: er wird ihr nie gehören, er darf ihr gar nicht gehören. Es ist ein durch und durch verlorenes Leben, auf das sie da schaut. Aber das zu erkennen wird nun das Wichtige: Man kann im Hunger nach Menschen unersättlich sein und findet doch nie zu sich selbst, indem man das Eigene in den anderen verlegt; man sucht in seiner Liebe, was im eigenen Herz aufsprudeln müßte. Man will vom anderen das Leben empfangen, das man selbst in die Hand nehmen müßte. Für diese Frau ist das eine entscheidende Erkenntnis: Es gibt eine Überforderung des Menschlichen. Es ist möglich, sich an einen anderen Menschen zu klammern, wie ein Ertrinkender an eine Planke, die doch viel zu schmal und zu dünn ist, um über das Wasser zu tragen. Wie findet ein Mensch Grund unter seinen Füßen? Wie findet er Ruhe und Halt in all seinem Suchen am Abgrund? Wie kann ein Mensch einen Menschen stützen und schützen, wenn doch alle gleichermaßen Haltlose und Hilflose sind? Es ist an dieser Stelle, daß die Frau ihrerseits das Thema zu wechseln scheint. Die Suche nach Liebe, – das, so sieht sie, zieht sich wie ein roter Faden durch ihr Leben. Aber was sie soeben erlebt hat, ist etwas für sie ganz Neues: aus ihren eigenen Worten geht die Erklärung ihrer ganzen Vergangenheit, ihres Leids, ihrer Tragödie hervor. Und dieser Schritt der Selbsterkenntnis wird nun der Wendepunkt zu einem im eigentlichen Sinne religiösen Gespräch. Einen Menschen, der dazu verhilft, daß ein anderer sich selbst erkennt, den mag man als einen Gottesmann, als einen Propheten, bezeichnen und genau so redet diese Frau hier Jesus an: Herr, ich sehe: Ein Prophet bist du. Das ist ein zentral religiöser Begriff; doch was versteht die Frau darunter? Kaum geht die Rede von Religion, fällt die Samariterin erneut zurück in das, was man rein äußerlich für «Religion» nimmt. Da ist der ewige Widerspruch zwischen Samaritern und Juden: in Jerusalem glaubt man anders als in Samaria, auf dem Berg Zion anders als auf dem Berge Garizim; verschiedene Völker haben verschiedene Götter, haben verschiedene Formen der Anbetung, haben verschiedene Orte ihrer religiösen Zusammenkünfte. 198

Immer wieder scheint, wenn man sich umblickt, Gott eine lokale Größe zu sein, grad dazu bestimmt, den Gruppenegoismus eines bestimmten Volkes, einer bestimmten Überlieferung, zu legitimieren, zu rationalisieren, zu verabsolutieren. So diese Frau. Sie ist vollkommen hilflos gegenüber dem Gerede der Theologen und all der scheinbar Wissenden, die es ihr so beigebracht haben. Ihre Frage ist mehr als berechtigt, und sie verlangt eine Antwort: «Ihr sagt, in Jerusalem muß man sich verneigen vor Gott; wir aber tun das nicht, wir verehren Gott in Samaria; und was von beidem ist nun richtig, du Prophet, du Gottesmann, du Wissender sogar um mein Leben?» Es ist Jesus, der für das Johannes-Evangelium in einer unglaublichen Dichte jetzt sich selbst auszusprechen beginnt. Nun ist der Moment reif, nun ist die Stunde da. Jesus leugnet nicht, auch nicht im Johannes-Evangelium, daß die Rettung – buchstäblich dieses Wort steht da – die Rettung des Menschlichen (nur) von den Juden her kommt, was soviel heißt wie: aufgrund der Juden, auf Grund ihrer Überlieferung; dieser Grund ist die Art, wie Jesus als Jude von Gott zu sprechen gelernt hat: Man darf sich verneigen im Gebet vor dem Vater. Das ist sein Name für Gott, in diesem Vertrauen ist Jesus ganz jüdisch. Diese Beziehung des Vertrauens existiert aufgrund der jüdischen Religion. Nur muß man sie so nehmen, daß man aufhört, unter den Augen dieses Vaters zu trennen zwischen Juden und Samaritern, zwischen Juden und Nicht-Juden, zwischen Erwählten und Heiden. Ist Gott ein Vater, steht er allen Menschen gleich nah; ist er eine Mutter, wie wir auch sagen könnten, schließt er keines seiner Kinder aus, sondern er möchte, daß sie selber sich erkennen in der Güte seiner Liebe und ihre Würde wahrnehmen unter dem Leuchten des Glücks seiner Augen. Sich niederzubeugen vor diesem Vater bedeutet nicht, sich zu demütigen. Er ist der einzige, vor dem es sich lohnt, sich zu verneigen. Juden wissen dies eigentlich, sie müßten es wissen, aber auch die Samariter tun es genau so. Da ist nicht einmal der Unterschied zwischen dem Belehrtsein und dem Unbelehrtsein entscheidend, das Tun selber zählt – ob es existentiell zur Wahrheit wird, ob es innerlich wird, oder ob es äußerlich verfestigt bleibt. In solcher Weise wird man an dieser Stelle die Worte «in Geist und Wahrheit» (Unverstelltheit) verstehen dürfen. Gewiß, wenn von Geist und Wahrheit die Rede ist, wird das Theologische Lexikon darüber sagen, damit gemeint sei das Göttliche selber, das Offenbarwerden Gottes, die Ermächtigung durch Gott; aber was ist das Offenbarwerden Gottes anderes, als daß ein Mensch selber zum Offenbarungsort des Göttlichen wird und 199

darin wahr mit sich selbst? Nichts mehr kommt da von außen, sondern wie im Gespräch mit Nikodemus (Joh 3,5.6) ist sein eigener Atem das, was von Gott her zu seinem Leben wird. Die innere Überzeugung, nicht mehr ein äußerer Vortrag ist da der Grund, etwas zu erkennen, vor dem sich zu verneigen den Menschen erhebt zu seiner eigentlichen Größe. Auch das sah Dostojewski vielleicht unter allen Dichtern des 19. und womöglich des 20. Jhs. am besten: der Mensch muß etwas haben, das er anbeten kann, das er verehren kann, das über ihm ist, um sich daran aufzuranken und aufzuheben4. Erst vor der Größe dessen, was dem Menschen gegenübersteht, definiert sich des Menschen Größe selbst. Dann aber ist jede Grenzziehung, jede lokale Differenz zwischen Zion und Garizim, zwischen Judäa und Samaria (zwischen Jerusalem und Mekka, zwischen Rom und Wittenberg usw.) vollkommen nichtig. Indem ein Mensch sich findet in seiner Wahrheit, indem er sich klar wird in dem Leid seiner Vergangenheit und indem er offen wird in seiner Hoffnung, wird er auch zugleich fähig, den zu begreifen, dem er’s verdankt. Die Frau, noch ein letztes Mal, definiert, wie Religion auch verstanden werden kann und wie sie speziell im Judentum bis heute angetroffen wird. Da ist es viel, zu wissen, daß das gegenwärtige Leben uns nie erfüllen wird, daß es ein Unbehagen und ein Nie-zufrieden-Sein mit allem gibt, was uns umgibt, da ist die Perspektive in die Zukunft entscheidend dafür, die Gegenwart zu ertragen. Festgemacht ist das in der Religion der Bibel in dem Glauben an das, was kommen wird, an den Messias, an die Königsgestalt des Menschen. Irgendwann wird sie in diese leiddurchfurchte Geschichte eintreten. Fast resignierend sagt das die Frau: «Ich weiß, daß das sein kann: Menschen leben geistig und wahr in der Gegenwart Gottes.» Aber, fügt sie zwischen den Zeilen hinzu: «Davon trennt mich ein unendlicher Abstand; das wird sein, wenn ich nicht mehr bin; da kommt etwas und geht doch an mir selber vorbei.» Es ist möglich, Hoffnung zu haben, ohne zu glauben, ohne Glück zu empfinden in diesem Leben; man spannt sich aus nur noch in ein ganz anderes, in ein unerreichbares, in ein wie von fern nur ersehntes Ziel. Religion, wie Jesus sie versteht, ist indessen nicht Zukunft, sondern Gegenwart, gebunden an das, was jetzt geschieht, im Augenblick heute, unbedingt in Gleichzeitigkeit. Da ist der, mit dem die Samariterin redet, der Ort, an dem sich alles klärt. Nie ist Jesus, mit anderen Worten, eine Größe der Vergangenheit oder eine Größe der Zukunft; entweder er wird gefunden unmittelbar da, wo wir stehen, in jedem Augenblick neu, oder er war nie und er wird niemals sein! 200

Wenn es zur konventionellen Dogmatik ein Gegenbild gibt, dann lebt es hier. Belehrt in der dogmatischen Religion werden wir, daß Jesus einmal gekommen ist vor zweitausend Jahren und daß er wiederkommen wird am Ende der Tage, niemand weiß, wann; dazwischen aber bedürfen wir der Vermittlungsinstanzen, die uns in die Vergangenheit und in die Zukunft hinübergeleiten zu Christus. Solche Lehren werden zur Begründung der Kirche ehrwürdig überliefert, doch mit ihnen stiehlt man den Menschen ihr gegenwärtiges Leben. Johannes sagt deutlich: im Gespräch jetzt formt sich der Ort, an dem erkannt wird, was Jesus bedeutet. Die Folge dieser Erkenntnis für die Frau ist enorm: Sie läßt das Wassergefäß stehen, – es ist unwichtig jetzt; sie läuft nach Sychar; sie sagt den Leuten: Dort! Seht einen Menschen, der hat mir alles gesagt, was ich getan habe! Ob der nicht der Christus (der Gesalbte) ist? Inzwischen kommen die Jünger; sie wundern sich, doch sie stellen nicht in Frage, daß Jesus mit einer Frau redet; was er da sucht, fragen sie sich, aber nicht ihn. Immerhin laden sie ihn ein, zu essen, doch nur, um von ihm genauso über das Brot belehrt zu werden wie die Frau über das Wasser: da ist ein Brot, das erfüllt den Menschen innerlich mit Sinn, mit Beauftragung, mit Wert und mit Glück; es ist ein Brot, das gegessen wird immer dann, wenn ein Mensch spürt, wofür er wirklich da ist – der Wille meines Vaters, dessen, der mich gesandt hat, meint Jesus. Es sind Gedanken, die in der Q-Quelle im Gespräch in der Wüste bei der Versuchung durch den Teufel von Jesus geäußert werden: «Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von einem jeden Wort, das aus dem Munde Gottes geht.» (Mt 4,4; Lk 4,4) Ein ähnlicher Gedanke klang bereits im Johannes-Prolog an (Joh 1,13) und erst recht in der Erzählung vom Weinwunder von Kana (Joh 2,9); ja, es ist durchaus zutreffend, dieses Gespräch am Jakobsbrunnen zu lesen wie einen johanneischen Midrasch auf jene Verwandlung von «Wasser» in den «Wein», der Jesus selbst ist (Joh 15,1). Da ist es also möglich, innerlich und äußerlich erfüllt zu leben und in der Gegenwart anzukommen. Da beugen wir uns vor einem Gott, der möchte, daß es uns gibt. Immer werden wir dabei erleben, daß alles Wesentliche zum Greifen nahe, erntereif ist. Nicht selber haben wir dafür die Voraussetzungen geschaffen, sondern wir treten immer nur ein in etwas, das es schon gibt; aber zu erleben, daß unsere Arbeit sich lohnt und daß ihr Ertrag zu uns zurückkehrt, – welch eine Freude! Es ist das Glück Gottes selbst, das zu erleben. So möchte er. Deshalb auch sendet Jesus seine Jünger mit den Worten aus: Hebt doch eure Augen auf; «seht richtig», könnte man auch formulieren, «nicht auf die Felder, sondern in die 201

Herzen der Menschen!» Es ist ein Wort voller Vertrauen. Wer sagt uns denn, daß all die Menschen Ungläubige sind, Abständige sind, wie Kardinal Karl Lehmann vor Jahren bei der Bischofskonferenz in Fulda erklärte? Es gebe, meinte er, keine Kirchenkrise, es gebe eine Glaubenskrise, es gebe ein Neuheidentum. Und Theologen, die ihm bei der Hand waren, bekamen es fertig, zu sagen, es gebe eigentlich auch keine Glaubenskrise, es gebe eine Gotteskrise; alles also sei noch viel abgründiger als gedacht. Das ist soviel, wie daß man Menschen, die Durst haben, statt ihnen das Wasser vom Brunnen zu bringen, erläutert, daß man zweihundert Meter unter der vorhandenen Quelle graben müsse, um an das Wasser zu gelangen. In Wahrheit kennt Gott keine Krisen. Was wir wirklich erleben, ist, daß es eine Krise der kirchengemachten Gottesbilder gibt, und daran freilich zerbrechen die Menschen, bis dahin, daß sie aufhören, noch irgend etwas zu glauben. Vergiftetes Wasser wollen sie nicht länger trinken. Aber in Geist und Wahrheit sich zu verneigen und reif zu werden für das Glück, – das ist das Geschenk dessen, der uns gesandt wurde von Gott. Wie verkündet man Religion? lautete die Eingangsfrage. Die Leute in Sychar erklären schließlich der Frau: Jetzt haben wir selber gehört, und wir glauben nicht mehr – man kann nicht sagen, deines Wortes wegen, sondern sehr milde übersetzt: – deiner Rede, genauer gesagt, deiner Rederei wegen. Sinngemäß sagen die Samariter zu der Frau: «Es ist ja schön und gut; deine Vergangenheit hat er dir erklärt, und dein Leben ist dadurch dir selbst zurückgegeben worden. Das ist wunderbar. Aber wir selber müssen hören, um selber zu glauben.» Jeder, der in Fragen der Religion vermitteln möchte, wird erleben, daß er irgendwann zurücktreten muß, um sich überflüssig zu machen. Vor Jahren erklärte ein Pfarrer auf seine Weise, wie Gott mit den Menschen redet. Er hatte es gelernt in der scheußlichen Zeit des sogenannten Zweiten Weltkrieges als Soldat am Kuban-Brückenkopf. Er war auf der Schreibstube beschäftigt und mußte die Schwerverletzten in der Verbandsstube mit Namen, Diagnose und Krankheitsverlauf registrieren. Er sah mit eigenen Augen, wie die deutsche Soldateska, wie die Großdeutsche Wehrmacht, russische Dörfer «säuberte», wie sie um sich schoß auf alles, was sich bewegte, und wie sie die Schwerverletzten auf der Straße liegen ließ, schreiend und unversorgt; er wagte dem Befehlshabenden zu sagen, daß sich die Deutschen beim Vormarsch in Rußland von Dorf zu Dorf auf diese Weise nur in einen immer festeren Widerstand hineinfressen würden; wenn sie schon so täten, sollten sie wenigstens die Schreienden von der Straße holen, – ihr Ruf würde bis nach Moskau hallen. An einem Abend nun 202

hatte er im Dorf ein junges Mädchen kennengelernt und in seinem gebrochenen Russisch mit ihr über etwas zu reden versucht, das ihm aufgefallen war. In der kleinen Hütte hatte er eine russische Ikone über dem Ofen der Schlafstatt gesehen, und nun fragte er, wie denn das komme, sagten doch die Bolschewiki, daß es keinen Gott gebe. Das Mädchen antwortete: «Die Bolschewiki lügen.» – «Ja aber warum?» Und sie, um ihm die schwere Sprache des Russischen nicht zuzumuten, zeigte über sich auf die Sterne und auf den Fluß, dann auf sich selbst, «und», sagte sie, «Mutter hat gesagt.» – «Ich», erklärte dieser spätere Pastor, «habe ein besseres Glaubensbekenntnis niemals vernommen. Es gibt das Zeugnis der Sinne: die Schönheit des Himmels, die Majestät der Welt; es gibt das leise Zeugnis des eigenen Herzens; und es gibt die Sprache der Menschen, die wir am meisten lieben; und kommen diese drei zusammen, bezeugt sich alles, wovon die Menschen leben und wofür sie sind.»

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Joh 4,43-54: Geh, dein Sohn lebt 43Nach

den zwei Tagen aber ist er weggegangen von dort nach Galiläa (Mt 4,12). 44Selber nämlich hat Jesus behauptet: Ein Prophet in seiner eigenen Vaterstadt – Anerkennung findet er nicht (Mt 13,57)! 45Als er nun nach Galiläa kam, nahmen ihn die Galiläer auf, alles hatten sie ja gesehen, was er getan hatte in Jerusalem beim Fest (2,23), denn auch sie selber waren zu dem Fest gekommen. 46Gekommen ist er nun wieder nach Kana in Galiläa, wo er das Wasser zu Wein gemacht hatte (2,9). Und da war ein königlicher Beamter, dessen Sohn krank war, – in Kafarnaum. 47Der, als er hörte, Jesus sei gekommen, aus Judäa nach Galiläa, ist er losgegangen, zu ihm, und bat, daß er hinabsteige und heile: von ihm den Sohn, drohe er doch zu sterben. 48Gesagt hat da Jesus zu ihm: Wenn ihr nicht Zeichen und Wunder seht, nein, nicht zum Vertrauen gelangt ihr (2,18; 1 Kor 1,22)! 49Sagt zu ihm der königliche Beamte: Herr, steige hinab, ehe es stirbt, mein Kindlein! 50Sagt ihm Jesus: Geh, dein Sohn lebt! Vertraut hat der Mann dem Wort, das ihm Jesus gesagt hat – er ging! 51Doch noch während er hinabstieg, kamen seine Knechte ihm entgegen und sagten, sein Kind lebe! 52Da suchte er die Stunde von ihnen zu erfahren, in welcher er Besserung fand. Sagten sie ihm: Gestern, zur siebten Stunde (ein Uhr mittags), hat ihn verlassen das Fieber. 53Da erkannte der Vater, daß es zu eben der Stunde war, in der zu ihm Jesus gesagt hatte: Dein Sohn lebt. Und zum Vertrauen fand er und sein ganzes Haus. 54Dieses aber erneut: als zweites Zeichen tat Jesus es (2,11), nachdem er gekommen war aus Judäa nach Galiläa.

Unmittelbar nach dem Gespräch zwischen Jesus und der Samariterin am Jakobsbrunnen, das sich als ein langer Dialog mit vielen Schritten auf dem Weg zu einem tieferen Vertrauen und zu einem neuen religiösen Bewußtsein erwiesen hat, beginnt, nach einigen Rückblicken, die Geschichte einer Heilung, von der Johannes im 4. Kapitel seines Evangeliums erzählt. Nach einem Bild des Propheten Ezechiel (Ez 1,5 ff.) liebt man es von alters her, sich die vier Evangelisten in bestimmten Tiergestalten vorzustellen. Johannes wird dabei verglichen mit einem Adler, und das nicht zu Unrecht. Diese schweren, großen Raubvögel würden ihren Energiehaushalt bei weitem überfordern, wenn sie weite Strecken mit eigenem Flügelschlag zurücklegen sollten. Sie ziehen es daher vor, in den Wärmezonen über Land, über sonnenbeschienenen, offenstehenden Waldflächen und Lichtungen, oder an den Hängen der Gebirge von den aufsteigenden Warmluftmassen, von der Thermik, sich tragen zu lassen. Und so sieht man sie, wie sie in immer höher sich windenden Spiralen ohne einen einzigen Flügel204

schlag bis in die Wolken emporschweben. Der Vergleich trifft. Das Johannes-Evangelium, wie wenn es von einer unsichtbaren Kraft wie schwerelos emporgezogen würde, mit der Kunst begabt, sich in immer dem gleichen Aufwind, geboren aus Wärme und Licht, zu halten, kreist über stets identischen Themen, fällt mitunter ab, beginnt wieder von vorn, und immer neu überstreicht es dieselben Gedanken, ähnliche Konflikte, übereinstimmende Lösungsansätze. Von daher darf es uns nicht wundern, daß Johannes hier, noch ehe er von der Heilung eines Juden erzählt, jetzt schon, im 4. Kapitel, den Blick noch einmal zurückkreisen läßt. Die Erzählung beginnt damit, daß Jesus sich in Samaria aufhält und sich nun zurückbegibt nach Galiläa. In diesem Zusammenhang besteht eigentlich kein Grund, der Vorkommnisse im Jerusalemer Tempel Erwähnung zu tun, die zwei Kapitel zuvor berichtet wurden; noch weniger Anlaß besteht, eines der Worte aus den synoptischen Evangelien aufzunehmen – aus Markus 6,4 –, wo Jesus mit Blick auf seine Heimatstadt Nazaret erklärt: Kein Prophet gilt irgend etwas in seinem eigenen Vaterhaus, in seiner eigenen Vaterstadt. Warum tut Johannes das und fügt noch die Erinnerung an die Hochzeit zu Kana hinzu, bei der Jesus Wasser in Wein verwandelte? Man muß diese «Anklänge» zusammen nehmen wie ein Musikstück, das sein Thema sucht und nach und nach auskomponiert; im Johannes-Evangelium setzt dieses Thema der «Unverborgenheit» Gottes sich jetzt fort in der Heilungsgeschichte des «Kindleins» eines Königsbeamten am Hofe des Herodes. Da sollen es, nach johanneischer Auffassung, die Galiläer sein, die zweierlei in eins sind: ablehnend im engsten Raum der Herkunft Jesu selbst, im Raum Nazaret, dann aber geradezu begeistert von seinem Auftreten im Süden, in Jerusalem, wo sie aus Festtagsanlaß zu Zeugen wurden. Wessen? Nun, eben der Tatsache, daß Jesus dort gleich bei seinem ersten Besuch im Heiligtum die Peitsche nahm und aus dem Tempel die Händler und Geldwechsler vertrieb und Protest einlegte gegen den Schacher im Namen Gottes zur Ausbeutung von Menschen (Joh 2,13-25)! Die Tempel im Altertum, wie schon erläutert, waren unter anderem das, was sie zum größten Teil auch heute noch sind: Schatzhäuser, in denen man unter heiligen Vorwänden den Menschen das Geld aus der Tasche ziehen konnte, ja, mußte. Nach Jerusalem mußten alle Juden ihre Tempelsteuer entrichten, weit strenger, als alle Katholiken heutigentags ihren «Tempel» finanzieren, welcher steht in Rom. Alle möglichen theologischen Methoden gibt es, diese Praktiken zu begründen, aber im Sinne Jesu im Johannes-Evangelium gibt es dafür keinen einzigen Grund. Gott will nicht, daß man in seinem 205

Namen sich bereichert, daß man eine Priesterschaft – wohldotiert – einrichtet und einen Ritualdienst magischer Vermittlungen unterhält. Das alles bringt den Menschen Gott nicht nahe, sondern entfernt die Menschen von Gott, indem der Abgrund der Angst, der Abhängigkeit bei all den kultischen Veranstaltungen ausufernd groß wird. Die Leute in Galiläa waren in den Augen derer im Süden, der Judäer, nie so ganz fromme Juden, schließlich lebten sie schon im Einzugsbereich des ehemaligen Nordreichs; richtig orthodox, wirklich fromm fand man sich im Süden, in Judäa. Aus Nazaret – kann da was Gutes sein? fragte am Anfang des Johannes-Evangeliums bereits Natanaël (Joh 1,46). Galiläa also gilt als religiös unzuverlässig, doch gerade dorther kommt Jesus, und in den Augen seiner unmittelbaren Landsleute, aller derer, die wie er den galiläischen Dialekt des Aramäischen reden, hat er etwas Großartiges getan: Er hat die religiöse Relativierung des Jerusalemer Tempels mitbegründet durch seine mutige Tat. Darin erkennen sie ein Stück von sich selbst wieder, darin ist er für sie prophetisch. Aber wie nun, wenn man erkennen müßte, daß Propheten nicht irgendwann wie Kometen über den Himmel ziehen, um drohend irgendwo niederzugehen, sondern daß das, was «prophetisch» genannt wird, eine Aufforderung enthält, im eigenen Leben sich genau so zu verhalten, daß es zwischen dem Gewöhnlichen und dem Ungewöhnlichen keine Trennung gibt? Dann beginnt das Problem, das Jesus historisch wohl schon bei seinen eigenen Angehörigen, bei seinen eigenen Dorfgenossen, erlebt haben wird. Es ist schwer, aus dem Neuen Testament jene Szene im 3. Kapitel des Markus-Evangeliums zu tilgen (3,20-21), bei der Maria und die Brüder Jesu kommen, um den zum Propheten sich Aufspielenden vor dem Zugriff der Jerusalemer Behörden fast zu retten, denn schon erklären die Orthodoxen, nur im Namen des Obersten der Teufel könne Jesus die Wunder der Heilung verrichten; auf Teufelspakt steht die Todesstrafe; besser daher, wenn man Jesus im Privatgefängnis des eigenen Zuhauses als einen Geisteskranken einsperrt: «Er ist von Sinnen», – er ist verrückt geworden; das ist historisch die Diagnose der eigenen Brüder und der Mutter Jesu über den Zustand des Mannes aus Nazaret. Und wie antwortet Jesus darauf? Er stellt sich hin und sagt: «Wer sind denn meine Mutter, meine Brüder, meine Schwestern, außer denjenigen, die verstehen, worum es geht. Die stehen mir nahe.» (Mk 3,31-35) Da geht es nicht mehr um Familienbande, sondern um eine innere Zusammengehörigkeit, um ein Leben aus der gleichen Glut. Aber wie will man das all denen verständlich machen, die es 206

einem übelnehmen, daß man an ihrer Seite aufgewachsen ist, in denselben Gassen, unter demselben Himmel, in derselben Sprache, auf demselben Marktplatz, und nun ganz neue, unerhörte Einsichten vorträgt und es ihnen sogar zumuten will, mitzugehen? Ob man will oder nicht, es liegt ein Vorwurf darin, daß man selbst nicht immer schon die Dinge genau so gesehen hat; also wird die normale Antwort lauten, daß das, was man immer schon gewußt hat, halt das Gültige sei und daß die Neuerungen gefährlich, anmaßend, provokativ, eben eine Verrücktheit darstellten, die man unter Dorfzensur halten müsse. Kein Prophet gilt viel in seiner Vaterstadt, das heißt, er gilt nach hebräischer Sprachlogik gar nichts. Die Alternative bestünde darin, Gott zu finden gerade im Gewöhnlichen, im Vertrauten und gleichzeitig im unerhört Freien, im Aufbruch zu einer neuen Welt. Nur so kämen Tradition und Vision kreativ zusammen; doch wo wäre das erwünscht? Ist diese Fragestellung die rechte Vorbereitung, so versteht man Johannes, wenn er an das Geschehen in Kana erinnert, einem kleinen Dorf nordwestlich des Sees von Gennesaret, wo Jesus bei einer Hochzeit – bei der Feier wieder von etwas ganz Normalem – etwas absolut Unerhörtes gewirkt hat: aus Wasser wurde Wein, aus Menschenwille Gotteswille (Joh 2,1-12). Diese Umwandlung von dem scheinbar so Wertlosen in etwas überraschend Kostbares ist das Thema offenbar der Melodie, die sich bereits eingespielt hat, noch ehe wir nun die Geschichte von der Heilung des Sohns eines königlichen Beamten in Kafarnaum hören sollen. Es ist eine Geschichte, die das Johannes-Evangelium aus seiner Wunderquelle, als zweites Zeichen, wie es selber sagt, übernimmt. Die Geschichte hat ihre Parallele; sie wird uns bei Matthäus (8,5-13) und Lukas (7,1-10) gleichermaßen überliefert. Auch dort spielt sie in Kafarnaum, einer Ortschaft, von der Matthäus sich sogar ausmalt, Jesus habe dort eine feste Wohnung besessen (Mt 4,13). Jedenfalls scheint dieses kleine Dorf unmittelbar am See von Gennesaret eine Zeitlang der Lieblingsaufenthaltsort Jesu gewesen zu sein. Statt eines königlichen Beamten freilich hören wir ursprünglich bei Matthäus und Lukas von einem römischen Hauptmann und seinem «Knecht», und Matthäus wird die Geschichte im 8. Kapitel sogar zu einem Beispiel dafür ausbauen, daß die Heiden, die Römer, womöglich eher zu der Botschaft Jesu gelangen als die sogenannten Juden, als die Vertreter des auserwählten Volkes. So hat Matthäus es erlebt: Man hat Jesus getötet, man hat diejenigen, die an seiner Seite einen neuen Weg zu Gott, zu sich selbst und in die Welt zu finden meinten, nach und nach ausgegrenzt und ausge207

stoßen. Wie dem Meister selbst so geht es seinen Jüngern (Mt 10,25), aber bei den sogenannten Heiden im hellenistischen Raum beginnt man zu verstehen, was für eine neue Bewegung sich dort bildet. Kein Wunder also, daß Matthäus versucht, aus einem römischen Hauptmann ein Vorbild des Glaubens zu gewinnen. Für das Johannes-Evangelium ist das alles schon kein Problem mehr; es redet zu Menschen, denen die Juden so fremd sind, daß man ihnen ihre Gebräuche, Einrichtungen und Ansichten eigens erklären muß. Der «Antijudaismus» im Johannes-Evangelium ist deshalb fast schon reaktionär, die Frage der Differenz von Juden und Heiden jedenfalls stellt für die Adressaten dieses Evangeliums kaum noch das Problem dar. Um so bemerkenswerter bleibt es: bei Johannes geht es um einen königlichen Beamten, und es geht nicht um einen Hauptmann, auch nicht um seinen «Knecht», es geht um den Sohn dieses Mannes, – auch das im Unterschied zum 8. Kapitel bei Matthäus. Man könnte einen Moment lang fragen: Na ja, kommt es darauf an? Nun, diese Abweichungen zeigen uns etwas, das für das Verständnis des johanneischen Jesus nicht unwichtig ist. Wohl, ob von einem Knecht gesprochen wird oder von einem Sohn, kann sich ergeben durch einen bloßen Übersetzungsfehler. Hebräisch «na‘ar» heißt eigentlich «der Unmündige», derjenige, dem man mit Befehlen etwas sagen muß. Das kann ein Kind, ein Junge sein, es kann aber auch ein Knecht, ein Sklave sein. Im Deutschen gibt es kein brauchbares Wort, um diese Doppeldeutigkeit wiederzugeben, außer man redet von dem Burschen. Ein «Bursche» kann im Deutschen ein junger Mann sein, aber auch derjenige, der einem Befehlsgeber zugeordnet ist; ein Bursche ist ein Junge oder ein Laufjunge. Das Johannes-Evangelium hat zwischen beiden Möglichkeiten sich klar entschieden: es geht um den Sohn. Doch eine ähnliche Mehrdeutigkeit erleben wir auch in den griechischen Übersetzungen der ursprünglichen Bezeichnungen für Jesus selber. Wer ist er, der Diener, der «Knecht» Gottes (das «Lamm» Gottes) oder der Sohn Gottes (Joh 1,29-34)? Die entscheidende Leistung Jesu, die Botschaft seiner ganzen Existenz ist es, daß beides nicht länger ein Unterschied sei! Wer versteht, wer Gott ist, der kann nicht anders wünschen, als von innen her dem zu dienen, was Gott ihm zu sagen hat; wer begreift, daß Gott sein ganzes Leben ist, dem wird Gott zum Vater. Man kann da nicht sprechen mehr von «Knecht» und «Sohn», man hat es zu tun mit einem erwachsenen Menschen, dessen ganzes Leben umhüllt, durchdrungen und bestimmt wird von dem Gegenüber einer unsichtbaren Liebe, von jener Macht, die alles durchzieht. (Vgl. Gal 4,6.7.) Das also ist der Hintergrund, den wir voraussetzen müssen, ehe wir uns 208

an die Seite eines leidenden, von Sorgen gepeinigten Mannes in Kafarnaum versetzen. Der königliche Beamte dort hat gehört, daß Jesus nach Galiläa zurückgekehrt sei, und was immer seine Hoffnung begründet, augenblicklich macht er sich auf, um den Mann aus Nazaret, den Propheten aus Galiläa, aufzusuchen mit der Bitte um die Rettung seines Kindes, seines «Kindleins», wie er zärtlich und notvoll bittend zugleich ihn anfleht. Es gibt in den ersten drei Evangelien Szenen, die ein Stück verwandt mit dieser Erzählung anmuten. Da ist in Markus 5 ein Synagogenvorsteher mit Namen Jairus, der fast mit den gleichen Worten bettelnd zu Jesus kommt zugunsten seiner Tochter, die im Sterben liegt. Mein Töchterchen, sagt dieser Mann zu Jesus (Mk 5,23). Er muß fürchten, daß jede Verzögerung der Zeit ein Zu-Spät bedeuten könnte; wenn Jesus nicht bald kommt, und die Sterbende berührt, so denkt er, wird ihr Leben unweigerlich verlöschen. Ganz so dringlich fühlt dieser königliche Beamte im Johannes-Evangelium. Entfernt erinnert sein Klagen auch an eine Geschichte aus dem 7. Kapitel des Markus, die im Gebiet von Tyrus und Sidon spielt, als eine Frau, eine Phönizierin, hinter Jesus hergelaufen kommt und ihn inständig um das Heil ihrer Tochter bittet, die von Dämonen besessen ist (Mk 7,24-30). Sie wird all der Angst, all der Not, der «Besessenheit» ihrer Tochter nicht Herr, und Jesus, der sich weigert, ein Wunder außerhalb des Gebiets von Israel zu wirken, lehnt sie immer wieder ab, bis daß sie sich flehentlich so sehr an ihn hängt, daß er gar nicht anders kann, als sich ihrem Bitten zu fügen: Dir geschehe, wie du willst – die Umkehrung der Vaterunser-Bitte wird dort zum Grund einer Heilung! Lesen wir die Heilungs-Geschichte im Johannes-Evangelium erst einmal so, wie sie den Worten nach dasteht, bleibt sie uns sperrig und steil. Freilich, die Fundamentalisten unter den Bibelauslegern werden versichern, die Geschichte enthalte durchaus keine Schwierigkeiten: eine Fernheilung auf räumliche Distanz hin stelle für einen Sohn Gottes natürlich kein Problem dar; er, der allmächtige, der auf Erden nur weilt als Abglanz Gottes, kann alles, was er will, wann er will und wie er will, und ob er jemanden physisch berührt oder ihn aus der Entfernung heil spricht, – was für einen Unterschied macht das schon, ist doch Gott überall gleich nah und gleich weit; sein Wort ist mächtig allerorten. Grad so scheint denn Johannes seine Geschichte auch zu erzählen und womöglich sogar selber zu verstehen – als einen Kraftbeweis der göttlichen Natur des Jesus von Nazaret. Doch wie will man bei einer solchen Auslegung dem Aberglauben wehren, auf dem sie selber beruht? Erst einmal auf diesen Kurs der Interpretation gebracht, ist selbstredend nichts mehr unmöglich. Eine Bibelstelle wie diese 209

scheint die Grundlage für Fernheilungspraktiken überhaupt zu bieten: Irgendeine Geist- und Wunderheilerin, in der Schweiz sitzend, redet über das Deutsche Fernsehen mit irgendeiner Kranken in Augsburg oder Hamburg, und siehe, wer nur recht daran glaubt, wird gesund. Wie schnell wird da aus Bibeltexten blanker Humbug, wie leicht aus Glauben in modernem Gewande esoterischer Unfug! Wie aber versteht man diese Stelle dann, daß sie mit uns so redet, daß wir’s verstehen ohne Zauber und Hokuspokus? Wie kommen wir dahin, die prophetische Kraft des Mannes aus Nazaret im eigenen Dorf, im ganz Normalen, im durchaus Verständlichen zu spüren, so aber, daß eine Energie ausgeht, die uns Mut macht, ehrlicher zu hoffen, tiefer zu verstehen, menschlicher zu leben? Greifen wir, ganz ähnlich wie in der Geschichte aus Markus 5,22-24.3543, in der Erzählung von dem Synagogenvorsteher Jairus und seinem «Töchterchen», nur einmal das eine Wort auf, das der königliche Beamte hier gegenüber Jesus äußert: von seinem Sohn spricht er als von seinem «Kindlein». Wir wissen nicht, wie alt dieser Sohn ist, wir wissen aber, wie der Vater ihn sieht: als ein Kind, das zu sterben droht, noch bevor es wirklich zu leben begonnen hat. Unter uns Menschen gibt es kaum ein Leid, das man sich größer vorstellen könnte, als daß zwei Menschen ganz dicht auf einander bezogen sind – sie hängen zusammen auf Sein oder Nichtsein –, aber es verhält sich so, daß der eine leidet und leidet, während der andere durch Pflicht und Verantwortung in all seinem Bemühen darauf konzentriert ist, das fremde Leid zu mildern, am besten ganz aufzuheben, – ein ständiger Kampf gegen den Tod. Nun aber nehmen wir einmal an, daß Beziehungen entstehen können, in denen Angst und Verantwortung, Not und guter Wille einander so steigern, daß statt der erhofften Milderung oder Heilung ganz im Gegenteil immer stärker Abhängigkeit und sogar Zerstörung bis hin zu Krankheit und Tod sich vorantreiben. Man wird vielleicht sagen: «So etwas kennen wir nicht.» In diesem Falle müssen wir uns nur einmal anschauen, wie in einer Ehe Mann und Frau miteinander umgehen, wenn einer der beiden Partner dem Alkoholismus verfällt: Von außen wird ein Psychologe dann sehr leicht feststellen, daß die Not des einen zur Überverantwortung des anderen führt, doch das System der Ko-Abhängigkeit koppelt sich sofort zurück: das Schuldgefühl, die Angst, die Anhänglichkeit auf der einen Seite – der wachsende Ärger, die Verzweiflung, die Ungeduld, der Zorn, das neue Schuldgefühl, das Wiedergutmachen auf der anderen Seite: – schon unter zwei erwachsenen Menschen kann sich ein Teufelskreis derart aufschaukeln. 210

Oder: Denken wir uns ein Kind im Schatten seiner Mutter, seines Vaters, das dabei ist, mit sechzehn Jahren, mit achtzehn Jahren drogenabhängig zu werden. Wenn es schon furchtbar ist, mitansehen zu sollen, wie ein Mensch, den man von Herzen liebhat, einfach leidet, und man kann versuchen, was man will, es ist endgültig kaum etwas zu verhindern, dann werden wir rasch verstehen, daß noch viel schlimmer als diese Art des Leidens jene andere ist, bei der insgeheim gespürt wird, welch eine Verstrickung zwischen Krankheit und Gesundheit, zwischen dem Einsatz allen guten Willens und dem Schaden, der trotzdem oder sogar gerade deshalb eintritt, herrschen muß. Es genügt, sich vorzustellen, daß da eine Mutter oder, in unserer Geschichte, ein Vater ist, der alles erdenklich Gute für seinen Sohn (oder für seine Tochter) will, er sich aber so verhält, daß das Kind, durch Gründe, die uns nicht näher genannt werden, dazu verleitet wird, sich an den Vater, an die Mutter voller Angst zu hängen. Der Vater oder die Mutter wollen natürlich, daß ihr Kind irgendwann selbständig wird; auch fühlen sie sich selber überfordert, ein solches Kind immer wieder durch sein Leben zu tragen; irgendwann wird es ihren Armen zu schwer. Sie sagen ihm also: «Du mußt selber gehen.» Aus der Sicht des Kindes aber findet etwas ganz anderes statt: Es fühlt sich nicht zu einer größeren Selbständigkeit ermuntert, es spürt vielmehr, nicht zu Unrecht, daß es der einzigen Person, auf die es sich doch angewiesen fühlt, die es als einzige liebhat, zur Last wird. Also fühlt es sich bestraft, nicht dafür, die Mutter, den Vater überfordert zu haben, sondern dafür, auf der Welt zu sein. Aus seiner Sicht hat es nicht etwas falsch gemacht, sondern alles. Und darauf wird es reagieren – verzweifelt, hilflos, fassungslos. Ohne es zu wollen, wird ein solches Kind den Eltern daher noch schwerer fallen, als es vorher schon war. Die wiederum werden sich schuldig fühlen, ein so hilfloses Kind weggestoßen zu haben; und so werden sie schon zur Wiedergutmachung ihrer «Schuld», sich noch viel mehr engagieren. So entsteht eine Spirale, die sich immer weiter mit der Kraft eines Drillbohrers ins Holz schraubt, ein Teufelskreis, aus dem es scheinbar kein Entrinnen gibt. Was ist zu tun gegen eine solche Form von zerstörerischer wechselseitiger Abhängigkeit? Es ist nur vermeintlich ein Paradox, daß wir einen Text wie diesen, in dem wesentlich alles auf der Ebene der Theologie liegt, mit psychologischen Mitteln zu lesen versuchen; denn auch der «Wunderglaube» des Johannes-Evangeliums bleibt nicht äußerlich. Johannes läßt seinen Jesus kategorisch, so, wie er in den ersten drei Evangelien niemals spricht, sagen: Wenn ihr nicht Zeichen und Wunder seht, nein, nicht zum Vertrauen ge211

langt ihr. Das ist eine echt johanneische Zuspitzung. Dieser Evangelist hat die Magie, den Wunderaberglauben ganzer Teile der eigenen Gemeinde offenbar längst vor Augen, und er will nicht, daß man die Taten Gottes im Äußerlichen nachstammelt, denn da ereignen sie sich nicht. Johannes möchte, daß man davon herunterkommt, einen Jahrmarktgott zu bestaunen; er möchte, daß die «Wunder», die ihm berichtet werden, innerlich interpretiert und verstanden werden, eben als Zeichen. Das freilich sagt nicht der historische Jesus, das sagt der Jesus des Johannes-Evangeliums zu der zweiten und der dritten Generation; es handelt sich um einen Läuterungsprozeß schon innerhalb der Evangelien. Hier an dieser Stelle aber wird ein solches Wort zu einem Mann gesagt, der um die Not seines eigenen Kindes ringt. In diesem Kontext macht das Wort Jesu zunächst nicht theologisch, sondern psychologisch Sinn; es soll doch besagen: «Du erwartest, daß etwas an deinem eigenen Kind geschieht, aber sozusagen an dir vorbei. Du denkst, alle Probleme seien gelöst, wenn nur dein Kind gerettet ist. Aber vielleicht verhält es sich ganz anders. Vielleicht geht es als erstes nicht um das Kind, so sehr es leidet und so sehr es all deine Sorgen absorbiert. Vielleicht geht es wesentlich zuerst um dich selbst.» So erlebt man es in der Psychotherapie ganz oft, fast regelmäßig. – Eine Frau vor einer Weile sagte: «Als ich zu Ihnen kam, ging es mir wie einer Katze, die nicht mehr weiterweiß, – ich legte Ihnen alle meine Kinder sozusagen einfach auf die Treppe. Ich wollte, daß Sie für alle sorgen. Natürlich konnten Sie das nicht. Aber heute weiß ich, daß ich für meine Kinder nichts Besseres tun konnte, als was wir dann getan haben: Ich fing an, von mir selber zu reden, warum ich mich überfordert fühle, weswegen ich mich einsam empfinde an der Seite meines Mannes, wie ich selber groß wurde als Kind, und vor allem, warum ich so viel Angst um meine Kinder habe. Es ist gar nicht die Angst, die ich um meine Kinder habe, es war schon die Angst meiner eigenen Mutter vor allem, was mir hätte passieren können. Mein ältester Junge brauchte nur einmal Fieber zu bekommen, 39 Grad, dann war ich wie in Panik. Ich saß an seinem Bett, ich fütterte ihn, ich machte alles für ihn, – die bekömmlichsten Nahrungsmittel, die zweckmäßigsten Medikamente. Aber wenn er dann immer noch nicht gesund wurde, konnte ich außer mir geraten. Es kam vor, daß ich ihn schlug, einfach weil er krank war. Können Sie sich vorstellen, was ich für eine Mutter war? Ich wollte nur, daß er lebt, daß er gesund ist, daß ihm nichts passiert. Aber gerade dadurch konnte ich alles falsch machen.» Es ist klar, daß man Ängste dieser Art nur beruhigen kann, indem man einer Frau – oder in unserer Geschichte einem Mann – nach und nach ein 212

Stück Vertrauen vermittelt. Doch an dieser Stelle wird die Sache schwierig. Denn es gibt zur Begründung eines solchen Vertrauens keine vorlaufenden Wohltaten. Es ist nicht möglich, das Kind als geheilt zu präsentieren und dann zu sagen: «Siehst du, nun ist alles wieder gut, nun brauchst du keine Angst mehr zu haben.» Die ganze Schwierigkeit liegt darin, daß man die Sache umgekehrt einfädeln muß. Erst wenn eine solche Frau – oder in der Erzählung des Johannes-Evangeliums ein solcher Mann – Vertrauen genug gewinnen könnte, würde sich auch die Angst des Kindes, des «Kindleins», beruhigen. Man begreift daher, wie recht Jesus hat, wenn er sich weigert, irgend etwas zu tun, außer daß er diesen Mann förmlich nötigt, aus seiner eigenen Verzweiflung herauszufinden und bedingungslos Vertrauen zu lernen, Glauben zu haben. Es ist ein unerhörter Satz, mit dem Jesus an dieser Stelle jemanden fortschickt, indem er wie ins Blinde erklärt: Geh, dein Sohn lebt. So etwas kann er eigentlich nur sagen, weil er den Beamten mit einer solchen Sicherheit erfüllt sieht, daß dieser Mann, ohne irgend etwas davon bereits zu wissen, sich auf den Weg zu seinem Kind macht und dabei voraussetzt: Es lebt. Kann es sein, daß sich die meisten Erziehungsprobleme so und nicht anders lösen? Wie viele Eltern gehen davon aus, ihr Kind lerne beispielsweise zu schlecht, es sei faul, unaufmerksam, nicht intelligent genug, man müsse seine Leistungen verbessern, man müsse es mehr fordern und fördern. Also setzt man mit dem Kind Sonderstunden an. Ganze Nachmittage gehen dahin, in denen der Vater oder die Mutter zunächst privat Nachhilfe geben, dann wird ein professioneller Nachhilfelehrer bestellt. Das alles kostet Geld, der Ärger summiert sich; das Kind aber nimmt die ganze Veranstaltung völlig anders wahr. Es empfindet, daß es das, was die Mutter oder der Vater will, niemals schaffen kann, daß, wenn tatsächlich so viel Geld investiert werden muß, es überhaupt ein hoffnungsloser Fall ist. Außerdem muß es am nächsten Morgen die Mathematikarbeit wirklich gut schreiben oder mindestens ausreichend. Selbst uns als Erwachsene brächte es um den Verstand, wenn wir jeden Morgen in einen ganz gewöhnlichen Berufsalltag gehen sollten mit dem Dauergefühl, mal wieder zu versagen oder nur mit einer ganzen Hilfskolonne von zusätzlichen Schubkräften ganz gewöhnliche Aufforderungen und Anforderungen erfüllen zu können. – Je mehr äußerlich investiert wird, desto mehr wird innerlich verwüstet. Die ganze Hilfeleistung von außen ruiniert das Selbstbewußtsein, das sich formen könnte. Wie aber, wenn die Eltern feststellen würden, was vielleicht schon längst der Fall ist: ihr Kind wäre ein ganz normales, ein ganz vernünftiges Mädchen oder ein ganz tüchtiger Junge, es brauchte das Ganze an Mehr213

aufwand gar nicht, man müßte nur einmal sehen, was wirklich stimmt. Statt vom vermeintlich Fehlenden auszugehen, müßte man die Perspektive ändern und sich sagen: Was ist denn das Gesunde, das Richtige, das Freudemachende, das das Leben Vorantragende? So betrachtet, fände man in aller Regel eine Menge an Gründen zu einem buchstäblich heilenden Vertrauen. Aus dem kranken Kind würde ein gesundes Kind, nicht durch fremden Zauber, sondern durch Verwandlung der Blickrichtung. Da würde ein Vater oder eine Mutter es lernen, Vertrauen zu setzen in die Gesundheit des eigenen Kindes, und wie weggeblasen wären die ganze Fürsorgeangst, der Verantwortungsterror, die endlose Mühle von Schuldgefühlen, von Frustrationen, von Vorwürfen, von Wiedergutmachungen. Man würde lernen, miteinander zu leben und sich wechselseitig anzuerkennen. Das Paradox aber liegt vor allem darin, daß dieses Vertrauen sich nur bilden kann, wenn die Mutter oder der Vater als erstes sich das Recht nimmt, nicht permanent der Krankenpfleger oder gar schon der Totengräber der eigenen Kinder zu sein, wenn es, mit anderen Worten, so etwas gibt wie ein Recht auf ein eigenes Leben und wenn die Sorge, was aus dem Kind wird, einmal zurückstehen darf. Offenbar darin besteht dieses Wunder des Vertrauens, mit dem jener königliche Beamte in sein Haus in Kafarnaum zurückkehrt. Er kann endlich frei durchatmen; die erstickende Angst, was aus seinem Sohne werden wird, löst sich von seiner Brust; plötzlich, auf ein Wort hin, liegt seine Verantwortung wie leicht zu tragen auf seinen Schultern. In unserem alltäglichen Leben ist ein solch einfacher Befehl: «Nun gehe hin, denn alles ist gut!» natürlich schwer vorstellbar. Manche «Seelsorger» gibt es, die es sich mit dem pastoralen Ton eines sonoren Basses förmlich angewöhnt haben, Menschen «Trost zuzusprechen», indem sie bestimmte Bibelstellen zitieren. «Es ist ja alles gut», sprechen sie. Aber natürlich ist gar nichts «gut». Durchgearbeitet werden will über Monate und Jahre hin all die Angst, die immer von neuem aufgetürmt wurde; sie kommt von Situation zu Situation wie mechanisch wieder; niemals löst sich etwas im Handumdrehen. Aber in der Richtung eines solchen Wortes sich miteinander auf den Weg zu machen, das wäre die realisierte Geschichte von diesem königlichen Beamten in unseren Tagen. Dazu gehört auch, daß Jesus äußerlich, räumlich, diesen Weg nicht mitgeht. Es gehört dazu, daß diesem königlichen Beamten ein eigener Weg, eine eigene Selbständigkeit, eine Identität in seiner eigenen Person angetragen und zugemutet wird. Fast immer, wenn in der Psychotherapie ein Erziehungsproblem im Mittelpunkt steht, löst es sich auf solch indirektem Wege auf. Ein Mann, eine 214

Frau, ein Vater, eine Mutter lernen, größeren Wert auf ihr eigenes Leben zu legen, und je mehr das geschieht, fangen auch ihre Kinder an, sich mehr und mehr wohlzufühlen. Je mehr Mütter und Väter beginnen, sich selbst ein Stück weit zu mögen, hören auch ihre Kinder auf, sich im Schatten der Eltern wie in einem Zerrspiegel negativ anzuschauen; die Freiräume wachsen, in denen man miteinander unbeschwert und unbelastet Umgang pflegt, und man wird fähig, einander sogar etwas Freude zu schenken. Das Beste, was Eltern für die Erziehung ihrer Kinder tun können, ein Mann für seinen Sohn, eine Frau für ihre Tochter, besteht insofern darin, daß sie es sich selbst erlauben, in ihrem Leben glücklich zu sein. Manche Theologen werden an dieser Stelle gewiß sagen, die Geschichte im Johannes-Evangelium erzähle gar nicht von privatem Glück, sondern von dem Glauben an Jesus Christus als an den Sohn Gottes aufgrund der Machterweise seiner Wunder, – hier Nummer zwei der Wunderquelle im Aufbau des Johannes-Evangeliums. Wie aber, wenn alles gerade darum kreisen würde, daß Menschen gesund werden einzig in einem Vertrauen, das sie unter den Augen Gottes in ihr Leben und in das Leben ihrer Mitmenschen zu setzen vermögen? Bei einer der Fuldaer Bischofskonferenzen vor etlichen Jahren, im Oktober 1995, sprach der Vorsitzende der katholischen Deutschen Bischofskonferenz, der heutige Kardinal Karl Lehmann aus Mainz, davon, daß das Christentum nicht zu Sozialarbeit und Psychotherapie verkommen dürfe; das Christentum der Kirche orientiere sich am Willen Gottes. – Wenn beides derart in eine absurde Alternative gestellt wird, so wird diese Kirche niemals die Menschen erreichen, und sie wird auch nicht zu der ursprünglichen Botschaft Jesu finden. Wenn Menschen zu heilen nicht als Ausdruck und Inhalt dessen begriffen wird, was Gott will, wird man eine Geschichte wie die von der Heilung des Sohnes jenes königlichen Beamten niemals verstehen. Solange wir uns die Gottessohnschaft oder die Gottesknechtschaft des Jesus von Nazaret vorstellen wie ein Schweben über den Wolken, wie etwas Überirdisches, gewissermaßen als einen ätherischen Lichteinfall, der uns nur berührt, um über uns hinwegzugleiten, werden wir die Macht des Mannes aus Nazaret, mit der er in die Angst und in die Not, in den Abgrund der Verzweiflung und in die Verlorenheit des menschlichen Herzens hineinleuchtete, niemals als einen Auftrag an uns selber ernst nehmen. Zudem werden wir stets ein falsches Alibi für unsere «christliche» Existenz übrigbehalten; wir werden sagen: «Wunder dieser Art hat Jesus gewirkt, eben weil er der Sohn Gottes war, und darin zeigt sich seine Größe und seine Herrlichkeit; wir aber, die wir nur Menschen sind, brauchen derlei gewiß niemals zu tun.» Doch genau 215

das wollte Jesus: daß wir die Art seines Vertrauens in Gott weitergäben und umarbeiteten in ein Vertrauen zu den Menschen an unserer Seite und zu uns selbst! Nur diese schwache Fähigkeit einer sich konkretisierenden Zuwendung ist stark genug, alles zu verändern. Diese Kraft wirkt ganz leise, ganz langsam, ganz von innen, und doch ist sie stark wie die Wechselwirkung im Inneren der Atome. Sie formt die ganze Welt; sie ist eine Energie von enormen Konsequenzen. Da hört, während er schon unterwegs zu seinem Sohn ist, der königliche Beamte, daß tatsächlich eingetreten ist, was Jesus versprach: sein Junge ist gesund, und es war, als die Genesung einsetzte, um die nämliche Stunde. – Wie viel an Hoffnung gegen so viel Angst können Menschen einander schenken! Wie oft muß man in das Leben eines Menschen viel mehr an Vertrauen setzen, als der andere, der leidet, im Moment seiner Qual damit zu verbinden wagt! Dieser Kreditvorsprung an Vertrauen ist das eigentlich religiöse Moment dieser ganzen Geschichte, und es ist zugleich das wohl am meisten historische. So war Jesus wirklich. Er wußte es auch nicht, er konnte es auch nicht, aber er hoffte es immer wieder kraft einer Liebe, die niemanden verlorengeben wollte. Dann kann man dieselbe Geschichte noch einmal anders lesen, nicht so sehr als eine Art Psychotherapie, die zwischen zwei wirklichen Personen stattfindet, sondern als einen Prozeß, der sich in dem königlichen Beamten selber vollzieht. Mit den Augen der Tiefenpsychologie von Carl Gustav Jung ist es gut möglich, zu sagen: Ehe dieser Sohn im Hause des königlichen Beamten geheilt wird, muß erst einmal das Kind in ihm selber zum Leben kommen. Wir könnten uns dieselbe Geschichte deshalb noch einmal ganz anders vorstellen. Wir könnten uns denken, daß die Schädigung dieses «Sohnes» zustande kam, indem ein Mann schon als Kind sich selbst mit seinen besten Eigenschaften, mit allem, was in ihm hätte leben mögen, zum Opfer bringen mußte, um so hoch zu kommen, wie er jetzt steht: ein königlicher Beamter, jemand, der sich mittlerweile an der Spitze seines Erfolges in Repräsentation und Würde befindet. Niemand mehr wird ihn in dieser Situation noch fragen, wie schwer es für ihn war, dahin gekommen zu sein, wieviel an Tricks der Selbstüberlistung, an Verdrängung feinerer Stimmungen, an Zerstörungen uralter Träume ihn dieser Weg zum Sieg gekostet hat. Könnte es nicht sein, daß die Verletzungen dieses «Kindes», innerlich verstanden, damit zu tun hätten, daß ein Mann, um dahin zu kommen, wo er jetzt steht, sich selbst als Kind, als kleinen Jungen schon mit all dem Reichtum seiner Möglichkeiten auf dem Altar der Karriere hat opfern müssen? Nun, ans Ziel gelangt, fehlen all die Voraussetzungen, um 216

dieses innere Kind nachreifen zu lassen, nun erstickt die eigene Übergröße alle anderen, und es breitet sich ein Feld von Mißverständnissen und Mißtrauen dort aus, wo dringlich Zuneigung und Verbundenheit benötigt würden. Kann es insofern nicht auch sein, daß die Heilung jenes Kindes, das es «wirklich», äußerlich, gibt, überhaupt erst möglich wird, indem der königliche Beamte lernt, noch etwas anderes zu sein als nur ein Höfling, als nur ein Streber, als nur ein Machtverwalter? Vielleicht muß als allererstes auferweckt werden das Kind in ihm, das er einmal war; er selber müßte in seinem Leben noch einmal oder zum ersten Mal so etwas wie Freude anstelle von Leistung und Pflicht kennenlernen. Wie viele Eltern sind, Frauen zumal, die ein Kind zur Welt bringen, um sich selbst in ihm, in der Jugend, die sie selber nie hatten, noch einmal wiederzufinden! Aber wie schwer ist es, dem andern gerade das zu ermöglichen, was im eigenen Herzen darauf wartet, zu wachsen! – Ein königlicher Beamter, wie Johannes sagt, – kein römischer Hauptmann mehr wie bei Matthäus, sondern ein Emporkömmling im Hofstaat des Herodes – eine bloße Variante scheinbar des Johannes-Evangeliums gegenüber der Tradition des Matthäus-Evangeliums: wie sprechend kann sie sein, wenn wir uns vorstellen, was sie über uns Menschen aussagt! Für beide, für den Beamten wie für seinen Sohn, gilt in jedem Falle eine völlig neue Erlaubnis zum Leben. Da wird ein zweites Mal, wenn man so will, Wasser in Wein verwandelt; da wird erneut das scheinbar ganz Gewöhnliche kostbar, da wird abermals das vorgeblich so Unschmackhafte zu einer berauschenden Essenz, da wird unser so kleines, gewöhnliches Leben aufgehoben zu einem beseligenden Glück in Gemeinsamkeit. Da ist nichts mehr in Geltung an Anstrengung, Pflicht und Verzicht, nicht einmal mehr zu dem Zwecke der Heilung des anderen, sondern da gilt es zu entdecken, wieviel an Kostbarkeit in uns selbst und in den Menschen an unserer Seite lebt. Von dieser Art sind die Zeichen und Wunder des Jesus von Nazaret. Die ganze Welt, recht verstanden, ist ihrer voll!

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Joh 5,1-18: Die Heilung des Gelähmten oder: Der Sabbat Gottes 1Danach war ein Fest der Juden, und Jesus stieg hinauf nach Jerusalem (2,13). 2Es gibt aber in Jerusalem beim Schaftor einen Teich (Neh 3,1), das hebräisch sogenannte Betzata (Bethchesda/ Betesda = Haus der Gnade), das fünf Hallen hat. 3In diesem lag eine Menge Kranker: Blinder, Lahmer, Ausgezehrter [, die auf die Bewegung des Wassers warteten. 4Ein Engel nämlich (des Herrn) stieg (zuzeiten) in den Teich hinab, dann geriet das Wasser in Wallung. Der Erste dann, der hineinstieg nach der Aufwallung des Wassers, wurde gesund, mit welchem Siechtum er auch behaftet war]. 5Es war aber ein Mann dort, der befand sich 38 Jahre (schon) in seiner Krankheit. 6Den sah Jesus, wie er dalag, und als er merkte, daß er schon lange Zeit sich so befand, sagt er ihm: Willst du gesund werden? 7Geantwortet hat ihm der Kranke: Herr, einen Menschen finde ich nicht, daß er, wenn das Wasser aufwallt, mich in den Teich wirft; indem aber ich komme, ich, – ein anderer, vor mir, steigt hinab … 8 Sagt ihm Jesus: Steh auf, nimm deine Pritsche und geh umher (Mt 9,6). 9Und sogleich wurde gesund der Mann; er nahm seine Pritsche, er ging umher. Es war aber Sabbat an jenem Tag. 10Drum sagten die Juden (die Gottesbesitzer) dem Geheilten: Sabbat ist es; also: es ist dir nicht frei, deine Pritsche aufzunehmen (Ex 20,10; Jer 17,21.22)! 11Der aber hat ihnen geanwortet: Der mich gesund gemacht hat, der hat mir gesagt: Nimm deine Pritsche und geh umher. 12Fragten sie ihn: Wer ist der Mensch, der dir gesagt hat: Nimm auf und geh umher!? 13Der Behandelte aber wußte nicht, wer es sei; denn Jesus hatte sich der Menge entzogen, die auf dem Platz war. 14Danach findet ihn Jesus im Heiligtum und hat ihm gesagt: Da! Du bist gesund geworden. Sündige nicht mehr (8,11), daß dir nicht Schlimmeres wird (Mt 12,45)! 15Fortging der Mann und meldete den Juden (den Gottesbesitzern), Jesus sei es, der ihn gesund gemacht habe. 16Und deshalb jagten die Juden (die Gottesbesitzer) Jesus, weil er das getan hatte – am Sabbat (Mt 12,14)! 17Er aber (Jesus) antwortete ihnen: Mein Vater wirkt bis jetzt, und so wirke auch ich (9,4). 18Deshalb nur noch mehr suchten ihn die Juden (die Gottesbesitzer) zu töten (7,30; 10,33), weil er nicht nur den Sabbat auflöste, sondern auch Gott seinen Vater nannte, identisch so sich machend mit Gott!

Aus der «Wunderquelle», die dem Vierten Evangelium vorliegt, wird im 5. Kapitel die Überlieferung von der Heilung eines Gelähmten aufgegrif218

fen. So kurz die Geschichte ist, wurde sie doch mit späteren Eintragungen aufgefüllt; für Johannes wird diese «Novelle» zum Ausgangspunkt eines vertieften Nachdenkens über die Religion, über den Menschen, über die Person Jesu und über Gott. Da war ein Fest der Juden, so beginnt diese Geschichte, und jeder erwartet, daß sie sich fortsetzt in einer Begegnung Jesu mit den Juden im Tempel von Jerusalem. Braucht nicht die Religion gerade solche Riten, heilige Zeiten, heilige Festversammlungen? Ist sie nicht angewiesen auf vorgegebene geheiligte Traditionen, auf Brauchtum und Übereinkunft? So stünde es zu erwarten, würde die Geschichte weitergehen, wie sie sich normal zu erzählen hätte. Um so abrupter wirkt der Einsatz, den Johannes hier setzt. Alles, was «normalerweise» soziologisch oder psychologisch über die Religion zu denken ist, gilt diesem Evangelisten für nichts weiter als für Staffage, für die äußere Bühne eines ganz anderen Themas. Seine Frage lautet nicht: Was gibt es religiös zu feiern? sondern: Wie findet man Gott? Oder ins Räumliche versetzt: Wo hält Gott sich auf? Wo begegnet man ihm? Die Priesterauskunft auf diese Frage lautet bekanntlich: im Tempel. Dort ist sein Heiligtum, dort sein Wohnsitz, dort die Achse der Welt: der Zionsberg, das Zentrum der Völkerwallfahrt … Johannes aber glaubt all das nicht und sein Jesus genausowenig. Was für ihn zählt im Namen der Religion, ist eine bestimmte Teichanlage, die einen wunderbaren aramäischen Namen trägt: Betzata wird sie hier, griechisch entstellt, wiedergegeben; heißen aber sollte sie aramäisch Beth-chesda – Haus der Gnade. Immer wieder ist es erstaunlich, wie modern das Johannes-Evangelium in den Problemstellungen ist, die es vor sich sieht und die es lösen möchte. Fast in jedem Abschnitt dieses Evangeliums geht es um die Demontage der Äußerlichkeit des Gottesverhältnisses, um die Beseitigung alles von fremd her Aufgesetzten, um das Bemühen, von innen her das Überkommene neu zu interpretieren. Gott wohnt, will Johannes sagen, nicht da, wo man einen Ritus feierlich begeht, sondern dort, wo die Religion sich öffnet zu einer Asylstätte für «alle, die elend dran sind», wie Matthäus (4,24) in seiner Einleitung zur Bergpredigt formuliert. Wer Menschen sieht in ihren Leiden, der sieht etwas von Gott. Religion ist da nicht länger ein Priestergeschäft, sondern eine Angelegenheit heller Augen und eines offenen Herzens des Mitleids und der Menschlichkeit. Denn selbst dieses «Haus der Gnade» läßt sich in gewissem Sinne noch magisch umschreiben. In der «westlichen» Handschriftenüberlieferung, wie die Textkritiker sagen, hat sich an dieser Stelle eine Einschaltung geltend gemacht. Das 219

«Haus der Gnade» wird damit begründet, daß in dem Teich manchmal das Wasser von einem Engel in Wallung gesetzt ward. Religionshistoriker werden angesichts solcher Erläuterungen bedächtig den Kopf wiegen und sagen: «Ein Priestertrick! Der übliche Zauber: die Wasserzufuhr wird zum Staunen der Menge reguliert, und dann ereignet sich, was man gerne wünscht und glaubt.» Dieser Text aber erklärt tatsächlich: Ein Engel kommt, wirbelt das Wasser auf, und dann kommt es darauf an, wer als erster zum Teich gelangt – nur der wird geheilt. Welch ein ambivalentes Bild von Gott! Auf der einen Seite ist dieser Gott gut, – dieser Aspekt kommt zum Ausdruck in dem Namen «Haus der Gnade», aber diese Gnade Gottes scheint kärglich bemessen, wie in einem Verknappungszustand befindlich, und das treibt die Menschen untereinander zu einer makabren Konkurrenz: wenn stets nur der erste das Heil dieses Engels erfährt, werden die schon immer Enttäuschten nur ein weiteres Mal um ihre Hoffnung betrogen. Ist das wirklich ein Haus der «Gnade», in dem Gott derart «sparsam» seine «Wunder» zugunsten eines Einzigen wirkt, nur um die Menge all der anderen leer ausgehen zu lassen? Das Problem ergibt sich aus der üblichen Bibelinterpretation bis heute: Gott gilt da für «allmächtig» im äußeren Sinne, das heißt, er kann tun, was er will; warum aber will er dann so wenig, nur in speziellen Fällen? Die Theologenantwort lautet, es stehe uns Menschen nicht zu, herausfinden zu wollen, warum Gott bei dem einen ein Wunder wirken wolle und bei dem anderen eben nicht, er werde schon seine Gründe haben, er, der Allmächtige und der Allweise, doch diese Gründe seien uns Menschen nun einmal nicht zugänglich. Stünde es so, würden Menschen im Grunde wieder nur aufgerichtet, um sie zur «Demut» abzurichten. Eine solche «Theologie» widerspricht sich selber ebenso wie dem Gott, den sie zu vermitteln sucht. Was literarkritisch an dieser Stelle als eine Einschaltung gelten muß, ist religionspsychologisch indessen zum Verständnis der Erzählung äußerst sprechend, wenn man es, statt sich in dogmatischen Aporien zu ergehen, mit psychologischen Mitteln zu verstehen sucht. Rund um den Teich, erzählt Johannes, liegen die Kranken: Blinde, Lahme, Ausgezehrte, und wir müssen uns seelisch in die Gefühlslage dieser Dreiergruppe, die hier alle Art von Krankheit vertreten soll, hineinversetzen, um zu begreifen, wie diese verschiedenen Leidensformen miteinander zusammenhängen. Gemeint ist im Grunde immer dasselbe zentrale Gefühl. Beginnen wir mit der Blindheit. Jeder wird ein solches Symptom schon einmal mehr oder minder ausgeprägt erlebt haben: Da geht am Morgen die Sonne auf, aber man mag sie nicht sehen; es ist dunkel vor den Augen, nicht optisch, son220

dern psychisch; in der Seele herrscht kein Licht, keine Erleuchtung, es gibt keine Perspektive, sondern man fühlt förmlich ein Verlangen nach Finsternis, Schatten und Nebel. Man will diese Welt nicht wirklich scharfumrandet wahrnehmen, grell beleuchtet und belichtet; man will sie vermeiden, denn sie scheint zu abstrus, zu unheimlich, zu gespenstisch, sie ist widerlich, – eine Zumutung, von der man am besten wegschaut, indem man die Augen schließt. Und von diesem Gefühl her versteht man auch schon das zweite Symptom: die Gelähmtheit. Sie wird erlebt als eine bleierne Müdigkeit: Man kommt buchstäblich nicht hoch. Es ist, wie wenn das Lastgewicht der Schwerkraft alles herunterdrücken würde und keine Muskelanspannung mehr dagegen etwas vermöchte; es ist, als würde man bis zum Erdmittelpunkt sinken, bis dahin, wo es tiefer nicht geht. Und wieder: man weiß nicht, wird man in den Abgrund hinabgesaugt oder läßt man sich da hineinfallen, Schicksal oder Wunsch werden wie willenlos fast ein und dasselbe. Und es gibt dagegen keine Kraft mehr, die wirksam werden könnte. Die Auszehrung schließlich drückt nur noch physiologisch aus, was seelisch so wohl vorbereitet ist. Man mag nicht mehr essen, man weigert den Appetit. Warum noch etwas in Gang halten, das ohnedies verloren ist? Mitunter erlebt man in der Psychiatrie Menschen, die physiologisch ganz gesund sind, aber umhergehen wie lebendig Tote, wie nur noch mühsam, gewissermaßen von außen her, dirigierte Skelette. Man spricht von Kachektikern und meint damit Menschen, die man künstlich ernähren muß, weil jeder natürliche Hunger ihnen auf den Lippen wie erstorben scheint. In allen drei Formen finden wir den Ausdruck einer einzigen Krankheit, die darin besteht, nicht mehr leben zu können, nicht mehr leben zu wollen, nicht leben zu dürfen, und das an jenem Ort, der da heißt das «Haus der Gnade»! Alles wartet auf eine Antwort; die Frage ist nur, wie und woher sie kommen soll. Grammatikalisch sind die Sätze im Johannes-Evangelium so einfach geformt, daß man sie jedem Anfänger in einer Griechisch-Übung in die Hand geben könnte; man ahnt nicht, mit welch verhaltenem Atem man bei dieser scheinbar so leicht lesbaren Prosa plötzliche Pausen setzen, Neueinsätze formieren und eigene Akzente formulieren muß. So bei der Frage jetzt nach einer möglichen Antwort auf all das Menschenleid. Sie steckt in einem kleinen Satz: Da sah ihn Jesus. Diese kurze Bemerkung enthält wirklich die Lösung. Mit welchen Augen muß Jesus in die Welt geschaut haben, daß er unter der – wie Johannes versichert – Menge von Kranken diesen einen sieht, ihn ansieht also, ihn ausersieht demnach! Wie «hellsichtig» 221

muß man das Leid von Menschen spüren, daß man den am meisten Bedürftigen am allerersten wahrnimmt! Alles, was wir später über Jesus hören werden, daß er der Sohn Gottes sei, eine Formel, die für Johannes christologisch eine zentrale Bedeutung besitzt, wird doch eingeleitet mit dieser wunderbaren menschlichen Fähigkeit, die wir dem Mann aus Nazaret auch historisch ganz und gar zutrauen dürfen und müssen. Wenn er in die Welt schaute, sah er Leidende, und auf sie ging er zu, wie telepathisch angezogen von der Sehnsucht und dem Bedürfnis der Not der anderen. Er sah – ganz einfach – ihn, wie er dalag. Auch das muß man hören, wie da ein Mensch an den Boden gedrückt ist, wie wenn er mit dem Staub verschmelzen wollte, als wäre er Erde längst vor seinem Tod. Dann erfahren wir, wie lange dieser Mann schon daliegt. Um so erstaunlicher ist jetzt die Frage, die Jesus an den Gelähmten richtet: Willst du geheilt werden? Ist das nicht müßig? Man sollte doch denken, unter so viel Not verstehe sich der Heilungswille dieses Kranken ganz von selber. Doch er versteht sich überhaupt nicht ganz von selber. Je länger vielmehr eine Krankheit dauert, desto mehr steht das eigene Ich unter dem Druck, sich mit ihr in irgendeiner Weise zu arrangieren und sie in das Konzept des eigenen Lebens einzubauen. Irgendwann spürt man, daß es keinen Sinn mehr macht, gegen die Krankheit zu protestieren, sie wegzuwünschen, sich selber dafür zu hassen; man muß lernen, mit ihr zu leben. Der lebendige Teil des Ichs tritt bei dieser Anpassungsleistung eine beträchtliche Stätte seiner selbst an die Krankheit ab. Und ist dies erst einmal geschehen, wird man beginnen, nicht nur in der Krankheit zu leben, sondern in gewissem Sinne auch aus der Krankheit, von der Krankheit. Sigmund Freud hat einmal den merkwürdigen Begriff Krankheitsgewinn geprägt. Er verwandte ihn gleich doppelt. Er meinte, unter bestimmten Umständen könne eine seelische Krankheit schon dadurch einen gewissen Vorteil besitzen, daß eine bestimmte Lebensaufgabe, ein bestimmtes Lebensproblem anders als um den Preis einer Erkrankung gar nicht zu lösen sei. Die Lehre von der Flucht in die Krankheit wurde von Freud formuliert, die, wenn man sie nicht richtig versteht, wie ein ständiger Vorwurf klingt. Es ist so leicht, einem anderen vorzuhalten: «Du bist selber schuld an deiner Krankheit, du läufst ja nur weg von der Anstrengung der Normalität, du bist halt ein Schwächling, du bist ein Eskapist auf dem Boden deiner eigenen Existenz.» Nie wollte Freud, daß man seine Erkenntnisse zu solchen Vorwürfen gebrauchte oder mißbrauchte. Was er beschreiben wollte, war einfach, daß das Ich sich manchmal in der Lage eines geschlagenen Heeres angesichts eines übermächtigen Gegners befindet; ihm bleibt 222

nichts weiter übrig als der Rückzug, als die Räumung ganzer Korridore seines eigenen Landes. Allein schon das Überleben unter so schwierigen Umständen kann man als primären Krankheitsgewinn bezeichnen. Aber wie jetzt? Man muß das verbleibende Areal natürlich in jeder Hinsicht überbeanspruchen: Man muß, bildlich gesprochen, aus der verminderten Fläche durch Intensivnutzung den doppelten und dreifachen Ertrag erzielen. Dann aber kann ein so reduziertes Leben auch voller Tricks sein. Es wird sich zeigen, daß in gewissem Sinne die Krankheit sogar einen Vorteil bietet, und den zu nutzen muß erlaubt sein. Für jeden, der in Not ist, sind zusätzliche Hilfsmaßnahmen nicht nur erwünscht, sondern mehr als gerechtfertigt. Es kommt zu einem sekundären Krankheitsgewinn. Freud, der wollte, daß Menschen gesund würden und sich nicht völlig in ihrer Krankheit einrichteten, zumindest dann nicht, wenn es nicht unbedingt sein muß, gebrauchte ein berühmt gewordenes, aber ein wenig zynisches Beispiel. Denken wir uns jemanden, der als Dachdecker gearbeitet hat, aber für seine Tätigkeit schlecht bezahlt wurde. Eines Tages fällt er vom Dach und bricht sich die Beine; und da entdeckt er, daß man als Bettler womöglich mehr Geld verdienen kann denn vordem als Arbeiter. Ein solcher Mann wird natürlich niemals mehr Grund haben, gesund zu werden1. Die Frage: Willst du gesund werden? ist daher absolut notwendig. Es muß geprüft werden, ob der andere überhaupt noch eine Möglichkeit besitzt, sich ein Leben vorzustellen, in dem er nicht mehr krank ist. Wieviel Spielraum verbleibt ihm, sich noch einmal über die Krankheit hinaus zu entwerfen? Wie viele Kräfte lassen sich mobilisieren, um den ehedem verlorenen Kampf noch einmal und jetzt mit verbesserter Einsicht und mit verstärkter Hilfe aufzunehmen? Welche Anknüpfungspunkte gibt es, das alte Leben, das wie zerbrochen scheint, zu reorganisieren und zu regenerieren? Wir könnten psychoanalytisch die Frage: Willst du gesund werden? als eine Art Behandlungsvertrag bezeichnen. Es muß geprüft werden, ob es wirklich Sinn macht, sich gemeinsam mit dem Kranken für ein Mehr an Hoffnung, für eine wiedererwachende Form von Glück und von Freude zu solidarisieren. Denn eines steht fest: es ist nicht möglich, seelisch jemanden zu heilen, der es von sich her nicht will noch wollen kann. Die Mitarbeit des Kranken ist das ein und alles, um therapeutisch voranzukommen. Was im Johannes-Evangelium wie eine simple Frage wirkt, das ist in Wirklichkeit mithin das Ergebnis bereits eines längeren Prozesses; das ist eine Einsicht, zu der wir fast immer gelangen, wenn wir die Wundergeschichten des Neuen Testamentes als einen Weg seelischer Heilung verstehen wollen. Die Antwort des Gelähmten wird in der Erzählung des Johan223

nes denn auch nicht einfach mit Ja oder Nein gegeben, sondern vielmehr mit einer ausufernden Umschreibung für seine Situation. Die Antwort auf die Frage, was jetzt möglich ist, was man überhaupt wollen kann, vermag sich nur aufzulösen in dem, was wir heute als Anamnese und Diagnose bezeichnen. Wir müssen als erstes sehen, wie der Zustand eines Kranken beschaffen ist und wie er zustande gekommen ist. Achtunddreißig Jahre, hören wir, hat dieser Mann in seiner Lähmung zugebracht, und nun erzählt er, wie’s ihm immer ergangen ist. Es gäbe für ihn eine einzige theoretische Hoffnung, in diesen Teich zu kommen: er wünscht, daß jemand zum rechten Zeitpunkt ihn packt und «schmisse» ihn ins Wasser (– so steht es wirklich im Griechischen da). Das würde ihm helfen, denkt er. Doch dann, resignierend, fügt er hinzu: Einen Menschen dazu finde ich nicht. Man kann sich im Raum seelischen Leids kaum etwas Bittereres vorstellen als diese einsame Klage nach einem Menschen, den es geben müßte, aber offenbar in fast vierzig Jahren nicht gegeben hat und für den Rest des Lebens nach aller Erfahrung auch niemals geben wird. Es ist trostlos, es ist die Überschrift der Danteschen Hölle: Ihr, die ihr hierher kommt, laßt alle Hoffnung fahren2. Es ist eine unmenschliche Welt, in der dieser Gelähmte sich befindet, und selbst der Schimmer des Göttlichen, das Licht des Allmächtigen, das diese kalte Erde beleuchtet, macht nur die Schatten länger und läßt den Blick auf die Verlorenheit nur noch düsterer werden; es wäre ja Heil nur zu erlangen, wäre man vor den anderen da! Dieses Stichwort bietet offenbar die ganze Erklärung für diese besondere Art von Gelähmtheit. Wenn wir uns eingangs überlegt haben, wie Gefühlszustände von Blindheit, Gelähmtheit, Ausgezehrtheit – Niedergedrücktheit in jeder Form – sich beschreiben ließen, so findet sich hier die Erklärung. Die Formel, unter der all das zu verstehen ist, lautet: Die anderen gehen vor, die anderen kommen mir zuvor. Die deutsche Formulierung dieser Stelle beschreibt die gesamte Einstellung dieses Mannes: die anderen gehen vor. So lautet das Pflichtprogramm für sehr viele Menschen. Es beschreibt, daß sie kein Recht auf eigene Wünsche haben; noch ehe sie irgend etwas wollen können, arbeitet in ihnen ein unsichtbarer, unhörbarer Gegenwille, der ihnen erklärt: «Du mußt an die anderen denken, die anderen sind wichtiger als du. Du mußt leben wie ein Bauer, der niemals sich an den Abendtisch setzen darf, er hätte zuvor nicht all sein Vieh gefüttert und den ganzen Hausstand versorgt (vgl. Lk 17,10!). Anders hast du kein Recht zu leben; erst wenn alle Pflichten abgeleistet sind, wenn alle Ansprüche erfüllt sind, darfst du an dich selber denken.» Die anderen gehen vor – das ist soviel wie die komplette Rechtlosigkeit unter den Augen der anderen, 224

das ist identisch damit, in ständiger Abhängigkeit gleich einem Sklaven leben zu müssen. Die anderen gehen vor – das kann, ein Stück tiefer, sich noch komplexer gestalten. Es muß ja nicht sein, daß einfach nur das, was die anderen wollen, was die anderen sagen, was die anderen brauchen, für wichtiger zu gelten hat als die persönlichen Wünsche und Bedürfnisse; es kann auch sein, daß jemand in gewissem Sinne aus Angst vor sich selber seine persönlichen Wünsche projektiv in die anderen hineinverlegt und das Eigene stellvertretend in den fremden Bedürfnissen sich zu erfüllen sucht. Die anderen zuerst – eine solche Devise weitet das geforderte Engagement naturgemäß alsbald auf die ganze Welt aus. Erst wenn die Gruppe, in der man lebt, wenn die eigene Firma, wenn das eigene Kloster, wenn die eigene Kirche, wenn die eigene Gesellschaft, wenn die Welt im ganzen in Ordnung gebracht wäre, besäße man ein Recht, selber den Mund aufzumachen und den anderen zu verkünden, was einem selber fehlt. Wieviel an sozialem Einsatz gestaltet sich gerade so: Man nimmt bei den anderen bevorzugt eben das wahr, was einem selber ermangelt. Doch das merkt man nicht. Die anderen müssen «vorgehen», damit sie, vorlaufend als Wegbereiter der eigenen Existenz, später dann die Rechtfertigung für das selbst erwünschte Glück bilden. Natürlich kommt man auf diese Weise niemals wirklich ans Ziel. Irgendwann bekommt man sogar ein Interesse daran, immer an zweiter oder an dritter Stelle zu stehen. Das ganze Welterleben wird resignativ und ressentimentbeladen getönt. Irgendwann wird man erleben, daß diese Welt, die man mit soviel gutem Willen betreten hat, sich zusammendrückt zu einer unentrinnbaren Falle. Da man selber es nicht schafft, die ganze Welt glücklich zu machen, da man also niemals die Erlaubnis erhält, selber glücklich zu werden, beginnt man irgendwann neidisch zu werden auf die anderen, die vermeintlich glücklicher sind, und dies seit langem schon. Sie stehen überall da, und immer sind sie früher als man selber. Es geht zu wie in dem Grimmschen Märchen vom Hasen und Igel: man rennt sich zu Tode, und immer, wenn man meint, endlich anzukommen, wird irgend jemand dastehen und sagen: «Ick bün all hier.»3 Und wieder rast man über die Felder bis zum nämlichen Ergebnis: Immer wenn man ankommt, besetzen schon andere die ersten Plätze, beanspruchen sie die Territorien – ein Verdrängungswettbewerb unendlicher Konkurrenz findet da statt und verschleißt am Ende den Rest aller Kräfte. Dabei verkehrt sich jetzt alles ins Gegenteil: Einsamkeit, Verlassenheit, Isolation von den anderen Menschen – das ist das Grundgefühl; gemeint aber war es ursprünglich anders. Indem man die anderen vorgehen ließ, wollte man 225

ihnen eigentlich näherkommen; doch statt daß der Abstand zusammengeschrumpft wäre, wächst er und wächst er. Es ist unglaublich viel, daß Jesus diesen Teufelskreis mit einem einzigen Wort zu durchbrechen sucht. Steh auf, sagt er, nimm deine Pritsche und geh umher. Dieses Steh auf! ist das Entscheidende. Doch man kann es vollkommen mißverstehen. Sagen könnte man: «Na klar, das haben wir uns gedacht! Psychisch Kranke muß man streng anfassen, man muß sie direktiv behandeln. Ein achtunddreißigjahrelanger Patient – da kann ja nur ein Machtwort helfen! Da dieser Mann keinen eigenen Mumm mehr hat, muß man ihm von außen Beine machen; ein klarer Befehl, eine strikte Anweisung – so geht’s. Also: Steh auf!» Es ist sehr wichtig zu begreifen, daß es genau so nicht geht. In Wahrheit spricht Jesus hier nur aus, was von innen reif ist. Man muß dieses Steh auf! sehr leise sprechen. Denn es bedeutet soviel wie: «Du darfst endlich auch an dich selber denken. Höre, es ist nicht wahr, daß immer die anderen zuerst drankommen und dir schon deshalb zuvorkommen müssen. Du hast ein Recht, auch einmal, zumindest im Umgang mit dir selber, dich ernst genug und wichtig zu nehmen. Es ist möglich, daß irgendwann einmal der erste Platz gerade für dich der richtige ist. Beim Abzählen darfst du auch einmal ohne Umwege an dich selber denken. Das macht dich nicht egoistisch, es richtet dich auf, es macht dich selbständig. Da stehst du selber auf und trittst in dein eigenes Leben.» Den Weg zur Heilung in dieser Weise zu beschreiben macht zugleich deutlich, daß man gewiß viel Zeit verbrauchen wird, um nach der ständigen Gewöhnung an die permanente Passivisierung aller eigenen Interessen ein neues Verhalten, eine neue Überzeugung zu begründen. «Ich darf mich einmal wichtig genug nehmen, als wäre ich jetzt der erste im Rang der Wichtigkeiten», das würde heißen: «Ich habe jetzt einmal eine Stunde Zeit für mich; ich darf heute nachmittag, heute abend, einmal irgend etwas tun, was mir Freude macht. Das schließt die anderen nicht notwendig aus, es stellt sie lediglich auf einen Platz, an dessen Seite ich selber wieder Luft holen darf.» In einer solchen Gesinnungsänderung liegt vor allem ein großer Freispruch von den alten Schuldgefühlen. Es muß fortan nicht mehr sein, zuerst alle fremden Aufgaben zu erfüllen, es ist möglich, relativ umweglos zu sich selber zu kommen. Die Projektionen der eigenen Wünsche können rückgängig gemacht werden, und man darf sich fragen, wieviel in der fremden Not sich eigentlich von der eigenen spiegelt. Es ist dies freilich gerade der Punkt, der den Moralisten in Gesellschaft und Kirche immer wieder suspekt erscheinen wird, droht er doch darauf hinauszulaufen, das so erwünschte soziale Engagement zu verringern, 226

droht er doch, den Einzelnen durchsetzungsfähiger zu machen. Der Einzelne soll plötzlich an sich selber denken dürfen! Definiert man so nicht die blanke Ichsucht? Das Paradox besteht darin, daß gerade in der Welt dieses Gelähmten unsere so gewohnte «Ellenbogengesellschaft», die Sphäre ständiger Konkurrenz, ein brutaler Verdrängungswettbewerb, bei dem nur die Fittesten siegreich sind, sich als feste Überzeugung etabliert hat. Drum ist zur Hilfe zweierlei nicht möglich: Es ist nicht möglich, diesen Leidenden «wettbewerbsfähiger» zu machen, es hilft aber auch nicht weiter, ihn in seinen Resignationen und Minderwertigkeitsgefühlen zu bestätigen. Worum es geht, besteht darin, die fremden Vergleichsmaßstäbe insgesamt aufzugeben und das eigene Ich wieder wahrzunehmen. Erst wenn das erlaubt und möglich wird, lassen sich auch die Folgeprobleme lösen. Die Kette der ständigen Frustrationen löst sich auf: man kann nicht die ganze Welt tragen; man muß nicht ständig doppelt unglücklich sein, indem man einerseits daran scheitert, alle Welt glücklich machen zu wollen, und andererseits doch nur das eigene Unglück zelebriert, sondern umgekehrt: Man darf sich sagen, daß man mit einem persönlich gelingenden Leben auch zu dem Gelingen des Lebens anderer beiträgt. Was ich mir gönne, ist für die anderen nicht vernutzt und vertan, sondern es geht durch mein Leben, durch mein Herz, durch meine Augen, durch meine Hände hindurch und erreicht auch sie. Es teilt sich mit und tauscht sich aus. Es ist überhaupt nicht wahr, daß, wenn ich wirklich lebe, nur alle anderen weggedrängt werden. Worauf es vielmehr ankommt, ist ein dritter Weg, auf dem es möglich wird, dieses Leben in ständiger Konkurrenz zu verlassen. Und das nun ist das Wichtigste: Dieser achtunddreißig Jahre lang Gelähmte wird lernen müssen, sein eigenes Ich akzeptabel zu finden, so wie es ist. Konkurrenz, das heißt: man muß ständig schauen, wie die anderen sind; denn ob in Angst oder in realer Wahrnehmung, immer erscheinen sie irgendwie besser, oder sie könnten doch besser werden, oder sie drohen schon besser zu sein, und dagegen kommt man auf die Dauer nicht an. Lenkt man indessen den Blick von den anderen weg, fragt man sich: wer bin ich selbst? und lernt dafür ein Empfinden der Dankbarkeit, der inneren Berechtigung, der Selbstbestätigung zu finden, so hat dieser ständige Spießrutenlauf zu jenem phantastischen «Haus der Gnade» ein Ende. Es ist durchaus nicht mehr nötig, auf fremde Hilfe zu warten, wenn man erst einmal beginnt, sich auf sich selbst zu besinnen. Nach achtunddreißig Jahren der völligen Lähmung erfordert eine solche Umstellung der gesamten Lebenseinstellung zweifellos ein langsames Training. Das Erstaunliche ist, daß in der johanneischen Erzählung mit einem 227

einzigen Satz Jesu sich alles wunderbar auflöst. Im Alltag wird man hingegen über lange Zeit tagaus, tagein so etwas lernen müssen wie eine neue Buchführung: Ständig bisher wurden sozusagen die Ausgaben für andere wie Einnahmen für sich selber gebucht. Man hatte gelernt, zufrieden mit sich erst zu sein, wenn man möglichst nützlich für die anderen war; jetzt soll man ehrlich Soll und Haben im Umgang mit sich selbst bilanzieren. Was ist, real gesprochen, bloßer Energieverschleiß, wo bietet sich ein Reservoir möglicher Erholung, wo gibt es Räume, um sich selber wieder einzuholen? Lernt jemand es erst einmal, ein eigenes Ich haben zu dürfen, so wird es möglich, aus dem Konkurrenzraum der anderen mit einem größeren Selbstbewußtsein herauszutreten, und das bedeutet zugleich, sein eigenes Maß zu finden. Was kann ich und was möchte ich? das wird der Maßstab für das, was möglich und vielleicht sogar notwendig ist. Über dieses Maß hinaus kann es keine Ansprüche geben, ja, man darf es sich sogar sagen, daß man das Wenige, das man auf diese Weise zu sammeln lernt, nicht sofort wieder reinvestieren muß für andere. Man darf Glück auch ein wenig anhäufen; denn einzig im Glück gibt es keine Konkurrenz; Glück teilt sich freiwillig mit, so wie die Schönheit der Blumen, so wie der Duft der Rosen, so wie die Strahlen der Sonne, so wie das Schimmern des Wassers, so wie das Wehen des Windes. Da gibt es keine Konkurrenz und keinen Neid mehr, nur eine Einladung zu gemeinsamer Freude. Alles geht zu wie nach jenem Dichterwort: «Es möge jeder doch des eignen Glückes warten. / Wenn sich die Rose schmückt, so schmückt sie auch den Garten.» In unserer Geschichte geschieht das Wunderbare wirklich: Der Gelähmte nimmt seine Pritsche und geht umher. An dieser Stelle hat die Erzählung der Wunderquelle einmal geendet. Nun aber macht der Vierte Evangelist sich seine eigenen Gedanken über das, was er da eigentlich überliefert bekommen hat und was er selber erzählt hat. «Ist’s denn», fragt er sich, «damit geschehen, daß hier ein Mensch geheilt wurde? Hat das nicht auch Auswirkungen auf die Art, wie man von Gott denkt, wie man Religion versteht?» Diese Frage ist höchst aktuell. Immer noch haben wir eine Theologie vor uns, die Religion und Psychotherapie streng von einander trennt. Genau das Gegenteil indessen erzählt uns an dieser Stelle das Johannes-Evangelium. Wer begreift, wie ein Mensch selber zu leben lernt, der lernt zugleich die Welt neu verstehen, nicht nur sich selber, auch Gott. Johannes jedenfalls diskutiert in einem Zusatztraktat das Verhältnis von Religion und Therapie an einem für ihn typischen Thema: Es war aber Sabbat. 228

Die Sabbatfrage war einer der Punkte, an dem die frühe Kirche Grund hatte, sich vom orthodoxen Judentum zu trennen, doch geschah das an sich auf der denkbar oberflächlichsten Ebene: Die Juden feiern ihren heiligen Tag am Samstag, die Christen mittlerweile am Sonntag – über solche Ritualfragen kann man erneut trefflich streiten. Auch die Muslime können ihren Beitrag dazu liefern, denn deren heiliger Tag ist der Freitag. Damit ist die Konkurrenz der Religionen um den «richtigen» Tag der Gottesverehrung schon mal über die halbe Woche verteilt. Doch was Johannes sagen will, geht in eine andere Richtung. Für ihn sind die «Juden» zu einem Sinnbild starrer Gesetzesfrömmigkeit geworden. Der mögliche Antijudaismus, der darin liegt, läßt sich nur überwinden, wenn man die damit verbundene Problemstellung nicht historisch, sondern symbolisch beziehungsweise typologisch aufgreift. Dann hat man es mit einer überzeitlich gültigen Frage zu tun: Wie läßt Religion sich so verstehen, daß sie der Heilung von Menschen hilfreich ist, oder umgekehrt: wie läßt eine Religionsform sich überwinden, die selber zwanghaft und neurotisierend auf Menschen einwirkt? Der Überprüfungsfall sei der Sabbat. An diesem Tage darf man bei strenger Gesetzesauslegung nichts bewegen, nichts tun, alles muß stillstehen. Daraus folgt, daß gerade die «Frommen» dem Geheilten erklären: Es ist dir nicht frei, deine Pritsche zu nehmen und umherzugehen; Gott verbietet es! Plötzlich entdeckt man mit den Augen des Johannes, daß es im Schatten von all dem, was wir psychologisch soeben entwickelt haben, einen religiösen Grund für die Gelähmtheit geben kann: Es ist möglich, Gott wie einen befehlgebenden Dämon wahrzunehmen und zu lehren, bis daß aus der Gottesbeziehung nichts weiter wird als ein Zwangsverhältnis voller Angst und Schuldgefühl. Da ist ein fremder, unverständlicher Befehl, der festlegt, daß selbst das Gesundwerden eines Menschen im Namen Gottes nur pünktlich, nur uhrzeitgerecht zu geschehen hat und daß des Menschen Freiheit nichts weiter darstellt als eine widergöttliche Anmaßung. Plötzlich wird deutlich, daß die Gelähmtheit eines Menschen durch eine zwangsneurotische Form des Religiösen bedingt sein kann. Eine solche Religion, die Menschen nicht aufrichtet und ermutigt, sondern sie niederdrückt und fesselt, eine solche Angstreligion kennt man quer durch die Jahrtausende zur Genüge. Um einen solchen Gelähmten zu heilen, muß Jesus ihn offenbar befreien von diesem widergöttlichen Typ von Religiosität, innerhalb dessen der tradierte Anspruch auf Gott identisch geworden ist mit der Knechtung von Menschen, mit der Vergewaltigung der Persönlichkeit. Im Namen einer solchen Religion will man nicht Menschen, die sich frei bewegen, – man will es am Sabbat nicht, und man will es über229

haupt nicht. Aber selbst wenn die Menschen es wenigstens außerhalb des Sabbats täten, blieben sie gleichwohl dieselben Marionetten; sie erschienen dann zwar äußerlich frei, aber nur weil man ihnen erlaubt hätte, daß sie an Nicht-Sabbat-Tagen sich bewegen dürften; Menschen indessen, die darauf warten, daß man ihnen erlaubt, wann sie frei sind, sind absolut unfrei, allenfalls daß sich ihr Spielraum per Erlaubnis ein Stück erweitert. Im Grunde bleiben sie dieselben Kettenhunde, auch wenn man ihre Leine um ein paar Zentimeter verlängert an den Pfahl gebunden hält; je mehr sie im Kreise um den Pflock herumlaufen, wird ihre Kette ohnedies wieder enger, – Hunde sind zu dumm, zu merken, daß ihre eigenen Bewegungen zur Fesselung führen müssen. Jeder Affe würde merken, daß die Kette, wenn er zwanzigmal um einen Baum springt, sich verkürzt und ihm die Luft ausgeht, ein Hund eben nicht; er ist nicht klug genug, um frei zu sein. In diesem Sinne ist jederzeit eine Religion möglich, die die Menschen kujoniert und sie zu Hunden macht, indem sie ihnen das Denken austreibt. Wenn «Denken» unter Dogmenzwang nur noch soviel bedeutet, daß wir hören, was man über Gott zu denken hat, dann ist es passiert. Dann gibt es keine Freiheit, keine Selbständigkeit, kein eigenes Urteil. – Sabbat ist, und: es ist dir nicht erlaubt! So steht es! Gegen diese Art von Zwangsneurose in der Religion gibt es zunächst einmal wirklich wohl nur den Schritt, den der eben Geheilte in der johanneischen Ausdeutung tut. Er kann nicht sagen: «Macht, was ihr wollt! Ich bin ein Mensch; das habe ich gerade gelernt, und jetzt gehe ich weiter, über euch hinaus oder über euch hinweg, wie ihr wollt; – nur: mir geht ihr jetzt aus dem Weg!» Überhaupt nicht kann er so sprechen. Das einzige, was er tun kann, besteht darin, den vermeintlichen Gotteswillen zu konterkarieren durch eine andere, menschlichere Macht, die er soeben gefunden hat in dem Manne, der zu ihm sagte: Nimm deine Pritsche und geh umher. Bei jeder Behandlung einer Zwangsneurose wird man eine solche Phase gegenläufiger Autoritätsbildung kaum vermeiden können. Vor allem die unheimliche Angst, durch den Gebrauch der eigenen Freiheit schuldig zu werden, wird sich kaum anders beruhigen lassen, als indem jemand eine Weile lang eine Art Bürgschaft übernimmt und erklärt: «Laß deinen Schuldschein ablaufen, wie er will, – ich übernehme ihn. Wenn du dich derart schuldig fühlst, daß du glaubst, der liebe Gott stoße dich in die Hölle, so schreib all deine Schulden für den Jüngsten Tag auf mein Konto; ich werde vor Gott für dich einstehen. Jetzt aber lebe du, ob Sabbat ist oder nicht. Bewege du deine Füße, bewege du dich in deinem Leben, und alle Schuldgefühle, die sich dabei ergeben, buche auf das Leihkonto meiner 230

Existenz. Wenn sie dich fragen, warum du so tust, sage, ich hätte dir so gesagt!» Psychologisch läßt sich das Thema sogar noch vertiefen. Religionspsychologisch müßte man sagen, daß hier ein bestimmtes Vaterbild, das zur Gottesvorstellung überhöht wurde, widerlegt werden muß, indem ein anderer in die Rolle der Vaterautorität eintritt. Da muß ein anderer Mensch mit seiner Person die alte Gottesabhängigkeit gegenbesetzen, auf daß sich am Ende Gott wiederfinden läßt als ein wirklicher «Vater», wie Jesus sagen wird, nicht mehr als ein schrecklicher Patriarch voller Willkür, sondern als jemand, der möchte, daß ein Mensch lebt. Und jetzt muß man Johannes sehr genau zuhören. Diese vermittelnde Instanz zwischen den Menschen, die Gott zu fürchten gelernt haben, und dem Gott, den sie wiederfinden sollen als nur bejahend, als nur bestätigend, ist der Mann aus Nazaret, ist Jesus. Das Erstaunliche an diesem Text ist die Tatsache, daß es bei dem Vorgang der Heilung offenbar nicht darauf ankommt, sich von der Person Jesu ein geradewegs phantastisches, metaphysisches oder dogmatisches Bild zu machen. Wohl, alle christliche Erziehung sagt uns, das Erste und Wichtigste, die Grundlage von allem, sei es, Jesus in seiner Göttlichkeit zu erkennen; wer das nicht lerne, komme niemals zu Gott. Diese Geschichte indessen denkt ganz anders: Wer Jesus ist, scheint zunächst völlig nebensächlich zu sein; nicht einmal sein Name ist dem Geheilten bekannt. Einzig das, was von diesem Mann ausging und was dem Gelähmten auf die Beine geholfen hat, bildet den Erfahrungsraum, aus dem alles weitere sich ergibt. Und umgekehrt darf man schließen: Wo eine solche Erfahrung nicht gemacht wird, mag man von Jesus reden, soviel man will, es wird ins Leere gehen, es wird genau so falsch sein wie alles Reden von Gott zuvor. Dann allerdings bleibt es dabei: ein nächster Schritt muß darin liegen, daß man nicht mehr einer fremden Autorität, auch nicht einer wohlmeinenden, menschenfreundlichen, das eigene Ich bejahenden, Folge leistet, sondern daß man das, was sie zu sagen hat, in gewisser Weise sich selber sagt. Alles Fremde muß verinnerlicht werden zum Eigenen, und zwar jetzt so, daß man darin zu sich selbst aufwachsen kann. Dieser Schritt läßt sich wiederum nicht durch Beschluß herbeiführen. Es ist in diesem Text sehr fein ausgedrückt, daß Jesus selber den ehedem Gelähmten wiederfindet, nachdem er sich eine Zeitlang aus dessen Gesichtsfeld herausbewegt hatte, vom Platz der Menge weg. Mit anderen Worten: Die Autorität, die einmal unmittelbar gegenwärtig und in ihrer Nähe notwendig war, hat sich entfernt; nun aber kommt sie innerlich zurück, um einen letzten Freispruch zu 231

erteilen: Es war vollkommen richtig, sein Leben in die Hand zu nehmen und die Bahre, auf der man lag, selber als Traginstrument der eigenen Existenz anzuheben. Was dann beginnt, ist eine Auseinandersetzung im Prinzip. Sie endet an dieser Stelle vorerst ebenso schroff und abrupt wie am Anfang. Da machen die «Juden», erklärt Johannes, Jagd auf Jesus. So muß es wohl sein. Denn sobald man die verinnerlichte Gewalt, das Zwangssystem der Angst eines bestimmten Typs der Religionspsychologie, vermenschlichen möchte, wird man selber zum Haßobjekt dieser Art von Frömmigkeit. In einer Religion, in der Gott zum Feind des Menschen geworden ist, wird als Gottes Feind betrachtet werden müssen, wer für die Menschen Partei ergreift. Er gilt dann als ein Gottloser, eben als ein Ungläubiger; er ist nicht im tradierten Sinne mehr orthodox; und deshalb hat man jedes Recht, ihn in die Enge zu treiben, ihn zu hetzen, ihn fertigzumachen. Denn der Gedanke auch nur, da wäre eine Menschlichkeit, die sich aus tieferem Vertrauen zu Gott als dem Vater formt, kann den «Gottesbesitzern» (den «Juden») nimmermehr kommen. Sie sind im Recht, sie haben recht, und sie werden töten müssen, um im Recht zu bleiben. Und selbst die Gräßlichkeit ihrer Hinrichtungen wird in ihren Augen kein Argument ihrer Widerlegung sein, nur ein Moment ihres Triumphes; sie wird ihre Selbstsicherheit nur noch vermehren. Was Jesus dagegensetzt, ist eine Neuinterpretation des Sabbatgebotes und damit der gesamten Religion. Gott wirkt, sagt er – und man muß hinzufügen: auch am Sabbat. Es ist nicht möglich, Gott als einen Pensionär, als einen Ruheständler oder als eine Schlafmütze zu denken, die sich gewissermaßen an der Schöpfung der Welt überhoben hat und nun erst einmal für 24 Stunden die Augen schließen muß, so daß in dieser Zeit auch die Menschen wie in hypnotischer Starre liegen oder wie Lemuren nur ganz langsam sich bewegen müßten. Gott wirkt. Er ist die einzige Wirklichkeit, kann man auch sagen. Ein wahrer Sabbat müßte deshalb ein Freiraum der Menschen statt ihre Strafzeit auf der Reservebank sein. Gott wirkt, das bedeutet: Gott würde nie einen Menschen nutzlos und sinnlos auch nur eine Stunde lang länger leiden lassen, als es unvermeidbar ist. Wo irgend man Menschen helfen kann, da sollte man’s unverzüglich tun. Das ist die Wirkung, die von Gott ausgeht. So ist, sagt Jesus, mein Vater. Natürlich, wer die Bibel mit dogmatischem Anspruch liest, der wird an Stellen wie diesen wesentlich die Formel einer metaphysischen Christologie heraushören: Jesus ist der Sohn Gottes, und gerade so verstehen es hier die «Juden». Sie werden durch ein solches Bekenntnis noch haßerfüllter, sie werden ihren Zorn gegen einen Jesus, der Gott in christlich-dogmatischem 232

Sinn seinen Vater nennt, sich selber mit ihm identifizierend, nur noch begründeter finden. Es ist nicht zu leugnen: das Johannes-Evangelium möchte in griechisch gedachtem Seinsdenken Gott und Jesus als seinen Sohn ontologisch ineins betrachten, so wie später der Kirchenlehrer Athanasius gleichnishaft in seiner «Christologie» den Strahlenglanz der Sonne mit der Sonne selber identifizieren wird. Doch an dieser Stelle sieht man deutlich den Übergang: Es geht (noch) nicht eigentlich um eine Identität des Seins, es geht existentiell um die Weise eines Vorbilds, das sich auswirkt. «Gott wirkt als mein Vater» heißt: «Ich setze alles Vertrauen darin, daß Gott nur gut ist. Und das ist meine Ermächtigung, zu allen Menschen gut zu sein und nicht länger zu fragen, wann das sein darf und ob das denn sein soll. Die Not der Menschen ist allgegenwärtig. Die Freiheit der Menschen muß und darf genau so allgegenwärtig sein. Sie ist das, was Gott zu jeder Zeit möchte. Und wer einem Menschen dabei zur Seite steht, der in Wahrheit steht Gott zur Seite.» Mein Vater – das beschreibt ein neues Verhältnis, nicht mehr der Angst, sondern einer kindlichen Offenheit, eines Aufblickens zu Gott mit Stolz und mit Würde. Ja, Jesus «identifiziert» sich an dieser Stelle mit Gott, aber er tut es in seinem Handeln; er beansprucht bei Johannes nicht göttliche Prärogative. So wie Gott ist, müßten auch wir Menschen werden. Im Matthäus-Evangelium ist dies ein ganz kostbares Wort einmal in der Bergpredigt gewesen: Seid darum vollkommen wie euer Vater im Himmel vollkommen ist (Mt 5,48). Lukas gibt das wieder mit den Worten: Seid barmherzig wie euer Vater barmherzig ist (Lk 6,36). Solche Worte sprach der historische Jesus wirklich, darin rückte er Gott näher oft als den Menschen, die an einem so grausamen Gott sich festmachen mußten oder gar mochten. Dann bleibt, wie zum Abschied, hier noch das Wort an den ehedem Gelähmten übrig. Da! Du bist gesund geworden. Sündige nicht mehr. Das ist eine Formel, die Jesus später noch, im 8. Kapitel des Johannes-Evangeliums, der Sünderin sagen wird (Joh 8,11). Sie setzt, wie in Mk 2,1-12, einen Zusammenhang von «Lähmung» und «Sünde» voraus, doch geht sie das Problem umgekehrt an: während in der Gelähmtenheilung bei Markus die Vergebung der Sünden (im Plural!) allererst die Kraft zu einem eigenen Umhergehen schenkt, taucht das Nicht-mehr-Sündigen erst in der johanneischen Reflexion auf. Man kann daraus erneut hören, es gehe wieder um Gebote, um Gesetze und deren Übertretung, es gehe um Sünde in diesem äußeren Sinn. Nach allem aber, was wir gehört haben, verstehen wir das Wort tiefer: Sünde, das bedeutet in johanneischem Kontext, die neu gewonnene vertrauensvolle Beziehung zu Gott nicht wirklich zu lernen, son233

dern weiter im Feld der Entfremdung zu verbleiben, ohnmächtig, ausgeliefert, den anderen preisgegeben inmitten einer gnadenlosen Welt. Sünde in diesem Sinne gibt es für Johannes (ganz wie für Paulus!) eigentlich nur in der Einzahl; sie ist eine in sich geschlossene Macht, ein Zustand der Verlorenheit im Gefühl einer abgründigen Nicht-Akzeptiertheit. Niemand kann diese «Sünde» wollen. Um bestimmte Gebote geht es dabei gar nicht, wohl aber um eine Grundentscheidung: Wollte jemand immer noch die alte Angst setzen gegen dieses neu sich ermöglichende Vertrauen, dann allerdings würde alles in seinem Leben immer nur noch schlimmer. Selbst die Gelähmtheit bildete dann nur den Anfang einer noch tieferen, endlosen Traurigkeit. So entläßt diese Erzählung uns mit einer Wahl, die in Wahrheit gar keine ist. Wer erlebt, wie Jesus Menschen anzuschauen vermag, wer vernimmt, wie er mit Menschen zu reden imstande ist, der begreift, wie der eigene Wille sich von neuem zu regen beginnt, wie die gelähmt erscheinenden Glieder von innen her wieder lebendig werden. Und selbst wenn jeder Schritt uns zunächst weh tut, – es ist, wie wenn man mit einem eingeschlafenen Bein aufsteht: es sticht wie mit Nadeln, und doch ist es ein reines Glück und eine reine Freude, diesen Schmerz zu spüren, denn man weiß: er wird vergehen; danach aber liegt vor unseren Füßen eine offene Welt, Gottes Welt, so wie er sie für uns gemacht hat; und seine Hand ist es, welche die unsere nimmt und uns führt. Eine solche schützende Hand ist das, was Jesus war und sein wollte; dadurch wurde er wirklich zum «Lichtglanz der Sonne», zum «Sohn» Gottes.

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Joh 5,19-30: Auferstehung zum Leben 19Da

antwortete Jesus und sagte ihnen: Bei Gott, ja, bei Gott, ich sage euch: Nicht kann der Sohn wirken – von sich aus nichts! – außer er schaut auf den Vater, was der tut (3,11.32). Denn was (immer), – wenn er es tut, tut es gleichermaßen auch der Sohn. 20Denn der Vater ist dem Sohn Freund (3,35); und so: alles zeigt er ihm, was er selbst tut. Ja, noch größere als diese wird er ihm zeigen – Werke, daß ihr euch wundert! 21Wie nämlich der Vater die Toten erweckt und lebendig macht, so auch der Sohn: die er will, macht er lebendig. 22Denn nicht der Vater hält das Gericht, über niemanden (Dan 7,10.13.14), sondern alles Gericht hat er dem Sohn gegeben (Apg 10,42), 23daß alle ehren den Sohn, wie sie ehren den Vater (Phil 2,10.11). Wer den Sohn nicht ehrt, nicht ehrt der den Vater, der ihn gesandt hat (Lk 10,16; 1 Joh 2,23). 24Bei Gott, ja, bei Gott, ich sage euch: Wer mein Wort hört und glaubt dem, der mich ausgesandt, hat unendliches Leben; ins Gericht kommt er nicht, sondern hinübergeschritten ist er vom Tod ins Leben (3,16.18). 25Bei Gott, ja, bei Gott, ich sage euch: Es kommt die Stunde und jetzt ist sie (4,23!), da die Toten hören werden die Stimme des Gottessohns, und zum Hören gekommen, werden sie leben (Eph 2,5.6). 26Wie nämlich der Vater Leben in sich selbst hat, so hat er auch dem Sohn gegeben, Leben in sich selber zu haben (1,1-4). 27Auch Vollmacht hat er ihm gegeben, Gericht zu halten, weil er (der) Menschensohn ist (Dan 7,10.13.14). 28Nicht wundert euch darüber; denn es kommt eine Stunde, in der all die Gräberbewohner hören werden auf seine Stimme, und 29herauskommen werden sie: die Gutes getan, zur Auferstehung des Lebens, die aber Schlechtes verübt, zur Auferstehung des Gerichts (Dan 12,2; Mt 25,46; 2 Kor 5,16). 30Nicht kann ich wirken von mir aus – nichts! Wie ich höre, so richte ich, und drum: das Gericht, meins, ist gerecht; denn nicht suche ich meinen eigenen Willen, sondern den Willen dessen, der mich gesandt hat (6,38).

Das 5. Kapitel des Johannes-Evangeliums bietet eine eigenartige Meditation. Was eigentlich ist passiert, als Jesus einen Gelähmten nach 38 Jahren der Bewegungsunfähigkeit am Teich von Betesda in Jerusalem auf ein Wort hin dazu brachte, seine Bahre zu nehmen und nach Hause zu gehen? Das geschah am Sabbat, und augenblicklich richteten sich dagegen die Mahnreden und Verurteilungen der «Juden»: So etwas darf man nicht tun gegen die Ordnung, die Mose gesetzt hat! Der Geheilte indessen hat für 235

sein Gebaren keine andere Erklärung, als auf einen Mann hinzuweisen, den er nicht kennt, der ihm aber gesagt hat: Nimm deine Pritsche! Das war der Anfang seiner Gesundung. Die «Juden» stellen Jesus zur Rede; der aber hat für sein Tun keine andere Erklärung noch Entschuldigung, als daß, wenn Gott wirkt, auch er wirken muß und darf. Sein Werk ist die Freiheit der Menschen. Kaum gesagt, eskaliert die ganze Szene, wie Johannes sie darstellt. Jesus identifiziert sich mit Gott, – er lästert Gott! Das ist der Einstieg für jene Gedanken, die der johanneische Jesus nun äußert. Mit den Texten des Johannes-Evangeliums verhält es sich vergleichbar so wie in der modernen Rembrandt-Forschung mit den Gemälden eines der größten Malergenies des Abendlandes. Die Kunstgeschichtler fragen sich, ob die Bilder des niederländischen Meisters immer schon in diesem charakteristischen Dunkel gemalt worden sind oder ob sie später, im Verlauf der Jahrhunderte, ihre Helligkeit verändert haben, wie wenn sie eine Patina an Dunkelheit auf sich gezogen hätten. Bei den Bildern von Rembrandt ist diese Frage offen; bei den Texten des Johannes-Evangeliums ist sie eindeutig beantwortet: Alles, was der Vierte Evangelist schreibt, ist eine Art Ikonenmalerei in Worten. Hellglänzend, auf Goldgrund, wie in den Kirchen des Ostens, sollen die Bild-Texte dieses Evangeliums leuchten. Sie ruhen in sich selbst, sie möchten ein Zeichen der Ewigkeit mitten in die Zeitlichkeit hineinstellen. Sie möchten den Himmel auf die Erde holen, indem sie die Person des Mannes aus Nazaret zeitenthoben, für immer gültig, zu beschreiben unternehmen. Doch gerade weil dieser Anspruch das ganze Johannes-Evangelium durchzieht, hat es tatsächlich das Schicksal einer Ikone erlitten. Hunderte von rußig flackernden Kerzen sind von zitternden, suchenden Händen andächtig davor aufgestellt worden, und der Ruß und der Staub der Jahrhunderte hat sich dunkel darübergelegt. Alles, was wir in dieser Lehrrede hören, kommt uns überaus vertraut vor und ist doch merkwürdig fremd, fast unverständlich geworden. Allein die Ausdrucksweise schon, in der die Auseinandersetzung zwischen Jesus und den «Juden» geführt wird, zeugt von diesem schroffen und schmerzlichen Schnitt, der zwischen dem «Messias» aus Israel und dem Volk Israel von einem der Evangelisten gezogen wird. Dieser sein Jesus gehört nicht mehr seinem Volk an, sondern einer Gemeinschaft von Glaubenden, die aus Israel ausgewandert ist und die rückblickend den Ton des Vorwurfs, ja, sogar des Fluchs über die Vergangenheit breitet. Bereits diese Situation ist für uns Heutige schwer erträglich, ja, eine Zumutung, zumindest eine Aufgabe theologischer Selbstkorrektur. Nun aber hat die kirchliche Lehrtradition die Sprache des Johannes wie einen Steinbruch für fertig zu meißelnde 236

Dogmen gebraucht und mißbraucht. Jesus spricht an dieser Stelle von sich als dem Sohn Gottes. Allein das schon ist zu dem kostbarsten Ausspruch der gesamten christlichen Glaubenslehre geworden; und hier findet sich die Beglaubigung, das Zeugnis eines Evangelisten: Jesus ist der Gottessohn; er ist der Herr des Gerichtes, Herr also über Lebende und Tote. Er trägt in sich göttliche Macht, aufzuerwecken zu ewigem Sein. – All das steht den Worten nach in diesen Texten und ist doch in dogmatischer Verwendung falsch gedacht, weil es in Aussagen des Seins verwandelt, was von den johanneischen Worten selber her sich einzig in einer Form der Beziehung mitteilen läßt. Der Unterschied ist deutlich. Man stelle sich einen schlechten Biographen, Journalisten oder Schreiber vor, der sich zum Ziel gesetzt hat, eine bestimmte Person darzustellen. Er recherchiert, er informiert sich, er kompiliert, er setzt am Ende etwas zusammen, das einer äußeren Beschreibung der geschilderten Person ähnelt. Alles, was er erzählt, tritt mit dem Anspruch auf, objektiv, richtig also, realitätsbezogen, faktengesichert, wiederzugeben, wer oder was der Betreffende ist. Eine solche Darstellung liefe Gefahr, alles zu wissen und buchstäblich nichts zu verstehen. – Man denke sich umgekehrt einen guten Biographen, einen wirklichen Schriftsteller, einen Mann, der die Gabe besitzt, sich in das Portrait dessen, den er schildern will, hineinzudenken. Dann wird er nicht sagen, was für eine Person jener «ist», den er charakterisieren möchte; er wird vielmehr mitteilen, was seine Gedanken waren, mit anderen Worten: worum es ihm wesentlich ging, was er wirklich wollte, worauf er sich entschieden und entscheidend bezog. Das «Sein» der betrachteten Person, recht verstanden, stammt aus diesem Verhältnis der inneren Einstellung, und das wird er abzubilden versuchen. Welche Gedanken nahm die zu schildernde Person wesentlich ernst? Mit welchen Menschen ging sie wesentlich um? In welchen Zusammenhängen und aus welchen Gründen existierte sie? Es ist klar, daß diese zweite Form von Biographie die des JohannesEvangeliums bildet. Dieses Evangelium «vergißt» jedes Wort, das Jesus historisch einmal gesprochen hat; es will nicht wissen, welche Taten Jesus in Wirklichkeit zuzuschreiben sind. Ein paar Anhaltspunkte sind ihm vollkommen genug, – jene «Wunderquelle» zum Beispiel, die, in sich schon legendär genug, von sechs besonderen «Werken» des Jesus aus Nazaret berichtet; fast jede dieser «Taten» gibt das entscheidende Stichwort für den Vierten Evangelisten, um lange Lehrreden, um christliche «Midrasche» der vorliegenden Überlieferung hinzuzufügen. Alles ist da in eine quasi mystische Vision getaucht. Wenn du den Mann aus Nazaret verstehen willst, 237

legt das Johannes-Evangelium sich selbst und den Lesern als Grundvoraussetzung nahe, dann darfst du nicht fragen, wer er war und was er gemacht hat, dann mußt du selbst mit deiner Existenz dich an den Ort begeben, der für ihn entscheidend war. Diesen entscheidenden Punkt nannte er Gott; und nun ist es die Frage, wie er davon sprach und wie er sich selber sah. Da wird bei Johannes das Wort von Jesus als dem Sohn Gottes gesprochen, und er stellt eine Gleichsetzung auf: Wie der Vater wirkt, so wirkt der Sohn; das ist eine Identität, aber sie ergibt sich aus der Dichte einer Beziehung, sie wird erläutert aus dem Umraum der Liebe; einzig so, meint Johannes, wird man das Rätsel des Nazareners begreifen können. Was ihn trug, war das Vertrauen in eine Liebe, die ihn einhüllte und die ihn bestimmte, so zu werden, wie er sein Vorbild sah. Denn der Vater ist dem Sohne Freund; und so: alles zeigt er ihm, was er selbst tut; drum: wie nämlich der Vater die Toten erweckt und lebendig macht, so auch der Sohn. Alles Leben in diesen Schlüsselworten ist getragen von Gabe und Aufgabe. Fragen wir uns also, wie wir unser eigenes Leben so wahrnehmen können, daß es von diesen Begriffen wesentlich erfüllt ist, so hören wir in der Sprache des Johannes-Evangeliums bereits heraus, wie in den Fluchtlinien dieser Worte alles zusammenlaufen wird in dem Satz aus den sogenannten Abschiedsreden: Wie mich der Vater gesandt hat in die Welt, so sende ich euch in die Welt (Joh 17,18). Alles soll sich fortsetzen durch uns, die wir uns verstehen von Jesus her, so wie dieser sich verstand von Gott her. Im Mittelpunkt von allem steht da der Gedanke der Sendung selber. Wir sind auf diese Vorstellung bereits anläßlich des Themas der Berufung gestoßen (vgl. Joh 1,35-42): Kein Mensch kann leben, ohne daß er spürt, wozu er berufen oder gerufen ist. Jeder von uns fühlt diesen Punkt in sich, in dem konzentriert ist, was er tun soll, was er werden soll, – etwas, das nur in ihm sich realisieren kann. Darauf zu schauen, daraus zu existieren ist das ganze Leben. Man wird es aber nur finden, wenn man sein Leben selber wie etwas Gnadenhaftes, wie etwas Unverdientes, wie ein unglaubliches Geschenk entdeckt, und dazu gehört das Grundgefühl, von einer Liebe getragen zu sein, die alles im Leben begründet, obwohl sie selber ohne Grund ist, die alles erklärt und klarmacht, obwohl sie selber nicht zu erklären ist. Ihr sich zu verdanken ist unser ganzes Leben, und in Dankbarkeit darin zu wachsen ist all unsere Größe; von dorther allein bestimmt sich unsere Nähe zu Gott. Der Ausdruck vom Sohn Gottes selber ist eine alte Chiffre, deren Herkunft wir zur Vermeidung von Mißverständnissen immer wieder betonen müssen. Wenn wir die Sprache der Mythen, aus welcher der Begriff 238

stammt, uns in ein paar Klängen und Tonspielen zu Gehör bringen, so nehmen wir augenblicklich eine bestimmte Poesie wahr, die wir mit dogmatischen Formulierungen nie erreichen können. Geschichten alter Religionen konnten davon erzählen, daß die Blumen Töchter der Sonne seien, und sie wollten damit sagen: ihre Schönheit macht sie den Strahlen der Sonne ähnlich, ihre Suche, mit der sie sich in die Wärme des Sonnenlichts aufrecken, zeigt, daß sie selber sonnenhaft sind, ja, daß sie aus dem Inneren der Sonne auf die Erde gekommen sind. – Oder wenn die Mongolen ihre Pferde die Söhne des Windes nannten, so wollten sie damit sagen, ihre Pferde seien so schnell wie die Wolken am Himmel, und aus ihren Nüstern in der Kälte der Steppe bliesen sie selber den Wind vor sich her, der die Wolken treibt, und mit ihren Hufen berührten sie kaum die Erde, so schnell seien sie. Aussagen über den Himmel und über die Erde bilden dabei den malerischen Hintergrund für die Wesensbeschreibung von etwas. So auch, wenn man im Alten Ägypten davon sprach, daß der König, der Pharao, der Sohn der Sonne und des Windes sei. Man wollte sagen, in ihm verkörpere sich alles, was auf Erden leben läßt und allen Lebewesen Fruchtbarkeit schenkt, was die durchfeuchtete niltrunkene Erde mit einem Überreichtum an Leben begabt und was rauschend, unsichtbar, wie der Geist Gottes selbst, als Atem des Lebens die Erde durchweht, um die Keime des Lebens weiterzutragen. Dieses Geheimnis des Lebens und der Fruchtbarkeit war für die Alten Ägypter repräsentiert in der Macht ihres Königs, der selber nichts war und sein sollte als die auf Erden lebende Gottheit, als die Verkörperung der Sonne und des Windes unter den Menschen am Nil. Ganz ähnlich lautet die erste Antwort, die Jesus hier seinen Gegnern gibt: er wirke überhaupt nichts aus sich selbst; alles, was er tun könne, habe er von seinem «Vater» erschaut und erlauscht, und seine ganze Kunst bestehe darin, das Geschaute nachzuahmen, – eine göttliche Imitation. Fast immer wird man Menschen, die sagen, sie suchten nach ihrer inneren Bestimmung, vorzuwerfen geneigt sein, sie suchten ja nur sich selbst, sie seien nichts weiter als Narzißten und Egoisten, sie kreisten ja lediglich um die Verwirklichung ihres Selbst. Nichts von all dem indessen ist wahr. Ein Mensch, der seine Berufung, seine Sendung findet, tut nichts aus sich, sondern er läßt sich tragen und durchströmen von einer Kraft, die sein Wesen bestimmt, er schwingt ein in die Grundlage dessen, was in ihm lebt und was in ihm zum Leben möchte. Darum macht er nichts aus sich selbst, sondern er ist in wörtlichem Sinne «gehorsam». Wenn wir hören, jemand könne nichts tun von sich her, sondern nur, was er den Vater tun sehe, das tue er selber, so taucht wohl unvermeidbar 239

die Vorstellung drohender Entfremdung auf. Die Lehre der Kirche läuft denn auch geradewegs auf die Aussage hinaus: «Du selber kannst von dir her nichts Wahres und Rechtes tun; nur was von außen kommt, schenkt dir die Wahrheit.» Wie aber sollte man auf Gott anders hören, außer man würde seine Sprache vernehmen im eigenen Inneren? Niemals redet Gott äußerlich, niemals ungeistig, sondern einzig im Zentrum des eigenen Herzens spricht er zu uns, sehr leise deshalb, doch um so wirkungsvoller. – «Er identifiziert sich mit Gott», sagen die Gegner über Jesus; doch was der johanneische Jesus in Wirklichkeit sagt, ist ganz einfach dies: «Ich will doch nur tun, was Gott auch tut; ich möchte lediglich das, was er auch möchte.» Jeder, der sich selber findet, wird auf solche Art «identisch» mit Gott, und man kann auch in biblischem Sprachgebrauch, wie wir schon sahen, dabei kaum unterscheiden: geht da die Rede von dem Sohn Gottes oder geht da die Rede von dem Knecht Gottes? Beides auf hebräisch ist ein und dasselbe Wort; es bezeichnet zudem eine Wesensgleichheit im Ursprung, eine Gemeinschaft vollkommenen Gehorsams. Fragt man sich daher: Wie wirkt denn Gott in seinem Sohn, johanneisch geredet, so müßte man sagen: Das Geheimnis des Mannes aus Nazaret war es, daß er Gott nicht im Weg stand, daß er mit seiner Person keinen Schatten über die Menschen warf, sondern daß er sich durchsichtig machte zum Licht. Er war als Person so gottzugewandt, daß die Menschen in seiner Nähe zu sich selbst hinfinden konnten und ineins damit zu Gott als ihrem Ursprung. Inhaltlich wird dieser Vorgang im Johannes-Evangelium bestimmt und beschrieben als Übergang vom Tod zum Leben. Die gesamte Rede ist erkennbar in zwei Ringhälften aufeinander bezogen; zum ersten auf die Angriffe und Anschuldigungen der Gegner, – denen wird gesagt: «Ihr werdet Taten sehen, daß ihr euch noch wundern werdet.» Zum anderen aber wird mit denen geredet, die schon vom Tod ins Leben hinübergegangen sind, – denen wird gesagt: «Ihr braucht euch nicht zu wundern.» Und kaum daß beide Ringe sich schließen, umschließen sie, nach Art eines kostbaren Geschmeides, einen Stein, der verkörpert, woraufhin diese beiden Ringteile geformt wurden. Denn der Schlußsatz verdichtet die ganze Passage auf vollkommene Weise noch einmal: Das Gericht, meins, ist gerecht; denn nicht suche ich meinen eigenen Willen, sondern den Willen dessen, der mich gesandt hat. Worum also geht es hier zwischen Leben und Tod, zwischen Auferstehung und Gericht? Wir müssen die Ausgangsszene dieses ganzen monologisch reflektierenden Gesprächs uns noch einmal vor Augen stellen, um zu begreifen, was Johannes mit «Tod» meint. 240

Die ersten drei Evangelien verwenden ein ganz bestimmtes, zeitlich geordnetes Schema zur Formulierung menschlicher Hoffnung angesichts des Todes. Danach gilt das Bibelwort: Des Menschen Leben währt siebzig Jahre, und wenn es hoch kommt, achtzig Jahre, und all sein Dasein ist Mühsal und Plage (Ps 90,10); dann ereilt ihn der Tod, und er tritt ein in das Gericht; das trennt die Menschen voneinander: die einen für die Auferstehung zum Himmel, die anderen für die Auferstehung zur Hölle, – so in der jüdischen Apokalyptik, und so ganz sicher auch im Denken des historischen Jesus von Nazaret. Johannes aber denkt nicht derart mythologisch in zwei aufeinanderfolgenden Zeitstufen. Seine Vorstellung von Zeit und Wirklichkeit ist viel eher «ägyptisch». Danach «wartet» der Himmel nicht bis jenseits der Todesmarke, sondern er berührt die Erde jetzt bereits, in jedem Augenblick, da wir richtig zu leben beginnen. So wie die Pharaonen ihre Pyramiden, ihre Totenkammern, ihre Stätten der Ewigkeit, für die Göttin errichteten, «die das Schweigen liebt», für die Göttin Meretseger, und wie sie zu Lebzeiten bauten für die Ewigkeit, so sollten, meint Johannes, die Menschen, durch die Worte Jesu belehrt, ihren Himmel auf Erden gestalten, sie sollten ihre «Lichthäuser» errichten, indem sie selber lichtdurchlässig würden für sich und für andere. Da gilt es nicht, auf den Übergang vom Leben zum Sterben hin zu leben und vom Tod dann zu einer weltjenseitigen Wirklichkeit hinauszufinden, sondern alles, was von Gott her Leben ist, jetzt schon zu erreichen. Die Stunde kommt – ein solcher Satz klingt noch, wie die ersten drei Evangelien ihn hätten formulieren können, aber: sie ist jetzt – so spricht nur Johannes, und zwar schon zum zweiten Mal; er wiederholt das Wort Jesu aus dem Gespräch mit der Frau am Jakobsbrunnen aus dem vierten Kapitel (Joh 4,23) und möchte, daß alle Verheißung als in der Gegenwart zu realisieren betrachtet werde. All die Fragen, die religiös normalerweise gestellt werden, lauten institutionsabhängig und vorgeformt in aller Regel so: Wie lange kann es noch dauern, bis daß wir richtig zu leben beginnen dürfen? Wann wohl wird man uns Freiheit erlauben? Wann stellen die Weltenläufte sich so, daß die Botschaft vom Himmelreich Wahrheit und Wirklichkeit wird? Im Sinne des Johannes-Evangeliums könnte nichts unsinniger sein als die dauernde Verschiebung der Wahrheit auf eine ausständige Zukunft. Alles für diesen Evangelisten ist jetzt und heute oder es ist nie! Man kann dabei nicht sagen, daß der historische Jesus so verschieden dachte von der Interpretation, die Johannes hier gibt. Jesus verkündete das Reich Gottes, wie jeder weiß, aber der Mann aus Nazaret konnte auch sagen: Das Gottesreich ist mitten in euch (unter euch); es kommt nicht 241

daher mit Posaunengeschmetter, es kommt nicht in großem Prozessionsaufzug durch die Stadt (vgl. Lk 17,20.21); entweder ihr lebt es jetzt, oder ihr wartet umsonst; es ist zum Greifen nahe (Mk 1,15). Die ganze Person des Mannes aus Nazaret ruhte in dem Glauben, Gott habe uns alles zur Verfügung gestellt und es gelte jetzt nur, endlich zuzugreifen. Die kirchliche Erklärung allerdings lautet gerade umgekehrt: Jesus, so heißt es, verkündete das Reich Gottes, aber Gott habe sich verzögert; und seither warten wir nun schon zweitausend Jahre und wohl auch noch bis zum Jüngsten Tag, immerzu, bis Gott sein «Reich» errichtet. Alle Geschichten, die Jesus historisch erzählt hat, laufen genau umgekehrt: «Gott», erzählt er zum Beispiel (Mt 22,1-14), «hat eine Hochzeit für seinen Sohn ausgerichtet, alles steht bereit und wartet darauf, daß die Eingeladenen kommen; doch sie kommen nicht.» So in der Tat dachte der historische Jesus sich die Gegenwart Gottes: nicht daß Gott sich verzögern könnte oder irgendeinen Grund habe, das Heil der Welt auf die lange Bank zu schieben, sondern daß einzig wir Menschen nicht den Mut fänden, die Wahrheit zu ergreifen, die wir längst wissen und sehen könnten. Der Unterschied zwischen Jesus und den Menschen seiner Zeit ebenso wie zu den Lehren der verfaßten Kirchen lag und liegt wesentlich darin, daß der Mann aus Nazaret die Rollos vor den Fenstern hochzog und die Sonne ins Innere fluten ließ. Er akzeptierte nicht die Gegengründe der Entmutigung, der Schwäche, der Angst, des Zauderns: jetzt nicht – später vielleicht! Das allerdings schon zeichnet die Person Jesu als wahren Sohn Gottes aus, daß er sich an die Seite oder auf die Seite Gottes stellte und von ihm her jene wunderbare, zauberhafte Wirklichkeit konzipierte, zu der wir jederzeit zu finden vermöchten. Jesus wollte nicht den langen, schleppenden Weg der endlosen Resignation gehen, sondern er war durchdrungen von einer Hoffnung, die keine Ausreden und Ausflüchte mehr zuläßt. Wenn man wissen möchte, was «Tod» in der Sprache des Johannes bedeutet, dann ist es dies: Gott aus den Augen verloren zu haben und sich nur noch wahrzunehmen unter den angsterfüllten Blicken anderer Menschen beziehungsweise nur noch diese Erde zu kennen mit ihren tausend fallenartigen Bodenlosigkeiten, mit ihren unendlichen Abgründen, mit ihrem ständigen furchteinflüsternden Grauen. Was Tod ist, wird in diesem Zusammenhang gedeutet durch die Szene des Gelähmten am Teich Betesda zu Beginn des 5. Kapitels, jenes Mannes, der 38 Jahre lang wartete, daß ein anderer komme und ihn zur Heilung in das Wasser werfe. «Wann», fragt Jesus indirekt, «sehen Menschen eigentlich Gott vor sich, unmittelbar, ohne die permanente Verzerrung der Angst, die sich immer noch verstärkt durch die 242

Ängste der anderen? Wann finden Menschen sich unverstellt unter den Augen Gottes wieder?» Nur so würden sie zu «Söhnen», würden sie versöhnt mit ihrem Ursprung und mit sich selbst. Wenn die Bibel von Tod redet, so meint sie nicht das physische Sterben, sondern die Bedeutung, welche die sichere Tatsache des physischen Sterbens für jeden von uns mitten im Leben gewinnen kann. Auf fast brutale Weise schildert, auf den Anfangsseiten der Bibel, das 3. Kapitel der Genesis die menschliche Tragödie (Gen 3,8-24). Da fällt nicht eigentlich das Wort «Sünde», doch alles, was die Bibel, vor allem Johannes darunter versteht, beschreibt sich dort in mythischen Bildern. Gezeichnet werden wir dort als Menschen, die aus dem «Garten» der Welt sich vertrieben fühlen. Die Erde, auf der sie stehen, brennt ihnen unter den Füßen. Sie selber wissen um die Unausweichlichkeit ihres Todes, aber sie können damit nicht leben. Alles, was sie machen, ist ein Kampf, um ihr Leben zu verlängern; doch selbst ihr Überlebenskampf hat keinen Sinn. Und am schlimmsten: vor dem Gefühl, mangelhaft zu sein, verlieren sie den Glauben an die Liebe auch nur eines einzigen Menschen an ihrer Seite. Sie beginnen sich zu schämen, sie verhüllen sich, sie weichen einander aus; sie werden immer verborgener, immer verbogener, immer verlogener, und sie sind immer überanstrengt. Das ist der Tod der Seele längst vor dem Sterben des Körpers. Da erhebt sich ein Tag, doch es wird kein Morgen, sondern vor den Augen senkt sich die Zeit wie fallender, rieselnder Staub immer wieder in die Finsternis und verhüllt alles ringsum. Das ist Tod: – jeden Atemzug zu trinken wie das Gift einer fortschreitenden Zerstörung; es macht keinen Sinn, zu leben, und dennoch wird man, gepeinigt von endloser Angst, immer weiter ins Leben getrieben. Sigmund Freud dachte so. Ausgehend vom Lebensgefühl der Neurotiker, hielt er es am Ende fast für das Lebensgefühl aller. Was die Menschen suchten, meinte er, sei eigentlich die Rückkehr in den Tod, sei das Aufgehen im Anorganischen, sei das Auslöschen all der Plage, all der Last, all der Mühsal; jedoch: beim Suchen, endlich Ruhe zu finden, würden die Menschen nur tiefer ins Dasein hineinverflochten, denn sie hätten auch Angst vor ihrer eigenen Auslöschung, und diese Angst treibe sie zu immer bizarreren Handlungen, zu immer größeren Leistungen und immer schrecklicheren Verbrechen. Ähnlich konnte Arthur Schopenhauer sagen, das Lateinische bezeichne das Sterben am besten, indem es «defunctus» dazu sage – abgewirtschaftet, erledigt, abgetan. Im Getto einer solchen Lebensauffassung ist alles, was Menschen machen, tödlich, aber sie halten die Tödlichkeit ihres Daseins am Ende für absolut normal. 243

Nehmen wir ein Beispiel: Es öffnet ein Politiker seinen Mund, und er wird bis auf wenige Ausnahmen erklären, in der Bundesrepublik Deutschland stelle die Wehrpflicht die Normalität dar, – für den jungen Mann sei es also die «Normalität», das Töten zu lernen. Werbesendungen werden uns Menschen zeigen, wie sie am Boden robben, wie sie mit Präzisionswaffen trainieren, und eine weibliche Stimme wird uns erklären: «Emotionen sind da nicht angesagt.» Dann wird man den jungen Mann zum Interview bitten, daß er uns sage, was er fühlt, und «natürlich» wird er sagen: «Wenn es sein muß, werde ich schießen.» – Vielleicht muß es ja sein, daß er schießen muß, vielleicht muß es ja in einer Welt der Angst und der Verbrechen alles das geben, was «man» auf dem Kasernenhof lernt, doch daß es normal sei, diese Behauptung läßt jedes Gefühl für die Tragik, für das Grauen, für den Abgrund unserer Existenz vermissen. Da schreitet man über das bloße Nichts mit hohlen Redensarten hinweg, da ist der Tod nichts weiter als eine instrumentalisierte Selbstverständlichkeit, nichts weiter als eine handhabbare Waffe gegen ihn selbst. Inzwischen haben wir Deutsche eine «Friedensarmee» und finden selbst diesen Ausdruck «normal». George Orwells 1984 scheint längst übertroffen1. In der Sprache des Großen Bruders sind alle Wörter dialektisch und geradezu widersinnig zusammengesetzt wie «hölzerne Eisen»; aber wer merkt das noch? Mit welchen Augen muß man diese Welt sehen, um sie als tödlich zu begreifen? Der johanneische Jesus nennt unsere scheinbar ganz normale Welt ein Dasein von Gräberbewohnern. Das ist sein wörtlicher Ausdruck: Gräberinsassen. Worauf diese warten, was sie zumindest unbedingt brauchen würden, wäre ein neues, ein ganz anderes Wort, wäre der Klang von etwas, das sie so nie vernommen haben, das aber ihrer tiefsten Sehnsucht recht gibt und ihnen Mut macht, unendlich viel mehr zu glauben, als man ihnen bisher weisgemacht hat. Diese Hoffnung nennt Johannes aus dem Munde seines Jesus: unendliches Leben. Die Form, in der Johannes dieses Wort aufgreift, heißt in der Sprache des antiken Ägyptens ebenso wie in der Sprache Pauli: Auferstehung. Gemeint ist erneut eine absolute Alternative der Existenz: Entweder man ergreift diese neue Chance, man läßt sich ein auf diese Umprägung von allem durch eine neu gewonnene Festigkeit des Vertrauens, der Liebe, der Unmittelbarkeit zu Gott, dann entsteht eine Wirklichkeit, die als «das Gute wirken» später beschrieben wird, – oder man ergreift sie nicht, man läßt sich nicht darauf ein, dann wird alles beim alten bleiben. Wie lebt man richtig in diesen Visionen? Was heißt da Gericht? Es meint im Grunde doch nur: Richtig lebt, wer selbst durch den Schrecken, den der 244

Tod über sein Dasein wirft, sich nicht irritieren läßt. Auch Vollmacht hat er ihm gegeben, Gericht zu halten – weil er der Menschensohn ist. Das soll heißen: der einzig gültige Maßstab für ein richtiges Leben ist die gestaltgewordene Menschlichkeit selbst. Alles, was du so tust, daß es menschlich stimmt, daß es aufrichtet, daß es einem Gelähmten Mut macht, in sein Leben zu treten, alles, was von der Art ist, daß es intensiver leben, leidenschaftlicher lieben und glühender hoffen läßt, wird selbst vom Tod nicht zu widerlegen sein. Da hebt sich die Grenze zwischen Diesseits und Jenseits, zwischen Erde und Himmel, zwischen Menschlichem und Göttlichem schlechterdings auf, und das zu spüren ist die Auferstehung vom Tod zum Leben jetzt schon. Es läuft hinaus auf ein großes Einverständnis, zu sein, auf der Erde beginnend und doch hinüberweisend in jene andere Welt, die hineinragt in diese. Da spüren wir ein unendliches Leben, ein nie vergängliches, eines, von dem wir nur wünschen können, daß es auf ewig so weitergehe, und dieses Empfinden ist die Gabe, die Jesus auf die Welt bringen wollte. Jedes Verbrechen, jede Mißhandlung, alles Schreckliche und Unmenschliche, das Menschen einander antun können, hat im letzten darin seinen Grund: daß es den Tod gibt und daß er erlebt wird im Status restloser Liebesentbehrung und Gnadenlosigkeit, als ein Weggeworfenwerden und Verurteiltwerden, als ein Beseitigtwerden wie für die Abfallgrube. Aber auch umgekehrt: unendliches Leben zu spüren, das bedeutet, daß sich die Liebe erweitert in Ringen, die sich öffnen und schließen und wieder neue Formen gewinnen und die bis ins Unabsehbare ihre Kreise ziehen, aufwachsend wie eine Blume zur Sonne, wie ein Baum zum Himmel. Bleibt noch zu fragen: Was ist das Gericht, gegeben dem Menschensohn? In der jüdischen Apokalyptik bedeutete es die Entscheidung zwischen Himmel und Hölle. Leben war da identisch mit dem Aufgenommensein bei Gott, die Hölle aber galt als ein ewiges Verstoßensein. Hören wir die Worte bei Johannes an dieser Stelle genau, so unterscheidet er eine Auferstehung des Lebens bei denen, die Gutes getan haben, will sagen, die in ihrer Menschlichkeit sich gefunden haben, indem sie Gott in ihr Herz schlossen, und eine Auferstehung des Gerichts. Das griechische Wort dafür ist «Krisis» – Krise. Der Begriff bezeichnet nicht die Hölle, sondern er läßt ein weites Feld der Interpretation offen. Man kann sagen: Die Menschen, die es jetzt nicht begreifen, werden es irgendwann gewiß bereuen. Auferstehen werden sie alle, Klarheit über ihr Leben bekommen werden sie alle. Für die einen ist dies dann ein Zustand der Bestätigung; sie werden sammeln, was sie spürbar jetzt schon richtig getan haben. Für die anderen aber 245

wird es gewissermaßen ein böses Erwachen sein, ein Auferstehen auch, ein Ende des Grabes auch für sie, doch eben ein schreckliches Wachwerden. Wie aber soll man sich dieses «Gericht» vorstellen? Der johanneische Jesus erklärt sinngemäß: Dieses «Gericht» ist schon deshalb gerecht, weil ich nur tue, wozu der Vater mich gesandt hat, auf daß ich’s von ihm her tue. Wenn das gilt, bedeutet das Gericht nichts anderes, als unter die Augen der Macht zu treten, die wir die ewige Liebe nennen. Stellen wir uns einmal vor, es wäre uns vergönnt, an der Seite Jesu sitzend und seinen Worten lauschend, unser Leben jetzt schon so zu betrachten, daß es eine endgültige Bilanz erlaubte. Da würden wir uns so vieler Einzelheiten schämen, in denen wir verengt, weit unter unserem Niveau, eingeschlossen in unnötigen Sorgen und Ängsten, unser Leben verbracht haben. Aber es gäbe klar sichtbar auch Momente, die wirtschaftlich, finanziell, karrierebezogen womöglich als Verlust zu buchen sind, die aber ein Stück Menschlichkeit, ein Stück Wärme und Licht in eine sonst unmenschliche, kalte und dunkle Welt gebracht haben; und diese Momente sammeln sich; sie sind die Anknüpfungspunkte jetzt für ein unendliches Leben. Mit dem Schmerz der Erkenntnis wird es beginnen: – wegwünschen werden wir all das wollen, was so deutlich nicht stimmt, und festhalten werden wir all die Momente der Menschlichkeit wollen. Das ist eine solche Krise, eine notwendige, eine heilsame, so oder so. Das Wort Jesu wird uns alle erreichen, nur: wie wir’s begreifen, uns öffnend oder uns versperrend, als Rettung für uns selber annehmend oder als Bedrohung zurückweisend, das ist eine Frage, die sich jetzt schon stellt und die Johannes nicht losläßt. Immer wieder wird er in vergleichbaren Bildern davon reden, daß Jesus den Kernpunkt dieser Auseinandersetzung, dieser Entscheidungsfrage, dieses Gerichts bildet: Er kam wie von einer anderen Welt, wie von einem anderen Stern in unser Leben; aber begreifen wir, wer er war, so verstehen wir diese ganze Welt und darinnen uns selber vollkommen neu. Die Alten Ägypter meinten, daß «Sterne», die vom Himmel fallen, daß Meteoriten so etwas seien wie ein Beweis des Göttlichen, wie das Zeugnis der Götter für ihre eigene Existenz. Schon im Alten Reich müssen sie aus Meteor-Eisen das Bild eines Dächsels geschmiedet haben, und sie verwandten dieses Gerät im Ritual der Mundöffnung2. Sie wollten damit dem Toten den Mund erschließen, daß Atem in ihn hineinströme, in ihn, den Toten, den Mumifizierten, um ihn zu beleben. Der Schimmer der Sterne, das Band der Milchstraße, das Rückgrat des Osiris, der Gang der Sonne wurden zum Zeugnis aufgerufen dafür, daß die Liebe unsterblich sei und das Leben selbst göttlich. Was die Ägypter in ihren Riten erahnten, was sie 246

magisch beschworen, ist, existentiell nachgebildet, die Gestalt des Nazareners im Johannes-Evangelium: etwas, das als Zeugnis Gottes vom Himmel auf die Erde fällt und den Toten den Mund öffnet, auf daß sie Atem des Lebens zu schöpfen vermögen und ihre Stirn die Sterne berühre und sie die Sonne tränken mit ihrem Herzen. In seinem «Stundenbuch» hat Rainer Maria Rilke einmal eine solche Lebensform als «mönchisches Leben» beschworen. Er schreibt3: Ich will dich immer spiegeln in ganzer Gestalt, und will niemals blind sein oder zu alt um dein schweres schwankendes Bild zu halten. Ich will mich entfalten. Nirgends will ich gebogen bleiben, denn dort bin ich gelogen, wo ich gebogen bin. Und ich will meinen Sinn wahr vor dir. Ich will mich beschreiben wie ein Bild das ich sah, lange und nah, wie ein Wort, das ich begriff, wie meinen täglichen Krug, wie meiner Mutter Gesicht, wie ein Schiff, das mich trug durch den tödlichsten Sturm. Und weiter: Du siehst, ich will viel. Vielleicht will ich Alles: das Dunkel jedes unendlichen Falles und jedes Steigens lichtzitterndes Spiel. Es leben so viele und wollen nichts, und sind durch ihres leichten Gerichts glatte Gefühle gefürstet. Aber du freust dich jedes Gesichts, das dient und dürstet.

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Du freust dich Aller, die dich gebrauchen wie ein Gerät. Noch bist du nicht kalt, und es ist nicht zu spät, in deine werdenden Tiefen zu tauchen, wo sich das Leben ruhig verrät.

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Joh 5,31-47: Vertrautet ihr Mose, vertrautet ihr mir 31Wenn

ich Zeugnis ablege über mich selbst, ist mein Zeugnis nicht wahr. 32Ein anderer ist es, der Zeugnis über mich ablegt, und ich weiß: wahr ist das Zeugnis, das er für mich ablegt. 33Ihr habt zu Johannes gesandt, und er hat Zeugnis abgelegt für die Unverborgenheit Gottes (1,7.32). 34Ich aber – von einem Menschen das Zeugnis nehme ich nicht an, vielmehr: das sage ich (nur), damit ihr gerettet werdet. 35Jener war die Leuchte, brennend, scheinend, ihr aber wolltet (nichts als) euch vergnügen für eine Stunde in seinem Licht (1,8). 36Ich aber habe das Zeugnis, das größer ist als das des Johannes. Denn die Werke, die mir der Vater gegeben hat, daß ich sie vollende, eben diese Werke, die ich tue, legen Zeugnis ab über mich, daß der Vater mich gesandt hat (3,2; 10,25.38). 37Und der mich geschickt hat, der Vater, er hat Zeugnis abgelegt über mich. Weder seine Stimme habt ihr jemals gehört (Mt 3,17), noch seine Gestalt gesehen. 38Und so: Sein Wort habt ihr nicht in euch, daß es Bestand hätte, denn den er gesandt hat, dem vertraut ihr nicht. 39Ihr durchforscht die Schriften, da ihr vermeint, in ihnen unendliches Leben zu haben; – auch sie sind es, die Zeugnis ablegen über mich (Lk 24,27.44; 2 Tim 3,15-17). 40Und doch: nicht wollt ihr kommen zu mir, um Leben zu haben. 41Verherrlichung von Menschen nehme ich nicht an, 42vielmehr habe ich euch erkannt: Die Liebe Gottes habt ihr nicht in euch! 43Ich bin gekommen in der Wesensart meines Vaters, doch nicht nehmt ihr mich an. Wenn ein anderer gekommen wäre in seiner eigenen Art, – den hättet ihr angenommen (Mt 25,4)! 44Wie könnt ihr zu Vertrauen gelangen, wo ihr Verherrlichung voneinander annehmt, doch die Verherrlichung von dem einen Gott her sucht ihr nicht (12,42.43; 1 Thess 2,6)! 45Vermeint nicht, ich würde euch verklagen beim Vater. Er ist es, der euch verklagt: Mose, auf den ihr Hoffnung gesetzt habt (Dtn 31,2427). 46Wenn ihr nämlich Mose vertrautet, vertrautet ihr mir; – von mir nämlich hat er geschrieben (Dtn 18,15)! 47Wenn ihr aber sogar den Schriften nicht vertraut, wie könnt ihr meinen Worten vertrauen (Lk 16,31)?

Die Frage dieses Textes stellt sich nach dem rechten Zeugnis: Wer eigentlich legt es für Jesus von Nazaret ab? Um die Antwort des Johannes-Evangeliums zu verstehen, müssen wir allgemeiner fragen: Wer sind wir selber eigentlich, und woher wissen wir’s? Auf was gründet sich unser Bild von uns selbst und unserer «Berufung»? 249

Wenn wir im Johannes-Evangelium lesen, wird es uns ähnlich ergehen, wie wenn wir in einer wolkenfreien Nacht die Augen zum Sternenhimmel erheben. Seit Tausenden von Jahren blicken Menschen empor zu der flimmernden Schar der Sterne, und es scheint ihnen der Himmel über ihnen wie eine Bestätigung des Gesetzes, das sie im eigenen Herzen tragen. So noch erging es Immanuel Kant vor 250 Jahren. Dennoch wird der Blick zu den Sternen mehr noch als durch die Wolken des Dunkels getrübt durch bestimmte Deutungen des Gesehenen. In einem statischen Weltbild versicherten die Sterne die Menschen der unwandelbaren Ordnung der Welt, und in diese Überzeugung hinein mischte und mischt sich zudem allerhand alte Magie und Mythologie. Manch einer glaubt wohl auch heute noch eher den Jagdabenteuern des Orion am Himmel beizuwohnen, als daß er die physikalische Erklärung von der Geburt neuer Welten im Kosmos verstanden hätte, von der Entstehung neuer Zentren der Schwerkraft im All, von der Möglichkeit, daß da irgendwo neue Planeten und vielleicht sogar neues Leben in den unendlichen Weiten des Raums und der Zeit sich bildeten. Das Johannes-Evangelium redet eine Sprache, die wie schwebend, wie zeitlos gültig wirkt und wirken soll. Es ist nicht leicht zu erkennen, daß sich in ihr auch ein Blick in eine weit zurückliegende geschichtliche Bewegung enthüllt, die damals einem geistigen Neuanfang gleichkam, einem ungeheuren Ausbruch aus einer tradierten Enge hinaus in eine so nie gekannte mystische oder prophetische Weite und Freiheit. Gleichwohl haben die Lehren des sich bildenden Dogmatismus der frühen Kirche gerade diese Texte durch eine Fülle von archaisch zu nennenden Ansichten überlagert. Die «Christologie» vor allem wurde wie etwas in sich Stehendes mit Ewigkeitsanspruch aus gerade diesen Texten abgeleitet: der Vater und der Sohn, Jesus Christus als Gottessohn, umkleidet mit göttlicher Macht – in dieser Sprache reden diese Texte, und so nahm man es als «Gottes Wort»: – hoheitsvoll schwebend, unendlich fern, leuchtend wohl nächtlichen Augen, doch wie entrückt allen Qualen des Irdischen. Der Kampf gegen die «Juden» – viele Stellen des Johannes-Evangeliums atmen die Auseinandersetzungen der frühen Kirche mit der Synagoge: «Ihr beruft euch auf die Schriften, und doch, ihr versteht sie nicht! Euch wird euer Mose anklagen, an den ihr glaubt!» So war einmal die Sprache der frühen Kirche. Doch muß man diese Sprache zweitausend Jahre lang haßerfüllt weitertragen, nur weil sie vormals so geklungen hat? Und was eigentlich wollte man damals mit dem Kampf gegen die Synagoge? Von welcher Menschlichkeit, von welcher religiösen Erfahrung wollte man Zeugnis geben? Das müssen wir herausfinden; denn bis in die Details hinein kann man alles mißverstehen. 250

Wenn ich Zeugnis ablege über mich selbst, ist mein Zeugnis nicht wahr. Ein anderer ist es, der Zeugnis über mich ablegt. Aus solchen Sätzen kann im Laufe der Kirchengeschichte eine Ordensregel werden, wie die jesuitische, die dem Ordensoberen erklärt: «Wenn du etwas wissen willst von einem Mitglied der Ordensgemeinschaft, so frage nie ihn selber, frage die Zeugen an seiner Seite im geheimen; verschicke Fragebögen, in denen du dich erkundigst, was von ihm zu halten sei.» In den Oberen Christus zu sehen, hat der heilige Ignatius in den Satzungen (1. Kap., Teil 6) denn auch direkt befohlen. Nehmen wir die Art und Weise, wie 1995 Pater Rupert Lay in Sankt Georgen kaltgestellt wurde. Es beginnt immer mit der Einholung von «Informationen»: Was hat er gelehrt? Wie lebt er privat? Was denkt er? Welche Gespräche führt er? Ist er kontaktfreudig? Welche Vorlieben, welche Marotten hat er? Das alles muß man herausfinden, und wenn es soweit ist, wird der Papst dem Orden selber die Jagderlaubnis, die Jagdpflicht auferlegen; in der Sprache der Kirche: die Angelegenheit ist «ordensintern zu regeln». Und augenblicklich werden selbst die sogenannten Mitbrüder an der gleichen Hochschule ihren Bruder daraufhin anreden, daß er schon immer in einer Art gelehrt hat, die Bedenken erregen mußte. Man läßt es die Öffentlichkeit wissen wie einen Nekrolog: – der Mann ist tot, sobald man über ihn schreibt; und selbst die Anstandsregel der alten Römer «Über Tote nur Gutes» wird da zugunsten einer geistigen Leichenfledderei gebrochen. – Das Zeugnis der anderen ist wahr? Nicht unbedingt! Befragt man einen Menschen nicht auch selber, wird man nie etwas Gültiges über ihn erfahren! Doch wovon redet das 5. Kapitel des Johannes-Evangeliums wirklich? Es darf nicht länger so mißverständlich und mißbrauchbar interpretiert bleiben, daß am Ende eine dogmatische Christologie, eine Summe antijudaistischer Vorurteile und eine tiefgreifende menschliche Entfremdung die Folgen sind. Was dieser Text wirklich meint, ist uns noch im Ohr aus der vorangegangenen Betrachtung, aus Johannes, Kapitel 5, Vers 25: Bei Gott, ich sage euch: Es kommt die Stunde und jetzt ist sie, da die Toten hören werden die Stimme des Gottessohns, und zum Hören gekommen, werden sie leben. Wie werden Tote zu Lebenden? Das ist die zentrale Frage des Johannes-Evangeliums bei seiner Deutung der Person und der Botschaft Jesu. Greifen wir diese Frage einmal im Vergleich zu einem großen literarischen Gegenentwurf auf. 120 Jahre ist es schon her, daß Henrik Ibsen sein Drama Gespenster auf die Bühne brachte1. Es ist die Tragödie einer Frau, Helene Alving, die an entscheidender Stelle sagen wird: «Wir alle sind Ge251

spenster» und sinngemäß fortfährt: «Nicht nur, was wir geerbt haben von Vater und Mutter kehrt in uns wieder, auch all die alten Vorurteile, die Glaubenswahrheiten, die toten, vermoderten Überzeugungen, die wir in uns tragen und nicht abzuschütteln vermögen. Ich lese die Zeitung, und mir scheint, zwischen den Zeilen huschen die Gespenster. Sie sind überall, zahlreich wie Sand am Meer. Deshalb fürchten wir uns so vor der Wahrheit.» Helene Alving ist eine längst verwitwete Frau, die dabei ist, all das Geld ihres verstorbenen Mannes für ein Kinderheim aufzuwenden. Der folgende Tag soll der Ehrung ihres Mannes, eines Großen beim Militär und eines Großen in der Verwaltung, bei der Einweihung dieses Kinderheimes, eines wohltätigen Zwecks also, gewidmet sein. In der Nacht zuvor aber muß diese Frau sich mit ihrer Vergangenheit in Gestalt ihres Sohnes Osvald auseinandersetzen. Sie hatte ihn weggegeben, um ihn nicht dem Einfluß seines Vaters auszusetzen. Sie wollte ihr Kind im Grunde vor einer bis in die Wurzeln zerstörten Ehe retten. An der Stelle ihres Mannes hat sie diesen Jungen voller Sehnsucht wie abgöttisch geliebt. Er aber, der in der Fremde seine Mutter kaum kennengelernt hat, kehrt zu ihr zurück wie zu einer Unbekannten. Nicht Liebe hat er von ihr erfahren, wie sie glaubt, was er erlebt hat, erschien ihm wie Gleichgültigkeit. Dafür verklärte sich sein Bild des Vaters zu einer Heiligen-Ikone, zu einem lebenden Denkmal, das er in seiner Seele aufgerichtet hat. Es wird die Tragik dieser Mutter sein, das Bild ihres Mannes in der Seele ihres Kindes zerstören zu müssen, um ihn für sich selber als lebend wiederzufinden. So beginnt der Kampf mit den Gespenstern. Die Hauptursache für all die Verstrickungen bildet indessen Pastor Manders, der seinerzeit, als die Ehe zu zerbrechen drohte und Helene Alving schutzsuchend zu ihm kam, sie, gegen seine eigenen Gefühle der Zuneigung ankämpfend, dahin bestimmte, zu ihrem Mann zurückzukehren – ein Triumph der Moral und des Anstands offenbar, ein Meisterstück gelungener Seelsorge, wie er glaubte, doch in Wahrheit, wie Helene nun meint, seine schlimmste Niederlage; denn er hat nichts begriffen von der menschlichen Wirklichkeit. Die lautet, daß der alte Alving ein Alkoholiker war, ein Frauenheld, ein Syphilitiker; jahrelang hatte sie ihn ertragen müssen. Sie hatte den Betrunkenen ins Bett gehoben und ihm dann noch gehorchen müssen, sie hatte ihm dienstbar zu sein, selbst wenn er berauscht war. Vor der Öffentlichkeit mußte sie all die Zeit eine Fassade aufbauen, hinter der eine Wirklichkeit lauerte, die niemand sehen durfte. Jetzt aber muß diese Frau Schlimmeres erfahren: Ihr Sohn, der all ihre Hoffnung war, ein vielversprechender Maler in der Kommune in Paris, hat von einem Arzt sich 252

bescheinigen lassen, unrettbar krank zu sein. Hinter seiner Stirn haust die Verwesung, modert der Tod, zerrütten sich die Nerven. Er hat Angst vor den syphilitischen Zusammenbrüchen, deren ersten er schon über sich hat ergehen lassen. Er hat Angst vor einem Leben, das schon tot ist, weil es an sich selbst kein Leben mehr ist. Schuldlos wurde ihm all das zugefügt, noch ehe er auf die Welt kam. Es ist sein Schicksal, an dem Helene ein Stück tiefer noch die Wahrheit erkennt. War ihr Mann wirklich nur dieser Wüstling und Säufer, dieser infame, skrupellose Menschenverächter? War es nicht vielmehr, daß sich ein hohes Maß an Glück, an Empfindung für Freude ausspannte in einer viel zu kleinen Welt und erstickt wurde, als wäre da ein Waldboden, weich, durchtränkt und fruchtbar, in der Wärme der Sonne begabt zu soviel Schönheit und Leben, aber dann abgeschnürt, wie unter Cellophan verpackt, und es kämen nur noch Pilze und niedere Moose aus dem Boden hervor und erstickten jede Regung höheren Daseins? Die Schuld des Kammerherrn Alving ist nicht einmal seine persönliche; sie liegt in den Gespenstergedanken einer ganzen Zeit, welche Entfaltung und Glück nicht zuläßt. Ein Mädchen, Regine, ist außerehelich von ihm gezeugt worden und wird nun beschließen, auf seine Art ins Leben zu treten; doch man weiß nicht, ob die Kühle und Kälte, mit der sie es ankündigt, eine wirkliche Fähigkeit zum Glück irgend noch zuläßt. Die letzte Szene wird die einer Ibsenschen Pietà sein: eine Frau, die gebeten wird von ihrem eigenen Sohn, ihm das Gift zu geben, das ihm die Qual der Lebenden ersparen soll. Was da wird die Pflicht einer Mutter sein? Es ist erschütternd, Ibsens Theaterstück der Grabesbewohner, der lebendig Toten, der Gespensterexistenzen des menschlichen Daseins im Abstand von fast 2000 Jahren zu konfrontieren mit dem 25. Vers des 5. Kapitels des Johannes-Evangeliums: Diese, die Toten, werden die Stimme des Gottessohns hören. In Ibsens Drama hören wir die Worte des Gottessohnes vermittelt durch den bürgerlich achtbaren Pastor Manders; doch dieser Mann hat nichts, kein einziges Wort, außerhalb der gesellschaftlichen Moral zu sagen. Er kennt das Gesetz so genau! Er weiß, was man verurteilen muß, er weiß, was man befehlen muß, er weiß, wie Menschen zu sein haben, er weiß, wie eine Ehe auszusehen hat, er bestimmt, was richtig ist, was schlecht, was Tugend ist, was Laster. Seine Welt ist so banal, so trivial, so klein, daß er selber schon die eigentliche Geburtsstätte aller Gespenster ist; dabei ist er ein gutwilliger Kerl, mit Blick für die Zeitläufte, soll man denken. Und das wirklich Schlimme: schaut man sich in der Gegenwart um, so hat sich nichts geändert! Ja, wären die heutigen Nachfolger dieses Pastors Manders wenigstens noch von gleichem Schrot und Korn wie in 253

den Tagen Ibsens, daß sie mit dem Kreuz in der Hand in eine zerbrechende Ehe eindringen würden, um Moral und Anstand wiederherzustellen! Man könnte ihnen dann energisch gegenübertreten. Statt dessen haben sie nur gelernt, sich noch geschmeidiger anzupassen. Die Gespenster sind flügge geworden, gewissermaßen, aber von einer Botschaft, die Menschen aus den Gräbern zu holen vermöchte, die sie lebendig machen könnte, die ihnen eine Chance gäbe, selber zu reifen zu einem eigenen Glück, – davon ist die Rede nicht. Lesen wir demgegenüber einmal die Worte des Johannes-Evangeliums unter Ibsenscher Fragestellung. Ganz einfach ist das nicht, weil die Ausdrucksweise dieses Evangeliums an den Wortschatz dessen gebunden ist, was wir als eine geistige Strömung in der Antike bereits als Gnosis bezeichnet haben. Seine Wortwahl ist uns fremd geworden; doch das, was sie bezeichnet, ist auf eine überraschende, fast erschreckende Weise modern. Wenn ich Zeugnis ablege über mich selbst, ist mein Zeugnis nicht wahr. – Wovon ist da die Rede? Ein anderer ist es, der Zeugnis über mich ablegt. Setzen wir statt «Zeugnis» «menschliche Wirklichkeit und Wahrheit» ein, dann lautet die Frage, die in diesen Worten sich verbirgt: Wie kommt ein Mensch dahin, zu wissen, wer er selber ist? Wie kann er die Wahrheit seiner eigenen Person kennenlernen? Man sollte denken, jeder besitze ein gewisses Gespür für das, was in ihm leben möchte, wozu er bestimmt ist, und eine solche Annahme ist gewiß nicht ganz falsch. Dennoch verhält es sich mit Menschen ähnlich wie mit Blumen: sie können nur leben unter der Wärme der Sonne. Alle Kraft, sich selbst zum Vorschein zu bringen, empfangen sie von außen. – Einfacher gesagt: Nicht einmal das Mienenspiel unseres eigenen Gesichtes könnten wir erraten, ohne die Reflexion des Bildes in einem Spiegel, dem wir uns gegenüberstellen. Nicht einmal unser Körper-Ich vermögen wir von uns selbst her vollständig zu erfassen; um wieviel weniger dann das, was wir als Personen in der Wirklichkeit unseres Menschseins sind. Kein Spiegel wird uns dabei helfen. Dringend benötigen wir deshalb die Augen eines Menschen, der uns wirklich liebt. Genau das aber ist die ganze Überzeugung, aus der heraus der johanneische Jesus redet. Er nennt diese Augen, in denen er sich findet, die ihn gütig anschauen, die ihn bejahen und bestätigen, seinen Vater. In ihm fühlt er sich geborgen, in ihm empfindet er sich selber als gewollt, als erwünscht, als geliebt, und so erscheint ihm das ganze Leben wie ein Geschenk. Alles hat der Vater seinem Sohn gegeben, sagte Jesus vorweg schon (Joh 5,27). Das ist sein Grundgefühl, aus dem heraus er existiert. Es ist der Punkt, der ihm für unerschütterlich gilt. 254

Versuchen wir herauszufinden, wie es sich mit dem «Zeugnis des anderen» genauer verhält, so läßt uns das Johannes-Evangelium allerdings bald schon im Stich; es ist, wie wenn es uns nur spurenhafte Hinweise geben wollte, ganz so als möchte es förmlich vermeiden, uns mit fertigen Gewißheiten zu erdrücken; lieber möchte es uns offenbar auffordern, diesen fast verwehten Spuren selber nachzugehen, damit sie die Gültigkeit eines Wegs zur Wahrheit in unserem Leben erweisen können. Eine dieser Spuren immerhin lautet: Johannes der Täufer. Johannes hat Zeugnis abgelegt für die Unverborgenheit Gottes, erklärt der johanneische Jesus; es ist ein wahres Zeugnis, aber allein ist es noch kein endgültiges Zeugnis. Warum? Das Johannes-Evangelium spricht nicht eigentlich von dem historischen Jesus, doch die Erfahrung, die der Mann aus Nazaret am Jordan gemacht hat, als sein eigener Lehrer, der Täufer, ihn in die Fluten des Flusses tauchte, muß nach dem Zeugnis der ersten drei Evangelisten auch in historischem Sinne zentral gewesen sein. Man kann zur Gestalt des Täufers stehen, wie ein Abschnitt aus der Redequelle der Synoptiker (Mt 11,7-19; Lk 7,24-35) es unterstellt: er sei der Größte unter allen Menschen, nach «menschlichem» Maßstab betrachtet. Denken wir uns das Auftreten dieses Mannes indessen nur einmal in unseren Tagen. Da versucht jemand, in Fragen der Religion einen neuen Ton, ein neues Wort zu singen und zu sagen, und die Leute sind fasziniert: Hier spricht jemand, das spüren sie, der nicht das Hergesagte, das Auswendiggelernte immer wieder repetiert, er schöpft das, was er sagt, aus seinem eigenen Herzen; seine Worte sind vermittelt durch eigene Erfahrung; und er hat etwas so Dringliches, Unbedingtes in seinen Worten! Die Leute, mit einem Wort, kommen zu ihm in Scharen. Gesetzt nun, so etwas wollte in unseren Tagen sich aufführen, so könnten wir sofort wissen, was Jesus sagen will, wenn er, in der Sprache des Johannes-Evangeliums, erklärt: Johannes war die Leuchte, brennend, scheinend, ihr aber wolltet (nichts als) euch vergnügen für eine Stunde in seinem Licht. Das trifft’s! Käme Johannes der Täufer in unseren Tagen zurück, so hätten wir gewiß nichts weiter als ein Medienspektakel vor uns; man würde die Kameras schnurren lassen, man würde die Mikrophone einschalten, man hätte ein Mega-Event für eine Stunde, eine Unterhaltungskomödie, fast wie ein Papstbesuch – Religion einmal spannend, o ja! Und wie viele gehen da hin? Und was haltet ihr von Johannes dem Täufer? Seid ihr dafür oder dagegen? Und was tun die Priester im Tempel? O, diese Herausforderung! Eine Volksbewegung in Religion! Das wäre «supercool», darüber zu schreiben – was für ein Amüsement! Was der johanneische Jesus hier meint, ist soviel wie eine Forderung: 255

man muß durch Johannes den Täufer hindurchgegangen sein, sonst wird man nichts begreifen. Dieser Mann ist wirklich entscheidend, doch nur für die Menschen, die er zur Entscheidung zwingt. Das, was von seinem Licht ausgeht, ist die Entdeckung eines ungeheuren Schattenwurfs, ein heilsames Erschrecken. So muß Jesus selbst diesen Mann erlebt haben, betroffen, – er war etwa dreißig Jahre alt. Der Tempel von Jerusalem hatte ihm bereits nichts mehr zu sagen. Das Abschlachten von Tausenden von Schafen und Stieren für irgendeinen eifersüchtigen Gott war ihm obsolet geworden. Aber am Rande der Wüste, am Jordan, plötzlich dieser Klang, dieser Ruf des Kostbarsten, was die Bibel kennt, die Stimme eines Propheten – das hat Jesus wie so viele angezogen. Doch wie Johannes redet, läuft es hinaus auf eine grandiose Dramaturgie der Angst, auf eine sich vollendende Apokalypse. Die ganze Welt steht nach Meinung des Täufers am Abgrund, – lange kann es nicht mehr dauern! Alles ist am Ende, woran die Leute glauben und was sie für wichtig nehmen. Ihre Interessen, ihre Einrichtungen, ihre Konventionen, ihre Gesetze, ihre Moral, – nichts stimmt von alledem. Es ist daher nicht mehr getan mit irgendeiner Reparatur, – alles muß neu werden. Fast hilflos setzt der Täufer dagegen das Zeichen des Untertauchens in den Jordan, das Bild einer neuerlichen Sintflut, der nur entkommt, wer sie für sich vollzieht. Jesus muß all dem zugehört haben mit dem Gefühl, daß der Mann am Jordan völlig recht hat: – Genauso verhält es sich: Alles, was offiziell über Gott gesagt wird, ist eine einzige Lebenslüge, was man gesellschaftlich für wichtig nimmt, ist ein einziger Irrtum, das, was das Leben der Menschen bis in die Details hinein prägt, eine blanke Zeitvergeudung. Aber wenn das alles so ist, ist’s denn dann möglich, zu sagen: «Ich ändere mein Leben»? Ist nicht auch das ein Irrtum? Hat es überhaupt Sinn, zu glauben, wie Johannes das versucht, Menschen vermöchten ihr Leben dramatisch, mit einem einzigen Entschluß zu ändern, gewissermaßen wie im Ritual der charismatischen Bewegung: – heute nachmittag, im Beten vor Gott, wird dein ganzes Leben in göttlicher Vollmacht vollkommen anders? Kann und soll es wirklich so gehen? Jesus muß seine Taufe im Jordan, wie die Synoptiker erzählen, wirklich erlebt haben wie einen Untergang, wie ein Ende, wie einen Tod; ja, er muß gemeint haben, gerade so verdiene er es; Johannes habe ganz recht, zu sagen: Gott ist eine furchtbare Gewalt, die straft, und wir Menschen haben keine andere Chance, als unsere Schuld vor ihm zu bekennen. In dem Moment aber, wo Jesus bis zu diesem Äußersten kam, muß er gespürt haben, daß, wer sich Gott überläßt, einem anderen Gott begegnet. Die Sprache 256

des Mythos, der Legende schon im Markus-Evangelium (Mk 1,9-11) sagt: in dem Augenblick seiner Taufe habe der Himmel sich vor Jesu Augen geöffnet, und innerlich, geistig, habe er sich Gott verbunden gefühlt, wie wenn Gottes Geist gleich einer Taube sich auf ihm niederließe und er ein Wort vernähme, ein neues: Du bist mein geliebter Sohn. Theologisch wird dieses Bekenntnis Gottes zu Jesus auf die Gottesknechtslieder des Jesaja zurückgehen (Jes 42,1). Doch jenseits der Literarkritik handelt es sich um eine ganz entscheidende menschliche Erfahrung, die Jesus an dieser Stelle für sich macht und die er fortan jedem weiterschenken möchte: sich Gott zu überlassen, das bedeutet, aufzustehen aus dem Jordan und frei zu sein unter einem offenen Himmel, es bedeutet, zu leben aus dem Ursprung einer grundlosen Vergebung. Und weil selbst die Vergebung immer noch an dem Gefühl von Schuld und Sünde klebt, muß man sogar noch allgemeiner sagen: Was sich da formt, ist das Empfinden einer grundlosen Bejahung. Deshalb das Bild von Gott als dem Vater oder der Mutter, weil da etwas ist, von dem alles Leben kommt und ausgeht. Nur im Glanze dieser Güte, nur im Licht einer solchen Liebe wird ein Mensch jemals dahin kommen, zu wissen, wer er ist. Das ist das ganze, das einzig gültige Zeugnis. Johannes der Täufer ist auf dem Wege dahin nur ein Durchgang und ein Übergang gewesen. Das nächste Stichwort aber, das der johanneische Jesus in dieser Rede gibt, lautet: Denn die Werke, die mir der Vater gegeben hat, daß ich sie vollende, eben diese Werke, die ich tue, legen Zeugnis ab für mich, daß der Vater mich gesandt hat. Im Deutschen lieben wir es, Verben zusammenzusetzen, also Komposita zu bilden; wie soll man deshalb das einfache Wort «geben» verstehen? Soll es heißen: die Werke, die Gott «gegeben hat» im Sinne von «ermöglicht, geschenkt», oder soll es heißen: die Werke, die Gott «aufgegeben», «aufgetragen» hat? Ganz sicher beides. Da ist etwas, das als Geschenk erlebt wird, und daraus entsteht das Verlangen, den anderen genau dasselbe Gefühl mitzuteilen. Die Wirklichkeit der Person Jesu, die sich in seinen «Werken» spiegelt, ist keine andere als diese: den Lichtglanz weiterzugeben, in den er selber im Moment der Taufe im Jordan, nach dem Zeugnis der Synoptiker, eingehüllt wurde. Das ganze Gespräch im 5. Kapitel des Johannes-Evangeliums hat, wohlgemerkt, seinen unmittelbaren Anlaß in der Wundergeschichte, die uns erzählte, wie ein Mann nach fast vierzig Jahren von Lähmung, Hoffnungslosigkeit und Verzagtheit am «Teich der Gnade» in Jerusalem, am Teich Betesda, von Jesus aufgefordert wurde, seine Bahre zu nehmen und sich selber aufzumachen nach Hause, den Sabbat zu vergessen und einzutreten in die wahre Ruhe, die Gott uns schenkt. Dies ist ein solches der Werke 257

Jesu im Johannes-Evangelium, die zeigen sollen, welch eine Wirkung von dem Mann aus Nazaret ausgeht. Es ist wie bei der Frage mancher aufgeweckter Kinder an einem schönen Sommertage: da funkelt die Sonne ins Zimmer herein, und sie entdecken, daß ihre Strahlen auf den glitzernden Oberflächen einer kristallenen Schale oder auf der Brille ihrer Eltern sich brechen, und erstaunt fragen sie, warum eine kleine Glasscheibe ihrerseits so viel Helligkeit verbreiten kann. Der Vater oder die Mutter erklären dann dem Kind das Gesetz der Reflexion: Etwas, das ganz hell ist und alles zurückgibt, was es aufnimmt, wirkt wie ein Spiegel. Das Kind wird dann gern einen Spiegel nehmen und versuchen, wie weit es mit der Sonne aus der eigenen Hand heraus leuchten kann, – kilometerweit, wird es entdecken, so daß es die Augen aller, die dort hineinschauen, blendet. – Was wäre, wir lebten gerade so: wir nähmen die Sonne in uns auf, wir hielten sie nicht für uns fest, sondern wir gäben sie weiter mit all ihrem Licht? Johannes wollte das, aber von Jesus erfährt man’s: Seine Wirkung war es, daß jahrelange Gelähmtheit einen Menschen nicht mehr festhielt und daß die Totenkammern sich nicht endgültig schlossen. Was also müßte man Helene Alving in Ibsens Theaterstück sagen, auf daß sie leben könnte? Wie würde das Stück sich weitererzählen, wenn der Vorhang fiele und das Leben im Zuschauer nach johanneischen Maßstäben sich fortsetzen sollte? Ohne Zweifel müßten wir an der Stelle anknüpfen, wo Helene selbst sich am mutigsten zeigte: Ein Mensch hat das Recht, glücklich zu sein. Er darf sich nicht erdrücken lassen von der Zwangsmoral anderer. So etwas sagt Helene Alving bei Ibsen wirklich zu Pastor Manders: «Gesetz und Ordnung, es kommt mir oft so vor, als rühre davon alles Unglück hier auf dieser Welt her.» Das Unglück ergibt sich, indem man nicht schaut, was in einem Menschen vor sich geht, sondern indem man für alles schon das Korsett bereithält, auf daß man die Knochen – statt sie sich auswachsen zu lassen – von vornherein so hinbiegen kann, wie man sie vermeintlich braucht. Man müßte das Recht dieser Frau bestätigen, freie Gedanken zu hegen und das zu äußern, was sie selbst und auch alle anderen längst schon fühlen, was nur keiner sagen darf unter der Moderdecke der allgemeinen Moral. Man müßte sie in ihre schwerste Stunde begleiten, da sie erkennen muß, daß das, was sie mehr liebt als sich selbst, durch fremde Schuld zerstört ist und daß es nie wird wachsen können ohne das Beispiel, das sie selber durch ihr eigenes Leben zu geben hätte: eine Erlaubnis, im Leben glücklich zu sein. War es wirklich richtig, aus Enttäuschung über den Kammerherrn Alving jede persönliche Liebe aufzugeben und sich zum Opfer sogar noch den Verzicht abzuringen, zu 258

lieben heiße, das eigene Kind wegzugeben? War es richtig, dieses Kind dann in der Ferne zu nehmen wie einen Ersatz für das eigene Dasein, wie einen Trost? Dieses Kind ging zwar aus dem eigenen Leib und aus der eigenen Seele hervor, aber es hat doch auch ein eigenes Recht, selber zu sein. Man müßte all die Verzweiflung in Frau Alvings Leben noch einmal ins Wort kommen lassen und jedem, dem Kranken wie dem Gesunden, dem Zurückbleibenden wie dem Aufbrechenden, die Wahrheit zumuten, die in ihm selber liegt. Ibsen hat mit seinem Emanzipationsdrama so recht: Weil die Welt voller «Gespenster» ist, sind wir voll falscher Schuldgefühle, voll falscher Vorurteile, voll falscher Bewertungen, – riskieren wir uns selber nicht. Aber genau darauf käme es an. Jene Ehrenfeier am anderen Morgen für Kammerherrn Alving kann man ohnedies vergessen, – sie wird nie stattfinden. Aber was soll dann die ganze bürgerliche Anerkennung, das Ansehen vor den Augen der anderen? Wer wir selber sind, nur das ist wichtig; doch was wir sind, wird sich zeigen in der Art, wie wir Güte wirklich leben, an dem Glück, das wir weiterschenken. Es ist dabei nicht möglich, beides voneinander zu trennen oder in eine logische Reihenfolge zu bringen: erst das eine, dann das andere, sondern die eine Hand wird es gemeinsam mit der anderen vollenden. Das Zeugnis des anderen wird da zugleich zum Inneren und das Innere wird zu einer Realität, die auch das Äußere verändert. Freilich kann man an dieser Stelle noch einmal, grad weil es um alles geht, alles mißverstehen. Es gibt, wie gesagt, die hysterische Attitüde des Mißverständnisses. Da wird es zu einem Hauptanliegen, Religion als «Entertainment» zu präsentieren und als einen Rummel von Veranstaltungen zu zelebrieren. Es gibt daneben, ernster gemeint, aber nicht weniger tragisch, das zwanghaft-schriftgelehrte Mißverstehen der Bibel: Es gibt das Wort Gottes, bezeugt in Texten, in einer Überlieferung aufgeschriebener Worte, die Gott gesagt hat; wer sich in diese vertieft, sollte der nicht ganz von allein zur Wahrheit gelangen? Muß der nicht einfach nur tun, was da aufgezeichnet steht? Es ist die feste Überzeugung des Johannes-Evangeliums, daß man Gott niemals findet, wenn man ihn in fertig verfaßten Texten sucht. Jeder, der das Vierte Evangelium als eine Urkunde verstehen wollte, in welcher die Wahrheit Gottes ein für allemal festgelegt stünde, der würde es in seinem ganzen Kern mißverstehen. Johannes läßt bekanntlich vom historischen Jesus kaum ein einziges Wort vernehmen. Jahrzehnte vorher schon gab es schriftliche Überlieferungen von dem, was der Mann aus Nazaret wörtlich gesagt oder zumindest sinngemäß, durch bestimmte Tradenten ergänzt und zusammengestellt, selber geäußert hat. Im Johan259

nes-Evangelium aber kommt dieses Überlieferungsmaterial überhaupt nicht vor. Es möchte offenbar gar nicht, daß man sich an irgend etwas, das jemand einmal gesagt hat, klammert, daß also irgendein Stück bloßer Historie zum Rettungsanker erklärt wird, – ein solches Vorgehen könnte nach seiner Meinung nur die Gegenwart verstellen. Entweder das Göttliche redet jetzt, aus dem Inneren, ganz lebendig also – oder: überhaupt nicht! Vor diesem Hintergrund entwickelt sich an dieser Stelle gleich der nächste Vorbehalt. Nur die lebendige Wirklichkeit bezeugt etwas über einen Menschen und über Gott; diese Einsicht bietet nun den Maßstab, um zu begreifen, was man aus heiligen Schriften lernen kann und was nicht. Auch die heiligen Schriften beziehen sich entweder auf das Leben selber, oder sie gehen daran vorüber, sie tragen es, sie kommentieren es, sie ermöglichen es, oder sie stehen ihm im Wege. Man kann das, was in geschriebenen Worten lebendig ist, nur vom Leben und auf das Leben hin verstehen, anders bleibt es nichts als der Tod. Alle theologische Schriftgelehrsamkeit setzt das Vergangene an die Stelle des Augenblicks heute. Wie ein Wetterleuchten vornehmlich über der protestantischen Theologie des 19. Jhs. hat um 1820 Friedrich Schleiermacher bereits erklärt: «Ein frommer Mensch braucht nicht die Bibel, er ist die Bibel.» Er wollte damit sagen: Entweder steht in der Bibel etwas, das uns, wie vorher schon gesagt, hilft, stärker zu lieben, intensiver zu hoffen und uns selber mutiger zu leben, dann trägt es das Wort Gottes in sich selbst; oder wir lesen in der Bibel etwas ganz anderes, dann können wir sicher sein, daß es das göttliche Wort nicht in sich birgt. Maßstab für Gott in den Schriften ist die Liebe und die Menschlichkeit. Sie allein sind die Garanten, religiös Wahrheit zu finden. Die Schriften zu messen am Leben selber, das ist das Zeugnis. In den frühen Gedichten hat Rainer Maria Rilke – hundert Jahre fast nach Schleiermacher – in vier Zeilen zu sagen versucht, wie sich das Bild des Theologengottes, der Schriftgelehrtengott, dieser Prüfstein der Fundamentaltheologen und -ideologen, zu wandeln hat. Er meinte2: Du darfst nicht warten, bis Gott zu dir geht und sagt: Ich bin. Ein Gott, der seine Stärke eingesteht, hat keinen Sinn. Da mußt du wissen, daß dich Gott durchweht seit Anbeginn, und wenn dein Herz dir glüht und nicht verrät, dann schafft er drin. 260

Alles, was Johannes sagen möchte, besteht darin, daß Gott Geist ist, daß Gott innerlich ist und daß er eine Wirklichkeit schafft, die sich nur geistig und innerlich verstehen läßt. Alles äußere Zeugnis demgegenüber ist nichtig. Wohl: Es gibt, meint Jesus, das Zeugnis des Mose; es gibt das Zeugnis der Schriften, – doch statt die Schriften zu repetieren, sollten wir den Mut haben, zu leben, wovon die Schriften erzählen. Ein Beispiel: Der berühmte französische Exeget und Patriarchenforscher Roland De Vaux hat mehr als vierzig Jahre seines Lebens der Frage gewidmet, ob Abraham, Isaak und Jakob wirklich gelebt haben, ob sie wirkliche historische Gestalten waren. Ihr historischer Ort muß in der aramäischen Wanderbewegung aus dem Inneren der arabischen Wüste gelegen haben; zwei solcher Migrationen gab es damals offenbar um 1800 v. Chr., eine nach Osten, nach Mesopotamien, eine andere nach Westen, ins Gebiet Palästinas. Ist diese zweite westliche Wanderbewegung aramäischer Stämme nun die Berufung Abrahams zum Zug aus Ur in Chaldäa nach Kanaan, wie Genesis 11,31.32 und 12,1-3 es erzählen? Es wäre möglich, aber dann wären die Patriarchen die Verkörperung eines ganzen Volkes, dann wären sie keine individuellen Gestalten. Und weiter: wie viele Jahrhunderte lang hätte diese Bewegung gedauert, wieviel Historie prägt sich in ihr aus? – Am Ende seines Forscherlebens gestand der beste Experte der katholischen Exegese in Fragen der Patriarchenforschung, daß er nicht wisse, wie man diese Frage beantworten solle, ob Abraham, Isaak und Jakob wirklich gelebt hätten. Kann ein Leben, religiös gesehen, nutzloser verbracht werden? Wie wäre es, wir brächten vierzig Jahre einmal damit zu, Abraham und seine Frau Sara auf ihren Wanderungen zu einer fernen Berufung in unserem heutigen Leben zu suchen? Wir gingen mit ihnen, wie sie vor lauter Hunger auf der Flucht nach Ägypten und später nach Gerar unterwegs sind (Gen 12,10-20; 20,1-18; vgl. 26,1-11); wir fänden einen Mann vor, der seine Frau verleugnet, damit man ihn nicht aus Eifersucht totschlägt, weil sie so schön ist; dieser Mann wird sein Kind und seine Magd verstoßen vor kleinlicher Eifersucht und rachsüchtigem Haß (Gen 16,1-16) aus dem Mund einer Frau, die er selber nach der Geburt ihres Kindes Isaak, «zur Freude geboren», «die Fürstin» nennen wird: Sara mit Namen (Gen 17,15); plötzlich begriffen wir, wie gering wir Menschen unter einem offenen, großen Himmel sein können und wie unendlich der Raum sein muß, in dem wir reifen dürfen. Die Frage wäre dann nicht mehr, was die Bibel uns von bestimmten vergangenen Gestalten historisch berichtet; ihre Erzählungen würden zu einer 261

Anregung, sich selber auf den Weg zu machen in eine ferne Zukunft, die wir nicht kennen, und selber auf die Suche zu gehen zwischen Enge und Angst und Weite und Weisheit. Dann hätte es keinen Sinn, einen Glauben an Jesus zu beschwören als an den Sohn Gottes, außer wir lernten, ein absolutes Vertrauen zu finden, so groß, daß wir versöhnt würden mit uns selbst, fähig, an unserer Seite auch andere Menschen so in die Arme zu schließen, daß sie sich umfangen, geliebt und berechtigt fühlten. Nicht Jesu Worte zu zitieren oder zu rezitieren, nicht Glaubensbekenntnisse über ihn zu psalmodieren, sondern die Vollmacht, so zu existieren, das hieße es zu begreifen, wieso die Schriften ihn bezeugen und wieso ihr Zeugnis wahr ist. Da kann selbst Mose zum Ankläger gegen die Mitglieder seiner eigenen Religionsgemeinschaft werden. Wenn wir von Mose nur zur Kenntnis nehmen, daß er eine Reihe von Gesetzen erlassen hat, die Zehn Gebote und dann noch über sechshundert weitere Vorschriften, dann «haben» wir Mose und haben ihn nicht. Sehen wir aber in Mose jemanden, der ein ganzes Volk bei Nacht und Nebel an der Hand nahm und es hinausführte in die Freiheit, durch Meer und Wüste, durch Krieg und Verzweiflung, durch Hunger und Durst in ein Land, das es nicht kannte und das doch die ihm bestimmte Heimat war, so hätten wir den Aufriß eines ganzen Lebens; und das bildete den Maßstab, alles zu verstehen. Jesus muß da nicht irgendeinen «antijudaistischen» Vorwurf erheben; das, was er selber historisch gelernt hat von Mose, besteht darin, zu leben wie er, zu wirken wie er. Das ermöglicht ihm Gott, das erwartet von ihm Gott, das ist seine Gabe, seine Aufgabe, seine Größe, seine Gefahr, sein Suchen und seine Versuchung, sein Weg und seine Verwegenheit. Vor einer Weile traf ich einen alten Mann, der all diese Texte nicht im Sinn trug, der aber sich vorbereitete auf sein Sterben, und ich dachte: ihm zuzuhören wird mir helfen, zu verstehen, was es heißt: Die Toten werden hören die Stimme des Gottessohns, und zum Hören gekommen, werden sie leben. Dieser Mann hatte viel erlebt. Fast neunzig Jahre war er alt, von den Ärzten schon totgeschrieben seiner unheilbaren Leukämie wegen, und doch erklärte er fast heiter, keine Angst vor dem Ende zu haben, das unabwendbar näher heranrückte. Immer, wenn er nach kleinen Einkäufen im Dorf nach Hause zurückkehrt, betritt er sein Heim, wie er es nennt, mit dem Ausblick auf einen kleinen Garten, über dem die Sonne untergeht. In diesem seinem Heim vermißt er eigentlich nichts, und der Grund dafür ist, daß er gelernt hat, bei sich selbst zu Hause zu sein. Der Moment, da er es lernte, ist für ihn gebunden an wenige Stunden einer unerträglich langen 262

Zeit in russischer Gefangenschaft. Von den zweihundert Leuten in seinem Lager starben in den ersten drei Monaten mehr als hundertzwanzig, berichtete er; wenn er sich umschaute, konnte er schon im voraus fast sicher wissen, auf wessen Stirn der Tod das nächste Zeichen prägen würde. Irgend etwas in der Kälte, in dem Hunger, in der Nähe des Untergangs hat ihn damals getragen. Er besitzt kein Wort für dieses Etwas; er zögert, es als Gott zu bezeichnen. Er nennt es lieber das Gefühl, umfangen zu sein. Er macht dabei dieselbe Bewegung, die er wie zufällig machte, als er über seine Mutter sprach. Und wirklich, wenn er am Abend betet, fragt er sich manchmal, ob sie es höre. Es gibt Augenblicke in seinem Leben, auf die er stolz ist. Er war Lehrer gewesen, hatte sich aber um die Lehrpläne schon vor über fünfzig Jahren nicht sonderlich gekümmert; statt dessen las er sehr gern Adalbert Stifter, und er sagt: «Dichter wie Stifter können das Verborgene, das Große zeigen und es im Kleinen und Unscheinbaren bezeugen.» – «Menschen wie Sie», fragte ich ihn, «sprechen so tief, daß sie im Grunde zu allen Dingen immer das gleiche sagen; was ist das Wort, das Sie Ihren Schülerinnen und Schülern vor über einem halben Jahrhundert sagen wollten?» – «Daß sie leben sollten, was sie selber sind.» Er wiederholte es noch einmal: «Daß sie leben sollten, was sie selber sind.» – «Und woher wissen sie», fragte ich ihn, «was sie selber sind? – Die ganze Umgebung erklärt ihnen, wie sie sein sollen!» – «Ja, deshalb habe ich mit meinen Schülern ja Dichtung gelesen, damit sie lernen könnten, tiefer zu hören, nicht nach außen, sondern nach innen, und vor allem auf die Menschen, die sie wirklich lieben.» Das ist die ganze Geschichte vom Zeugnisgeben an der Schwelle des Todes zugunsten des Lebens; das ist die ganze Wahrheit der Schriften. Das ist das Ende zugleich, Zeugnis anzunehmen von anderen. Was die Geschichte über uns schreibt, was die anderen aus uns machen, das alles ist so unwichtig; aber dahin zu gelangen, daß es im Augenblick gilt, das zählt. Und so sagte dieser Mann wie zum Abschied: «Für mich ist jeder Tag, den ich noch lebe, ein reines Geschenk. Unser Gespräch jetzt wird die Räume meines Heims ausfüllen.» Dieses Gespräch war gewandert von der Literatur zu dem Tod seiner Frau, zu den Museen der Welt, zu den Bildern vor allem der Renaissance-Zeit, und es endete mit dem Hinweis auf seine Gambe; die Musik liebte er mehr als alle Worte und alle Bilder. 263

Die Geheime Offenbarung, aber auch Paulus (1 Thess 4,16), stellte sich vor, daß sich die Toten aus ihren Gräbern erheben würden beim Stoß der Posaune, die ein Engel blasen würde. Doch vermutlich ist alles viel leiser, viel zärtlicher: Alle Menschen, die den Klang «ihrer» Musik im eigenen Herzen wahrnehmen, werden «auferstehen» vom «Tode» und sich «erheben» aus ihren «Gräbern». Für unser irdisches Leben bereits gilt dies auf Grund der Botschaft des Mannes, den Johannes das «Wort» Gottes nennt, aber auch für jenes Leben jenseits des Todes. Sagen wir es mit den Worten Jean Pauls3: Zum Engel der letzten Stunde, den wir so hart den Tod nennen, wird uns der weichste, gütigste Engel zugeschickt, damit er gelinde und sanft das niedersinkende Herz des Menschen vom Leben abpflücke und es in warmen Händen und ungedrückt aus der kalten Brust in das hohe, wärmende Eden trage. Sein Bruder ist der Engel der ersten Stunde, der den Menschen zweimal küsset, zum erstenmal, daß er dieses Leben anfange, zum zweitemal, daß er droben ohne Wunden aufwache und in das andere lächelnd komme, wie in dieses Leben weinend.

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Joh 6,1-21: Brotvermehrung und Seewandel oder: Großzügiges Geben und furchtloses Gehen 1Danach

ging Jesus weg, nach jenseits des Sees von Tiberias. folgte ihm aber viel Volks, denn geschaut hatten sie die Zeichen, die er tat an den Kranken. 3Hinauf aber den Berg stieg Jesus, und dort setzte er sich mit seinen Jüngern. 4Es war aber nahe das Pessah, das Fest der Juden (2,13; 11,55). 5Aufhob da Jesus die Augen, und wie er erschaut, daß viel Volks kommt, zu ihm, sagt er zu Philippus: Woher sollen wir Brote kaufen, daß sie zu essen haben? 6Das aber sagte er zur Erprobung für ihn; er selbst nämlich wußte, was er tun wollte. 7Geantwortet hat ihm Philippus: Für 200 Denare (ca. 75 Euro) Brot (ca. 1500 Fladenbrote) reicht nicht für sie, damit jeder (auch nur) ein bißchen bekommt. 8Sagt ihm einer aus (dem Kreis) seiner Jünger, Andreas, der Bruder des Simon Petrus: 9Da ist ein kleiner Junge hier, der hat fünf Gerstenbrote und zwei Fische. Doch das – was ist das für so viele? 10Sprach Jesus: Macht, daß die Menschen sich niederlassen. Es war ja viel Gras an dem Ort. Sie ließen sich also nieder – (allein) die Männer an Zahl etwa 5000. 11Genommen hat nun die Brote Jesus, und nachdem er den Dank gesprochen, teilte er den Gelagerten aus, ebenso auch von den Fischen, so viel sie wollten. 12Wie sie aber voll gesättigt waren, sagt er seinen Jüngern: Sammelt die überschüssigen Brocken, daß nichts verdirbt. 13Sie sammelten also und füllten zwölf Körbe mit Brocken – von den fünf Gerstenbroten, die überschüssig waren denen, die gegessen hatten! 14Die Menschen nun, wie sie sahen, was er getan hatte, was für ein Zeichen, da sagten sie: Der ist wahrhaftig der Prophet, der kommen soll in diese Welt (Dtn 18,15). 15Jesus da, als er erkannte, daß sie kommen und ihn gewaltsam wegführen wollten, um einen König (aus ihm) zu machen (18,36), entwich abermals auf den Berg, er allein. 16Wie es dann Abend geworden, stiegen seine Jünger hinab zum See. 17Und sie stiegen in ein Boot und setzten über jenseits des Sees nach Kafarnaum. Und da: Dunkelheit war schon angebrochen, doch noch nicht war Jesus zu ihnen gekommen, 18und der See unter heftig wehendem Winde ging hoch. 19Sie hatten bereits zurückgelegt etwa 25 bis 30 Stadien (5–6 km), da schauen sie Jesus, wie er einherschreitet auf dem See und nahe dem Boot kommt, und Angst überkam sie. 20Er aber sagt ihnen: Ich bin. Habt keine Angst. 21Da wollten sie ihn ins Boot nehmen, und sogleich war das Boot am Land, auf das sie zuhielten. 2Es

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Im vorhergehenden Abschnitt lautete die Frage: Wie kann ein Mensch wissen, wer er selber ist? Woher bekommt er ein Zeugnis oder eine Bestätigung für das, was er ist? Jetzt greift das Johannes-Evangelium zwei weitere Begebenheiten aus seiner Wunderquelle auf: die Brotvermehrung und den Seewandel Jesu, beides Bilder, die später zu einer langen Offenbarungsrede über das, was Jesus selber ist, hinüberleiten werden. Was bedeutet es, ein Mensch zu sein? An einer Stelle seines großen Josephromans macht Thomas Mann sich Gedanken darüber, wie in der Bibel das individuelle Leben geschildert werde. Wer ist Jakob? Scheinbar eine einzelne Person; doch untersucht man seine Geschichte, so führt sich in ihr offenbar die Wiederholung eines älteren Schemas auf, das schon gültig war bei seinem Vater Isaak; und in dessen Leben wiederum kam zum Austrag, was bereits in Abraham vorgebildet war1. Bedeutet zu leben nicht immer wieder, daß Uraltes, Vorgeprägtes, gestaltend und verpflichtend in unserem Dasein tätig wird? Dann läge die Bedeutung des Individuums gerade darin, sich an das Vorgefundene, weil das allgemein Gültige, anzugleichen, und es gäbe dem Gemeinsamen nur noch zusätzlich seinen eigenen Namen, um es weiterzutragen durch die Generationen. Der Einzelne, im Schimmer des Mondlichts betrachtet, erschiene wie eine silberne Welle, die sich aufwirft unter dem Drängen einer anderen Welle, die ihr voranging, und stößt eine neue an, und immer so weiter. Alles Einzelne scheint da zu zerfließen und selber nur ein Moment im Übergang zu sein. Ganz so diese beiden Erzählungen im 6. Kapitel des Johannes-Evangeliums, die auf merkwürdige Weise in ihrer Zusammenstellung eine Einheit bilden und zum Teil alttestamentlichen Vorbildern folgen. Zusammengestellt sind sie, denn wir finden sie in den sogenannten synoptischen Evangelien unabhängig voneinander: Jesus geht über den See, – das erzählt uns Matthäus im 14. Kapitel (14,22-27) und Markus (6,45-52)2 sowie Johannes selber noch einmal in analoger Form in dem sogenannten Nachtragskapitel, in Kapitel 21,1-14. Es handelt sich bei der Novelle (bzw. Mythe) vom Seewandel Jesu erkennbar um eine Geschichte, die aus der Zeit nach Ostern in das diesseitige Leben des Mannes aus Nazaret eingetragen worden ist. Aber das wissen wir schon: Für Johannes gibt es eine solche Gliederung in vor- und nachösterlich gar nicht; er akzeptiert nicht die Zweiteilung, wonach dieses Leben hier auf der Erde spielt und dann der Tod kommt, um etwas ganz anderes, Himmlisches, vorzubereiten; sondern das Göttliche, das Himmlische, gestalte sich jetzt und hier, meint das Vierte Evangelium. Diesseits und Jenseits sind da nicht gegeneinander abgezirkelt, sondern ganz im Gegenteil: das wirkliche Leben eines Menschen auf 266

Erden vollzieht sich in der Darstellung des Johannes überhaupt nur kraft des Ewigen, kraft des Göttlichen. Wer diesen Hintergrund nicht findet, lebt nimmer wirklich, der existiert im Tod, während er wähnt, doch zu leben. Alles, was in den ersten drei Evangelien zeitlich nacheinander angeordnet wird, bildet für Johannes eine Einheit, die je nach der Entscheidung sich trennt zwischen Leben und Tod, zwischen Licht und Dunkelheit, zwischen Tag und Nacht – sagen wir hier schon: zwischen Festland und Meer. All das sind Bilder im Vierten Evangelium, die Daseinsorte beschreiben, je nachdem wie das Leben uns erscheint, je nach der Wahl, die wir im Grunde für uns getroffen haben, oder – um Johannes genauer wiederzugeben – nach der Wahl, die Gott mit uns getroffen hat, denn nie entscheiden wir uns, meint dieser Evangelist, einfach nach freien Stücken; alles ist da Geschenk aus Begegnung und Begnadung: niemand macht sich da selbst, sondern alles vollzieht sich aus Gott oder gar nicht. Jesus vermehrt Brote, – das berichtet das Markus-Evangelium gleich zweimal, in Kapitel 6,30-44 und Kapitel 8,1-9. Daß Johannes beide Geschichten – die vom Seewandel und von der Brotvermehrung – hier in eine einzige Handlung zusammenfügt, als ein Geschehen am Tage und als ein Geschehen bei Nacht innerhalb weniger Stunden, zeigt uns, daß er etwas Neues im Sinn trägt, das weder bei Markus noch bei den anderen beiden synoptischen Evangelisten so komponiert oder konzipiert war. Das entscheidende Stichwort ist, wie beiläufig, eine Zeitangabe; doch nie spricht Johannes eine solche aus, um uns über Kalenderdaten zu informieren. Es war, sagt er, Pessah; und als wenn er es mit Lesern zu tun hätte, die vom jüdischen Glauben, vom Alten (oder vom Ersten) Testament noch nie etwas gehört hätten, fügt er noch hinzu: das war das Fest der Juden; es war das Fest, müßte man sagen, es ist der Mittelpunkt aller jüdischen Feste. Dann aber setzt Johannes merkwürdigerweise einfach voraus, daß man schon versteht, was Pessah bedeutet, und zwar gerade für gläubige Juden. Das Pessah-Fest ist verknüpft mit dem Gedanken des Ausbruchs und Aufbruchs des Volkes Israel aus Ägypten, mit der Beendigung von Abhängigkeit und Lohngefangenschaft, mit dem Ende des endlosen durch Fronarbeit sich rechtfertigenden, mühsalgepeinigten Aufenthalts im Land der Fremde. Pessah, das war die Stunde, in der Israel lernte, bei Nacht und Nebel zu fliehen und alles zu verlassen, was ihm bisher Daseinssicherung zu bieten schien (Ex 12,1-28; 13,1-16). Man kann gleichzeitig Sklave sein und dennoch wohlversorgt; man kann in fremder Menschen Hand gegeben sein und sich gerade dadurch wie gesichert, wie sorgenfrei fühlen. Die Gefahr liegt darin, sich an diesen 267

Zustand so sehr zu gewöhnen, daß jede andere Möglichkeit, jede Alternative, zu leben, als ein zu hohes Risiko empfunden wird. Mose hat sein Volk gelehrt, gerade dieses Wagnis seiner Freiheit einzugehen: lieber ins Ungewisse, hinein in die Wüste, lieber ins Niemandsland, hinein ins Noch-nieBegangene, als sich weiter zu verhocken in einem Leben, das wie gestohlen, wie weggenommen ist, oder das umgekehrt wie eine Prämie für Bravheit und Wohlgefälligkeit empfunden wird. Pessah, das bedeutet den Mut zur Freiheit, das bedeutet das Ergreifen eines eigenen Daseins für ein ganzes Volk. Und so ging es dann weiter. Die Stunde kam unter der Führung des Mose sehr bald, daß das Volk, angelangt an dem Ufer des Roten Meeres, hinter sich die Reiterwagenabteilungen des Pharaos herannahen sah. Bedrängt von der Vergangenheit und abgeschnitten von der Zukunft, wußte es weder nach vorn noch nach rückwärts weiter. In dieser Situation wirkte Mose ein Wunder, das wie die Vorlage ist für das, was Johannes hier erzählt: Er nahm die Seinen bei der Hand, er stellte sich ans Ufer, er streckte seinen Stab über das Wasser, und er rief seinem Volke zu: Kommt! Und dieses, indem es dem Anruf folgte, sah, wie das Meer vor seinen Füßen sich öffnete, so daß es trockenen Fußes hindurchschritt auf den Mann zu, der vom anderen Ufer her sein Vertrauen bildete (Ex 14,16-22). Hernach dann begann die Sorge um das bloße Überleben in Wüstenei und Trockenheit, zwischen Sand und Steinen; ein neues Wunder mußte Gott wirken durch die Hand des Mose, daß er Manna vom Himmel regnen ließ; an jedem Morgen hob das Volk vom Boden etwas auf, das weiß war wie Koriandersamen und süß wie Honigkuchen in seinem Munde. «Was ist das?» fragte es erstaunt und dankbar in jedem Sonnenaufgang: Man hu – Manna nannte man’s (Ex 16,15.31). Am Ende aller Angst, am Ende aller Unwegsamkeit, am Anfang dieser seiner neuen Freiheit weiß ein Mensch offenbar niemals schon, wovon er leben soll. Er kann nur darauf vertrauen, daß es irgendwie weitergeht; er lebt buchstäblich von der Hand in den Mund, jeder Tag ein unverdientes Geschenk. Nichts ist gewiß, nichts ist gesichert, und doch geht es Schritt für Schritt weiter. Zum Thema Pessah und Exodus kam noch als ein weiterer Gedanke hinzu, daß das Volk sich als solches forme vor dem Berg des Gesetzes. Da stand Mose im Kreis der Ältesten und gab Israel das Gesetz, die Botschaft Gottes, wie zu leben sei (Ex 19; 20). – Schon das Erste Evangelium, Matthäus in den Kapiteln 5 bis 7, hat diese Szene vom Sinai zur Vorlage für seine Bergrede genommen. Da verkündet der historische Jesus in den Augen des Matthäus ein neues Gesetz, eine neue Ordnung, und er richtet sie – ganz wörtlich – an all diejenigen, «die übel dran waren», an die Kran268

ken, näherhin an die Mondsüchtigen, die Gelähmten und die Besessenen (Mt 4,24). Alles, was Jesus mit seinem neuen «Gesetz» bewirkt, ist zu verstehen als Mittel zur Heilung menschlichen Leids. Das nun wird das Stichwort am Anfang der Geschichte von der Brotvermehrung bei Johannes. Die Leute haben gesehen, wie Jesus Kranke heilt, welche Zeichen er an ihnen wirkt. Davon hat Johannes uns bisher nur dürftig berichtet. Der Sohn eines königlichen Beamten in Kapitel 4 (Joh 4,43-54); ein Gelähmter am Teich Betesda in Kapitel 5 (Joh 5,1-9), – das ist, gemessen an dem Reichtum von Heilungsgeschichten in den ersten drei Evangelien, merkwürdig wenig. Aber wir wissen bereits: für Johannes bedeutet die Heilung auch nur eines einzigen Menschen den Anfang einer völlig neuen Lebensform, die Gültigkeit für alle beansprucht. Da gibt es etwas zu lernen, das dann in langen Gesprächen dargelegt wird; immer reifer und reiner soll es sich klären, wer die Menschen an der Seite des Mannes aus Nazaret sind oder sein könnten, an der Seite des Mannes, der wie von einer anderen Welt, aus der Sphäre des Göttlichen, zu uns kam. Von ihm und dann auch von uns kann man jetzt nicht länger mehr sagen, wir lebten, um uns in das Vorgeformte einzupassen, wir seien nichts weiter als das Füllsel einer allgemeinen Exemplarform, und der Sinn unseres Lebens gründe darin, uns möglichst genau dem Vorbild der Vorzeit anzugleichen; ganz im Gegenteil: Es ist das Beispiel Jesu, durch die Kraft der eigenen Person das Vergangene noch einmal ganz neu zu schreiben. Gerade das deutet Johannes an, indem er Jesus selber in das Zentrum von allem stellt: Er ist es, der das Brot verteilt, anders als Mose, obwohl ihm ähnlich. Er bittet nicht zu Gott, es vom Himmel regnen zu lassen, auf daß die Menschen gespeist werden mögen; er nimmt selber das Brot und teilt es aus; alles geht durch seine Existenz hindurch, was für uns zu Vorbild und Gleichnis werden soll. Wie streng sich jetzt das Allgemeine vom Einzelnen trennt, offenbart sich vor allem am Ende der Brotwundergeschichte: Kaum drängen die Menschen zu ihm, um aus Jesus einen Führer, einen König zu machen, da zieht er sich auf den Berg zurück, er ganz allein. Das ist ein Wort – so klar und offenbarend, daß deutlich wird, wie vom Glauben johanneisch zu denken sei: Er wird nicht in der Masse gewonnen, obwohl er allen zugute kommt; er will vielmehr bewahrt sein im Einzelnen, damit er für alle allererst wirksam zu werden vermag. Ganz so, wenn Jesus hier auf dem Berge Platz nimmt. Dieser Berg ist gewissermaßen ein zweiter Sinai. Johannes überliefert nicht so etwas wie eine Bergpredigt; doch das, was Jesus hier tut, ist für Johannes seine ganze Botschaft: Menschen Brot zu geben, das ist der erste und wichtigste Inhalt von 269

allem, das ist die Zusammenfassung, die alles in sich schließt. Wenn Jesus dann über das Wasser zu seinen Jüngern kommt, kehrt offenbar die alttestamentliche Bildvorlage noch einmal, nur in anderer Motivfolge, wieder: vom «Sinai» wird da nicht durch das Rote Meer, wohl aber über den See von Gennesaret hinübergegangen in das Land, auf das sie zuhielten. Das Land ist im Sprachgebrauch der Bibel zweifellos das verheißene Land, es ist «Israel», aber wieder nicht äußerlich, sondern ganz und gar innerlich. Diese kleine Geschichte will offenbar alles, was ehedem von «Israel» erzählt wurde, neu berichten und umkehren: Vom Berg der Verkündigung, vom Sinai, hinüber, durch die Furt, über das Wasser, hin zu dem Land, zu dem Gott uns bestellt hat – das beschreibt den Wüstenzug Israels in entgegengesetzter Richtung bis hin zur Erfüllung. Der Berg, auf dem sich dieses Pessah ereignen mag, ist dann auch schon nicht mehr der Sinai, eher der Berg Zion. Alles Kultische hebt sich da zu einer wahren Gottesverehrung auf, indem man die Haltung der Frömmigkeit nicht mehr in bestimmten heiligen Zeichen zur Aufführung bringt, sondern indem man sie in der eigenen Existenz lebt. So müßten wir diese beiden Wundererzählungen, diese Zeichen, wie Johannes immer wieder bewußt sagt, verstehen als ein Gleichnis für die Art, wie wir selber richtig unser Dasein entwerfen sollten. Eine Frage, die sich bedrängend, quälend, immer neu, zu allen Zeiten und Orten stellen muß, lautet, wie wir mit der Not und dem Leid anderer Menschen umgehen. Passiert es auf dieser Welt auch nur ein einziges Mal, daß da so etwas wie ein Schimmer von Helligkeit durch die Nacht dringt, daß da ein Ort sichtbar wird, an dem Hilfe möglich sei, so werden die Menschen in Scharen sich dahin wenden wie Falter zum Licht: Da wird eine Hoffnung erkennbar, von der sie wie magisch angezogen werden. Grad so hat Jesus es historisch bereits erlebt. Im Johannes-Evangelium hat er erst zweimal Kranke geheilt, und schon drängt sich viel Volks zu ihm. Es ist eine ähnliche Szene wie in der eben erwähnten Stelle von Mt 4,24, in der Einleitung zur Bergpredigt: da kommen sie alle mit ihren Krankheiten zu Jesus. Der Sinn aller Religion bestünde demgemäß darin, den Menschen in ihrer Not, der seelischen genau so wie der körperlichen, beizustehen, so gut es irgend geht. Es ist schwer, sich einen absurderen Einwand gegen diese Einheit von Heil und Heilung, von Therapie und Frömmigkeit im Wirken Jesu vorzustellen als denjenigen, der aus Theologenmund nicht selten lautet, Lebenshilfe sei nicht Religion, Psychotherapie sei nicht Teil des Religiösen – so als ließe sich mit dem Blick auf Jesus die Kunde von Gott und die Güte zum 270

Menschen in getrennte Bereiche aufspalten, so als wäre nicht beides handlungsgleich und miteinander auf das engste verbunden. Demnach stellt sich die Frage hier zunächst einmal denkbar wörtlich und äußerlich: Was läßt sich tun gegen den physischen Hunger der Menschen? In dieser Szene nimmt Jesus selber die Verantwortung auf sich. Er war es, der die Menschen angelockt hat; wie und womit also soll er sie speisen? Die Frage begleitet uns durch jeden Tag. Wenn wir morgens die Zeitung lesen, wird uns die bedrückende Wirklichkeit immer neu zur Herausforderung: Da hungern die Menschen zu Millionen, und es scheint dagegen jahraus, jahrein, Jahrzehnt um Jahrzehnt nicht nur keine Lösung zu geben, sondern es scheint im Gegenteil nur immer schlimmer zu werden. Was ist zu tun? Allein schon an der Außenseite des Problems macht sich diese Frage fest. Es gibt die eine, die fundamentalistische, die fromm-gläubige, die abergläubische Auskunft: Jesus als Gottessohn konnte fünftausend Männer an einem Nachmittag mühelos speisen, da er ja ausgestattet war mit göttlicher Kraft. Eine solche Auffassung klingt nicht nur fromm, sie ist vor allem sehr bequem, denn etwas Vergleichbares vermögen wir nicht, können wir nicht, brauchen wir nicht; es genügt entsprechend dieser Deutung, auf die Knie zu sinken und uns von Christus, dem Herrn, das Brot reichen zu lassen, das er uns schenkt. Aus Fragen der Existenz wird da unter der Hand eine Frage des Sakramentalismus. Das Brot, das Jesus uns gibt, ist dann die Eucharistie; den Mund zu öffnen und sich in Demut, Andacht und Ehrfurcht beschenken zu lassen gilt da als einzig rechter Gottesdienst. Gefragt, was die fünfzig Millionen Menschen davon haben, die jahraus, jahrein verhungern, wird man sagen: «Nun wohl, wir sammeln bei solchen Gottesdiensten mindestens zweimal im Jahr, vor Weihnachten und Ostern, zu Adveniat und Misereor oder für ‹Brot für die Welt›, Gelder gegen das Leid der Menschen.» So mag man sich trösten – oder belügen. Die reale Wahrheit ist sehr simpel. Selbst wenn man annimmt, daß alle Christen, die in die Kirche gehen, bei den entsprechenden Kollekten an die 30 Millionen Euro spenden – für jeden einzelnen ist das zweifellos eine Menge Geld –, so muß man doch nur ein wenig rechnen und wird bald begreifen, daß die katholische wie die evangelische Kirche, daß alle Fürsorgeorganisationen in Deutschland, Westeuropa, Nordamerika, überall, wo vergleichsweise wohlhabende Menschen wohnen, am Ende eines Jahres auf diese Weise gerade so viel gesammelt haben werden, daß sie für vierzehn Tage die Zinsen der Schulden der Länder der Dritten Welt zusammenge271

bracht haben. Das war’s dann. Von der Ausbeutung der Länder der Dritten Welt beziehen wir einen erheblichen Teil unseres Wohlstandes, aber aus dem erwirtschafteten Überfluß wollen wir dann wohltätig werden für die Mittellosen – ein irrsinniger Kreislauf mutwilliger Selbsttäuschung. Liest man die Erzählung von der Brotvermehrung, so stellt es eine Provokation dar, daß Jesus einen seiner Jünger fragt: «Wie speisen wir die Leute? Was machen wir jetzt?» Philippus erklärt: «Nicht einmal zweihundert Denare – wenn wir sie denn hätten! – würden ausreichen für all die Leute.» So geht es uns stets: Die erste Antwort, die uns auf die Frage des Massenelends der Menschen einfallen wird, ist die ganz normale Philippus-Antwort, die absolut vertraute in Kirche und Gesellschaft; sie lautet: «Gewiß, es gibt Notleidende, es gibt Hungernde; gewiß, 80 Prozent aller Kapitalströme fließen an den 100 ärmsten Ländern vorbei; aber wir haben Grenzen, wir können nicht viel tun. Alles, was wir haben, ist viel zu wenig. Sobald wir anfangen zu rechnen, und das müssen wir, gerade in Wirtschaftsfragen, werden wir sehen, daß es nicht auslangt, um global wirksam zu helfen.» – Selbst wenn wir nicht nur privat manchmal in Kirche und Gesellschaft spenden würden, selbst wenn wir den Staat in Dienst nehmen würden, um Mitleid und Menschlichkeit nicht als bloße Bürgerpflicht, sondern zugleich als Staatsaufgabe zu definieren, bräuchten wir ein internationales Konzept; bei der Abrüstung zum Beispiel: 30 Milliarden Euro geben wir in Deutschland immer noch pro Jahr für immer scheußlicheres Kriegsgerät aus; die USA leisten sich sogar pro Tag 1 Milliarde Dollar für die größte Vernichtungskapazität aller Waffensysteme der Welt. Wem soll das nützen? Aber wir dürfen gewissermaßen nicht wirklich abrüsten in «Bündnistreue» oder aus Solidarität im Anti-Terror-Krieg, als käme nicht der größte Teil der weltweiten Gewaltbereitschaft aus dem erkennbaren Unrecht zwischen Arm und Reich, Mächtig und Ohnmächtig, Überlegen und Unterlegen. Auf diese Weise haben wir niemals Geld genug, um hilfreich zu sein. Zudem basiert unser Wohlstand auf einer riesigen Staatsverschuldung: Rund 60 Prozent der Nettokreditaufnahme des Staates gehen immer noch pro Jahr für die Schuldentilgung, für die Zinsen der Altschulden drauf. Dann kommt die Opposition und erklärt, daß die Regierung keine Manövriermasse zum Handeln mehr hat – selbst für wichtige Projekte nicht; wie sollen wir da zu strukturellen Verbesserungen der Lage der Länder der Dritten Welt beitragen? In jedem Falle zeigt sich, daß wir bei aller Rechnerei weder den notleidenden Menschen wirklich helfen können noch daß wir selber richtig zu leben verstehen. In der nun folgenden Darstellung der Brotvermehrung weicht das Johan272

nes-Evangelium von den Erzählungen der ersten drei Evangelien in einem entscheidenden Punkte ab: Als Jesus seine Frage an Philippus richtete: Woher sollen wir Brote kaufen, habe er ihn auf die Probe stellen wollen. Dieses Wort: auf die Probe stellen oder: in Versuchung führen ist ein Ausdruck, den die Bibel oft gebraucht und der Menschen, die die Bibel ernst nehmen, zutiefst erschüttert. Ist denn das möglich, daß Gott mit uns Menschen derart verfährt? Und daß Jesus es hier auch tut? Vor allem die Vaterunser-Bitte Und führe uns nicht in Versuchung (Mt 6,13) ist ein häufiger und quälender Stein des Anstoßes. Die Stelle hier kann uns das Gemeinte indessen ganz gut erläutern. Was Jesus im Sinn trägt, als er Philippus so fragt, läuft offenbar darauf hinaus, sein Denken in eine gewisse Konsequenz zu treiben, mithin seine ganz normalen Überlegungen bis an den Punkt zu führen, an dem es nicht mehr weitergeht, an dem eine Aporie entsteht, – und an genau dieser Stelle soll etwas Neues beginnen. Jesus will Philippus erproben, das heißt, er will ihn in eine Krise bringen, an deren Ende entweder alles sich blockiert oder die gesamte Lebensgrundlage sich ändert. «Versuchen», «auf die Probe stellen» – das ist, biblisch geredet, die Art Gottes, einen Menschen dahin zu bringen, daß er sieht, woran er mit sich selbst ist. Solch eine Krise ist ein Augenblick, in dem wir spüren, daß wir aus dem gesamten Alten und Tradierten und Gewohnten herausschreiten müssen, wenn es noch Zukunft geben soll. So versteht man die Bitte im Vaterunser: sie hofft und erfleht förmlich, daß eine solche «Probe» nicht nötig sei und daß Gott uns von vornherein richtig leben lasse. Doch wo ist das der Fall? Philippus jedenfalls muß seine Art, auf erwachsene Weise zu kalkulieren und zu berechnen, was er, wohlverdient, in Händen hält und was er davon abzugeben sich leisten kann, fahren lassen, oder es wird für die fünftausend Männer (die Frauen und Kinder nicht mitgerechnet) am Fuß dieses Berges niemals etwas Hilfreiches geschehen können. An genau dieser Stelle führt Johannes gegenüber dem «erwachsenen» Philippus einen kleinen Jungen ein, der fünf Gerstenbrote und zwei Fische besitzt. Man ahnt zwischen den Zeilen, was jetzt passiert, – wie diese Krise neu beantwortet werden soll: Wenn wir werden könnten wie die Kinder, hat sinngemäß der historische Jesus im Markus-Evangelium einmal gesagt, nur dann würden wir spüren, welche Macht Gott entfaltet, welch ein Wunder er in unserem Leben wirken könnte (Mk 10,15). Und so verhält es sich: Dieser Junge gibt Jesus, was er besitzt, und Jesus tut nichts weiter, als das Geschenk dieses Kindes auszuteilen. Mitten in ihren Sorgen sollen die Jünger nichts weiter machen, als daß sie die Menschen Platz nehmen lassen, als daß sich alle in Ruhe hinsetzen; das ist möglich, – die Gegend ist 273

grasbestanden genug, wie es beziehungsträchtig heißt: Eigentlich trägt diese Erde genügend für jeden; und man begreift: das Wunder, das da geschieht, besteht in dem Austeilen selbst, besteht in dem Mut, ein Kind zu werden, das gibt, was der andere braucht. Ein ganzes Prinzip des Handelns ändert sich. Man plant nicht mehr, man rechnet nicht mehr, man erwirtschaftet nicht länger durch die Ausbeutung der anderen den Überschuß, den man dann wieder zu einem Bruchteil den Ausgebeuteten retournieren könnte; dieses Kind nimmt, was es hat, es öffnet seine Hand, und aller Leute Hände füllen sich. Dazwischen freilich, bevor er das Geschenkte austeilt, spricht Jesus ein Gebet der Dankbarkeit. Auch diese Haltung setzt sich fort. Jeder, der ein Stück Brot nimmt, weiß zugleich, daß er es nicht verdient hat, es ist und bleibt ein Geschenk; doch in gerade dieser Gesinnung wird es nicht schwerfallen, weiterzuschenken. Und nun zeigt sich: Tun so alle, haben alle nicht nur genug, sie haben im Überfluß. Nicht, daß das Brot damit gleichgültig würde; im Gegenteil: alles wird sorgsam aufgehoben bei Johannes, natürlich auch, um die Größe dieses Wunders richtig würdigen und abschätzen zu können. Da kommt am Ende wieder ein exakter Betrag zustande, doch dieser Betrag, wohlgemerkt, rechnet sich nur, nachdem er durch viele Hände des Teilens und Schenkens hindurchgegangen ist. Eine neue Art zu kalkulieren entsteht da, eine neue Mathematik des Überschusses statt der Notwirtschaft, denn dieser Überschuß ergibt sich nicht durch Wegnehmen hier und Aufhäufen da, er ist das Resultat einer so nie empfundenen Solidarität, einer Änderung im ganzen. Was wir «Wirtschaften» nennen, besteht eigentlich immer noch darin, die Schulden des einen gegen die Schulden des anderen zu verrechnen. Jeden Geldschein, den wir in die Hand nehmen, können wir als eine Leistungsforderung an die Schuld eines anderen betrachten, und je mehr der eine bereits an Geld besitzt, desto mehr wird und kann er dem anderen aus der Tasche ziehen. Auch das war ein Wort des historischen Jesus, überliefert bei Lukas (14,13.14): Wenn ihr verleiht – nicht geradewegs schon schenkt, sondern nur etwas verleiht –, dann tut es, ohne zu rechnen, ob es euch zurückerstattet wird. Ladet ein, die es euch nicht vergelten können. Das heißt im Grunde: Wenn ihr verleiht – wenn ihr es euch also überhaupt leisten könnt, Geld zu verleihen –, dann schenkt es doch gleich weg und wartet nicht darauf, bis der andere sich doppelt abrackert, um es euch schließlich nach langer Zeit der Not zurückbringen zu können. Wenn man so will, sind diese Worte der Kommentar des historischen Jesus zu der «wunderbaren Brotvermehrung». Sie besteht nicht in irgend274

einer göttlichen Magie und Hexerei, die vor zwei Jahrtausenden sich ereignet hätte; der Akt des Glaubens besteht überhaupt nicht darin, an irgendeinen Hokuspokus von vor zweitausend Jahren zu glauben; die Wahrheit dieser Geschichte liegt darin, daß und wie wir sie heute abend noch oder spätestens morgen früh wahrmachen in unserem Leben und damit Zukunft gewinnen für die Menschen. Doch nun kommt es wieder, wie es allerorten ist, wie es im Sinne Jesu aber nicht geht. Bei so vielen Wohltaten könnte man meinen, es gelte nun, eine objektive, allgemein verbindliche Struktur für die Menschlichkeit zu finden, eine Institution einzurichten oder eine neue Verfassung zu kreieren, die das «Wunder» der Einmaligkeit des Zufalls entreißt. Kaum begreifen die Leute, was da für eine menschliche Überzeugungskraft, was für eine Hypnose der Liebe von der Person Jesu ausstrahlt, wollen sie ihn zum König erheben. Das besagt soviel, wie daß man das Wunder der Menschlichkeit auf Dauer stellen möchte, auf daß es zu einem verbrieften Recht umgewandelt werde. Was sich aus einer spontanen Regung des Mitleids ergab, steht da gewissermaßen in der Gefahr einer bloß subjektiven Beliebigkeit; nötig scheint es der «Vernunft in der Geschichte», daraus eine objektiv gültige Gesetzgebung, ein verfassungsmäßig garantiertes Recht für jedermann zu machen, und die Rolle des (messianischen) Königs böte die Garantie für die Etablierung und den Bestand einer solchen Ordnung der Welt. Der Gedanke scheint ganz vernünftig, und er wird sich uns immer wieder nahelegen, aber Jesus wird dazu niemals ja sagen. Er ergreift im Johannes-Evangelium sogar schleunigst die Flucht vor diesem Ansinnen, er zieht sich zurück auf den Berg und bleibt dort ganz allein mit sich und seinem Gott. Das ist seine Antwort auf den Versuch, aus ihm einen messiastheologisch begründeten Monarchen zu machen. Es ist für ihn soviel, wie wenn der Teufel ihm noch einmal begegnen würde. Diese Geschichte kennen wir aus Matthäus 4,8.9: Alle Reiche der Welt, spricht dort der Satan, könnten ihm zur Verfügung stehen, er müßte nur kniefällig den Teufel selbst anbeten. So erschien es Jesus, «König» zu werden und Macht über Menschen zu gewinnen und auszuüben. Was er wollte war, daß Menschen mächtig in ihrer eigenen Barmherzigkeit würden, doch eine institutionalisierte Menschlichkeit erschien ihm als Verrat an der Menschlichkeit, ein fast so absurdes Unterfangen, wie den Willen der Menschen zum Frieden militärisch zu organisieren. Natürlich geht es zudem nicht immer um Brot im äußeren Sinn. Das, wovon die Menschen leben, ist viel mehr als das, was man ihnen von außen geben kann. Das, wonach sie Hunger tragen, ist mehr als Nahrung, 275

ist Liebe – ist das Wort Gottes, meinte Jesus (Mt 4,4; Joh 4,34). Da muß man die Geschichte nur so erzählen, wie sie sich praktisch immer wieder aufführt. Wie viele Menschen sind, die, wenn sie morgens aufstehen, ihre Umwelt erleben wie einen Belagerungszustand, – fünftausend Leute ringsum, sozusagen, die irgend etwas möchten, und man weiß nicht, was man für sie tun soll. Frauen gibt es, die am Morgen schon nicht wissen, wie sie mit ihren Kindern, mit ihrer Familie auch nur über die nächsten fünfzehn Stunden kommen sollen. Alles liegt wie ein riesiger Berg vor dem Fenster ihrer Seele und versperrt die Aussicht. Sie fühlen sich nervlich belastet, seelisch überfordert, – man kann nicht mehr, man will auch nicht mehr. Am liebsten möchte man die Leute alle wegschicken und sagen: «Versorgt euch selbst und bleibt, wo ihr seid: ihr wißt, wo ihr herkommt, und genau dahin geht zurück!» Alles andere wäre geradewegs unverantwortlich! – Das Wunder der Brotvermehrung beschreibt, daß Menschen tagaus, tagein, im ganz Alltäglichen, ohne zu wissen oft, wie und woher die Kraft dazu kommt, dem Druck standhalten: es geht immer wieder weiter, quer durch die Wüste, als würde das Manna-Wunder immer wieder neu sich ereignen. Da sind Menschen für andere da, obwohl sie nach menschlichem Maßstab tausendfach überfordert sind. Kein Mensch weiß, woher sie die Energie aufbringen, nur, indem sie so tun, kehrt, was sie ausgeteilt haben, zurück, – vervielfältigt sogar, reichlich! Das ist vermutlich die Erklärung für alles: Das, was wir dem anderen geben, zunächst wohl nur mit dem Blick auf seine Not, das bereichert am Ende uns selbst; es wird uns nicht weggenommen, es geht nicht perdu, sondern es kehrt zu uns zurück, es ist einzusammeln, körbeweise; – es lohnt sich und belohnt sich, mit einem Wort. Das ist die Erfahrung. Und macht man sie auch nur ein einziges Mal, so beginnt man für immer an diese Alternative zu glauben, und sie wird, je öfter sie sich aufführt, zur Gewißheit. Übrig bleibt eine Güte, die sich nicht verzwecken läßt, übrig bleibt eine Einsamkeit und eine Freiheit auf den «Bergen des Herzens», welche die Nähe zu Gott zwischen Himmel und Erde stets offenhält. Dieser Ort einer Bergeseinsamkeit muß immer wieder aufgesucht werden, denn er allein schenkt die Kraft zum Weitergehen und Weitermachen. Konsequenterweise vollzieht sich dann auch die nächste Geschichte: der Durchgang durch das Rote Meer, auf johanneisch. Abend ist geworden; da hört man im Unterton dieses Satzes bereits die Stimmung von Düsternis und Verzweiflung heraus, und sie erscheint fast wie die Seelenlage desselben Mannes, der eben noch die Tausende speiste. Da machen sich die Jünger auf, hinüberzufahren ans andere Ufer. In wenigen Sätzen gestaltet 276

sich da unser ganzes Leben: als ein Unterwegssein mitten durch einen See, der brodelnd wird unter stark wehendem Wind; fast richtungslos treibt’s uns umher; alles erscheint wie ein mühsames Sich-Plagen ohne rechtes Weiterkommen. Nacht, Wind, Wogen, See, – das sind die Chiffren einer Existenz, die über dem Bodenlosen versucht, Halt zu finden, und die doch wie in einer Nußschale auf offener See hin und her geworfen wird. Ein solches Leben gehört nicht sich selbst, es wird getrieben und geworfen von Kräften, die nicht beherrschbar sind, obgleich doch gerade diese Kräfte benötigt werden, damit überhaupt ein Fortkommen sein kann. Es gibt keine Einsicht mehr, keine Aussicht mehr, keine Durchsicht mehr, alles ist dunkel, nur einfach dunkel. In solchen Momenten, erzählt das Johannes-Evangelium, kann es geschehen und geschieht es immer wieder, daß die Person des Mannes aus Nazaret vom anderen Ufer her, vom Ort seiner Gotteseinsamkeit her, in die Abgründigkeit, in die Nächtlichkeit unseres Daseins kommt und uns zeigt, wie man buchstäblich hindurch, das heißt: darüber hinweg gehen kann. Immer wenn Menschen tief verzweifelt sind, äußern sie beides gleichzeitig: sie sagen, daß es so nicht weitergeht, und zugleich fragen sie händeringend, was sie denn tun sollen. Alles, was ihnen als Antwort auf diese Frage einfällt, läuft indessen darauf hinaus, so weiterzumachen wie bisher; doch genau das können sie nicht, das gerade ermüdet sie, daran hat ihre Kraft längst schon sich aufgezehrt. Im Grunde wollen sie nichts weiter als Ruhe: doch diese Ruhe suchen sie äußerlich und finden sie schon deswegen nie. Umgekehrt hier. Das ganze Vorbild Jesu gibt Zeugnis davon, wie man vollkommen ruhig durch den Sturm und durch die Wellen zu gehen vermag. Man «macht» überhaupt nichts. Diese Einstellung führt in gewissem Sinne weiter, was soeben bei der Brotvermehrung geschah. Das einzige, was die Jünger da «machen» sollten, bestand darin, die Leute sich setzen zu lassen, sie zur Ruhe zu bringen; das war schon der entscheidende Anfang von allem. Und genauso hier. Äußerlich geschieht gar nichts, doch eine neue Wirklichkeit wird da sichtbar, und sie kommt in Gestalt Jesu immer näher an das Boot heran. Paradoxerweise erscheint gerade dieses Gefühl: man braucht nichts zu machen, als etwas furchtbar Bedrohliches; es ist identisch mit dem Gefühl, man kann gar nichts machen, und das löst neuerdings Angst aus. Was eigentlich Zuversicht bilden könnte, kommt einem vor wie eine Geistererscheinung, wie etwas Gespenstisches; es verkörpert genau das, was wir zunächst nicht wollen, es erscheint uns wie eine neue Gefahr. Kann man gar nichts mehr tun, ja, was soll man dann machen! Das Erstaunliche, das von 277

der Gestalt Jesu ausgeht, ist dieses Vermögen zu einer großen Beruhigung, und sie liegt ganz in der Nähe seiner Person. Alle Angst beruhigt sich, wenn auch nur einer nah genug an den anderen herantritt und ihm sagt, wie hier Jesus zu seinen Jüngern: Ich bin. Das ist ein ungeheures Wort in der Bibel; im Grunde darf es nur Gott selber sagen: Ich bin. Kein Mensch, nach rabbinischer Überlieferung, kann so sprechen: Ich bin. Und wie auch? Alles menschliche Personsein ist nur zu erkennen im Glanz dieses einen Lichts, dieser einzig wirklichen, absoluten Person, dieses Ichs, das wir Gott nennen, weil es nie Objekt, nie Gegenstand wird, sondern stets ein Geheimnis, ein Subjekt bleibt. Aber genau diese Formel: Ich bin, mit der Gott in der Bibel sich offenbart, übernimmt hier Jesus, und indem er sie ausspricht für seine Person, beruhigt er damit die Angst seiner Jünger. Ich bin. Habt keine Angst. Alle menschliche Beziehung, die wahr ist, taucht ein in diese zwei Worte. Da ist ein Mensch, der dem anderen in seinem Schrecken nichts weiter sagt als: Ich bin: – ich bin bei dir, ich bin mit dir, ich bin da für dich, und das allein wird zu dem Ort eines Vertrauens über dem Abgrund, mitten im Sturm. Und: Habt keine Angst. Noch einmal: zu «tun» ist da nichts, aber zu sein alles. Im gleichen Moment, als Jesus sich seinen Jüngern mitteilt, kommt er zu ihnen ins Boot, und da sind sie am Ziel, und das Boot ist am Land, auf das sie zuhielten. Es handelt sich um eine Erfahrung, die im abendländischen Kulturkreis kaum je begriffen wurde. Man muß schon zur ostasiatischen Mystik gehen, um zu verstehen, wovon da die Rede ist. Im 5. Jh. v. Chr. konnte der altchinesische Weise Lao-Tse aller Menschen Angst mit Worten beruhigen, die sinngemäß so klangen: «Durch das Nicht-Handeln», sagte er3, «ist alles gemacht; durch das Wu wei geschieht alles»; und er wollte sagen: «Solange die Menschen denken, sie lösten ihre wirklichen Probleme, indem sie noch tapferer, noch tüchtiger, noch fleißiger, noch angestrengter lebten, vermehren sie nur ihre Konflikte.» Es ist, wie wenn sie es sich warm machen wollten, indem sie das Holz aus den Wänden ihres eigenen Hauses im Ofen zu verbrennen suchten. Auf solche Weise wird es nicht wärmer, sondern kälter. In dem Bild des Johannes-Evangeliums vom Seewandel Jesu ist es das Vertrauen in die Nähe einer anderen Person, die, wenn sie glaubwürdig und zuverlässig genug ist, so wie Jesus gelehrt und gelebt hat, es möglich macht, über den See hinwegzugehen, Land unter den Füßen zu gewinnen und wie im Nu den Ort der Bestimmung zu erreichen. Das Ziel unseres Lebens besteht eigentlich in nichts anderem, als dieses Vertrauen zu lernen: Platz zu nehmen mitten im Gras und ruhig zu werden 278

mitten im Sturm. Das ist das ganze Wunder. Alle Menschlichkeit, alle Güte, aller Friede wächst augenblicklich daraus. Noch einmal in der Sprache des Lao-Tse; er sagte: «Der Zwischenraum zwischen den vier Wänden macht die Wohnlichkeit des Hauses aus. Der Zwischenraum zwischen den Wänden aus Ton bewirkt die Brauchbarkeit des Krugs; der Hohlraum zwischen den Speichen des Rades erzeugt die Tragfähigkeit und Rundheit des Rades. Deshalb: Durch das Nicht-Tun ist alles gemacht.»4 Sagen wir es johanneisch: Nur durch ein Vertrauen, das Angst überwindet, leben wir wirklich. Die guatemaltekische Dichterin Julia Esquivel5 faßte ihr Bekenntnis zu der Möglichkeit, die Wasser des Todes zu überschreiten, in die Worte: Ich habe keine Angst mehr vor dem Tod; ich weiß gut, wie seine dunklen, kalten Flure zum Leben führen. Ich habe eher Angst vor einem Leben, das nicht aus dem Tod herauskommt, das unsere Hände verkrampft und unsere Märsche verzögert. Ich habe Angst vor meiner Furcht und mehr noch vor der Furcht anderer, die nicht wissen, wohin sie gehen, die nicht aufhören, daran festzuhalten, was sie für ein Leben halten und von dem sie wissen, daß es der Tod ist! Ich lebe jeden Tag, den Tod zu töten. Ich sterbe jeden Tag, das Leben zu erzeugen. Und in diesem Streben zum Tode sterbe ich tausendmal und werde noch einmal tausendmal wiedergeboren durch diese Liebe meines Volkes, die die Hoffnung nährt.

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Joh 6,22-51: Ich bin das Brot des Lebens 22Tags

darauf: das Volk, das jenseits des Sees stand, die sahen, daß ein anderes Boot nicht dort gewesen war, außer dem einen, und auch, daß er nicht eingestiegen war mit seinen Jüngern, Jesus, in das Boot; sondern allein hatten seine Jünger abgelegt. 23Andere Boote kamen aus Tiberias nah an die Stelle, wo sie das Brot gegessen hatten, nach dem Dankgebet des Herrn. 24Als nun das Volk sah, daß Jesus nicht dort war und auch nicht seine Jünger, stiegen sie selbst in die Boote und fuhren nach Kafarnaum auf der Suche nach Jesus. 25Und als sie ihn fanden, jenseits des Sees, sprachen sie zu ihm: Rabbi, wann bist du hierher gekommen? 26Geantwortet hat ihnen Jesus, er sprach zu ihnen: Bei Gott, ja, bei Gott, ich sage euch: Ihr sucht mich nicht, weil ihr Zeichen gesehen, sondern weil ihr gegessen habt, von den Broten, und satt geworden seid. 27Erwirkt nicht die Speise, die verderblich ist, sondern die Speise, die bleibend ist ins unendliche Leben (4,14), – die der Menschensohn euch geben wird. Denn ihn hat der Vater mit seinem Siegel bezeichnet, Gott (5,36)! 28Sprachen sie da zu ihm: Was sollen wir tun, daß wir die Werke Gottes wirken? 29Geantwortet hat Jesus, er sprach zu ihnen: Das ist das Werk Gottes, daß ihr vertraut auf den, den er gesandt hat. 30Sprachen sie da zu ihm: Was denn tust du für ein Zeichen, daß wir sehen und dir vertrauen? Was wirkst du? 31Unsere Väter haben das Manna gegessen in der Wüste, wie geschrieben steht: Brot aus dem Himmel gab er ihnen zu essen (Ps 78,24; Ex 16,4.15). 32Sprach da zu ihnen Jesus: Bei Gott, ja, bei Gott, ich sage euch: Nicht Mose hat euch das Brot aus dem Himmel gegeben, sondern mein Vater gibt euch das Brot aus dem Himmel, das wahre. 33Denn das Brot Gottes ist er, der niedersteigt aus dem Himmel und der Leben gibt der Welt. 34Sprachen sie da zu ihm: Herr, allezeit gib uns dieses Brot. 35Sprach zu ihnen Jesus: Ich bin das Brot des Lebens. Wer kommt zu mir, nein, der wird nicht hungern, und wer vertraut auf mich, nein, der wird nimmermehr dürsten (4,14; 7,37). 36Doch ich sprach zu euch: Wohl habt ihr (mich) gesehen, und doch vertraut ihr nicht. 37Alles, was mir der Vater gibt, – zu mir wird es kommen, und wer zu mir kommt, den stoße ich nicht aus (Mt 11,28), 38denn niedergestiegen bin ich aus dem Himmel nicht, um meinen Willen zu tun, sondern den Willen dessen, der mich gesandt hat (4,34). 39Das aber ist der Wille dessen, der mich gesandt hat: alles, was er mir gegeben, nichts davon lasse ich zugrunde gehen (10,28.29; 17,12), sondern lasse es auferstehen am Letzten Tage (5,29; 11,24). 40Ja, das ist der Wille meines Vaters, daß jeder, der den Sohn schaut und

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vertraut auf ihn, unendliches Leben habe, und ich ihn auferstehen lasse am Letzten Tage (12,44-50). 41Da murrten die Juden (die Gottesbesitzer) über ihn, weil er gesprochen hatte: Ich bin das Brot, das niedergestiegen ist aus dem Himmel. 42Und sie sagten: Nein! Der ist Jesus, der Sohn des Josef; von ihm kennen wir den Vater und die Mutter (Lk 4,22). Wie jetzt sagt er: Aus dem Himmel bin ich niedergestiegen? 43Geantwortet hat Jesus, er sprach zu ihnen: Murrt nicht miteinander. 44Niemand kann kommen zu mir, wenn nicht der Vater, der mich gesandt hat, ihn zieht, daß ich ihn werde auferstehen lassen am Letzten Tage. 45Geschrieben steht bei den Propheten: Und es werden alle Gottesbelehrte sein (Jes 54,13; Jer 31,33.34; Mt 11,25-29). Jeder, der von Gott her zu hören und zu lernen begonnen hat, kommt zu mir. 46Nicht daß den Vater jemand gesehen hätte, außer dem, dessen Dasein von Gott ist, – der hat den Vater gesehen (1,18)! 47Bei Gott, ja, bei Gott, ich sage euch: Wer vertraut, hat unendliches Leben (3,16). 48Ich bin das Brot des Lebens. 49Eure Väter haben gegessen, in der Wüste, das Manna, und sind gestorben (1 Kor 10,3-5). 50Dies ist das Brot, das aus dem Himmel niedersteigt, daß man davon esse und nicht sterbe. 51Ich bin das Lebensbrot, das aus dem Himmel niedergestiegen ist. Wenn man ißt von diesem Brot, wird man leben ins Unendliche, und zwar: das Brot, das ich geben werde – mein Fleisch ist es, für das Leben der Welt (Mk 14,22).

Im 6. Kapitel seines Evangeliums erzählt uns Johannes von der großen Rede Jesu in Kafarnaum, einem Ort an der anderen Seite des Sees von Gennesaret. Wenn man dem Johannes-Evangelium dabei zuhört, ergeht es einem ähnlich, wie wenn man an einem Nachmittag irgendwo eine alte Frau besucht und sie fragt: – «Was war Ihr Leben?» – «Wie meinen Sie das?» wird sie fragen. – «Nun, woraus Sie gelebt haben», meine ich. Dann kann es geschehen, daß diese Frau nur geheimnisvoll lächelt, sie gibt eigentlich gar keine Antwort, sie steht vielleicht nur auf, geht zu ihrem Wandschrank und holt ein Album mit vergilbten Photos daraus hervor. Man erkennt auf den ersten Blick die unzulängliche Aufnahmetechnik der Bilder, die mangelhafte Entwicklungsleistung des Labors; es sind sehr alte Photos, mitunter ist kaum etwas Rechtes darauf zu erkennen, und doch begreift man sofort: diese Frau möchte mit diesen Photos ihr ganzes Leben erklären. Aus dem, was da zu sehen ist, hat sie gelebt, dafür war sie da, – das möchte sie sagen. Aber sie hat dafür kaum Worte. Alle Worte, die sie sprechen könnte, wären noch unzureichender als diese Bilder, die sie ja nicht eigentlich zeigt, sondern in Wahrheit in sich trägt. Die Photos an sich 281

mögen für einen objektiven Betrachter nichtig sein, für diese Frau aber bedeuten sie alles. Man versteht, daß das, was sie sagen möchte und was ihr diese Bilder zu sagen haben, im Grunde in der Intensität eines dichten Gefühls besteht. Diese Frau muß die Person, von der diese Bilder handeln, einmal sehr geliebt haben. Wollten wir sie indessen fragen: «Aber warum haben Sie jenen Mann oder jene Person so sehr geliebt, daß sie Ihnen alles wurde?», so würde sie vielleicht sagen: «Weil er in mein Leben trat wie aus einer anderen Welt.» Das Johannes-Evangelium jedenfalls spricht ganz so; es erinnert sogar die Stunde, in welcher die Jünger Jesus begegneten (Joh 1,39). Es bedeutete ihnen den Eintritt in eine Welt, in der zu leben sich lohnt, in der die Begrenzungen des irdischen Daseins sich öffnen und man hinüberschauen darf auf ein anderes Ufer, ja, in welcher man sich schon über den Abgrund hinweggehoben fühlt, als lebte man förmlich bereits in jener anderen, einzig wirklichen Welt. Alles hat sich verändert und markiert nun einen unendlichen Kontrast: Man verdiente, verstoßen zu werden und wurde angenommen, man fühlte sich wie zum Tode verurteilt und bekam Leben geschenkt, man kam sich verzweifelt vor, und doch begann alles noch einmal neu und nun überhaupt erst eigentlich. Und so nun – man kann nicht sagen: war Jesus, man muß sagen: so ist der Jesus des Johannes-Evangeliums. Das jedenfalls möchte der Verfasser des Vierten Evangeliums, dessen Namen wir nicht einmal kennen, uns glauben machen. Alles in dieser Rede in Kafarnaum beginnt mit einem sonderbaren Problem: Wie ist Jesus nach Kafarnaum gekommen? Wie kann er überhaupt dorthin gelangt sein? Es handelt sich um ein typisch johanneisches Verwirrspiel, um eine bewußte Irritation des Lesers bezüglich der Begriffe von Raum und Zeit. Da haben Boote abgelegt, aber man hat Jesus in keines einsteigen sehen; da kommen Boote an, und in denen sind viele nach Kafarnaum gelangt, aber Jesus ist unter ihnen nicht anzutreffen. Das alles scheint so rätselhaft erzählt, daß es in der «wirklichen» Welt ganz unmöglich sich aufführen kann; wenn es Sinn macht, dann nur, wofern sich die ganze Einstellung zur Wirklichkeit ändert. Tatsächlich begreifen wir: der See von Gennesaret ist für diesen Evangelisten nicht einfach ein räumlicher Punkt auf der Landkarte, und auch die Jenseite des Sees, wo Kafarnaum liegt, ist nicht ein bestimmter Ort in der Geographie; der See von Gennesaret markiert in dieser Nachtfahrt, in diesem nachtwandlerischen Hinübergang Jesu durch den Wind, durch den Wogenschwall, die Chiffre für einen Gang durch den Tod, für ein Überschreiten des Nichts in eine andere Sphäre hinein; in diese andere 282

«Sphäre», zu diesem anderen Standpunkt muß gelangt sein, wer verstehen will, wer Jesus ist und was er zu sagen hat. Im Grunde entscheidet sich hier die Einstellung zur Religion im ganzen. Offenbar kann man Religion so verstehen, wie sie in allgemeiner Form wohl immer noch begriffen wird. Religion, so begründet, bedeutet, daß man in Augenblicken der Not sich an Gott wenden kann, daß man bestimmte vorformulierte Bittgebete spricht, daß man Gott um Beistand anfleht; wenn Gott dann tut, worum wir ihn bitten, so sind wir ihm dankbar für seine Güte und Huld. Immer, wenn es gut geht, wird da die menschliche Not von Gott her durch ein Wunder erlöst. Dementsprechend richtet sich solcher Glauben ins gewissermaßen Unmögliche, ins alle natürlichen Erwartungen Sprengende; der zentrale Inhalt der Beziehung zwischen Mensch und Gott setzt sich da ins Unglaubliche. Die Gefahr einer solchen Einstellung liegt schon in ihrer Enttäuschbarkeit: was, wenn Gott unsere Bitten nicht erhört? Dann wird aus dem Vertrauen in das Unglaubliche sehr leicht ein hart gewordener, verbitterter Unglaube. Dann wird es zum Zeichen einer aufgeklärten Rationalität, sich selbst nach Hilfe umzuschauen. Man muß nicht auf den Beistand irgendeines wunderfähigen Gottes hoffen, man muß lediglich die Naturzusammenhänge klar erkennen und sich entsprechend einrichten. Die Krise des religiösen Bewußtseins am Ende des 20./Anfang des 21. Jahrhunderts liegt wesentlich in dieser Polarisierung eines wundersüchtigen Aberglaubens auf der einen Seite und eines bis zum Magieersatz geratenen Pragmatismus oder Unglaubens auf der anderen Seite begründet. Dazwischen, tiefer als der See Gennesaret, tut sich die Sinnlosigkeit unter den Füßen der heutigen Menschen auf. Sie sollen unter kirchlichem Dogmenzwang an einen Gott glauben, an den sie nicht glauben können, und wenn sie aufhören, an ihn zu glauben, wissen sie gar nicht mehr, worauf sie ihr Vertrauen werfen könnten. In der Sprache des johanneischen Jesus geht es um einen Mittelweg zwischen Magie und Aberglauben auf der einen Seite und einer pragmatisch gewordenen Eindimensionalität auf der anderen Seite. Es geht darum, die «Welt» und die Erfahrungen, die darinnen zu machen sind, als Zeichen für eine ganz andere Art von Wirklichkeit zu nehmen. Wer das vermag, geht trockenen Fußes über den See: Ihm wird diese so brüchige, fragwürdige Welt zu einer Brücke zwischen Diesseits und Jenseits, zwischen todverfallenem Dasein und unendlichem Leben, zwischen Mensch und Gott. Es geht darum, bestimmte Verweisungen und Hinweise an Stellen wahrzunehmen, an denen sonst nichts wäre als eine erstickende Kammer eingesperrten Daseins, als eine Welt, die nichts weiter zu interessieren vorgibt, als zu wis283

sen, was man physisch ißt, was man braucht, um Nahrung zu beschaffen, und wie in baldiger Zukunft schon dieses Leben, ganz wörtlich, «verlaufen» wird. Auf diese Weise Brot zu essen bedeutet in der Sprache des Johannes-Evangeliums, verderbliches Brot zu essen. Die Speise, die man so aufnimmt, wird immer wieder an sich selbst verkommen; die Menschen aber, die von dieser Art Speise abhängig sind, werden bis zum Verderblichen sich selber ruinieren. Es gibt in ihrem Leben keinen Grund zu Hoffnung, zu Vertrauen, zu einer Öffnung der Perspektive jenseits des Todes, es gibt nur dieses eine Ufer, und ein anderes ist nicht. Die Überquerung des Sees von Gennesaret ist innerhalb eines solchen «Realismus» nichts als eine mechanische Bewegung im Raum; eine Antwort auf etwaige Fragen des menschlichen Daseins liegt durchaus nicht darin. Was es bedeutet, eine solche Fahrt über den See als Sinnbild zu sehen, mag man lernen von den alten Völkern und Religionen, die unmittelbar oder mittelbar die Visionen auch dieses Textes geprägt haben. Die Alten Ägypter etwa legten es den Menschen nahe, wenn sie die Sonne im Westmeer in ihrer Schönheit sterben sahen oder wenn sie den altgewordenen Gott Re in Gestalt des Atum, auf seinen Stab gestützt, mit länger werdendem Schatten in die Nacht schreiten sahen, sie sollten nicht in Dunkelheit und Finsternis ein endgültiges Urteil über ihr eigenes Dasein erblicken, vielmehr sollten sie sich anschicken, die Sonne auf ihrer Fahrt durch die Nacht zu begleiten. Das Schiff wurde da zum Symbol der Unsterblichkeit: Auf einem unterirdischen Strom würde die Sonne zurückgetragen vom Westen nach Osten, und dort würde sie schöner denn je an jedem Morgen von neuem erstrahlen. Oder ein anderes Bild: Auf der schönen schwedischen Insel Gotland finden sich Steinsetzungen aus der Bronzezeit, in denen unsere nördlichen Vorfahren in ganz ähnlichen Bildern sich ihr Schicksal angesichts des Todes zu deuten suchten: Sie setzten am Ufersaum des Meeres ihren Verstorbenen zwanzig Meter lange steinerne Boote, in die hinein sie ihre Angehörigen betteten, wie um der Zuversicht Ausdruck zu verleihen, Sterben, das sei ein Ablegen vom Ufer des Diesseits, ein Auslaufen zu den Gestaden der Ewigkeit, ein Hinüberfahren in die eigentliche Heimat des Menschen, dorthin, wo Gott selbst zu Hause ist. Das Abschiednehmen von unserer irdischen Existenz als ein Ablegen und Hinüberfahren zu einem jenseitigen Ufer, – das bedeutet es, ein Boot zu besteigen und einen See zu überqueren, wenn man es als ein Sinnbild versteht. In Kafarnaum ankommen heißt dann, beim Essen von Brot eine neue Speise zu finden. Diese «Speise» ist kein irgend etwas, kein Ding 284

mehr, das man anfassen könnte, sie ist einzig eine Person. Es ist an dieser Stelle, wie wenn sich, zwei Kapitel danach, das Gespräch mit der Frau am Jakobsbrunnen über das Wasser des Lebens noch einmal erneuern und fortsetzen würde, jetzt nicht sprechend von Wasser, sondern von Brot, nicht von Durst, sondern von Hunger; doch beides ist erkennbar ein und dasselbe, nur daß, was der Samariterin gesagt wurde, jetzt zu den «Juden» gesprochen wird. «Juden» wie Samariter verfügen über eine ganz bestimmte Erfahrung, was es bedeuten kann, aus Gottes Händen gespeist zu werden. Sie zitieren es an dieser Stelle sogar: wie da Gott in der Wüste Manna vom Himmel regnen ließ, um «sein» Volk zu speisen, Morgen für Morgen, Tag um Tag. Das ist es, was ihre «Väter» bereits kennengelernt haben als das Brot, das vom Himmel kommt (Ex 16,4.15); also machen sie es auf diese Art geltend und befragen Jesus selber danach. Doch kaum daß sie so tun, antwortet ihnen Jesus mit einem Satz, der scheinbar die Tat des Mose relativieren soll, denn nicht er, sondern Gott, «mein Vater», sagt Jesus, hat das Brot gegeben. Eine solche Behauptung richtet sich ohne Zweifel gegen die Überbewertung der Gestalt des Mose in der jüdischen Religion; wahrscheinlich aber muß man vor allem die Zeitstufen hier gegeneinandersetzen; die Antwort Jesu lautet dann: Nicht Mose hat euch das Brot aus dem Himmel gegeben, sondern mein Vater gibt euch das Brot aus dem Himmel, das wahre. Ein solcher Satz stellt die gesamte Überlieferung unter Gottes Augen in die Gegenwart. Es ist möglich, daß man Religion gewinnt, indem man sie ganz und gar in die Taten der Vergangenheit setzt: man reaktiviert sie im kultischen «Gedächtnis», man erneuert sie in verfeierlichten symbolischen Handlungen, man bindet sich an die Vorgeschichte, ohne jemals in die Gegenwart des eigenen Lebens zu treten. Gott hat da etwas getan, und dessen sich zu erinnern ist schon die ganze Religion; sie ist nichts weiter als die Paraphrase für ein überlebtes Leben, für den Tod selber. Da setzt man nicht hinüber in eine offene Zukunft, sondern man verhockt sich, rückwärtsgewandt im Vergangenen, im längst Verstorbenen. Was Jesus indessen möchte, ist ein anderes: etwas, das sich in der Gegenwart ereignet, etwas, das sich «erfahren» läßt jetzt. Alles aber, was Johannes darüber sagt, ist eingetaucht in die Sprache der Liebe; was er formt, ist ein Bild, das, ähnlich jenen vergilbten Photos, mit eigenem Fühlen, mit eigenem Denken belebt werden will. Da sagt Jesus von sich selber, er sei als der Menschensohn gesandt worden von seinem Vater, und er meint, auf sein Wort hin Gott als Vater zu glauben, das sei das ganze Brot des Lebens, das sei die Speise der Unendlichkeit. 285

Jedes Moment gewinnt in solchen Sätzen eine eigene Bedeutung. Was Jesus den Menschen schenken wollte, schenken will, ist das Bild eines ganz und gar väterlichen, besser noch: mütterlichen Gottes; denn nur ein solcher Gott begründet ein Vertrauen auf unendliches Leben. Der Unterschied ist deutlich: Stets wenn wir von Patriarchalismus, von Vaterautorität, sprechen, meinen wir, daß Menschen sich allenfalls auf dem Hintergrund von Leistung, Wohlverhalten, Gehorsam und Anpassung akzeptiert fühlen können, immer in einer Mischung aus Angst vor Strafe, aus Gefügigkeit und Schwäche. Immer wandern da gewisse Schuldgefühle mit, immer ist da durch Buße und Opfer um Vergebung anzuhalten, immer geht es da letztendlich um die Unterordnung unter eine überlegene Macht. Im Untergrund ist eine solche Gehorsamsreligion gegenüber dem göttlichen «Vater» immer auch aufsässig und revolutionär. Ab und an in ihrer Geschichte bringt sie gar Helden hervor, die gegen ihren «Vater» aufstehen und die, falls sie nicht niedergeworfen werden, trotz allem Wege in die Freiheit finden. Auf dieser Stufe der Religionspsychologie findet sich Mose. Jesus indessen, wenn er von Gott als dem Vater sprach, wollte, daß man genau diesen Typ patriarchaler Frömmigkeit überwindet. Jesus wollte, daß man Gott nicht zwiespältig, nicht ambivalent findet, sondern «matriarchal», um religionspsychologisch und kulturgeschichtlich korrekt zu bleiben1. Da soll die Grundlage des menschlichen Lebens eine Bejahung sein, die allem vorausliegt; nicht verdient soll sie werden, sondern geschenkt. Das ist nicht zufällig eines der Schlüsselworte dieses ganzen Textes: Gott hat gesandt, Gott hat gegeben, und zwar das Leben, als etwas, das nicht erworben wurde und das es doch gibt. Um ein solches Leben müht man sich nicht, man erwirkt es sich nicht, es gibt nichts zu machen, um Gottes Werk zu vollbringen; da ist lediglich etwas zu erfahren, das geschenkt wird; da findet man etwas vor, statt es erfinden zu müssen; da wird nicht etwas erleistet und erlistet, sondern aufgenommen wird da etwas, das so gerade nicht «verdient» war, das aber eben deshalb alles verändert. Daß Jesus sich mit diesem Wort als Menschensohn einführt, paßt ganz und gar dazu. Denn die Gestalt einer verkörperten Menschlichkeit erwächst einzig aus der Beziehung zu einem Gott, der den Menschen von Grund auf bejaht, wie wenn er ihn ganz neu hervorgebracht hätte durch seine Güte und seine Zuwendung. Doch nun muß man die Härte des Widerspruchs sich vor Augen halten, die gerade daraus entsteht. Jesus sagt von sich, er sei vom Himmel auf die Erde gekommen. Wir müssen nur die Perspektive umkehren, um zu verste286

hen, was für eine Ungeheuerlichkeit in dieser Aussage liegt; denn tatsächlich, – schauen wir, wie Jesus sich verhält, so scheint wirklich alles wie aus einer anderen Welt gekommen zu sein, was er tut und sagt und mit den Menschen macht, – kein Kontrast könnte größer sein. Folgen wir dem, was wir in dieser Welt für «normal» betrachten, werden wir den Mann aus Nazaret nie verstehen. In unserer vertrauten Welt ist es normal, daß Menschen Angst haben und daß sie sich wehren; ihre Art, sich zu schützen, wird wieder andere Menschen verletzen und diesen Angst machen, und deren Angst schlägt erneut auf uns selbst zurück. In der Welt, in der wir leben, herrschen Mangel, Hunger und Krieg wie eine grausige Selbstverständlichkeit. In der Welt, die wir normal finden, hat ein Recht zum Überleben nur derjenige, der gelernt hat, um sein Leben zu kämpfen und sich im Kampf ums Dasein durchzusetzen. Es ist buchstäblich eine Botschaft von einem anderen Stern, wenn Jesus uns lehrt, durch unsere Angst hindurchzugehen, – über das Wasser hinwegzuschreiten und den Tod nicht zu fürchten, sondern Vertrauen zu lernen. «So handelt das wahre Volk Gottes», sagt er, «das schafft die Speise, von der man wirklich leben kann.» Man geht über den Abgrund Schritt für Schritt einen neuen Weg zum anderen Ufer. Man schaut auf diesen Punkt am Horizont, der da Gott heißt und der da geglaubt wird als ein Gegenprinzip zu aller Angst, zu allem Haß, zu aller Schuld, als eine Quelle der Liebe, die mehr ist als alles, was wir sonst kennen. Aus diesem Strahlenkranz einer unbedingten Zuversicht hat Jesus sein Leben verstanden. Deswegen wird er bezeichnet als jemand, der kommt aus dem Himmel auf die Erde, der sein Dasein selber von Gott hat. Man kann es noch genauer sagen: Was in diesem schattenverhangenen irdischen Dasein sollte uns die Rede von einem Brot, das Leben ins Unendliche schenkt, außer wir trügen in uns bereits eine solche Sehnsucht nach Unendlichkeit und Ewigkeit? Der Dichter Reinhold Schneider konnte gegen Ende seines Lebens in seinem Tagebuch Winter in Wien einmal davon sprechen, daß er ein solches ewiges Leben gar nimmer mehr wünsche, so müde fühle er sich2; einfach zu schlafen sei ihm genug. An Ewigkeit glauben, das könne doch nur, wer mit dem Leben selber versöhnt sei, schreibt er; ihn aber habe das Leid wie erdrückt. – Es ist das Wunderbare, zumindest manchmal im Raum der Liebe Momente erleben zu dürfen, die eine solche Traurigkeit verbannen. Diese Momente machen uns wünschen, eine bestimmte Form des Lebens erhielte sich auf immer. Der Gedanke auch nur an ein ewiges Leben wird geboren allein in den Sehnsuchtsstunden der Liebe unter Menschen, nie anders. Dann möchte und kann man 287

das Glück sich gar nicht mehr als verloren oder verlierbar vorstellen; das, was ist, muß ewig sein, so verkündet es die Sprache unseres Herzens, unseres Wünschens. Die Bestätigung dafür will Jesus verkörpern nach dem Zeugnis des Johannes-Evangeliums. Er eifert seine Zuhörer förmlich dazu an, sie möchten all das, was groß ist und schön ist im Leben, hinüberbringen an jenes Ufer, geheißen Kafarnaum. An dieser Stelle der Rede Jesu kann man jenen Einwand erheben, der prompt auch gemacht wird. Vom Himmel auf die Erde kommen, das ist unmöglich, sagen die «Juden», die Jesus zuhören, denn, so ihre Begründung: wir kennen seine (Jesu) Mutter, wir kennen seinen Vater! – Nebenbei gesagt, dieses Vierte Evangelium schließt die für die römische Dogmatik so wichtig gewordene Vorstellung von einer jungfräulichen Geburt des «Menschensohnes» kategorisch aus, indem es mit Nachdruck die ganz natürliche Geburt Jesu voraussetzt. Von ihm kennen wir den Vater und die Mutter, sagen die Leute, und das mit Recht, wie sie meinen. Aber die Natürlichkeit der Existenz eines Menschen ist überhaupt kein Einwand gegen das, was Jesus brachte. Wieder: nicht irgendein Mirakel, nicht irgendeine Wundermagie, nicht irgendein übernatürliches Spektakel soll und kann den Glauben begründen, sondern die Grundlage allen Vertrauens liegt einfach in dem, was Jesus zu sagen hat, was er in seiner Person lebt, in der Art, wie er sein Dasein vollzieht. Entweder also man lernt von ihm, «unendlich» zu leben, oder man lernt es nicht. Das entscheidet darüber, ob man nur Brot ißt oder ob man ein Zeichen der Unsterblichkeit darin sieht und leben will bis ans Uferlose, bis zum anderen Gestade, das keine Grenzen mehr kennt noch zieht. Auch so spricht Jesus als von dem Inhalt seiner ganzen Botschaft: Alles, was mir der Vater gibt, – zu mir wird es kommen, und wer zu mir kommt, den stoße ich nicht aus. Diese Aussage umfaßt alles, was schon der historische Jesus sagen wollte: Alles soll zu mir kommen, nichts soll an Begrenzungen scheitern, es soll nichts verlorengehen; alles soll vielmehr in der Hand Gottes bleiben (vgl. Mt 11,28). Am Jüngsten Tag, in der Stunde des Todes, gerade da soll es sich bewähren, gerade da wird es sich bewahren. Aus dem Himmel niedergestiegen – wie läßt sich das erfahren und leben? Der johanneische Jesus meint, man habe es in gewisser Weise nicht in der Hand. Wenn denn alles Geschenk ist, kann man nicht einfach darüber verfügen, das Leben so oder so zu betrachten. Das Wichtigste in unserem Leben geschieht nicht durch Beschluß, durch willentlichen Vorsatz, eben weil wir dies oder das so machen wollen, vielmehr begibt es sich, weil es uns gegeben wird. Alles, was wunderbar ist an unserem Leben, hat sich 288

so zugetragen, daß wir es in aller Regel nicht vorweg hätten erfinden können, daß wir es nicht vorweg gewußt noch geplant haben. Es war gewiß äußerst kühn von Mose, ein ganzes Volk mit auf die Wüstenwanderung zu nehmen, ohne Proviant, ohne strategische Reserve, ohne Ein- und Auskommen; genau betrachtet aber verläuft unser Leben im ganzen so: Wir sind unterwegs in eine Zukunft hinein, die wir nicht verrechnen können; – wir wagen sie nur in einem Vertrauen, bei der Hand genommen zu werden, geführt zu werden im ganzen und, am wichtigsten: nie und niemals ausgestoßen zu sein. Das ist es, was der Vater Jesu will: niemand möge ausgestoßen sein! Freilich, immer wieder entsteht, wenn so innerlich, so existentiell gefüllt von Gott gesprochen wird, ein weiterer Einwand: «Wir brauchen aber eine belehrende Instanz, wir brauchen aber eine kirchliche Institution; wir können Religion uns gar nicht anders vorstellen denn als die Vermittlungsgröße einer fest geprägten Botschaft, vorformuliert in bestimmten Sprachregelungen.» Das Johannes-Evangelium wagt einen unerhörten Aufbruch, indem es genau gegen diese Auffassung sich verwahrt. Folgt man der kirchlichen Lehre bis heute, kann man zu Jesus nur kommen durch die Kirche selber. Man kann Gott nur zum Vater haben, wenn man die Kirche zur Mutter hat, sagte bereits Cyprian3, und dieses sein Wort wird bis in die Gegenwart hinein von den Dogmatikern auf den Lehrstühlen gern nachgesprochen. Tatsächlich aber vertritt der Jesus des Johannes-Evangeliums an dieser Stelle mit unerhörtem Mut den genau gegenteiligen Standpunkt: alle, die zu ihm finden, sind Gottesbelehrte. Dieser Ausdruck erinnert an zwei Stellen bei Jeremia und bei Jesaja. Der Mann, den wir den Dritten Jesaja nennen, findet im 54. Kapitel des Jesaja-Buches für die Juden, die im 6. Jh. v. Chr. aus der Heiligen Stadt vertrieben wurden, mitten im Exil Worte des Trostes: Es werden die Mauern der niedergebrannten Stadt auferbaut werden, verheißt er, und die Fundamente werden bestehen aus Malachit und Saphiren und die Zinnen aus Rubinen, aus kostbarem, lichtdurchlässigem Gestein (Jes 54,11.12). So schön wird die neue Stadt erbaut werden, schöner, als sie jemals war. Aller Zusammenbruch gilt da nur für einen Neubeginn unter den Händen eines Gottes, der für kurze Weile seines Volkes «vergaß». Kann man denn aber, fragt dieser Dritte Jesaja, seine Jugendliebe verraten? Kann denn, will er sagen, Gott sein Volk in der Fremde belassen? In diesem Zusammenhang spricht er dann auch von den Schülern Gottes (Jes 54,13). Es gibt keinen Tempel mehr, es gibt keine Priester mehr, es gibt keine schriftgelehrten Instanzenzüge mehr zwischen Gott und Mensch; doch gerade das, meint dieser uns 289

unbekannte, wunderbare Prophet des Exils, biete die unerhörte Chance eines göttlichen Neuanfangs. Genau so dachte Jeremia, nur bereits vor dem Jahre 587: es werde die Vernichtung Jerusalems der Anfang davon sein, daß Gott sich nicht mehr mitteilen läßt, sondern selber sich mitteilt ins Herz der Menschen (Jer 31,33.34). Der historische Jesus konnte an einer Stelle, die man freilich für «johanneisch» erklärt, im 11. Kapitel bei Matthäus einmal sagen: Ich preise dich, Vater, ja ich preise dich, daß du all dies den Weisen und Großen verborgen, den Kleinen und Unmündigen aber geoffenbart hast. Ja, Vater, so war es wohlgefällig vor deinen Augen. (Mt 11,25.26) Dostojewski schrieb einmal über die Geschichte des Christentums in Rußland, über das sogenannte russische Volk, sinngemäß: «Dieses Volk hat nie Lesen und Scheiben gelernt, es hat die Sprache der Popen in seinen Kirchen kaum verstanden, aber hat man deshalb ein Recht, das russische Volk für unchristlich zu halten?» Er meinte: «Dieses Volk hat Christus kennengelernt in den Jahrhunderten seines Leidens, seiner Abhängigkeit, seiner Sehnsucht, seines ungestillten Verlangens nach Freiheit. In all der Zeit hat es Christus in sein Herz aufgenommen.»4 So etwas muß es sein, von Gott belehrt zu sein aus Innen. Das ist der Grund, meint der Jesus auch des Johannes-Evangeliums an dieser Stelle, daß Menschen zu ihm finden. Alles verschränkt sich hier. Immer wieder spricht der johanneische Jesus davon, daß man zum Vater nur finden könne, indem man dem Sohn glaube, hier aber, einen Moment lang, dreht alles sich um: Man findet zu ihm nur als Gottesbelehrter. Nähme man diesen Gedanken theologisch wirklich ernst, so läge darin die Rettung aus der Krise der Religion seit der Aufklärung bis heute. Jenseits aller Konfessionalisierung, Regionalisierung und Dogmatisierung des Religiösen müßte es so etwas geben wir eine neue Gottesunmittelbarkeit. Es war der Traum schon des Gotthold Ephraim Lessing. «Warum glaubst du, Nathan?» läßt er Saladin fragen; die Aussage: «Ich glaube, weil ich ein Jude bin» mag er nicht hören und kann er nicht gelten lassen: «Ein Mann wie du», sagt er, «bleibt da nicht stehn, wohin der Zufall der Geburt ihn stellt! Aus was für Gründen, Nathan, aus was für Argumenten?»5 – Es gibt aber kein anderes Argument zugunsten der Religion als zu lernen, was es heißt, Menschen zu lieben jenseits der Grenzen von Rassen, von Klassen, von Religionen und von Nationen. Beglaubigt wird eine Religion nicht mehr durch das Rezitieren von alten Texten, sondern durch die Art und Weise, in der man lebt. Das ist: belehrt von Gott. Aus einem Leben in 290

Gottesunmittelbarkeit wird plötzlich alles verständlich, was der johanneische Jesus sagen möchte. Alles, was er bringen wollte, war er selbst. Er wollte nicht als Ikone an die Wand gehängt werden, sondern er wollte ein Lebens-Mittel sein, das man gebraucht und das sich nicht verbraucht, wenn es sich in Energie zum Leben verwandelt. So war er, und so wollte er werden: Brot des Lebens. Das ist mein Fleisch, heißt es am Ende; und sogleich beginnt die dogmatisch geformte Auslegung darüber nachzusinnen, ob damit nicht das Mahl der Eucharistie, das Abendmahl gemeint sei, das «Wunder» der Gegenwart Jesu unter den sakramentalen Gestalten von Brot und Wein. Schon daß wir von Wein kein Wort hier hören, macht alle Spekulationen in diese Richtung nicht nur überflüssig, sondern erkennbar falsch. Was Jesus in Wahrheit mit den Worten «mein Fleisch» sagen will, meint etwa dies: «Meine ganze Existenz, bis in jede Faser hinein, will und möchte nichts weiter, als daß ihr es lernt, aus ihr zu leben. Wenn es euch Mut gibt, inniger zu lieben, stärker zu hoffen, gerader durchs Leben zu gehen und mit der Stirn schon im Diesseits die Sterne zu streifen, indem ihr von diesem Ufer übersetzt zu jenem anderen, dann wäre es wie ein Brot, das vom Himmel auf die Erde käme, dann wäre es eine Neugründung des Zerfallenen in Fundamenten aus Edelsteinen; dann wäre es, daß die Sperrwände zwischen Himmel und Erde sich hinweghüben und ein jeder als ein Nicht-Ausgestoßener, als ein Sich-Wiedergegebener, als ein mit ewigem Leben Begabter aufwachsen könnte zu seinem Glück und zu seiner Schönheit.» So ganz sicher hat es Jesus gewollt: nichts Vergangenes, nichts Zukünftiges, sondern alles jetzt, in der Gegenwart. Selbst der letzte Tag dann, der die endgültige Auferstehung uns schenkt, ist im Grund schon der jetzige, der das Ferne bestätigt, so wie er von daher bestätigt wird.

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Joh 6,52-71: Worte unendlichen Lebens hast du 52Zerstritten

waren da gegeneinander die Juden (die Gottesbesitzer), sie sagten: Wie kann der uns (sein) Fleisch zu essen geben? 53Gesprochen hat da zu ihnen Jesus: Bei Gott, ja, bei Gott, ich sage euch, wenn ihr nicht eßt das Fleisch des Menschensohnes und trinkt sein Blut, habt ihr Leben nicht in euch. 54(Nur) wer mein Fleisch aufnimmt und mein Blut trinkt, hat unendliches Leben (Mt 26,26-28); lasse ich ihn doch auferstehen am Letzten Tage. 55Denn mein Fleisch ist wahre Speise und mein Blut ist wahrer Trank. 56Wer mein Fleisch aufnimmt und mein Blut trinkt, in mir bleibt der und ich in ihm (15,4; 1 Joh 3,24). 57Wie mich der lebendige Gott gesandt hat und ich wegen des Vaters lebe, so auch, wer mich aufnimmt: Auch der wird leben wegen meiner. 58Das ist Brot, das aus dem Himmel niedergestiegen ist, nicht, wie es die Väter gegessen haben und gestorben sind; wer dieses Brot aufnimmt, wird leben ins Unendliche. 59Das hat er gesprochen, in der Synagoge lehrend, in Kafarnaum. 60Viele da, wie sie es hörten, von seinen Jüngern, sprachen: Hart ist dieses Wort. Wer kann es anhören? 61Wissend aber war Jesus bei sich, daß murrten darüber seine Jünger, und so sprach er zu ihnen: Dies (schon) ist für euch ein Ärgernis? 62Wenn ihr nun schaut, wie der Menschensohn dahin aufsteigt, wo er vormals war (Lk 24,50)? 63Der Geist ist das Lebendigmachende, das Fleisch – nein, es nützt nichts (3,6). Die Worte, die ich euch gesagt habe – Geist sind sie und Leben sind sie. 64Doch gibt es von euch welche, die nicht vertrauen – es wußte ja von Anfang an Jesus, welche die Vertrauenslosen sind und wer es ist, der ihn ausliefern werde. 65Und so sagte er: Deswegen habe ich euch gesagt: Keiner kann zu mir kommen, wenn es ihm nicht vom Vater her gegeben ist. 66Von daher gingen viele (von) seinen Jüngern weg, zurück, und nicht mehr mit ihm blieben sie auf dem Weg. 67Gesprochen hat da Jesus zu den Zwölfen: Nicht auch ihr? Wollt ihr gehen? 68Geantwortet hat ihm Simon Petrus: Herr, zu wem sollten wir gehen? Worte unendlichen Lebens hast du. 69Und wir: zu dem Vertrauen, zu der Erkenntnis sind wir gelangt, daß du bist: der Heilige Gottes (Mk 1,24!). 70Geantwortet hat ihnen Jesus: Nicht ich? Euch, die Zwölf, habe ich auserwählt. Und doch: von euch ist einer ein Teufel (13,18)! 71Er meinte damit Judas, den Sohn des Simon Iskariot. Der nämlich sollte ihn ausliefern, einer von den Zwölfen (Mt 26,14).

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Das 6. Kapitel des Johannes-Evangeliums wird in katholischen Kreisen gern als «die eucharistische Rede» bezeichnet, als ein Text, der die «Einsetzungsworte» der Gegenwart Christi in den Gestalten von Brot und Wein darstelle. Doch, wie gesagt, kann diese Rede so kaum verstanden werden. Für Johannes ist es nicht die Frage, wann Jesus kommt oder wann Gott sich zeigt – das ist überall der Fall; gegenwärtig, erfahrbar ist Gott an jedem Punkt, da man ihn einläßt: – Gott kommt nicht, sondern umgekehrt stellt sich die Frage, wann Menschen endlich darauf kommen, ihn zu erkennen! Alles, was Jesus zwischen Tod und Leben, zwischen Dunkelheit und Licht, zwischen Diesseits und Jenseits von jener Speise sagt, die man ißt, aber bei deren Genuß man doch stirbt, und von dieser wahren Speise, die unendliches Leben verleiht, ergibt sich aus der Brechung von zwei Arten des Wirklichkeitsverständnisses, eines äußeren, vordergründigen, im Grunde zerstörerischen, und eines nur in der Tiefe gegründeten, eigentlichen, göttlichen, unzerstörbaren. Wie also gelangen wir von der Oberfläche in die Tiefe, oder wie steigen wir auf von dieser Erde zum Himmel? Es gehört zum Johannes-Evangelium, daß es Gegensätze nicht mildert, sondern möglichst betont herausarbeitet, daß es Widersprüchlichkeiten nicht durch Kompromisse überbrückt, sondern im Gegenteil sie bis zum äußersten treibt. Dieses Vierte Evangelium ist, wie schon einmal beschrieben, in eine Erfahrung getaucht, die in der Moderne Gestalt gewonnen hat etwa im Existentialismus, und es läßt sich von daher zum Teil recht gut verstehen. Man kommt, dachten die Existentialisten, zur Wahrheit nicht durch allmähliche Annäherung, nicht nach der Art der Wissenschaft: durch Hypothese, Überprüfung und verbesserte Theoriebildung – mithin durch einen wachsenden Erkenntnisfortschritt in kleinen, winzigen Schritten –, sondern ganz im Gegenteil: wenn es um Fragen des menschlichen Lebens geht, wenn es um Sein oder Nichtsein geht, dann gilt es, eine Entscheidung auf Entweder-Oder zu treffen. Unsere Lage ähnelt, so betrachtet, daher einem Manne, der oben an einem Steilhang steht und sich ins Wasser hinabstürzen muß, um mit einem verzweifelten Sprung sein Leben zu retten. Es gibt zwischen dem Standort, an dem er sich jetzt befindet, und seiner Zukunft keinen Schritt mehr in derselben Ebene zu tun; vor ihm liegt eine Kluft, etwas ganz Anderes, Unvermitteltes, Unbekanntes, Neues. Für seinen Sprung gibt es folglich keine Vermittlung, nur diesen einen Grund, daß so wie bisher sein Leben nicht mehr weitergeht. Erst wer sein Dasein in etwa so wahrnimmt, begreift die Radikalität der Sprache und Vorstellungswelt des Johannes-Evangeliums. Schroff und steil ist insbesondere das Ende dieses Abschnitts: Eine Rede, 293

in der Jesus die Leute in Kafarnaum in das Geheimnis seines Lebens einführt, soll ihr Finale damit finden, daß einer unter seinen Jüngern als ein Teufel bezeichnet wird. Was überhaupt soll diese Sprache einer totalen und endgültigen Verurteilung gerade in einem Evangelium, das der Überlieferung nach für das liebendste, geistigste und freiheitlichste unter allen Evangelien gehalten wird? Und doch gelangt man vielleicht von diesem merkwürdigen Ende her am besten in das Zentrum dieser sonderbaren Rede, indem wir uns fragen, was denn für das Johannes-Evangelium die Person des Judas, des Sohns des Simon Iskariot, bedeutet im Gegensatz zu der Gestalt des Simon Petrus. Schwierig beim Lesen des Vierten Evangeliums ist, daß wir alle seine Worte irgendwie zu kennen glauben; sie tauchen in den ersten drei Evangelien bereits auf, sie haben die Dogmensprache der Kirchengeschichte entscheidend mitbestimmt, und so denken wir beim Hören solcher Worte unwillkürlich, daß das Johannes-Evangelium uns etwas Vertrautes, wenn auch irgendwie Fremdes, etwas Schwebendes, wenn auch irgendwie Festgelegtes vortragen möchte. In Wirklichkeit greift Johannes all das, was ihm an Denkformen, an Sprachformen, an rituellen Überlieferungen vorliegt, nur auf, um es neu zu interpretieren. Am Ende dieses Gesprächs deutet er ein so nie zuvor gestelltes Problem an: Man kann im Kreis der Jünger bleiben, so wie Simon Petrus es tut, aber auch so, wie Judas, der Sohn des Simon Iskariot, es tut. Letzterer gilt für Johannes nach seinem eindeutigen Kommentar am Anfang der Abschiedsreden (Joh 13,2) als ein Mann, der vom Teufel besessen ist; als Grund dafür gibt er an, es liege ihm einzig am Geld – fügen wir noch hinzu: an der Macht. Grundsätzlich formuliert: Es ist möglich, auch aus der Botschaft Jesu, so wie aus jeder anderen Religion, so wie aus jeder einmal ernstgemeinten, existentiell verbindlichen Lehre zum Leben, nichts weiter zu machen als einen bloßen Mammondienst, als das Aufblähen einer bestimmten Institution im Raum der Gesellschaft, um auf äußere Weise erfolgreich zu sein. Man kann Religion organisieren wie jeden Zweckverband sonst; man kann inmitten der Religion sogar besonders gut die allerältesten verwerflichsten Motive unter vornehmen und heiligen Titeln beibehalten. Ja, der johanneische Jesus meint sogar, derlei gehöre unmittelbar in den Umkreis dessen, was er selber wie unvermeidbar mit ausgewählt habe: Judas ist einer der Zwölf. So sagt es schon das Matthäus-Evangelium (Mt 26,14). In dieser Wendung wird immer noch eine gewisse Nähe, eine Verwandtschaft zu Jesus trotz des Wortes vom «Teufel» sichtbar, als wenn auch Judas zugebilligt würde, der Sache Jesu auf seine Weise hilfreich sein zu wollen. Was 294

mit Judas (als Typ, nicht als historischer Person) sich im Johannes-Evangelium verbindet, stellt eine Perversion in allem dar, es ist ein Verrat im ganzen, und dennoch geschieht es aus seiner Sicht anscheinend, um der Sache Jesu einen Dienst zu erweisen. Wir sind die Polarisierung zwischen Judas und Petrus in dieser Weise nicht gewöhnt; wir verbinden – speziell im Raum der römischen Kirche – im Gegenteil gerade die Gestalt des Petrus mit der Machtfülle eines bestimmten Amtes, mit einem Auftrag gewissermaßen zu einer organisierten und institutionalisierten Form von Religion. Wollte man hingegen die Gedanken des Judas, so wie sie an dieser Stelle bei Johannes anklingen, ins Prinzipielle denken und in ihrer ganzen Konsequenz ausprägen, so gäbe es wohl keine bessere Szene als diejenige, die Dostojewski im Großinquisitor entworfen hat: Man beruft sich auf Jesus, auf seine Güte zum Menschen, aber man macht daraus nichts weiter als die Entlastung des Menschen von seiner eigenen Freiheit, man enthebt ihn seiner eigenen Existenz und seiner persönlichen Verantwortung, man entwirft eine Kirche der Inquisition, der festgelegten Wahrheit, der gußeisern gegründeten Begrifflichkeit; man häuft Macht und Geld in jeder Form auf, doch man suggeriert sich selbst und den anderen immerfort, das alles geschähe zum Dienst an den Menschen und in Verehrung des Gottes der Liebe. Vielleicht muß man das Wort «Teufel» deshalb etymologisch verstehen. Gemeint ist im Griechischen nicht das Gespenst, das in der christlichen Dogmatik als Verkörperung des absolut Bösen umherspukt; das Wort «Teufel» kommt von dem griechischen Wort diábolos, was so viel besagt wie: alles durcheinanderbringen, unter dem Anschein der Wahrheit die Dinge auf den Kopf stellen, so daß am Ende nichts als bloße Verwirrung herrscht. Der «Vater» der Existenzphilosophie, Sören Kierkegaard, hat das einmal so ausgedrückt: Wenn jemand mit Meißel und Hammer einen Geldschrank aufsprengt, so nennt man ihn einen Einbrecher; aber wenn jemand hingehen würde und brächte so viel Falschgeld, so viele gut gemachte «Blüten» auf den Markt, daß sie von den richtigen Geldscheinen ununterscheidbar wären, so würde er damit die ganze Währung außer Kraft setzen; unter dem Anschein des Gültigen wäre am Ende alles entwertet. Kein Einbrecher, meinte Kierkegaard, gehe in Gelddingen so gemein vor wie die Christenheit in Fragen des Christentums, indem sie die Worte Jesu aufgreife, nur um am Ende sich daran vorbeizumogeln, daß man sie wirklich lebe1. Wirklich leben, – das ist es, was Petrus an dieser Stelle Jesus gegenüber alternativelos ausspricht. Gefragt: Nicht auch ihr? Wollt ihr gehen?, fragt 295

er seinen Herrn: Zu wem sollten wir gehen? Worte unendlichen Lebens hast du. Es ist dies das wohl schönste Wort, das ein Mensch im JohannesEvangelium überhaupt ausspricht. Petrus betont: Und wir: zu dem Vertrauen, zu der Erkenntnis sind wir gelangt, daß du bist: der Heilige Gottes. Da hat sich ein Zentrum, ein fester Grund des Lebens gebildet, und nur so noch lohnt es zu leben. Im Grunde ist dies das Ziel der langen Rede Jesu in Kafarnaum. Wie gesagt, man hat diese Rede katholischerseits als «die eucharistische Rede» bezeichnet, in der Meinung, daß das Johannes-Evangelium, das sonst von keinen Sakramenten weiß, an dieser Stelle, sozusagen ersatzweise, das Zentralstück des Zusammenlebens der Christen, das Abendmahl, in verhüllten Worten zwar, aber theologisch doch gültig und korrekt, ausformuliere, ja, daß es im Tiefsinn seiner Gedanken, dabei die ersten drei Evangelien sogar weit übertreffe. Tatsächlich klingen die Worte an: mein Fleisch essen, mein Blut trinken – das ist die sakramentale Begrifflichkeit der Eucharistie; und dennoch versteht man alles, was Johannes hier sagt, im Grunde nur, wenn man das Problem begreift, das seinem Evangelium zugrunde liegt; um es vorweg zu sagen: die «Lösung» besteht darin, alles «Sakramentale» aufzulösen in ein «Zeichen» der Innerlichkeit. Es ist eine allgemein menschliche Frage, wie sich dichte und innige Beziehungen auf Dauer stellen lassen. Zwei Arten sind dabei geläufig: bestimmte Dinge immer neu im Tun zu wiederholen und bestimmte Worte immer neu zu sagen, auf daß aus dem Vertrauten und Bekannten eine immer größere Sicherheit und Stabilität erwachsen möge. So lassen sich im Christentum Ritus und Dogma verstehen. Sie garantieren scheinbar den Bestand des Kostbaren in der Zeit. Wie es sich indessen mit beidem wirklich verhält, erzählte eine Frau vor einer Weile. Sie sagte: «Meine Ehe ist jetzt fast zwanzig Jahre alt, und es geschieht immer wieder, daß mein Mann mich am Hochzeitstag auffordert, an denselben Ort mit ihm zu fahren, an dem wir uns zum ersten Mal begegnet sind. Wir müssen dann dasselbe Restaurant aufsuchen, in dem wir damals durch Zufall miteinander bekannt wurden, wir müssen um dieselbe Zeit dort erscheinen, wir müssen dieselben Wege zurücklegen, wir müssen in demselben Hotel übernachten, in dem wir zum ersten Mal zusammen waren. Es muß alles, was damals der Augenblick formte, unverändert so bleiben, damit es die Zeit überdauere – so der Gedanke meines Mannes.» Alles, man versteht, in dieser Beziehung ist gut gemeint, und doch schwingt darin eine kaum zu beruhigende Angst und Unsicherheit mit. Man möchte wie in einem Beschwörungsritual bestimmte Gebärden, be296

stimmte Ausdrucksweisen festhalten, weil man alle Veränderung, alle Neuwerdung als eine Erschütterung fürchtet, so als wäre das Neue nicht nur der Tod des Alten, sondern der Tod von allem überhaupt, was je gewesen ist. Es wundert nicht, wenn die Frau noch hinzufügte: «Auch in unseren Worten ist das so geblieben. Mein Mann benutzt ein Repertoire von Kosenamen, die er immer wieder verwendet, aber ich frage mich: Wie weit bin ich persönlich dabei gemeint? Wie weit komme ich darin vor? Mein Mann möchte zärtlich sein, aber seine Worte sind wie abgegriffen und gleichzeitig wie zugreifend; es ist in gewisser Weise erstickend.» Bezeichnen wir die Art, das intensivste menschliche Gefühl: die Liebe, in bestimmten Gebärden festzuschreiben, als Ritus, und bezeichnen wir die Wiederholung bestimmter Ausdrucksweisen als Dogma, so haben wir, was in jeder menschlichen Beziehung sich als eine Methode der Angstsicherung zutragen mag, als eine Grundgefahr gerade im Raum des Religiösen vor uns: Im Wahn, Gott zu sichern, verrät man ihn. Denn Gott ist etwas Schwebendes, nie zu Greifendes, etwas Beunruhigendes, wenn auch einzig Bergendes, etwas Gegenwärtiges stets und doch nie Faßbares, nie Erfaßbares. Alle Religion begründet sich in genau dieser Mischung aus Unsicherheit und Geborgenheit, aus Angst und Vertrauen. Alles, was sie sagen und tun kann, ist in diesen Widerspruch getaucht; es ist offen für den rechten schwebenden Gebrauch einer stets möglichen Erneuerung, aber es steht auch in der Gefahr der eigenen Versteinerung. Und genau diese Gefahr, diesen Zustand hat Johannes bereits am Ende des 1. nachchristlichen Jahrhunderts vor sich. Er greift das Ensemble der fertigen Gesten, der fertigen Sprachgebärden auf, zeichnet sie nach, überzeichnet sie mitunter sogar, um zu fragen, ob denn nicht eine neue Interpretation möglich und nötig sei, – nicht als wäre das Alte, das Überlieferte, falsch, aber doch so, daß alles falsch würde, wenn es so bliebe. In die Gefahr ritueller Versteinerung gerät auch die Versicherung der kirchlichen Dogmatik, Christus sei uns gegenwärtig unter den sakramentalen Gestalten von Brot und Wein. Johannes läßt seinen Jesus sich selbst als «Brot» und «Fleisch» und «Wasser» und «Weinstock» bezeichnen, aber er scheut sich förmlich, etwas Rituelles als eine fertige Gegebenheit zu akzeptieren. Nicht im Grunde an die «Juden» in Kafarnaum richtet sich deshalb diese Rede, sondern an Menschen, die sich schwer tun, einen bloßen Ritus als Gegenwart des Göttlichen zu akzeptieren, die mehr suchen als eine rituell gebändigte Gebärde, die etwas Göttliches zu garantieren vorgibt. Was denn überhaupt ist gemeint, was war gemeint damit, daß Jesus sich gibt in seinem Fleisch, in seinem Blut? Bilder sind das, die in der Mensch297

heitsgeschichte tief in die Vorzeit zurückreichen, in dunkle, archaische Vorstellungskomplexe. Zum Bestand alter Jägerkulturen gehörte offenbar der Glaube, daß Tiere, die man ißt, als göttlich zu verehren sind, weil sie die Grundlage des Lebens, den Quell aller Nahrung bilden. Fleisch und Blut bieten die Kraft zum Existieren. Die Tiere, die man erjagte, um davon zu leben, wurden in den Mythen als unsterbliche, göttliche Lebewesen an den Himmel versetzt, so wie wir des Nachts, wenn wir die Augen zu den Sternen erheben, etwa dem Großen Bären oder den Jagdhunden begegnen. Der Bär war vor zwanzig-, dreißigtausend Jahren ein heiliges, göttliches Tier, verehrt im Himmel wie auf Erden. Später, vor achttausend Jahren, in der Zeit der beginnenden Ackerbaukulturen, wurden ähnliche Vorstellungen mit Pflanzen verbunden, speziell mit dem Korn und mit dem Wein. Der ägyptische Gott Osiris, der griechische Gott Dionysos gaben sich im Geschnittenwerden der Ähren, im Zerstampftwerden der Reben den Menschen als göttliche Speise. Es ging nicht mehr darum, Tiere zu töten, doch man empfand auch das Ernten von Pflanzen im Raum der Natur als eine Art Sterben zugunsten des Lebens. Die Menschen begriffen die Gesetze der Vegetation, das ewige Stirb-und-Werde, in einer Tiefe und Dichte wie niemals zuvor. Opferpraktiken breiteten sich aus, um das Göttliche über alle Gefährdungen hinweg zu erhalten2. Man kann gewiß nicht sagen, daß Jesus Vorstellungen dieser Art selber begründet hätte, allenfalls wurden sie mit ihm begründet. Im griechischen Kulturraum, in dem sie seit Jahrtausenden bereits wie selbstverständlich existierten, drangen sie in das Christentum ein, um von ihm her neu belebt und gedeutet zu werden. Doch das genau ist jetzt das zentrale Thema des Johannes-Evangeliums in dieser Rede: Was ist das Neue in der Botschaft Jesu? Nimmt man die alten Opferriten im Sprechen von Fleisch und Blut in Augenschein, so muten sie entsetzlich an; man möchte den «Juden» in Kafarnaum völlig recht geben: so etwas ist nicht nur «hart» zu hören, es ist unerträglich, es ist widerwärtig. Fleisch essen, Blut trinken, das sind für jüdische Ohren inakzeptable, vollkommen heidnische religiöse Riten. Nie wird ein orthodoxer Jude diese hellenistischen Mysterienkulte als sein eigen betrachten. Das Johannes-Evangelium nimmt diesen Widerspruch auf, um die Hörer, die Leser zu fragen, was sie denn meinen, was für sie der überlieferte, der bereits christianisierte Ritus besagen will. Wenn es überhaupt einen Grund gab, kultische Mahlgemeinschaften unter den Zeichen von Brot und Wein im Umkreis Jesu einzurichten, so wird man ihn finden in dem am meisten provozierenden Bild, das Jesus in 298

seinem Leben gestaltet hat und das ihn wohl tatsächlich an den Rand des Todes gedrängt hat. Unter uns Menschen gibt es kaum einen Brauch, der so einladend und so verbindend über all die Jahrmillionen der Menschwerdung und der menschlichen Geschichte hinweg wirkt, wie das gemeinsame Essen und Trinken. Wer sich zu einem anderen an dieselbe Tafel setzt, zeigt damit an, daß er buchstäblich ein Kumpane ist. Jesus hat dieses Sinnbild des gemeinschaftlichen Mahles als ein Zeichen für seine Art genommen, Israel neu zu gestalten: Es sollte nicht länger sein, daß im Volk der Erwählung Menschen sich als Unerwählte, als Ausgestoßene, als Ausgeschlossene fühlten. Sind denn nicht die Verzweifelten eben diejenigen, die am meisten hungern, zwar nicht nach Brot, aber nach Liebe? Sind nicht diejenigen, die vom Gesetz als Ungläubige, als Unmoralische abgesondert wurden, in ihrer Sehnsucht und in ihrem Suchen die am meisten Dürstenden nach menschlicher Nähe? Gerade diejenigen, denen sonst keine Chance gelassen wird, spüren stärker als die in der Normalität Versicherten, daß sie einzig durch Annahme, durch Entgegenkommen zu sich selber finden können. Darum ging Jesus auf sie zu, darum lud er sie ein, darum setzte er sich mit ihnen an einen Tisch. Das Markus-Evangelium ist noch nicht zwei Kapitel alt, da wird davon berichtet, daß man Anstoß an der Art nimmt, mit der Jesus sich mit Sündern und Zöllnern zusammensetzt und wie er sogar den Sabbat, wie er die heilige Gottesordnung, zugunsten von hungernden Menschen außer Kraft stellt (Mk 2,24; 3,2). «Ich», wird er sinngemäß sagen, «bin gekommen wie ein Arzt zu den Kranken», und: «Der Menschensohn hat Macht auch über den Sabbat.» (Mk 2,10.17) Wenn das bedeutet, Mahlgemeinschaft zu feiern, so ist die Tafel, zu der Jesus ruft, so weit wie der Himmel, der sich darüber wölbt. Da wird ein Gott verkündet, der die Menschen einschließt statt ausschließt, da wird aus der Religion nicht länger mehr ein Gesetzbuch erstellt, um Menschen in Richtige und Falsche einzuteilen, sondern da breitet sich ein Feld aus, in dem die Menschen in ihrer Verlorenheit Heimat finden können. Jeder darf da kommen, der Durst hat und den hungert. So wird es nun zur Frage des Johannes-Evangeliums, wie man das Bild des Mahls von Fleisch und Blut, wie es die dogmatische Formel von der Eucharistie bezeichnet, noch einmal weiter interpretieren kann, ohne Verlust des Alten, aber so, daß Neues dabei möglich wird. Bis hierhin war die ganze Zeit über die Rede von Fleischessen und Bluttrinken, doch plötzlich sagt derselbe Jesus, es gehe um Geist; der allein sei das Lebendigmachende, das «Fleisch» nütze nichts. In der Sprache des Johannes-Evangeliums sonst sind Geist und Fleisch soviel wie die Wirklichkeit Gottes und die Wirklich299

keit rein irdischen Gepräges. Aber genau diese Denkform, diese Gegenüberstellung, absorbiert jetzt auch das Reden der Sakramentensprache. Das Fleisch – nein, es nützt nichts kann doch in diesem Zusammenhang nur soviel bedeuten wie: die Formel vom «Fleischessen» kann genauso irdisch, genauso oberflächlich, genauso nichtssagend und damit tödlich verstanden werden wie alles andere. Geistig aufnehmen, das bedeutet, Jesus nicht in sakramentalen Bildern, sondern in seinem Wort in sich aufzunehmen. Sehr stark wird dieser Aspekt betont. Es ist das Wort, das ewiges Leben schenkt. So erklärt es Petrus am Ende, und so hat er es ganz richtig verstanden. Zwischendrein betont der johanneische Jesus selbst immer wieder, durch sein Wort seien eine Speise, ein Trank gegeben, die den Namen verdienten: eine wahrhafte Speise, ein wahrhafter Trank; sei er doch selbst in seiner Person die Auferstehung am Letzten Tage. Bereits im Gespräch mit der Frau am Jakobsbrunnen (Joh 4,1-42) tauchten derartige Gedanken und Zusammenhänge auf. Fragen wir uns, wie ein solches Wort zu verstehen ist, das wahrhaft sättigt, das wirklich Durst stillt, so müßten wir uns im Sinne des Johannes Fragen vorlegen, die hier nicht ausgedrückt, geschweige denn beantwortet werden, die aber angeregt werden, genauer: die angeregt werden sollen. Da ist die Frage, womit wir uns denn sonst «sättigen», was unser normales «Leben» trägt. Im Jahr 1944 war es der französische Dichter Antoine de Saint-Exupéry, der kurz vor seinem Tod, in dem berühmten Brief an einen General, schrieb: «Monsieur le Général, die Menschen können nicht länger leben nur mit Kühlschränken und mit Kreuzworträtseln. Es müßte über diese Welt etwas herabtauen, das einem gregorianischen Choral gliche.»3 – Über fünfzig Jahre danach muß man saint-exupéry beinahe bemitleiden, wenn er meinte, es sei unmöglich, nur im Äußeren zu leben. Man werde nach dem Krieg, sah er voraus, Musikinstrumente über den Ozean in das vom Krieg verwüstete Europa schicken, um zu hohen Marktpreisen dort Geigen und Celli zu verkaufen, aber werde man noch imstande sein, den Geist eines Mozart oder eines Beethoven zu verstehen? Das Marketing ja, aber der Inhalt, wo würde der bleiben? Ein halbes Jahrhundert später verstehen wir sehr wohl, wie man leben kann von Kühlschränken und Kreuzworträtseln, wie man im Grunde die Gesetze des Verkaufs bis hin zum Ausverkauf alles Menschlichen treiben kann und wie man der Menge ständig ein Mitmachenmüssen suggeriert, wo im Grunde nichts weiter sich selber verwaltet als buchstäblich der Tod. Wir begreifen heute vielleicht besser noch als in den Tagen der humanistischen Sehnsucht des saint-exupéry, daß wir einen Neuanfang brauchen nach Ablauf des 300

zurückliegenden blutigen, leidgetränkten zwanzigsten Jahrhunderts. Es wären einfache Schritte, die da zu tun sind, sie lägen so nah, und doch erscheinen sie fast wie unmöglich. Fragen wir uns, woraus denn wirkliches Leben entstehen kann, was die Worte sind, die uns leben lassen, so sind es ausnahmslos Worte der Zuneigung, sind es Versicherungen einer persönlichen Nähe, die in der Existenz des einen für den anderen sich bilden. Alles außerhalb davon ist bestenfalls ein Hinweis, oft genug ein Hindernis. Wovon wir wirklich leben, gründet in einer Sprache, die sich getraut, die Seele des anderen zu berühren, sein Gefühl aufzuwecken, seine Phantasie zu beleben und ihm den Mut zum Glück zu verleihen. Worte unendlichen Lebens hast du bedeutet, so übersetzt: «Jesus, du hast in eine Welt der Feindseligkeit und des Hasses eine Sprache der Liebe gebracht, die uns hoffen läßt und die uns aufrichtet. Du hast uns in einer Welt der Trostlosigkeit und der Dunkelheit Hoffnung geschenkt. Du hast uns mitten in dem Einerlei der Routine etwas vor Augen gestellt, das so für uns nie noch zu sehen war.» «Wohin denn sollen wir gehen», gibt der Theologe Horst Weber die Worte des Petrus in Gebetsform wieder, «wohin, wenn nicht zur dir, Herr? Auf wen denn sollen wir sehen, wenn nicht auf dich, Herr? – Auf wen denn sollen wir trauen, wenn nicht auf dich, Herr? Auf wen denn sollen wir bauen, wenn nicht auf dich, Herr? – Zu wem denn sollen wir beten, wenn nicht zu dir, Herr? Zu wem denn sollen wir treten, wenn nicht zu dir, Herr?» Jesus selber erklärt hier, er sei gesandt von seinem Vater und er lebe wegen seines Vaters, und ganz entsprechend werde jeder, der zu ihm komme, leben seinetwegen. Das ist eine so unglaublich totale Aussage, daß die meisten, wenn sie sie hören, sich wohl zunächst erschrocken fragen, ob das denn stimmen könne. Vermöchte wirklich jemand, gefragt: «Warum lebst du?», zur Antwort zu geben: «Weil es Jesus gibt», einzig seinetwegen, ausschließlich für ihn.» Gleichwohl ist es einzig diese Haltung, die im Johannes-Evangelium das Wort «Glauben» oder sogar «Erkenntnis» verdient. Um so wichtiger ist die Frage, wieviel Spielraum uns denn bei dieser «harten» Rede bleibt. Würden wir auch nur einen Moment lang versuchen, wegzugehen wie eine große Anzahl der Jünger hier in Kafarnaum, sogar noch begleitet von der Aufforderung Jesu: Nicht auch ihr? Wollt ihr gehen?, so müßten wir uns allerdings sofort wie Petrus fragen, wohin wir damit kämen. Die Antwort kann nur sein: wir fielen augenblicklich in eine Welt zurück, die sich in ihrer eigenen Logik längst geschlossen hat. Wir 301

kennen sie tagaus, tagein: Da existiert gegen die Gewalt nichts anderes als die Sprache der Gegengewalt, da gilt es, das Böse zu überwinden durch die stets stärkere Macht des immer noch Böseren, da gilt es, Macht zu erobern, so als sei das allererst die Voraussetzung, überhaupt etwas Rechtes in der Welt «bewirken» zu können, da gilt es, Fraktionen und Parteien zu bilden, so als lasse sich erst dann im Raum der Gesellschaft etwas zum Guten bewegen. In dieser Welt aus Geld und Macht und verwalteter «Ordnung», aus Spaltung unter den Menschen, aus dem Rechthaben im absoluten Maßstab des Kampfes des einen gegen den anderen gibt es keinen Trost, nicht gegen die Vergänglichkeit, nicht gegen die Angst, nicht gegen den Tod. Es ist ein Leben, das nur so weitergehen kann, gleichgültig, ob wir es dreißig oder vierzig Jahre lang mitmachen. Wir mögen es mit immer schwächeren Kräften eine Weile lang mittragen wie eine Schicksalshypothek, – es macht am Ende keinen Sinn, es zerfasert und verschleißt; das ist das Grundgefühl. Schon deshalb gibt es keinen anderen Weg, als eine Alternative dagegen zu setzen, so deutlich wie das Licht gegen die Finsternis, meint Johannes; und dazu gibt es nur einen einzigen Weg: ein Leben zu beginnen, von dem wir hoffen können, es möchte in alle Ewigkeit dauern. Machen wir einmal ein kleines Gedankenexperiment. Wir versetzen uns um ein paar Jahre in die Zukunft; wir sind siebzig geworden, wir stehen im letzten Abschnitt unseres Lebens, und wir machen uns Gedanken darüber, wofür und warum es uns gab; wie auf einem Sieb würde unser Leben noch einmal durchgeschüttelt auf die Frage hin, welche Goldkörner denn im Staub und im Sand all der Jahre sich als Kostbarkeit entdecken ließen; würden dann wohl die Stunden übrig bleiben, in denen wir unsere Pflicht und nichts als unsere Pflicht getan haben? in denen wir funktioniert haben? in denen wir austauschbar waren durch jeden anderen an unserer Seite, der das, was verordnetermaßen unseren Lebensinhalt bildete, genau so gut und gern hätte tun können? Wann haben wir wirklich als Personen existiert, so daß wir denken dürften, es hätte uns geben sollen? Da stünde zur Frage, welche Augenblicke wir wirklich unser eigen nennen würden, was die Momente sind, die wir bis ins Unendliche verlängern möchten, um voller Freude zu sagen: «Das ist unser Eigentliches, das unser Bleibendes, das sind die Stellen, an denen ein Schimmer der Ewigkeit in diese Welt schon hineinleuchtete; in diesen Situationen lebten wir wirklich, davon können wir auch im Rückblick ‹satt› werden und unseren «Durst» stillen. Feststehen kann jetzt schon: Es werden ausnahmslos die Momente sein, in denen wir anderen Menschen ein Stück weit Räume des Glücks erschlossen haben, Momente, in denen sie sich selber in ihrer Person tiefer zu 302

finden vermochten, Szenen, in denen wir mit unserem eigenen Ich gebraucht wurden und einem anderen so gegenübergetreten sind, daß er darinnen sich selbst finden konnte. Nur solche Momente werden zählen. In diesen Momenten verfügten wir über keinerlei Macht, im Gegenteil, wir mußten uns gänzlich schutzlos riskieren; in solchen Momenten verfügten wir über keinerlei Wahrheit im voraus, im Gegenteil, wir mußten unsere bereits fertigen Urteile oft genug wieder aufgeben; in solchen Momenten wußten wir selber nicht, wer wir waren und woran wir uns halten konnten, wir mußten uns selber in Frage stellen, um über unsere persönlichen Grenzen hinaus zueinanderzufinden. In solchen Stunden galt nichts Vorweggegebenes, sondern es schob uns über das fertig Gegebene in ein Neues. Und es gab, wie wir jetzt sehen, keine Augenblicke, in denen wir mehr wir selber gewesen und geworden wären, als diese Momente. Das ist gemeint, wenn Johannes seinen Jesus in Kafarnaum sagen läßt: Wer vertraut, hat unendliches Leben, und: Ich bin das Brot des Lebens. Dies ist das Brot, das aus dem Himmel niedersteigt, daß man davon esse und nicht sterbe. Wenn man ißt von diesem Brot, wird man leben ins Unendliche. In all dem liegt eine Ermöglichung, die Welt noch einmal gänzlich neu zu betrachten. Parallel zum sakramentalen Ritus der Zeichen von Brot und Wein lautet die dogmatische Formel über Jesus von Nazaret: er ist aus dem Himmel herabgestiegen, er ist als das Wort Gottes zur Erde gekommen, und er wird wieder, so lautet das Bild vor allem der drei Evangelien vor Johannes, hinaufsteigen zum Himmel – in der Vision einer Himmelfahrt. Da existiert ein quasi räumliches Schema von Niederkunft, Ankunft und Aufstieg des Christus; doch das Johannes-Evangelium verinnerlicht und vertieft auch diese Vorstellungen. Es gibt Worte, die soviel an Vertrauen, an Liebe und Hoffnung erschließen, daß sie ein Leben begründen, das durch nichts mehr zu zerstören ist. Wenn diese Erfahrung erst einmal gilt, versteht man dann nicht zugleich auch, wieso man von Jesus sagen kann, er sei vom Himmel auf die Erde gekommen und er kehre zurück in diese himmlische Sphäre? Was sich da räumlich orientiert und dogmatisch ausformuliert, bedeutet im Grunde erneut eine Verwandlung der ganzen Existenz, eine Neuordnung der gesamten Perspektive. Sagen wir so: Es gibt Lebewesen, die nur in zwei Dimensionen die Welt wahrnehmen können; es ist möglich, sie in vier kleinen Streichhölzern, zu einem Quadrat gelegt, einzusperren; sie bleiben darin Gefangene, weil es für sie die Dimension der Höhe nicht gibt. Gerade so bewegen wir Menschen uns in den meisten Konflikten unserer Welt. Wir sind Gefangene un303

seres eingeschränkten Vorstellungsvermögens, so daß wir auf Angst stets nur antworten können, indem wir dem anderen Angst machen, so daß wir auf den Schmerz, den wir empfangen, nur reagieren können, indem wir anderen Schmerz bereiten, so daß wir Unsicherheit mit Gewalt zu überwinden suchen, ganz so, wie im Raum der Natur an unserer Seite es die Tiere auch tun würden. Wohl, wir Menschen können unseren Verstand gebrauchen, doch der ist eine zwiespältige Begabung; denn alle Ursachen der Angst verlängern sich ins Unendliche durch den Verstand; aus lauter Angst werden wir dann schlimmer als alle Tiere, ja, wir werden zu der größten Gefahr dieser Erde. Wir können unsere Vernunft aber auch dazu benützen, um unseren unendlichen Hunger, um unseren unendlichen Durst in den Himmel zu werfen. Wir können unsere Vernunft dazu gebrauchen, alles noch einmal ganz anders zu sehen, buchstäblich vom Himmel her. Es erscheint dann vieles als derart klein, als derart eng, als derart primitiv, daß wir uns dafür schämen müßten, bei dieser Sichtweise zu bleiben. Es ist möglich, weitherzig und offen zu sein statt angstverengt und verschlossen; es ist möglich, diese kleine Erde mit den Augen des Himmels zu betrachten. Manchmal erklären Astronomen in Planetarien nicht nur die Entstehung der Sterne, sondern sie erläutern den Hörern auch, warum es gut ist, sich überhaupt mit dem Sternenhimmel zu beschäftigen. Der Große Bär verkörpert mit seinem Namen ein Stück Kulturgeschichte in der Zeit, – die heutige Astronomie aber zeigt uns Fixsternsonnen in unglaublichen Entfernungen und in unglaublicher Zahl – mehr als hundert Trillionen Sonnen, sie alle Kernfusionsreaktoren, die aus Wasserstoff Helium erbrüten und hernach alle Elemente, die später auf etwaigen Planeten unter bestimmten Bedingungen lebende Organismen zu bilden vermögen. All das zu erkennen bedeutet einen großartigen Fortschritt der Wissenschaften; Weisheit aber liegt in all dem womöglich erst, wenn wir lernen, anhand der wahren Dimensionen des Alls hier auf dieser kleinen Erde Vernunft anzunehmen. Unter unseren Fernrohren, in unseren Teleskopen wird eine Welt von unermeßlicher Ausdehnung in Raum und Zeit sichtbar. Wir aber kämpfen auf der Erde immer noch um territoriale Grenzziehungen: An irgendeinem Flußlauf, an irgendeinem Bergkamm beschließen wir, Völker, Rassen, Religionen voneinander zu trennen, und es ist uns dann dieser Flußlauf, dieser Gebirgskamm immer noch das Opfer von Tausenden von Menschenleben wert. Wann lernen wir, allein unter der Größe des offenen Himmels, den wir mit bloßen Augen schon sehen können und den die Astronomen uns nochmals vergrößern, die Winzigkeit unserer Probleme zu erkennen? Da 304

fiele der Schimmer der unzähligen Sterne auf unseren kleinen Stern mit Namen Sonne und auf dessen winzigen Begleiter Erde, und wir, diese Gebilde aus Sternenstaub, würden ein wenig Weisheit gewinnen und Bescheidenheit lernen. Es wäre immer noch weit entfernt von dem, was Johannes meint mit dem «Wort, das vom Himmel herabsteigt» und das wie ein Wunder diese Welt verwandeln könnte mit eben dem Vertrauen, das Jesus von Nazaret in diese Welt brachte; und doch wäre es ein erster Schritt in Richtung dieser Überzeugung, die Liebe sei stärker als die Starrheit der Angst, die Weichheit der Sanftmut sei siegreich über die Härte des Hasses, das fließende Wasser sei mächtig über den Stein, die Wärme des Windes schmelze die Schwere des gefrorenen Gletschers, und so sei das menschliche Herz dazu bestimmt, aufzuwachsen zum Licht der Liebe, der Güte und des Verstehens, und der eine könne leben mit dem anderen, vom anderen, zum anderen hin; jeder sei dem anderen so etwas wie ein Stück Brot und wie ein Rauschtrank der Freude in seinem Inneren, um zu wissen, wofür er lebt – Wein und Brot ein jeder für den anderen! Wenn wir uns fragen, ob so etwas denn überhaupt zu leben sei, werden wir in der Tat nicht viele Zeugnisse finden außer diesem einen: Jesus von Nazaret. Wo immer wir in die Geschichte der Menschheit schauen, ist sie zumeist erfüllt von Dunkel und Schmerz, von Rauch und Blut. Aber es gibt dieses eine Vorbild, es gibt dieses eine Beispiel. Und das muß genug sein! Mehr braucht es gar nicht, um nicht zurückzugehen in das Alte, sondern auf diesem Wege weiter voranzuschreiten. Freilich, wir müßten der Evidenz unseres Herzens, der Wahrheit unserer Sehnsucht, der Erkenntniskraft unserer Menschlichkeit alles, die Macht Gottes, zutrauen, und diese Zuversicht sollten wir uns nicht nehmen lassen. Am Ende gelangten wir zu einer Form der Gottesverehrung, die ganz und gar in Menschlichkeit gründete. Sie wäre nützlicher, mächtiger, stärker und größer als alles, was sich von außen her organisieren, formieren, dogmatisieren und institutionalisieren ließe; da zählten am Ende nur noch Gott und der Mensch, und unter den Menschen bildete die Liebe jenes Brot, das aus dem Himmel niedersteigt, bei dem kein Tod mehr ist, bei dem keine Angst mehr ist, und wir lauschten nur noch dieser Rede jenseits des Sees. Das Johannes-Evangelium ist ein Versuch, alles Überkommene noch einmal neu zu deuten; es ist der Beginn, darüber nachzudenken, welche Gründe uns denn bestimmen, sowohl in der Tradition auszuharren als auch weiterzugehen, geistig, innerlich, nie mehr von außen bestimmt, ganz und gar uns selber gehörig und darin einander zugehörig. Es gibt ein kleines Bild, ein Gleichnis für den Unterschied zwischen Tod 305

und Leben, zwischen Dunkelheit und Licht, zwischen Brot, das man ißt und über dem man stirbt, und Brot, dessen Verzehr unendliches Leben eröffnet. In der Geschichte der Christenheit gab es vielleicht niemanden, der so sehr dem Beispiel Jesu entsprochen hätte wie der heilige Franziskus. Von ihm werden viele Geschichten tradiert, teils historisch glaubwürdig, teils legendär. Eine historisch glaubhafte Erzählung überliefert, daß die Schüler um den Poverello, den kleinen Armen von Assisi, irgendwann von Dieben ausgeplündert wurden. Sie beklagten sich bei Franziskus und wollten den Räubern nachstellen, um das verlorene Gut wieder einzutreiben. Franziskus aber sagte ihnen, sie sollten schnell die Diebe und Räuber suchen gehen und sie fragen, ob sie noch etwas bräuchten4. Franziskus war der Meinung, daß niemand stiehlt, raubt, mordet, außer er täte es in einer großen, womöglich noch unbekannten Not. Alle bürgerlichen Gesetze richten sich klar und eindeutig zugunsten der Besitzenden gegen die NichtBesitzenden und schreiben damit die Differenz zwischen den Menschen nur noch fester; sie erfordern ein ganzes Heer von Staatsbeamten, Polizisten, Richtern und Gefängniswärtern; auf diese Weise stabilisieren sie ihre Ordnung. Es war Franziskus, der durch all diese Mauern zwischen den Menschen hindurchging wie der Jesus des Johannes-Evangeliums am Abend nach seiner Auferstehung durch die verriegelten Türen (Joh 20,19). Es wird von Franziskus ebenfalls historisch glaubhaft überliefert, daß er eines Tages einem Mann begegnete, der auf einem Pferd saß, in Eisen gepanzert, ein mittelalterlicher Ritter wie aus dem Bilderbuch. Franziskus, erstaunt, soll den Mann gefragt haben: «Wovor denn hast du solche Angst?», und er wollte damit wieder sagen: Ein Mensch, der sich verpanzert in der Verfestigung einer «Sicherheit», die nur die eigene Angst einfriert, mag hoch zu Roß sitzen, – er hört auf, als Mensch unter Menschen zu leben. Es ist möglich, Angst zu überwinden, indem man dem anderen in die Augen statt ins Visier schaut. Von Franziskus erzählt des weiteren eine Legende, daß in der Kälte des Winters, als der Schnee hoch lag in den Averner Bergen und Wölfe in das Dorf von Gubbio eindrangen, die Männer mit Dreschflegeln und Sensen hinausgingen, um einem der Wölfe, der unter den Schafen der Herden immer wieder seine Beute riß, den Garaus zu machen. Franziskus aber, barfüßig, wie schwebend über den Schnee, ging den Männern voraus, geradewegs auf die Bestie zu, die nach Hundeart seine Hand zu lecken begann. Der heilige Mann soll den Wolf umarmt haben mit den Worten: «Bruder Wolf, nur aus Hunger hast du solches getan.»5 – Man müßte im Sinn der Legende zu uns ganz analog sagen: Es gibt unter uns immer wie306

der Menschen, die können wie reißende Wölfe sein; das, was sie tun, ist objektiv womöglich noch viel schlimmer als das, was ein wildes, knurrendes Tier unter Menschen anrichten kann, und immer wird man geneigt sein, mit Gewalt die Grenzen zu schützen und dagegen anzugehen. Die Art Jesu indessen war es, Nahrung zu schenken, die nicht tödlich ist, Brot zu bringen, um das man nicht kämpfen muß, sondern das allen Hunger stillt und das sich verteilen läßt an alle. Dann freilich müßten wir uns fragen, nicht: was Menschen tun, sondern: was man ihnen angetan hat. Dann müßten wir uns fragen, nicht: was da vor sich geht, sondern: was in Menschen vor sich gegangen ist, ehe sie so vorgehen konnten. Dann ist die Frage, wieviel Hunger und wieviel Durst Menschen hatten, ehe es sie zu etwas trieb, das wir ein Verbrechen nennen und das doch in aller Regel nur das Wegbrechen von Zäunen ist, außerhalb deren Menschen nicht länger glauben leben zu können. Außer dem Beispiel Jesu, außer der Nachfolge des Franziskus gibt es im «christlichen» Abendland kaum einen Halt, der uns darin bestätigt, zu denken, so etwas sei möglich: Wölfe zu umarmen, Brot zu verschenken und vom Himmel ein Wort in sich aufzunehmen, das unendliches Leben in diese Welt bringt.

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Joh 7,1-31: Die rechte Zeit, der rechte Ort – in Verborgenheit und Öffentlichkeit 1Und danach zog Jesus in Galiläa umher (4,43). Nicht nämlich wollte er in Judäa umherziehen, denn es suchten ihn die Juden (die Gottesbesitzer) zu töten. 2Es war aber nahe das Fest der Juden – die Laubhütten (Lev 23,34-36). 3Sagten da zu ihm seine Brüder (2,12; Mt 12,46; Apg 1,14): Begib dich fort von hier, auf, nach Judäa! damit auch die Jünger von dir schauen von dir die Werke, die du tust. 4Niemand nämlich tut etwas im verborgenen und sucht doch selbst in der Öffentlichkeit zu stehen. Wenn du (schon) solche Dinge tust, tritt selbst vor der Welt in Erscheinung! 5Nicht einmal nämlich seine Brüder vertrauten auf ihn. 6Sagt ihnen Jesus: Die Zeit, die meinige, ist noch nicht da (2,4). Die Zeit, die eurige, ist allzeit bereit. 7Nicht kann die Welt in Haß sein zu euch, mich aber haßt sie, denn ich bezeuge über sie, daß ihre Werke böse sind (15,18). 8Ihr – begebt ihr euch hinauf zum Fest! Ich – nicht begebe ich mich hinauf zu einem derartigen Fest, hat sich doch meine Zeit noch nicht erfüllt. 9Das also sprach er; – er selber blieb in Galiläa! 10Wie aber seine Brüder sich hinaufbegeben hatten zum Fest, da begab auch er sich hinauf, nicht in Erscheinung tretend, sondern im verborgenen (2,13). 11Die Juden (die Gottesbesitzer) nun suchten ihn auf dem Fest und sagten (immer wieder): Wo ist er (denn nur)? 12Und Gemurmel über ihn war viel bei den Leuten. Die einen sagten: Gut ist er; andere sagten: Nein, sondern in die Irre führt er die Leute. 13Niemand freilich in Öffentlichkeit redete über ihn, aus Furcht vor den Juden (den Gottesbesitzern) (9,22; 12,42; 19,38). 14Schon war das Fest halb vorüber, da begab sich Jesus hinauf ins Heiligtum und lehrte (regelmäßig). 15Erstaunt waren da die Juden (die Gottesbesitzer), sie sagten: Wie? Der? Die Schriften kennt er, ohne Ausbildung (Mt 13,56)? 16Geantwortet hat da ihnen Jesus, er sprach: Meine Lehre ist nicht die meinige, sondern dessen, der mich gesandt hat. 17Wenn jemand willens ist, seinen Willen zu tun, wird er bezüglich der Lehre erkennen, ob sie von Gott ist oder ob ich von mir selber aus rede. 18Wer von sich selber aus redet – seine eigene Verherrlichung sucht der (5,41.44). Wer aber die Verherrlichung dessen sucht, der ihn gesandt hat, der ist in Gottes Unverborgenheit, und Unrecht in ihm gibt es nicht. 19Hat nicht Mose euch das Gesetz gegeben? Doch niemand von euch tut das Gesetz (Röm 2,17-24). Was sucht ihr mich zu töten (5,16.18)? 20Antworteten die Leute: Wer sucht dich zu töten (10,26)? 21Geantwortet hat Jesus, er hat ihnen gesagt: Ein Werk habe ich getan, und alle erstaunt ihr 22deswegen (5,16). Mose hat euch die Beschneidung gegeben (Gen 17,10-12; Lev 12,3) – nicht daß sie von Mose ist, sondern

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von den Vätern –, und so auch am Sabbat beschneidet ihr einen Menschen. 23Wenn eine Beschneidung erhält ein Mensch am Sabbat, damit nicht aufgelöst werde das Gesetz des Mose, – mir grollt ihr, weil einen ganzen Menschen gesund ich gemacht habe am Sabbat (5,8 f.)? 24Nicht urteilt nach dem Augenschein, sondern das gerechte Urteil sei euer Urteil. 25Sagten da einige von den Jerusalemern: Ist das nicht der, den sie zu töten suchen? 26Und da – in Öffentlichkeit redet er, und nichts sagen sie ihm! Haben nicht vielleicht wahrhaftig erkannt die Anführer, daß dieser ist der Christus? 27Aber von diesem kennen wir, woher er ist. Der Christus aber, wenn er kommt, – niemand weiß da, woher er ist (Hebr 7,3). 28Laut und deutlich, während er im Heiligtum lehrte, erklärte da Jesus und sagte: Ja, mich kennt ihr und kennt auch, woher ich bin. Und doch: von mir bin ich nicht gekommen, sondern es gibt einen Wahrhaftigen, der mich gesandt hat, den ihr nicht kennt (12,44). 29Ich kenne ihn, denn von ihm bin ich, und er hat mich gesandt (Mt 12,27). 30Da suchten sie ihn zu verhaften, doch niemand legte Hand an ihn, denn noch war seine Stunde nicht gekommen (8,20; Lk 22,53). 31Von den Leuten aber gelangten viele zum Vertrauen an ihn; sie sagten: Der Messias, wenn er kommt, wird er etwa mehr Zeichen tun, als dieser getan hat?

Im 7. Kapitel des Johannes-Evangeliums geht es um die Frage, was der passende Zeitpunkt sei, etwas Rechtes vor Gott und den Menschen zu tun. Bohrende Fragen werden da gestellt, mit einer Eindringlichkeit, wie sie im Johannes-Evangelium in dieser Konsequenz und Vielseitigkeit, in dieser Spannung zwischen Erschrecken und Trost, in einzigartiger Weise arrangiert wird. Vielleicht gibt es keine bessere Einleitung zum Verständnis des 7. Kapitels im Johannes-Evangelium, als einmal den 84. Psalm zu lesen, einen der großen Wallfahrtspsalmen Israels. Er lautet (in eigener Übersetzung): Wie schön ist deine Wohnung, Herr der Himmelsheere; vor Sehnsucht, Herr, nach deinen Hallen, erschöpft, verzehrt sich meine Seele. Mein Herz, mein Leib beben vor Glück Gott, meinem Leben, entgegen. Ja, selbst ein Sperling findet ein Nest, die Schwalbe einen Nistplatz für sich – ihre Jungen legt sie darein – so deine Altäre, Herr der Scharen, 309

mein König, du mein Gott. Ja, glücklich, die in deinem Hause weilen, (die sich bei dir zuhause fühlen) auf immer werden sie dich preisen. Glücklich der Mensch, der seine Stärke in dir hat, und die den Pilgerweg zu dir in ihrem Herzen tragen. Gehen sie vorbei am Tal der Tränen, so wandeln sie’s zu einem Bachquell, ja, Segen hüllt sie ein wie Regen, der nach Dürre fällt. Sie ziehen hin von Kraft zu Kraft, durchsichtig wird es auf Gott hin am Zion. Herr, o Gott der Scharen, hör mein Beten, vernimm, Gott der Verheißung, Gott, unser Schild, sieh her, schau an das Antlitz deines Königs. Denn besser ist ein Tag in deinen Hallen als tausend Tage sonst. Und lieber möchte ich weiter bleiben im Hause meines Gottes, als zu verweilen in der Sünde Zelt. Sonne und Schild ist Gott, der Herr, Gnade und Würde verleiht der Herr, nicht hält er das Gute zurück für die Wandrer im Lande der Unschuld. Ja, Herr der Scharen, selig ist der Mensch, der sich geborgen weiß in dir. Mit den Worten dieses Psalms auf den Lippen, verbunden mit den Worten der Psalmen 120 bis 135, begab man sich in Israel zum dritten der Wallfahrtsfeste hinauf nach Jerusalem, um Laubhütten zu feiern. Es war der Erntedank für alle die Erträge der Tenne und der Kelter, für alles Korn und allen Wein. Ein frohes, freudiges Fest war das, zu begehen mit Prozessionen, mit Tanz und Musik, mit Geschenken für Gott und die Menschen, – ein Fest der Dankbarkeit, fast der Ausgelassenheit. Der griechische Historiker und Philosoph Plutarch stand nicht an, im Laubhüttenfest so etwas zu sehen wie ein israelitisches Bacchus-Fest. Braucht nicht ein Mensch 310

diese Versicherung einer gemeinsamen Freude zu heiligen Zeiten, in heiligen Festen? Ist das nicht Religion: Menschen auf genau diese Art im Heiligtum zusammenzuführen? Erst wenn man diese menschliche Selbstverständlichkeit vor Augen hat und sie ein Stück weit historisch erinnert, wird deutlich, wie weit das Johannes-Evangelium sich von all dem entfernt. Es tut weh, zu spüren, wie hier allein schon von «den Juden» geredet wird: Man wagte über Jesus in der Öffentlichkeit in Jerusalem im Tempel nicht zu reden – aus Furcht vor den Juden, heißt es da wörtlich. Aber wer in Jerusalem sollte sonst gelebt haben als Juden? Doch man muß richtig hinhören. Es geht dem Johannes-Evangelium nicht mehr um die Juden zur Zeit Jesu, es geht um die Auseinandersetzung am Ende des 1. Jhs. zwischen den «Christen» und den «Juden». Die ursprüngliche Ausgangseinheit zwischen ihnen hat sich aufgelöst bis zum Gegnerischen, bis zum Feindseligen. Es ist sehr wichtig, darin die religionsgeschichtlich bedingten Gegensätze wahrzunehmen, die als frühe Weichenstellungen in den theologischen Antijudaismus des Christentums geführt haben. Doch zugleich muß man auch sehen, daß an «den Juden» typische Fragen abgehandelt werden, die in jeder Religion, insbesondere im Christentum selbst, gestellt werden müssen; erst so beginnt das Johannes-Evangelium am Beispiel zeitbedingter Problemstellungen überzeitlich mit uns zu reden. Seine wichtigste Feststellung lautet an dieser Stelle, daß es nicht möglich ist, sich vor Gott zu beruhigen in der Ordnung eines festgelegten Zyklus von Ritual, von feierlicher Verehrung und von freudig organisiertem Spiel. Das alles mag man tun, und doch gilt es nicht, wenn es um Wesentliches geht. Es ist nicht möglich, Gott zu finden in der organisierten Menge. Diese Aussage zunächst einmal muß man sich in ihrer Ungeheuerlichkeit deutlich vor Augen halten. Das Laubhüttenfest bietet dem Johannes-Evangelium die Kulisse, den Anlaß, den äußeren Auslöser zu einer prinzipiellen Auseinandersetzung. «Man» geht hinaus nach Jerusalem, und auch Jesus soll das tun. Aber genau das zu tun weigert er sich. Es gibt, so betrachtet, keine Verwurzelung der Botschaft Jesu im Volk, in der organisierten, stets vorauszusetzenden Gemeinschaft der Tradition. Gibt es sie dann wenigstens im Kreise derer, die die Tradition vermitteln, in der Gemeinschaft der Familie zum Beispiel? Auch das verneint dieser Text mit aller Eindringlichkeit. In der kirchlichen Überlieferung herrscht die Idylle, wie Jesus inmitten seiner Familie, unter der Obhut Mariens, in einer Gemeinschaft von stets und immer schon Gläubigen aufgewachsen sei und gelebt habe. Das Johannes-Evangelium mag an dieser Stelle ein Stück der historischen Wahrheit treffen, wenn 311

es fast bitter bemerkt: Nicht einmal seine Brüder vertrauten auf ihn. (Vgl. Mk 3,21!) Sie werden bei Johannes auf besondere Weise charakterisiert und karikiert: Begib dich fort von hier, auf, nach Judäa!, sagen sie und haben dabei im Sinn nicht einmal die äußere, ritualisierte Verehrung; das Fest der Frömmigkeit soll für sie lediglich die Schaubühne für einen großen Auftritt bilden: «Wenn du (schon) solche Dinge tust, tritt selbst vor der Welt in Erscheinung, dann stell dich dar vor deinen Jüngern, vor der Menge, dann ist es die rechte Gelegenheit jetzt für die Selbstpropaganda, für deine ‹Promotion›, für deine ‹Vermarktung›! Da ist deine Chance, publikumswirksam zu agieren.» – So die Gedanken der engsten Angehörigen Jesu, seiner Brüder! In gewissem Sinne möchten sie ihm womöglich gut, sie sind die kompetenten Ratgeber einer bestimmten Art von Erfolg, wobei man natürlich nicht ausschließen darf, daß auch sie selbst im Schatten des dann so Erfolgreichen sich inszenieren und präsentieren möchten. Aber was hat all das mit einer wahren Gottesbegegnung zu tun? Der Text ist noch nicht ein paar Zeilen alt, da ist als ein gültiges Kriterium für ein rechtes Verhältnis des Menschen zu Gott alles verschwunden, was sich organisieren läßt, nebst allem, was sich publik machen läßt; all das zählt nicht länger und hat keine Bedeutung mehr. Fragen wir uns deshalb einmal, wann denn religiös für uns überhaupt etwas gilt. Die meisten, die «religiös» erzogen wurden, wird man seit Kindertagen bei der Hand genommen und belehrt haben, daß am ersten Sonntag pünktlich nach Frühlingsvollmond das Fest der Auferstehung zu feiern sei; darüber freue sich die ganze Christenheit, weil an diesem Tage der Tod endgültig besiegt worden sei. Oder am 25. Dezember: auch da ist Anlaß zur Freude, weil zu Weihnachten der Heiland zur Welt gekommen ist. Alles ist da in einem kultischen Festkalender genau auf Tag und Stunde geregelt, – doch lassen sich Menschen so pünktlich dressieren, daß sie sich termingerecht zu freuen verstehen? Ist das, was menschlich von Belang und Bedeutung ist, so exakt im Kalender einzukalkulieren? Was eigentlich hat Gehalt, zwischen uns Menschen, für uns selber, für Gott oder besser: vor Gott? Jesus stellt sich seinen Brüdern an dieser Stelle fast schroff gegenüber. Die Zeit, die meinige, sagt er, ist noch nicht da. Die Zeit, die eurige, ist allzeit bereit. Dazwischen liegt eine ganze Welt. Manche Leute verbringen ihr Leben damit, zu jeder Zeit alles, was von außen ihnen angetragen wird, auch zu tun und es für richtig zu finden. Es macht ihnen in ihrem Inneren überhaupt nichts aus, sich formen, prägen und kommandieren zu lassen, wie es das äußere System verlangt. Es gibt aber auch eine andere Einstellung zur Wahrheit, zur Wirklichkeit, zur Zeit. 312

Man kann etwas nur wahrhaft tun, wenn es von innen her stimmt, wenn es reif geworden ist, wenn es aus der inneren Beauftragung sich ergibt. Manche Historiker denken, daß allein schon die Art, wie wir kulturell leben, kaum noch eine Erinnerung daran verrate, daß es eigentlich aus dem eigenen Erleben heraus sich gestalten müsse, wann in der Zeit etwas richtig zu tun und rechtens zu beurteilen sei. – Ein kleines Beispiel mag das verdeutlichen. Wenn die sogenannten Wilden in Nordamerika, die Indianer, in den Krieg zogen, brauchten sie viele Tage, um durch Tanz bis zum Trancezustand ihre Seele auf das Große und Schreckliche vorzubereiten. Die Weißen, die ihnen das Land wegnahmen, waren jederzeit bereit, zu töten; es brauchte für sie nicht die geringste Einstimmung, es machte ihnen nichts aus. So unterschiedlich kann es sein, Zeit zu erleben. Man kann emotionslos sein Leben gewissermaßen abfahren, wie es verlangt wird; es ist aber auch möglich, daß man die äußere Zeit so gestaltet, wie es von innen her stimmt. Und erst dann und nur dann wird es dahin kommen, religiös stimmig zu werden, um Gott zu begegnen. Es ist eine Formel, die im Umgang auch der Menschen miteinander gilt. Saint-exupéry im Kleinen Prinzen läßt den Fuchs einmal sagen: «Es braucht Zeiten, es braucht bestimmte festgelegte Zeitpunkte der Begegnung. Wenn du sagst, daß wir einander um vier Uhr begegnen, kann ich um drei Uhr mich schon auf dich freuen.»1 – Da ist die Zeit etwas, auf das hin es sich lohnt zu leben, weil sie in der Begegnung selber entsteht und darin geboren wird. Wann sagt ein Mensch einem anderen, was er selbst braucht, um sich verständlich zu machen? Es ist nicht möglich, einfach von außen her zu tun, was erwartet wird; aber den Moment herauszuspüren, da es stimmt und gilt, indem ein bestimmtes Wort sich in eine bestimmte Situation fügt, sie verändert und sich darinnen selber noch einmal neu formt, – das bewahrt und erhält alle Menschlichkeit. Alles, was menschlich wahr wird, entsteht so. Und genau so vor Gott. Wir werden später hören, wie es in der Erzählung von der Hochzeit zu Kana schon anklang (Joh 2,4), daß die Zeit für Jesus, da seine Stunde gekommen ist, identisch sein wird mit seinem Tod. Es wird der Zeitpunkt sein, da Jesus sich nicht länger scheut, bis zum Äußersten zu gehen. Der Grund dafür aber wird hier schon genannt: Er steht einer ganzen Welt entgegen. In der Welt herrscht in diesem Kontext nichts als die bloße Äußerlichkeit: der Erfolgswille, die Durchsetzung, die Organisation, das Kalkül, aber nicht eine einzige menschlich gültige Frage. Ihr – begebt ihr euch hinauf zum Fest, sagt der Jesus des Johannes-Evangeliums bitter genug, wie wenn er zwischen den Zeilen hinzufügen wollte: «Da gehört ihr doch hin! 313

Gottesbegegnung als Rummel, als Theatervergnügen, Religion als Volksfest, als Mega-Event, das ist eure Angelegenheit, nur zu!» Aber er selber wird dort nicht sein. Es war schon ein Mißverständnis, ihm zu unterstellen, er wolle ja im Grunde nichts weiter, als durch die Heilung eines Gelähmten in Jerusalem am Teich von Betesda (Joh 5,1-9) in die Öffentlichkeit hinein sich bekanntzumachen. Alles, was wirklich heilsam ist, lernen wir hier bereits, geschieht im stillen, im verborgenen; es ist etwas Zärtliches, Privates, Intimes, das Menschen aufrichtet und sie gehen läßt gegen die Angst. Nichts, was da verallgemeinert und in die Öffentlichkeit getragen wird, kann Gültigkeit haben. Es ist fast immer ein guter Maßstab für das, was unter Menschen stimmt oder nicht, ob, wenn miteinander geredet wird, die Medien: die Presse, das Fernsehen, dabei sind oder ob die Gespräche «im verborgenen» stattfinden, so lange, bis etwas zustande kommt, das die Mitteilung nach draußen überhaupt lohnt. Im ersteren Falle wird zum Fenster hinaus, also aneinander vorbei, geredet; im letzteren Fall möglicherweise meint der andere wirklich denjenigen, der ihm gegenübersitzt. Wohl schon deshalb sollte man manche Bundestagsdebatten verschlossen vor der Öffentlichkeit abhalten und zur Auflage erheben, daß die Abgeordneten nicht auseinandergehen dürften, ehe sie nicht Einigkeit untereinander hergestellt hätten. Denn sobald irgendeine Sitzung im Fernsehen oder im Rundfunk übertragen wird, beginnen die Schaukämpfe, beginnt das Palaver im Werben um Mehrheiten, hebt das Fertigmachen des Gegners an und drängt sich das Interesse an der Profilierung vor. Was da stattfindet, ist kein Reden mehr, es ist ein rhetorischer Schlagabtausch. – Jesus besteht an dieser Stelle darauf, daß, wenn es etwas Rechtes zu tun gibt, es im verborgenen bleiben muß. Drum dieses Paradox: Kaum sind seine Brüder hinaufgegangen nach Jerusalem, da geht auch er hinauf. Derselbe Mann, der eben noch erklärt hat, er gehe nicht dorthin, dieselbe Person, von der es eben noch hieß, sie habe Grund, Judäa zu meiden, weil «die Juden» ihr nachstellten und nach dem Leben trachteten, begibt sich jetzt, freilich im verborgenen, in das Heiligtum von Jerusalem, und laut Johannes erwarten Jesus dort bereits alle. Sie fragen sich, wo er nur bleibe, sie forschen danach, wann er denn auftrete, doch all das geht ins Leere. So sehen sie ihn nicht, so finden sie ihn nicht. Noch hält er sich im verborgenen, noch tritt er nicht in Erscheinung. Es gibt eine Form, religiös sich «kundig» zu machen, die gerade in dieser undurchsichtigen Zwischenzeit in Jerusalem praktiziert wird. Es entsteht ein Gemurmel über ihn. Was soll man von einem solchen Menschen 314

halten? Wieder erscheint die Öffentlichkeit hier als das Verräterische: Was «man» redet über einen Menschen, ist in jedem Betracht falsch. Die einen sagen: Gut ist er, und es ist ihre Art des Geredes; und die anderen sagen: Nein, sondern in die Irre führt er die Leute, und das ist ihre Weise des Klatsches. Und so geht es hin und her, pro und contra; es ist ein gerüchtweises Sich-Annähern, ein ständiges Befragen nach den Mehrheiten, die sich da bilden könnten. Nie kommen auf diese Art religiöse Überzeugung und Wahrheit zustande. Doch was lernen wir da? Weder die Gesellschaft mit ihren Festlichkeiten noch die Familie mit ihren Verbrüderungen noch der Konsens der Menge mit ihren Meinungen bezeugen irgend etwas, das für einen Menschen religiös wesentlich werden könnte. Es ist eine unglaubliche Erfahrung: Sollte man sich nicht mindestens manchmal ausruhen dürfen in der Überzeugung, daß die Wahrheit Gottes, die Wahrheit des Religiösen, zumindest gelegentlich in einem großen, kolonnenähnlichen Trab unterwegs sein könnte? «Das Volk (Gottes) sind wir» – es ist fast die beste und kostbarste Vokabel im heutigen Kirchendeutsch, aber vielleicht gilt nicht einmal sie, wenn es darauf ankommt! Es geht nicht um die Menge, es geht nicht um die Herstellung von (All)Gemeinheiten, es geht nicht um die Etablierung von «Gemeinden». Alles, was da hin und her diskutiert wird, ist null und nichtig im Grunde. Oft hat man daran erinnert, wie vieles in der Person des Jesus von Nazaret dem athenischen Weisen Sokrates gleiche. Der in der Tat dachte ähnlich: «Wenn du ein krankes Pferd hast», konnte er einmal sagen, «wen fragst du dann? Die Leute auf dem Marktplatz? Die werden dir sagen: ein gutes Pferd, ein schlechtes Pferd, und kein einziger wird dir wirklich helfen. Natürlich wirst du mit dem Pferd zu demjenigen gehen, der etwas von der Behandlung von Pferden versteht, zum Tierarzt. Und wenn du selber krank bist, gehst du auch nicht auf die Straßen und fragst: Was ist mit mir los?, daß dir die einen sagen: es ist gut mit deinem Magen, und die anderen: es steht schlecht mit deinem Magen; – du wirst zu einem verständigen Arzt gehen, damit er dich behandle.»2 – Ein einziger, der wirklich etwas versteht, ist der Ausschlaggebende, nie die Menge. Dabei ging es Sokrates nur um das Wißbare, nur um das Vernünftige, nur um die philosophische Klarheit der Gedanken; bei Jesus indessen geht es um die Reinheit der Existenz, um das Sich-Klarwerden im Innersten der Person, um die völlige Unabhängigkeit von dem, was andere positiv oder negativ sagen könnten. Es geht, mit einem Wort, um eine Freiheit, die einzig aus Gott kommt. Schon also wer darauf schielt, wie etwas bei Menschen wirken werde, vertut das, woraus die «Wirkung» religiös kommt. Im Unterschied zum Politischen 315

kann man religiös nichts «erreichen» wollen, nicht einmal die Vermenschlichung der Gesellschaft oder die Reform der Kirche, – entweder die Dinge stimmen in sich selbst, oder sie fügen sich nicht und erreichen nicht das, worauf es ankommt. In dem Moment aber, da es für ihn stimmt, tritt Jesus nun doch vor die Öffentlichkeit und beginnt im Tempel selbst, im Heiligtum, seine Lehre. Jetzt erstaunen die Leute, wie denn Jesus es überhaupt wagen kann, von Gott zu sprechen. Er hat doch nicht studiert! Er ist kein theologisch ausgebildeter Rabbi! Auch das mag ein Stück weit historisch korrekt im Johannes-Evangelium überliefert sein: Jesus war kein ausgebildeter Rabbi; er hat nie eine ordentliche Ausbildung erhalten, die ihn zum Experten in den Fragen nach Gott gemacht hätte, entsprechend der Tradition und der Gelehrsamkeit seines Volkes; der Mann aus Nazaret war in allem, was er tat und sagte, ein Autodidakt. Aber genau das wird jetzt das Thema. «Wie? Der? Die Schriften kennt er, ohne Ausbildung? Woher hat er das nur, was er da sagt?» Es wäre so einfach, wir hätten in Theologie und Weisheitslehre nichts weiter nötig, als daß bestimmte Leute weitergäben, was man ihnen vorgesprochen hat. Schon Arthur Schopenhauer konnte mit dem existentiellen Ernst des Sokrates in seiner Arbeit über die Universitätsphilosophie voller Zorn die Meinung vertreten, es sei überhaupt nicht nötig, daß man in jedem größeren Ort eine Universität halte, an welcher man einen philosophisch ausgebildeten Schwätzer anstelle; es genüge, die Hauptgedanken der Philosophiegeschichte von Thales bis Kant innerhalb von zwei Semestern vorzutragen3, denn ein wirklicher Philosoph lerne seine Wahrheit in der Dringlichkeit seiner Fragestellungen und in der Offenheit der Probleme, die sich immer wieder stellten: Warum sind Menschen so grausam? Das war eine der Fragen Schopenhauers. Aber das Hersagen von: der hat das gesagt, und der hat das gesagt, und dann ist dieser geboren worden, und dann ist jener gestorben – das hat mit Weisheit nichts zu tun. Und entsprechend nun gefragt: Wie sollte Theologie gelehrt werden? Nach der Art des Auswendiglernens? Da wird «Gott» studiert mit der Aussicht auf irgendein Pöstchen, der Lehrstoff wird zusammengeschnitten auf die entsprechende Fachprüfung hernach, und dann berät eine Kommission, ob der Prüfling die Prüfung auch bestanden hat; zum Schluß reicht man ihn an das Generalvikariat weiter für seinen Amtsantritt4. Von dieser Art war Jesus nie. Woher hat er’s? fragen die Leute und rätseln herum. Was ist der Grund seiner Beglaubigung? 316

Noch einmal: Hielte der Mann aus Nazaret sich treu an das, was die Tradition sagt, so wäre und bliebe er ein Festtagsprediger beim Laubhüttenfest, – und man würde ihm «glauben»! Hätte er sich erwiesen als ein guter Kumpel und Gesell schon in Nazaret und erschiene er, gleich einem Kometen um Mitternacht, nun ebenso launig in Jerusalem, – auch das würde Eindruck machen. Spielte er auf der Leier der Menge flotte Weisen, – man ließe sich’s gern gefallen. Redete er über Gott nur das, was alle anderen ohnedies reden, weil sie so sprechen müssen – auch da wäre nichts an ihm auszusetzen. Das wäre die Welt. Aber genau von ihr sagt Jesus: «Alles, was sie tut, all ihre Werke sind böse»; das heißt, die Menschen in ihr sind selbstverloren, verzweifelt, blind, unfähig, zu sich selber zu finden. Man könnte im Sinne der Masse den Vorwurf noch erweitern: Wenn Jesus schon so auftritt, ohne jede Rücksicht auf die Zustimmung der Leute, ist er dann nicht im Grunde ein reiner Narziß, jemand, der lediglich sich selber gelten läßt und alle anderen bedenkenlos beiseite schiebt? – Es gab um die Wende zum 20. Jh. in der Tat medizinische Gutachten, die Jesus für einen Wahnsinnigen erklärten, genau aus diesem Grunde. Jemand, der so auftritt wie Jesus im Johannes-Evangelium, muß in gewissem Sinn verrückt sein. Er zersprengt in maßloser Selbstüberschätzung alles, wovon Menschen für gewöhnlich leben. Es war Albert Schweitzer, der darauf hinwies, daß man das Johannes-Evangelium nicht «historisch» lesen darf und daß man den Mann aus Nazaret sicher nicht als einen psychiatrischen Fall verstehen kann5. Wie aber versteht man ihn dann? Der Hinweis, den der johanneische Jesus an dieser Stelle selber gibt, ist sehr fein, fast nur erst eine zaghafte Andeutung für jeden, der es begreifen möchte. Meine Lehre, sagt er, ist nicht die meinige, sondern dessen, der mich gesandt hat. Doch dann plötzlich kehrt er’s um: die Vorbedingung dessen, was er sagt, liege darin, den Willen Gottes zu tun; wer sich auf Gott beziehe, werde augenblicklich merken, von wem er, Jesus, wirklich komme. Das ist eine Probe auf die Wahrheit Gottes, wie man sie in Gotthold Ephraim Lessings schon erwähntem Drama Nathan der Weise findet: Welch ein Mensch kann auftreten und sagen: «Ich spreche von Gott»? Woran will man erkennen, daß es sich so verhält? Die Antwort kann nur lauten: Einzig wer sich bemüht, die Liebe zu leben, wird finden, was von Gott gesprochen ist und was nicht. Nur aus dem Zentrum der Liebe lernt man, Menschlichkeit zu schätzen und richtig einzuschätzen. Sie ist der Maßstab; von ihr her begreift sich alles. Ganz entsprechend denkt Jesus hier: Wer sich wirklich auf Gott bezieht, der wird ihn, den Mann aus Nazaret, in allem verstehen; niemals redete und lehrte Jesus, um sich zwischen 317

die Menschen und Gott zu stellen, sondern im Gegenteil: um die Menschen unter den Augen Gottes zu sich selber zurückzuführen. Kaum fällt das Stichwort «den Willen Gottes tun», kommt Johannes wie naturnotwendig auf das Gesetz des Mose zu sprechen. Darin, so der jüdische Glaube, ist der Wille Gottes kodifiziert. Wenn es um Gottes Willen geht, so wissen alle Gottesstellvertreter von Amts wegen, hat man bestimmte Gesetze, bestimmte Verordnungen, bestimmte Anweisungen zu beachten. Wer diese erfüllt, wer die Gebote hält, der wird ohne Zweifel bei Gott sein. – Doch der johanneische Jesus erklärt seinen Gegnern, daß sie mit diesem Denken nicht einmal Mose wirklich verstehen. Ist denn das so klar: Man erreicht Gott, wenn man einfach tut, was das Gesetz verordnet? Ist man dann wirklich in Ordnung? Kann es nicht sein, daß man im Leben mitunter Sachen machen muß, welche die Gesetze in ihrem Wortlaut zertreten, um auf diese Weise wenigstens ihren Inhalt zu erfüllen? «Wenn es doch so einfach wäre», schrieb Hermann Hesse einmal, «nur den Geboten zu folgen, und man wäre im Guten!»6 – Es ist oft nötig, Dinge zu tun, die den Geboten geradewegs ins Gesicht schlagen, um Menschen aufzuhelfen! Jesus greift, um ein Beispiel zu geben, noch einmal zurück auf die Szene aus dem 5. Kapitel des Johannes-Evangeliums, als er den Gelähmten ausgerechnet am Sabbat geheilt hat. «Das darf man nicht!» haben sie ihm entgegengeschleudert. Am Sabbat einen Menschen heilen nach Art eines Arztes, das ist verboten! Es ist ein Stück schriftgelehrter Diskussion, die da stattfindet, wenn das Johannes-Evangelium entgegnet: Aber die Beschneidung durchzuführen, das darf man auch am Sabbat, damit jemand in das Volk der Erwählung eingegliedert wird. – Diese Argumentation möchte ein bestimmtes Gesetz widerlegen, indem sie ein anderes geltend macht; das relativiert den moralischen Anspruch, aber sehr viel weiter führt es noch nicht. Was der johanneische Jesus in Wahrheit meint, ist indessen eine formale Aufhebung des gesetzlichen Denkens insgesamt. Wenn es um die Rettung eines Menschen geht, so hilft nichts weiter als Barmherzigkeit und Ermutigung zum Leben, frei von jeder Gesetzesvorschrift. Was Menschen leben läßt, ist nicht eine Ordnung von draußen, sondern eine Begegnung in Verständnis. So voller Güte waren seine Augen am Teich von Betesda, als er unter all den Kranken, die da lagen, augenblicklich den einen sah, der so viele Jahrzehnte dort verkrümmt und verhockt gelegen hatte, und er redete ihn an (Joh 5,6-8). Wann ist da etwas reif? Wann ist es die rechte Zeit? Im Kalender kann stehen: «Es ist nicht die rechte Zeit, es ist Feiertag»; es kann aber sehr wohl trotzdem an der Zeit sein, weil man einen Menschen nicht auch nur 318

eine Stunde länger noch leiden lassen darf, wenn es möglich ist, ihm zu helfen. Und womöglich ist dies oft schon seine ganze Rettung, daß auch er, wie in der Heilung des Gelähmten am Teich von Betesda, nicht länger mehr auf all das hört, was die anderen wollen und längst schon über ihn festgesetzt haben, sondern daß er den Mut gewinnt, geradeaus in sein eigenes Leben zu gehen. «Das habe ich getan», erklärt sinngemäß Jesus, «einen Menschen gerettet am Sabbat; und jetzt erklärt ihr mir einmal, was der Wille Gottes ist: Gott ruhe am Sabbat, sagt ihr, denn er habe gesehen, daß die Welt gut war; so stehe es geschrieben (Gen 1,31; 2,3). Ich aber frage: Könnte Gott denn wirklich ruhen, wenn er sähe, daß in seiner ‹guten› Welt Menschen leiden müßten, nur weil andere es nicht wagten, hilfsbereit zu sein?» Anders ausgedrückt: Wäre es denn möglich, daß Menschlichkeit und praktische Nächstenliebe eine Art Ruhestörung für den Allmächtigen bedeuten würden? Er, der Allgütige, behielte nach wie vor seine Gelassenheit, während er den Gequälten in ihrer menschlichen Not zusähe? Wie pervers kann man eigentlich über Gott denken? Gott fände nichts dabei, seinen Frieden zu haben, wenn nur alles seinen von den Gesetzen geregelten Gang ginge? Und er grollte gar den Menschen als Störenfrieden, die sich über die Sabbatordnung hinwegsetzen, um einen Menschen zu heilen? – «Ihr», erklärt Jesus indirekt, «habt von Mose gar nichts begriffen. Was ihr vortragt, ist kein Urteil, das wirklich gilt, sondern ihr urteilt rein äußerlich nach dem Augenschein.» Eine solche Diskussion zwischen Jesus und den «Juden» über die Rolle des Gesetzes stellt Johannes sich in aller Öffentlichkeit vor. Insofern muß man sich hier schon fragen, ob die Gegensätze, die in diesem Gespräch auftauchen, nicht tatsächlich auf eine tödliche Zuspitzung hinauslaufen. Warum geschieht es nicht jetzt schon, daß man Jesus verhaftet und hinrichtet? Erstaunlich ist die Begründung, warum man so nicht tut: Da geht die Frage hin und her, ob nicht inzwischen sogar die geistlichen Führer der «Juden» begriffen haben müßten, er könne doch unter Umständen wirklich der von Gott gesandte Messias, der Christus, sein. Aber selbst bei dieser Frage, noch ein letztes Mal, stellt sich die Alternative zwischen nur äußerer Kenntnisnahme und wahrhaftigem innerem Begreifen. «Der Christus aber, wenn er kommt», sagen die Leute, «niemand weiß da, woher er ist; er wird gesandt von Gott, er fällt gewissermaßen wie ein Stein vom Himmel auf die Erde; aber von diesem kennen wir, woher er ist.» Fast schließt sich da der Kreis. Von diesem kennen wir, woher er ist, das heißt: wir kennen seinen Geburtsort, wir kennen seine Familie, wir kennen seine 319

Biographie, wir kennen so ziemlich alles, was beim Einwohnermeldeamt und bei anderen Instanzen von Interesse ist; die ganze bürgerliche Außenseite ist uns bekannt; also kann er der Messias nicht sein. In der Tat: diese Art von Kenntnisnahme hält einen Menschen im Griff. Da ist er nichts weiter als alle anderen auch, heruntergedrückt zum ganz Gewöhnlichen, Normalen, Allgemeinen; nichts Persönliches, nichts Individuelles, nichts einzigartig Großes kann auf diese Weise zum Vorschein kommen. Jesus ironisiert diese Anschauung geradezu: Ja, mich kennt ihr und kennt auch, woher ich bin, bestätigt er, nur um zu sagen: «Ihr begreift gar nicht den Grund meiner Existenz. Nichts, was ihr von außen über das Leben eines Menschen in Erfahrung bringt, verrät euch auch nur ein wenig sein Geheimnis.» Und laut sogar ruft er dabei: Von mir bin ich nicht gekommen, sondern es gibt einen Wahrhaftigen, der mich gesandt hat, den ihr nicht kennt. – Würden Menschen, ein Stück weit zumindest, während ihres Lebens etwas von Gott in ihr Dasein hineinlassen: von seiner Wahrheit, seiner Güte, seiner Menschlichkeit, so würden sie alles in der Person des Jesus von Nazaret wiederfinden, und sie würden begreifen: Gott bildet in seinem Leben die Grundlage, die Basis, den Ausgangspunkt von allem. Von daher ist Jesus gekommen. Warum lebt ein Mensch? Sehr bitter hat einmal Jean-Paul Sartre in seinem Roman Der Ekel gesagt: aus Angst vor dem Tod und aus Schwäche, das Leben zu enden7. Wenn ein Mensch so dahinlebt, ist er nichts weiter als ausgestreut an die Zeit, sich durch Nahrung am Leben haltend in der Zeit und sehr bald vergehend mit der Zeit. Nichts hat da Grund und Bestand, besitzt da Verläßlichkeit und Würde. Aber all dies gilt, wenn Jesus sagt: «Ich kenne ihn, denn von ihm bin ich, und er hat mich gesandt, und ihn zu bringen ist meine Mission.» Man hat über Gott gesprochen in Festgemeinschaften und bei Familienfeiern, in großer Menge und vor allem Volk, autorisiert von den Rabbinenund Katechetenschulen, – doch all das ist nicht gemeint und kann nicht gemeint sein. Hingegen ein einziger Mensch, der sich wagt und findet in seinem Innersten eine Antwort auf die Frage: «Wofür denn bin ich?», der schafft einen Ausgangspunkt für alle anderen – allerdings einen gefährlichen Ausgangspunkt, fast einen tödlichen; denn er stellt so unsäglich viel in Frage, er provoziert derart enorm. Man stelle sich nur einmal vor, die Rede von Gott ginge primär gar nicht mehr darum, ob man die Menschen zu Tausenden oder zu Millionen zusammenführen und organisieren solle, angesprochen wäre nur jeder Einzelne in seiner eigenen Not, in seinem eigenen Fragen, – so bräche die gesamte Fassade der etablierten Frömmig320

keit zusammen! Dafür aber fühlte ein jeder Einzelne sich umfangen, geliebt, bestätigt und aufgerichtet, er wäre von seiner «Gelähmtheit» gerettet, und es würde sein Leben ein nicht endender Feiertag, ein wirklicher Sabbat Gottes. Denn aus der Stille und der Ruhe seines Lebens heraus geschähe fortan alles, was irgendwann vielleicht auch nach außen hin groß erscheinen mag, aber doch nur, weil es nie hat glänzen wollen. Ein weiteres Wallfahrtslied Israels, der Psalm 121, ist wie eine Zusammenfassung des Gesagten und wie ein Trost auch gegen die Angst vor dem Tod. Die «Juden» kommen noch nicht, sie wagen’s noch nicht, ihn festzunehmen und wegzuschleifen! Noch gibt es einen heiligen Kreis, einen Bereich unsichtbaren Schutzes, der zumindest jetzt noch Jesus trennt von seinen Gegnern und Verfolgern. All die «Werke», die er bereits getan hat, zeigen doch längst: mehr könnte auch der Messias nicht tun! Es sind gerade die Werke, die Menschen ermutigen, selber zu leben in dem Gefühl, geborgen zu sein in Gott. So dieses Wallfahrtslied. Der Psalm 121 lautet (in eigener Übersetzung): Mein Blick geht hinauf zu den Bergen; von wo meine Hilfe kommt. Meine Hilfe kommt nur vom Herrn, der Himmel und Erde erschafft. Er wird deinen Fuß nicht unsicher lassen; er schläft nicht, der dich behütet. Nicht schläft er, nicht ruht er, der Israel schützt. Der Herr – dein Beschützer, der Herr – dein Schatten zu deiner Rechten. Tags schlägt dich nicht die Sonne, nicht der Mond in der Nacht, der Herr beschützt dich vor allem Bösen, er beschützt deine Seele. Der Herr beschützt dein Kommen und Gehen, jetzt und in Ewigkeit.

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Joh 7,32–53a: Der unerreichbare Standpunkt 32Es

hörten die Pharisäer die Leute murmeln über ihn derart; da sandten die Hohen Priester und die Pharisäer Diener aus, daß sie ihn verhafteten. 33Gesagt hat da Jesus: Noch kurze Zeit bei euch bin ich, dann gehe ich fort zu dem, der mich gesandt hat (13,33). 34Ihr werdet mich suchen und nicht finden, denn wo ich bin, könnt ihr nicht kommen (8,21). 35Gesagt haben da die Juden (die Gottesbesitzer) zu sich: Wohin will der (schon) gehen, daß wir nicht ihn finden werden? Etwa in die griechische Diaspora will er gehen und die Griechen lehren? 36Was ist das für ein Wort, das er da sagt: Ihr werdet mich suchen und nicht finden, denn wo ich bin, könnt ihr nicht kommen? 37Am Letzten Tag aber, dem Großen des Festes (Lev 23,36), stand Jesus da, und laut und deutlich erklärte er, er sagte: Wenn jemand dürstet, der komme zu mir, und trinken soll, 38wer auf mich vertraut: wie die Schrift gesagt (Jes 58,11): Ströme aus seinem Leib werden fließen von lebendigem Wasser (4,14; Jes 55,1; Offb 22,17). 39Das aber hat er gesagt über den Geist, den empfangen sollten die auf ihn Vertrauenden; noch nicht nämlich war da Geist, weil Jesus noch nicht verherrlicht war (16,7). 40Einige aus den Leuten nun, die gehört hatten diese Worte, sagten: Der ist wahrhaftig der Prophet (6,14). 41Andere sagten: Der ist der Christus (Messias). Andere aber sagten: Nicht doch! Aus Galiläa soll der Christus kommen (1,46)! 42Hat nicht die Schrift gesagt, aus dem Samen Davids (Mt 22,46) und von Betlehem (Mi 5,1; Mt 2,5.6), dem Dorf, wo David war, kommt der Christus? 43Ein Zwiespalt also entstand unter den Leuten seinetwegen (9,16). 44Einige aber wollten von ihnen ergreifen – ihn, doch niemand legte an ihn die Hand. 45So kamen also die Amtsdiener zu den Hohen Priestern und Pharisäern, und es sprachen zu ihnen diese: Warum nicht habt ihr ihn hergebracht? 46Geantwortet haben die Amtsdiener: Noch nie hat geredet so ein Mensch (Mt 7,28.29; Mk 1,22)! 47Geantwortet haben da ihnen die Pharisäer: Nicht doch! Auch ihr seid irre geführt? 48Nein, wer von den Anführern hat denn zum Vertrauen gefunden auf ihn, oder von den Pharisäern? 49Aber diese Leute, die keine Kenntnis haben vom Gesetz, – verflucht sind sie! 50Spricht Nikodemus zu ihnen, der gekommen war zu ihm früher (schon mal) (Joh 3,1f.), er war einer von ihnen: 51Nicht doch! Unser Gesetz sollte einen Menschen richten, ohne ihn zuerst anzuhören und zu erfahren, was er getan (Dtn 1,16)? 52Geantwortet haben sie und ihm gesagt: Nicht doch! Auch du? Aus Galiläa bist du (etwa auch)? Forsche und sieh, daß aus Galiläa ein Prophet nicht erweckt wird. 53aUnd sie gingen ein jeder nach Hause.

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Das 7. Kapitel des Johannes-Evangeliums enthält eine lange Auseinandersetzung zwischen Jesus und «den Juden», sagen wir: zwischen Jesus und den «Gottesbesitzern»; hinter dieser historisch bedingten Kontroverse am Ende des 1. nachchristlichen Jahrhunderts verbirgt sich im Grunde ein zeitloses Ringen um das rechte Verstehen dessen, was Jesus eigentlich in diese Welt bringen wollte. In mehreren Lagern, in mehreren Richtungen wird da gesucht, gestritten, einander der gegenseitige Standpunkt vorgeworfen, doch schaut man genau hin, sind die Themen, um die es dabei geht, immer wieder dieselben, nur zerlegt in verschiedene Aspekte. Anders gesagt: In stets dem gleichen Prisma erreicht uns das weiße Licht der Gottheit, das Jesus in diese Welt werfen wollte, nur gebrochen, in einem bunten Kaleidoskop einander widersprechender, manchmal ergänzender Farben. In diesen verwirrenden «Spektralfarben» der Wahrheit liegt die Chance einer wichtigen Erkenntnis: durch einen Text wie diesen hätte man schon seit zweitausend Jahren wissen können, wie groß die Kluft sein muß und immer wieder sein wird, die Religion und Politik voneinander trennt. Vermutlich gehört es zum Typ des Führers, des Gestalters, des Machers, daß er sich nicht fragen darf, was etwas in sich selbst bedeutet, worin die Wahrheit eines Menschen beziehungsweise eines bestimmten individuellen Lebens liegt, sondern daß er sich fragen muß, was aus bestimmten Gedanken für den Zusammenhalt der Gruppe, der er vorsteht, sich ergibt. Kaum hören in Jerusalem die führenden Kreise, die «Pharisäer», die «Hohen Priester», was da unterschwellig im Volke über den Mann aus Nazaret für Ansichten ausgetauscht werden, leise noch erst, murmelnd im Untergrund, verschwiegen noch aus Angst vor der Reaktion der religiösen Autoritäten, da ist für sie doch schon der Zeitpunkt gekommen, da es in ihren Augen gilt, zu handeln, das heißt, festzustellen, festzuschreiben, festzusetzen, – mit anderen Worten: zu verhaften. Da droht in ihren Augen in der Person Jesu etwas zu beginnen, das sich ihrem Zugriff entziehen könnte, und also müssen sie unverzüglich zugreifen. Sollte das Volk mit eigenem Urteil zu der Entscheidung gelangen, der Botschaft des Mannes aus Nazaret hafte Göttliches an, so bedeutete das für sie den Verlust ihres Einflusses und ihrer Herrschaft, und ehe dies sei, unterliegen sie förmlich der Pflicht, im Interesse des Volkes, dem sie Rechenschaft schulden, allen möglichen Turbulenzen im voraus, entsprechend also dem Kalkül ihres Machterhalts, den Mann aus Nazaret in ihre Gewalt zu bringen und damit jeder Art von Unruhe zuvorzukommen. Ein solches Denken entspricht nicht unbedingt schon bösem Willen; es entspricht einfach der Art, innerhalb der Kategorien politischen Handelns zu definieren, was Verantwortung sei. 323

Klarer allerdings kann die Differenz in den Zielsetzungen zwischen Jesus und diesen «Anführern» nicht bestimmt werden: Erhält man eine bestimmte Struktur und Ordnung, ein bestimmtes Gefälle der Macht, bewahrt man sich seine Herrschaft, oder stellt man sich die Frage, was ein bestimmter Mensch in seiner Person zu sagen hat, und sei es im Namen Gottes? Zwischen beidem muß man wählen wie zwischen Leben und Tod, wie zwischen Sein und Nichtsein, in johanneischer Sprache: wie zwischen Welt und Gott, wie zwischen Durst und Quelle, wie zwischen Schatten und Licht – ein absoluter Kontrast. Der johanneische Jesus tut dabei nicht das geringste, diesen Widerspruch zu vermitteln und Brücken über den Abgrund zu schlagen, ganz im Gegenteil: Er steht an der einen Seite des Ufers, und er markiert lediglich im Kontrast nur um so deutlicher, wo er steht, – in seiner Person unfaßbar, auch für die Mittel der Macht nicht erreichbar; doch das wird sich noch zeigen. Geistig indes gilt schon an dieser Stelle: Wo ich bin, wohin ich gehe – im Grunde auch: wohin ich mich schon immer begeben habe –, dorthin könnt ihr nicht kommen und werdet ihr nicht kommen. Für seine gegnerischen Hörer ist dies eine Aussage, die gerade so viel meint wie: er wird sich durch Flucht in den Tod unseren tödlichen Händen entziehen; er wird gewissermaßen einen Ort suchen, der in seiner Freiheit unangreifbar ist, indem er das Urteil seiner Hinrichtung freiwillig vorwegnimmt. So etwas, tatsächlich, ist eine menschliche Möglichkeit. Es kann das Leben so unerträglich werden, daß Menschen den letzten ihnen verbleibenden Ausweg aus der Gefangenschaft ihrer irdischen Existenz wie nach rückwärts wählen: sie möchten zurück an den Ort, von dem sie gekommen sind. Es ist möglich, daß ein Mensch gerade auf diese Art Gott zu finden versucht. Viele Depressive gibt es, die das Leben in seiner Last abschütteln möchten. Alle anderen erleben sie wie vom Schicksal bestellte Aufseher, wie Kerkerwächter, wie Scharfrichter, und sie gehen unter ihren Augen, unter dem Spalier ihrer richtenden Worte, tagaus, tagein so preisgegeben, so ausgesetzt und so hilflos, daß sie nur noch den Wunsch in sich tragen, irgendwohin zu gelangen, wo das Leben gütiger sei und milder. Wie viele, die sich in den Tod stürzen oder die leise fortgehen aus dem Leben, möchten im Grunde nur springen oder sich hineinwerfen in die Arme Gottes, der sie nachsichtiger umfangen möge, wärmer, verstehender, menschlicher als die Mehrzahl der Menschen. Es ist eine üblich gewordene Lehre insbesondere der römischen Kirche, daß kein Mensch das Recht habe, über sein Leben zu entscheiden; das, was man den Freitod nennt, hat die Kirche seit eh und je bis in ihre jüngsten 324

Verlautbarungen hinein für eine Anmaßung und Vermessenheit des Menschen erklärt, für eine äußerste Sünde mit erhobener Hand. Kein Mensch dürfe bestimmen über sein Leben, so die klare Doktrin. Aber tut denn das wirklich jemand, der verzweifelt ist und nicht findet, was er zum Leben braucht, nicht unter den Menschen, nicht auf dieser Erde? Ist es da möglich, von außen her zu sagen, selbst diesen Gnadenweg der Natur gelte es mit scharfem Gebot im Namen Gottes dem Menschen zu verstellen? Selbst wenn die Kirche offiziell Verständnis für Menschen auf der Grenze zu haben scheint, tut sie es so, daß es die Betreffenden kaum erreicht. Sogenannte Selbstmörder, die sich dorthin begeben, wo sie nicht erreichbar sind für den Zuspruch der Außenstehenden, mögen kirchlich inzwischen wohl doch beerdigt werden, aber nur unter der Schutzbehauptung, daß sie seelisch krank gewesen seien, unfrei also in ihren Entschlüssen, psychisch derangiert mit anderen Worten. Was der Kirche sehr schwerfällt, ist offensichtlich die Anerkennung gerade dieses tragischen Zwischenraums, daß Menschen, wohl wissend, was sie tun, ganz einfach einen Schlußstrich ziehen, eine Art Bilanz, die ihnen zeigt, daß sie endgültig diese Welt nicht länger ertragen noch vertragen. Friedrich Nietzsche etwa forderte, es sollte uns der letzte Tag sein wie ein Feiertag, wie ein Freudenabschied vom Leben1. Es läßt sich an dieser Stelle nur andeuten, daß wir eine völlig veränderte Kultur hätten, würden die Menschen vor dem Tod keine Furcht mehr haben, weil sie selbst bestimmen dürften, wann sie ihn zu sich riefen. Gefährliche Gedanken sind das, jenseits der moralisch verfügten Angst. In Dostojewskis großem Roman Die Dämonen wird einmal ein Mann geschildert, der immer wieder von der erdrückenden Angst vor dem Tod und der zu dichten Gefügtheit der Welt gepeinigt wird; grübelnd in sich versunken gelangt Kirillow zu der Überzeugung: «Ein Mensch hat nicht Angst vor dem Tod, sondern nur Angst vor dem Schmerz. Da ist ein Stein an der Kante des Felsens, und er könnte dich treffen. Die Angst vor dem Schmerz macht den Menschen zum Sklaven. Wer sie überwindet, ist frei, ist Gott selbst.»2 Was hier «die Juden» Jesus zutrauen, ist eine solche Art der Selbstvergottung durch die Wahl des Zeitpunktes des eigenen Todes. So etwas, noch einmal, ist eine menschliche Möglichkeit, nur liegt sie weit weg von dem, was in Jesus in diesem Moment wirklich vor sich geht. Er deutet an, daß ihn gerade nicht die Angst vor irgend etwas bestimmt, sondern daß er alle Art von Angst überwindet durch ein Vertrauen, das für jedes Kalkül unbegreifbar und also auch unangreifbar ist. Ihrem Beschluß, ihn zu verhaften, setzt er die Absolutheit seines Standpunktes gegenüber, gegründet in einer 325

Selbstgewißheit, die einzig bei Gott steht: Mögen sie doch tun, was sie wollen, es geht ihn im wesentlichen nichts an. Mögen sie Beschlüsse fassen, wes Inhalts auch immer, es wird das, was er meint, nicht einmal von weitem gefährden! Das ist der Unterschied im Prinzip, eine divergierende Weichenstellung im Endgültigen. Alles politisch kalkulierende Denken wird sich fragen, was bei bestimmten Handlungen, bei bestimmten Gedanken in der Öffentlichkeit erreicht wird, was damit bewirkt werden kann, was dabei an Risiken entstehen könnte; – ein religiöser Mensch wird sich einzig und allein fragen, was etwas in sich selbst ist, ob es wahr ist oder falsch, ob es menschlich so stimmt oder nicht. Alles andere verschwindet dahinter. Es ist der Eindruck einer unbedingten Forderung, die das Religiöse gestaltet, im Widerspruch zu all den taktischen Finessen der Verwaltung des Opportunen. Religion gründet geradewegs im Festmachen an diesem einen unerreichbaren Ufer, und schon deshalb ist sie (im Ideal) für alle äußeren Bestimmungen unzugänglich. Es gilt, etwas in einem Vertrauen zu leben, das unbedroht ist durch alle Wechselfälle. Das Johannes-Evangelium muß sich vom Judentum bereits weit entfernt haben, wenn es, in Reaktion darauf, «die Juden», die Anführer des Volkes in Jerusalem, mutmaßen läßt, ob er, Jesus, sich ihnen entziehen wolle, indem er in die griechische Diaspora ausweiche, um dort seine Gedanken vorzutragen. Dahinter steht, daß das Johannes-Evangelium selber wohl aus der griechischen Diaspora stammt. Dort wird man Jesus die Heimat geben, die ihm im orthodoxen Judentum religionsgeschichtlich gesehen verweigert wurde; doch kein Ortswechsel ist hier gemeint, eher der Übergang in ein anderes Denken, und zwar im wesentlichen nicht religionsgeschichtlich, nicht kulturgeschichtlich, vielmehr geht es um einen Wechsel in der Existenz auf ein Neues zu. Ihr werdet mich suchen und nicht finden, sagt Jesus, denn wo ich bin, könnt ihr nicht kommen. – Da fragen die Leute: «Was ist das für ein Wort, das er sagt: Ihr werdet mich suchen und nicht finden?» Es ist damit die entscheidende Frage gestellt: Wie findet man dorthin, wo Jesus steht? Wie erreicht man eine Identität mit seinem Standpunkt? Wie gewinnt man seine Haltung des Vertrauens im Unbedingten? Am letzten Tag aber, dem Großen des Laubhüttenfestes, stand Jesus da, und es ist wie seine Antwort auf eben diese Frage, wenn er laut rufend sagt: Wenn jemand dürstet, der komme zu mir, und trinken soll, wer auf mich vertraut. – Das sind zwei Seiten ein und derselben nach Art eines Angebotes formulierten Antwort. Die erste: es geht um wirklichen Durst, doch in anderer Form als im 326

Gespräch mit der Frau am Jakobsbrunnen (Joh 4,1-42). Das Hintergrundthema hier ist nicht die Liebe, sondern die Macht. Solange jemand im Sinne der Anführer des Volkes es zum Kerninhalt seines Programms erhebt, so weiterzumachen wie bisher, darf er wirklichen Durst nicht zulassen. Alles, was in einem Menschen aufbrechen könnte in einem noch nicht gesättigten Verlangen, wird ein Verwalter und Sachwalter des Bestehenden als Gefahr für sich selber betrachten. Religion aber ist wesentlich dieses Gespür eines Durstes, der nie aufhören wird. Alle Religion besteht in der Erklärung, daß es im Menschen einen Durst, einen Hunger gibt, den man mit nichts Irdischem wird stillen können. Genau in diesem Verlangen nach etwas, das so noch nie gesagt wurde, aber unbedingt gesagt werden müßte, gründet alle Religion. Es war 500 v. Chr. die Entdeckung am Königshof von Nepal, die ein junger Prinz, Siddharta Gautama, machte, daß ein Mensch mitten in verordnetem Glück, mitten in wohlgesättigtem Reichtum, mitten in einer durchorganisierten Sorglosigkeit sitzen könne, er selber von königlichem Rang, von königlichem Gepränge und Gepräge, und er wisse bei all dem immer noch nicht, was ein wirklicher Mensch sei. Die buddhistische Legende erzählt, daß bei der Geburt des jungen Königssohns dem Vater Suddhodana aus dem Munde des alten Sehers Asita geweissagt wurde, dieses Kind, das, ähnlich der christlichen Weihnachtslegende, jungfräulich aus der Vermählung der Königin-Mutter mit der ziehenden Wolke am Himmel, mit dem weißen Elefanten, hervorging, werde selbst eine Verbindung zwischen Himmel und Erde darstellen: es werde groß sein, was immer es tue, aber es müsse selbst wählen, ob es groß sein wolle im Reiche der Macht als Herrscher der irdischen Welt oder ob es groß werden wolle im Reiche der Religion zur Befreiung der Menschen. Siddharta Gautama, dem die Wirklichkeit des menschlichen Lebens zu sehen vorenthalten wurde im Palast von Kapilavastu, soll nach der buddhistischen Legende mit seinem Wagenlenker Chandaka eines Tages hinausgefahren sein in die Stadt und dabei ansichtig geworden sein der Realität unseres vergänglichen Daseins: seiner Armut und Armseligkeit, seiner Kränklichkeit und Gebrechlichkeit, seiner Bestimmung zu Alter und Ohnmacht sowie der bitteren Unausweichlichkeit des Todes. Der junge Prinz soll darüber derart erschrocken gewesen sein, daß eine tiefe Angst von ihm Besitz ergriff; doch was er fühlte, war die Angst aller Menschen. Er verließ seinen Palast, um nie mehr zurückzukehren, bevor er nicht des Menschen Sehnsucht, seinen Durst nach einem Unendlichen an Ruhe und innerem Gleichmaß, gestillt habe3. Wie antwortet man auf Armut, Krankheit, Alter und Tod? 327

Die Antwort des «Buddha», des zum erleuchtet Gewordenen in Bodhgaya, wird lauten: Wer den Durst verliert und nicht länger haftet an den Dingen, der braucht keine Angst mehr zu haben, der spürt kein Leid mehr, der wird eins mit dem All; er hört auf, in der irdischen Existenz, im Rad der Geburten, immer von neuem hervorgebracht zu werden. Es ist die vielleicht größte und weiseste Entgegnung, die auf den Daseinsdurst des Menschen je gegeben wurde. Sie ist das Gegenstück, vielleicht sogar die notwendige Ergänzung zu dem, was der johanneische Jesus hier andeutet: Wenn jemand dürstet, sagt er, der komme zu mir. Mit diesem Wort möchte er antworten auf die Daseinsangst der Menschen, auf ihren unersättlichen, unstillbaren Durst und Hunger, doch er hat zur Erwiderung offenbar nur seine eigene Person. Es ist in eine absolute Alternative zu setzen: entweder alle Angst beruhigt sich, indem man jedes Begehren, jedes Verlangen, jedes Wollen wie etwas staubhaft Beschmutzendes, wie etwas Schädliches und Schändliches aus seiner Seele entfernt, oder umgekehrt: indem man die Nähe der Person eines anderen wie ein Mittel der Reinigung, der Beruhigung, der Stillung von allem entdeckt. Entweder die Vernichtung der Person oder ihre Verdichtung, eines von beiden wird gelten. Gerade so spricht hier der johanneische Jesus. Es ist die zweite Seite seines Angebots: Es gilt, diesen – sagen wir: buddhistischen – Durst zu entdecken und dann diese Unendlichkeit und Unabgegoltenheit der Sehnsucht mit seiner Person zu verbinden! Wer das vermag, wird sich selber, wie es die Schrift verheißt (Jes 55,1-3; 58,11), entdecken als den Anfang einer neuen Quelle von lebendigem Wasser, das aus ihm entsteht. Johannes fügt gleich wie zur Erklärung hinzu, Jesus habe hier hinweisend gesprochen von dem Geist, der den auf ihn Vertrauenden aber noch nicht gegeben worden sei, da Jesus noch nicht verherrlicht ward, das heißt in johanneischem Sprachgebrauch: noch nicht durch seinen Tod hinübergegangen in die reine Welt Gottes. Auch da gilt es offensichtlich, dieser Welt des Äußeren zu sterben, um wahr zu werden in dem, woran der Mann aus Nazaret sich in seinem Leben entscheidend festmachte. Vielleicht läßt sich, was da gemeint ist, ein Stück weit nacherzählen durch einen Film, der 1991 in den Vereinigten Staaten gedreht wurde. Robert Redford hat unter dem Titel In der Mitte entspringt ein Fluß über die Chiffre von strömendem Wasser auf seine Art nachgedacht. Er erzählt die Geschichte von zwei jungen Männern, den Brüdern Paul und Norman, die unter der erzieherischen Aufsicht eines Pastors heranwachsen. Streng belehrt über die Bibel und über das Wort Gottes, entfalten sich 328

beide sehr unterschiedlich. Immer wieder kehren sie zurück an den Fluß, auf dem sie als Kinder schon gemeinsam Boot gefahren sind und an dem sie Fische gefangen haben. Aber der eine von beiden, Paul, eine Weile lang am Ort als Journalist bei der Lokalzeitung tätig, wird nie etwas anderes werden als ein guter Fischer; der andere hingegen, Norman, wird aufsteigen an einer ferngelegenen Universität zum Dozenten der Literatur. Sein Bruder, ein Alkoholiker, ein Spielsüchtiger, wird von den Leuten des Dorfes zusammengeprügelt werden und daran sterben. Seine rechte Hand wird ganz zerfetzt sein, – immerhin: er hat sich gewehrt … Die erstaunte, erschrockene Frage stellt sich den Hinterbliebenen: Was war sein Leben? In den Augen seines Bruders Norman formt sich aus der Gestalt eines scheinbar so jung schon vergeudeten Lebens der Inhalt einer Art lebendiger Poesie. «Ich sah», wird Norman eines Tages sagen, «daß er über den Gesetzen der Welt stand; er war ein vollendetes Kunstwerk. Ich wußte, daß die Welt kein vollendetes Kunstwerk ist und daß ein jeder Augenblick vergeht.» – «Weißt du, wer er war?» wird sein Vater ihn fragen. – «Ich weiß, er war ein guter Fischer.» – «Du weißt noch mehr», wird der Vater sagen. «Er war wunderbar.» «Alle Dinge», schreibt Norman im Rückblick auf das Leben seines Bruders, «fließen zusammen, und aus ihrer Mitte entspringt ein Fluß. Seine Quellen werden von einer großen Flut bedeckt; er aber fließt über die Steine der Zeit. Auf manchen von ihnen bilden sich silbrig glitzernde Tropfen von Tau, doch unter den Steinen liegen die Worte, und manche von ihnen verstehen wir. Mich aber zieht es zum Wasser.» Da wäre es möglich, das Leben eines Menschen, der von uns gegangen ist, so zu begreifen, daß es nicht aufhörte zu uns zu reden, und es wird in uns, die wir es begreifen, zu einer neuen Quelle, die sich fortsetzt im Strom der Zeit. Wir gewinnen Augen für eine Schönheit, die sich formt auf die Ewigkeit hin, selbst wenn sie noch so flüchtig ist, und aus dieser Schönheit und aus dieser Einsicht, daß ein Mensch aufblüht für einen anderen, vollzieht sich die Welt, gestaltet sich unser Leben jenseits der Angst, reift es jenseits der Verstörungen. «Meine Kerze brennt an beiden Enden», wird Norman sagen, «und sie wird diese Nacht nicht überleben; aber sie spendet meinen Freunden ein warmes Licht.» Da dürften wir denken, die Person Jesu sei gerade so zu verstehen: er nähme uns bei der Hand und führte uns an diese Stelle, an der alles zusammenfließt zur Mitte der Dinge, zu der Stelle, an welcher sie ihren gemeinsamen Ursprung haben, und alles würde ganz ruhig in uns, – ein tiefes Gefühl, angenommen zu sein, geliebt zu werden; und eben darin: nicht zwar 329

alles zu erfassen und zu durchdringen, aber doch zu schauen und zu ahnen, bildete sich diese Sphäre eines einfachen Seins, das sich mit der Person des Jesus von Nazaret verbindet. G. W. F. Hegel vor hundertachtzig Jahren, wenn er von Geist sprach, betonte wie kein Theologe und Philosoph vor ihm, daß es nicht möglich sei, etwas in seinem Wesen zu begreifen, ohne daß so etwas wie Trennung, wie Tod, wie Zerbruch in dem Erkenntnisgegenstand eingetreten sei; alles Unmittelbare, alles Sinnliche, alles in direkter Weise Aufgenommene bleibe noch stehen an der Außenseite, es sei noch nicht Geist4. Bezogen auf die Person des Mannes aus Nazaret ist es wohl stets wie der romantische Traum einer noch ungeistigen, nur im Äußeren verhafteten Phantasie: man würde so gerne bei ihm sein, man würde so gern an seiner Seite das Leben verbringen, man würde mit dem Blick auf ihn so gern aus jeder Angst, aus jeder Not sich hinwegheben lassen bis unter das Licht der Sterne; aber geistig entscheidender noch, als aus der Quelle in äußerer Vermittlung zu trinken, ist es, selber zur Quelle zu werden und die Worte Jesu so in sich aufzunehmen, daß sie von innen her stimmen. Es wäre ein zu Geringes, wollten wir nur schauen auf ihn, wie er historisch wohl einmal war. Das Entscheidende ist: zu werden wie er. Es kann nicht darum gehen, immer wieder sich zu versichern: er hat gesagt, er hat getan, – es gilt, aus der gleichen Quelle zu schöpfen, aus der auch er trank. Das ist, Geist zu fühlen, aus Geist zu leben: daß alle Dinge gelten, weil sie im eigenen Leben sich als wahr zeigen und erweisen. Gerade so spricht das Johannes-Evangelium über Jesus. Es zitiert nicht den historischen Jesus von Nazaret, es führt nicht die Traditionen fort, die es von ihm gibt, sondern es gestaltet alles, was er ist und verkörpern könnte, noch einmal neu. Und so beschreibt der johanneische Jesus, was Glauben ausmacht: zu leben aus dem gemeinsamen Ursprung. Den in sich zu spüren bedeutet, Jesus zu (er)kennen. Da beginnen die Leute mit Worten zu spielen und zu streiten. Die einen erklären, an ihn zu glauben, ihn recht zu verstehen, das heiße, in ihm den Propheten zu sehen. Das Wort ist kostbar und spielt tatsächlich in den frühesten Deutungsversuchen des Neuen Testamentes über die Person des Mannes aus Nazaret eine große Rolle. (Vgl. Mk 8,28.) Der Prophet – damit verbindet sich eine endgültige, endlich wieder herbeigeführte Phase der Gottunmittelbarkeit. Man wird über Gott nicht mehr von außen her belehrt werden, sondern es ist gewissermaßen der Folgezustand jeder Art von Geistigkeit, von Begeisterung, daß Menschen in ihrer eigenen Seele sich Gott zutrauen und sein Wort wahrnehmen. Keine Vermittlung von 330

außen bestimmt da die Religion, sondern allein die Innigkeit im eigenen Herzen. Der ist wahrhaftig der Prophet, das soll soviel heißen wie: er hat, entsprechend dem Vorbild des großen Elia, wieder damit begonnen, Gott im eigenen Leben zu suchen, ihn in eigenen Worten auszudrücken, ihn mit eigenen Augen vor sich zu sehen. Er ist der Prophet, das heißt: er hat uns die Erlaubnis gegeben, nach seinem Vorbild genau so zu tun. – Dagegen hält eine andere Gruppe die Aussage: Der ist der Christus, der ist der Messias, mit anderen Worten: er ist der König, und auch darum rankt sich erneut eine schriftgelehrte Debatte. Der ist der Christus, das bedeutet soviel wie: er ist der Sohn Davids, und das wieder bindet sich an bestimmte Vorstellungen und Auflagen. (Vgl. Mk 12,35-37.) Sohn Davids kann nur derjenige sein, der nach dem 5. Kapitel des Propheten Micha (Mi 5,2) in Betlehem zur Welt gekommen ist, dort, wo David selber als Kind gelebt hat, er, der größte König in Israel. Matthäus und Lukas haben den Glauben an Jesus als den Christus in diesem Sinne fortgesponnen; sie lassen Jesus selber in Betlehem zur Welt gekommen sein, um zu beglaubigen, daß er der Sohn Davids war (Mt 2,5.6; Lk 2,4.6). Das Johannes-Evangelium tritt solchen Bestrebungen fast schroff entgegen, ja, es erklärt sie für eine Form des Unglaubens: für Johannes ist es ein Einwand gegen den Glauben an Jesus, wenn die Leute sagen: es müsse der Messias aber geboren sein in Betlehem, da, wo David war. So findet man eben nicht zum Glauben an Jesus! Für Johannes ist es völlig egal, wo Jesus zur Welt kam. Selbst wenn er in Betlehem zur Welt gekommen wäre, so würde das überhaupt nichts bedeuten. Wir verstehen an dieser Stelle längst, warum: Man erhielte erneut nur ein äußeres biographisches Datum, auf das gestützt man wieder äußerlich in den Schriften herumwühlen und äußerliche Beweise sammeln könnte; es wäre genau der falsche Weg, der da beschritten würde. Entweder die Botschaft Jesu erreicht uns im Inneren, oder sie wird uns falsch vermittelt werden! Was also heißt dann, an Jesus zu glauben als an den Christus? Es ist schwerlich ein Wort denkbar, das so zentral auf Jesus bezogen wurde und trotzdem seine Person so sehr ins Gegenteil verformt hat wie die uns im Christentum liebgewordene Aussage: er war der Christus, der Messias, der König. Das Wort vom Messias, vom König, ist alt und inzwischen unbrauchbar, den Kindern, die heute heranwachsen, kaum noch zu sagen. Jesus war der König, das bedeutet in der Kulturgeschichte des Abendlandes einen Status, den wir demokratisch für überwunden halten. Außenlenkung und Herrschaft im Namen Gottes zur Unterdrückung des Volkes waren in Europa unauflöslich mit diesem Titel verbunden. König zu sein, – 331

das ist Machtentfaltung und Prachtentfaltung; da steht der eine an der Spitze und strahlt, während alle anderen in einen langen Schatten getaucht werden, den das Licht dieses Einen über sie wirft. Sie können ihn, ihren König, nur sehen mit Augen, die vor lauter gleißendem Gold wie geblendet sind, und sie werden niemals Augen gewinnen für sich selbst, sie werden niemals sich aufranken zu ihrer eigenen Größe, weil alles konzentriert ist ausschließlich um den einen und auf den einen: den König. Genau in diesem Sinne wollte Jesus nie, um keinen Preis, «Messias», König, sein. Wir können anhand der Texte des Neuen Testamentes sogar sehr deutlich zeigen, daß Jesus die ganze Messiasvorstellung seines Volkes in keiner Weise geteilt hat, weder als Beschreibung der Hoffnung im allgemeinen noch gar in irgendeiner Anwendung auf sich selbst. (Vgl. Mk 8,31!) Er hat den Messiasglauben links liegengelassen, ganz buchstäblich. Prophet ja, das war er in der ganzen Form seines Auftretens, aber Messias oder König überhaupt nicht. Wenn es denn immer noch Sinn machen soll, Jesus als König zu bezeichnen jenseits von Betlehem, jenseits der «Davidssohnschaft», dann müßten wir sagen: er verdient diesen Namen eines Königs so, wie es die Märchen uns nahelegen. Da ist ein König derjenige, der, von weither, nach vielen Jahren der Sehnsucht und des Wartens, in ein schier unerlöstes, verwunschenes Leben tritt, das nach Liebe sich ausstreckte und sie doch nie fand. Jemand, der so kommt, fast allzu spät, viele Gefahren überwindend und durch viele Mauern und Hecken sich hindurcharbeitend in diesen Innenraum der Seele, – der, weil er die Liebe zu uns trägt und erfüllt, mag wohl als König bezeichnet werden. Er, der zu dem Kostbarsten uns wird, indem er uns aufhebt aus aller Niedrigkeit und uns selbst zur Königin und zum König macht, der mag, wie vom Himmel gekommen, als ein Sohn Gottes, als König, als Messias diese Welt betreten. Gegen die Machtausübung von Gewalt, Tyrannei, Unterdrückung und Haß bringt er eine Botschaft der Weite, der Freiheit, des Glücks und der Größe. Da gibt es immer noch Einzelne, die im Hin und Her, wer er nun sei, Prophet oder Messias, Gottesbote oder Herrscher, ihn ergreifen wollen, und doch, wie hypnotisiert, regt sich keine Hand; die ihn verhaften sollen, werden unverrichteter Dinge zu ihren Auftraggebern zurückkehren. Die Hohen Priester, die Pharisäer, mit anderen Worten: die beamteten Religionsdiener und die offiziellen Theologen, werden voller Zorn über die Leute herfallen, die sie ausgeschickt haben, und sie werden sie fragen, ob vielleicht nicht auch sie schon zu diesem Anführer möglicher Aufrührer übergelaufen sind; die aber, zu ihrer Rechtfertigung, werden sagen: Noch 332

nie hat geredet so ein Mensch. Es gibt im Neuen Testament viele Ansätze, Jesus zu verstehen, aber dieser ist gewiß der schönste: Einfache Leute folgen da dem, was sie selber erleben, und spüren sich selber als Angesprochene. Ein anderes Zeugnis haben sie nicht; doch gerade das hemmt ihre Hände beim Zugriff. Das ist der Grund, warum sie ihren Auftraggebern nicht länger gehorsam sein können. Da bildet sich eine Heiligtumssphäre, ein Taburaum um die Person Jesu, hervorgerufen durch das Gefühl, von ihm im Innersten angeredet zu sein. Und was wäre Glauben sonst, als so zu empfinden: Er hat mich berührt, er hat etwas gesagt, das mich betraf, er hat mir, gegen die Angst, Gott zurückgeschenkt; denn er setzte gegen Aussichtslosigkeit Vertrauen und gegen Verlorenheit Liebe. So war es noch nie. Eben deshalb wird alles darauf ankommen, ihm weiter zuzuhören und Worte zu finden, die wie ein murmelndes Echo im Strom der Zeit seine Gedanken weitertragen und weitersagen. Für die Hohen Priester und Pharisäer, für die offiziellen Amtsträger und Ausleger der «Schrift», wird bei all dem der Boden immer heißer. Sie werden einen Fluch schleudern über die Leute, die nicht gebildet genug sind, das Gesetz zu kennen. In ihrem «Gesetz» steht es ganz fest, wie Gott zu sein hat; für sie ist dieser neue Glaube, der sich da breitmacht, etwas Naives, Rudimentäres, argumentativ nicht genügend Abgesichertes, also auch schon deshalb wieder etwas Unkontrolliertes, das man bekämpfen muß von oben nach unten herab, streng in der Ordnung. Leute, die wüßten, was das Gesetz will, würden doch parieren, sie würden in Reih und Glied aufmarschieren, sie würden ihre Pflicht tun, und es käme nicht solch eine gottesnärrische Aufregung in das Leben, – die ganze Verwirrung träte nicht ein! Etwas Neues von Gott, eine Vermenschlichung mitten im Augenblick, ein Übergang von einem Dasein, das keines ist, in eine Wahrheit, die Leben schafft, und selbst der Tod wäre kein Tod mehr, sondern nur eine Chiffre für einen wirklichen Anfang, – wer soll sich da noch auskennen? Wer soll da noch wissen, wie es um einen Menschen bestellt ist? Es gibt einen Mann, der sehr früh im Johannes-Evangelium, im 3. Kapitel schon, zu Jesus kam, des Nachts, aus Furcht vor den «Juden» und auch aus Angst, sich zu schnell nach vorn zu wagen: Nikodemus, ein Ratsherr. Der sprach mit Jesus gerade darüber, wie ein neuer Anfang, wie eine Wiedergeburt ganz von vorn möglich sei, einzig aus Geist und Freiheit (Joh 3,11-13). Man erwartete so sehnsüchtig nach all dem Gesagten, daß dieser Mann nun käme und atmete frei und spräche zum ersten Mal ein Wort des Geistes. Man weiß nicht, ob man ein Recht hat, enttäuscht zu sein, wenn derselbe Nikodemus rein formalistisch an dieser Stelle jetzt juristisch den 333

Einwand geltend macht: Nicht doch! Unser Gesetz sollte einen Menschen richten, ohne ihn zuerst anzuhören und zu erfahren, was er getan? Im Grunde ist, johanneisch gesehen, auch dies eine Form von Unglauben, daß man am Ende mit dem Bestehenden immer noch seinen Frieden machen möchte, – vorausgesetzt, man könnte nur seine Möglichkeiten richtig ausschöpfen und den ganzen legal bestehenden Spielraum wirklich abschreiten. So denkt Nikodemus, der Ratsherr: Das Gesetz, ja – aber dann auch wirklich das Gesetz, dann nicht Unrecht im Namen des Gesetzes; würde man sich genau genug an das Gesetz halten, dann würde alles doch noch innerhalb des Bestehenden das Zukünftige einleiten! Immer wieder versuchen «verantwortlich» Denkende solche Kompromisse zu finden, und immer werden sie scheitern. Ein kleines Beispiel: Vor einem halben Dutzend Jahren befragte man auf Bayern 3 einmal einen der fähigsten Köpfe der katholischen Kirche im deutschen Sprachraum, den Vorsitzenden der österreichischen Bischofskonferenz, Bischof Weber aus Graz, was er vom Kirchenvolksbegehren halte, das ja für mutig schon zu erachten ist, weil es immerhin ein halbes Jahrtausend nach Martin Luther denn auch dafür eintritt, daß manche Errungenschaften der Reformationszeit, etwa daß Pastöre heiraten dürfen oder daß heutigentags Frauen das Priesteramt ausüben können, auch in der katholischen Kirche möglich würden. Bischof Weber nun sprach, daß all dies ihm gewiß ein wichtiges Anliegen sei, doch gelte es, die Einheit zu wahren, wenn auch die Vielfalt zu lieben. Katholisch sein heiße, das Petrusamt als Klammer der Einheit zu behalten und zu schätzen, nur müsse es nicht sein, daß der Vatikan sich wie eine Burg präsentiere; die Kirche könne viele Türen nach außen haben, zugänglich für alle. Und so das Alte und das Neue miteinander zu verbinden müsse die Hoffnung aller sein und bleiben. Ein solches Ja-Aber entspricht in etwa dem, was der Ratsherr Nikodemus hier möchte. Es geht ihm darum, Jesus zu retten, aber der Mann aus Nazaret wird nicht zu retten sein, nicht mit derartigen legalistischen Tricks, nicht indem man daran herumbastelt, wie man das Alte eventuell doch noch so verfeinern kann, daß am Ende den Menschen die Freiheit offiziell erlaubt werden dürfte, – ein drittes Vatikanisches Konzil wird vielleicht kommen oder es wird sogar ein neues Reformkonzil abgehalten werden mit neuen Verheißungen und neuen Turbulenzen … Nein, entweder die Menschen lernen jetzt, aus Geist zu leben, oder sie lernen’s nimmermehr. In letzterem Fall freilich muß ein externes Ordnungssystem her, geistlos genug, um die prinzipiell Unbelehrbaren besser zu lenken; denn nur eine 334

solche «Lenkung» von außen nimmt ihnen die Angst, indem alle Entscheidungen fortan hochoffiziell, aber natürlich stets im «Heiligen Geist» getroffen werden; der «Besitz» dieses Heiligen Geistes indessen liegt dann nicht länger mehr bei den Menschen, er wird vielmehr mit der Großgruppe selbst und mit ihren Verwaltern identifiziert. Das alles allerdings ist so archaisch, wie es Ethnologen in Papua-Neuguinea oder in Westafrika antreffen mögen: der Clan-Geist, der Voodoo-Geist der Gruppe, der ist das Heilige, der einzelne Mensch aber ist nichts außer sein Spielball. Die ganze Botschaft Jesu hingegen gründet darin, daß Geist etwas persönlich zu Lebendes sei, mit allem Wagemut, mit allem Risiko, möglicherweise in der sicheren Aussicht des Scheiterns, aber gerade darin unendlich groß und unerreichbar für alle «Anführer» und «Verwalter» der Äußerlichkeit. In Robert Redfords Film Aus der Mitte entspringt ein Fluß denkt am Ende der Pfarrer in seiner Predigt darüber nach, was es mit uns Menschen sei, mit seinem Sohn zum Beispiel, den er nicht hat halten können. Er sagt: «Manchmal geschieht es, daß Menschen, die wir lieben, in Not sind, und wir bitten zu Gott, er möge uns sagen, was wir für sie tun können. Manchmal können wir für sie nichts Richtiges tun, und das, was wir für sie tun könnten, nehmen sie nicht an. Wir verstehen nicht alles von ihnen, und doch können wir sie vollkommen lieben.» Ein schöneres Wort im Sinne dieses Textes von einem Wasser, das fließt und allen Durst stillt, läßt sich zur Auslegung dieses Abschnittes kaum finden. Nicht, alles zu erklären und aus der Welt zu schaffen ist die Art, wie Jesus die Welt überwinden wollte, sondern nicht voneinander zu lassen in der Liebe, – das ist der Strom, der über die Steine der Zeit fließt, Tautropfen der Schönheit bildend und Worte, die wir zumindest manchmal verstehen.

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Joh 7,53b; 8,11: Wer unter euch ohne Sünde ist … 53bJesus aber ging zum Ölberg. 2Im Morgendämmer aber fand er sich wiederum im Heiligtum ein, und alles Volk kam zu ihm, und er setzte sich und lehrte sie. 3Führen da die Schriftgelehrten und die Pharisäer eine Frau herbei, beim Ehebruch festgenommen; sie stellen sie in die Mitte 4und sagen ihm: Lehrer, diese Frau hier wurde verhaftet auf frischer Tat als Ehebrecherin. 5Im Gesetz nun hat uns Mose angewiesen, derartige zu steinigen (Lev 20,10; Dtn 22,22-24). Du nun – was sagst du? 6Das aber sagten sie, um ihn zu überführen, auf daß sie gegen ihn zu klagen hätten. Jesus aber beugte sich nieder und schrieb mit dem Finger auf die Erde. 7Wie sie aber dabei blieben, ihn zu fragen, beugte er sich auf und sprach zu ihnen: Wer ohne Sünde ist von euch, als erster auf sie werfe der den Stein (Röm 2,1). 8Und wieder beugte er sich nieder und schrieb auf die Erde. 9Die aber, als sie das hörten, gingen weg, einer nach dem andern, angefangen von den Ältesten, und zurückblieb er allein sowie die Frau, die in der Mitte stand. 10Da beugte sich Jesus auf und sprach zu ihr: Frau, wo sind sie? Hat keiner dich verurteilt? 11Sie aber sprach: Keiner, Herr. Da sprach Jesus: Auch ich, ich verurteile dich nicht. Geh. Und von jetzt an sündige nicht mehr (5,14).

Die Erzählung von den Pharisäern, den Schriftgelehrten und der Sünderin auf dem Tempelplatz von Jerusalem ist ein Text, der da nicht hingehört, wo er heute steht; er wurde offenbar aus alter historischer Überlieferung in das schon fertige Johannes-Evangelium als das am spätesten entstandene erst nachträglich eingefügt, und man kann dieses Zögern wohl verstehen, denn zu gewagt erscheint diese Jesus-Überlieferung. Wo auch sonst sollte sie ihren Platz finden, wenn nicht in dem geistig am meisten verinnerlichten Evangelium: dem des Johannes? Vielleicht hat ein Kerngedanke der existentialistischen Philosophie bei der Auslegung dieses Textes Berechtigung: Es gibt ganze Phasen im Leben, die wie in dämmrigem Nebel sich verbringen, dann aber verdichten sich Entscheidungsaugenblicke, – unvorhersehbar, überfallartig springt uns eine bestimmte Situation an, und wie wir dann sein werden, so sind wir in Wahrheit; diese Momente zeigen uns ganz. Unser Lebensentwurf, unser Selbstverständnis, alles, was wir wollen und weswegen wir leben, wird sichtbar in einem solchen Augenblick. Es ist am Ende einer solchen Szene nicht mehr möglich, sich selber zu belügen. Entweder man hat sich als zu schwach erwiesen – dann hat auch vorher nichts gestimmt und alles müßte 336

sich ändern, oder diese Situation zeigte uns so, wie wir wirklich sein wollten – dann haben wir Grund, noch entschiedener mit uns selbst zusammenzuwachsen. Dieser Gedanke des Existentialismus hat dadurch etwas für sich, daß er Abschied nimmt von der üblichen Vorstellung, wir seien gewissermaßen, wie gut trainierte Athleten, zu jeder Höchstleistung, sobald der Trainer uns nur von der Bank aufs Feld schicke, augenblicklich und abrufbar imstande, so als sei das Leben eine spielerische Sportveranstaltung, eine Schaubühne von Aktionisten. Die Wahrheit ist: alles, was wir sind, bildet einen inneren Zusammenhang. Man könnte von unserem «Charakter» sprechen, doch darunter versteht man meist eine Prägung von außen, etwas schicksalhaft Verfügtes; hier aber geht es darum, in voller Verantwortung mit der eigenen Person geradezustehen für alles, was wir sind. Wie wir in solchen Entscheidungsaugenblicken handeln, können wir in dem Moment selbst nicht mehr bestimmen; es gibt keinen Spielraum mehr zu neuem Überlegen, zu «so möchte ich sein» oder «so hätte ich wollen»; wir sind in dem Moment, auf den es ankommt, ohne jeden Rückzug gefragt. – So ein Augenblick der unbedingten Klärung des eigenen Wesens jedenfalls malt sich hier im 8. Kapitel des Johannes-Evangeliums. Im Museum für Alte Kunst in Brüssel findet sich ein großes und großartiges Bild von Peter Paul Rubens: die Szene von der Ehebrecherin1. Eine Frau von kräftiger Statur, den Kopf mit einem schwarzen Schleier umhüllt, steht da in der Mitte dieses Gemäldes; ihr Kleid ist verrutscht, die Schulter, die Brust den Blicken der Männer noch freigebend; sie selber wagt niemanden anzuschauen, ihr Gesicht ist gerötet wie von Scham; ganz rechts außen steht der Schriftgelehrte, mit stechenden Augen, vorgebeugt, die Hände ausgestreckt wie zum Zugreifen – eine gespannte Feder zu Ansprung und Anklage; in seinem gelb-gold schimmernden Gewand erscheint er wie das strahlende Reinheitslicht des Himmels selber; vor seinem Kopf, wie ein Brett angebracht, ist die Inschrift des sechsten Gebotes in hebräischen Lettern geschrieben: «lo tinaph – Du hast die Ehe nicht zu brechen.» Das ist sein einziger Gedanke; und dieser Gedanke ist höchst autorisiert: Exodus 20,14; er duldet keinen Widerspruch, er markiert einen ganz klaren Sachverhalt mit einem absolut eindeutigen Urteil. – Ihm zur Seite, mit fleischigen, mopsartigen Wangen, ein rotes Käppi auf seinem Haupt, die wurstigen Hände ineinandergelegt, präsentiert sich die gestaltgewordene Selbstsicherheit eines Pharisäers, eine unfreiwillige Karikatur, die sich selbst nicht begreift. Auch diesem Mann ist alles klar, in Behäbigkeit und Zuversicht, auch ohne lange theologische Erörterungen. Wo der eine fanatisch das Gesetz durchsetzen möchte, ruht dieser andere wie instinktiv in 337

den Geboten, ein gemütlicher Charakter, möchte man meinen, der indessen nichts dabei finden wird, wenn das Gesetz, so klar, wie es ist, – man darf nicht sagen: sein Opfer findet, sondern umgekehrt: wenn es sich bestätigt, indem es diese Frau als Ehebrecherin tötet und den männlichen Part des Ehebruchs schützt. Das Gesetz des Mose ist ein Gesetz von Männern für Männer, und nur solche umgeben auf dem Bild von Peter Paul Rubens denn auch diese eine Frau, ganz so, wie das Johannes-Evangelium die Szene schildert. Neben der Frau, auf der anderen Seite, steht ein Mann, der die Frau leicht berührt, und man weiß nicht: will er sie in die Fänge des Gesetzes zurückschieben oder will er sie schützen und zurückhalten? Sein Blick ist fragend, zaudernd, er schaut Jesus an. Dahinter drängen sich noch eine Reihe unwichtiger Personen, die nichts weiter sind als die Statisten für diese Kulisse. Jesus aber steht da, in sich ruhend; er schaut niemanden an. Alles, was er zu sagen hat, verkörpert sich in seinen zwei Armen und Händen: der linke Arm ausgestreckt in Richtung der Frau, der rechte, einmündend in feingliedrige Finger, richtet sich zu seinem Gegner, dem Schriftgelehrten. Dieser Arm ist überlang, er ist gemalt, als wollte er eine Brücke bauen über den bestehenden Gegensatz hinweg, aber auch als wollte er etwas darlegen, für das es Worte im Grunde nicht gibt, das aber, wenn man es hören könnte, die dunkelgewandete, fast in ihr Totenkleid gehüllte Frau vor dem sonst sicheren Verderben zu retten vermöchte. So also hat vor über dreihundert Jahren ein flämischer Maler den Johannes-Text wahrgenommen. Fast hat er, von der Historie abweichend, die Situation noch zu harmlos dargestellt. Statt dieser bäuerlich-derben, vitalen Frau, die er sich vorstellt, müßte – nach Leviticus 20,10 und Deuteronomium 22,22-24 –, damit sie als Opfer einer Hinrichtung durch Steinigen in Frage kommt, die Ehebrecherin ein eher zwölfjähriges Mädchen gewesen sein. In diesem Alter heiratete man damals. Man kam nicht eigentlich in die Jahre des Blühens und der Reife, man wurde sehr unsanft aus den Mädchenjahren in das Erwachsenendasein mehr geworfen als geleitet. Es gab nicht viele Gelegenheiten, des Lebens sich zu erfreuen; die Kindheit endete abrupt, und vielleicht haben die alten Mythen recht, wenn sie, wie in der Geschichte von dem Raub der Persephone durch den Totengott Hades, davon erzählen, es sei das Erwachen zur Frau wie ein Brautraub, wie eine zugefügte Gewalttat, die die Betreffende kaum je verstehen wird, – weit mehr das nicht zu Vermeidende leidend als sich hineingebend in ein neu sich bereitendes Glück. Wie auch immer, wir haben eine Frau, ein Mädchen fast, vor uns, das gewiß nicht weiß, wie ihm wird; sein Leben scheint verwirkt, noch ehe es 338

überhaupt begonnen hat. Das Gesetz erlaubt keinen Spielraum der Interpretation, es ist so eindeutig, wie es nur sein kann. Und wie denn auch anders, wenn wir uns Gedanken darüber machen, was ein Ehebruch im Sinne von schriftgelehrten Theologen alles bedeutet! Es ist die Familie, die im Herzen jeder etablierten Religion steht, denn im Herzen der Familie ruht ihre Selbstreproduktion. Jede Religion, die sich im Volke etablieren will, muß ihre Stütze finden eben in der Familie, also ist die Stabilität der Familie geradewegs identisch mit der Beharrlichkeit, mit der die Religion selber in einem bestimmten gläubigen Volk durch die Jahrhunderte zu schreiten gedenkt. Jeder Religionsführer wird deshalb nimmermüde der Familie ins Gewissen reden, ihre Pflicht zu tun, wie es das Gesetz, wie es Gott selber von ihr verlange. Die Frauen und die Männer, die Mütter und die Väter müssen ihre Kinder so erziehen, wie der Vater im Himmel es ihnen vorgeschrieben hat. Jeder 1. Januar beispielsweise wird in der römischen Kirche dahingehen nicht nur mit dem Segen für die Menschheit (urbi et orbi) auf dem Petersplatz, sondern vor allem mit der Erinnerung an die Wichtigkeit, die den Kindern zukomme in den Händen ihrer Erzieher. Man begreift diese Einheit zwischen Soziologie und Theologie in der Familienmoral nur allzu gut. Der Ehebruch aber zerreißt diesen scheinbar unverbrüchlichen Zusammenhalt. Wenn man es zuließe, daß Gefühle stärker würden als Gesetze, daß eine private Sehnsucht eine Ausnahme bilden könnte vom Allgemeinen, ohne daß augenblicklich eine Strafe einträte, um das Offizielle, das Allgemeine wiederherzustellen, dann drohte Anarchie, dann würde das festeste Haus gegründet sein wie auf einer Wanderdüne, dann wäre nichts im Untergrund mehr als solid zu betrachten. Deshalb erscheint Ehebruch fast schlimmer als Mord in den Augen der Gesetzgeber, und also muß er streng geahndet werden – am besten durch Eliminierung der Täter. Doch was sagen wir «Täter» – im Plural? Gesetze dieser Art, die von Menschen verlangen, daß sie als individuelle Personen im Allgemeinen aufgehen und daß es keine Ausnahme vom allgemeinen Prinzip gibt, werden nicht nur von Männern gemacht, sie müssen von Männern gemacht worden sein. Nur «richtige Männer» sind so gedankenklar, präzise, unbedingt und prinzipiell in ihrem Urteil, wie es hier in Kraft zu treten hat. Würden Frauen Gesetze machen – haben sie sie je gemacht in der Geschichte? –, so fielen sie milder aus, schon deswegen, weil Frauen nicht so sehr auf das Formale achten, sondern viel stärker auf das Persönliche. Was ging in einem Menschen vor sich? Wäre es möglich, eine Frau würde ihre eigene Tochter zur Steinigung freigeben wegen Ehebruchs? 339

Bei einem anderen Delikt, der Abtreibung, sagte eine Frau vor einer Weile einmal: «Ich begreife gar nicht, was die Kirchenleute über den Paragraphen 218 debattieren; wenn meine Tochter käme und würde sagen, sie hätte so etwas getan, ich würde sie in den Arm nehmen; ich würde sagen: ‹Mädchen, wie war denn das möglich? Was mußt du gelitten haben, und warum hast du es mir nicht gesagt?› Ich selber käme mir doch schuldig vor. Ich würde mich fragen, was ich falsch gemacht habe, daß meine eigene Tochter, als sie am meisten Hilfe brauchte, bei mir keine Unterstützung zu erhoffen meinte. Aber ich würde doch nicht zur Polizei oder zum Bischof gehen, um sie anzuzeigen, ich würde doch nicht die Exkommunikation aus der Kirche oder die Inhaftierung im Gefängnis beantragen! Wovon reden denn die Leute?» – Diese Frau setzte voraus, daß ihre Tochter nie etwas tun würde, das einfach leichtfertig, das einfach verantwortungslos wäre. «Sie ist doch meine Tochter!» Das war ihr klar. – Aber auch dieses zwölfjährige Mädchen auf dem Tempelplatz von Jerusalem hat eine Mutter, und wie immer sie war, ohne daß wir sie kennen, – es ist schwer denkbar, daß sie dem Urteil auf Steinigung zugestimmt hätte. Gesetzt selbst, sie hätte erkennen müssen, daß sie ihre Tochter schlecht erzogen hätte, müßte sie sich dann nicht wie von selbst zwischen die Ankläger und die Angeklagte stellen als die eigentlich Schuldige? Auch wenn sie sich alle Mühe gegeben hätte, ihre Tochter gut ins Leben zu führen, würde sie nicht gerade dann um Aufschub bitten, um überhaupt erst zu klären, wie ihrer Tochter «so etwas» passieren konnte? Eine Erklärung des Tathergangs gibt uns der Text, indem er sie verschweigt. Man sollte glauben, zu einem Ehebruch, der in flagranti ertappt wird, gehörten zumindest zwei. Eigentlich müßten sie beide bestraft werden: der Mann, weil er das Weib seines Nächsten «geschändet» hat, die Frau, weil sie im Fall, daß sie gegen ihren Willen vergewaltigt worden wäre, laut um Hilfe hätte rufen müssen (Lev 20,10; Dtn 22,21.23.24). Aber der Herr, der in das Kriminaldelikt involviert ist, befindet sich (natürlich) über alle Berge. Er wird in keinem Falle angeklagt. Was aber die Frau angeht, so bestand ein großes Problem der Rabbinen seinerzeit darin, wie weit wohl eine Frau in solcher Lage rufen kann. Was passiert, wenn sie auf dem Felde überfallen wird und keiner vorbeikommt (Dtn 22,25.27)? Es gibt in diesem Falle zumindest keinen Zeugen dafür, daß diese Frau laut gerufen hat; einen Hahn würde man hören, aber eine Frau in diesem Augenblick? Daß manchen Menschen der Hals verstummt vor lauter Schrecken, wer wüßte das von diesen Thora-Kasuisten? Wir kommen der Geschichte noch ein Stück näher, wenn wir sie in der 340

Perspektive ihrer patriarchalen Einseitigkeit weiter verlängern. Da ist eine Gruppe von Männern, die nicht nur Recht spricht und Recht verwaltet, die mithin die Legislative wie die Exekutive in ihren Händen hält; diese Gruppe hat vor allem ein besonderes Motiv, das, was da als Gesetz verfügt wurde und durchgeführt werden will, richtig zu finden. Es gehört zu der Wahnidee aller patriarchalen Systeme, daß im Grunde die Männer zwar die Macht haben, aber dann doch, wie das Schicksal es nun will, ohnmächtig sind gegenüber den Listen – man kann schon nicht mehr sagen: der Frau, sondern man muß sprechen, im Gebrauch des 19. Jhs.: – des Weibes. Das ist das eigentliche Wort, das hierhin gehört. Einer Frau, einem Weib gegenüber sind die Männer schwach. Sie sind es wirklich, denn solange sie sich einbilden, über sich selber zu verfügen, müssen sie so viele Gefühle unterdrücken, müssen sie ihre Seele so sehr im Schatten des Unbewußten lassen, daß ihnen die stärkere Regung einer Herzensempfindung vorkommen wird wie ein dumpfer Andrang ihres Trieblebens, den sie nicht begreifen, wie eine Unheimlichkeit, die ihnen von außen zugefügt scheint. Es ist das alte Bild der «Sündenfallerzählung»: Da liegt eine Schlange im Sande, und plötzlich, hinterhältig, ohne daß man es ahnen konnte, stößt sie zu. Am Ende waren die Männer es gar nicht selber, die von dem verbotenen Baum aßen, sondern wie durch hypnotischen Einfluß erlag der Mann, Adam, dem schwachen Geschlecht. Das Verhältnis der Geschlechter führt sich schon im 3. Kapitel der Genesis, gleich auf der zweiten Seite der Bibel, so auf. Da ist’s am Ende, erklärt Adam dem lieben Gott, die Frau gewesen, die er, der Allwissende, der Allmächtige, ihm beigesellt hat (Gen 3,12). Was kann ein Mann, ein Adam, dafür, daß er von einer Frau, die er liebte, den Apfel nahm und alles weitere kam, wie es wohl kommen mußte? Die Frau, dieses reine Gottesgeschenk, machte sich selbst zum Geschenk – wie hätte er nein sagen sollen, – lieber Gott aber auch! Folgerichtig erscheint es, daß dem Manne – Genesis 3,16-18 – in einer Kette von Strafen als erstes auferlegt wird, der Frau zu «obwalten». Wo immer Männer Gesetze erlassen haben mögen, – dieses einzuhalten haben sie sich allerorten redlich bemüht: Walte ihr ob – timschol bah – dem Leben selber, der Eva, walte du ob! Das seither tut der Mann. Die Rechtfertigung des Patriarchalismus wird immer basieren auf dieser Selbsttäuschung: man ist – von der Frau – hereingelegt worden, man ist im Grunde, bei soviel übernommener Verantwortung, im Entscheidenden doch für sich selber unverantwortlich gewesen; doch um sich selber zu regulieren, braucht man zur Verwaltung und zur «Obwaltung» die entsprechenden Gesetze. Der Mann, der Genesis 3 formulierte, muß geahnt haben, daß er damit beschrieb, wie 341

die Liebe zwischen Mann und Frau verdirbt, wie das Paradies des Menschenglücks endgültig zerstört wird. Seitdem gibt es den Geschlechterkampf, das permanente Ringen umeinander und gegeneinander. Goyasche Karikaturen entstehen da von der Verflochtenheit zwischen Mann und Frau, die voneinander nicht loskommen können noch wollen und dennoch immer wieder sich wechselseitig zerfleischen an den Stellen, da es am meisten weh tut. (Vgl. Abb. 3.) Gesetze, so verstanden, sind im Patriarchalismus nichts weiter als ein Panzer der Männer gegenüber den Frauen, eine Form des Rechtbehaltens über all das, worin sie selbst verwickelt sind, – jeder «normale» Ehescheidungsprozeß noch heute kann das in der Frage der Unterhaltsregelung demonstrieren. Das ist die Hintergrundsituation, das ist das gute Recht, das göttliche Recht, das religiös legitimierte Recht. Was ist zu tun gegen eine ganze Gesellschaft, gegen eine ganze Theologie, gegen eine ganze Jurisprudenz, gegen ein geballtes Vorurteil, gegen eine jahrtausendealte Gewohnheit? Es ist, wie wenn die Nordsee bei einer Sturmflut die Deiche durchbricht und die Küstenwacht versuchen muß, auch nur einen einzigen vor ihrer Gewalt zu retten. In einer durchaus vergleichbaren Situation befindet sich Jesus an diesem Morgen auf dem Tempelplatz. Was kann er tun? Das, was er tut, ist ungeheuerlich; es ist so ungeheuerlich, daß die Kirche, daß die frühe Gemeinde sich offenbar lange gesträubt hat, diesen Skandal überhaupt in das, was wir heute das Neue Testament nennen, aufzunehmen. Die Erzählung ist, wie gesagt, ganz sicher nicht aus der Feder des Johannes-Evangeliums geflossen. Sie ist hereingekommen aus der Tradition, die den ersten drei Evangelien zugrunde liegt, doch eben: keines der synoptischen Evangelien hat diese Geschichte gekannt oder wollte sie kennen oder hat es gewagt, wenn es sie denn kannte, sie weiterzuerzählen. Es muß dann doch, relativ spät, vielleicht sogar im Umfeld des Johannes-Evangeliums, Kreise gegeben haben, in denen man dachte, diese Begebenheit sei zu kostbar, um sie der Vergessenheit anheimfallen zu lassen; sie zeige uns etwas Wesentliches an der Person Jesu. Insofern enthält dieser Text vielleicht den spätesten Kommentar und den wichtigsten Nachhall auf die Botschaft Jesu, ein Echo noch gerade, das uns helfen kann, in alle Zukunft den Weg, das Ziel, das ursprünglich Gemeinte des Anliegens Jesu nicht aus den Augen zu verlieren. Es war das letzte Mal, daß es noch möglich schien, eine Geschichte wie diese in ein Evangelium einzuschieben, und es war zugleich die letzte Gelegenheit. Liest man nämlich zeitgleich dazu die Literatur des Neuen Testaments, so sieht man, wie 342

die frühe Gemeinde damals schon sich verfestigt, wie sie dabei ist, Menschen auszuschließen, die nicht fromm genug sind, die nicht orthodox genug sind, die entsprechend den dogmatischen Regeln schon zu den «Häretikern» übergelaufen sind oder die moralisch nicht integer scheinen. Allein in jener späten Zeit dieses relativ frühe Überlieferungsstück zu aktualisieren und ihm den Wert eines Evangeliums zu verleihen verrät Mut. Immerhin: im sogenannten Codex von Canterbury ist diese Geschichte im Rahmen des Johannes-Evangeliums erhalten geblieben, versehen mit einer Überleitung, die, recht mühsam, die Erzählung nach Jerusalem und auf den Tempelplatz verlegt; – das alles muß historisch nicht zutreffend sein, das Ereignis selbst kann irgendwo in Galiläa stattgefunden haben. Aber diese Geschichte ist, ganz im Sinn der existentialistischen Interpretation des menschlichen Lebens, die Visitenkarte, der Steckbrief, der Fingerabdruck, das Totalbild, das Hologramm der Person des Jesus von Nazaret. Denn so viel ist sicher: Hätten wir nur diese eine Überlieferung, wir wüßten alles von dem Mann aus Nazaret, wir wüßten zumindest alles, was wichtig ist; mehr brauchten wir im Grunde von ihm nicht zu kennen. Alles, was wir zu dieser Begebenheit jetzt sagen können, ist deswegen wie ein stammelnder Versuch, uns die Bedeutung dieser Szene klarzumachen; doch das vielleicht Erschütterndste und Größte daran ist es, den unendlichen Abstand zwischen dem Vorbild und uns selbst zu verspüren. Er liegt überhaupt nicht in dem, was wir sonst mit der Person Jesu im Erbe des christlichen Dogmas verbinden: daß Jesus von Gott gekommen sei als der metaphysische Sohn Gottes und deshalb uns in allem weit überlegen gewesen sei; diese Geschichte erzählt, worin Jesus uns in Wahrheit überlegen ist und wieso er von Gott kam. Alles, was dieser Mann lebte, war eine unglaublich erfüllte Menschlichkeit. Doch was in dieser Szene mit der Ehebrecherin geschieht, läßt sich nicht ausrechnen, es läßt sich nicht als Vorsatz fassen, um für alle Fälle gewappnet zu sein. Es ist, wie gesagt, ein Entscheidungsaugenblick der ganzen Existenz. Allerdings: Wie es zu dieser Situation kam, kann man relativ leicht beschreiben. Es gibt ein Wort in den ersten drei Evangelien, das Jesus bezeichnet, wie Ertrinkende ihn brauchen, um sich vor dem Versinken in den Fluten zu retten, aber auch so, wie die Gegner es brauchen, um ihn mit Klage und Anklage, mit Schuldspruch und schließlich mit Hinrichtung zu überziehen. Dieses unvergleichliche, historisch gut bezeugte Urteil der Freunde wie der Feinde des Mannes aus Nazaret lautet: Er ist ein Freund der Zöllner und der Sünder (Mt 9,11), er lädt Huren ein in seine Mahl-Gemeinschaft, er 343

überschreitet jede Grenze, er ist maßlos in seinem Willen und in seinem Mut, Menschen zuzulassen und zu akzeptieren. So etwas ist für jede Behörde, die auf Ordnung hält, so viel wie die erklärte Anarchie, wie das Gegenprogramm zu der verwalteten Herrschaft von Menschen über Menschen im Namen Gottes. Das muß zu Widerspruch reizen, das verlangt danach, zu Gesetz und Ordnung zu rufen. Das Markus-Evangelium zum Beispiel, kaum drei Kapitel alt, schildert, wie sie von Jerusalem herunterkommen nach Galiläa und Jesus befragen, woher die Kraft zu seinen Wundern kommt. Von Baalzebul, dem Obersten der Teufel, wird er sie haben, vermuten sie, jedenfalls nicht von Gott (Mk 3,22)! Wenn da Menschen gesund werden und achten keinen Sabbat mehr und richten sich auf in der Synagoge von Kafarnaum trotz der verordneten Ruhe, ganz wie der Gelähmte am Teiche Betesda in Joh 5,1-18, so soll ihn doch der Satan holen! Wer da die Gesetze des Mose mit Füßen tritt, lieber als daß er das Herz eines Menschen zerträte, polarisiert der nicht mutwillig, reißt der nicht auseinander, was zusammengehört: – den Menschen und die Gemeinschaft, die Gemeinschaft und die Religion, die Religion und die Tradition – das ganze eherne, stabile Gebäude? Erklärt der nicht für Lüge und für Mummenschanz, worauf die Ordentlichen zu allen Zeiten stolz sein werden in ihrer Unbescholtenheit, in ihrer Unerbittlichkeit, in ihrer Sicherheit, in ihrer Gründlichkeit? Was ist das überhaupt für ein Menschenbild im Kopfe dieses Mannes aus Nazaret, dieses Dämonisch-Besessenen oder, wie sogar seine eigenen Familienangehörigen sagen, dieses Verrückten, den man nach Hause zurückholen sollte, dieses Rasenden (Mk 3,21)? Offensichtlich hat er für alles eine Erklärung, eine Entschuldigung, eine Rechtfertigung! Nie ist er auf der Seite derer, die eindeutig wissen, wo es langgeht! Immer braucht er Sonderwege, Nebenwege, Umwege! – Genau darüber will man sich Klarheit verschaffen, und zwar eindeutig, ohne Wenn und Aber, und so führt man diese Frau vor als einen klaren Fall, den es ohne Umschweife zu entscheiden gilt. So diese Szene hier. Erschrecken kann in dieser Erzählung die prinzipielle Klarheit des juristisch-moralischen Urteils, die als das ganz Gewöhnliche und eben deswegen um so Entsetzlichere auftritt. Den Pharisäern und den Schriftgelehrten geht es um diese Frau als um einen einzelnen Menschen, als Person, überhaupt gar nicht; sie ist gewissermaßen nur der Lockvogel, mit dessen Hilfe sie Jesus zwischen die Fangeisen der Falle, die ihn erschlagen soll, zu locken gedenken. Mit ihrem persönlichen Schicksal ist sie gänzlich unwichtig für die sie anklagenden Behörden, sie ist lediglich der personifizierte Problemfall, an dem Jesus sich exemplarisch verraten soll. Es geht, 344

mit einem Wort, diesen vermeintlichen Autoritäten durchaus nicht um Menschen, es geht ihnen im Grunde um Politik. Es geht ihnen darum, wie man eine bestimmte Person so in die Enge treibt, daß es am Ende für sie kein Zurück mehr gibt. Jesus muß sich entscheiden, was jetzt passieren soll. Leviticus 20,10; Deuteronomium 22,21-24: – jedes Kind zur Zeit Jesu lernt diese Verordnungen in der Schule, wenn es die Thora zu lesen beginnt; es lernt das Buch Leviticus von A bis Z auswendig. Wenn Jesus sich überhaupt für kompetent erklärt, in Sachen Gesetz und Moral mitzureden, dann hat er das Buch Leviticus von hinten nach vorne hersagen zu können. Was Mose da spricht, sollte ihm mithin seit Kindertagen eingebleut worden sein. Also was nun? Will er mehr sein als Mose? Weiß er besser als dieser, was Gott am Sinai gesagt hat? Hat er die Stirn, sich über 1500 Jahre Offenbarungsgeschichte des Gottes Israels hinwegzuheben? Will er im Ernst mit einer verhurten Zwölfjährigen Karriere machen gegen Gott, gegen alles, was dem Menschen heilig sein sollte? Ist das sein Standpunkt? Dann bitte schön, dann soll er sich selber an dieser Stelle das Todesurteil sprechen. Dann kann man ihn gleich mit steinigen. Wenn er unbedingt ein todesschuldiger Häretiker sein will, dann soll er sich nur so erklären; er soll sagen: «Das Gesetz des Mose ist nicht mein Fall, denn es ist unbarmherzig; – es ist grausam, es ist barbarisch, es ist der reine Anachronismus, euer Gesetz des Mose! Nach solchen überholten Anweisungen könnt ihr jetzt nicht mehr entscheiden.» Jesus würde mit einer solchen Erklärung im übrigen manches ausgesprochen haben, was unter jüdischen Rabbinen seiner Tage ernsthaft gedacht wurde. Rabbi Hillel zum Beispiel hätte versucht, das Gesetz des Mose an dieser Stelle aufzuweichen. Und vierzig Jahre nach Jesus, nach dem Zusammenbruch Jerusalems, wird der große pharisäische Neubegründer des Judentums, Rabbi Johanan ben Zakkai, dieses ganze Gesetz über die Todesstrafe bei Ehebruch außer Kraft bringen, denn er denkt: Die Männer haben kein Recht, auf Frauen Steine zu werfen, weil zum Ehebruch halt immer zwei gehören; es gibt in diesem Falle keine geschlechtsspezifisch Unschuldigen, es gibt den Geschlechterkampf im Namen Gottes nicht mehr. Eine derartige Ansicht verrät Weisheit. Doch würde Jesus so sagen, so müßte er sich an der Stelle befinden, an der Rabbi Johanan ben Zakkai später stehen wird: Er müßte die erste, die einzig anerkannte Autorität im Kreise der Theologen sein, er müßte sich auf der Leiter der öffentlichen Reputation erfolgreich hochgearbeitet haben, er müßte ein Fachgelehrter der Thora-Auslegung sein, er müßte ein honoriges Urteil haben im Kreise 345

all der Wissenden. Von all dem aber kann keine Rede sein. In Fragen der Gesetzesauslegung ist Jesus ein Autodidakt, bestenfalls. Im Grunde hat er keine Ahnung, wie man nach all den Regeln der Kunst das Gesetz winden kann und wenden muß, um es auf den Einzelfall zu applizieren. Er hat nichts weiter als ein gutes Herz und klare Augen; die freilich sehen in der Gestalt dieser zwölfjährigen Ehebrecherin vor allem einen hilflosen Menschen vor sich, und daneben sehen sie Menschen, die ihrer Sache ganz sicher sind, so wie Peter Paul Rubens sie gemalt hat. Hätte Jesus im Kreise dieser Leute begonnen, an den Seilen des Gesetzes zu zerren, – sie wären sehr engmaschig um den Hals dieser Frau geraten und um seinen eigenen gleich mit. Was man statt dessen hier sieht, ist die unleugbare Tatsache, daß Jesus bei aller Phantasterei, die vielen seiner Worte vermeintlich anhaftet, in Wahrheit ein unglaublicher Realist war. Selten hat er versucht, Leute zu überzeugen, die nicht zu überzeugen waren. Er hat sehr klar gesehen, mit wem er es im Einzelfall zu tun hatte, und gerettet hat er sich fast immer wie eine Katze, wenn die Hunde ihr zu nahe kommen: in die dritte Dimension; er flüchtete in die Senkrechte, den nächsten Baum hinauf, sprich: in Richtung Gottes, in den Himmel – es war der einzige Fluchtraum, der ihm blieb. Geschildert wird das Verhalten Jesu in dieser Geschichte durch eine einzige Geste. Die Schriftausleger rätseln, was er damit gemeint haben könnte, doch diese Gebärde bildet den Kern der ganzen Erzählung: Jesus beugt sich nieder und schreibt mit dem Finger auf die Erde. Immer wieder hat man überlegt, was Jesus da wohl geschrieben hat. Einen Satz aus Jeremia (Jer 13,24), daß all die Worte verweht werden, wie wenn Wind über die Spreu weht? Oder einen Satz von der Haltlosigkeit des Menschen? Von all dem ist indessen keine Rede; zudem: würde die Geschichte wirklich auf dem Tempelplatz gespielt haben, so fände Jesus keinen Sand als Schreibmaterial vor, sondern er müßte auf das harte Pflaster des Heiligtums geschrieben haben. Erkennbar geht es der Erzählung durchaus nicht darum, daß Jesus etwas Bestimmtes geschrieben hätte, – was immer er geschrieben hat, es ist für den Fortgang der Handlung völlig unwichtig. Vielmehr sollte man denken, das Schreiben selber bilde einen Moment der inneren Sammlung. Da beugt Jesus sich vor, und es ist, wie wenn die Seele eines Menschen sich in sich selbst einschließt; da geht etwas vor sich, das einer Konzentration aller Gefühle und Gedanken, einer Verdichtung der ganzen Existenz gleichkommt. Da ist nichts zu sagen, weil es niemanden gibt, der es hören würde. Es gilt nicht länger zu überlegen, was Mose gemeint hat oder was Gott sagen könnte; es ist vielmehr, wie wenn alle Anklagen, alle 346

Vorwürfe, aber auch alle Gründe des Verstehens in der Seele Jesu zusammenliefen. Was wir immer wieder von der Stellung Jesu zum Gesetz gesagt haben, erleben wir jetzt in seiner vielleicht klarsten Ausprägung: Es ist, wie wenn Jesus in den Abgrund der menschlichen Seele schauen würde und gäbe all denen, die das Todesurteil sprechen, im Grunde vollkommen recht: So hat Mose gedacht, und so verdienen wir es wirklich! Es gibt nichts Schlimmeres, als die Treue oder die Liebe von Menschen zu brechen oder schon selber gar nicht mehr zu wissen, wo man steht: – was man fühlt und wer man ist. Gemessen an dem eindeutigen, klaren Urteil des mosaischen Gesetzes ist diese Frau bereits tot, selbst wenn sie noch lebt. Und Jesus sagt nicht: das Gesetz des Mose hat unrecht; er sagt nicht: Gott hat sich am Sinai geirrt; er sagt nicht: die Schriftgelehrten lügen, – sie verteidigen nur ihre Macht, sie sind gottverdammte Heuchler. Das alles wäre zwar gewiß nicht völlig falsch, aber es ist nicht die Ebene, auf der Jesus denkt. Er selber kommt aus den Kreisen der Pharisäer, und er gibt dem Gesetz in jedem Punkt vollkommen recht, bis in die Worte der Bergpredigt hinein, die Matthäus (5,17-20) ihm in den Mund gelegt hat: «Ich bin nicht gekommen, irgendein Gesetz abzuschaffen, nicht ein Jota, nicht ein Häkchen. Wer das dächte, würde alles mißverstehen.» Das ist ganz im Sinne Jesu gesprochen. Seine Haltung ähnelt in gewissem Sinne den Gedanken in dem Kleistschen Drama des Prinz Friedrich von Homburg2: Das Gesetz muß bis aufs tödliche angewandt werden! Man muß seine Konsequenz bis zu Ende denken! Das ist die eine Seite in der Einstellung Jesu zum Gesetz; er fühlt ganz deutlich: Das Gesetz (des Mose) ist wahr. Paulus wird später genau so sagen: Das Gesetz ist rein und es ist gut. Und doch wird gerade derselbe Paulus, im 7. Kapitel des Römerbriefs, hinzufügen: aber es ist der Tod (Röm 7,10). Welch ein Mensch kann in einer Welt leben, die nur von Gesetzen geregelt wird? Das ist die andere Erfahrung. Sie muß sich bereits dem Leben Jesu in aller Deutlichkeit vermittelt haben, der Legende nach bereits in dem Moment seiner Taufe, als er erlebte: Wer sich mit dem Gefühl seiner unwiderruflichen Schuld in die Hände Gottes begibt, wie sein Lehrer Johannes der Täufer es wollte, der findet einen anderen Gott vor, als der Täufer ihn in seinen Gerichtsdrohungen predigte; und nur diesen anderen Gott zu bringen kam Jesus auf die Erde, trat er in die Öffentlichkeit: einen Gott, der nicht richtet, sondern der rettet, der nicht recht haben will, sondern der die «Rechtfertigung» des Menschen möchte, einen Gott, der nicht straft, sondern der versteht. Der Prophet dieses Gottes wollte Jesus sein. 347

An dieser Stelle schreibt er auf die Erde mit dem Finger. Was er da schreibt, ist gewiß kein neues Gesetz, es ist wahrscheinlich, wie gesagt, nichts weiter als eine Form, über sich selbst klarzuwerden, mehr noch als über diese Frau. Über sie denkt Jesus nicht nach; er verteidigt sie nicht, wie es ein guter Rechtsanwalt heute tun würde, mit psychologischen Argumenten: wie ist sie großgeworden? in welchem sozialen Milieu ist sie aufgewachsen? und wie jung sie noch ist! und welch ein Strafmaß ist für sie überhaupt angemessen? Wieder: das alles wäre nicht falsch, aber es wäre nicht das, was Jesus hier vorschwebt. Das einzige, worauf es ihm ankommt, ist die Klärung seiner eigenen Seele. Seine Gegner aber hören in all dieser unheimlichen Spannzeit nicht auf zu fragen: «Wir brauchen eine Antwort, und zwar jetzt, unverzüglich, eine klare Antwort.» Doch wie soll diese Antwort ausfallen? Sagt Jesus zur Steinigung nein, steht er im Widerspruch zum Wortlaut des Gesetzes; stimmt er der Steinigung zu, ist alles widerlegt, was er immer wieder erklärt hat; dann sollte er öffentlich bekennen, daß er sich geirrt hat; dann hat er eine Menschlichkeit verkündet, die schon rein logisch nicht gelebt werden kann, weil sie allen Regeln des bürgerlichen Zusammenlebens entgegensteht. Ihm geht es um Gott, aber Gott redet nun mal in den Verordnungen von Leviticus 20 und Deuteronomium 22. Wenn er aber sich diesen göttlichen Forderungen des Gesetzes fügt, dann soll er aufhören, als der Erlöser der Zerbrochenen aufzutreten, dann soll er die Farce beenden, eine Art Victor Hugo zu spielen und Les Misérables aufzuführen3. Dann soll er eindeutig, wie alle Gesetzeslehrer, auf die Trennung zwischen den Richtigen und den Falschen, zwischen den zu Recht Lebenden und den zu Recht Hinzurichtenden bestehen; dann ist das Wort Gottes ein scharfes Schwert zwischen Gut und Böse. Zwischen Ja und Nein muß er jetzt ohne Ausweichen eine Entscheidung treffen. In diesem Moment wohl macht Jesus die Bewegung nach vorn, das Sich-Bücken zur Erde, das Sich-Einschließen nach innen, durch eine gegenläufige Bewegung rückgängig: Wie sie aber dabei blieben, ihn zu fragen, beugte er sich auf – fast möchte man übersetzen: er bäumt sich auf. Er schaut sie an. Der Satz, den er dann spricht, der einzige, den er den verurteilensbereiten Gesetzeslehrern entgegenschleudert, ist wie in zwei Hälften gesprochen: der erste Satzteil sehr ruhig: «Wer ohne Sünde ist von euch», – das klingt so besänftigend, wie jeder vom Gesetz reden wird, der auf der Seite des Gesetzes sich sicher weiß, dem das Gesetz eine klare, erdbebenfeste Grundlage für jeden Moment seines Daseins bietet; wer so reden kann, das ist die Bedingung, die Jesus hier stellt – «als erster» – diese Worte sind 348

wie ein Angriff herausgeschleudert: – «auf sie werfe der den Stein.» Es ist außerordentlich wichtig, daß es Jesus mit diesem Satz gelingt, die Meute dieser Mobbing-Justiz aufzulösen. Es geht darum, sie zu fraktionieren, denn sonst entstünde eine Situation wie 1996 bei einer Hinrichtung in den Vereinigten Staaten von Amerika, diesem Vorbildland der westlichen Zivilisation: daß man fünf Leute mit Gewehren bestellt, echte Jäger von Schrot und Korn im Südwesten der Vereinigten Staaten, und läßt auf einen Mann anlegen, der nach dem Gesetz hingerichtet werden soll; fünf Kugeln sind auf die markierte Herzstelle zu schießen, aber eine der Flinten bleibt leer, damit am Ende keiner genau weiß, ob er persönlich den Mord begangen hat im Namen des Gesetzes, im Namen des Volkes, im Namen des Gottes, der God’s own Country schützt und stärkt und ihm Mut macht zur New World Order. – Am Ende hat jeder den Stein geworfen, aber keiner weiß unter der Masse der Steine, welcher der Frau den Tod gebracht hat. Man begreift anhand eines solchen archaischen Rituals, wie es im Iran oder in Nigeria noch heute vollzogen werden kann, was Strafe sozialpsychologisch überhaupt bedeutet. Jesus wird über derlei Zusammenhänge in philosophischem Sinne nicht viel nachgedacht haben; aber gespürt hat er sie offenbar ganz genau. Am klarsten hat G. W. F. Hegel die Rechtfertigung der Todesstrafe formuliert, indem er verkündete, die Strafe sei generell nichts weiter als die Negation der Negation des Gesetzes, eine Automatik, mit der das Gesetz sich über seinen Widerspruch wieder herstelle; je gewichtiger das übertretene Gesetz, desto gewichtiger daher die Strafe. In Wahrheit freilich geht es um ganz andere Gefühle und Motive. Es geht um den Schutz der Gesellschaft vor ihren immanenten Gefahren; indem sie den Gesetzesbrecher tötet, tötet sie in sich selbst die Neigung zum Gesetzesbruch. Am Ende geht es darum, daß man es geschafft hat: man ist wieder unter sich, die Guten rotten sich zusammen, – sie haben die faulen Äpfel endlich aus dem Regal gebracht. Der Mechanismus hat wohlgemerkt nichts zu tun mit Schuld und Strafe in irgendeinem moralisch-subjektiven Sinn; es geht um äußere Normenkontrolle, ganz dem Augenschein nach. So sieht man, wie in einem Möwenschwarm ein einzelnes Tier, das krank ist, mit spitzen Schnabelhieben in den sicheren Tod gejagt wird. Der «gesunde» Möwenverband ist am Ende wieder unter sich, die Nicht-Kranken wissen, woran sie sind, die Irritation hat aufgehört. Wenn man es systemtheoretisch ausdrücken will: eine Fluktuation ist beseitigt durch gruppendynamische Selbststabilisierung. Das ist Strafe. Es geht nicht um «Gerechtigkeit», es geht um die Selbstbestätigung der Richtigen, damit sie in Schritt und Tritt weitermarschieren 349

können, notfalls über Leichen. Das ist «Strafe»; so ist sie: kalt, mitleidlos, ohne Ansehen der Person. Der Unterschied ist deutlich. Einem Vater rutscht mal die Hand aus, einer Mutter gehen mal die Nerven durch, und sie bestrafen ihren Sohn, ihre Tochter. Auch das ist eine «Strafe», aber in Form einer persönlichen Reaktion; ein gefühlsmäßiger Ausgleich zwischen zwei Subjekten findet da statt; es wäre aber fatal, wenn die unerledigten psychischen Konflikte etwa zwischen Täter und Opfer an das «objektive» Rechtssystem delegiert würden – wenn Rachegefühle sich in das Gewand der Gerechtigkeit hüllen dürften, wenn sich die Gesellschaft als die richtige Familie gegenüber den Abweichenden zu präsentieren suchte und sich selber stabilisierte, indem sie diese exekutierte. Was Jesus mit seiner Erwiderung erreicht, ist ein Ende dieses Spuks einer abstrakten, unpersönlichen Strafegerechtigkeit. Er ruft die Leute, die sich auf das Gesetz berufen, einzeln in die Verantwortung. Das ist der ganze «Trick» seiner Antwort. Jeder soll für das Tun im Namen des Gesetzes eine eigene Zuständigkeit übernehmen, er als erster; er soll nicht länger im Kollektiv denken und reden: «Wir sind in Ordnung», jeder Einzelne für sich selber soll sagen: «Ich bin in Ordnung». Der übliche Rückzug in die Masse, in diese sich im Schlamm und Blut anderer reinigende Schweineherde, wird nicht länger geduldet. Darum geht es. Es soll nicht wieder und wieder Blut fließen, damit am Ende die Säue ihre Schwemme finden. Klar und eindeutig soll jeder Einzelne erklären: «An mir gibt es nichts auszusetzen; ich bin so makellos, daß die Trennung zwischen dieser da und mir absolut ist, wie zwischen Leben und Tod.» – Wenn er das kann, dann nur zu! dann nur zu! Diese kleine Szene zeigt den ganzen Jesus. Das Gesetz Gottes gilt, es gilt uneingeschränkt, es gilt bis zu dem Punkt, an dem deutlich wird, daß kein Mensch damit leben kann, daß jeder von uns einen anderen Gott braucht, der ihm entgegen allen Widersprüchen zum Leben hilft! Wenn es so steht, müssen alle Menschen einander alles vergeben, weil ihnen selbst alles vergeben wurde! Alle Gebete Jesu, alle Gleichnisse Jesu, alle Verhaltensweisen Jesu sind wie ein Kommentar zu diesem einen Wort: Das Gesetz gilt, aber es kann nicht angewandt werden, weil, wenn es Geltung hätte, jeder Mensch daran zerbräche. Wenn aber jeder am Gesetz scheitert, so brauchen wir eine Umgangsform für Zerbrochene, nichts weiter, und alles andere ist eine Selbsttäuschung, – die ganze Trennung zwischen Gut und Böse, zwischen Richtig und Falsch, zwischen Orthodox und Häretisch, zwischen Oben und Unten, zwischen Göttlich und Profan ist nichts als eine 350

eitle Illusion! In Wirklichkeit gibt es nur zerbrochene Menschen, jeder gehört dazu! «Siehst du,» sagt bei Dostojewski in den Brüdern Karamasow der Starez Sosima, der ein Mönch wurde, um der Gefahr, ein Mörder zu werden, zu entkommen, einmal zu dem jungen Aljoscha, «siehst du, Aljoscha, so mußt du denken: Wenn immer du siehst, daß jemand ein schweres Verbrechen begangen hat, wäre es dann möglich, daß er das getan hätte, wenn du selber, wenn ich selber ein anderer Mensch wäre?»4 Es ist das ohne Zweifel größte Wunder, das Jesus je im Neuen Testament gewirkt hat, daß er an diesem Morgen einer so sicher sich gebenden Klientel des jüdischen Gesetzes Augen schenkte für ihr eigenes Herz und sie, einen nach dem anderen, in Menschen verwandelte. Aus Anklägern wurden Einsichtige, aus Persekutoren und Exekutoren Leute, die nichts weiter mehr waren als Reumütige. Alle Grenzen öffnen sich in diesem Moment; denn was es fortan gibt, ist eine Menschheit, die in gemeinsamer Schuld und gegenseitiger Schuldigkeit zusammengehört. Ich entsinne mich eines Gesprächs, das ich vor vielen Jahren mit einem Juden am Ufer des Sees Gennesaret führte. Er sagte: «Ich bin kein Christ, ich glaube nicht in Ihrem Sinn an den Juden aus Nazaret. Aber mir will scheinen, er war eine der größten Gestalten der Menschheit. Er war ohne Zweifel eine ethisch höchststehende Persönlichkeit, ein großer Führer der Menschheit; aber für am größten an ihm halte ich, daß selbst er, gerade er, bitten konnte im Vaterunser: und führe uns nicht in Versuchung. Da muß er doch gewußt haben, was im Herzen eines Menschen vor sich geht. Das ist für mich das Große an Eurem Christus.» Worte wie diese aus dem Munde eines Juden sind wichtig, um dem Eindruck zu wehren, die «christliche» Interpretation des «Gesetzes» sei unjüdisch oder antijudaistisch; sie ist im Gegenteil eine prophetische Forderung innerhalb der biblischen Frömmigkeit selbst. Schaut man genau hin, so ist sie die einzige Antwort auf das Portrait unserer Existenz, das gerade der Jude Franz Kafka in seinen Romanen Das Schloß5 und Der Prozeß6 als die wohl sprechendsten Schlüsselerzählungen über die Verlorenheit des Menschen «vor dem Gesetz» im 20. Jh. gezeichnet hat. Die Welt einer kalten Ordnung ist absurd, unmenschlich, sadistisch und grausam – ein Leben In der Strafkolonie7, wie Kafka eine andere seiner Erzählungen nannte, eine Hinrichtungsmaschinerie, die es schon als «Gnade» erscheinen läßt, wenn der Delinquent im Moment seines Todes die Schuld wenigstens begreift, die ihm in den Leib gefräst wird. Was Jesus des weiteren tut, paßt ganz und gar in die Spannung dieses Augenblicks. Er beugt sich wieder vor, ganz im Einklang mit dem, was er 351

sprach; alles, was nun geschehen wird, kann er nicht vorschreiben, nicht kommandieren, nicht zum Befehl machen; entweder es ereignet sich oder es ereignet sich nicht. Entweder die Leute gelangen in diesem Moment zu sich selbst oder sie gehen an sich selber vorbei und dann allerdings über Leichen; dann wird nichts mehr sie aufhalten. Nur wenn es gelingt, die gesamte geistige Energie nach innen zu wenden und auf die Mitmenschen hin zu öffnen, wird diese Frau zu retten sein. – Und es gelingt! Als sie alle verschwunden sind, richtet Jesus sich auf zu der Frau, und es ist wie eine Bilanz, wenn er zu ihr sagt: – «Frau, wo sind sie? Hat keiner dich verurteilt?» – «Nein, Herr», sagt sie, «keiner» – so als spräche sie mit der Anrede «Herr» ihm jetzt das letzte, alles entscheidende Urteil zu. Nach der kirchlichen Dogmatik sollten wir denken, Jesus selbst sei der ganz Sündenlose, eben der Gottmensch gewesen, der in seiner Menschlichkeit vielleicht hätte verleitet werden können, nicht aber in seiner göttlichen Person, – alle «Versuchungen» dienten deshalb bei ihm allenfalls als mildtätige Vorbilder für unsere eigene schwache Menschennatur. Der Jesus indessen, der an dieser Stelle wirklich geschildert wird, ist uns viel näher, eben dadurch freilich auch um so viel entfernter von uns. «Auch ich verurteile dich nicht», sagt er, – «und ich will es auch nicht», müßte man ergänzen; «ich bin kein besserer Mensch als sie. Du bist frei!» An dieser Stelle weisen die Exegeten für gewöhnlich darauf hin, daß Jesus die Frau entließ mit den Worten: «und von jetzt an sündige nicht mehr – weal thächäte’í od» – das ist ein Imperativ auf Dauer, nicht nur im Moment, sondern für immer. Sündige nicht mehr! Man hat vielleicht nicht das Recht, so zynisch zu sein wie in dem Film von David Lean aus dem Jahre 1965 über den großen Roman von Boris Pasternak Doktor Schiwago; da fragt ein Mönch eine Frau: «Und hat sie das Gebot gehalten?» – «Natürlich nicht!» ist die Antwort. – Wir wissen nicht, was aus der Frau in dieser Geschichte wurde; nur soviel scheint klar, daß eine Rückübersetzung dieses Jesus-Wortes aus dem Griechischen ins Hebräische noch einen anderen Akzent nahelegt; nicht: «Sündige nicht mehr!» – sondern eher: «Du wirst jetzt nicht mehr das tun, was du tatest; du bist aus dem ganzen Raum der Schuld herausgenommen, du unterliegst nicht mehr dem Urteil der anderen; der einzige, der in alle Zukunft beurteilen darf, was du bist und wer du bist, ist Gott.» – Das ist kein «Freispruch», aber auch keine Anklage, es bedeutet in einem absoluten Vertrauen die Aushändigung eines Menschen in die Hände seines Gottes. Da herrscht nicht die mindeste Angst, daß dieses Vertrauen durch Willkür mißbraucht würde. Es gilt vielmehr die Erfahrung, einer Person begegnet zu sein, die genau die Polaritä352

ten nicht in ihr Leben aufnimmt, die das Menschenleben sonst verwirren: dafür oder dagegen, Gesetz oder Anarchie; diese Frau beschreitet fortan eben den Weg, den Jesus vorangeht: nicht zu urteilen, nicht zu verurteilen, nicht zu richten, nicht hinzurichten, aber aufzurichten, zu klären und Mut zu einem neuen Leben zu schenken. Setzen wir nur einmal, daß diese Frau in den Ehebruch kam, weil sie kaum wußte, wer sie war, weil sie mit ihren Gefühlen, mit ihrer ganzen Person eine Abhängige war. In diesem Moment hört sie auf, von irgend jemandem abzuhängen, im Negativen nicht, im Positiven nicht. Hier wird sie sie selbst, und was immer sie jetzt tun wird, liegt ganz und gar bei ihr. Jesus hätte auch sagen können: «Geh in dein Leben», oder: «Mach etwas aus dir», oder: «Lerne, glücklich zu sein mit allen Kräften deiner Seele, deines Herzens, deines Geistes; sei du die Frau, die du immer sein mochtest …» Wie dieses weitere Leben dann «ohne Sünde», geklärt, sich vollzieht, ist durchaus offen. Theodor Fontane zum Beispiel erträumte in seiner Erstlingserzählung L’ Adultera (Die Ehebrecherin) sich einen Fortgang der Geschichte, bei dem die Frau ihrem neuen Geliebten treu bleibt und ihr alter Ehemann, bei allem Schmerz, sie begreift und sich mit ihr aussöhnt8. Die Geschichte muß nicht von vornherein und unbedingt mit der gesetzesverpflichteten Rückkehr in eine unhaltbar gewordene Ehe enden. Die Freiheit Jesu jedenfalls ist offen für Entwicklungen, die spätere Generationen in einer Geschichte entdecken mögen, die zu einer Zeit entstand, als die ganze Vielfalt, die sich da öffnet, nicht einmal von den Betreffenden selber auch nur entfernt absehbar war. Es gibt bei Khalil Gibran in seinem Buch Jesus Menschensohn eine Stelle, die wie zur Zusammenfassung von allem Gesagten dienen kann. Eine Frau, Barbara von Yammuni, spricht dort über die Geduld und die Ungeduld Jesu9. Vielleicht ist an seiner Gestalt diese Spannung in der Tat am allermeisten rätselhaft: Aus dem Munde gerade dieses Mannes, der so sanft reden kann wie hier, brechen an anderen Stellen Worte hervor wie Flüche über ganze Städte (Mt 11,20-24). Er kann so segnend sein und so verdammend, so ungeheuer groß in den Spannungspolen seiner Existenz, daß es schwerfällt, diese Ursprungseinheit, wie sie uns in dieser Geschichte begegnet, wirklich zu begreifen. Barbara von Yammuni indessen bringt es als Gegensatz und Spannung auf ihre Weise zum Ausdruck:

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Jesus war geduldig mit den Schwerfälligen und Stumpfsinnigen wie der Winter, der gelassen den Frühling erwartet. Er war geduldig wie ein Gebirge im Wind. Er antwortete freundlich auf die listigsten und angrifflustigsten Fragen Seiner Gegner. Und Er schwieg angesichts von Spitzfindigkeit und Streitlust, denn Er war stark, und der Starke vermag nachsichtig zu sein. Doch Jesus konnte auch ungeduldig werden. Den Heuchler verschonte Er nicht. Und den Verschlagenen und Wortverdrehern machte Er keine Zugeständnisse. Auch ließ Er niemanden über sich bestimmen. Mit denjenigen, die nicht an das Licht glauben, weil sie selber im Schatten leben, und mit denen, die nach Zeichen am Himmel Ausschau halten, statt ihr eigenes Herz zu befragen, konnte Er sehr ungehalten sein. Ebenso wie mit denjenigen, die Tage und Nächte wiegen und messen, bevor sie ihre Träume dem Morgenrot oder der Abenddämmerung anvertrauen. Jesus war der Geduldigste aller Menschen und gleichzeitig der Ungeduldigste. Er ließ euch das Tuch weben, auch wenn es bedeutete, daß ihr damit Jahre am Webstuhl zubringen mußtet. Doch er ließ es nicht zu, daß jemand auch nur einen Zoll dieses gewebten Tuches zerriß.

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Joh 8,12-20: Ich bin das Licht der Welt 12Wiederum

dann zu ihnen erhob Jesus die Stimme, er sagte: Ich bin das Licht der Welt (1,5; Jes 42,6; 60,20; Mt 5,14-16). Wer mir folgt, nein, nicht muß der seinen Weg in der Finsternis machen, sondern er wird das Licht des Lebens haben. 13Sprachen da zu ihm die Pharisäer: Du – über dich selbst legst du ein solches Zeugnis ab! Dein Zeugnis ist nicht wahr (5,31). 14Geantwortet hat Jesus, er sprach zu ihnen: Auch wenn ich ein Zeugnis über mich selber ablege, wahr ist mein Zeugnis doch; denn ich weiß, woher ich komme und wohin ich gehe (7,28). 15Ihr – rein irdisch urteilt ihr; ich – nein, ich beurteile niemanden (3,17). 16Und wenn ich doch urteile, so ist mein Urteil wahrhaftig, denn allein bin ich nicht, sondern ich und er, der mich gesandt hat, der Vater. 17Auch im Gesetz, in eurem, steht geschrieben, daß zweier Personen Zeugnis wahr ist (Dtn 17,6; 19,15). 18Ich bin es, der über mich Zeugnis ablegt, und es legt Zeugnis ab über mich der mich gesandt hat, der Vater. 19Sagten drauf sie zu ihm: Wo ist (denn) dein Vater? Geantwortet hat Jesus: Weder mich kennt ihr noch meinen Vater. Würdet ihr mich kennen, würdet ihr auch meinen Vater kennen (14,7). 20Diese Worte sagte er beim Opferstock, als er im Heiligtum lehrte. Doch keiner ergriff ihn, denn noch war seine Stunde nicht gekommen (2,4; 7,30).

Die Geschichte, die dieser Offenbarungsrede vorausging, spielte auf dem Tempelplatz von Jerusalem, und sie erzählte, wie Jesus das Leben eines jungen Mädchens gerettet hat, das wegen Ehebruchs gesteinigt werden sollte. Vordem hatte Jesus sich gegenüber den Vorwürfen der Pharisäer und der Schriftgelehrten zu rechtfertigen, die ihm entgegenhielten, daß in seiner Botschaft, in seiner Person, in seiner Haltung und in der ganzen Art seines Verhaltens etwas Widergöttliches, etwas Aufrührerisches liege; denn er hatte einen Menschen von Gelähmtheit geheilt – am Sabbat! Dieser Konflikt ist noch lange nicht beendet. Im Gegenteil. Er hat bisher stetig zugenommen, indem Jesus Brot vermehrt hatte auf dem Berg, und dann war er über das Wasser gegangen auf die andere Seite des Sees von Gennesaret. Auch da entspann sich eine lange Diskussion, darin endend, daß Jesus erklärte, er sei das Brot des Lebens (Joh 6,35). Dieses Bildwort ist im Grunde die Überleitung zu der Offenbarungsrede jetzt, die mit der Aussage beginnt: Ich bin das Licht der Welt. Wo immer man beginnt, das Johannes-Evangelium zu lesen, stößt man auf eine Seltsamkeit: seine Aussagen scheinen rätselhaft, man weiß nicht 355

recht, was damit gemeint ist. Der Anspruch, das verrät jedes Wort, geht ins Enorme, ins Absolute, aber warum? Was verbirgt sich dahinter? Das Problem ist vergleichbar mit einer Situation, die wir alle kennen: Eines der Kinder, der eigene Mann oder die eigene Frau ist krank; wir eilen zum Apothekenschrank und suchen dringlich nach einer geeigneten Medizin, wir finden auch eine, aber wie es der Zufall will, – der Beipackzettel scheint vor langer Zeit verlorengegangen zu sein. Da ist ein Arzneimittel in unserer Hand, seine Aufschrift verrät, daß ihm eine entscheidende Bedeutung zukommen könnte, aber in welchem Zusammenhang, gegen welche Krankheit eigentlich und in welcher Dosierung? Alle Angaben für die rechte Verwendung fehlen. Ich bin das Licht der Welt – das ist die Überschrift und die Aufschrift dieses Abschnitts im Johannes-Evangelium, und jeder scheint zunächst begreifen zu können, was da gemeint ist. Man hört den Satz gewissermaßen mit altägyptischen Ohren: So und nicht anders hätten die Pharaonen am Nil sprechen können über den gewaltigen Zeitraum von fast viertausend Jahren hinweg. Genauso nannte im 14. Jh. v. Chr. der Ketzerkönig von Amarna, Amenophis IV., seinen Sohn: «Du bist die lebende Gestalt des Sonnenlichts – Tut anch aton.» Da gilt jemand als machtvolles Zentrum eines ganzen Reiches, ja, dem Selbstverständnis der Religion nach, sogar als Mitte der ganzen Welt. Dieser Pharaonentitel Licht der Welt klingt religionsgeschichtlich noch in diesem Selbstanspruch nach, mit dem der Jesus des Johannes-Evangeliums hier auftritt; es ist eine fast maßlose, geradezu «heidnische» Rede, die ihm da in den Mund gelegt wird. Aber blieben wir bei solchen Erklärungen stehen, so würden wir mit dem «Medikament», das doch in all den Worten des johanneischen Jesus enthalten ist, so verfahren, wie wenn wir im Vergessen der Gebrauchsanweisung das Tablettendöschen nähmen und aus ihm eine Ikone schüfen, indem wir es an exponierter Stelle an der Wand anbrächten. Jeden Tag könnten wir danach damit zubringen, dieses Heilmittel hoch zu achten, uns vor ihm zu verneigen, es mit feierlichen Gebeten zu beschwören, nur – das Medikament zu gebrauchen lernten wir auf diese Art nimmermehr. Wir verstünden vor allem immer noch nicht, gegen welch eine Art von Krankheit es eigentlich hilfreich sein soll. Ganz anders also müssen wir das Johannes-Evangelium lesen, gewissermaßen indem wir es Satz für Satz, Tablette für Tablette, im Selbstexperiment auf der Zunge zergehen lassen und an den Wirkungen, die wir bei uns feststellen, herauszufinden suchen, welch eine Not einmal mit dieser Arznei besänftigt, beruhigt, ja, geheilt werden sollte. Man sagt, abgekürzt, das Johannes-Evangelium habe seinen religions356

historischen Bezug in jener geistigen Bewegung, die wir schon als die Gnosis kennengelernt haben, eine geistesgeschichtlich große, in vielem sogar entscheidende Neuorientierung des menschlichen Selbstverständnisses, die damals vor allem in den Mysterienkulten im ganzen hellenistischen Kulturraum prägend und maßgebend wurde. Aber was ist mit diesem Wort von der «Gnosis», von der Erkenntnis, gemeint, und was hat es uns Heutigen zu sagen? Beginnen wir einfach einmal damit, daß wir dem Bild vom Licht des Lebens selber nachträumen. Nehmen wir es so wörtlich, wie es klingt, dann verstehen wir alsbald, daß es nichts Wichtigeres und Kostbareres für alles Leben auf unserem kleinen Planeten im Umlauf um die Sonne gibt als das Licht, das in überwältigender Fülle vom Zentralgestirn ausgesandt wird. Licht ist eine so grundlegende Voraussetzung für alle biologische Entfaltung auf der Erde, daß noch vor der Differenzierung in Pflanzenzellen und Tierzellen bereits einige Grundprozesse wie der Tag-Nacht-Rhythmus im Inneren der Organismen etabliert wurden. Ohne die außerordentliche Energieabstrahlung der Sonne hätte sich so etwas Komplexes und Kompliziertes wie auch nur die einfachsten Strukturen des Lebens auf dieser Erde nie entwickeln können. Dabei gelangt nur ein verschwindender Bruchteil der Energiemenge, die die Sonne im ganzen abgibt, auf die Erde. Dieses Wenige und Winzige, das dann doch noch die Erde erreicht, ist zwar immer noch unvorstellbar groß, in seinem Schatten aber bildet sich gleichwohl das Problem des Energiemangels. Es waren vor allem die Pflanzen, die es verstanden haben, das flutende Licht der Sonne so zu nutzen, daß sich seine Energie in speicherbare chemische Energie umwandeln ließ. Das Chlorophyll wurde zu einer der rätselhaftesten und wunderbarsten Hervorbringungen der Evolution. Mit seiner Hilfe wurde es in der Photosynthese möglich, Zucker, Cellulose und Stärke herzustellen und Fette sowie Proteine aufzubauen. Auf der Grundlage der Pflanzen mit ihrer Erfindung des Chlorophylls entstand das Leben pflanzenfressender Tiere, entstand das Leben fleischfressender Tiere, entstand der Kampf ums Leben unter den Tieren. Begonnen aber hat dieser Kampf nicht erst mit den Tieren, er war bei den Pflanzen längst voll im Gange. Man betritt eine Waldlichtung und findet hier einen Grashalm, dort eine Blume, daneben den Trieb eines Baumes, der sich entfalten will, und man ahnt, daß alles, was da aufwächst, seinen Platz im Licht zu behaupten sucht. Geringfügige Unterschiede des Standorts, ein paar Zentimeter unterschiedlicher Größe, wenige Zentimeter seitab im Schatten eines schon gewachsenen Baumes entscheiden buchstäblich über Leben und Tod. Was so friedfertig und so 357

schön aussieht, wie auch nur eine blumenbestandene Wiese, ist in Wirklichkeit ein ständiges Ringen um die Mangelware Energie, um die Kostbarkeit, die sich verschwendend von der Sonne ausschüttet und doch nie alle hinlänglich erreicht. Und bei den Tieren noch sehr viel krasser. Man schaltet das Fernsehen ein und schaut einem Tierfilm aus der Serengeti oder aus dem Okawangobecken zu; man ist begeistert von der Schönheit der Arten: Da grast ein Zebra, – allein schon die Grazilität seiner Gestalt und seiner Bewegungen kann verzücken. Kaum jemand aber ahnt, daß allein schon die Streifenform des Zebras vermutlich «erfunden» wurde im Überlebenskampf gegen die Tsetsefliege: sie kann die Streifenmuster optisch nicht sinnvoll auflösen und somit ihre «Nahrungsquelle» nicht sehen. Man muß sozusagen die Optik eines Insektenauges kennen, um den Überlebensvorteil auch nur der Fellfärbung, der Streifenanordnung eines großen Säugetiers zu verstehen. Das Kleinste hängt da zusammen mit dem Gewaltigsten und das Größte wieder mit dem Kleinsten; alles aber ist darauf berechnet, minimale Unterschiede im Kampf ums Überleben des einen gegen den anderen zu nutzen. Man sieht dieselbe Zebraherde sich an die Tränke drängen, man gönnt in der Gluthitze Afrikas den Tieren die Erholung; dann aber erblickt man eine Löwin, wie sie durch das Gebüsch heranschleicht, ihr ganzer Körper gespannt wie ein Katapult, wie eine sprungbereite Feder, und das Dilemma läßt sich nicht lösen: Soll man dem Zebra das Entkommen wünschen und damit der Löwin und ihren Jungen das Hungern und das Verhungern, oder soll man wünschen, daß ihre grausamen Pranken sich in das fühlende Fleisch eines empfindsamen Säugetieres schlagen? Ein Kampf ums Überleben, grausig und grausam, – und schon kreisen darüber die Geier. Das ist Licht auch: eine Lebensgrundlage, um die es zu kämpfen gilt, die fundamentale Bedingung für ein großartiges, abenteuerliches, spannendes, myriadenhaft vielfältiges Leben, unerreichbar im Phantasiereichtum seiner Formenhervorbringung, unvorstellbar großartig und majestätisch in seinen Gesetzen, die, wie die Hände eines Organisten die Vielzahl der Register einer Orgel bespielen, die Mannigfaltigkeit des Lebens zur Erscheinung bringen, aber dann doch auch wieder so, daß wir Menschen beim Anblick dieser Natur schwermütig und traurig werden; – zu viele Fragen, Rätsel und Widersprüche bleiben. Vor 540 Millionen Jahren wird das Licht in den Photorezeptoren von Tieren zum Sehen genutzt – und schon explodiert das Leben zu einer weiteren Fülle bis dahin ungeahnter Variationen; aber es geht als erstes nicht um Reichtum, Schönheit und Glück, es geht um die Verbesserung der Jagdtechniken oder Fluchtstrategien, es geht um Tarnung 358

und Mimikry, und es geht um das erfolgreichere Anlocken von Geschlechtspartnern; – ist das das Leben? Genau dieses Weltempfinden von Entsetzen und Ohnmacht war es, das vor 1800 oder 1900 Jahren in der Spätantike die Einstellung des Menschen zur Natur, zur Welt, die ihn umgibt und in der er lebt, noch einmal ganz neu überdenken ließ. Was wir Gnosis nennen, ist in der Tat soviel wie die Beschreibung einer Krankheit, einer tödlichen Bedrohung der menschlichen Existenz aus dem Geist. Es ist vielleicht das erste Mal (unabhängig vom Buddhismus womöglich, um 500 v. Chr. in Indien), daß so etwas droht wie ein Streik der Vernunft. Da leben Menschen, sie schlagen ihre Augen auf im Sonnenlicht, und sie vertragen das Schauspiel nicht mehr, das sich ihnen bietet. Sie wollen diese Welt nicht mehr, und zwar nicht mehr nur irgendein Detail an der Welt, sondern sie protestieren gegen ihre Voraussetzungen im ganzen: gegen die Gesetze, nach denen sie antritt, speziell gegen die Unbarmherzigkeit, die in sie eingeschrieben ist. Es gibt christliche Gnostiker wie den Kirchengründer Marcion, die den Zustand der Welt beklagen, indem sie ihn auf einen üblen Weltenbaumeister zurückführen, auf einen bösen Gott oder gar auf den Teufel selbst, – eine Vorstellung, die sich im christlichen Dogma immer noch erhalten hat in der Idee, irgendein böser Geist habe dem guten Gott bei der Schöpfung der Welt ins Handwerk gepfuscht. Wie ungereimt es sich mythisch auch anhört, – dahinter steckt ein sehr ernstzunehmendes Grundempfinden: Wie kann ein Mensch leben mit menschlichen Gefühlen, mit menschlichen Vorstellungen von Sinn und Ordnung in einer Welt, die, je mehr er darüber nachdenkt, ihm desto fremdartiger wird, ja, unerträglich am Ende? Irgend etwas regt sich in ihm, sich zu weigern, irgend etwas rebelliert in ihm gegen den Zynismus dieser «Ordnung», die Schmerz nie als ein Argument begreift, etwas sein zu lassen, sondern die rücksichtslos immer weiter voranschreitet. Kein Mensch dürfte so handeln, wie die Natur allerorten mit ihm und mit allen Wesen an seiner Seite verfährt. Der Kontrast, der Abstand zwischen Mensch und Welt tut sich auf wie ein Abgrund. Man muß diese religions- und geistesgeschichtliche Krise sich nur in allen Konsequenzen vor Augen führen, dann erkennt man, daß hier nicht mehr nur der Mensch und seine Position in der Welt zur Diskussion steht, sondern alles, auch der Hintergrund von beiden, von Mensch und Welt: auch Gott! Es scheint keine einzige Frage mehr zu geben, die sich im Gegenüber der sichtbaren Wirklichkeit noch beantworten ließe, und aus den Zweifeln an allem wird die Verzweiflung über alles, sie übersteigt ins Maßlose jede mögliche Antwort. 359

Wir können, was als Problemstellung aus der Geschichte der Religionen überkommen ist, uns auch vorstellen als eine Infragestellung im kleinen. Weniger universell, individuierter, kann die gleiche Verunsicherung einen jeden von uns betreffen. An unserer Seite wird ein Mensch plötzlich und sinnlos in den Tod gerissen. Wir haben ihn geliebt, er war all die Zeit über das Zentrum unserer Existenz, er war unser Halt, unsere Freude, unsere Begleitung, und irgendein nichtiger Zufall konnte genügen, um ihn in den Tod zu stürzen. Da bricht es wieder auf unter unseren Füßen, dieses Rätsel des Lebens! Soll so etwas unausdenkbar Kostbares wie ein einzelner Mensch auch nur zu nichts anderem hervorgebracht worden sein als zum Spiel der Natur? – Oder: es kann sein, daß wir uns mit ganzem Bemühen wer weiß wie angestrengt haben, etwas Bestimmtes zu erreichen, das uns wichtig schien und bedeutsam, und es wird uns aus der Hand genommen wie einem Kind, das sich an seinem Räppelchen freuen wollte – ein Nichts, als wenn es darauf gar nimmer ankäme! Alles, was wir da waren, was wir sein wollten, ist wie entschwunden. Wie tröstet man Menschen, die sich so fühlen, – derart alleingelassen vom Schicksal, derart sinnentleert durch das launenhafte Spiel des Lebens? Und vom anderen Ende her: Wer sind denn wir selber? Das sind die Fragen. Es gibt Ärzte, die im Raum der Psychotherapie auf die gesunden Kräfte des menschlichen Instinkts setzen. Biologisch erzogen, wie sie sind, vertrauen sie auf den Appell an den Überlebenswillen. In ihren Augen sind die Menschen so etwas wie kranke Tiere, und wenn sie am Geist zu sehr erkranken, so müßte es doch möglich sein, im Ausgleich dagegen die vitalen Kräfte wieder zu stärken. Also verschreiben sie dem Patienten eine Kur im Sonnenschein: – Spaziergänge, Tanzen, Würstelbraten – irgend derlei, Freude am Leben! auch mal unter Menschen gehen! und Bier trinken! mal richtig Skat spielen! irgendwas Vernünftiges tun! Das ist die Antwort, so vertrauen sie zuversichtlich, auf derartige Gemütsverstimmungen. Es war im 19. Jh. Friedrich Nietzsche, der in aller Deutlichkeit diese Spannung zwischen Natur und Christentum formulierte: Er sprach das Christentum schuldig, er setzte es in den Vorwurf, die natürlichen Instinkte des Menschen mit einer Art von Schimmel und Ekel gegenüber dem Natürlichen zu korrodieren; Nietzsche wollte gerade die unverfälschte Raubtiernatur des Menschen wiederbeleben1. Er wollte in gewisser Weise die Nichtzernagtheit des Einzelnen von ständigen Reflexionen und moralischen Skrupeln zurückholen und den Menschen unmittelbar sich wieder vermählen lassen mit der Welt, die ihn umgibt, gräßlich und groß, großartig und grausig. In all ihren Gegensätzen sollte er sie aushalten und aus360

tragen. Die Nietzschesche Kur scheint uns im Rückblick von hundertdreißig Jahren schrecklich mißlungen. Mit Büchern wie Also sprach Zarathustra im Tornister ging eine ganze Generation 1914 in das, was man später den Ersten Weltkrieg nannte. An Mut, an Willen zum Bestialischen hat es nicht gefehlt, aber der Schrecken selbst über diese Art der Heilung verschlägt einem postum die Sprache. Wir sagten schon zum Johannes-Prolog, daß das Vierte Evangelium auf genau diese Art von Verzweiflung, die wir zeitgeschichtlich die Gnosis nennen, antworten wollte und daß es sehr leise hineinredet auch in die ganz private Lebensnot eines jeden Einzelnen von uns über die Jahrtausende hinweg – wirklich wie ein wohl zu destillierendes Medikament. Es ist wahr: jede Medizin kann in falschem Gebrauch wirken wie Gift; sie kann das Leben zerstören, indem man sie falsch einsetzt, aber geben wir nur erst zu, daß nicht einmal das fließende Licht der Sonne auf dieser Erde eine unverfälschte Grundlage für Hoffnung und Vertrauen zu bieten vermag, dann braucht man lebensnotwendig diesen Neueinsatz, den das Johannes-Evangelium versucht. Es nimmt fast alles, was in der Natur einmal schön war, beiseite und rettet es zugleich, indem es daraus ein Symbol macht. Essen, Trinken gehören zur leiblichen Existenz, aber wem nichts mehr schmeckt, weil es ihn förmlich anwidert, der bedarf eines neuen Grundes, der wird sich weigern, überhaupt noch zu leben, wenn er ihn nicht findet. Wie schenkt man Menschen den Geschmack am Leben zurück? Das war die Frage schon im 6. Kapitel des Johannes. Ich bin das Brot des Lebens, sagte Jesus dort (Joh 6,35). Aber nun kommt es eigentlich noch grundlegender. Es geht an die Quelle aller Energie, es geht an das Licht selbst. Man muß sich dabei noch vorstellen, wie auch in der Kulturgeschichte über die Jahrhunderttausende hinweg sich Menschen bemühen, in der Kälte des Winters und im Dunkel der Nacht Licht und Wärme zu schaffen. Es ist eine der frühesten Erfindungen der Menschheit, gegen die Bedrohung der Finsternis und gegen den Tod in der Kälte sogar die Angst vor dem Feuer aus Vulkanen und Steppenbränden besiegt zu haben, bis daß sie es schließlich lernten, mit eigenen Händen Feuer zu schlagen beziehungsweise zu quirlen. Über mehr als fünfhunderttausend Jahre auf diesem Planeten muß die Werdegeschichte der Entstehung des Menschen als eines intelligenten Wesens verbunden geblieben sein mit der Kultur, Feuer zu beherrschen und sogar künstlich zu gewinnen. Welch ein Symbol könnte tiefer besänftigen als Licht und Feuer? Wenn Jesus an dieser Stelle im Johannes-Evangelium das Bild vom Licht auf sich, auf seine eigene Person, zieht, so steht dahinter das Wissen, daß 361

einen Menschen in seiner Daseinsangst, in seiner Verzweiflung buchstäblich nichts beruhigen wird außer ein menschliches Gegenüber. Das ist das ganze Geheimnis, auf das kein ärztliches Attest, auch keine Gesundverschreibung verfallen wird. Es gibt nichts Äußeres zu tun, – keine Verordnung, kein Rezept, das man dem anderen aufschreiben könnte, das einzige, was dem anderen in der Not seiner eigenen, persönlichen Erfahrung hilft, kann in sich selbst nur eine andere Person sein. Das ist ja die Frage aller Verzweifelten: Wofür denn bin ich? Weshalb denn bin ich in dieser oft so fremden, widersprüchlichen, ja, widerwärtigen Welt? Was ist gemeint mit mir? Gerade im Kontext dieser Frage tritt Jesus hier auf. Er möchte mit seiner eigenen Person erreichen, daß die Menschen an seiner Seite, jeder Einzelne, nicht länger mehr dahingehen in Finsternis, in Seelenumdüsterung, in «Aussichtslosigkeit» ganz buchstäblich. Wenn das Licht ein tiefes Symbol dafür ist, daß uns die Augen aufgehen und wir eine Perspektive in unserem Leben gewinnen, daß es ein inneres Durchfluten von Licht und von Einsicht gibt, dann ist umgekehrt die Finsternis, dann ist die Dunkelheit das genaue Gegenstück davon. Man sieht und begreift nicht, man schaut und weiß doch nicht mehr, in welche Richtung. Alles flirrt und flimmert vor den Augen oder es entzieht sich wie in Nebel und Dämmerung. Es gibt keine Hoffnung mehr, es gibt kein Sinngefüge mehr, man klebt gewissermaßen zweidimensional an einer steilen Wand und findet keinen Weg, der über sie hinausführt; unter ihr aber gähnt der Abgrund. Jesus wollte auf dieses Gefühl antworten, indem er sagte: Ich bin das Licht. Das sollte heißen: es lohnt sich, die Augen aufzuschlagen und diese zerbrochene Welt noch einmal neu anzuschauen, mit meinen Augen. Was damit inhaltlich gemeint ist, sagt uns das Johannes-Evangelium nicht, – der ganze Beipackzettel ist verschwunden. Wir müssen es ergänzen, indem wir sagen: «Wenn der Anblick der Welt dich quält – du hast die Augen aufgemacht und du bist entsetzt, tödlich entsetzt, mitansehen zu müssen, daß alles Leben nichts weiter sein soll als ein Kampf auf Leben und Tod, und du erträgst diese Wirklichkeit keinen Tag mehr –, dann bin ich der Ort, an dem du findest, daß es mitten in dieser grausig großen Welt trotz allem möglich ist, eine ganz kleine und doch unendlich starke Form der Liebe zu leben und zu pflegen. Es ist immerhin möglich, menschlich zu sein und menschlich zu werden inmitten dieser so unmenschlich scheinenden Welt. All ihre Gesetze begründen nicht dich, aber ich mit meiner Person erkläre: es ist möglich, gegen all das, was du sonst siehst, gegen den primitiven Hunger und gegen den brutalen Egoismus, der aus dem Hunger erwächst, 362

gegen den Krieg, der aus dem Egoismus entsteigt, eine innere Großzügigkeit zu setzen, das Verstehen zu setzen, das gemeinsame Teilen zu setzen. Nur so leben Menschen als Menschen miteinander, und erst wenn du das spürst, wirst du den Mut finden, neu in dieses Leben zu treten. Die alte Welt wird dir nie mehr eine Antwort bieten, aber eben deshalb bin ich gekommen, um dir das zu sagen: ‹Siehst du, das ist ein wirkliches Licht, daß deine Augen zu leuchten beginnen. Es schafft einen Sinn, den du sonst nirgendwo sehen könntest, und dieser Sinn ist ganz und gar menschlich.› Doch selbst um zu den Menschen zu finden, bedarfst du meiner, als des Menschensohns. Denn auch das Sprechen vom Menschen ist fragwürdig. Du schaust in die menschliche Geschichte, und du stößt auf dasselbe Entsetzen wie in der Natur: Wann je wären Menschen in ihrer Vergangenheit denn menschlich gewesen? Was alles haben sie getan in ihrer Geschichte, und waren sie am Ende nicht noch glücklich über ihre Untaten und sangen ihre Siegeslieder?» Ein winziges Beispiel: Am 12. Dezember 1937 erobert die japanische Armee, nachdem sie Peking und Shanghai besetzt hat, als drittes Nanking. Befehlsgemäß, nach höchster Order, werden in einem Monat in der von allen Reichen und Mittelständlern längst verlassenen Stadt, wo im wesentlichen nur noch Frauen und Kinder, alte und arme Leute ausharren, 250 000 Menschen völlig sinnlos niedergemetzelt mit allem, was zum Töten hilft: Bajonetten, Schwertern, MGs; keine Frau bleibt von männlicher Willkür verschont. Doch während das passiert, wird der japanische Nachrichtendienst ASARI über den Rundfunk vermelden, daß die kaiserliche Armee im Sieg für den göttlichen Tenno in einem dreifachen Hoch für seine Majestät so laut gerufen habe, als sollten Himmel und Erde erbeben. Und der faschistische Nachrichtendienst in Deutschland und Italien feiert den ostasiatischen Verbündeten. Der Opfer gedenkt niemand; bis heute muß es ein seltener Mensch sein, der sich in Japan wollte entsinnen der Greueltaten in Nanking. Eigentlich hat es sie nie gegeben – Nanking, wo liegt das? Und wer war General Matsui, der das Massaker befohlen hat und später durch die Alliierten hingerichtet wurde? Er hat seine Pflicht getan. – Überall kann man derartige Betrachtungen anstellen, und es ist ihrer kein Ende. Das Grausen vor den Menschen kann noch schlimmer sein als das Schaudern vor den Kreaturen. Die fühlen und tun lediglich, was und wie sie müssen; aber wir Menschen, sollte man glauben, könnten nachdenken. Doch wie weit entfernt liegt der Trost, den wir bräuchten, um wenigstens der menschlichen Geschichte standzuhalten! Es gäbe eine Erlaubnis zur Güte! Diese Erlaubnis, noch einmal betont, stellte alles in 363

Frage, was sonst «normal» ist, sie drehte die ganze Weltordnung auf den Kopf, und doch wäre sie das einzige Licht, das in dieser Düsternis uns wieder sehend machte. Nichts anderes ist möglich, es gibt nur diese eine Perspektive nach vorn. An sie gebunden ist die ganze Botschaft Jesu. In diesem Licht besteht sie, – das will das Johannes-Evangelium sagen. Die Krankheit, auf die sie antworten möchte, ist der Schrecken und die Angst vor der Grausamkeit einer Welt, die Menschen auf der Suche nach dem, was sie sind, nicht verstehen können, ja, gar nicht akzeptieren dürfen, wenn sie wirklich Menschen sein wollen. Orientiert man die Fragestellung in dieser Weise, begreift man, warum das Gespräch an genau dieser Stelle nur so weitergehen kann, wie es tatsächlich weitergeht. Die Pharisäer erklären Jesus: Du – über dich selbst legst du ein solches Zeugnis ab! Dein Zeugnis ist nicht wahr. Schon im Munde Johannes’ des Täufers tauchte dieses Problem auf (Joh 5,31-35). Es ist die Frage, die jeder Mensch sich stellen muß: Wer ist er selbst? Es ist wahr, daß der Einwand der Pharisäer gilt. Würde ein Mensch erklären: «Ich bin das, wozu ich mich selber bestimme, ich erkläre, wer ich selber sein will», so würde er sich nur um die eigene Achse im Kreise drehen. In der Philosophie Europas diskutierte man noch vor fünf Jahrzehnten innerhalb des Existentialismus genau dieses Problem: Was eigentlich ist ein Mensch? Vor allem der französische Existentialist Jean-Paul Sartre erklärte: «Wir Menschen sind keine Gegenstände. Ein Messer wird gemacht, um zu schneiden; sein ganzer Zweck liegt in seiner Struktur. Seine Essenz geht seiner Existenz voraus. Ein Mensch wird überhaupt nicht für etwas gemacht, er hat durchaus keine vorauslaufende Bestimmung, er ist einfach. Was er ist, bestimmt er selbst; eben deswegen ist er frei. Er entwirft sich, er entscheidet sich, und aus seinen Beschlüssen formt sich sein Leben, sein Charakter, das, was er ist, seine ganze Bedeutung. Er verleiht sie einzig sich selbst. Selbst was die Gegenstände und Lebewesen an seiner Seite bedeuten, hängt ab von den Bedeutungen, die er selber sich verleiht, hängt ab von dem Sinngefüge, das er sich erbaut.»2 Verhielte es sich so, stünden wir bei dem äußersten Gegensatz zu dem, was das Johannes-Evangelium im Munde Jesu hier sagt. Es fleht uns förmlich an, so nicht leben zu wollen. Denn bliebe das die letzte Auskunft, so wären wir nichts weiter als ein unendlicher Versuch, eine Wanderdüne zu erklettern, deren Sand unter unseren Füßen noch viel schneller fortrinnt, als unsere Beine sich bewegen können; das eigene Gewicht würde immer mehr Material unter die Füße treten, je höher wir zu klimmen versuchten. Es wäre ein Leben, das immer wieder gegen seine Nichtigkeit ankämpfen 364

müßte, um gegen seinen Selbsthaß etwas Ordentliches, etwas jeder Kritik Standhaltendes aus sich hervorzubringen. Es ist eine unglaublich gütige Antwort, wenn Jesus an dieser Stelle sagt: Auch wenn ich ein Zeugnis über mich selber ablege, wahr ist mein Zeugnis doch; denn, so begründet er es: Ich weiß, woher ich komme und wohin ich gehe. Das ist die Perspektive, die im Johannes-Evangelium die Person Jesu insgesamt einnimmt. Sie verkörpert die Antwort auf die wichtigste Frage unseres Lebens: woher wir kommen und wohin wir gehen – Herkunft und Zukunft unseres Daseins. Wer das nicht weiß, hat keine Orientierung, weder im Raum noch in der Zeit, er irrt und verirrt sich in allem. An dieser Stelle ist der johanneische Gegensatz nicht aufzuheben, nur zu bestätigen. Gleich im nächsten Satz erklärt Jesus: Ihr – rein irdisch urteilt ihr, und das ist genau dasselbe für das Johannes-Evangelium wie das gerade Ausgesprochene Sich-im-Kreise-Drehen oder In-Finsternis-Existieren. Irdisch, das bedeutet: es gibt auf die Frage, woher du kommst und wohin du gehst, nichts weiter als die üblichen biologischen, psychologischen und soziologischen Antworten. Du bist das Kind deiner Eltern, du bist aufgewachsen in einem bestimmten Milieu, du gehörst einer bestimmten staatlichen, politischen und kulturellen Umwelt zu; und die mußt du nun weitertragen – das ist dein Woher und Wohin. All die Zwangsbestimmungen von Kindertagen schiebst du folglich durch dein Erwachsenenalter, und was du warst, wird zugleich das Schicksal deiner Zukunft sein. Wenn das so ist, ist unser irdisches Leben nie etwas anderes als eine Falle, der wir nicht entlaufen können. Wir müßten sogar noch viel krasser sagen: Woher du bist, das ist nun wirklich der reine Zufall; aus einem Millionenangebot von Möglichkeiten ist durch zufällige Zusammenfügung von Erbinformation etwas geworden, aus dem du hervorgegangen bist, und dieselben Kräfte, die dich aufgebaut und geformt haben, werden dich nach ganz kurzer Zeit schon wieder zerlegen. So muß das sein, weil die Natur etwas Dauerhaftes gar nicht verträgt; sie legt Wert auf Wiederverwertung. Und merke nur ja: Du bist nichts weiter als eine der Übergangsgrößen für das Recyclingverfahren der Natur; das ist, woher du kommst und wohin du gehst: aus der Müllhalde auf die Müllhalde! Viel mehr bilde dir nicht ein. Es ist das Johannes-Evangelium, das dieses Urteilen im «Irdischen» überwinden will; ohne es länger auszuführen, fast wie selbstverständlich, setzt es voraus, daß eine glaubhafte Antwort alles Irdische, buchstäblich alles Endliche übersteigen muß. Es ist ein Schlüsselwort des ganzen Johannes-Evangeliums, wenn Jesus an vielen Stellen immer wieder sagt: Wer an 365

mich glaubt oder wer mir nachfolgt oder wer mich sieht oder hört, der hat: unendliches Leben. Das ganze Geheimnis der menschlichen Existenz liegt in dieser Antwort: «Du kommst aus der Hand Gottes und bist auf dieser Erde ein ewig Heimatloser; aber selbst dein Leiden an diesem Zustand und deine Sehnsucht, dein oft maßloses Verlangen nach etwas ganz anderem zeigt, daß du unterwegs bist. Du gehst zurück zum Ort, woher du kamst; aber dieser Ort ist das Unendliche selbst; er ist die Liebe selbst; und erst das ermöglicht dir, ein Mensch zu werden.» Das Johannes-Evangelium selber drückt diese Überzeugung sehr schön, wenn auch sehr zugespitzt aus. Würdet ihr mich kennen, sagt Jesus zu den Pharisäern, würdet ihr auch meinen Vater kennen, oder, negativ gesprochen: Wer mich nicht kennt, kennt auch meinen Vater nicht, der mich gesandt hat. Es ist ein Gefühl, nie allein zu sein, sondern inmitten der Einsamkeit der Welt verbündet zu sein, gemeint und geeint zu sein, gemocht zu werden und begleitet zu werden. Immer wieder wird der Jesus im Johannes-Evangelium sprechen von sich und seinem Vater. Man hat in der Exegese aus dem Vierten Evangelium gerade deswegen eine Art dogmatischer Ikonenmalerei gemacht, man hat das Medikament zum Kultgegenstand erhoben. Jesus und der Vater – daraus wurden eine Fülle christologischer Definitionen und Glaubenssätze. Die Wahrheit aber ist weit ursprünglicher, klarer, im Gebrauch viel einfacher. Was der johanneische Jesus andeutet, ist dieses: Ein Mensch kann nur leben, wenn er für sein Dasein eine innere Sendung, eine Mission, verspürt. Das ist es, weswegen es sich lohnt zu leben und die Augen wieder aufzumachen und ins Helle zu treten, und es ist dasselbe wie den Tod zu überwinden. Auch diese Sprache findet sich schon in den altägyptischen Pharaonengräbern: Der Verstorbene tritt im Sonnenaufgang ins Licht. Herauszutreten ins Licht3, das ist ägyptisch das Ende des Sterbedaseins, das ist christlich der Anfang von dem, was Johannes immer wieder Auferstehung nennt; es ist der Beginn eines wirklichen Lebens, und es gründet in dem Gefühl, nie allein zu sein. «Ich und er, der mich gesandt hat, der Vater», sagt Jesus hier, «das sind zwei, das ist das Gegenteil aller Einsamkeit». Wer so urteilt über sein Leben, über sich selbst, der dreht sich nicht mehr im Kreise, der redet nicht mehr aus einer völligen Isolation heraus, die sich aufwirft zum Gestaltungszentrum einer ganz eigenen Welt, sondern umgekehrt: Eine solche Existenzform läßt sich führen im Dialog, im Wechselgespräch, und diese selbe, ursprünglich wie verloren scheinende Welt wird nun zur Bühne für eine Aussprache ins Unendliche zwischen Mensch und Gott, wird zu einem Weg über alles Irdische hinaus in die Sphäre des Göttlichen. Ein 366

Mensch kann nur leben, wenn er weiß, mit welchem Auftrag, mit welchem Wort er in diese Welt geschickt wurde. Das zu gestalten, das zu sagen und mitzuteilen, ist der ganze Inhalt seines Lebens. Bezogen auf die Person Jesu, ist die Zusicherung von seinem Vater die Entscheidung über alles. Sie macht ihn selbst zu dem «Wort», wie wir im Johannes-Prolog sahen. Die Theologen begehen im Aufbau ihres Lehrgebäudes offenbar bis heute einen schweren Fehler, der sich fortsetzt bis in jeden Religionsunterricht hinein und der zum Übel gerät für ganze Generationen, die religiös sich auf der Suche befinden. Dieser Fehler lautet: Alles muß beginnen wie auf der ersten Bibelseite mit den Worten von Gen 1,1, daß Gott «die Welt» «im Anfang» «geschaffen» habe. Weil dieser Satz gelten muß, wird man den Kindern schon zeigen, wie schön die Welt ist. Leider nur haben die Menschen, Adam und Eva, dann freilich, kaum daß es losging, gesündigt, aber dafür kam die Erlösung; sie kam nach biblischen Maßstäben sogar immerhin bald, wenn auch nach paläontologischen Maßstäben unglaublich spät; doch wie auch immer, – sie kam, sie hieß Jesus Christus; und dann kam die Kirche; und nun leben wir heute und haben eine doppelt schöne, eine von Gott geschaffene und eine von Gott erlöste Welt vor uns – so die Zusammenfassung der christlichen Lehre. Sie wird allerorten gebetsmühlenartig repetiert, aber sie hat keine Begründung. Daß sie eine solche nicht hat, sah bereits die Gnosis vor 1800 oder 1900 Jahren; sie formulierte dasselbe Problem, das unsere Kinder heute haben, das jeder von uns hat, wenn er nachdenkt: Wie denn soll sich ein Gott der Güte, der Liebe, der Menschenfreundlichkeit mit all den Adjektiven, die wir ihm zuschreiben, im Gesicht dieser Welt beglaubigen, in dieser blutrünstigen Fratze, mit der die Natur uns anstarrt? Die Wirklichkeit der Welt ist so unsäglich groß, so unendlich fern, so unglaublich gleichgültig. Es ist ein Problem, das jeder hat, wenn er auch nur durch ein Fernrohr schaut. Die Welt ist im 20. Jahrhundert aufgerissen worden bis zu Dimensionen, die nicht einmal Immanuel Kant geahnt hat, als er die Nebel im Kosmos als ferne Welteninseln meinte deuten zu können. Das Teleskop, das seit Jahren im Weltall kreist und nach dem amerikanischen Astronomen Edwin Hubble benannt ist, zeigt uns mittlerweile Galaxien in Abständen, die bis zu ein paar Hundertmillionen Jahre nach dem Urknall zurückgehen. Es war Hubble, der 1923 zum ersten Mal gesehen hat, daß der Andromedanebel, der rund zwei Millionen Lichtjahre von uns entfernt ist, eine eigene Milchstraße bildet. Da schauen wir Licht, das ausgesandt wurde, als die Menschen, die Vormenschen, sich noch auf der Stufe des Homo habilis befanden, eines Seitenzweigs auf dem Weg zur Ent367

wicklung der Schimpansen wie des modernen Menschen. Und dieses Licht entstammt der uns nächsten Galaxie im Weltall! Nichts an den Proportionen und an den Dimensionen der Welt ist auf den Menschen zugeschnitten, und diese ungeheuere kosmische Einsamkeit im Kreisen der Welten müßte religiös eine Antwort finden. Daß die Theologen Fragen dieser Art ignorieren, macht das Problem an sich nicht einfacher. Unsere Kinder haben die Schwierigkeiten; ob sie es denken oder nicht, sie fühlen es: Die Maßstäbe stimmen nicht! Eben deswegen darf man nicht mehr einfach damit beginnen: Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde – um dann gleich fortzufahren: und dann erschuf er den Mann, und dann die Tiere, und dann die Frau, und dann ging es weiter mit der Sünde, und dann kam schließlich die zweite Eva, dann kam die Gottesmutter, die gebar den Erlöser. All die dogmatischen Formeln nützen uns nicht mehr. Aber wenn wir denken, die Welt lasse sich zurückgewinnen, in gewissem Sinne sogar heiligen, beruhigen, befrieden, ja, segnen mit einer neuen Liebe, mit einer neuen Güte, dann in der Tat gibt es nur ein einziges Zentrum: die Person des Jesus von Nazaret. Das ist die feste Überzeugung des Johannes-Evangeliums. Von seiner Art her, zu leben und zu denken, würde alles noch einmal ganz anders; ihm könnte man glauben, da wäre ein Gott, der wäre wie ein Vater. Wir sehen ihn nie, diesen Gott als Vater. Doch was wir von ihm zu sehen bekommen könnten, ist ein versöhnter Mensch, wie Jesus es sein wollte, imstande, einen jeden von uns mit seinen Ängsten und Zweifeln, mit seinem Entsetzen und Schaudern zu versöhnen und zu beruhigen. Das unerschütterliche Vertrauen dieses Mannes war es, im Hintergrund aller Welten stehe eine Macht, die es genauso wolle, wie er es ersehnte. Ihr traute er alle Menschlichkeit zu; und so erklärt er hier: «Würdet ihr mich verstehen, so würdet ihr den ganzen Hintergrund der Welt: meinen Vater, verstehen.» Wer aber den Mann aus Nazaret nicht versteht, versteht überhaupt nichts, nichts von alledem, was je über Gott gesagt wurde und je gesagt werden wird. Er wird zu sich selbst nicht finden; er wird nie wissen, woraus er wirklich lebt und wozu es sich wirklich lohnt zu sein. Was er «haben» und «erhalten» wird, ist lediglich eine lebensferne Ideologie in tradierten Sprachspielen. Es ist ein kleiner Abschnitt nur aus dem Johannes-Evangelium, den wir hier lesen, aber in welche Themen redet er hinein, und mit welchem Mut wird da gesprochen! Kein einziger Satz stammt aus dem Munde des historischen Jesus, aber was für eine Kraft findet sich da, seine Botschaft weiterzuentfalten und mit ihr auf Probleme zu antworten, die der Mann aus Nazaret selber weder gehabt noch geahnt hat! Am Ende wird noch einmal – 368

typisch für Johannes – ein Entweder-Oder symbolisch angedeutet. Diese Worte, überliefert Johannes, sagte er beim Opferstock, als er im Heiligtum lehrte. Darin liegt schon soviel wie: es gibt fürderhin kein anderes Heiligtum mehr, nirgendwo auf der Welt, als die Person Jesu, und daß er sich aufhält im Heiligtum der «Juden», rechtfertigt nach rückwärts gar nichts mehr; denn er hält diese Rede in der Nähe des Opferstocks. Auch diese Bemerkung muß man wieder hören mit johanneischen Ohren. Da glaubten Menschen immerzu, sie könnten Gott versöhnen, indem sie Tiere töten, Opfer darbringen, Almosen spenden – den Klingelbeutel herumreichen, mit anderen Worten, und ihr persönliches Glück auf dem Altar grimmiger Götter verbrennen. Doch all das wird nie zu etwas führen und hat nie zu etwas geführt, das der Tragödie des menschlichen Lebens zum Medikament werden könnte; es verbleibt in der Logik der Grausamkeit. Aber Jesus mit seinem Leben wird eintreten für die Liebe. Seine Botschaft wird eine ganze Welt empören; denn man wird völlig richtig begreifen, daß das, wofür er Zeugnis gibt, alles zum Einsturz bringen muß, worauf bisher die Welt gegründet war. Das gesamte Selbstverständnis von Menschen über sich selbst, über die tragenden Pfeiler der menschlichen Gesellschaft, über die Grundprinzipien der Geschichte, die wir Menschen gefälligst uns aneignen und befolgen sollten, gerät hier ins Wanken. Sehr bald deshalb wird man ihn totschlagen. Und das wird ein wahres Opfer sein, nicht zwar für Gott – der hat solches nicht nötig –, aber für uns Menschen, damit wir lernen, nicht einmal den Tod mehr zu fürchten, daß er uns nicht auch nur irgendeine Wahrheit der Menschlichkeit stehle. Wie wir jetzt leben, jenseits des Todes, das ist schon die ganze Ewigkeit, das ist das unendliche Leben, das Jesus verkörpert. So setzt es sich fort, so ist es in sich selbst, hell, leuchtend und Licht. Noch war seine Stunde nicht gekommen, fügt Johannes hinzu, und deutlicher kann er nicht sagen, was er meint: Da ist der Opferstock, und da ist die Zeit, und bald schon in der Nähe des Heiligtums von Jerusalem wird sich Jesu Schicksal erfüllen. Aber gerade sein Ende wird ein neuer Anfang werden. Menschen, die aufhören, die Schrecken des irdischen Daseins zu fürchten, berühren jetzt schon die Ewigkeit. Johannes denkt nicht räumlich zwischen Himmel und Erde, seine Alternative stellt sich zwischen Licht und Finsternis, zwischen Aufstieg und Abgrund, zwischen Sinn und Verzweiflung, modern gesprochen: zwischen innerem Halt durch Sendung und Auftrag oder Nichtigkeit, Zerstörung und völliger Frustration im Verlieren der Menschlichkeit. Es wird die Frage sein, was nun die Pharisäer, die «Gottesbesitzer», «Juden» geheißen im Evangelium, darauf antworten werden. Es sind ein 369

paar Sätze nur bis dahin, die uns zeigen, welch ein Programm im «Christentum» liegen könnte und bis in welche Tiefen es lotet. Manche Biologen sind sehr erstaunt, daß selbst im Marianengraben in der Südsee, zehntausend Meter unter dem Meeresspiegel, Leben noch möglich ist. Kein Sonnenstrahl dringt dort hinab, aber Leben, das sich erhält von anderem Leben und weiterzeugt in neuem Leben, überwindet sogar die Tiefe bis zum äußersten Abgrund. Diese paar Sätze im 8. Kapitel des Johannes-Evangeliums sind so etwas wie in einer Taucherglocke hinabzusteigen in den Marianengraben und Leben dort zu entdecken, wo es eigentlich gar nicht möglich scheint.

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Joh 8,21-47: … und die Unverborgenheit Gottes wird euch freimachen 21Gesprochen

hat er darauf noch einmal zu ihnen: Ich gehe, und ihr werdet mich suchen, und doch: in eurer Sünde werdet ihr sterben. Wo ich hingehe, dahin könnt ihr nicht kommen (7,34.35; 13,33). 22Sagten da die Juden: Er wird doch nicht etwa sich selber töten, daß er sagt: Wo ich hingehe, dahin könnt ihr nicht kommen? 23Da sagte er ihnen: Ihr – von unten seid ihr, ich – von oben bin ich (3,31). Ihr – von dieser Welt seid ihr, ich – nein, ich bin nicht von dieser Welt. 24Darum habe ich euch gesagt: Ihr werdet in euren Sünden sterben; denn wenn ihr nicht vertraut, daß ich bin, werdet ihr sterben in euren Sünden (Jes 43,10). 25Sprachen sie also zu ihm: Du, wer bist du? Sprach zu ihnen Jesus: Überhaupt, was ist das, daß ich noch rede mit euch? 26Vieles habe ich über euch zu sagen und zu urteilen, ist doch er, der mich gesandt hat, wahr; und ich, was ich gehört habe über ihn, das rede ich in die Welt hinein. 27Sie merkten nicht, daß er den Vater ihnen auslegte. 28Gesagt hat ihnen da Jesus: Wenn ihr erhöht habt den Menschensohn, dann werdet ihr merken, daß ich bin (3,14). Ja, von mir aus tue ich nichts, sondern wie mich der Vater lehrte, das sage ich (12,49). 29Und der mich gesandt hat, mit mir ist er. Er hat mich nicht allein gelassen, denn ich: was ihm recht ist, tue ich allezeit. 30Während er das sprach, gelangten viele zum Vertrauen auf ihn. 31Sprach also Jesus zu den an ihn vertrauend gewordenen Juden: Wenn ihr bleibt bei dem Wort, bei meinem, wahrhaftig, meine Jünger seid ihr (15,7). 32Und ihr werdet die Unverborgenheit Gottes erkennen, und die Unverborgenheit Gottes wird euch freimachen. 33Geantwortet haben sie auf ihn: Abrahams Sperma sind wir (Mt 3,9) und niemandes Knechte jemals gewesen. Wieso sagst du: Frei könnt ihr werden? 34Geantwortet hat ihnen Jesus: Bei Gott, ja, bei Gott, ich sage euch: Jeder, der die Sünde tut, ist ein Knecht der Sünde. 35Der Knecht aber bleibt nicht im Haus auf ewig. Der Sohn bleibt auf ewig. 36Wenn also der Sohn euch befreit, wirklich frei seid ihr dann (Röm 6,16.18.22). 37Ich weiß, Abrahams Sperma seid ihr. Aber ihr sucht mich zu töten, weil das Wort, meines, nicht Platz hat bei euch. 38Was ich gesehen habe beim Vater, sage ich. Auch ihr – ja, was ihr gehört habt vom Vater, tut ihr. 39Geantwortet haben sie, sie sagten ihm: Unser Vater ist Abraham. Sagt ihnen Jesus: Wenn Kinder Abrahams ihr wäret, die Werke Abrahams würdet ihr tun (Mt 3,9!). 40Nun aber sucht ihr mich zu töten, einen Menschen, der ich die Unverborgenheit Gottes euch kundgetan habe, wie ich sie gehört habe von Gott (18,37). So hat Abraham nicht gehandelt. 41Ihr – ihr tut die Werke eures Vaters. Sagten sie ihm: Wir – aus Ehe-

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bruch stammen wir nicht. Einen Vater haben wir: Gott! 42Sagte ihnen Jesus: Wenn Gott euer Vater wäre, liebtet ihr mich, bin ich doch von Gott ausgegangen; (von ihm) komme ich; nicht doch von mir aus bin ich gekommen, sondern er hat mich (dazu) bestellt. 43Warum versteht ihr meine Rede nicht? Weil ihr gar nicht imstande seid, das Wort, meines, zu hören (1 Kor 2,14). 44Ihr? Vom Vater Teufel seid ihr (1 Joh 3,8-10), und die Interessen eures Vaters wollt ihr tun. Der war ein Menschenmörder vom Grundprinzip her (Gen 3,4.19); in der Unverstelltheit steht er nicht, denn es gibt keine Unverstelltheit bei ihm. Spricht er Lüge, so spricht er sich selbst aus, denn ein Lügner ist er, ja, der Vater davon. 45Ich aber, weil ich die Unverborgenheit Gottes sage, glaubt ihr mir nicht. 46Wer von euch überführt mich einer Sünde (2 Kor 5,21; 1 Petr 2,22; 1 Joh 3,5; Hebr 4,15)? Wenn ich die Unverborgenheit Gottes künde, warum glaubt ihr mir nicht? 47Wer da ist aus Gott, die Worte Gottes hört der (18,37). Darum hört ihr nicht, weil aus Gott ihr nicht seid.

Das 8. Kapitel des Johannes-Evangeliums enthält eine für diesen Evangelisten typische Rede. Ein absoluter Kontrast bricht da auf wie zwischen Himmel und Erde, wie zwischen Gott und Teufel, wie zwischen Leben und Tod, wie zwischen Wahrheit und Lüge; beide Pole personifizieren sich in Jesus und den «Juden». Es ist eine fast hermetische, schwer verstehbare Sprache, wie für einen inneren Zirkel geschrieben, der sich gegen eine ganze Welt von Gegnern zur Wehr setzen muß. Gerade so aber erscheint Jesus hier selbst: als ein Einzelner inmitten einer Menschheit, die ihn erst verstehen wird, wenn sie den Menschensohn bei Gott «erhöht», das heißt vor den Augen der Menschen am Kreuz vernichtet haben wird. Jeder, der die Worte aus dem Johannes-Evangelium zum ersten Mal hört, wird erschrocken, vielleicht auch empört sein: Wie kann man mit Menschen sinngemäß so reden: «Ich bin die Wahrheit, aber ihr seid die Lüge; ihr wollt mich ermorden, denn ihr könnt nicht anders, als der Wahrheit zu widersprechen; ich bin von Gott, aber ihr seid die Kinder des Satans?» Ist es möglich, nach einem solchen Affront, nach dem Gebrauch eines solchen Pflugs, der die Gräben derart tief aufreißt, Verständigung und Gemeinschaft überhaupt noch zu wollen? Ohne Frage: das ist keine Sprache mehr zum Einladen, sondern zum Abgrenzen und Ausgrenzen. – Doch eben deswegen gerade, weil sie so steil, so psychologisch unvermittelbar ist, hat sie auf leichte Weise Eingang gefunden in die dogmatische Glaubenslehre der Kirche. Jeder Begriff, der hier Verwendung findet, hat eine zweitausend Jahre lange Auslegungsgeschichte hinter sich, die uns diese außerordentlichen Worte zum Gewöhnlichen macht, jedes Skandalons enthoben, jeder existentiellen Aufregung wie um Lichtjahre entfernt. 372

Wenn ihr erhöht habt den Menschensohn – das ist die Sprache, in welcher bei Johannes die Kreuzigung Jesu umschrieben wird. Der theologische Kommentar dazu ist wohlfeil: Die tiefste Erniedrigung ist der größte Triumph bei Gott, und so muß es sein, denn der da getötet wird, ist von Gott; sein «Ich bin», das er den Juden entgegenhält, ist die Sprache, mit der Gott sich selbst im Alten Testament offenbart. Er ist von Gott gekommen, um Menschengestalt anzunehmen, doch gerade dadurch, daß er Licht in die Finsternis brachte, warf er den Schatten der Dunkelmänner um so ausgedehnter an die Wände der Welt. Die Polarisierung zwischen Himmel und Hölle, zwischen Gott und Satan hat in ihm konkrete Gestalt angenommen, und seitdem muß man sich im Absoluten entscheiden zwischen Sünde und Glauben. – Auch das Wort Sünde ist ein im Christentum inzwischen verwaltungspraktischer Begriff geworden; so wird im Weltkatechismus der deutschen katholischen Bischöfe, Ausgabe 1995, Band 2, für «Erwachsene», nach wie vor unterschieden zwischen den läßlichen und den «schweren», den tödlichen Sünden, um klarzustellen, daß letztere auf ordentliche Weise nur im Bußsakrament der Kirche durch die Lossprechung des Priesters vergeben werden können1. Alles hat da seine Regel und Vorschrift, und wohl dem, der auf solch ordentliche Weise der richtigen Kirche zugehört! Alles ist da deklariert, alles firmiert, alles definiert – und nichts ist verstanden! Man tut dem Johannes-Evangelium bitter unrecht, wenn man den dogmatisch abgezweigten Nebenarm – längst ein ausgetrockneter Tümpel – in Verbindung bringen will mit dem Quellwasser, mit dem er im Grunde in Beziehung steht. Absichtlich bedient das Johannes-Evangelium sich einer Sprache, die an jeder Stelle, wo man sie hört, geheimnisvoll wirkt. Dieses späteste aller uns erhaltenen Evangelien macht im Verlauf der Entwicklung der Evangelienliteratur im 1. Jahrhundert n. Chr. eine Erfahrung, die, je länger sie währt, mit der sprachlichen Reifung im Werk eines Lyrikers vergleichbar ist. Man liest Gedichte von Nelly Sachs oder Paul Celan, und man merkt, daß die Sprache ihrer späten Werke immer knapper, immer hermetischer, immer geronnener wird. Wo früher noch mehrere Zeilen über einen Gedanken, über ein Gefühl, über einen bestimmten Ausdruck sich rankten, verdichtet es sich jetzt zu einer einzigen Chiffre von eigener Prägnanz: Salz, zum Beispiel2 – das Wort steht für einen Schmerz, der nicht heilen will, für Tränen, die niemand mehr weint oder die zu Kristallen geworden sind in erblindenden Augen. All das aber wird nicht mehr gesagt, sondern man muß es aus der Wortentwicklung dieses Lyrikers kennen. Es ist, wie wenn eine Rose reifen würde und hüllte sich in ihr schönstes Kleid, 373

nur um es eines Tages abzustreifen und zur Frucht zu werden und sich weiterzugeben in scheinbar unansehnlichen Samenkörnern. Die aber wollen ausgestreut sein und suchen nährende Erde; – ganz so diese Worte im Johannes-Evangelium. Sie sind so verknappt, daß man sie nur im Rahmen der Entwicklung verstehen kann, die in sie Eingang gefunden hat. Was sie wirklich bedeuten, läßt sich nur ermitteln und ermessen, wenn man versucht, mit ihnen zu leben, wenn man sie im eigenen Ich aufnimmt, auf daß sie in einem selbst sich neu verwurzeln. Nur in diesem Sinne einer existentiellen Aneignung stellt sich die Frage, worum es in diesem Text eigentlich geht. Man ahnt erneut die absolute Spannung auf Entweder-Oder. Aber woran soll es sich entscheiden? Was ist gemeint in all den Rätselreden, die doch Offenbarungsreden sind? Beginnen wir mit dem Satz, der scheinbar am klarsten spricht: Wenn ihr bleibt bei dem Wort, bei meinem, wahrhaftig, meine Jünger seid ihr. Und ihr werdet die Unverborgenheit Gottes (die Wahrheit) erkennen, und die Unverborgenheit Gottes wird euch frei machen. – Nach theologischer Auffassung ist die Wahrheit im Johannes-Evangelium die Seinsweise Gottes. Philologisch, begriffsgeschichtlich, trifft diese Erklärung gewiß zu, aber wenn wir das scheinbar psychologisch Unvermittelbare uns gleichwohl vermitteln möchten, so sollten wir zunächst nicht von Gott sprechen; denn anders als der «Offenbarer», als Jesus, der ausgeht von Gott und von sich sagt, daß er Gott kennt, kennen wir ihn nicht, sondern sind angewiesen auf seine Vermittlung. Wir müssen reden von dem Stückchen Wahrheit, das wir erkannt haben, das in uns neu wächst wie ein zaghaft im Frühling sich wagender Kirschenzweig, hoffend auf neues Erblühen. Wir müssen sprechen von dem, was in uns selber vor sich geht, wenn wir die Gestalt gewinnen, die in uns angelegt und gemeint ist. Alle Gegenworte, wie Lüge und Sünde, sind im Kontrast aus dem Begriff der «Unverborgenheit» des Seins abgeleitet; sie liegen offensichtlich auf derselben Ebene und werden in sich selbst verstehbar, wenn wir nur diese eine wesentliche Frage erst einmal beantwortet haben: Wie finden wir zur Wahrheit unseres Lebens? Es gibt in dieser Rede einen sehr präzisen Begriff von Wahrheit; er wird aus historischen Gründen mit dem Judentum verbunden; es ist aber deutlich, daß das, was hier als «Judentum» auftaucht, selber wieder nur eine aus der Geschichte gewonnene Chiffre für eine bestimmte Art ist, das menschliche Leben zu deuten. Sie lautet: Abrahams Sperma sind wir; – das Wort kann man ins Deutsche gar nicht übersetzen, weil es so kraß biologisch stehenbleiben muß, wie es schon auf Griechisch gemeint ist. In der Tat, es gibt ein erstes ausgezeichnetes Selbstverständnis, das darin gründet, 374

daß man von jemandem abstammt. Da gibt es eine genealogische Linie, ein Adelsgeschlecht zum Beispiel, und nun gehört man durch den Zufall der Geburt bereits dieser Abfolge der Geschlechter zu. Alles begann scheinbar mit einem zufälligen Ereignis, doch ruht auf dieser reinen Beliebigkeit in theologischer Sicht eine unbedingte Bedeutung: Gerade die restlose Kontingenz unserer Existenz, die Tatsache, daß wir rein zufällig einem bestimmten Volk, einem bestimmten Genpool entstammen, wird von der hebräischen Religion auf göttliche Bestimmung, auf Auserwählung, auf eine besondere, im Absoluten anzusiedelnde Bevorzugung zurückgeführt. Wir sind jemand, eben weil wir nicht durch bloßen Zufall der Geburt, sondern durch göttliche Fügung in eine bestimmte Gruppe hineingeboren wurden. Da bietet die Biologie und hilfsweise die Soziologie den Inbegriff, den Horizont jeder nur denkbaren «Wahrheit». Was das Johannes-Evangelium hier anspricht, besteht im Rahmen der jüdischen Religion in gewisser Weise noch heute: Man wird zum Juden durch die Geburt, die man einer jüdischen Mutter verdankt; Biologie und Soziologie bilden da gemeinsam die Basis der Religion. Das bedeutet es «jüdisch», Kind Abrahams zu sein. Doch es ist keineswegs so, als handelte es sich hier um eine rein jüdische Denkweise, so daß wir, die Christen, darüber die Nase rümpfen könnten. Wir selbst, die Christen – JohannesEvangelium hin, Johannes-Evangelium her – haben es im Rahmen von Dogmatismus und Sakramentalismus genauso weit gebracht. Der dänische Religionsphilosoph Sören Kierkegaard vor rund hundertfünfzig Jahren schon war sich darüber im klaren: In seinen Kampfschriften, die er, sterbenskrank, am Rande des physischen und wirtschaftlichen Ruins auf den Straßen von Kopenhagen verteilte, in den Texten vom Augenblick, nimmt er sich gerade diese Grundüberzeugung des etablierten Christentums vor: Wir sind Christen, einfach weil wir in ein bestimmtes kirchliches Milieu hineingeboren wurden. Man ist Christ von Geburt. Es kostet überhaupt nichts, ein Christ zu sein. Man müßte ein sehr entschiedener Mensch sein, wenn man in der dänischen Staatskirche kein Christ sein wollte; man müßte dann ja durch eigene Überlegung zum Widerspruch angespornt werden. Wohlgemerkt: in den Tagen, als das Christentum begann, war es ein einziger Widerspruch, da gründete es sich reinweg auf persönliche Entscheidung, da artikulierte es sich notfalls im Konterfei und im Kontrast zu dem gesamten Rest der Welt. Heute fügt es sich gerade umgekehrt. Jeder ist ein Christ auf Grund der Umstände, wie Kierkegaard ironisierte: «Erst kommt die Mutter in Umstände, und dann macht das Umstände, und dann umstehen am Taufbrunnen die Paten das Neugeborene, und eben auf 375

Grund der Umstände hast du, was man da nennt einen Christenmenschen3; und just siehst du der Christen denn auch so viele wie Heringe im Öresund zur Laichzeit. Es multipliziert sich durch die Kraft der Genealogie selber! Drum daß du die in langen Gewändern (Mk 12,28; vgl. Mt 23,5) – ich rede nicht von den Hebammen, sondern von den Pfaffen – grad in den Kinderstuben so häufig findest, und grad an der Seite der Frauen, um sie zu bestimmen, so viele Christen zu machen wie möglich – eben auf die Weise der Zeugung4. Keiner zeugt mit seiner Existenz für irgend etwas, doch er zeugt sich fort; und diese biologische Zeugung von Christen bestimmt das ganze Interesse der Christenheit.» Kierkegaard war empört darüber; ein solcher Christwerdungsprozeß, meinte er, gleiche in etwa dem Trick, mit dem Vater Jakob – immerhin ein Enkel Vater Abrahams – seinen zwielichtigen Oheim Laban übermochte: Nachdem er sich ausbedungen hatte, er dürfe aus der Herde seines Oheims die gesprenkelten Schafe eines Tages sein eigen nennen, ließ er die Böcke die Weibchen bespringen vor gesprenkelten Stäben an der Traufrinne, und diese, hypnotisiert durch die gesprenkelten Stäbe, gebaren daraufhin nur gesprenkelte Schafe (Gen 30,25-43) – ein Magiezauber, wie er um 1600 v. Chr. im Orient offenbar gehandhabt wurde. Ganz ähnlich die Viehzüchter des Religiösen: Man muß nur fixiert sein auf die Umstände, und es wird am Ende schon, gestreift und richtig gepaart, an Christen und Gläubigen genug zur Welt kommen: – das wahre Christentum eine Angelegenheit für Schäfer, als welche die Pastöre denn ja auch gelten. Fehle nur noch, meinte Kierkegaard, daß man die Pastöre und die Biologen zusammentue zu einem gemeinsamen Team zur rechten Ausbreitung des Christlichen!5 Abrahams Sperma sind wir. Unser Vater ist Abraham – das kann ein Stolz sein, so borniert wie es ein Stolz sein kann, ein Deutscher zu sein, oder, wie es mit einem bißchen Humor besungen wird in manchen Wiener Liedern: «Mei Stolz is, i bin halt an echts Weana Kind, a Fiaker, wia man’n net alle Tag’ find’t … A Kutscher kann a jeder wern, aber fahr’n, das können s’ nur in Wean! …» Das ist mal Stolz! Da ist das Milieu mit einem selber so verwachsen, daß eine andere Lebensform überhaupt nicht vorstellbar ist. Da ist die ganze Identität gegründet in der einfachen Tatsache, an einer bestimmten Stelle, zu einer bestimmten Zeit das Licht der Welt erblickt zu haben. – Bereits in der Tradition der sogenannten Rede-Quelle, die bei Lukas und bei Matthäus verarbeitet ist, sagt der jüdische Prophet Johannes der Täufer sehr im Protest: «Und meint nicht, euch sagen zu können: Zum Vater haben wir Abraham. Denn ich sage euch: Es kann Gott aus diesen Steinen (hier) Kinder Abrahams erwecken» (Mt 3,9). – 376

Wer jemand selber ist, das richtet sich religiös nach der Art seines Lebens; nur darauf kommt es an. Keinerlei Soziologie, keinerlei Biologie, keinerlei von fremd her verinnerlichte Psychologie ist da ausschlaggebend, sondern allein die persönliche Existenz. Erst wenn wir es bis zu dieser Bedeutung bringen, verstehen wir, wieso in all den Auseinandersetzungen des Johannes-Evangeliums ein unerhörtes Ringen um Freiheit anhebt; klar wird zugleich auch, was es heißen soll: Ihr – von unten seid ihr; oder an derselben Stelle, parallel: Ihr – von dieser Welt seid ihr. Es soll, verstehen wir jetzt schon, soviel heißen wie: «Ihr seid vollkommen angeglichen an die Paßformen des Äußeren, in die man euch hineingezwängt hat. So sehr ist das der Fall, daß ihr eine andere Projektion von euerem Leben gar nicht für möglich haltet. Ihr seid, was ihr seid. Ihr seid aber gar nicht wirklich, denn das, wozu man euch geformt hat, läßt sich in euerem Falle einzig ablesen in der Druckvorschrift eurer dienstgebenden Behörde, in der Stanze, die euch geprägt hat. Ihr habt kein Ich, ihr seid nicht ihr selber, ihr lebt nicht eigentlich. Ihr seid Getötete und deshalb selber der Tod. Alles, was ihr tut, ist nur zum Schein.» Erst wer die Radikalität dieser Sprache ein Stück weit begreift, gewinnt einen Anknüpfungspunkt, psychologisch einmal das Gegenteil zu probieren: Was heißt es, aus einer solchen Welt des Un-Lebens, der Nicht-Existenz, des gestohlenen Daseins, des Totseins in allem, der Verlorenheit und Verlogenheit von allem zurückzufinden zum Leben, zur Wahrheit, zu Gott, wie der johanneische Jesus meint? – Vielleicht helfen ein paar Beispiele. «Ich hatte in der letzten Nacht einen Traum», erzählte vor Jahren eine Frau; «da steht eine andere Frau an meiner Seite, sie hat einen Stock in der Hand, so ähnlich wie einer der Stöcke, an denen ein kleiner Bindfaden war, eine Peitsche, – wir spielten damit in Kindertagen, wenn wir einen Kreisel zum Drehen bringen wollten. Und so war es: diese Frau stand da mit dem Stock, und ich mußte mich drehen, immer schneller mußte ich mich drehen, bis daß ich umfiel. Mir war ganz schwindelig.» – Was diese Frau in den wenigen Sätzen ihres Traums ausdrücken wollte, enthielt ihr ganzes Leben: wie es begonnen hatte und wie es immer noch, nach fast fünf Jahrzehnten, andauert bis heute. Ihre Mutter wohnt inzwischen längst in einem Seniorenheim, aber genau das bildet für sie den Ausgang aller Probleme: Sie empfindet entsetzliche Schuldgefühle gerade dafür! «Es war immer mein Stolz, meine Mutter würde da nicht hinkommen!» Aber jetzt hat diese Frau genau das getan: ihre Mutter in ein Seniorenheim abgeschoben. Das wollte sie nie! Also: Sie ist eine schlechte Tochter! Und sie schämt sich dafür. Dabei hat sie es über ein Dreivierteljahr versucht, mit ihrer Mutter 377

zusammenzuleben, nur: es ging nicht; ihre eigenen Kinder wurden daran halb verrückt, ihr Mann ertrug es nicht, und das Schlimmste war: sie selber vertrug es nicht. Wenn sie nur ein bißchen ehrlich war, erlebte sie ihre Mutter seit Kindertagen als eine einzige Zumutung. – «Nein, das stimmt nicht, meine Mutter hat es immer gut gemeint!» – Die Frau fing an zu weinen, als sie das sagte, denn so wollte sie die Welt sehen, und natürlich stimmte davon auch etwas: Die Mutter hatte es immer gut gemeint! Daran war überhaupt kein Zweifel. Aber die Art, wie ihre Mutter es gut gemeint hatte, bestand in einer bestimmten Erziehungsdressur. Nicht eine reale Peitsche war dazu nötig; es genügt, sich eine Mutter zu denken, die selber nie hat leben dürfen. Deren Stolz ist die Tochter. Die Tochter ist schön, die Tochter ist klug, die Tochter ist zu Großem berufen, die Tochter muß sich drehen und wenden und winden wie ein Figürchen, wie ein Püppchen. Sie ist schon mit sechs Jahren beinahe eine Ballerina, fast im wörtlichen Sinne. Sie ist das Schaustück, das Vorführungsobjekt der Mutter. Und da, wo die Mutter selber nicht lebt, drehen die leergelassenen Wünsche, delegiert an die Tochter, dieses Mädchen im Kreise. Es war und ist für diese Frau natürlich niemals möglich, mit ihrer Mutter über diese Zusammenhänge zu sprechen: wer man selber ist, was man selber möchte; auch nur zu denken, man möchte etwas selber, war vollkommen unmöglich. Die Tochter hatte ihren Stolz darein zu setzen, zu tun, was die Mutter wollte, und die Mutter setzte ihren Stolz darein, wenn die Tochter tat, was sie wollte; beide ergänzten einander. Stellvertretend lebte der eine im anderen, und das war der Grund, weswegen keiner von beiden wirklich lebte und warum sie noch heute beide nicht zusammen leben können. Nie ist die Tochter der Mutter gut genug, und nie kann die Mutter irgend etwas sagen, ohne daß die Tochter es mit schlimmsten Schuldgefühlen quittiert. Statt mit der Mutter zu reden, statt mit ihr zu diskutieren, statt mit ihr Kompromisse zu finden, gibt es deshalb für diese Frau nur eine einzige Art, auf sie zu antworten: Wenn man nein sagen will, muß man zusammenbrechen. Krankheit kann so eine Form sein, nein zu sagen; oder man pflegt die Vorstellung, man ginge einfach weg und stürbe, man hörte auf zu leben. Diese Idee liegt gar nicht so fern. Man hat ja eigentlich nie gelebt; ein wirklicher Verlust, recht besehen, wäre der Tod also gar nicht. Aber doch, man muß auch dankbar sein im Leben! Die Mutter hat alles getan; auch der eigene Mann hat alles getan, und die ganze Umgebung hat stets gesagt, daß diese Frau eine so wunderbare und glückliche Ehe führt. Ja, diese Frau glaubte das inzwischen selber – ähnlich wie in Ingmar Bergmans Film Szenen einer Ehe6. Fast wäre diese Frau schon vor 378

Jahren bereit gewesen, in einer katholischen Eheberatung mitzuarbeiten, um anderen zu helfen, wie sie ihre Ehen in Ordnung zu bringen hätten. Man kann im Grunde gar nicht denken, daß aus diesem in jedem Betracht so wohlgestellten Leben ein Ausbruch möglich oder gar erlaubt wäre. Man ist ein Gefangener in allem, aber man trägt es mit Fassung und Würde; – wie gesagt: ein ganz normales Leben. Und alle ringsum erklären: so muß es sein, und so soll es auch bleiben, so gebietet es der Anstand, so gebietet es der Verstand, so gebietet es die Tugend, so ist es das Gegenteil von Sünde und Laster und Ehebruch und Zerstörung. «Man hat auch Verantwortung, man muß auch Opfer bringen!» Zwischen all dem, was «man» da muß, mit Berufung irgendwann sogar auf diesen Text aus dem Johannes-Evangelium, findet diese Frau sich an keiner Stelle zurecht. Was heißt da: (Und) die Unverborgenheit Gottes (die Wahrheit) wird euch frei machen? – Ein Wichtiges vorweg: Das «euch» ist nicht in der Mehrzahl zu gebrauchen, es ist keine Anredeform im Kollektiv, es läßt sich nur sprechen zu jedem Einzelnen: Wie wirst du Grund unter den Füßen finden? Antwort: Indem du dir zugibst, was stimmt. Schon das zu klären ist eine lange Geduldsprobe. – Also: Wie ist das nun mit deiner Mutter? Hat sie es gut gemeint? – Ja, ohne Zweifel. – Aber war sie wirklich gut? Da darf man Zweifel hegen. Es ist doch möglich, daß ein Mensch sich vornimmt, alles richtig zu machen, er tut es aber mit so viel Angst und übertriebener Sorge, daß es den anderen erstickt und ihm nicht zur Freiheit gerät, sondern zu fortschreitender Verknechtung. Am Ende fühlt sich ein Mensch gar nie zu Hause, so wie Jesus hier sagt: Nur der Sohn hat ein solches Empfinden, ewig zu Hause zu sein, andere nie. Wie aber wird ein Mensch bei sich selber zu Hause, wie findet er eine Übereinstimmung seiner Person mit dem, was er jetzt sagt? Alles kommt darauf an, zunächst die Zwischentöne zu akzeptieren. Nie ist etwas nur gut oder böse, nie einfach einzuteilen in die klaren Kategorien von Schwarz und Weiß, in denen gerade das Johannes-Evangelium hier spricht. Alles kommt darauf an, daß ein Mensch mit sich selber zusammenwächst, indem er als erstes so sein darf, wie er ist: widersprüchlich, schillernd, gebrochen, dialektisch, so – aber gerade deswegen auch schon wieder sein Gegenteil: ein ständiges Hin und Her, eine mühselige Form, aus Ja und Nein irgend etwas dazwischen zu bilden, mit dem man wirklich leben könnte. Es hat der Bhagwan einmal in der Weißen Wolke sehr schön gesagt: «Es gibt nicht Gut und Böse, aber was beim Verstehen sich auflöst, das ist vom Übel, und was beim Verstehen beginnt zu wachsen, das ist das Rich379

tige. Das ist, was ich Gut und Böse nenne.»7 – Man hat die Worte des Bhagwan in großem Stile mißverstanden und in noch größerem Stile mißverstehen wollen, aber was er da sagt, ist ein wunderbares indisches Wort, eine ausgestreckte Hand vom Buddhismus und vom Hinduismus hinüber zum Christentum. Nicht um Moral geht es da, sondern um ein Wirklich-Werden in der Tiefe. Es geht, genauer gesprochen, wenn man es nicht moralisch nimmt, jetzt tatsächlich um Wahrheit und Lüge, um Identität und Nicht-Identität; wir könnten auch sagen, es gehe darum, ob man zu dem stehe, was in der eigenen Existenz stimmt, oder ob man dabei bleibe, sich etwas vorzumachen. Dann erhebt sich natürlich die Frage, was uns dazu treibt, uns selbst zu betrügen und ein Ersatzleben an die Stelle des wirklichen Lebens zu setzen. Mögliche Gründe dafür werden in diesem Text nicht einmal angedeutet, wir müssen sie rein psychologisch ergänzen. In dem Beispiel jener Frau etwa liegt die Erklärung auf der Hand: Sie hatte eine unendliche Angst, ihrer Mutter zu widersprechen. Lieber widerspricht sie sich selbst in jedem ihrer Sätze, als daß sie ein einziges Mal sich ihrer Mutter widersetzte. Und das nicht nur der Mutter gegenüber, die heute im Seniorenheim lebt, viel stärker gilt das für die Mutter, die sie selber in sich aufgenommen hat. Der ständige Widerspruch ihrer Mutter zu dem, was sie als Mädchen hätte leben wollen, ist ihr so geläufig, so vertraut geworden, daß er als Widerspruch zu sich selber längst verinnerlicht wurde, – eine Welt voller Negationen! Die Mutter ließ die Tochter nicht leben, und heute, wie automatisch, läßt diese Frau sich selber nicht leben. In dieser inneren Zensur äußert sich die ständige unsichtbare Gegenwart all dessen, was sie im Schatten ihrer Mutter einmal hat lernen müssen und was sie heute daran hindert zu leben. In jedem Falle, wo sie sich dem alten Programm verweigern würde, träte die Angst ein, nicht geliebt zu werden. Setzen wir für diesen Zwang, aus Angst selber nicht zu leben, das Wort «Sünde» ein, so wird uns plötzlich der ganze Text offen und zugänglich. Mitmal berühren wir den inneren Nerv, die Reizleitung gewissermaßen, die jedes Wort mit dem anderen verbindet, erkennen wir das lebendige System, aus dem heraus es sich gestaltet. Solange wir den Begriff «Sünde» hier noch verstehen als eine Übertretung von Gesetzen, macht schon der Singular, in dem hier geredet wird, gar keinen Sinn; denn dann gäbe es beliebig viele Formen von Sünden, so viele wie Gesetze. Es geht aber hier um eine einzige Art von Sünde. Sie ist, soviel wie das deutsche Wort etymologisch meint, eine Sonderung, eine Spaltung, sagen wir psychologisch: eine ständige Dissoziation. Ein Mensch lebt nicht in seinem Ich, sondern in 380

einem Konglomerat von Komplexen, in einer Vielzahl von Stimmen, immer wieder aufgespalten, anders in jedem Moment jetzt als im nächsten Augenblick, immer wieder gezwungen, verschiedene Rollen auszufüllen. – In den Tagen des Karnevals ist das ein großes, beliebtes Spiel: Man kann noch einmal ganz anders sein. Diese Möglichkeit, sich selbst zu entkommen, ist ästhetisch schön und macht Spaß, aber existentiell bedeutet es die Hölle auf Erden, wenn man ständig mit Masken tanzen muß, und zwar mit immer neuen Masken, mit niemals selbstgewählten, bis daß das ganze Leben nichts weiter wird als eine bloße Maskerade. Hat dann das Ritual nicht fast recht: Der Aschermittwoch kommt nicht, er liegt als Moment der Selbstzerstörung in der ganzen Lebensanlage. Der Tod ist die Imprägnatur dieser Art von Un-Leben. Dann lautet die Frage nicht so sehr, wie wir mit Anspannung des Willens, durch bewußte Entscheidung, aus der Sünde herausfinden, es ist vielmehr die Frage, wie wir das Wort ergreifen und in uns aufnehmen, das gegen die Angst tröstet. Nichts weiter will der johanneische Jesus hier sein, und nichts weiter wollte der historische Jesus verkörpern als ein solches Wort aus einer anderen Welt. Er wollte nicht länger sagen: «Ich leg’ dich fest auf das, was du seit Kindertagen sein mußtest, ich bestätige dich in deinem Stolz: du bist ein guter Jude durch Geburt, du bist ein guter Christ durch deine katholische Herkunft, du bist ein guter Deutscher durch deine nationale Identität, du bist ein guter Parteigänger durch dein Parteibuch; ich bestärke dich gerade in dem, was sie alle von dir wollen.» Diese Rede gehört zur Welt; so funktioniert sie, und so ist sie eine dauernde Lüge. Jesus wollte im Gegenteil in dieses Wirrwarr die Botschaft hineintragen, die er von Gott gehört hatte: Menschen sind schön wie Rosen; sie blühen auf in einer Pracht, die nur sie selbst dieser Welt zu zeigen vermögen, und anders als jede Blüte am Rosenstrauch vergehen sie nie, denn berufen sind sie zu ewigem Leben. Fänden sie nur diesen Grund für sich selbst in dem Untergrund, der da Gott heißt, und lernten sie gegen all die Angst Vertrauen zu haben, so hielten sie, sagt Jesus hier, mein Wort und würden die Wahrheit erkennen und frei werden. Es ist aber nicht einfach, die Wahrheit wirklich zu erkennen und darin die eigene Chance, die eigene Freiheit, wirklich zu entdecken. Nehmen wir, um diesen Zusammenhang noch einmal zu erläutern, ein anderes Beispiel. – «Mein ganzes Leben stand ich», sagt ein Mann, «im Schatten meines Bruders. Er wird jetzt, müssen Sie wissen, drei Jahre nach Moskau reisen. Er war immer der große Bruder; alles, was er macht, ist um Meilen größer als das, was ich tue; ich bin ein Zwerg, gemessen an ihm.» – Das sagt er so 381

ironisch über sich selbst, daß es schwerfällt zu glauben, er denke nur so von sich. Also frage ich ihn: – «Und Sie denken, das ist die ganze Wahrheit: Sie der Zwerg und er der Riese?» – «Meine Frau sagt: du bist doch eigentlich viel besser als er», und dabei beginnt er zu lachen. – «Ja, aber warum glauben Sie es Ihrer Frau nicht? Sie meint es wirklich so, wie sie sagt, denke ich mal.» – «Ja, sie meint das so, aber sie kennt mich nicht wirklich.» Da leben also zwei Menschen über dreißig Jahre zusammen, und es sitzt ein Mann da, der sich sicher gibt: Er hat es geschafft! Dreißig Jahre lang schon führt er nun den Menschen an seiner Seite, der ihn vermutlich ganz und gar kennt, an der Nase herum und hat ihn vermeintlich dressiert in einer Liebe, die im Grunde nur dem Theater gilt. Er meint sein negatives Besserwissen um sich selber nicht einmal hochmütig, und trotzdem möchte man ihm sagen: «Was bilden Männer sich manchmal nur ein, wenn sie davon ausgehen, Frauen seien so dumm, drei Jahrzehnte lang sich mit Enttäuschungen zufriedenzugeben?» Tatsächlich redet der Mann aber durchaus nicht verächtlich über seine Frau, er redet und denkt verächtlich allein über sich selbst. Er will sagen: «Wer mich so kennt, wie ich mich kenne, wer so denkt über mich, wie ich, der hat etwas vor sich, das er niemals lieben kann; das, was ich bin, ist doch längst gestorben unter den Schlägen meines Vaters, unter seiner dauernden Verachtung, unter seinen zornigen Augen. Mein Vater liebte die Leistung, und da war mein Bruder immer stärker als ich; ich war ihm zu schwächlich, ich war ihm gegenüber nicht kräftig genug, ich war sein Sorgenkind.» – Aus all dem geworden ist in Wirklichkeit heute ein sehr feinfühliger Mensch, er ist sehr sensibel sogar, er ist durchaus imstande, seine Frau zu verstehen. – Die wiederum leidet darunter, als Mädchen von ihrer Mutter und ihrem Vater verlassen worden zu sein. Ganz früh schon war sie verstoßen und in ein Internat, in die Erziehung von Ordensschwestern, gegeben worden; und sie hat diesen Ausschluß aus ihrer Familie nie verwunden. Eben deshalb hängt sie sich heute wie eine Ertrinkende an ihren Mann. Der wieder muß die Rolle eines Vaters und eines kleinen Jungen zugleich spielen, und dazwischen reißt es ihn hin und her; immer wieder muß er auf Ängste antworten, die er nicht beruhigen kann, und er möchte nur einmal Worte hören, die ihn gelten ließen, doch gerade diese Worte, wenn sie gesagt werden, kommen ihm ganz unglaublich vor. Wir denken immer, daß Menschen, wenn sie sich selber etwas vorma382

chen – sagen wir es kraß, aber ohne jeden moralischen Beigeschmack: wenn sie sich selber belügen –, es ausschließlich zu ihrem Vorteil täten. Zur Hälfte ist das vielleicht richtig, aber zur anderen Hälfte sind sie stets auch selber die Opfer all ihrer Lügen: Sie kommen nie dazu, ein Stück weit wenigstens das als wertvoll zu betrachten, was sie wirklich sind; sie gelangen niemals dahin, anzuerkennen, worin ihre wirklichen Stärken liegen. Immer geht bei allem, was sie nach außen tragen, ein geheimes Empfinden mit: so wie ich sein könnte, darf ich nicht sein; und so wie ich eigentlich bin, darf ich es den anderen nicht zeigen. Immer wieder verpreßt da die Angst jede gerade Entfaltung zum Leben. Umgekehrt nun: Die Wahrheit wird euch frei machen! Das hieße in diesem Falle, sich einverstanden zu erklären mit dem Kind, das man einmal war: eines, das die Straßenjungen verhauen haben, eines, das sich damals nicht wehren konnte; aber ist es schlecht, so großgeworden zu sein und etwas daraus gelernt zu haben, das menschlich kostbar ist? Muß man dauernd eine alte, ungerechte Scham weitertragen, nur um immer noch ein Sein von sich zu entwerfen, das es nur scheinbar gibt, mit dem Effekt natürlich, nie zu dem zu werden, was man in Wirklichkeit ist? Was wäre, man würde die ganze Vergangenheit, den ganzen Werdegang einmal so annehmen, wie er war? Man dürfte dazu stehen, man hätte keine Angst mehr, dafür verlacht, verurteilt oder verspottet zu werden, – so wie Jesus hier sagt: Ich – nein, ich beurteile niemanden. Es käme ein Wort in diese Welt jenseits der wechselseitigen Negiertheiten und Negationen; ein Wort, das eine reine Bestätigung wäre: Du darfst erst einmal so sein! Dann wäre es möglich, sich aufzurichten und zu denken: Auch ich bin jemand und gar nicht so schlecht und doch auch ein Stück liebenswert. Das ist das Wort, das an dieser Stelle gar nicht erwähnt wird und das doch im Hintergrund von allem steht. Was sich hier zwischen Gott und dem Teufel unterscheidet und entscheidet, ist, wie wir sehen, entweder ein Leben in einem solchen Vertrauen, geliebt zu sein über alle Widersprüche und Verneinungen hinweg, oder sich hassen zu müssen für das, was man ist. Wir sollten dabei endgültig aufhören, vom Teufel in der Weise zu sprechen, wie es der römische Katechismus von 1993 für 900 Millionen Katholiken allen Ernstes immer noch zur Pflicht machen will8: Es gibt den Teufel als die persönliche Verkörperung des Bösen; und das kam so: Er war ursprünglich der höchste aller Engel, doch dann hat er sich gegen Gott aufgelehnt und ist zum Satan geworden; seither verdirbt er die Schöpfung, verführt er die Menschen, lauert er im Untergrund der Welt wie ein Skorpion im Sand: kaum daß man sich hin383

legt zum Schlafen – da stößt er zu, immer gefährlich. Die Merkmale seines Steckbriefes im Volksglauben sind leicht zu identifizieren: Hörner, Bocksfüße, Schwefelgestank … – Wir müssen uns, um zum Ernst der Sache zu finden, die Erlaubnis nehmen, gerade das Johannes-Evangelium in seinen Spannungen so weit zu existentialisieren, daß wir die Symbole begreifen können, von denen und in denen da gesprochen wird. Wir müssten die christliche Mythologie zurückübersetzen in die Psychologie, aus der sie stammt. Sünde haben wir bislang wiedergegeben mit einem Leben, das sich aus lauter Angst verfehlt, und der Geist, der dahintersteht, die Haltung ständiger Verneinung, die mag man nun bezeichnen als teuflisch. Dann begreift man, warum Jesus sagt: Jeder, der die Sünde tut, ist ein Sklave der Sünde; er folgt mit anderen Worten einer Spur, aus der er nicht mehr herauskommt, er stapelt die Ansprüche an sich selbst immer höher oder, je nachdem, immer tiefer. Und der immer gleiche Grund: man fängt an zu glauben, man werde akzeptiert und gemocht, wenn man sich an der eigenen Wahrheit ein Stück weit vorbeiflunkert, wenn man ein wenig besser tut, als man ist, wenn man ein bißchen angibt zum Beispiel mit einem Wissen, das man so gründlich nicht hat, mit einem Können, über das man nicht wirklich verfügt, – man zwingt sich ständig etwas zu sein, das man nicht ist. Begibt man sich einmal auf diese Bahn, wird es immer rascher, immer geschwinder bergab gehen; es ist, wie wenn das Gravitationsfeld einer großen Masse einen Körper immer rascher im freien Fall nach unten zöge. Man kommt aus dieser Selbsthypnose der Angst vor der Verächtlichkeit des eigenen Ichs nicht mehr heraus. Es ist gewiß manchmal möglich, eine einzelne Lüge zuzugeben, vielleicht mitunter sogar mehrere, ein Bündel von Unwahrheiten; aber ein ganzes verlogenes Dasein – das kann nur explodieren, indem es sich selbst mit einer Riesenenergie ausspeit, oder implodieren, indem es sich im Schwinden der Kräfte verschleißt. Von allein jedenfalls ist ein solcher Zustand nicht zu verlassen. Der Ausbruch oder der Zusammenbruch mag, wie das Johannes-Evangelium es beschreibt, als eine Art Tod erlebt werden, doch diese Art Tod ist die einzige Form eines wirklichen Neuanfangs, der Beginn wahrhaften Lebens. Man kann nicht einfach sagen, es herrsche Sadismus und Mordlust, wenn Jesus den «Juden» unterstellt: Nun aber sucht ihr mich zu töten, einen Menschen, der ich die Unverborgenheit Gottes euch kundgetan habe, wie ich sie gehört habe von Gott. So hat Abraham nicht getan. Was sollen Menschen tun, die immer wieder hören müssen: «So wie du bist, ist es nicht gültig», die gelernt haben, sich ständig selbst zu durchkreuzen, so daß sie am Ende gerade das, was sie als «wahr» hören, ums Überleben wil384

len oder ums Verrecken willen verleugnen werden? Die Sich-Durchkreuzenden müssen ans Kreuz gerade das schlagen, was sie eigentlich leben ließe, und immer zu spät erst merken sie, wo wirkliche Größe, wo wahre Menschlichkeit gelegen wäre. Wenn ihr erhöht habt den Menschensohn, dann werdet ihr merken, daß ich bin, – was wirkliches menschliches Sein ist von Gott her. Da gilt es zu wählen, ob man von unten leben will oder von oben. Damit ist nicht gemeint, ob wir anthropologisch die Existenz des Menschen kausal aus dem evolutiven Kontext des Lebens her ableiten, oder ob wir sie metaphysisch gewissermaßen unmittelbar aus den Händen des allmächtigen Gottes hervorgehen sehen. Es ist die Frage nach dem Grund unseres Seins: ob wir uns begreifen aus dieser Welt, nur aus dieser Welt – dann ist unser Dasein, dann ist diese «Welt» ein Kessel der Angst –, oder ob wir sie anschauen mit den Augen Gottes. «Es ist», meinte Kierkegaard, «wie wenn du auf einem hohen Turm stehst; du starrst nach unten, und du wirst schwindlig, vor deinen Augen dreht es sich, du suchst nach Sicherheit, aber du wirst den Blick in die Tiefe nicht mehr los, es reißt dich genau dorthin, wohin du nicht willst, du stürzt ab vom Plafond. All das ist im Automatismus der Angst notwendig und unvermeidbar. Aber was wäre, wenn du gar nicht nach unten geschaut, sondern die Hand gesehen hättest, die sich nach dir ausstreckt?»9 – Jesus wollte diese unsichtbare Hand sein, die uns gereicht wird, und er wollte, wir könnten sie ergreifen jenseits des Abgrunds. Dann bleibt ein unendlich Kostbares, ein für alle Zeiten Gültiges. Immer wieder wird Jesus zugetraut, gerade bei diesen Worten aus dem JohannesEvangelium, er habe eine neue Religion gründen wollen abseits vom Judentum; doch genau diese Worte hier sagen es anders. Das, was Jesus will und anbietet, ist etwas, das er völlig kontinuierlich mit Abraham in Verbindung setzt: Wenn Kinder Abrahams ihr wäret, die Werke Abrahams würdet ihr tun. Mit anderen Worten: «Würdet ihr leben wie Abraham, so wäre es kein Problem, richtig zu sein.» Ein wunderbares Wort aus dem Munde Gottes lautet in Genesis 17 bei der Berufung Abrahams so: Geh du vor mir her, und sei ganz! (Gen 17,1) – «Ganz» ist ein Wort, das man im gesamten Orient noch heute gebraucht, indem man die Hände ineinander schlägt und sagt: tamam oder tamim, was soviel heißt wie: okay, – «sei richtig, sei ganz, so daß du dir selber zustimmen kannst und schon deswegen auch die Zustimmung anderer verdienst. Dann bist du nicht mehr die chronische Negation deiner selbst, sondern es wird eine Freude sein, mit dir zu leben. Sei nicht mehr Abram, sondern Abraham; nicht mehr: der ‹hohe Vater› (Abram), sondern: ‹der Vater vieler› sei dein Name.» 385

Die Frage bleibt: Bedeutet Religion, sich auf etwas zu berufen, das historisch einmal war und dann durch die Generationen biologisch oder soziologisch so weiterging als ein Faktor der Tradition? Dann sind wir stolz auf ein Christentum, das nun schon zweitausend Jahre alt ist. Zwar, die Buddhisten sind noch fünfhundert Jahre älter und die Hindus gar tausend Jahre, aber was verschlägt das schon? Zweitausend Jahre immerhin! Das erdrückt jeden Menschen, der bestenfalls siebzig, oder, wenn es hoch kommt, achtzig Jahre lebt, wie der Psalm 90,10 sagt. Es war, noch einmal, ein entscheidender Gedanke Kierkegaards, den wir mit Bezug auf die Gestalt des Täufers bereits erwähnt haben: die Geschichte beweise über die Wahrheit des Religiösen überhaupt nichts; sie biete absolut kein gültiges Präjudiz, ganz im Gegenteil, sie sei eine falsche Beruhigung, indem sie vorgebe, etwas besser zu kennen, weil man es nun schon weit hinter sich habe. Eine Religion, die zweitausend Jahre alt ist, beweist scheinbar tatsächlich ihre Wahrheit durch sich selbst: sie existiert schon so lange, sie funktioniert also; da gibt es in ihrer Vergangenheit keine Schwierigkeit mehr, die nicht beantwortet wäre, es gibt nicht einmal mehr die Frage, ob eine solche Religion wahr ist oder nicht. Alles ist vermeintlich klar, eben weil sie zweitausend Jahre schon existiert. Wer sich ihr anschließt, ist auf Grund ihrer heiligen Tradition wie von selbst auch schon in der Wahrheit. Das heißt – im Bilde –: Unser Vater ist Abraham; diese Aussage ist so unsinnig wie zu sagen: wir haben Christus oder durch Christus Gott zum Vater. Ihr, sagt Jesus hier, vom Vater Teufel seid ihr! So wäre es wirklich, sobald wir uns eine Wahrheitsgarantie in Generation und Tradition einreden ließen; es wäre eine Lüge im Kern, es wäre ein Mord in allem, weil es die Menschen im Prinzip daran hinderte, selber zu sein und sie selbst zu werden. Ein Mensch ist mehr als eine bloße Verfügungsmasse für eine bestimmte Institution. Die Chance und die Erlaubnis hat ein jeder zu fragen: Und wer bin ich denn selber, – bin ich gleich ursprünglich mit der Person Jesu? Die Frage ist nicht: wie berufe ich mich auf ihn?, sondern: wie lebe ich mit ihm, gleichzeitig mit ihm, an seiner Seite? Keine Auseinandersetzung bleibt uns da erspart, und man kann froh sein darüber! Denn gerade das ist der Preis der Freiheit: ein offenes, wagemutiges, riskiertes Leben. Da ist der (physische) «Tod» nicht mehr Tod, sondern (existentiell) ein wirklicher Anfang. Wer den Tod im Sinne Jesu nicht mehr fürchtet, der hat keine Angst mehr, der kann wahr sein. Der schlimmste Tod aber besteht, wenn wir es uns genauer vor Augen führen, in der Angst, nicht geliebt zu werden; sie ist es, die uns um Anerkennung buhlen läßt bis zum Verlogenen. Das meinte der johanneische Jesus: wir müßten lernen, zu hören auf die 386

Stimme, die möchte, daß wir sind; nichts weiter wollte er sein als diese leise, gütige und gültige Stimme! Den ganzen restlichen Flitterglanz der Verlogenheit muß man wirklich mit dem Besen durch die Vordertür hinauskehren. Deshalb sind die Worte Jesu an dieser Stelle notwendigerweise hart, fast unbarmherzig, eindeutig und klar, ein Entweder-Oder ohne Rückzugsmöglichkeit. Das muß sein, denn wo der Besen nicht hinkommt, bleibt der Staub liegen. Das ist die ganze Botschaft des Johannes-Evangeliums an dieser Stelle.

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Joh 8,48-59: Wenn jemand mein Wort hält, wird er den Tod nicht schauen 48Geantwortet

haben die Juden (die Gottesbesitzer), sie sagten ihm: Nicht mit Recht sagen wir: Ein Samariter bist du, und einen Dämon hast du (7,20)? 49Geantwortet hat Jesus: Ich, einen Dämon habe ich nicht, sondern ich ehre meinen Vater; doch ihr entehrt mich. 50Ich aber suche nicht meine Verherrlichung. Es ist einer, der sucht, der urteilt. 51Bei Gott, ja, bei Gott, ich sage euch: Wenn jemand mein Wort hält, wird er den Tod nicht schauen auf ewig hin (5,24; 14,23; 6,40.47). 52Sagten ihm (da) die Juden (die Gottesbesitzer): Jetzt sind wir im klaren, daß du einen Dämon hast. Abraham ist gestorben, auch die Propheten, und du sagst: Wenn jemand mein Wort hält, wird er den Tod nicht kosten auf ewig hin? 53Nein, du? Größer bist du als unser Vater Abraham, der gestorben ist? Auch die Propheten sind gestorben. Wen machst du aus dir? 54Geantwortet hat Jesus: Wenn ich mich selbst verherrliche, so ist meine Herrlichkeit nichts. Es ist mein Vater, der mich verherrlicht, von dem ihr sagt: Er ist unser Gott (Jes 63,16). 55Und doch kennt ihr ihn nicht; ich aber weiß ihn (7,28.29). Und wenn ich spräche: Ich weiß ihn nicht, so wäre ich euresgleichen, ein Lügner. Aber ich weiß ihn, und sein Wort halte ich. 56Abraham, euer Vater, jubelte, daß er sähe meinen Tag. Er sah ihn. Er war glücklich. 57Gesagt haben da die Juden auf ihn: 50 Jahre nicht einmal bist du, doch Abraham hast du gesehen! 58Gesagt hat ihnen Jesus: Bei Gott, ja, bei Gott, ich sage euch: Ehe Abraham ward, bin ich! 59Da hoben sie Steine auf, um auf ihn zu werfen (10,31). Jesus aber verbarg sich und ging fort, fort aus dem Heiligtum.

In diesem letzten Abschnitt aus dem 8. Kapitel des Johannes-Evangeliums geht es, wie an so vielen anderen Stellen dieses Vierten Evangeliums, erneut um die Frage: Wer ist Jesus Christus? Was kann er von sich selber sagen? Was überhaupt geschieht, wenn er von sich redet? – Das JohannesEvangelium scheint selbst kaum zu ahnen, daß es damit eine Frage formuliert und in gewissem Sinne sogar beantwortet, die sich, beispielhaft und wesentlich konzentriert in der Gestalt des Mannes aus Nazaret, im Leben eines jeden Menschen stellt. Wie über einen Abgrund hinweg schildert das Johannes-Evangelium unter dem Wort «Glauben» eine Form von Gleichartigkeit, ja, Gleichzeitigkeit des Seins zwischen denen, die diese Texte lesen, und demjenigen, von dem sie sprechen. Das Johannes-Evangelium ist so etwas wie ein Medikament, sagten wir schon einmal, dessen Beipackzettel wir nicht in der Hand haben, so daß wir im eigenen Leben nach der Gebrauchsanweisung dafür suchen müssen. 388

Die Art, wie man Medikamente heute herstellt, läßt sich, nicht ganz abwegig, mit der Art und Weise vergleichen, wie das Johannes-Evangelium sich inhaltlich darstellt: Abgesehen von ihrem möglichen Mißbrauch ist die GenTechnologie tatsächlich ein gutes Bild für den Vorstoß, den auf der geistigen Ebene das Vierte Evangelium unternimmt. Jahrmillionen und Jahrmilliarden haben Viren komplexere Organismen benutzt, um sie sich für ihre eigene Fortpflanzung dienstbar zu machen. Sie drangen in den Zellkern ein und gaben ihr eigenes genetisches Programm in den Vermehrungsapparat ihrer Wirtszelle. In den letzten zwanzig Jahren nun hat man versucht, den Spieß umzudrehen: Statt gegen tödliche Virenstämme Schutzimpfungen einzusetzen oder das Immunsystem sonstwie zu stärken, scheint es gelungen, selber in das Erbgut der Viren fremde Gene einzuschleusen und sie zur Herstellung gewünschter nützlicher Produkte einzusetzen. Das Johannes-Evangelium findet eine ganze Welt vor, die tödlich ist in jedem Betracht. Der gesamte Apparat, die bedenkenlose Strategie, sich selber wirtschaftlich, politisch, religiös, kulturell durch die Jahrhunderte und die Jahrtausende zu reproduzieren, ist in den Augen des Vierten Evangelisten nichts anderes als Tod. Man hat es in den Weisungen der Propheten, der Philosophen, der Religionsgründer oft genug unternommen, frontal gegen diesen Tod anzugehen, den Krankheitsherd gewissermaßen zu isolieren und dann auszurotten. Eingesetzt wurden dabei stets der Wille und der Verstand – die moralisch gelenkte Freiheit sollte den Ausschlag geben. Doch nie war dieser Kampf wirklich erfolgreich, so wie in unseren Tagen sich zeigt, daß der Gebrauch etwa von Antibiotika längerfristig zu einem Desaster führen könnte, indem bestimmte Bakterienstämme, zum Beispiel solche, die Lungentuberkulose hervorrufen, anpassungsfähiger sind als bisher gedacht; sie zeitigen Mutationen, auf welche die herkömmlichen Medikamente nicht mehr ansprechen. Das Johannes-Evangelium stellt in der Geschichte der Religionen so etwas wie das Wagnis einer vollkommenen Neubegründung der «Welt» dar. Es übernimmt dabei die Ausdrucksweise der Gegenwelt, es redet die «normalen Worte» des Alltags, es verwendet die Linguistik der Wirklichkeit, die es bekämpft, indem es ihre Vorstellungen von innen heraus zersetzt. Wer versteht, was das Johannes-Evangelium in der Sprache dessen sagt und sagen will, was es eigentlich bekämpft, der begreift zugleich, daß die ganze gewohnte und vertraute Welt nicht mehr trägt noch tragen kann; der teilt nach und nach die Diagnose des Johannes-Evangeliums: Was bisher Leben schien, ist Tod! Und daraus formt sich nach und nach das neue Programm: Es gilt, mit den Mitteln des Alten aus den Baumaterialien sei389

ner Ruinen etwas Neues herzustellen, das den Namen Leben erst wirklich verdient. Sagen wir es einfacher in einem Vergleich aus der Optik. Stellen wir uns einen Klappspiegel vor, von dem uns nur die linke Hälfte zugewandt ist; in diese also müssen wir schauen, um festzustellen, was auf der rechten Seite geschieht. Wir müssen mit anderen Worten alles gegenläufig lesen. Was wir links zu sehen meinen, befindet sich in der Realität rechts. Wir müssen mit Hilfe der Gesetze der Optik das Gesehene umdenken, um die Wirklichkeit zu begreifen. – Oder sagen wir es träumerischer, poetischer, mit Beethovens Mondscheinsonate: Wir stehen an einem Wasser, das dunkel in der Nacht daliegt, wir hören den Wind in den Zweigen der Bäume rauschen, wir lauschen dem Murmeln der Wellen, und dann durch die Wolken dringt der schwache Schimmer des Mondes, er bricht durch die aufreißende Wolkendecke hindurch, und mit silbernen Händen berührt er die Oberfläche des Sees. An den wenigen Stellen, wo das geschieht, glänzt das dunkle Wasser hell auf, es überzieht sich mit Silber und Gold und hüllt sich in eine ihm nie zugetraute Schönheit. Wir aber können und müssen beim Blick in das Wasser den Mond erschauen, von dem all die Schönheit ursprünglich stammt. Die Wissenden indessen fügen noch hinzu, daß der Mond sein Licht nicht aus sich selber gewinnt, sondern nur den Widerschein der unsichtbaren Sonne auf die Erde sendet. – So ähnlich die Gestalt des Jesus im Johannes-Evangelium. Immer wieder sagt er: Wenn ich Zeugnis ablege über mich selbst, ist mein Zeugnis nicht wahr. Ein anderer ist es, der Zeugnis über mich ablegt, und ich weiß: wahr ist das Zeugnis, das er für mich ablegt (Joh 5,31.32). Nicht kann ich wirken von mir aus – nichts (Joh 5,30)! Mit anderen Worten: «Alles, was ich bin, habe ich nicht aus mir selbst, bezeuge ich nicht von mir selbst, ist nicht meine eigene Sendung und Beauftragung, alles in mir ist von fremd. Aber wenn ihr mich seht, seht ihr, was ihr sonst nie sehen könntet, – etwas Unsichtbares, Wunderschönes, etwas, das allem seinen eigentlichen Wert verleiht.» Damit im Grunde hebt diese letzte Passage im 8. Kapitel des JohannesEvangeliums an: Was eigentlich ist ein Mensch? Was ist er wert? Worin gründet er sein Selbstbewußtsein, sein Selbstvertrauen? Die «Welt», die das Johannes-Evangelium vor sich hat und die es bekämpfen will, indem es in ihr Sprachgewand schlüpft, hält zur Erwiderung auf diese Fragen eine uralte, fast selbstverständliche Antwort bereit: Ein Mensch, ganz klar, wird gemessen an den Maßstäben, die gelten. Und wo finden sich die Maßstäbe, die gelten? Auch das ist ganz klar: in der Umgebung, in der ein Mensch lebt. Die Kultur, die ihn als ein sprachfähiges Wesen ermöglicht, die legt 390

fest, wonach ein Mensch zu bewerten ist und also auch was er selbst nach diesen Maßstäben wert ist. Die Kultur, das ist wohlgemerkt ein Ensemble aus Religion, Tradition, Moral, Rechtsprechung und den gesellschaftlichen Spielregeln des Zusammenlebens. Dieses komplexe Bündel dient als Parameter, und diese als fest gegebene Größe wird wie selbstverständlich jedem Einzelnen angelegt. Wer aber legt diesen Maßstab an den Einzelnen an? Das tun die von der Gesellschaft dazu Befugten. Das sind im Raum der Theologie die Theologen; sie schreiben die Gesetzbücher der etablierten Religion, den Codex Juris Canonici zum Beispiel in der Kirche Roms; das sind im Raum der Justiz die obersten Verfassungsrichter und eine Ebene darunter die Richter, die am Ort in den verschiedenen Fällen zu begutachten haben, was zwischen den Menschen Recht und was Wert ist und welch eine Ordnung über den Menschen und für die Menschen verfügt ist. In jedem Falle liegt es bei Menschen, über Menschen zu urteilen. Freilich, es schwindelt uns, wenn wir das hören; es wird uns unheimlich zumute, und wir fragen uns, ob es so gehe. Darum versucht jede Gesellschaft, jede Religion, jede Rechtsordnung, jede Moral denn auch alle Fragen, die ihr Rechtswesen in Frage stellen könnten, niederzuhalten, indem sie sich über die Brücken einer eigenen Ideologie oder Mythologie auf etwas Unbezweifelbares und Letztes zurückführt. Die Gesetze der Vernunft sollen es sein, die dieses und kein anderes Urteil nahelegen, oder es ist die Gottheit selber, die von Ursprung her die Gesetze erlassen hat, aus denen nach den Regeln der Logik dies und das sich ableiten läßt. In jedem Falle bleibt es dabei, daß ein Mensch das Recht hat, gegen den anderen und über den anderen Richter zu sein. Die Gottheit wird auf diese Weise vereinnahmt als Garant der moralischen und juristischen Regeln der jeweiligen Gesellschaft oder Bezugsgruppe. Auch Gott, genau betrachtet, hat unter diesen Umständen nichts mehr und nichts anderes zu sagen, als was in dem Ensemble einer solch verfaßten Kultur zu sagen ist. Gott ist im Grunde lediglich die absolute Instanz, der letzte Geltung verleihende Überbau des sonst Relativen. Machen wir die Probe aufs Exempel. Wir erleben, daß man über Menschen in absoluter Anklage zu Gericht sitzt. Jemand hat etwas getan, das mit den Gesetzen, die in Geltung sind, zusammenstößt; also ist es notwendig, das Recht durch Strafe wiederherzustellen, und das Strafmaß wird ausgesprochen nach der Verordnung der Paragraphen und dem Urteil der zuständigen Richter. Daraufhin wird der Einzelne zur Strafe vom Kordon der menschlichen Gemeinschaft ausgeschlossen und isoliert. Genau genommen hat er sich selber isoliert, und die Strafe setzt nur noch äußerlich 391

fest, was im Wesen seiner Tat bereits enthalten lag. Dieses ganze System basiert auf der absurden Vorstellung, von außen her beurteilen zu können, was Menschen sind. In letzter Konsequenz endet es so wie die Geschichte hier im 8. Kapitel des Johannes-Evangeliums: Man wird Menschen hinrichten, man wird sie töten, aus Gewissen, aus Anstand, aus Moral und aus Frömmigkeit, und alle «richtigen» Begriffe werden den Richtern recht geben, wenn sie den Tod über den Straffälligen, den Delinquenten verfügen. Ein Leben ist dann prinzipiell nicht länger zu dulden, das von den göttlichen, den heiligen, den gesellschaftlichen Werten abirrt. Die Todesstrafe ist zum Beispiel in den USA, in God’s Own Country, derzeit mehr denn je im Schwange, ob in der Gaskammer, vor den Flintenläufen, am Strick, auf dem elektrischen Stuhl – irgendwie muß ein Menschenleben doch physisch zu vernichten sein, und man erspart auf diese Weise dem Steuerzahler die langjährige Finanzierung eines gesellschaftlich verderblichen, überflüssigen, nichtsnutzigen, gefährlichen Subjekts. Alle rechten Bürger haben einen Anspruch darauf, von schädlichen Parasiten nicht belastet zu werden. Der Ausstoß aus der Gesellschaft ist die Form jeder Strafe, und jedes Recht, das von außen her an den Menschen herantritt, wird am Ende in dieser Äußerlichkeit sein Finale finden: ausstoßen, ausschließen, trennen – die scheinbar Falschen von den Richtigen. So scheint es normal, so ist es mehr oder weniger überall, so war es in der Menschengeschichte schon immer, wohin wir auch schauen. Ein Narr scheint zu sein, wer dagegen etwas sagen wollte. Aber der Jesus des Johannes-Evangeliums sagt genau dagegen etwas. Es ist sein ganzes Wesen, in der Deutung des Vierten Evangelisten, die Äußerlichkeit, mit der Menschen über Menschen zu Gericht sitzen, beiseite zu räumen als einen absolut menschenverachtenden Irrtum. Alles, was da geschieht, ist dialektisch. Die Gegner Jesu – in Anführungsstriche stets zu setzen: «die Juden», weil es nicht um ein bestimmtes Volk, nicht um eine bestimmte Religionsform, sondern um einen bestimmten Typ, Religion zu leben und Mensch zu sein, geht –, «die Juden» also werden Jesus entgegenhalten: «Wenn du von dir selber sprichst, dann bist du willkürlich, aufgeblasen, anmaßend, stolz. Was machst du aus dir selbst, zu wem erklärst und verklärst du dich? Ein Mensch, der von sich selber redet gegen das Allgemeine, ist in sich selber nicht nur ein Außenseiter, er ist ein Aufsässiger.» – Jesus aber erklärt genau umgekehrt: Wenn er von sich selber redet, ist es, daß er die Stimme eines anderen durch sich selbst zu Gehör bringt; er ist gewissermaßen die Geige oder die Flöte, durch die ein bestimmter Ton erweckt wird und eine bestimmte Harmonie zustande kommt. Alles, 392

was er zu sagen hat, sagt er durch die Resonanz seiner eigenen Existenz; aber es ist nicht, wie wenn er die Melodie, die dann gespielt wird, selber erfände; sie führt sich durch ihn, in ihm nur auf. Er ist in seinem ganzen Dasein nur dieser widerhallende Körper, durch den der Wohlklang hörbar wird, aber er würde sich nie vermessen zu sagen, er sei der Ursprung dieser Symphonie. Da ist es also möglich, daß ein Mensch unendlich mehr ist an Wert und Schönheit und Größe und Harmonie als alles, was von außen verfügt wird, eben deshalb, weil er ganz nach innen gewandt ist und aus seinem Inneren etwas hörbar wird als Wort oder sichtbar wird als Licht, das dem Leben Sinn gibt und Schönheit, und es haben all diejenigen unrecht, die sagen: wer aus sich selber spreche, der sei nichts weiter als egoistisch, der sei ein Egomane, der sei aus auf eine Art von Selbstverwirklichung, die mit sozialem Chaos enden müsse. Ganz umgekehrt verhält es sich! Das ganz Normale im gesellschaftlichen, das ganz und gar üblich Erscheinende im politischen, wirtschaftlichen oder kirchlichen «Leben» tritt uns hier vor Augen als das Unmenschliche, als das Barbarische, als das Rohe, in jedem Fall als das, was man auflösen muß um des Menschen willen. Die Rettung des Menschen aber beginnt weder mit einer verbesserten Gesetzesmaschinerie noch präziser formulierter Vorschriften und Gebote. Da gilt es zu wählen, was man will. Es war der Jude Franz Kafka, der, wie im vorherigen Abschnitt bereits erwähnt, in seiner Erzählung In der Strafkolonie1 seine Vision von dem absoluten Sieg des Äußeren über das menschliche Leben zu einem Alptraum gestaltet hat. In Kafkas Strafkolonie wird ein Mensch exekutiert, indem die Hinrichtungsmaschine ihm den Schuldspruch in den Körper schneidet, immer feiner ziseliert, bis daß er daran stirbt, und es wird ihm zur letzten Gnade gereichen, daß er im Moment seines Todes die eingravierte Inschrift, die ihn vernichtet, zum wenigsten begreift: Er versteht immerhin sterbend wohl noch, warum er getötet werden muß. Das Strafsystem Kafkas ist, bei Lichte betrachtet, in seinem Sadismus sogar noch «menschlicher» als das in den modernen Gesellschaftsformen. Da muß der Hinzurichtende nicht einmal verstehen, was in ihm vor sich ging, als er dies und das tat, und was in denen vor sich geht, die ihm dies und das antun; da ist der Bruch zwischen dem Einzelnen und dem Allgemeinen wie etwas Endgültiges hinzunehmen. Der Ansatz, den Jesus in der Auslegung des Johannes-Evangeliums hier vorschlägt, ist gerade umgekehrt: Nicht von außen kommt die Menschlichkeit, sie etabliert sich nicht, indem sie sich mit immer noch härteren Strafen ins Herz der Menschen bohrt, sondern im Gegenteil: indem sie sich 393

von jeglichem Zwang und jeglicher Strafangst frei macht. Eine solche Haltung allein schon verändert die «Welt». Um es fast appellativ jedem Einzelnen zu sagen: «Das, was du mit deinem Leben wert bist, wirst du nie erfahren, wenn du dich umschaust und dich im Spiegel der anderen mißt. Immer wirst du Menschen finden, die scheinbar besser sind als du oder größer sind als du oder die umgekehrt kleiner oder vermeintlich schlechter sind als du; immer wirst du um dein Ansehen kämpfen, immer wirst du in Sorge und Angst sein, du könntest im Konkurrenzkampf schwächer werden, deine Reserven könnten im Kräftemessen mit den anderen sich aufbrauchen, und niemals wirst du wirklich leben. Anders: Wie wäre es, du fragtest dich, was mit deinem Leben wirklich gemeint ist, was darin sich ausdrücken will? Nach und nach räumtest du all die Schichten der Verformung, die von fremd dir auferlegt wurden, aus deiner Seele fort, und es wüchse nach und nach, immer deutlicher sichtbar, eine Gestalt in dir auf, die dir Orientierung böte; du fändest mitmal heraus, wozu du in diese Welt gesandt bist, was dein Auftrag ist. Nur auf den kommt es an, nur um dessentwillen gibt es dich, den mußt du verrichten. Laß dir nicht einreden, so etwas sei hybrid, es ist ganz im Gegenteil eine besondere Form von innerer Gefügtheit und Fügsamkeit.» Wollten wir sagen, es sei Demut, so müßten wir dieses Wort so verwenden, wie es einmal etymologisch gemeint war: nicht als Erniedrigung, sondern im Gegenteil als innerer Einklang; – man braucht nichts mehr zu tun, als mit einem selbst gemeint ist, das aber unbedingt; es kommt nicht länger darauf an, ob dieses Eigene und Eigentliche, nach fremdem Maßstab gemessen, zu kurz oder zu lang erscheint; es ist ganz einfach so richtig, wie es ist, und alles hängt nur davon ab, herauszufinden, was dieses Eigene und Eigentliche sei. Der johanneische Jesus umschreibt diese Verpflichtung immer wieder mit einem Wort, mit dem er alles zu erläutern versucht; das Wort lautet: Gott. Aber gerade dieses Wort ist das am meisten zerrissene, das scheinbar am meisten Zerrissenheit fordernde in der menschlichen Geschichte gewesen. Jeder Krieg wurde letztlich geführt um Gottes willen, mit absolutem, heiligem Anspruch, mit höchstem moralischem Pflichtgefühl. Um nichts haben die Menschen sich furchtbarer gestritten als um ihre Götter, die, schon indem sie Menschen einander zu Schlachtopfern bestimmten, sich als Götzen der Grausamkeit und der menschlichen Erniedrigung erwiesen. Deswegen ist es entscheidend, wenn Jesus einander gegenübersetzt: «Es ist mein Vater, der mich verherrlicht, von dem ihr sagt: Er ist unser Gott. Und doch kennt ihr ihn nicht; ich aber weiß ihn. Wir glauben beide dem 394

Namen nach an denselben Gott, ihr, die Juden, und ich, Jesus aus Nazaret; wir beide reden von ein und demselben Gott, ohne Zweifel, nur daß ihr dauernd sagt, ihr kennt ihn und wißt ihn im Grunde gar nicht: Gott als Vater.» Genau dieser Ausdruck von Gott als dem Vater Jesu ist in der Dogmengeschichte der Kirche, die sich vornehmlich auf das Johannes-Evangelium berufen hat, immer wieder zum Inbegriff einer bestimmten Metaphysik des Christus gemacht worden. Man wollte herausfinden, wie denn der «Vater» den «Sohn» zeugt, und dies nach dem Vorbild der Biologie gewissermaßen, die uns Menschen bekannt ist, doch dann auch wieder unendlich anders natürlich. Man hat versucht, das metaphysische «Wesen» Gottes mit dem «Wesen» Jesu in Verbindung zu bringen. Alles indessen ist in Wirklichkeit viel einfacher, wenn wir nur begreifen, was gerade schon anklang: Das Wesen eines Menschen ist die Art, wie er selbst sein Leben, seine Existenz, seine Beauftragung versteht; diese Beauftragung ist er, sie ist das «Wesentliche» in seinem Leben. Und hier nun sagt Jesus, es sei sein ganzes Wesen, sich auf Gott zu beziehen, und zwar so, daß Gott (in) ihm als Vater erscheine. Wir müssen all die patriarchalen Assoziationen, die sich um dieses Wort lagern, an dieser Stelle einmal beiseite stellen. Menschen kenne ich, Frauen insbesondere, die oft mit Tränen in den Augen sagen, sie vermöchten nicht einmal das Gebet Jesu, das Vaterunser, zu sprechen, so schwer lägen die Erinnerungen an den Mann, der ihr Vater war oder ihr Vater hätte sein müssen, auf ihrer Seele. Mit dem Wort «Mutter» mag es vielen nicht ganz verschieden ergehen, aber wir verbinden mit dem Mütterlichen zumindest das Bild, in manchem sogar die Erwartung einer Zugewandtheit, die leben läßt, ohne Vorleistungen einzuklagen. Ein von einer Mutter zur Welt gebrachtes Kind vermag gar nichts an Vorbedingungen zu erfüllen. Jede Forderung an ein solches Wesen, das das Licht der Welt erblickt, wäre ungerecht und erkennbar sinnlos. Es kann dieses Kind nur leben, wenn es sich angenommen, gemocht, bejaht, geliebt fühlt, und normalerweise wird eine Mutter für ihr Kind auch entsprechend empfinden können. Sie wird zum Beispiel wie selbstverständlich in die so merkwürdige Dialogform des wechselseitigen Lächelns eintreten: Ein Kind verführt seine Mutter, sich zu freuen, einfach durch die Art, wie es die Mutter anschaut und die wiederum ihrerseits ihr Kind. Beide werden sich in diesem Wechselspiel der Mimik schon wiederfinden und genauso im Tonfall. Die Mutter wird versuchen, die ersten Lall- und Lautbekundungen ihres Kindes nachzuahmen, und indem sie dies tut, indem sie sich selber imitatorisch gibt wie ein klei395

nes Kind, lernt auch das Kind, die Mutter zu imitieren; da wird ihm die Sprache der Mutter selber zur Muttersprache – ein Meisterwerk der Kommunikation und der Pädagogik. Ähnlich läßt sich das Verhältnis Gottes zu uns Menschen denken. Wohlgemerkt bleiben wir damit ganz und gar in der Vorstellung denkender Säugetiere, wir reden sehr menschlich, sehr anthropomorph, aber wir haben doch ein ganz gutes Modell, um uns in das hineinzufühlen, was Jesus hier eigentlich vermitteln möchte, wenn er von Gott als dem Vater spricht. Er möchte sagen: Ein Mensch, der zu sich selbst finden will, kann das doch nur, wenn er sich von Liebe umfangen weiß, wenn er sich absolut in seiner Einzelheit, in seiner Person, in seiner Individualität angenommen fühlt, und dieses Empfinden ist unendlich viel wichtiger, als darum zu buhlen, wie man von der Öffentlichkeit akzeptiert wird, wie man die public relations noch besser, die promotion noch effektiver, den Wahlrummel, den Propagandafeldzug für das eigene Ego noch effizienter auf Touren bringt oder in Gang hält. Das alles ist im Grunde Zerstörung, Selbstzerstörung von Anfang bis Ende. Aber zu leben aus jener heiligen Ruhe, die darin gründet, absolut und ganz geliebt zu sein von einem Gott, den man zwar nicht sieht, der aber doch in allem sichtbar wird, sobald man sich auf ihn einläßt, – das ist das ganze Leben, darin gründet das eigene Wesen, bis dahin, daß die eigene Persönlichkeit die Liebe, der sie sich verdankt, durch sich hindurchscheinen läßt wie Glas das Mond- und das Sonnenlicht, oder wie der Mond den Glanz der Sonne, die ihn anstrahlt, reflektiert und an die Nachtseite der Welt weitergibt. Auf diese Weise den Menschen auf Gott hin zu beziehen und ihn festzumachen und zu verankern in einem unerschütterlichen Vertrauen diesem «Vater» gegenüber, – das allein schon bestimmt die Sprache und den Tonfall dieser letzten Passage im 8. Kapitel des Johannes-Evangeliums. Bis hierher mußten wir die Worte Jesu fast peitschend lesen, laut und scharf, aufs äußerste provozierend: Ihr? Vom Vater Teufel seid ihr – so etwas hat der johanneische Jesus wirklich gesagt. Jetzt ist erreicht, was die Prozedur offenbar beabsichtigte: Die Gegner Jesu sind aufgebracht wie ein Schwarm Bienen, deren Korb man umgestürzt hat. Sie regen sich auf, sie gehen zur Attacke über, auch ihre Sprache jetzt ist schreiend und schneidend. Doch um so ruhiger, um so unerschütterlicher, um so leiser und souveräner klingt fortan die Rede Jesu, sie ist kaum noch vorwurfsvoll, sie fließt, ohne Wirbel zu bilden, aus sich selbst heraus. Man muß dieses Gegenläufige der emotionalen Bewegung in jedem Betracht sich vor Augen stellen, erst dann versteht man den überfallartigen 396

Ansprung, den Anwurf, mit dem hier die Gegner Jesu den Mann aus Nazaret als erstes belegen: Nicht mit Recht sagen wir: Ein Samariter bist du und einen Dämon hast du? – Die beiden Vorwürfe wirken wie herauskristallisiert aus dem, was die ersten drei, die synoptischen Evangelien erzählen. Da gibt es vor allem im Lukas-Evangelium eine Geschichte, die Jesus und die Samariter zusammenbringt, wenngleich Johannes auf diese Erzählung nicht hinweist. Im Lukas-Evangelium, im 10. Kapitel (10,25-37), richtet einmal ein Rabbi an Jesus die Frage: «Was ist wesentlich im menschlichen Leben? (Was ist das Hauptgebot?)» Die Antwort Jesu dort fiel sehr einfach, praktisch und handfest aus; sie lautete: Alles kommt darauf an, Gott zu lieben, mit allen Kräften deiner Seele, und deinen Nächsten wie dich selbst. – Alles was wir in der Sprache des Johannes-Evangeliums bisher gehört haben, ist im Grunde vollkommen dasselbe, nur klingt es ganz anders, und es berührt eine Problemtiefe, die der historische Jesus selber so kaum erkannt haben wird: wie verloren die Menschen sind inmitten der Mitmenschen, wie ausgeliefert der Einzelne im Allgemeinen, im Religiösen, im Traditionellen, im Konventionellen, wie schwer es ist, daß ein Mensch überhaupt eine ganze Seele gewinnt, mit der er lieben könnte auf eine Weise, die alle Kräfte des Geistes, des Herzens und des Willens versammeln würde. Von dem Kunststück, wie denn so etwas möglich sei, handelt das Johannes-Evangelium. Wenn aber ein Mensch sich erst einmal in Gott festgemacht hat, wenn er gewissermaßen an einer festen Sicherungsleine verankert ist, dann kann er in die Unruhe eines ganzen Meeres springen, um andere vor dem Ertrinken zu retten. Das ist soviel wie: … und deinen Nächsten wie dich selbst. Im 10. Kapitel des Lukas-Evangeliums schließt sich freilich sofort die Frage an: Aber wer ist denn, Rabbi, mein Nächster (Lk 10,29)? Und da erzählt Jesus die Geschichte vom sogenannten barmherzigen Samariter. Sie läuft wirklich darauf hinaus, daß man denken muß, jemand, der so ein Gleichnis erzählt, sympathisiere zumindest mit den Samaritern. Wir haben dieses Gleichnis bereits kennengelernt, als wir von Jesu Einstellung zu Tempel- und Priesterdienst sprachen; doch es lohnt sich, des SamariterVorwurfs wegen, die Geschichte noch einmal zu lesen. Jesus erzählt: «Ein Mann geht von Jerusalem nach Jericho und gerät unter die Räuber. Da liegt er am Straßenrand, leergeplündert, schwerverletzt, als ein Priester des Weges kommt.» – Jeder der Zuhörer Jesu wird an dieser Stelle die Ohren gespitzt haben: Ein Priester, das ist die Musterausgabe, das Vorbildexemplar, der Tugendbock des Allgemeinen. Wie er sich verhalten wird, so ist es die Pflicht, das Normative, genau so muß man sich verhalten. – Da fährt 397

Jesus fort zu erzählen: «Der Priester sah ihn, den Schwerverletzten am Wege, und ging vorüber.» – Was die heutigen Leser zumeist nicht wissen, konnte jeder der Hörer Jesu in Galiläa damals sich denken: «Na klar, so kennen wir die; sie sind immer feierlich, sie schweben stets wie auf Wolken, sie haben unentwegt den lieben Gott zwischen den Backen und unter den Füßen, aber eben deshalb finden sie nie zu den Menschen. Genauso kommen sie uns vor.» – Man könnte denken, Jesus verleumde da den heiligen Stand der geistlichen Würdenträger in seiner eigenen Religion; doch worauf er abzielt, ist das Ritualgesetz: Ein Priester unterliegt dem Gebot, sein Leben lang sich nicht zu besudeln mit Menschenblut; er hat überhaupt nicht die Erlaubnis, dem Schwerkranken am Wege zu helfen. Außerdem dürfen wir unterstellen, daß er zur rechten Zeit im Tempel von Jerusalem anzulangen hat, ordentlich, korrekt, koscher; mit anderen Worten: er lebt in einem religiösen Zwangssystem, das ihm erklärt, was sein Gott ist, das ihm seine priesterliche Aufgabe zuweist, das seine beruflichen Pflichten definiert, und dieser Mann wird treu und pünktlich alles tun, was er gelernt hat und wie er’s gelernt hat. Und damit man nur ja nicht sich vertut, damit man nur ja nicht denkt, es handele sich hier um eine Ausnahme, fügt Jesus zum zweiten noch einen Leviten hinzu, der in den Fußspuren des Priesters, seines Vorgängers und Vorbildes, genau so sich verhält. Ein Levit an und für sich könnte sich mit Menschenblut «beschmutzen», wenn er nicht gerade in das Opferritual eingebunden ist, aber ein wirklich frommer Mann wird das auch außerhalb der Dienstzeit zu vermeiden trachten, jedenfalls kommt es nicht in Frage, wenn der Tempeldienst wartet, wenn der Gottesdienst wartet. Was Jesus, mit anderen Worten, an dieser Stelle schon in zwei kleinen Sätzen zur Ouvertüre seines Gleichnisses sagt, ist wie unter Paukengedröhn und Posaunengeschmetter geredet: «Leute von Galiläa, jeder einzelne von euch hat seine eigene Erfahrung mit den Priestern in Jerusalem und mit ihrer ganzen offiziellen Theologie gemacht. Kein Mensch von diesen Hierarchen hat sich je um euch gekümmert. Das einzige, was sie zu sagen hatten, war: ‹Hier gibt es die sechshundert Gebote des Mose›; die legen sie aus, und es gibt lauter weise Leute, die nach den Gesetzen des Allgemeinen, des Objektiven und des Gültigen euch in rund zweitausend Zusatzkommentarregeln darlegen, was ihr zu tun habt, und wenn ihr das nicht tut, entweder weil ihr es gar nicht erst versteht oder weil ihr es gar nicht tun könnt oder weil es euch gleichgültig ist, dann wird auch Gott euch angeblich nicht verstehen, dann soll er euch gegenüber gleichgültig sein, dann seid ihr Gottverstoßene. So war das immer. Ihr hattet schon des398

halb immer unrecht, weil ihr durch all die pedantischen Gesetzesparagraphen nicht hindurchfandet. Ihr wart immer im Unrecht, nur weil ihr einfache Menschen seid. Ihr seid das Volk, von dem sie sagen: Aber diese Leute, die das Gesetz nicht kennen – verflucht sind sie (vgl. Joh 7,49). So reden die. Aber ich sage euch: Ihr dürft auf sie nicht hören; überhaupt nicht dürft ihr nach außen hören, und schon gar nicht müßt ihr nach oben schauen. Was Gott euch zu sagen hat, ist einfach! Das könnt ihr in euch selber wissen, wenn ihr es euch nur nicht ausreden und verbieten laßt. Ein bißchen Gefühl von Mitleid langt absolut aus, um zu wissen, was Gott will. – Ihr dürft, wenn ihr Gott finden wollt, euch nicht ausrichten auf diejenigen, die beanspruchen, Gott zu besitzen. Diese Leute sind der personifizierte Irrtum. Was sie im Kopf haben, ist eine Ideologie, ein Popanz von Gott, und ihr könnt es rasch nachprüfen. Der Gott, an den sie glauben, trennt immer wieder Menschen von Menschen und hindert sie, auf andere zuzugehen. Ihr Gott ist nichts weiter als ein Prinzip, mit dem sie selber groß dastehen und sich selbst verfeierlichen, aber in Wirklichkeit sind sie ganz und gar mickrig, sie haben nicht einmal den Mut und die Macht, eine menschliche Ausnahme von ihren unmenschlichen Gesetzen zu dulden. Sie sind nur das Offizielle, das heißt, sie selber existieren überhaupt nicht, sie sind nichts als die Musterexemplare des Allgemeinen, – schon deshalb sind sie als Personen gar nichts. Ihr aber, die ihr hier sitzt, hättet eine wunderbare Möglichkeit, das Richtige zu tun. Ihr müßtet nur die paar Dinge realisieren, die euch euer eigenes Herz sagt. Darin redet Gott so laut!» Wer da denkt, solche Worte seien antiklerikale Propaganda, solche Worte bedeuteten einen religiösen Volksaufstand, der hat ganz recht, nur diesen «Volksaufstand» erzeugt Jesus gar nicht mehr, er ist längst passiert. Jesus sieht die Menschen vor sich wie Schafe ohne Hirten, zerstreut über die Hügel Israels, und er weiß genau, daß die religiösen Führer sie nie mehr zusammenbekommen werden. Nur Gott traut er es zu, ganz wie der Prophet Ezechiel es vor sich sah. (Ez 34,1-31; Mk 6,34.) Es ist dasselbe Problem, vor dem die Religion in unseren Tagen steht: Gott kümmert sich nicht um das Behördliche und Beamtete, ihm geht es um das Persönliche, und so fängt er bei jedem Einzelnen an, um einen Neubeginn zu ermöglichen. Schon das alles ist äußerst provokativ. Aber dann legt Jesus noch ein Stück zu; er erzählt: Da kam des Weges ein Samariter. Ein solcher Samariter gilt uns Heutigen für das Musterbild von Mitleid und Menschlichkeit, doch das ist der Samariter erst aus diesem Gleichnis Jesu geworden. Ursprünglich waren Samariter Leute, die ein ordentlicher Jude als Volksfeinde zu meiden hatte. Denn die Samariter ach399

teten den Tempel von Jerusalem nicht; sie waren ausgeschlossen worden vom Wiederaufbauprogramm des zweiten Tempels um 520 v. Chr. nach der babylonischen Gefangenschaft, und so haßten sie den Tempel im Süden. Wenn Jesus von gerade einem solchen Samariter sagt: «Er sah den Verletzten, er ging zu ihm, er half ihm», soll das doch heißen: Es gibt Menschen, die haben im Sinne der offiziellen Theologie und Religion mit all dem, was da im Raum von Kirche und Gesellschaft verordnet wird, nicht die mindeste Chance, dazuzugehören; sie sind und bleiben die Ausgeschlossenen schlechthin. Aber gerade deshalb womöglich tragen sie diese schriftgelehrte Ideologie, diesen Zwangsgötzen nicht in ihrem Kopf und haben das Herz frei für Menschlichkeit. – «Ja, nun sehen wir klar: ein Samariter bist du», erwidern die «Juden» im Johannes-Evangelium: «jetzt sehen wir», müßten wir in unseren Tagen antworten, «daß du ein Atheist und Kommunist bist, daß du ein Gottesleugner im Prinzip bist.» Doch Jesus würde dem entgegenhalten: «So ist es wohl! Ich nehme Partei für Menschen, die in Not sind; wenn euch das nicht gefällt, dann fragt euch, wo ihr steht und zu wem ihr Gott macht!» Wir können den Vorwurf noch genauer prüfen: «Jetzt sind wir im klaren, daß du einen Dämon hast», sagen «die Juden», das heißt: du bist selber vom Satan. Auch diese Äußerung hat ihr Vorbild, im 3. Kapitel des Markus-Evangeliums. Da schon kommen sie von Jerusalem herab und sagen: «Den Baalzebul hat er, und: Mit dem Obersten der Abergeister treibt er die Abergeister aus» (Mk 3,22), und es steht da bereits auf Entweder-Oder: Entweder es ist zulässig, daß Menschen leiden und leiden, und das muß dann auch so sein, weil Gott es angeblich will, daß Menschen in Gottesgehorsam sich abquälen und darunter ihre eigene Reifung, ihre eigene Persönlichkeit, ihr Glück ersticken – oder es ist anders: Gott steht immer auf seiten des Menschen, seiner Persönlichkeitsreifung, seiner Freiheit, seines Ichs, seines Glücks – eins von beidem kann nur gelten. Die Überzeugung Jesu war da ganz klar: Alles, was Menschen guttue, meinte er, bezeuge durch sich selber schon, daß es von Gott sei. Wie denn auch sonst wäre Gott die Liebe? Doch dieser Standpunkt richtet sich, ob man es will oder nicht, gegen jede Form von Religion, die bis ins Innerste der Seele hinein nichts weiter ist als Außenlenkung, als Entfremdung, als Über-IchGelenktheit. Da ist Gott nichts weiter als ein psychischer Komplex, etwas, das als Implantat von außen in die Seele der Menschen mit viel Angst und Schuldgefühlen hineingedrückt wurde. Dem zu gehorchen ist immer identisch damit, sich selbst zu verleugnen; nie kommen unter solchen Voraussetzungen Religion und Menschlichkeit zueinander. Wenn das «Gott» 400

heißt, ist das Gegenstück davon «dämonisch», dann ist der Wille, Menschen zu befreien, an und für sich schon eine satanische Verführung. So sah man es wohl bereits in den Tagen des historischen Jesus aus Nazaret; das Johannes-Evangelium knüpft nur daran an. «Ein Samariter bist du, und einen Dämon hast du». Der Grund ist ganz klar: weil Jesus auf eine Art, wie sie noch nie war, Gott und Mensch zusammendenkt, weil er Gott als die Liebe glaubt, indem er ihn den Vater (die Mutter) nennt, verkörpert er einen Umsturz aller auf Macht und Entfremdung basierenden Religion. Und plötzlich begreifen wir alles weitere. Wir müssen nur wieder von der linken Spiegelseite auf die rechte Seite schauen und die Wörter gegensinnig lesen, um sie richtig zu verstehen. «Wenn jemand mein Wort hält», sagt Jesus, «wird er den Tod nicht schauen auf ewig hin» (Joh 8,51). Und schon heißt es auf der Gegenseite: «Abraham ist gestorben, auch die Propheten, und du sagst: Wenn jemand mein Wort hält, wird er den Tod nicht kosten auf ewig hin?» (Joh 8,52) Diese Formel: Wenn jemand mein Wort hält, wenn jemand (auf) mich hört, ist eine Schlüsselwendung im JohannesEvangelium. Immer wieder taucht sie auf, und immer wieder ist sie verbunden mit der Verheißung: wer so tut, den wird mein Vater lieben, den wird er nicht im Tode lassen. Die Auslegung dieser Worte hat zumeist gelautet: Wenn jemand mein Wort hält, das bedeute, man müsse sich anstrengen, um genau das zu befolgen, was Jesus gesagt habe; in der Frömmigkeitsgeschichte bis in unsere Tage hinein ist diese Forderung absolut identisch damit gewesen, daß man darauf hörte, was die Kirche sagte; auf Jesus hören hieß da soviel wie: alles für wahr zu halten, was von Jesus vornehmlich mit Berufung auf das Johannes-Evangelium in der Dogmengeschichte der Kirche überliefert wurde. Daß Jesus der Sohn Gottes ist, eben weil er Gott seinen Vater nennt, das zum Beispiel zu hören, zu glauben und nachzusprechen erscheint dann als das Wesentliche am Christentum. Doch wenn wir, wo wir links zu sehen meinen, einmal nach den Gesetzen der Optik vermuten, daß dort in Wirklichkeit eigentlich rechts sein müsse, und wenn wir daraufhin das Ganze einfach umdrehen, dann kommen wir dazu, daß Johannes gar nicht sagen will: Wenn jemand mein Wort hält. Es wäre ein Irrtum, zu denken, wir könnten Gott festhalten. Womit wir es in Wirklichkeit zu tun haben, ähnelt der Situation eines Ertrinkenden, der sich an einen Rettungsring klammert, um in Sicherheit gebracht zu werden; doch so wird seine Rettung nicht gelingen, weil er im Sturm irgendwann zu schwach sein wird, um noch die Kraft aufzubringen, sich länger «festzuhalten». Wir müssen das Wort daher freier übersetzen und sagen, nicht: Wenn 401

jemand mein Wort hält, sondern: «Wenn jemand sich an mein Wort hält», und ergänzen: der wird erfahren, daß er von Gott gehalten ist. Es geht darum, ein bestimmtes Vertrauen ganz, ganz fest zu machen, wie es im Grunde nur die Liebe uns schenken kann: Man hört ein neues, ein anderes Wort, man muß es in gewissem Sinne gar nicht «glauben», es ist einfach, daß dieses Wort in einem alles weckt, was zum Leben beiträgt, was zur Entfaltung befördert, was glücklich macht, was die Augen leuchten läßt. Ein solches Wort «hält» man nicht, man fühlt nur, wie es von innen her alles ausfüllt, was man selber ist. Das ist die Art, wie man es bei sich behält. Man strengt sich nicht an, jetzt wieder etwas Äußeres zu ergreifen und sich mit Willen und Verstand aufzuzwingen – man lebt eben nicht so, wie das übliche Gerede davon geht, man müsse «die Gebote» halten. Es verhält sich gerade umgekehrt: Das, was Jesus uns sagt, ist identisch mit dem inneren Gesetz in unserem eigenen Herzen, und sich daran zu halten ist der einzige Schutz, den wir gegen den Tod und gegen die Angst vor dem Tode besitzen. Natürlich kann man auch und gerade diese Aussagen noch einmal in dogmatischer Absicht aufs groteske mißverstehen. «Er wird den Tod nicht schauen auf ewig hin», heißt dann: er wird physisch nicht sterben, und so vorgestellt erscheint es als abergläubig, denn jeder weiß: alle Menschen werden sterben. Die ganze Auslegung kann bei solcher Betrachtung ins völlig Phantastische geraten, so wie im Weltkatechismus der römischen Kirche von 1992: Adam, der Mensch, so wird da gelehrt, besaß präternaturale Gaben, weil er im Paradies vom Tode befreit war, ist doch der Tod die Folge der Sünde; also mußte Adam zunächst gesündigt haben, damit Gott ihn mit dem Tod bestrafen konnte, und erst seither sterben die Menschen2. Derlei dogmatische Irreführungen können wir getrost beiseite stellen. Der Tod ist eine Mitgift unserer physischen Existenz; niemand wird daran etwas ändern. Aber vielleicht ist der «Tod» gar kein Tod; ganz sicher ist er keine Strafe. Wir müssen hier unterscheiden. Wenn Tod bedeutete, in die Grube zu fallen, wertlos, entbehrlich und unnütz, dann allerdings behielte der Tod das letzte Wort über uns; er würde uns zeigen, daß wir nie etwas anderes waren als überflüssig und daß es nun endgültig so ist und bleibt. Alle Angst vor dem Tod ist im Grunde Angst, nicht geliebt zu sein, ausgeschlossen zu sein, nicht nur allein, sondern isoliert und darin vollkommen nichtig – immer wieder bereits haben wir diese Erfahrung geschildert; wir haben auch schon überlegt, was ein Mensch angesichts einer Natur ist, die auf ihn keinerlei Rücksicht nimmt, und hinzugefügt, schlimmer noch stelle 402

sich die Frage, was der Mensch angesichts einer menschlichen Geschichte sei, die über Einzelne hinweggehe mit gewollter Gleichgültigkeit oder mit propagandistisch inszenierter Vernichtung. Und wir sahen: Es gibt keinen anderen Weg, den Tod zu überwinden, als die Liebe. Manchmal kommen Menschen, die sagen: «Ich habe schreckliche Angst vor dem Tod.» Doch geht man dem nach, so ist es fast immer Angst vor dem Leben; und schaut man noch genauer hin, was die Angst vor dem Leben ausmacht, so ist es die Angst vor der Liebe. Man hat sie verboten, man hat sie stranguliert, man hat sie unter moralische Zensur gesetzt, man hat sie niedergehalten, daß sie nie erwachsen werden durfte. Sie wurde am Ende aus einer Sehnsucht sogar zu einer Verführung und anschließend zu einer Gefahr. Man fängt an zu fürchten, was leben ließe. Umgekehrt also: Erst wenn man all die Verbiegungen revidiert, beginnt der Tod seine Macht einzubüßen. Er existiert nicht mehr; man lebt vielmehr jetzt und heute, erfüllt im Augenblick, und hat die Zuversicht, man werde auch durch die Pforte des Todes gemeinsam gehen. Da gibt es keine Trennung mehr zwischen einem Reich der Lebenden und einem Reich der Toten, da gibt es nur noch ein Reich der Liebe, in dem wir auf immer zusammen sind. Wohl mag es in der Zeit einen gewissen Abstand geben, doch nicht im Wesentlichen. Im Wesentlichen gehören alle Menschen zueinander. Gerade daß die Zeit sich aufhebt und zum Unwesentlichen wird, ist die merkwürdige Bestimmung des Menschen im Johannes-Evangelium. Die Philosophie des Existentialismus hat das sehr anders, den Worten nach völlig konträr, formuliert. Für Martin Heidegger in Sein und Zeit war Zeitlichkeit ein Existential des Daseins3, sie war gleichbedeutend mit der Selbstauslegung im Entwurf des Daseins. Für den Jesus des Johannes-Evangeliums verhält es sich gerade umgekehrt. Nicht: sich zu entwerfen, sondern: sich zu finden in einem Absoluten, das uns trägt und hält, und die Zeit förmlich zu vergessen, macht dort die Existenz des Menschen aus. Die Vergänglichkeit, die Vorläufigkeit des Daseins ist da nicht länger das Wichtige. Nur der Augenblick jetzt zählt. Worauf es ankommt, ist gewissermaßen nicht das Fließen des Stroms, sondern der Punkt, an dem das Mondlicht das Wasser zum Schimmern bringt. Da ruft man Jesus voller Sarkasmus entgegen: Fünfzig Jahre nicht einmal bist du, doch Abraham hast du gesehen! Doch Jesus antwortet: Ehe Abraham ward, bin ich! Und: Abraham, euer Vater, jubelte, daß er sähe meinen Tag. Er sah ihn. Er war glücklich – 1800 Jahre menschlicher Geschichte zwischen dem Patriarchen und dem Christus erscheinen da als ein Nichts im Wesentlichen. 403

Zwei Irrtümer sind an dieser Stelle noch möglich. Der eine ergibt sich wieder aus dem Prinzip des Äußeren. Denken kann man, die Geschichte selber entscheide über die Wahrheit eines Menschen, die Religionsgeschichte zumal verbinde überhaupt erst einen Menschen mit seinem geistigen Ursprung, wir brauchten, konkret gesagt, folglich mindestens zweitausend Jahre Kirchengeschichte, damit wir von Jesus überhaupt etwas Korrektes zu wissen bekämen, denn die Kirchengeschichte selbst sei die wesentliche Form der Überlieferung und Auslegung der Botschaft des Mannes aus Nazaret. Wenn es so steht, ist das Prinzip des Äußeren immer stärker als wir selber. Die Entdeckung des Johannes-Evangeliums hingegen lautet genau umgekehrt: Die 1800 Jahre zwischen Abraham und Jesus sind null und nichtig, sie zählen im Grunde gar nicht, sondern es ist möglich, daß Abraham «sehen» wollte, was in Jesus Wirklichkeit ist, ja, daß, wesentlich betrachtet, Jesus früher ist als Abraham war. Man kann sich das Gemeinte in einem simplen Vergleich verdeutlichen. Man kann in gewissem Sinne sagen: Kopernikus war früher als Aristarch von Samos, oder: Einstein war früher als Demokrit, und man meint damit: Alles, was Demokrit über die Atomphysik gedacht hat, wollte erkennen und sollte auf das hinauslaufen, was am Anfang des 20. Jhs. in Theorie und Experiment sichtbar wurde, und das, was da sichtbar wurde, bildet die Grundlage, ist wirklich früher im Sinne von «ursprünglicher», als all das, was Demokrit ahnen konnte. Und genauso ist es mit der Planetenbewegung und der Stellung der Sonne. Alles, was Aristarch intuitiv sah, wartete auf die Entdeckung des Kopernikus; wer Aristarch war und ist, zeigt sich überhaupt erst in Kopernikus; in diesem Sinne liegt Kopernikus dem Aristarch zugrunde. Daraus folgt zum zweiten etwas sehr Wichtiges. Das Christentum ist auch und gerade im Johannes-Evangelium nicht die Widerlegung des Judentums. Es ist, an dieser Stelle gesprochen, überhaupt keine andere Religion, es ist nichts weiter als zeitgleich und wesensursprünglich die Religion Abrahams! Alles, was je sich von Abraham als dem Vater des Glaubens in Israel ableitet, soll in der Haltung Jesu sich konzentrieren. Und noch einmal jetzt: Man müßte sagen: Worauf Abraham und alle Propheten gewartet haben, bestand darin, daß endlich Gott so glaubhaft, so fühlbar als Liebe Gestalt gewönne, wie es in Jesus geschehen ist. Alle menschlich wesentlichen Erfahrungen von Einsamkeit, Vertreibung, Fremdheit durchlebte Abraham in der Hoffnung, etwas Bestimmtes zu sehen, und der johanneische Jesus meint, was er habe sehen wollen, sei genau das, was er verkörpere: daß Gott und die Menschen eins sind und daß die Liebe, die 404

von Gott her das menschliche Herz durchdringt, von einem zum anderen fließt und daß es keine Einsamkeit, keine Vertreibung, keine Fremdheit mehr gibt. Es ist das Paradox, daß es auf dieser Welt kaum etwas Gefährlicheres und Provokanteres gibt, als einfach frei zu sein. Ob man ein «Kind Abrahams» ist oder wird, hängt in diesem Sinne von gar nichts Äußerem, Geschichtlichem, Institutionellem, Organisierbarem ab; es ist eine reine Frage der Existenz, wie wir Abraham verstehen: ob wir von ihm reden, um Traditionen und Lehrphrasen mit ihm zu begründen, oder ob wir in ihm eine Existenzweise erkennen, der wir gleich werden sollten, ja, die wir in ihrem symbolischen Inhalt sogar noch viel stärker ausbilden und aufgreifen können sollten, als sie in den «Wanderungen» Abrahams in ein «Land der Verheißung», rein historisch gelesen, zum Ausdruck kam. Die Entscheidung bleibt: Ist es Gotteslästerung, was wir da sagen, oder ist es die wahre Art, über Gott und Mensch zu denken, zu sprechen, zu hoffen, zu glauben? Es gibt nur eins von beidem, das Äußere oder das Innere; es gilt nicht die in der Systemtheorie gegebene Möglichkeit der Vernetzung von oben und unten, von außen und innen; hier geht es um ein Entweder-Oder, das nicht weiter zu vermitteln ist. Man kann nicht sagen: «Ein bißchen Innerlichkeit, natürlich; die ganze Religion will die Innerlichkeit; aber damit die Innerlichkeit nicht leer bleibt und falsch wird, brauchen wir das Äußere auch; die Institution ist notwendig; denn der Einzelne ist ein Verlorener, wenn er nicht die Gemeinschaft hat.» In Wirklichkeit sind wir Verlorene, solange all das, was wir als Innerlichkeit begreifen, nichts weiter sein soll als das, was man uns von außen gegen erheblichen Widerwillen eingeflößt hat. In Wirklichkeit sollten die Menschen von innen heraus leben und das Äußere sich selber gemäß formen. Erst so wandelt «Tod» sich zu Leben und «Lüge» zur Wahrheit; erst so öffnet Religion sich zu Menschlichkeit. Es ist ein Rätsel an dieser Stelle, wie Jesus sich hat verbergen können, während sie Steine nach ihm warfen; sagen wir besser: er wurde für sie unerreichbar. Es gibt Momente, in denen andere sagen können, was sie wollen; jedes ihrer Worte mag gezielt sein wie ein Stein zum Verletzen und zum Töten: es trifft aber sein Ziel nicht mehr. All die Attacken bleiben im Äußeren stecken, sie erreichen nie dieses innere Zentrum, das unangreifbar sich hier formuliert. Das einzige, was Jesus noch tun kann, ist, zu verschwinden – fort, zweimal sogar steht das dort, fort aus dem Heiligtum. Wo wir es nun suchen sollen, das neue Heiligtum, wird Jesus im Prozeß zu seinem Todesspruch und zu seiner Hinrichtung erläutern (Mk 14,58). Da 405

wird aufgegriffen, was der johanneische Jesus schon bei der Tempelreinigung gesagt hat: Löst diesen Tempel auf, und in drei Tagen errichte ich ihn! Und Johannes wird hinzufügen: Er aber sprach vom Tempel seines Leibes (Joh 2,19.21). Auch die Exegeten merken bis heute in aller Regel kaum, daß der Evangelist Johannes von Jesus und mit Jesus sagen möchte: Es gibt kein anderes Heiligtum als das eigene Leben! Wie sich das auferbaut im Vertrauen auf Gott und in Überwindung der Todesangst, das ist das ganze Rätsel des menschlichen Daseins.

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Joh 9,1-17: Die Heilung eines Blindgeborenen 1Und

im Vorübergehen sah er einen Mann, blind von Geburt. fragten ihn seine Jünger, sie sagten: Rabbi, wer hat gesündigt (Lk 13,2): Der oder seine Eltern, daß er blind geboren wurde? 3Geantwortet hat Jesus: Weder dieser noch seine Eltern, sondern sichtbar werden sollten die Werke Gottes an ihm (11,4). 4Wir müssen wirken die Werke dessen, der mich gesandt hat – solange es Tag ist (5,17). Es kommt eine Nacht, da niemand wirken kann (11,9; Jer 13,16). 5Solange ich in der Welt bin, bin ich der Welt Licht (8,12; 12,35). 6Das sprach er. Dann spuckte er auf die Erde und machte einen Brei aus dem Speichel und strich ihm den Brei auf die Augen (Mk 8,23). 7Und er sagte: Los, zum Waschen (2 Kön 5,10), an den Teich Siloam (Schiloach, das heißt übersetzt: Gesandter)! Er ging also fort, er wusch sich, er kam – sehend! 8Die Nachbarn da und die ihn gesehen hatten vordem, daß er ein Bettler war, sagten: Ist das nicht, der dasaß und bettelte? 9Die einen sagten: Der ist es. Andere sagten: Nein, aber ähnlich ihm ist er. Er sagte: Ich bin es. 10Sagten da sie ihm: Wie denn sind geöffnet worden deine Augen? 11Antwortete er: Der Mensch, der Jesus genannt wird, hat einen Brei gemacht und meine Augen bestrichen und hat mir gesagt: Los, zum Siloam (Schiloach), und wasch dich! Wie also ich fortging und wusch mich, wurde ich sehend. 12Da sagten sie ihm: Wo ist er? Sagt er: Ich weiß nicht. 13Führen sie ihn zu den Pharisäern, ihn, den ehemals Blinden. 14Es war aber Sabbat an dem Tag, da Jesus den Brei gemacht und seine Augen geöffnet hatte. 15Abermals da fragten sie ihn, Pharisäer halt, wie er sehend geworden. Er aber hat ihnen gesagt: Einen Brei hat er gelegt auf meine Augen; ich wusch mich – ich sehe. 16Sagen da von den Pharisäern einige: Nicht ist dieser auf Gottes Seite, der Mensch, – den Sabbat nicht hält er. Andere (aber) sagten: Wie kann ein sündhafter Mensch solche Zeichen tun? Und so war eine Spaltung bei ihnen. 17Sagen sie also dem Blinden noch einmal: Was du? Sagst du über ihn, daß er geöffnet hat deine Augen? Der aber sagte: Ein Prophet ist er. 2Da

Das 9. Kapitel des Johannes-Evangeliums verarbeitet erneut eine Erzählung der ihm überkommenen Wundersammlung, die unter anderem auch von der Heilung eines Blinden berichtet. Manches in dieser Erzählung ist sehr vergleichbar einer ähnlichen Geschichte im Markus-Evangelium (Mk 8,2226). Aber für Johannes ist die Heilung eines Menschen nicht einfach ein Geschehen, das sich irgendwann einmal aufgeführt hätte, es bedeutet für 407

ihn die Infragestellung unserer ganzen Art, die Welt zu sehen. Was ist da Licht, was Dunkel, was Wissen, was Nicht-sehen-Wollen, was Glauben an Gott oder womöglich Gottesleugnung in wahnhaftem Gottesbesitz? Zwischen der notwendigen Unsicherheit, die sein muß, um eine falsche Gewißheit zu erschüttern, und dem Beginn einer neuen Zuversicht an der Seite des Mannes aus Nazaret bewegt sich die Geschichte dieses «Wunders» sowie des Verhörs und des schließlichen Bekenntnisses des Sehendgewordenen. Jeder, der die Erzählung von der Heilung des Blinden im Johannes-Evangelium liest und sich in der Literatur der Antike etwas auskennt, wird sich erinnert fühlen an die Geschichte, die der griechische Philosoph Platon als Gleichnis erzählt hat und die wir schon einmal zum besseren Verständnis der Begriffe Licht und Dunkel im Johannes-Prolog wiedergegeben haben. Bestrebt, den mühsamen Weg der Erkenntnis zu malen, gebrauchte Platon ein Bild, um den normalen Zustand des menschlichen Bewußtseins zu verdeutlichen. Wir glichen, so schreibt er in dem Dialog über den Staat1, Menschen, die ihr Leben lang in einer Höhle zugebracht hätten, stets mit dem Rücken in Richtung Ausgang gewandt. Draußen, vom Höhleneingang, wirft das Licht mitunter Schatten von Vorübergehenden auf die Höhlenwände; die Bewohner dieser Stätte ewiger Dunkelheit aber glauben, in den vorübergehenden Schatten die Wirklichkeit selbst zu erkennen. Wollte nun jemand die Unglücklichen darüber belehren, daß draußen eine Welt voller Licht und Schönheit existiere, so würden sie ihn, völlig sicher in ihrem vertrauten Urteil, als jemanden verlachen, den man nicht ernst nehmen dürfe. Würde dieser gar, bemüht, die Unglücklichen von ihrem Schicksal zu befreien, gewissermaßen gewaltsam sie packen und ins Licht hinausschleifen, so würde ihnen die plötzliche Helligkeit derart weh in die Augen leuchten, daß sie sich förmlich mißhandelt und malträtiert fühlen müßten. Die größte Wohltat für einen Menschen, endlich sehen zu dürfen, würde von diesen des Lichtes Entwöhnten gewiß wie eine Krankheit empfunden werden. Platon erklärte sich mit diesem Vergleich den Widerstand der Menge nicht zuletzt auch gegen das, was er ihr als Weisheit darreichen wollte. Es läßt sich nicht leugnen, daß das ganze Johannes-Evangelium eine solche Umwertung aller «normalen» Erfahrungen vornimmt. Alles, was aus der Tradition für sicher bezeugt und klar zu Ende erklärt scheint, wird neu beurteilt und umqualifiziert von Segen in Fluch, von Wahrheit in Lüge, von Licht in Dunkelheit. Umgekehrt versucht das Johannes-Evangelium eine Gegenwelt des wahren Lebens, des wahren «Lichts» an der Stelle des 408

Zerstörenden, des Verlogenen zu errichten. Es ist aber klar, daß das Johannes-Evangelium im Unterschied zu Platon kein erkenntnistheoretisches Problem beschreiben will, das man über die Ausarbeitung einer philosophischen Theorienbildung lösen könnte; niemand wird das Johannes-Evangelium verstehen, der meint, im Status des Dozenten, gewissermaßen vom Katheder herab, eine Auslegung dieser Texte versuchen zu können, um der Menschheit und dem einzelnen Menschen endlich ein Licht der Klarheit und der Wahrheit im Rahmen der richtigen Doktrin aufzustecken. Genau das nicht. Nicht um Erkenntnis im Sinne eines intellektuellen Prozesses ist es dem Johannes-Evangelium zu tun, vielmehr möchte es aus der absoluten Verlorenheit, aus der völligen Entfremdung, aus den Gefrierzuständen der Seele durch eine innere Einsicht hinüberführen in eine mildere, wärmere Welt. Manche Theologen beginnen ihre fertigen Urteile erst in Frage zu stellen, wenn sie nicht sowohl mit dem Leiden Einzelner als mit der Tragödie großer Menschengruppen konfrontiert werden. Sprechen wir also als erstes von der Blindheit in kollektiven Zusammenhängen. Da zeigten sich zum Beispiel die christlichen Kirchen, fast zweitausend Jahre nach der Botschaft Jesu, in dem entscheidenden Augenblick des Holocaust-Desasters blind: Was unmittelbar vor ihren Augen geschieht, – sie können es sehen, aber sie wollen es nicht sehen, meinend, es nicht sehen zu dürfen mit Rücksicht auf die frommen Mitglieder ihrer Institution. Kein Mund öffnet sich, kein Schrei erschallt. Später, fünfzig Jahre danach, werden in München und Berlin einzelne Personen seliggesprochen werden, die individuellen Widerspruch einlegten, doch dieses Zeichen wird nichts weiter sein als ein nachgeholtes Alibi; als es darauf ankam, wurde jede Geste des Widerstands bewußt gemieden als zu gefährlich für das Gesamtsystem «Kirche». Die Frage stellt sich, was eigentlich uns hindert, zu sehen, was wir sehen könnten. Die johanneische Antwort auf dieses zentrale Problem unterscheidet sich prinzipiell von den Erörterungen, die die platonische Erkenntnistheorie bereithält. Der einfachste Grund für die menschliche Blindheit im Johannes-Evangelium ist das Verschließen der Augen aus Angst, wenn und weil etwas genau zu beobachten zu viel Risiko mit sich brächte. Besser ist es, wegzuschauen, besser ist es, buchstäblich den Kopf in den Sand zu stecken, besser ist es, sich den Sand vom Sandmännchen in die Augen streuen zu lassen, besser ist es, am Ende sagen zu «können»: wir wußten von nichts. Von daher kommt es darauf an, die Angst im Erleben jedes Einzelnen zu lösen und ihm Mut zu machen, das für wahr zu 409

nehmen, was er wirklich wahrnimmt. Doch eine angstfreie, unverzerrte Wahrnehmung wird immer wieder auf eine Erschütterung von allem hinauslaufen: es ist nicht mitanzusehen, was da als Normalität zu sehen ist. Nehmen wir ein zweites kaum noch erinnertes, doch wichtiges Beispiel. Im März 1996 wurde im deutschen Bundestag ein neues Gesetz auf den Weg gebracht, in dem es heißt, daß man die Bundeswehr, daß man den Soldatenstand nicht pauschal herabwürdigen und beschämen dürfe; es sei nicht erlaubt, Kurt Tucholsky zu zitieren und zu sagen: «Soldaten sind Mörder»; allenfalls dürfe man sagen: «Die Leute, die während des Vietnam-Kriegs der USA in My Lai ein ganzes Dorf mit vierhundert Menschen massakrierten, das waren Mörder.» Man darf demnach nicht sagen: «Da gab es junge GIs, denen die Nerven durchgingen, die den ganzen Krieg nicht ertrugen, die nur noch aus Angst bestanden und innerlich explodierten, als es darauf ankam: Endlich sahen sie die Vietnamesen; statt von ihnen aus dem Hinterhalt zerfetzt zu werden, hatten sie sie endlich vor sich, und sie taten genau das, was man den 18jährigen beigebracht hatte, um Soldaten aus ihnen zu machen: – wie im Reflex auf jeden Vietnamesen zu schießen, den man sieht.» Als die Vorgänge in My Lai vom Pentagon nicht mehr vertuscht werden konnten, wurden sie als Kriegsverbrechen eingestuft und damit als Ausnahmen in einem an sich «guten» Krieg hingestellt. Doch wo ist eigentlich der Unterschied, ob man aus den B 52-Bombern in fünfzehn Kilometern Höhe Napalm über ganze Dörfer regnen läßt oder ob man das MG gegen alles, was sich bewegt, durchzieht? Darf die Luftwaffe, was die Infanterie nicht darf? Es ist offenbar: Das Gesamtsystem des Militärs, das militärische Denken selbst ist schuldig, nicht die Einzelnen; aber wer das sagen wollte, müßte die Auftraggeber im Hintergrund: die Politiker, die Generäle, die Zeitungsmacher für verbrecherisch betrachten, die Staaten verlören ihre Legitimation, sie erschienen als quasi mafiose Vereinigungen. Doch die Frage bleibt: Wer denn hat all die Massenmorde im 20. Jh. in Auftrag gegeben, wenn nicht die Führer international anerkannter Staaten? 83 Millionen Menschen sind getötet worden in den Kriegen allein im letzten Jahrhundert, so schätzt man, und in dieser Rechnung sind nur die großen, die «richtigen» Kriege mitgezählt. All diese Tötungen gehen zu Lasten von Soldaten; aber weit mehr als Soldaten wurden in den Kriegen am Ende des 20. Jhs. Zivilisten getötet. Da entstehen Fragen über Fragen. Darf man eine Bombe ausklinken über Hiroshima und über hunderttausend Menschen in wenigen Sekunden vernichten? Darf ein amerikanischer Präsident auf einem Kreuzer, kaum daß er die Meldung von dem Bomben410

abwurf hört, enthusiastisch jubeln: «Jungs, wir haben ihnen einen Ziegelstein auf den Kopf geworfen!»?2 Die ganze Soldateska wird kreischen vor Begeisterung. Es wird keine Sekunde des Bedauerns geben; man wird vielmehr so schnell wie möglich ein Kamerateam in die zerbombte Stadt schicken, um festzustellen, wie ein neuer Atomschlag womöglich noch besser zu organisieren sei. Man wird weitere Testreihen planen, um zukünftige Explosionen noch effizienter, noch zerstörerischer zu gestalten. – Sollte man unter solchen Umständen wirklich nicht sagen dürfen: «Leute, die so etwas tun, sind schlimmer als Mörder?» Man kommt seit 1996 ins Gefängnis, wenn man das tatsächlich sagt, aber wie will man die Selbstverständlichkeit der Massenschlächterei im Krieg anders problematisieren, als indem man sie beim Namen nennt? Tucholsky sprach von Verdun im Ersten Weltkrieg als von dem großen Schlachthof3. Aber soll es denn dabei bleiben, daß jemand alles tun darf, tun muß, nur weil und wenn er sich den Metzgerkittel umgebunden hat? Oder nehmen wir ein anderes Beispiel der sogenannten Normalität. Wer, wenn er das Fernsehen sich anschaut, verträgt einen Dokumentarfilm über die Massentierhaltung? Was er dort zu sehen bekommt, ist wohlgemerkt die standardisierte Form einer quälerischen Tierhaltung, die wir längst schon als ökonomisch erfolgreich in andere Länder exportieren. Wir bringen inzwischen anderen bei, wie man Milliarden Tiere jeden Tag quält, routiniert, systematisch, mitleidlos. Bilder von solchen Zuständen und Praktiken kann man kaum sehen und will sie auch nicht sehen. Man ist es leid, man findet es unerträglich, doch statt wegzusehen müßte man hinsehen und den Mund aufmachen gegen das, was man gesehen hat. Man kann «so etwas» gewiß nicht immer wieder anschauen, aber wenn man begriffen hat, was da geschieht, so könnte man laut sagen: «Derlei Dinge wollen wir nicht länger geboten bekommen.» Es gibt vieles, das so nicht bleiben darf, solange wir Augen haben und solange wir fähig sind, mit der Seele zu sehen. Keine staatlich verordnete Sichtblende dürfte und sollte daran etwas ändern können. Die Absolution, die man im Kollektiv sich per Gesetz ausstellt, darf nicht länger so funktionieren, daß immer erst hinterher das Bedauern und das Kränzeniederlegen beginnt und man Gedenkstunden für Helden einrichtet, die man nie gewünscht hat, als man zeitgleich mit ihnen lebte. So kann man nicht die Zukunft gestalten, wenn man vorgibt, aus der Vergangenheit gelernt zu haben. Neben der kollektiven Seite können die Chiffren Nacht und Blindheit auch eine sehr persönliche, individuelle Dimension annehmen und Situa411

tionen und Zustände beschreiben, die im ganz Alltäglichen und Gewöhnlichen spielen; und diese Bedeutung liegt der Erzählung im Johannes-Evangelium zweifellos näher. Sie schildert zunächst nicht die kollektive Verdüsterung und Umnachtung menschlicher Gesellschaften in den geschichtlichen Schicksalsaugenblicken ganzer Völker. Was sie beschreibt, ist gewissermaßen privater Natur, dafür aber keinesfalls weniger problematisch und des Nachdenkens wert. Berichtet wird von einem Mann, der blind geboren wurde. Stellen wir uns diese Krankheit nicht einfach als ein sozusagen körperliches Verhängnis vor, als einen Erbfehler etwa, der genetisch mitgegeben wurde, oder als einen Geburtsschaden, als eine Behinderung, als eine Infektionskrankheit, – also jedenfalls nicht als eine biologische Tatsache, sondern denken wir uns, daß Menschen auf eine Weise zur Welt kommen können, die sie seelisch hindert, das Licht der Welt überhaupt zu erblicken. Nehmen wir das Blindgeborensein als Bild für ein Menschsein, das seelisch nie dazu kam, im Leben so etwas wie ein Licht oder ein Leuchten zu entdecken – alles war und blieb nur dunkel, verschattet und müde vor Traurigkeit. Auch auf ein solches Empfinden kann natürlich wieder vieles an kollektiven Ursachen Einfluß nehmen, und doch findet sich ein solcher Schmerz immer wieder nur in jedem Einzelnen. Rainer Maria Rilke im Stundenbuch4 konnte die Seelenumdüsterung und die Aussichtslosigkeit des Lebens so vieler einmal aus der Sicht von Großstadtbewohnern beschreiben. Denn, Herr, die großen Städte sind verlorene und aufgelöste; wie Flucht vor Flammen ist die größte, – und ist kein Trost, daß er sie tröste, und ihre kleine Zeit verrinnt. Da leben Menschen, leben schlecht und schwer, in tiefen Zimmern, bange von Gebärde, geängsteter denn eine Erstlingsherde; und draußen wacht und atmet deine Erde, sie aber sind und wissen es nicht mehr. Da wachsen Kinder auf an Fensterstufen, die immer in demselben Schatten sind, und wissen nicht, daß draußen Blumen rufen zu einem Tag voll Weite, Glück und Wind, – und müssen Kind sein und sind traurig Kind. 412

Da blühen Jungfraun auf zum Unbekannten und sehnen sich nach ihrer Kindheit Ruh; das aber ist nicht da, wofür sie brannten, und zitternd schließen sie sich wieder zu. Und haben in verhüllten Hinterzimmern die Tage der enttäuschten Mutterschaft, der langen Nächte willenloses Wimmern und kalte Jahre ohne Kampf und Kraft. Und ganz im Dunkel stehn die Sterbebetten, und langsam sehnen sie sich dazu hin; und sterben lange, sterben wie in Ketten und gehen aus wie eine Bettlerin. Es gibt kaum ein Gedicht in der Weltliteratur, das imstande wäre, lebenslängliche Dunkelheit so intensiv zu verdichten wie dieser Gesang auf ein Leben, das nie zum Leben kam, auf ein Blühen, das mitten in seiner Schönheit erstarb, auf ein verlorenes Suchen, das sich vergeudete und sich abmühte, ohne zu wissen, wofür. Und so, deutet Rilke an in dem Bild der «Stadt», geht es fast allen, den Erwachsenen, den Kindern, den Frauen – wem eigentlich nicht? Doch mit dieser «dichterischen» Sehweise beginnt eine neue, alles ändernde Form der Wahrnehmung, die sich ganz und gar mit der Perspektive deckt, die auch das Johannes-Evangelium vorschlägt. Denn es ist, als begönne in der johanneischen Erzählung ein neues Sehen in die verborgene Not der Menschen hinein. Erstaunlich ist schon die Einleitung: Im Vorübergehen sieht Jesus diesen blindgeborenen Mann. Aber er geht eben nicht vorüber, er geht auf ihn zu. Das allerdings ist der ganze Unterschied: Augen haben so viele, mit der Seele sehen könnten so viele, wer aber bleibt stehen, wer setzt sich dem aus – all den langen Geschichten, die sich in jedem Schicksal neu erzählen? Wie ist es möglich, Menschen zu helfen, die sich so fühlen: lebenslang blind? Das allererste ist: wir müßten die falschen Erklärungen beiseite räumen. Sie sind archaisch und obsolet, aber immer noch im Schwang. Sie lauten, daß, wenn ein Mensch eine Krankheit ertragen muß, damit der Gerechtigkeit Gottes Genüge getan werde; ihm zur Strafe geschehe es, daß er leide einer womöglich unbekannten Schuld wegen, zur Sühne für etwas, das vielleicht gar nicht er, sondern andere begangen hätten. Dieser Lehrsatz, der die Leidenden noch mehr leiden macht, indem er sie schuldig spricht und damit für strafenswert erklärt, deutet ihren Schmerz als eine Art Besserungsmittel, das sie, weil verdient, demütig annehmen und tragen müß413

ten. Eine solche «Theologie» schließt die schon bestehende Nacht in sich selbst ein und erlaubt kein Entrinnen mehr, – so darf man, sagt der Jesus des Johannes-Evangeliums hier, nicht denken, den Menschen zuliebe, und so darf man nicht denken, Gott zuliebe. Man tut beiden Unrecht. Kein Leid auf dieser Erde taugt als Strafe. Allein schon unsere ganze Pädagogik würde sich ändern, folgten wir diesem Satz. Wie viele Kinder sind mit endlosen Strafen zu ihrer «Besserung» großgeworden! Wenn man sie schlug, wußten sie kaum, warum, doch ihre Intelligenz hatte sich darin zu bewähren, es herauszufinden und dessen geständig zu sein. Sie hatten ihre Vermutungen immer weiter zu präzisieren: irgend etwas würden sie schon angestellt haben. Die gefundene oder notfalls auch erfundene Schuld zu bekennen erwies sich oft genug als die einzige Form, um für ein «gutes Kind» gehalten zu werden. Vor einer Weile, als wir darüber redeten, warum bestimmte Gespräche niemals ein Ende fänden und warum wir eigentlich keinen wirklichen Fortschritt sähen, erklärte eine Frau, daß sie sich in dem Gespräch eigentlich genauso verhalte, wie sie früher als Kind habe beichten müssen: «Ich erfand alle möglichen Sünden, selbst solche, die ich gar nicht begangen hatte, denn nur, wenn ich sehr viele Sünden beichtete, lobte mich der Pfarrer. Dann sagte er: ‹Du bist ein gutes Kind, daß du all das so genau beobachtest und berichtest; dir vergibt Gott.›» Da wird die «Finsternis» der Seele für den einzigen Ort der Wahrheit erklärt. Da wird das Sich-Vergraben im Negativen für das Beste gehalten, was Menschen tun können. Da findet die Umwertung von Leben in Tod in äußerster Konsequenz statt: im Namen Gottes, im Namen eines Priesters, im Namen einer kirchlichen Behörde, die vorgibt, den Menschen nur retten zu können, indem sie ihn verbrennt, zerstört, dem Dunkel und der Finsternis überläßt. Die Verknüpfung von Blindheit und Schuld kann aber auch ohne eine solche religiöse Fehlinterpretation noch viel unmittelbarer und noch weit unentrinnbarer gewebt werden. Vor einer Weile erzählte eine Frau – das heißt, sie erzählte nicht, sie erstotterte es, sie brach es heraus –, wie sie vor Jahren einen schweren seelischen Krankheitsprozeß durchgemacht hatte. Sie glaubte sich an jene Zeit zu erinnern, da sie drei, vier Jahre alt gewesen war. Ihre Mutter hatte von zu Hause weggehen müssen, sie selbst, die Tochter, war damals zu anderen Leuten gegeben worden. Niemand weiß, was sich bei diesen abgespielt hat. Die einzige verbliebene Erinnerung bestand darin, daß sie, endlich zu ihrer Mutter zurückgekehrt, wie zwanghaft Taschentücher gewaschen hatte, so viele und immer wieder, daß sie dafür 414

von ihrer Mutter geschlagen wurde, sie solle «die Unart» lassen! Sie aber verstand selbst nicht, warum sie das tat. Nach und nach begann sie zu glauben, daß all ihr Unglück überhaupt in dieser Zeit begonnen hatte, als sie weggegeben worden war. Und in der Tat, die Indizien häuften sich: sexueller Mißbrauch an einer Minderjährigen, – dafür schien so ziemlich alles zu sprechen. Es gab, wie fast immer in solchen Fällen, keine klare Erinnerung, nur eine grenzenlose Angst, ein ständiges Gefühl, in allem schuldig zu sein; doch das Schlimmste für ein Kind mit drei, vier Jahren war es, niemandem etwas sagen zu dürfen. Dieses Mädchen hatte, so jung es auch war, mitbekommen, daß es das Geschehene verschweigen müsse, daß, sobald es davon spräche, etwas ganz Furchtbares geschähe, der eigenen Mutter würde dann etwas Schreckliches angetan werden; schon deshalb durfte dieses Mädchen sich niemandem anvertrauen. – «Blindheit» kann auch darin bestehen, daß man am Ende die Quelle des eigenen Unglücks auf Jahrzehnte hin gar nicht mehr sehen darf. Man muß das Ungeheuerliche verdrängen. Man darf es niemandem entdecken, man muß die Augen eines jeden davon abwenden, daß er das Geheimnis nicht findet. Es kapselt sich ein, doch damit versperrt es zugleich alles Licht, das von draußen hineinfallen möchte. Was bleibt, ist eine Rilkesche Sehnsucht, aufzublühen. Aber wo findet sich etwas, das gegen so viel Angst, Selbstablehnung und Selbsthaß leben ließe? Da fühlt ein Menschenkind sich schlecht einfach für das, was man ihm angetan hat! – Diese Erkenntnis indessen markierte in unserem Gespräch den Beginn eines richtigen Sehens. Diese Frau stammelte immer wieder: «Aber ich konnte ja nicht dazu! Aber ich konnte ja nicht dazu!» Das stimmte, das stimmte vollkommen und aufs Wort, aber es war das erste Mal, daß sie so von sich denken konnte: Sie war keine Täterin in dem, was sie getan hatte, was sie hatte tun müssen, was man ihr angetan hatte, – sie war das Opfer! Und so in allem folgenden. Der Zorn, daß ihre Mutter sie im Stich und alleingelassen hatte – war das ihre Schuld? Sie aber hatte ihre Aggressionen in endlosen Depressionen gegen sich selber gerichtet, sie litt an schlimmen Ängsten, alle anderen würden sie verlassen, wenn sie «das Geheimnis» kennen würden, kennenlernen könnten. – «Aber ich konnte ja nicht dazu!» Das stimmte. Doch dann stimmt auch noch etwas ganz anderes, das der johanneische Jesus hier ausdrücklich feststellt: Es geht überhaupt nicht um Schuld. Diese Idee der überkommenen Theologie, diese falsche Rechtfertigung Gottes, diese Scheinerklärung der menschlichen Wirklichkeit, müssen wir aus der ganzen Betrachtung entfernen. Erst dann fangen wir überhaupt an, richtig zu sehen, wenn wir nichts weiter erkennen als einen leidenden Menschen, 415

dem wir zu helfen aufgefordert sind. Weder dieser noch seine Eltern (haben gesündigt), sondern sichtbar werden sollten die Werke Gottes an ihm, sagt das Johannes-Evangelium; keine anderen «Taten» wird Gott je wirken, als daß wir seelisches Leid überlieben durch das Wagnis menschlicher Nähe. Da ist immer wieder ein Abenteuer zu bestehen, ein Risiko einzugehen. Niemand weiß, ob das je gelingen wird, niemand weiß, wie das ausgeht. Dieser Tage fragte eine Journalistin: «Aber es gibt doch eine Menge Leute, vor allem in den neuen Bundesländern, die an nichts glauben, über 80 Prozent, und sie kehren auch zu den verfaßten Kirchen nicht zurück. Muß man denn wirklich an Gott glauben? Und wenn man die Psychologie benützt, wie Sie das versuchen, gewissermaßen um Gott zu erweisen, wird das dann je ein Beweis? Gibt es nicht viele Psychoanalytiker, Psychologen, die den Begriff Gott gar nicht verwenden, schon um keinen Schaden anzurichten?» «Sehr richtig», konnte ich nur zugeben. Im Leben sehr vieler ist schon das Wort «Gott» eine Chiffre endloser Belastungen, ein Garant für die Festschreibung des Lebens in Schuldgefühlen, die einmal gegenüber der Mutter, dem Vater oder fremden «Autoritätspersonen» gelten mochten, die dann aber überwölbt wurden durch absolute Forderungen. Immer lastete da über der Seele eines Kindes das dräuende Wolkengewitter eines zürnenden Gottes, der nimmer zu versöhnen war außer durch unendliche Opfer. Wenn es so steht, ist es wirklich besser, von Gott gar nicht zu sprechen, um so mehr aber von Menschen. – Allerdings wird es kaum jemanden geben, der sich auf das Leid eines anderen Menschen wirklich einließe, ohne daß er es wagte, viel mehr im Leben des anderen zu sehen, als diesem im Umgang mit sich selbst wahrzunehmen jemals möglich war. Und noch viel mehr: Niemand wird sich auf die Seelensuche eines leidenden Menschen einlassen, außer er traute dessen Seele zu, sie sei so etwas wie ein sich selbst organisierendes Organ, wohl imstande zu wissen, was ihr guttue und helfen könne, und fähig, abzuwehren, was an Krankheit und Zerstörung neuerdings eindringen möchte. All das verrät in sich ein Vertrauen, weit mehr, als sich rein empirisch rechtfertigen läßt. Woher aber gewinnt man eine solche Zuversicht in einen Menschen, der von sich selber kaum anders sagen kann, als er sei ein Verlorener, ein Blinder, ein Umhertastender, ein Bettelnder, ein Armseliger? Wieso wagt man selbst zu sehen, dieser andere sei in Wirklichkeit so reich, so bestimmt zum Glück, so fähig zum Guten, so berechtigt zum Stolz! Nur freilich: für eine solche Wahrheilung hat er derzeit noch keine Augen. Doch die ganze Hilfe wird eben darin bestehen, 416

ihm die Augen dafür zu öffnen. Die Frage indessen bleibt: Woran glaubt man, wenn man immer wieder, grundsätzlich, an einen Menschen weit mehr glaubt, als dieser je an sich hat glauben können? Jesus erklärt an dieser Stelle des Johannes-Evangeliums, daß er die Taten dessen wirken müsse, der ihn gesandt habe. Das ist das Stichwort. Es gibt einen inneren Rückhalt bei diesem Wagnis, einem anderen Menschen beizustehen, es gibt so etwas wie eine innere Berufung, wie eine Evidenz und Unabweisbarkeit, – so muß man tun. Man sieht in solch einem Moment gewissermaßen Gott nicht «vor sich», allenfalls spürt man ihn wie eine Kraft im Rücken, zwischen den Schultern, im eigenen Herzen; und diese Kraft befiehlt, nicht nachzugeben, nicht aus Angst kopflos zu werden oder alles für unmöglich zu erklären, sondern weiterzugehen, gemeinsam weiterzugehen. Da spricht der johanneische Jesus sehr entschlossen und an dieser Stelle programmatisch: Solange ich in der Welt bin, bin ich der Welt Licht, – ein ungeheurer Satz, der gegen die «Normalität» der kollektiv organisierten Seelenverfinsterung, der gegen das System der alltäglichen Destruktion in Staat, Politik, Wirtschaft und Kirche dieses kleine Licht einer sehr persönlichen Liebe setzt, darauf hoffend, wir könnten ihm mehr vertrauen als all den wohlfeilen Worten derer, die sagen, sie wüßten, was Verantwortung bedeute, was Größe und Stärke und Tüchtigkeit heiße, was Pflicht und Ehre und Recht besage. Vielleicht wissen sie es ja gar nicht, vielleicht verführen sie nur sich selbst und die anderen zu einem wahnhaften Gefühl der Sicherheit. Auch so bezeugt das Johannes-Evangelium: «Wenn ihr blind wäret, hättet ihr keine Sünde. Nun ihr aber sagt: Wir sind sehend, bleibt eure Sünde.» (Joh 9,41) – Jesus glaubt hier ganz klar zu sehen: da bin ich der Welt Licht. – Sprächen wir dieses Wort für unser Leben, müßten wir sagen: Solange wir leben dürfen, wäre es das Schönste, ein Stück Licht zu verbreiten; das wäre unsere Berufung, und wir sollten davon nicht lassen. Nun könnte man denken, unter solchen Umständen hinge alles von uns ab. Ihr seid das Licht der Welt, so hat Jesus in Mt 5,14 wirklich seine Jünger glauben gemacht. Heißt das nicht, wir müßten die eigene Flamme möglichst leuchtend, möglichst hell und lodernd entzünden, auf daß der persönliche Einsatz, der Fackelglanz unserer eigenen Existenz, zu dem Schein werde, der die Augen anderer aus ihrer Blindheit zu retten vermöchte? Doch geht es gerade nicht um einen neuen Aktionismus und Perfektionismus, eher um eine neue Art von Sensibilität und Vorsicht. Genau an dieser Stelle nämlich, haltend bei der Frage, was denn nun zu tun sei, greift das Johannes-Evangelium die Geschichte seiner Wunderquelle auf und erzählt, 417

ähnlich wie wir es bei Markus finden (Mk 8,22-26), daß Jesus zu seiner Heilung Speichel benützt habe, nur daß sein Vorgehen an dieser Stelle noch ein Stück komplizierter ist als in der Darstellung des Markus: er spuckt auf die Erde, er mengt aus Speichel und Sand einen Teig und streicht diesen auf die Augen des Blinden – eine ästhetisch nicht sehr appetitliche Handlung –; sodann schickt er den Mann zu dem Teich in Jerusalem, der im Johannes-Evangelium nicht ganz korrekt «Siloam» heißt, – «Schiloach» sollte er richtiger heißen; gleichviel: die griechische Übersetzung ist korrekt, sie lautet: «der Gesandte», und diese Namengebung wird als schwergewichtig, als höchstbedeutsam deutlich unterstrichen. Was also geschieht da? Immer wieder wird der Mann später den Leuten, die es genau wissen wollen, erzählen müssen, wie er seine Heilung erlebt hat, doch er kann immer wieder nur sagen: Einen Brei hat er gelegt auf meine Augen; ich wusch mich, – ich sehe. Wie es dazu kam, weiß er selber nicht, nur was äußerlich gemacht wurde, kann er berichten. Doch keiner der anderen versteht ihn. Würde man indessen diese Bilder, die auf seelische Not antworten wollen, einmal als symbolische Erwiderungen auf die Symptomatik der Seelenumdüsterung dieses Kranken deuten, so müßten wir sie Zug um Zug lesen wie eine Wiedergeburtsszene. Oft genug wird die Bibel, vor allem das Neue Testament, auf Stellen hin durchsucht, die einer weiblicheren, mütterlicheren Theologie das Wort reden könnten; in aller Regel kommt dabei nicht sehr viel heraus, weil das Neue Testament (wie die ganze Bibel) verständlicherweise im Umkreis der Kultur, in der es entstanden ist, über Frauen prinzipiell nicht gerade viel zu sagen hat. Um so mehr sollten die Stellen beachtet werden, an denen Männer etwas zu tun lernen, das eigentlich nur Frauen verrichten können: Menschen (neu) zur Welt zu bringen! Das Thema begleitet das Wirken Jesu bereits vom 3. Kapitel des JohannesEvangeliums, vom Gespräch mit Nikodemus, an: Alles komme darauf an, von vorn geboren zu werden aus Geist, hat er damals gesagt (Joh 3,3.5). Jetzt aber zeigt er, wie das geschehen kann. Es ist, wie wenn ein kleines, neugeborenes Kind, schmutzig und verschmiert noch, gewaschen wird und die Augen aufschlägt zu einer ganz und gar neuen Welt, wie sie ihm nie zuvor sichtbar war. Denken wir uns noch einmal in das Leben jener Frau zurück. Was sie lernen muß, was sie lernen darf, wird aller Wahrscheinlichkeit nach in genau dieser Erfahrung bestehen: sie wird den ganzen Schmutz, den man ihr zugefügt hat, noch einmal fühlen müssen, sie wird den ganzen Schmerz von damals noch einmal erleiden, sie wird all das Widerwärtige, Ekelhafte, 418

Unanständige, Entwürdigende, Gemeine noch einmal an sich heranlassen müssen; unabhängig davon wird kein Sehen möglich sein. Verdrängen, Weggucken, Weglaufen – alles das hilft jetzt nicht mehr; nur ist eingemengt diesmal in den Schmutz von damals auch etwas anderes: die Wärme und die Feuchtigkeit aus dem Mund eines Menschen, der möchte, daß dieser Leidende sehend werde wie bei der Berührung durch einen Kuß. Es ist eine merkwürdig paradoxe Form der Annäherung: Das Zärtlichste und das Häßlichste verbinden sich hier, – aus der Vergangenheit alles, was die Augen belegte und verklebte, und in der Gegenwart nun, was so gütig sein möchte, daß es die Kraft verleiht und die Zuversicht schenkt, eine eigene Perspektive, ein eigenes Sehen zu wagen, verbunden mit einem Wort, das wie ein Freispruch im ganzen ist: Los, zum Waschen, an den Teich Siloam. – Es ist ganz entscheidend, daß dieser Blinde genau diese Handlung selber vornimmt. Noch ist er blind, Schritt für Schritt tastet er vor, bis er zum Teich kommt – es gibt nicht einmal einen Führer –, es ist eine unsichere Suche nach seiner Reinheit, nach seiner Unschuld; kein anderer kann sie ihm schenken, nur durch das eigene Tun, durch den eigenen Entschluß vermag er sie zu erlangen; doch so lautet sein Auftrag, so ist es sein Recht. Es ist nicht einmal, daß dieser Sehendgewordene später sich bei Jesus bedanken wird, und es ist auch nicht nötig; denn dieses Sehendwerden besteht förmlich darin, ein Gefühl für die Berechtigung der eigenen Existenz zu entwickeln, für das, was man selber ist. Zurückzuwandern in die eigene Unschuld, das ist diese Art, sehend zu werden. Doch nun geht es los! Man möchte denken, das Glück eines Menschen sei etwas von allen Erwünschtes, alle anderen würden sich daran mitfreuen; aber genau so verhält es sich nicht. Alle anderen haben vielmehr inzwischen ein bestimmtes Bild von uns gewonnen, und darinnen möchten sie uns gern weiter einordnen und festhalten können. Jede Veränderung, die nicht vorwegerklärt ist, wird sie beunruhigen; etwas, das da passiert, ohne daß sie es von vornherein schon unter ihre Kontrolle hätten bringen können, stellt für sie eine Ruhestörung dar. «Wer ist der Mann, der da zurückkehrt?» fragen sie; man hat ihn doch das Leben lang nur wie blind gesehen, als einen Bettler, als einen Nichtsbesitzenden und vielleicht auch als einen Nichtsnutzigen, als jemanden jedenfalls, dem man aus Mitleid vielleicht etwas zuwirft, wie einem Hund einen Knochen: – dann soll er zufrieden sein, kuschen und sich im ganzen nicht weiter rühren. Eingeordnet und festgeschrieben war er bislang, und so sollte er auch bleiben. Das ist Anstand, das ist Ordnung, das ist Sitte. Aber jetzt ist etwas passiert: Dieser Mann ist anders! Muß man da nicht fragen: Wer ist er überhaupt? Ist er 419

noch derselbe? Ist er noch identisch mit dem, der er einmal war? Oder ist er ein anderer? – Ist das nicht, der dasaß und bettelte? Die einen sagten: Der ist es. Andere sagten: Nein, aber ähnlich ihm ist er. – Was ist ein Mensch? Wer ist dieser Mensch? Beide Urteile natürlich haben recht. Denn das Wunder dieser Geschichte besteht darin, einem Menschen zuzutrauen, er könnte als derselbe, der er ist, noch einmal anders, als er war, sich entwerfen; in ihm steckte noch viel mehr, als man bisher von ihm hat sehen können, in ihm wachte und erwachte ein ganzes ungeahntes Leben, und es ginge nicht auf Rilkesche Weise zu Ende: wie das Leben einer Frau, die zur Mutter wird und nicht weiß, wozu, und sie müht sich zu Tode und ist am Ende froh, im Dunkel als Bettlerin «ausgehen» zu dürfen … Vielleicht geht es doch anders. Zur Verwunderung aller wäre es möglich, die eigene Identität überhaupt erst zu finden, indem die äußere Festschreibung nichts mehr besagte; die Hülle spränge auf und zerrisse, und ein freier Mensch träte heraus. All das schon ist für die Umgebung verwirrend genug, aber man will es verstehen, man will den Gründen nachgehen, man möchte die Ursachen erforschen. Wer hat das getan? Wo hält er sich auf? – Und schon berührt man das nächste Paradox: Wo der Mann sich aufhält, der den Blinden sehend gemacht hat, das weiß der Sehendgewordene selber nicht! Und offenbar muß es so sein. Daß ein Mensch sehend wird, besteht gerade darin, daß er nicht mehr weiß, wo ein Mensch sich klar umschreibbar befindet. Er ist irgendwo und nirgendwo, und es gibt keine klare Definition in Raum und Zeit mehr von ihm, und gerade aus dieser Freiheit des Unfestlegbaren kommt die Macht, Menschen die Augen zu öffnen. Wenn es so stünde, hätten wir Menschen mit offenen Augen, jenseits von Ideologie und Verwaltung, vor uns, die wüßten, daß sich das Wichtigste im Leben dem Begreifen und Zugreifen entzieht. In diesem Falle wäre die verfaßte Religion endgültig am Ende. In diesem Falle entzögen Menschen sich jeder Art der Beaufsichtigung, jeder Art von Reglement. Und genau ein solches Wunder scheint hier gewirkt worden zu sein. Da schleppt man den Sehendgewordenen zu den «Pharisäern». Wir sollten bei der Lektüre des Johannes-Evangeliums nicht länger an jene historische Gruppe im Judentum denken, die nach dem Jahre 70 das, was heute Judentum heißt, überhaupt erst begründet hat, – sonst bleibt der mögliche antijudaistische Einschlag des Vierten Evangeliums unkorrigierbar. Aber nehmen wir Pharisäer für eine Typusbeschreibung, für eine Verkörperung des Gotteswissens, des Menschenfestschreibens, der religiös verpanzerten Gewißheit, dann allerdings begibt sich an dieser Stelle eine äußerste Her420

ausforderung an jede Religion zu allen Zeiten und Orten. Dann gilt es, das, was rein menschlich in einer Begegnung der Liebe gereift und gewachsen ist, neu festzumachen und als einen eigenen Entschluß mit der eigenen Person zu bestätigen. Diese Entscheidung ergibt sich entlang der Frage, wie das Verhältnis Gottes zum Menschen zu denken ist. Die «Pharisäer» aller Zeiten wissen auf ihre Weise den Maßstab in dieser Problemstellung eindeutig zu setzen: Dieser Mann im Hintergrund, von dem da die Rede geht, kann nicht von Gott sein, weil er seine Tat gewirkt hat am Sabbat. Das Ganze kennen wir schon aus dem 5. Kapitel von der Heilung des Gelähmten. Wenn es so steht, ist der Ritus die wichtigste Vermittlung zwischen Gott und Mensch, bietet die Institution die Wahrheitsgarantie auf dem Wege zu Gott; dann ist das erste, worin eine religiöse Organisation gründet, die Festlegung der Menschen auf ein bestimmtes, priesterlich kontrolliertes, abzuleistendes, pünktlich zu garantierendes Opferwerk; dann ist die Religion insgesamt soviel wie eine Sammlung verfeierlichter Gebärden, nicht mehr und nicht weniger, ein Kompendium eindeutiger Gebote: – wer sie übertritt, verstößt gegen den Kern der Gottesverehrung, und ein solcher kann nicht von Gott sein. – Oder es ist alles ganz anders. Da fragen auch unter den Pharisäern etliche: Wie kann ein sündhafter Mensch solche Zeichen tun? Und diese neue Überlegung ist Gold wert. Ein Mensch – wir sollten nicht sagen, der «sündigt», sondern ein Mensch, der selber in seinem Dasein eine zerquälte, zerdrückte, zerrissene Persönlichkeit ist, wie der Begriff «Sünde» es im eigentlichen beschreibt –, kann einem anderen Menschen nicht Freiheit bringen. Immer nur wird man einen anderen Menschen so weit begleiten können, bis wohin man selbst gelangt ist. Wer Freiheit schenkt, muß selber frei sein; wer sehend macht, muß selbst aus dem Licht kommen. Wer Menschen menschlich leben läßt, der ist von Gott – so denken diese anderen «Pharisäer». Doch gerade darüber erhebt sich ein Streit, und er hört nicht auf bis heute. Was ist Religion? Ist sie ein Heilmittel für den Menschen oder ein Verwaltungsinstrument über Menschen? Erich Fromm schrieb diesen Satz vor fünfzig Jahren schon und brachte damit die ganze Strukturkrise der Religion in der Gegenwart auf den Punkt: «Alle Religion», meinte er, «wird sich entscheiden müssen, ob sie fortfährt, autoritär zu sein, oder ob sie es lernt, humanitär zu werden.»5 Wir können auch sagen, die Frage lautet: Ist Religion wesentlich eine Angelegenheit aus Tradition und Institution, die per Gewalt durch Erziehung im Über-Ich verinnerlicht wird, oder ist eine religiöse Erfahrung eine solche, die uns lehrt, als Menschen in der Gegenwart zu leben und von da her in die Zukunft zu schauen? 421

Was das Johannes-Evangelium zu dieser Alternative meint, ist ganz eindeutig, und es bringt dafür ein ausgezeichnetes Zeugnis bei: Ein Mensch, der seine Augen wiedergefunden hat für seine Schönheit und für das Glück einer ganzen Welt, wie soll der anders sagen als: dies ist wahrer Gottesdienst? Dieser Mann, erklärt der vormals Blinde, ist ein Prophet. Ein besseres Wort zur Deutung dessen, was ein Prophet ist, wurde und wird es in der ganzen Bibel nicht geben. Der Volksmeinung nach sind Propheten Leute, die in die Zukunft schauen können; doch das tun sie selten, und wenn sie es versuchen, so irren sie zumeist wie gewöhnliche Sterbliche auch. Aber sie sind Menschen, die anderen Menschen ins Herz schauen können und darin ihre Schicksalsberufung ahnen; und aus einer solchen Berufung heraus gestaltet sich womöglich auch das Zukünftige. Da findet sich die Richtung, der Anspruch, die Sendung. Doch sagen wir es im Sinne dieser Erzählung genauer: Menschen, die imstande sind, anderen ein Gefühl für das zu geben, weswegen sie auf der Welt sind, und die darin heilend sind, daß sie Verlorene in ihrer Blindheit finden und zum Aufscheinen ihres «Lichts» führen, das sind «Propheten», ganz wörtlich: Sprachrohre Gottes, solche, die wagen, ihr eigenes Ich auszusprechen, indem sie sich zum Künderinstrument des Göttlichen machen. Spruch Gottes – mit diesem Wort auf den Lippen treten in der Bibel die Propheten dem Volk gegenüber. Ihr Ich ist das Medium, durch welches das absolute Ich Gottes tönt und einen anderen Menschen als ein unvertauschbares, unverwechselbares, einmaliges Du meint und anredet, bis daß dieses Du anfängt, an sich selber zu glauben. Das heißt dann: sich waschen im Teich von Schiloach.

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Joh 9,18-41: … laßt ihn für sich selber reden 18Nicht

haben indessen die Juden (die Gottesbesitzer) von ihm geglaubt, daß er blind gewesen und sehend geworden sei, woraufhin sie die Eltern dessen riefen, der sehend geworden. 19Und sie fragten sie, sie sagten: Dieser – ist er euer Sohn, von dem ihr sagt, daß er blind geboren wurde? Wie denn sieht er jetzt? 20Geantwortet haben da seine Eltern, sie sagten: Wir wissen, daß er unser Sohn ist und daß er blind geboren wurde; 21wie er aber jetzt sehen kann, wissen wir nicht; oder wer seine Augen geöffnet hat, – wir wissen es nicht. Ihn selbst fragt; alt genug ist er; er selbst wird von sich reden. 22Das sagten seine Eltern, weil sie Furcht hatten vor den Juden (den Gottesbesitzern) (7,13). Denn schon festgesetzt hatten die Juden (die Gottesbesitzer) daß, wenn jemand ihn bekenne als Messias (Christus), er exkommuniziert sei (12,42). 23Deswegen sagten seine Eltern: Alt genug ist er; ihn selber fragt. 24Gerufen haben sie da den Menschen zum zweiten Mal, der blind gewesen war, und haben ihm gesagt: Gib Ehre (nur) Gott. Wir wissen, daß dieser Mensch sündhaft ist. 25Geantwortet hat er da: Ob er sündhaft ist, ich weiß es nicht. Eins weiß ich: daß, obwohl blind, ich jetzt sehe. 26Gesagt haben sie da ihm: Was hat er mit dir gemacht? Wie hat er geöffnet deine Augen? 27Geantwortet hat er ihnen: Ich habe es euch schon gesagt, doch ihr habt nicht gehört. Was wollt ihr es nochmal hören? Nein? Auch ihr wollt seine Jünger werden? 28Da beschimpften sie ihn, sie sagten: Du, sein Jünger bist du, wir aber, des Mose Jünger sind wir. 29Wir, wir wissen, daß zu Mose gesprochen hat Gott. Von diesem aber wissen wir nicht, woher er ist. 30Geantwortet hat er, als Mensch, er hat ihnen gesagt: Darin liegt ja das Wunderbare, daß ihr nicht wißt, woher er ist, doch hat er geöffnet meine Augen. 31Man weiß doch: sündhaft erhört Gott nicht (Ps 66,18; Jes 1,15); sondern wenn jemand gottesfürchtig ist und seinen Willen tut, den erhört er (Spr 15,29). 32Seit Ewigkeit wurde nicht gehört, daß geöffnet hätte jemand die Augen eines Blindgeborenen. 33Wenn nicht wäre dieser von Gott, nein, er könnte tun nichts. 34Geantwortet haben sie, sie sagten ihm: In Sünden, du, bist du geboren ganz, und du willst belehren uns? Und sie verwarfen ihn. 35Gehört hat Jesus, daß sie verworfen hatten ihn, und wie er ihn fand, hat er gesagt: Du, vertraust du auf den Menschensohn? 36Geantwortet hat er, er hat gesagt: Ja, wer ist er, Herr, daß ich auf ihn vertrauen soll? 37Gesagt hat ihm Jesus: Du hast ihn doch gesehen; der mit dir redet, der ist es (4,26). 38Da sagte er: Ich vertraue, Herr! Und er warf sich vor ihm auf die Knie. 39Und gesagt hat Jesus: Zum Richtspruch, ich, in diese Welt bin ich gekommen, auf daß die nicht Sehenden sehen und die Se-

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henden blind werden (Mt 13,11-15). 40Gehört haben von den Pharisäern das, die mit ihm waren, und sie sagten ihm: Nein! Wir sind etwa auch blind? 41Gesagt hat ihnen Jesus: Wenn ihr blind wäret, hättet ihr keine Sünde. Nun ihr aber sagt: Wir sind sehend, bleibt eure Sünde (15,22).

Das 9. Kapitel aus dem Johannes-Evangelium erzählt von der Heilung eines Mannes, der blind geboren worden ist; das Gespräch über dieses Ereignis bewegte sich im Kreise der Jünger schon um die Frage, ob denn ein Mensch mit solchem Schicksal zur Strafe geschlagen sein könnte. Jesu Antwort aber lautete gerade entgegengesetzt: Es geht bei Gott nie um Schuld und Strafe, es geht darum, sehend zu werden für den Glanz, der von Gott ausgeht. Was das heißt, wirklich sehend zu werden, ist die ganze Frage, die sich in dem Streitgespräch, in dem Zerwürfnis, muß man genauer sagen, stellt, das nun einsetzt. Der Zwiespalt trennt dabei nicht nur Jesus und seine Gegner, die konstant im Johannes-Evangelium «Juden» heißen und in denen wir doch viel ehrlicher uns als Christen erkennen sollten, sondern mehr noch die «Juden» und den Geheilten selbst; ihm macht man es zum Vorwurf, sehend geworden zu sein. Was hat er erlebt? Das zu verstehen ist der Sinn des jetzt einsetzenden «Gesprächs». Nicht nur des Motivs des Sehens wegen verhält es sich mit dem Johannes-Evangelium in gewisser Weise ähnlich wie mit jenem schon einmal erwähnten Teleskop, das Astronomen Anfang der neunziger Jahre im Weltall ausgesetzt haben: Das Hubble-Teleskop ist an sich das beste optische Gerät, das Menschen je konstruiert haben, um den Himmel kennenzulernen bis in Tiefen von Hunderten Millionen Lichtjahren, nahe heran an das Geschehen des Anfangs von dem, was wir das Universum nennen; doch leider unterlief den Konstrukteuren damals ein Fehler; sie setzten eine fehlerhaft geschliffene Linse ein; statt nahezurücken entfernte deshalb die Optik ihre Objekte. Es blieb nichts anderes übrig, als in einer mühevollen Nachreparatur ein weiteres Linsensystem in das Weltraumteleskop einzusetzen. Nun sieht man klar und ordentlich, und die Begeisterung der Wissenschaftler ist groß. Das Johannes-Evangelium stellt im Neuen Testament zweifellos das Beste, das Nachdenklichste, das Dichteste dar, was Menschen erdacht und geschrieben haben, um die Person Jesu so genau zu sehen, als es irgend geht. Trotzdem hat sich die Kirchengeschichte von fast zweitausend Jahren darübergelegt wie ein fehlerhaft geschliffener Linsensatz. – «Glaubst du, daß Jesus der Menschensohn ist? Glaubst du, daß er der Herr ist?» Das sind die permanenten Fragen der kirchlichen Dogmatik. Glaubst du, daß 424

jemand, weil er auf die Knie fällt, ein Glaubender ist? Alles, was das dogmatische Christentum zu sagen hat, steht anscheinend in dieser einen Szene, und auch was Sehendwerden bedeutet, scheint hier vollkommen eindeutig erklärt: an Jesus als an den Menschensohn, als an den Messias, als an den Gottessohn, als an den Herrn zu glauben, das bedeutet sehend zu werden, im Unterschied zu den Juden, zu den Heiden, zu allen anderen. Das Johannes-Evangelium wurde zu einem Grundstock, über dem die Burg des gesamten kirchlichen Dogmatismus errichtet wurde. Um so notwendiger ist es, daß wir alle «Brechungswinkel» der theologischen Betrachtung noch einmal neu und anders berechnen, daß wir versuchen, das ursprüngliche Bild, das sich in diesen Prismen- und Linsensystemen eigentlich malen möchte, genauer darzustellen, indem wir begreifen, wie gerade diese Umformungen in fertige Lehrsätze vom Johannes-Evangelium selber eher aufgelöst als verteidigt werden. Das Johannes-Evangelium erfindet kein einziges Wort, mit dem man Jesus bezeichnet, aber es interpretiert die Worte, die es vorfindet, und dieser Vorgang ist viel wichtiger, als die Worte nachzustammeln, so wie sie dastehen. Gerade das Johannes-Evangelium möchte, daß wir selber zum richtigen Sehen kommen; es möchte gewissermaßen, daß man Wasser, das bei zu niedrigen Temperaturen vereist ist, über einen doppelten Phasenwechsel wieder so erwärmt, daß es zu verdampfen beginnt und nur noch dem Wind wie widerstandsfrei gehört; denn nur so gelingt es, die Erde fruchtbar zu machen und über Wüstengebiete Regen zu schicken. Alles beginnt mit einer äußersten Zumutung. Übernommen hat das Johannes-Evangelium, wie schon mehrfach erwähnt, aus einer eigenen Quelle eine Sammlung von Wundergeschichten, die offenbar so erzählt wurden, wie sie uns bereits in den ersten drei Evangelien überliefert worden sind: Jesus hat historisch bestimmte staunenswerte Taten verrichtet; insbesondere Kranke zu heilen war ihm vergönnt, anders als zum Beispiel seinem Lehrer Johannes dem Täufer. Schon allein aus dieser Tatsache wurden sehr bald, zum Teil schon im Neuen Testament, systematisch dann aber im 2. Jahrhundert n. Chr. von den frühen kirchlichen Theologen, Gründe zum Beweis der Unanfechtbarkeit des Glaubens an Jesus als an den Sohn Gottes, als an den Menschensohn abgeleitet. Jesus hat Wunder gewirkt; daraus wird schon bei Justin, der in dem Dialog mit dem Juden Tryphon die Formation des Christentums in seiner heutigen Prägung bereits wie eine frühe Weichenstellung vorwegnimmt1, die folgende Argumentationsreihe entwickelt: Man berichtet Wunder auch anderenorts von heidnischen Gottesmännern und Wundertätern, in den Heiligtümern des 425

Asklepios zum Beispiel2; doch das verschlägt nicht bei Justin. Was irgend man in den fremden Religionen erzählt, ist für ihn Lüge, ist für ihn Betrug; genauer: es ist Satanswerk. Allerdings konnte auch Justin nicht leugnen, daß vieles in den Mythen über den Gott Dionysos, über den Gott Asklepios, über den Gott Osiris dem ähnelt, was auch die Christen über Jesus erzählen. Man kann angesichts dieser Tatsache ehrlicherweise kaum anders sagen, als daß auf dem Boden des Neuen Testamentes uralte Bilder der Sehnsucht ihre Erfüllung suchen. Immer wenn Menschen etwas Wesentliches über ihre Hoffnung, über ihre Liebe, über ihre Trauer und über ihr Glück mitteilen wollen, werden sie auf ähnliche Vorstellungsschemata zurückgreifen, wie hier zum Beispiel: Jesus ist das Licht – jeder versteht das. Und da, wo Licht ist, ist Göttliches anwesend. Überall auf der Erde wird die Sonne als Gott verehrt und werden gleiche Geschichten von ihr überliefert: sie stirbt in der Nacht, und schöner denn je verjüngt sie sich am Morgen, wiedergeboren von der Göttin des Himmels, jungfräulich! Doch das alles gilt nicht für die frühchristliche Verteidigungstheologie, für die Apologetik. Der Teufel, erklärt Justin, habe gewußt, daß irgendwann der wahre Sohn Gottes auf die Erde kommen und welche Taten er wirken werde. Der Teufel sei von solcher Intelligenz und Weisheit und überzeitlichen Macht, daß er den Geschichtsverlauf vorweggeahnt habe, er sei eingeweiht gewesen in die Pläne des Allmächtigen; und eben, damit die Wahrheit, wenn sie denn käme, unglaubwürdig würde, habe er alle Geschichten, die die Christen in Wahrheit über Jesus erzählten, vorwegerzählt zu reinem Betrug. Da scheint alles ganz klar, und so blieb es bis heute: Wo immer man Geschichten findet, bei den Griechen, bei den Indios, bei den Eingeborenen irgendwo in Afrika oder Australien, die bestimmten christlichen Überlieferungen ähneln, handelt es sich nur um Mythos; es gilt für null und nichtig, weil es nur wahr sein kann in Jesus Christus. Und die Begründung: nur in Christus war es historisch wirklich; alles andere war nichts als Einbildung. – An dieser Stelle halten wir noch heute. Es ist der Grund, warum es den meisten schwerfällt, an das Christentum überhaupt noch zu glauben. In einem Gespräch mit einer Schülerklasse über das Verhältnis von Naturwissenschaft und Religion ging es gerade um diese Frage: Wie glaubwürdig sind die Wunder im Neuen Testament? Hat Jesus sie wirklich getan? Konnte er sie überhaupt tun? – Setzen wir es in diese Heilungsgeschichte: Wenn jemand blind geboren wurde, welch ein «Wunder» soll das sein, das ihn wieder sehend machen könnte? Sollten wir das wirklich glau426

ben müssen, um gläubig zu sein? Dann müßten wir Gott zutrauen, daß er nach Belieben die Naturgesetze aufhebt. Genau das ist nun die Meinung der römischen Kirche vom Papst herunter über die Bischöfe bis zu den Theologen. Die letzteren haben zwar die Zusammenhänge differenzierter zu durchdenken gelernt, aber das, was sich aus ihrem Denken ergeben würde, sprechen sie selten so aus, daß es die Menschen in der Öffentlichkeit begreifen könnten, denn so zu tun wäre gefährlich in der Kirche. Sie müßten sagen: Geschichten wie diese kann man nur symbolisch verstehen. Das sagen sie in gewisser Weise auch, aber dann fügen sie hinzu, in Jesus Christus sei das alles ein Realsymbol, das heißt, es ist symbolisch, es hat innerlich etwas zu bedeuten, aber es kann ja nur etwas bedeuten, wenn es sich auch wirklich ereignet hat. – Aber was hat sich wirklich ereignet? «Das wissen wir nicht», erklären sie, «das können wir auch nicht wissen; aber man muß glauben, daß es sich ereignet hat.» In einer solchen Theologie ist alles möglich; wenn es darauf ankommt, kann Gott machen, was gerade sein muß, angepaßt an die Notwendigkeiten der jeweiligen Lage. Es ist außerordentlich wichtig, daß wir jene geistige Wirklichkeit zu berühren lernen, die sich nur in der Sprache der Symbole darstellen läßt. Das, was wir träumen, was wir innerlich sehen, die Art, wie wir in Bildern uns mitteilen, ist weder unwirklich noch unwirksam. Sie ist indessen gebunden an die einzige Sprache, die unser Herz wirklich versteht, an die Sprache der Poesie, der Kunst, der Malerei. Nur in ihr wird zwischen Menschen etwas «bewirkt». Nicht das bloße Faktum zählt; sondern wie es von Menschen erlebt wird, das zu schildern ist das Wesentliche. Ein Bildhauer wie Ernst Barlach konnte deshalb einmal sagen: «Ich darf nicht gestalten, was ich sehe; ich muß gestalten, was ich fühle, erfahre, denke – das ist die Wirklichkeit.» Wie man loskommt von der Reduktion der menschlichen Existenz auf ihre Außenseite, schon darin liegt ein Geheimnis des Religiösen. Nur wenn wir das Problem so beschreiben, werden Geschichten wie diese von der Heilung des Blindgeborenen im Johannes-Evangelium verbindlich über Jahrtausende hinweg. – Stellen wir es noch einmal gegenüber, und wir erleben bald, daß die ganze Diskussion sich nicht sowohl um Glauben und Unglauben dreht als vielmehr um Aberglauben und Freiheit. Jesus hat ein «Wunder» gewirkt, – das muß man glauben; und wer das nicht tut, verschließt seine Augen und verweigert die Loyalität seines Willens. So wird man bis in die Gegenwart als Kirchenchrist vor allem im römischen Katholizismus erzogen werden. Wunder sollen da Schritt für Schritt den Glauben beglaubigen. Die Jungfrau Maria zum Beispiel kann, wenn sie will, Blinde 427

heilen in Lourdes und in Fatima. In Neapel ist der hl. Januarius – San Gennaro – imstande, sein eigenes Blut zu verflüssigen; Hunderttausende werden durch dieses Faszinosum auf den Beinen gehalten; der Kardinal von Neapel wird in einer Monstranz – man weiß nicht, wie lange jeweils man warten muß, aber spätestens nach drei, vier Stunden – das Wunder der gläubigen Menge zeigen. Die Kinder im Schulunterricht haben indessen in aller Regel heute wohl so viel von Chemie und Physik gelernt, daß sie wissen, was ein Gel ist, und so wissen sie auch, daß, wenn man ein Gel ein wenig erhitzt und es ein wenig schüttelt, es die Eigenschaft besitzt, flüssig zu werden, während es bei mäßigeren Temperaturen wieder einen kolloidalen Zustand annimmt, einen Gel-Zustand. Das ist das «Wunder». – Soll es wirklich dabei bleiben, daß man «gläubig» nur sein kann, wenn man die Naturgesetze für aufhebbar erklärt? Die Gegenseite wird antworten: Wir kennen die Natur nicht wirklich; die Naturgesetze, über die wir Bescheid wissen, beschreiben nur einen winzigen Ausschnitt der Wirklichkeit. Das ist sicher wahr, aber wir sollten aus dem Nichtwissen keine Wissenschaft machen; daß Gott dümmer wäre als das, was wir immerhin heute im Rahmen seiner eigenen Schöpfung gelernt haben, das steht nun doch nicht zu vermuten. Dann aber ist nicht alles möglich, nur weil es, äußerlich genommen, in der Bibel erzählt wird. Wir müssen aus dem Dilemma heraus, indem wir erwarten, daß klar zu denken und zu glauben, daß Naturwissenschaften zu treiben und fromm zu sein sich nicht länger widerspricht, sondern daß Rationalität und Mystik eine Einheit bilden können. Genau das aber, die Rückbesinnung vom Faktenglauben zu einer Art von verfeinerter Innenbetrachtung im Raum des Symbolischen, ist das, was auf dem Boden des Neuen Testaments als erstem dem Johannes-Evangelium selber vorschwebt. Was also ist passiert, als der Blindgeborene sehend wurde? Er selber wird es nicht beschreiben können. Seine Eltern werden es nicht wissen. Die Frage geht: was bedeutet es überhaupt, sehend zu werden? Vielleicht gibt es kein besseres Beispiel als das des gerade erwähnten Bildhauers Ernst Barlach, um zu sagen, was es bedeuten kann, wenn sich die Augen eines Menschen öffnen. Man betrachte nur einmal sein Portrait, sein Altersgesicht, seine riesigen, suchenden, offenen Augen und daneben die lauschenden, großen, offenen Ohren. Bilder und Worte, das waren für diesen Mann die Zugangswege zur menschlichen Wirklichkeit. Als 1914 die Jahrhundertkatastrophe des 20. Jhs. ausbrach, war er wie die meisten Deutschen begeistert über den Ersten Weltkrieg, – er sollte so etwas sein wie ein Blutritual zur Großen Reinigung; endlich würde sich zeigen, was 428

Männlichkeit, was Mut, was Größe, was Heldentum ist. Wie viele waren damals verführbar durch solche Phrasen! Zwei Monate an der Front indessen genügten, um Ernst Barlach buchstäblich sehend zu machen. Fortan malte er, was er gesehen hatte: leidende Menschen, verzweifelte Menschen, unbeugsame Menschen, mit sich selbst ringende Menschen, suchende, bettelnde, hörende, glückliche Menschen. Es war das Ende der Art, die Welt so zu sehen, wie die Propagandisten sie sehen machen wollten. – Nehmen wir seine berühmte Darstellung im Dom zu Magdeburg zur Erinnerung an die Gefallenen von 1914 bis 1918. (Abb. 4) Was Barlach zeichnete, was er schnitzte, war das, was er gesehen hatte, – ein Leid, das durch den ganzen menschlichen Körper geht wie ein Kreuz. So sind, befanden die Deutschnationalen, nicht die Männer gewesen, die bei Langemarck mit dem Deutschlandlied auf den Lippen in den Kampf gezogen sein sollen; die waren nicht feige, nicht niedergedrückt, nicht vergrämt, nicht grüblerisch; die waren gradeaus, die waren deutsch. Und überhaupt, wie kann man einen Bauern so malen, wie Ernst Barlach ihn gemalt hat? Er mag ein Künstler sein, aber er hat den Boden verloren, er hat die Wurzeln im Deutschtum aus seinem Herzen herausgerissen, mutwillig. Ein deutscher Bauer hält nicht derart einen Spaten in der Hand, den Rücken gebeugt, das Gesicht zur Erde gewandt, und das alles trist in Schwarz, in Kohle – ein deutscher Bauer steht da: aufrecht, brutal, stark, trotzig, zornig, deutsch. So wird er gemalt. Joseph Goebbels wußte es: 1938 hatte die Reichskulturkammer Ernst Barlach auszuschließen, seine Werke wurden für undeutsch, für entartet erklärt. Selbst ein kleiner Bildband aus dem Piper-Verlag wurde als unruhestiftend eingestampft. Ein knappes Jahr später war Ernst Barlach tot.3 – Das ist nur eine kleine Geschichte im 20. Jh., die zeigt, was es bedeutet, bedeuten kann, sehend zu werden. Die Welt stellt sich auf den Kopf, kein einziges Vorurteil gilt mehr. «Wenn ich», konnte Barlach sagen, «scheinen würde, was ich nicht bin, wäre ich gar nicht mehr. Warum fällt es den Menschen so schwer, zu verstehen, daß Gott ihr Vater ist?»4 – Es gibt kaum einen Satz, der die Mitte des Johannes-Evangeliums so tief erspürt wie dieses Wort eines «religiösen» Künstlers im 20. Jh. Immer wenn das Johannes-Evangelium über Jesus redet, spricht es mehr als die drei Evangelien vor ihm als von dem Sohn. Doch damit solche «Versöhnung» möglich wird, muß den Menschen ein Himmel gezeigt werden über den Sümpfen, müssen ihnen Sterne aufgehen über dem Abgrund, muß man sie mehr zu sehen lehren als das, was die Welt der Fakten festschreibt. Das gerade ist dieser geheimnisvolle Vorgang, in dem ein Mensch, der blind geboren wurde, anfängt zu sehen. Doch lohnt es sich, dabei genauer 429

hinzusehen. Da halten sich die Gegner, die Gottesbesitzer, wie wir den Namen «Juden» im Johannes-Evangelium immer wieder vielleicht am besten umschreiben können, an die Eltern. Schon daß sie das tun, zeigt, in welcher Art sie von Menschen denken: Man befrage Vater und Mutter von jemandem, und man weiß im Grunde vorweg, mit wem man es zu tun hat. Nun sage man doch, – die Eltern haben die Verantwortung für ihre Kinder, sie haben die Erziehung für ihre Kinder in Händen! Keine fest etablierte Religionsform daher, die nicht von früh bis spät die Eltern anweisen würde, ihre Kinder im jeweiligen Glauben genau genug, richtig genug, ordentlich genug zu erziehen. Wenn die Eltern die Kinder regelgerecht erziehen würden, so die Meinung der Religionshüter, dann hätte die Kirche, dann hätte das Christentum eine große Zukunft, aber leider tun das nicht immer die Eltern. In dieser Vorstellung herrscht die Macht der Generation über die Person, der Vergangenheit über die Gegenwart, der Geschichte über die Entscheidung, der Tradition über das Menschsein. Genau darum aber dreht sich hier die erste Auseinandersetzung. Man möchte, daß der Sehendgewordene festgelegt wird auf das Urteil derer, die ihn zur Welt gebracht haben, und kaum ist dieser Konflikt auch nur ein paar Sätze in Gang, da spitzt er sich zu. Denn «die Eltern» schränken ihre Antwort ein: «Wie er jetzt sehen kann», sagen sie vollkommen korrekt, «wissen wir nicht, – wir waren nicht dabei. Wir können nur sagen: Wir wissen, daß er unser Sohn ist und daß er blind geboren wurde.» Solche Antworten verbleiben völlig in dem Bannkreis, der sich im Getto der Angst um alle Beteiligten gelegt hat. Eingesperrt bleiben soll vor allem der gerade Geheilte. Man frage die Eltern, um zu wissen, wer ein Mensch ist, – das bedeutet: Kein Mensch wird je ein selbständig Sehender werden dürfen! Er wird stets auf sich selbst, auf die Welt, mit ererbten Augen schauen! Er wird die Welt nur so betrachten, wie man es ihm vorgemacht und beigebracht hat! Aber auch die Eltern selbst unterliegen dem Diktat der Angst. Denn augenblicklich behaupten die «Juden», daß ihr Sohn im Grunde illegitim sehend geworden ist, und eben deshalb delegieren die Eltern ihre Zuständigkeit für ein eigenes Urteil weiter an ihren Sohn; aus lauter Angst mogeln sie sich an einer klaren Stellungnahme vorbei. «Alt genug ist er», sagen sie, «ihn selber fragt.» Das ist zweifellos richtig, aber es klingt so, wie wenn sie dem Vorwurf schon zuvorkommen wollten, Jesus sei ein «Sünder», – als wenn es eigentlich ihre Pflicht gewesen wäre, die «Sünde» des Sehendwerdens ihres Jungen zu verhindern, ergo, daß sie doch nicht genügend auf ihren Sohn aufgepaßt hätten, als er mit Jesus in Berührung kam. Doch in der Antwort der «Eltern» liegt auch, wenngleich trotzig, ein 430

Hinweis darauf, daß ihr Sohn mündig geworden ist. Nur: was bedeutet es für eine so verfaßte religiöse Institution, mitansehen zu müssen, wie ein Mensch frei wird? Was bedeutet es für den Sehendgewordenen selbst, eine eigene Persönlichkeit zu entwickeln? Was heißt es, alt genug zu sein und für sich selber Rede und Antwort zu stehen? Es bedeutet als allererstes, diese Dunstglocke der gegenseitigen Verängstigungen aufzuheben. Der Geheilte hier, sehend geworden, wird zum ersten Mal, anders als seine Eltern, von sich Worte der Wahrheit sprechen, indem er aufhört, Angst vor denen zu haben, die vermeintlich Bescheid wissen, – endgültig, absolut, a priori. Er öffnet seinen Mund, vorsichtig zunächst, dann immer klarer, indem er dieses unantastbar sich gebende «Wissen» auflöst. Man muß, um diese Bewegung beginnenden Sehens und beginnender Einsicht in die Blindheit der angeblich Wissenden zu verstehen, sich nur vorstellen, was es kostet, sich aus der Elternbindung nach und nach zu lösen. Friedrich Nietzsche hat diesen schmerzhaften Prozeß am eigenen Leibe erlebt und immer wieder geschildert5: Gerade den Menschen, die bestimmte Werte als besonders kostbar kennengelernt haben, die tief empfunden haben, was die Eltern ihnen vermittelten, sei an sich liebenswert und schön, es verrate durchaus menschliche Größe, gerade denen wird es überaus schwerfallen, sich eine eigene Entscheidung im Widerspruch zu erlauben. Sie spüren deutlich, daß es ihre Eltern schmerzen würde, wollten sie in Fragen des Glaubens, der Weltanschauung, der Art, die Dinge zu sehen, ein Neues beginnen. Gerade das Wertvolle hat die Neigung, sich als bewährt zu verfestigen, sich festzuschreiben in dem ein für allemal Gültigen, und jeder Zweifel daran kann eines Tages erscheinen wie etwas Illegitimes, wie etwas, das mit den wachsenden Zweifeln Verzweiflung auslöst, weil der Verlust all der überkommenen Erhabenheit so arm und armselig macht. Die fest etablierte Ordnung zu brechen, das wird empfunden wie ein Verbrechen und von der Umgebung dementsprechend geahndet und mit dem schlimmsten Strafmittel bestraft, das es überhaupt gibt: mit dem geistigen und sozialen Exil. Man gehört nicht mehr zu der Gemeinschaft der «richtigen» Menschen, wenn man sich «so etwas» erdreistet. Nietzsche meinte, ein Mensch, der zu sich selber erwache, habe keine Wahl, er müsse das riskieren. Selbständig zu werden bedeute, in Frage zu stellen, was man gelernt habe; denn es gelte erst das, was überprüft, was durchgefragt sei, was sich vor dem eigenen Urteilsvermögen stabilisiert habe. Nicht weil es andere sagen, ist etwas glaubwürdig, sondern weil es von innen her sich bejaht und klärt und bestätigt. 431

Das muß es heißen, selber das «Sehen» zu lernen. Verstehen wir das Johannes-Evangelium an dieser Stelle richtig? Da soll Sehendwerden einen Vorgang beschreiben, durch den alles umgestürzt wird, durch den alles Vorgegebene für ungültig erklärt wird, auf daß es sich von innen her erneuere! Nichts, was äußerlich ist, hat da Bestand, – nur, was sich durch die eigene Vermenschlichung wieder aufbaut. Einzig die Personwerdung bildet da noch die Basis des Religiösen. Dann muß man dieses ganze Gespräch in seiner ungeheuren Kontraststärke sich zuspitzen sehen: Ein neues Verhör bricht über den ehedem Kranken herein, der blind gewesen und sehend geworden ist. Es beginnt mit einer Beschwörung: Gib Ehre (nur) Gott! – Wenn man irgend wissen will, was den Weg der Freiheit immer wieder unsäglich eng machen kann, dann liegt es darin, daß es Menschen gibt, die, bestätigt über beliebig viele Jahrhunderte der Tradition, sich verpflichtet geben zu wissen, wer Gott ist, und ihn im Munde führen wie ein Ritual zur Festlegung und Einschüchterung. Das Heilige als Beschwörung: Gib Ehre (nur) Gott!, das bedeutet so viel wie: «Stimme uns zu, unterwerfe dich unserem Urteil!» Ehre Gott, das heißt: «Gib Ehre der religiösen Behörde, die jetzt in Gestalt derer, die dich verhören wollen, vor dir steht, und versuche nicht länger, irgend etwas zu sehen, das sich außerhalb unseres Gesichtskreises befindet und nicht unserer Aufsicht unterliegt. Das, was du Sehen nennst, ist gar kein Sehen, sondern eine wirkliche Verblendung, es ist ein Produkt der Täuschung. Schon der Umstand, daß du glaubst, selber sehen zu können, ist die Verderbnis!» Gleich im nächsten Satz wird es entsprechend dieser Gesinnung heißen: wir wissen. Da ist der Gegensatz klar. Jemand, der auch nur sich erlaubt, sehen zu wollen mit eigenem Herzen, mit eigener Erfahrung, mit eigener Persönlichkeit, der muß ein Gotteswidriger, ein Unehrerbietiger sein. In Österreich beim Ausbruch des sogenannten Zweiten Weltkrieges gab es einen jungen Mann, Franz Jägerstätter, der als Ausnahme unter vielen Hunderttausenden erklärte, daß er die Kirche nicht verstehe: wie könne sie einen Krieg gutheißen, der jetzt unsägliches Leid über Menschen bringe. Jeden Tag werde von Siegen geredet, aber in Wahrheit handle es sich um Opfer. Jägerstätter bekam es mit dem Wiener Kardinal Innitzer zu tun, einem vornehmen, diplomatisch klugen Mann. Im März 1938, als Deutschland, Nazideutschland, den Anschluß Österreichs durchsetzen wollte, hatte Innitzer mit allen Kardinälen und Bischöfen in Österreich geschrieben, daß dies die Stunde sei, die Gott geschenkt habe, indem er das alte tausendjährige Reich wieder auferstehen lasse, und so sei es die kirchliche, die religiöse Pflicht jedes ordentlichen Österreichers, für den An432

schluß Österreichs an das Deutsche Reich zu stimmen. 79,7 Prozent aller Österreicher stimmten damals in der Tat für den Zusammenschluß mit Hitlerdeutschland. Derselbe Innitzer nun wies diesen armen, unbedachten Mann zurecht, daß er kein studierter Mensch sei. «Haben Sie irgendeine Hochschule besucht?» – Nein, hat er nicht. – «Haben Sie Theologie studiert? Nein? Dann vermessen Sie sich nicht, über Jesus urteilen zu wollen. Wir, die Bischöfe, sollten nicht wissen, was er gewollt hat? Die Kirche sollte sich irren, wenn sie das Recht verteidigt und in dieser Schicksalsstunde aufruft zur Verteidigung des Rechts der Deutschen?» – «Ja, aber es kann doch nicht Recht geschehen aus soviel Unheil und Unmenschlichkeit, man kann doch nicht töten und töten und töten und Recht am Ende wie zur Belohnung erwarten!» – Wir kennen die Tagebücher dieses Mannes, den man eingesperrt und später ermordet hat. Er war nicht einmal dazu zu bekommen, daß er in einer Strafabteilung ohne Waffen Dienst tat. Er wollte einfach nicht dazu gehören, – ein Verrückter halt, ein Nichtzuständiger. So stark kann der Konflikt werden, wenn Menschen einmal die Augen aufgehen. Nichts stimmt dann mehr von dem, was gewisse Autoritäten zu wissen vorgeben. Das heißt es wohl, wirklich sehend zu werden. Da sagen «die Juden»: Wir wissen, daß dieser Mensch sündhaft ist, und damit erklären sie zugleich, was der Grund ihrer «Wissenschaft» ist. Es gibt bestimmte Schablonen – das Wort «sündhaft» ist eine der wichtigsten; es besagt in diesem Sprachgebrauch nichts weiter, als daß jemand die Richtlinien, die Paragraphen, die Gebote des religiösen Sozialsystems überschritten hat. Das ist das «Sündhafte». So etwas hat Jesus getan, als er am Sabbat heilte: also ist er ein Sünder; also steht Gott nicht auf seiner Seite; also bekämpft er das Recht, das sich im Namen Gottes etabliert hat. So ist die einfache Ableitung. Wäre es aber nicht möglich, man müßte mitunter die «Sünde» wagen, um die Wahrheit erst zu finden und Gott wahrhaftig zu dienen, und es wäre in Wirklichkeit überhaupt keine Sünde? – 1944 befand sich unter den Männern des 20. Juli, die wir in Deutschland alljährlich feiern, ein Mann aus dem hiesigen Warburg. Er sollte später, wenn der Putsch gelungen wäre, als Justizminister eingeführt werden. Der Putsch, bekanntlich, mißlang, und dieser Mann stand vor dem Gerichtshof von Roland Freisler. Der schrie ihn an, wie er dazu komme, den deutschen Führer ermorden zu wollen. Und um klar zu reden, fügte er hinzu, daß er bald in der Hölle sein werde. – Was Freisler nicht dabei sagte, war aber allseits bekannt: Wer 1944 den Eid eines deutschen Soldaten brach, hatte nicht nur den Führer von 60 Millionen Deutschen gegen sich, sondern ebenso die Kirchen, die versicherten, daß ein Eid, geschworen auf den 433

Führer, Gültigkeit besitze, da er geschworen sei auch auf Gott; – in gleicher Weise hatten schließlich nach dem Reichskonkordat von 1933 alle Bischöfe ihre heiligen Eide auf ihre Loyalität gegenüber dem Hitler-Staat beteuert. Eidbruch ist eine Todsünde, darauf steht nach der Lehre der römischen Kirche wirklich die ewige Höllenstrafe. Tyrannenmord – auch darauf stand nach den Lehren derselben Kirche die Todesstrafe auf Erden und im Jenseits die ewige Verdammnis. Vielleicht bestand die Bestimmung Jesu darin, für uns durch eine solche «Hölle» gehen zu müssen, um uns zu lehren, was der Himmel ist. Paulus sagt einmal: Er hat unsere Sünden auf sich genommen (Röm 4,25), doch das sind Worte aus den Gottesknechtsliedern des Jesaja (53,5), und sie erinnern an ein archaisches Ritual: Jesus, der Unschuldige, hat da unsere Sünden getragen als Opferlamm und ist stellvertretend für uns, die Schuldigen, getötet worden, damit ein Ausgleich sei auf den Waagschalen der himmlischen Gerechtigkeit. In Wahrheit aber läßt sich Jesu Schicksal weit einfacher und genauer verstehen: Jesus hat so gehandelt, daß er als «Sünder» betrachtet wurde und betrachtet werden mußte, damit wir endlich unter den Augen Gottes unsere Menschlichkeit zurückgewinnen könnten. Der Mann aus Nazaret ist einfach durch die Wände gegangen, wie es nach seinem Tode denn auch erzählt wird (Joh 20,19), er hat ohne zu zögern die Fesseln zerrissen, die wir Gesetze nennen, er hat das als Ordnung nicht geglaubt, was die meisten von uns als ganz selbstverständlich akzeptieren und dozieren. Wie fängt man an, die Welt zu betrachten, wenn man sie mit den Augen Jesu zu sehen beginnt? «Das ist ein Sünder», sagen «die Juden». Aber die Antwort dieses sehend gewordenen Mannes lautet: Ich weiß es nicht. Was jetzt anhebt, ist eine Achsendrehung in allem. An genau dieser Stelle fängt die Erde, auf der all die «Juden» so sicher zu stehen meinen, wie an einem Hang an zu rutschen. Der Sehendgewordene nämlich fährt fort: Ob er sündhaft ist, ich weiß es nicht. Eins weiß ich: daß, obwohl blind, ich jetzt sehe. – Da wird die eigene, persönliche Erfahrung, das, was man buchstäblich am eigenen Leib erlebt hat, zur Grundlage des ganzen «Glaubens». Und so müßte man jetzt sagen: Sehend wird ein Mensch, der aufhört, das zu glauben, was man ihm von außen her «auf die Augen gedrückt» hat. Gläubig, im Sinne des Johannes-Evangeliums, wirklich sehend, wird derjenige, der es wagt, von seiner eigenen Erkenntnis her zu denken. Alles andere braucht er erst einmal nicht zu wissen, und es ist sogar unerheblich. Selbst wer Jesus ist, scheint an dieser Stelle zunächst zweitrangig. Diese Einstellung ist so ungeheuer nach den fast zweitausend 434

Jahren Dogmentradition der Kirche, daß man staunen muß darüber, wie so etwas wirklich im Johannes-Evangelium überliefert sein kann. Wer Jesus ist, ob er von Gott ist oder vom Teufel, braucht dieser Mann zunächst einmal nicht zu beurteilen! Das einzige, wofür er zuständig ist, besteht darin, daß er ohne Angst ausspricht, was er erlebt hat. Das bildet die Grundlage von allem weiteren. Übertragen wir diese Haltung nur einmal auf die Erziehung unserer Kinder oder auf unsere eigene Biographie. Wie oft sind Eltern erschrocken, entsetzt, wenn sie ihre Kinder Gedanken äußern hören, die so ihnen nicht vorgedacht worden sind, ungläubige Gedanken, ketzerische Gedanken, wirre Gedanken. Aber ist dieses Suchen und Ringen um neue Antworten nicht weit kostbarer als all das Herunterspulen des Fertigen – des prüfungsfertig Abrufbaren? Kann es nicht sein, daß gerade in dem Neuen etwas aufscheint, in dem Gott wirklich zu uns spricht – als sehend machend, als Leben erweckend, als wiedergebärend? Wir dürfen uns hier noch nicht einmal zurückziehen auf das, was Johannes gesagt hat, sondern wir müssen so leben, daß wir mit unserer eigenen Existenz die Augen aufmachen und uns fragen: was passiert in unserem Herzen? was gilt da? was können wir wirklich sehen? – das ist die ganze Kunst einer wahrhaft religiösen Existenz. Dann freilich verdichten und überschlagen sich die Worte. Fast frech fragt dieser Sehendgewordene seine nunmehrigen Gegner, ob nicht auch sie, schon weil sie derart in ihn dringen, seine, Jesu, Jünger werden wollten. Diese dreiste und provozierende Unterstellung entbehrt nicht einer gewissen Psycho-Logik. Immer wenn wir etwas zu sagen versuchen, das wirklich neu ist und so das Terrain ein Stück erweitern könnte, wird es dahin kommen, daß die alten Seile des verknoteten Lebens im Schatten der Gesetze sich neu anspannen und uns wie elastische Bänder nach rückwärts zu ziehen versuchen. Es kann nicht anders sein, als daß das bestehende System gegen jede Veränderung sich wehren wird. Man wird heftig zurückweisen, was man da an Neuem hört. Schon weil das Alte so alt ist, hat es eine eigene, vermeintlich unwiderlegbare Beglaubigung für sich: – es hat sich bereits bewährt! Es war wiederum Friedrich Nietzsche, der einmal meinte: «Man wehrt sich am heftigsten gegen die Wahrheit, an die man in zehn Jahren selber glauben wird.» Das ist die beste Zusammenfassung, um zu verstehen, was in sogenannten Glaubensgemeinschaften sich im Kampf gegen Neuerungen und Richtungsänderungen zuträgt: Man wird mit wüsten Tiraden, mit Haß und Abscheu, denjenigen zum Widersacher Gottes 435

erklären, der nur ausspricht, was die Menschen inwendig längst ahnen, aber noch nicht bewußt denken dürfen. Aus lauter Angst dürfen sie nicht sehen, was sie sehen, nicht fühlen, was sie fühlen, nicht sein, was sie sind. Aber je länger die Abwehr dauert, desto mehr nimmt sie von dem, was sie bekämpft, in sich selber auf. Man bräuchte Sigmund Freud kaum zu kennen, um diesen Mechanismus zu entdecken: Die Verdrängung, hat er uns gelehrt, ist um so heftiger, als sich ein Wunsch regt, der zum Leben zugelassen werden möchte, und aller Fanatismus ist im Grunde nur die Abwehr gegen eine Wahrheit, die man als Versuchung schon in sich spürt. Genauso hier. Der Geheilte hat ganz recht zu sagen: «Daß ihr mich so bekämpft und euch immer wieder erkundigt, das zeigt euch eigentlich als Menschen, die schon halbwegs dabei sind, dasselbe zu glauben wie ich auch. Euere Verneinung ist immerhin etwas wert: Sie richtet eure Augen auf das, was ihr haßt, – aber ihr kommt davon nicht los; ihr müßt nur noch ein bißchen länger und genauer hinschauen, dann werdet auch ihr sehen, wie er mich zu sehen gelehrt hat.» Jedoch hat dieser Sehendgewordene im Augenblick jetzt mit seiner Eröffnung natürlich keinen Erfolg, ganz im Gegenteil. Eine unerwünschte und ungebetene Aufklärung über unbewußte Triebregungen, verdrängte Gefühle und niedergehaltene Gedanken macht unbeliebt; die «Juden» fallen über ihn her; sie beschimpfen ihn, sie erklären: «Du, sein Jünger bist du; wir aber» – und nun kommt es mit aller Selbstverständlichkeit: – «des Mose Jünger sind wir». Das soll der Grund sein, warum sie über Menschen und über Gott schon immer Bescheid wissen. Auch das muß man noch einmal klar bekommen, warum das Johannes-Evangelium damit sich nicht zufriedengibt, das Bekenntnis zu hören: «Wir glauben an Gott», ja, warum es sogar fertigbekommt, seinen Jesus sagen zu lassen: «Ihr habt Mose überhaupt nicht verstanden; ihr versteht das ganze Gesetz nicht!» Tatsächlich hat Jesus an vielen Stellen, auch in den ersten drei Evangelien, Worte gesprochen, die in diese Richtung tendieren. (Vgl. Mt 23,1-36!) Was damit gemeint ist, ließ sich vor ein paar Jahren auf französisch lesen: Der Dominikaner Père Jean Cardonnel in Montpellier hatte ein kleines, doch viel beachtetes Büchlein geschrieben. Seit nun schon über 35 Jahren versucht dieser Mann, die römische Kirche auf Trab zu bringen, aber das scheint unmöglich. Nun schrieb er ein Buch mit dem Titel «J’accuse l’Eglise»6. – Ich klage an – die Kirche! Der Titel erinnert an Emile Zolas Plädoyer am Ende des 19. Jhs. in der Dreyfus-Affaire; die DreyfusAffaire bildete einen Höhepunkt des Militarismus in Frankreich schon vor über 100 Jahren, sie markierte einen Höhepunkt auch der Korruption in 436

allen Ständen; Emile Zola sagte damals: «Ich mag den Juden Dreyfus nicht, er ist wirklich ein Militarist, er glaubt immer noch an das französische Militär, aber ihm ist Unrecht geschehen, und es kommt nicht darauf an, ob er richtig denkt in meinem Sinne, es kommt darauf an, daß er ein Mensch ist, der zu Unrecht auf der Pfefferinsel sitzt. Ich klage an!»7 – So etwas ähnliches nun schwebte Jean Cardonnel vor. Sein Buch begann mit der Einstellung des Papstes zur Hölle, und zitiert wurde dabei die Schwelle der Hoffnung überschreiten, ein Buch, in dem Papst Johannes Paul II. in den neunziger Jahren die Priester und Verkündiger seiner Kirche ermahnte, sie sollten nicht vergessen, von der Hölle zu predigen – sie täten das zu wenig –; denn ohne die Angst vor der Hölle verlören die Menschen die Abneigung gegen die Sünde8. Jean Cardonnel erinnerte gleich zu Beginn seiner Gegenschrift an Ludwig XIV. und an sein Edikt über den Umgang mit den Negersklaven, die man aus Afrika in die Grande Nation importiert hatte: Sie alle sollten bei ihrer Ankunft getauft werden. Es war Cardonnel, der fragte, was das wohl sei, im Namen Jesu Menschen zu taufen. Wäre es nicht nach dem Vorbild des Mose, sie aus der Sklaverei in die Freiheit zu führen? Wäre so zu handeln nicht die Grundvoraussetzung, um Jesus zu leben, indem man tut, was Mose wollte? Aber die Kirche, die Kardinäle in der Zeit des «Sonnenkönigs» scheuten sich nicht, den Menschen, denen sie in Zwangsgehorsam zugunsten der französischen Wirtschaft das Leben stahlen, nun auch noch die Seele zu nehmen unter der Farce einer christlichen Taufe. Diese schwarzen Sklaven sollten an nichts mehr glauben, als daß der König mitsamt dem Ersten Stand (den Klerikern) die Macht und das Recht und von Gott ist9. Da ist alles eins: man gehört zum Papst und zum römischen Katholizismus genauso wie man zum Gottesgnadentum des absoluten Königs und Monarchen gehört. Aber auf Mose zu hören, zu Mose zu gehören, das ist etwas anderes; da ist die Frage nicht, was Mose gesagt hat, sondern wie das, was er sagen wollte, uns heute erreicht: Wie realisiert sich die Freiheit, die sich mit dem Aufbruch aus Ägypten unter seinem Namen verbindet? Gefordert ist da ein Exodus immer neu, ein Wagemut zur Freiheit immer von vorn. Da gibt es nichts, worauf man sich im Sinne der rituellen Vergegenwärtigung einer idealisierten Vergangenheit berufen könnte. Um einer solchen persönlichen Freiheit willen legt dieser blindgeborene Sehendgewordene sich selbst die entscheidende Frage vor: Wäre es denn möglich, daß etwas Sünde sei, das Menschen leben ließe? Wie kann denn etwas gegen Gott sein, das der Menschen Herzen weit macht? Wäre es denn denkbar, daß sich etwas gegen das Wort Gottes selber richtete, das 437

den Menschen Augen und Ohren zu öffnen vermöchte? Es war noch nie, daß jemand so etwas tun konnte und wäre nicht von Gott gewesen. Es ist die Reihenfolge: Aus dem, was ein Mensch selber sieht, gewinnt er ein Urteil auch über das, was der ist, an dessen Seite er sehend wurde. Dieser Mann, sehend geworden, riskiert alles. Man wird ihn ausstoßen, man wird ihm sagen, daß er verstockt sei, schlimmer als ein Atheist, ärger als ein Gottesleugner, daß er in Sünden geboren worden sei. Vorher war er nur in Blindheit zur Welt gekommen, aber jetzt, als ein Sehender, ist er in den Augen der «Gottesbesitzer» in Sünden geboren, das heißt, er ist so verderbt, daß er ganz unmöglich sie, die Wissenden, zu belehren vermag. Da ist die Wende vollzogen: aus dem, was positiv ist, wird negativ, aus dem, was negativ ist, wird positiv. Aber der Kern, um den es geht, liegt in der Aussage der «Pharisäer»: bei Jesus wissen sie nicht, woher er ist; bei Mose glauben sie es zu wissen: zu ihm hat Gott gesprochen. Jesus hat nichts, worauf er sich berufen kann, – außer wieder nur: auf Gott; aber wann redet Gott mit einem Menschen und woran soll sich zeigen, daß dies der Fall ist? Es ist einer der schönsten Sätze im ganzen Neuen Testament, den der Blindgewesene, der Sehendgewordene hier ausspricht, Vers 30 im 9. Kapitel des Johannes: Er hat ihnen gesagt: Darin liegt ja das Wunderbare, daß ihr nicht wißt, woher er ist, doch hat er geöffnet meine Augen. – Da ist es möglich, daß wir Menschen in einen Raum hineingestellt sehen, an dem sie unableitbar sind, an dem sie, mit Barlach gesprochen, «den Himmel sehen über dem Pfuhl», an dem sie zu einer nie geahnten Form der Selbständigkeit finden. Den entscheidenden Prozeß, der ihre Freiheit begründet, wissen wir von außen her gar nicht zu beschreiben, aber daß sie fortan allein ruhen in Gott, das ist das Wunderbare, das ist der ganze Inhalt ihres neuen Sehens. Die alles verändernde Einsicht wird ihnen, indem Gott in ihr Herz scheint und all das in den Schatten stellt, was man in seinem Namen meinte zur Vorschrift erheben zu müssen. In seinem kleinen Büchlein Antichrist im Jahre 1888, kurz vor dem Ausbruch seiner schweren Geisteskrankheit, hat der als Gottesleugner und Christusgegner verschrieene Friedrich Nietzsche Worte geschrieben, die zum Besten zählen, was über die ursprüngliche Botschaft Jesu je geschrieben wurde. Man muß sie nur vorlesen, und die Frage ergibt sich von selbst, über was für Kategorien wir eigentlich verfügen, um Menschen zu bewerten? Wann stimmt etwas menschlich wirklich und wann nicht? Nietzsche schrieb:

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«In der ganzen Psychologie des ‹Evangeliums› fehlt der Begriff Schuld und Strafe», – das muß man nur einmal hören, nach zweitausend Jahren Knechtung der Menschen mit Schuld, Angst und Strafe! Doch so stellt es Nietzsche gegen alle Theologenauslegung im wesentlichen richtig fest: «In der ganzen Psychologie des ‹Evangeliums› fehlt der Begriff Schuld und Strafe; insgleichen der Begriff Lohn. Die ‹Sünde›, jedwedes DistanzVerhältnis zwischen Gott und Mensch ist abgeschafft – eben das ist die ‹frohe Botschaft›. Die Seligkeit wird nicht verheißen, sie wird nicht an Bedingungen geknüpft: sie ist die einzige Realität – der Rest ist Zeichen, um von ihr zu reden … – Die Folge eines solchen Zustandes projiziert sich in eine neue Praktik … Nicht ein ‹Glaube› unterscheidet den Christen: der Christ handelt, er unterscheidet sich durch ein anderes Handeln: Daß er Dem, der böse gegen ihn ist, weder durch Worte noch im Herzen Widerstand leistet. Daß er keinen Unterschied zwischen Fremden und Einheimischen … macht … Daß er sich bei Gerichtshöfen weder sehen läßt, noch in Anspruch nehmen läßt … – Alles im Grunde Ein Satz, alles Folge Eines Instinkts. – Das Leben des Erlösers war nichts anderes als diese Praktik, – sein Tod war auch nichts andres … Er hatte keine Formeln, keinen Ritus für den Verkehr mit Gott mehr nötig, – nicht einmal das Gebet. Er hat mit der ganzen jüdischen Buß- und Versöhnungs-Lehre abgerechnet … Nicht ‹Buße›, nicht ‹Gebet und Vergebung› sind Wege zu Gott … Was mit dem Evangelium abgetan war, das war das Judentum der Begriffe ‹Sünde›, ‹Vergebung der Sünde›, ‹Glaube‹, ‹Erlösung durch den Glauben›, – die ganze jüdische Kirchen-Lehre war in der ‹frohen Botschaft› verneint. – Der tiefe Instinkt dafür, wie man leben müsse, um ‹sich im Himmel› zu fühlen, um sich ‹ewig› zu fühlen, während man sich bei jedem andern Verhalten durchaus nicht ‹im Himmel› fühlt: dies allein ist die psychologische Realität der ‹Erlösung›.»10 Ein besserer Kommentar zu der Darstellung des Johannes, wie ein Mensch sehend wird, läßt sich schwerlich finden: eine Welt, in der Menschen akzeptiert werden ohne Vorleistungen und Vorbedingungen – das ist in der Tat die Veränderung in allem. Wer erst einmal einsieht, daß Menschen anders gar nicht leben können, der ist im Sinne des johanneischen Jesus geheilt; der wird jedoch zugleich zu einem Skandal in den Augen all der «Einsichtsfähigen» und der «Einsichtigen» in der Welt der verwalteten «Normalität». Doch gerade diese von Nietzsche absolut richtig beobachtete «Umwertung aller Werte» auf dem Boden des Neuen Testaments 439

bringt diesen «Geheilten» nun unverbrüchlich in die Nähe Jesu. Jetzt, wo sie ihn ausschließen, den Sehendgewordenen – zweimal heißt es «Hinaus!» –, jetzt, wo sie ihn ins Exil hetzen und zur Unperson erklären, indem sie rituell seine Existenz verneinen, da begegnet er Jesus erneut. Bezeichnenderweise lautet die Frage Jesu an den Verstoßenen: Du, vertraust du auf den Menschensohn? – Das ist ein Begriff, von dem der historische Jesus der ersten drei Evangelien im Rahmen der Apokalyptik Gebrauch machte, indem er glaubte, sehr bald schon werde vom Thron Gottes her eine Gestalt den Menschen erscheinen, die bei dem Propheten Daniel «der Hochbetagte» oder eben «der Menschensohn» (Dan 7,13) heißt – der Inbegriff gewissermaßen einer gestaltgewordenen Menschlichkeit; ihm, diesem Menschensohn, traute Jesus zu, er werde über die Taten und die Wirklichkeit der Menschen auf Erden richten. Der historische Jesus meinte offenbar, man müsse nicht warten, bis jener komme, sondern alles entscheide sich jetzt: Wie man heute lebe, an seiner Seite, hörend oder nicht hörend auf seine Worte, das werde den Maßstab bilden, wie auch der Menschensohn, wenn er komme, sein Urteil über die Menschen spreche. (Vgl. Mt 25,31-46.) Diese Überzeugung Jesu führte dahin, daß man ihn selber mit dem Menschensohn identifizierte. Vor allem das Johannes-Evangelium hebt die Zeitschemata auf: Da kommt nichts, es ist einfach; seine Haltung ist nicht mehr das Warten auf die Ankunft oder auf die Wiederkunft des «Menschensohnes» auf den Wolken des Himmels (Mk 13,26), sondern ein Leben in der Realität heute. Das meint die Frage: Du, vertraust du auf den Menschensohn? bei Johannes. Und der Geheilte bejaht diese Frage kniefällig! Da ist die gelebte Menschlichkeit weit wichtiger als der ganze «Glaubensinhalt». «Ja, Herr», sagt er sinngemäß, «ich sehe, und was ich vor mir sehe, Du, mein Gegenüber, das ist alles, was Gott in meine Seele gelegt hat und legen kann.» Von diesem 9. Kapitel meinte Martin Luther einmal, es sei das kostbarste und wichtigste des ganzen Johannes-Evangeliums. Dafür hat der Reformator selbst wie zur Begründung an einer anderen Bibelstelle ein sehr schönes Beispiel gegeben. Als er 1521 auf der Wartburg das Lukas-Evangelium übersetzte, fand er in Lk 1,28 einen Satz, der der römischen Kirche bis heute besonders teuer ist. Er lautet beim Gruß des Engels Gabriel an Maria in Nazaret: «gratia plena – du bist voll der Gnade»; so jedenfalls übersetzt die lateinische Vulgata des Kirchenvaters Hieronymus die Stelle. Wenn Theologen hören, daß ein Mensch, eine Frau, von einem Engel bezeichnet wird als «voll der Gnade», so läuft die dogmatische Spekulation sogleich auf Hochtouren: Wenn Maria voll der Gnade ist, so bedeutet das, 440

daß sie eben ganz voll der «Gnade» ist und also keine Sünde gehabt haben kann. Daraus folgt wiederum, daß Maria als «voll der Gnade» die ganz Sündenreine war; das aber bedeutet einen absoluten Unterschied: alle anderen Menschen sind im Schatten der Erbsünde geboren, ganz in Sünden; Maria aber muß der Erbsünde entnommen gewesen, sie muß «unbefleckt empfangen» gewesen sein. Dreihundert Jahre nach Martin Luther wurde im Jahre 1871 aus diesen «bibeltheologischen» Vorgaben ein eigenes Dogma der römischen Kirche. Auch in den Tagen des Reformators sah man den Lukastext bereits als Begründung der gesamten «Mariologie» an. Martin Luther aber wagte an dieser Stelle das griechische Wort, das da heißt «kecharitomenä» – «die Begnadete», wiederzugeben mit: Du liebe. «Es grüßt dich Gott, du liebe Maria», habe der Engel gesprochen zu der Jungfrau. Und dann schreibt er im «Sendbrief vom Dolmetschen», die römischen Theologen würden erbost sein über dieses Wort, weil es von der Dogmensprache abweiche. Luther aber verteidigt das Wort: «Es gibt kein schöneres im Deutschen», sagt er; nur wir Deutschen hätten ein solches Wort: Du liebe! 11 – Vor 480 Jahren offenbar war es möglich, die Bibel so zu übersetzen, daß sie in der Alltagssprache, im Erfahrungsraum von Menschen lebendig wurde und ihre Freiheit zurückerhielt in den zärtlichsten Gefühlen, die auszudrücken Menschen möglich ist. Diese Freiheit wiederzugewinnen hieße heute, das ganze Johannes-Evangelium so zu verstehen, daß wir sehend würden.

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Joh 10,1-21: Der gute Hirt 1Bei Gott, ja, bei Gott, ich sage euch: Wer nicht durchs Tor in die Hürde der Schafe hereinkommt, sondern darüber steigt anderswoher, der ist ein Dieb und ein Räuber. 2Wer aber hereinkommt durchs Tor, der ist Hirt der Schafe. 3Dem öffnet der Torwächter; und die Schafe – seine Stimme hören sie. Und die eigenen Schafe – er ruft sie beim Namen und führt sie hinaus. 4Wenn er die eigenen alle hinausgetrieben hat, geht er vor ihnen her, und die Schafe folgen ihm, denn sie kennen seine Stimme. 5Einem Fremden aber – nein, dem werden sie nicht folgen, sondern fliehen werden sie vor ihm, denn sie kennen nicht von Fremden die Stimme. 6Diese Rätselrede sagte ihnen Jesus; sie aber erkannten nicht, in bezug zu wem es war, was er ihnen sagen wollte. 7Gesagt hat da abermals Jesus: Bei Gott, ja, bei Gott, ich sage euch: Ich bin das Schaftor. 8Alle, die (vor mir) gekommen, – Diebe sind sie und Räuber; aber gehört haben nicht auf sie die Schafe. 9Ich bin die Tür. Durch mich – geht jemand so hinein, wird er gerettet werden (sich als Heil erweisen); – er wird hineingehen, er wird hinausgehen, er wird Weide finden (14,6). 10Der Dieb kommt zu nichts als zum Stehlen, zum Schlachten, zum Ausbeuten. Ich bin gekommen, daß sie Leben haben, ja, es überreich haben. 11Ich bin der Hirt, der gute (Ps 23; Jes 40,11; Ez 34,11-23). Der Hirt, der gute, setzt sein ganzes Ich ein für die Schafe (15,13; Hebr 13,20). 12Der Mietknecht, der ja kein Hirt ist, dem nicht die Schafe das Eigene sind, sieht er den Wolf, wie er kommt – da verläßt er die Schafe und flieht, und der Wolf raubt sie und versprengt, 13denn nur Mietknecht ist er; ihm liegt nicht an den Schafen. 14Ich bin der Hirt, der gute. Ich kenne die Meinen, und es kennen mich die Meinen (2 Tim 2,19); 15so wie mich der Vater kennt und ich den Vater kenne. Ja, mein Ich setze ich ein für die Schafe. 16Auch andere Schafe habe ich, die nicht aus dieser Hürde sind. Auch die muß ich führen; meine Stimme werden sie hören, und es sei: eine Herde, ein Hirt (11,52; Apg 10,34.35). 17Drum: mich liebt der Vater, weil ich mein ganzes Ich einsetze, auf daß ich es wieder empfange. 18Niemand nimmt es mir fort, sondern ich setze es ein, von mir aus. Vollmacht habe ich, es einzusetzen, Vollmacht habe ich, es wieder zu empfangen (5,26). Diesen Auftrag empfing ich von meinem Vater. 19Eine Spaltung wiederum entstand unter den Juden (den Gottesbesitzern), wegen dieser Worte (7,43; 9,16). 20Es sagten

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nämlich viele von ihnen: Einen Abergeist hat er. Er ist verrückt (7,20; Mk 3,21). Was hört ihr ihn an? 21Andere sagten: Das sind nicht die Worte eines Aberbegeisteten. Nein, ein Abergeist – kann er Blinder Augen öffnen?

Das 10. Kapitel kann ohne Zweifel als Schlüssel zum Verständnis des ganzen Johannes-Evangeliums angesehen werden. Alles, was der johanneische Jesus sagen möchte, wird hier mit vielen Parallelverweisen auf Worte und Aussagen, die schon einmal vorgetragen wurden, in einer einzigen Ansprache zusammengestellt, die für unsere Ohren höchst vertraut und gleichzeitig völlig fremd wirkt, überraschend neu, wenn man genau hinhört, und dann wieder wie in sich verfestigt und gänzlich konventionell; wie wir zwischen beiden Eindrücken uns zurechtfinden und den Text so zu lesen lernen, daß darunter Eigenes und Wesentliches sichtbar wird, das ist die Frage bei der Auslegung dieser «Offenbarungsrede». An der Küste des Libanon läßt sich ein sonderbares Schauspiel beobachten. In die Felsen, die dicht an die Brandung des Mittelmeeres reichen, haben Salzsieder terrassenartig Pfannen getrieben, in die sie das Meerwasser schöpfen, um es unter der gleißenden Sonne verdunsten zu lassen. Das Salz fällt kristallisiert aus, wird gesammelt und dann als eines der kostbarsten und wichtigsten Lebensmittel der Menschen auf den Märkten der Dörfer und Städte weitergereicht. So ähnlich verhält es sich mit dem Johannes-Evangelium: All seine Geschichten und Reden wirken wie künstliche Salzpfannen; die einzelnen kristallen funkelnden Worte schmecken herb im Munde und sind doch unersetzlich, um von ihnen zu leben; man muß aber bei einem jeden dieser Salzkristalle sich rückerinnern an den Ort seines Ursprungs. Geschöpft wurde das alles einmal, ehe es in die Enge der Salzpfanne kam, aus der Weite des Meeres; es entstammt der Sehnsucht nach anderen Ufern, dem Wagemut, unter geschwellten Segeln bei wehendem Wind die hohe See zu gewinnen. Es ist ausgeglüht unter einer überfließend sich verschenkenden Sonne, geschaffen von der Unermeßlichkeit der See und dem goldenen Gleißen des Lichts. Wenn wir die Worte des Johannes-Evangeliums im 10. Kapitel vernehmen, so erscheinen sie uns zunächst wie verkleinert, sie wirken fast wie abstoßend, sind sie doch über zweitausend Jahre lang handlich für Händler gewesen, wohlfeil auf den Marktplätzen der Theologie: Jesus ist der Hirt, und die an ihn glauben, bilden die Herde, – das beschreibt ein Verhältnis von Führer und Masse, inklusive aller Formen des möglichen Mißbrauchs. Ein Volk von «Schafen» ist der Führung bedürftig. Jeder Verhaltenspsychologe kann erläutern, warum: Im Unterschied zu den schlauen Ziegen, 443

die sich gewandt im Hochgebirge bewegen, ist das steppenbewohnende Schaf, spätestens seit es vor ca. achttausend Jahren domestiziert wurde, ohne ein eigenes Heimfindevermögen. Es ist wirklich auf den Menschen angewiesen, der es versorgt, leitet und schützt. Mehr als Blöken und MähSagen ist diesen Tieren selbst im Notfall nicht zuzutrauen. Wenn ein solches Betragen zum Vorbild der «Gläubigen» wird, ist es deutlich, warum die (Schaf)Herde der Christgläubigen einer zentralen Leitung bedarf, und diese so unerläßliche Leitung kann sich berufen eben auf dieses 10. Kapitel des Johannes-Evangeliums, in dem es ja steht: Jesus ist der Hirte. Ihm nach also alle, die als Hirten, als Vorgeher und Vorsteher, in der «Herde» Christi wirken wollen! Die Szene wurde zudem bis zum Kitschigen im Erbe der Nazarenergemälde ausgeschmückt: wie da im Abenddämmer ein Hirte friedlich bei seiner Herde weilt, von ihr lebt, mit ihr lebt – alles wie ohne Gefahr. Bilder und Bildchen dieser Art finden sich in den christlichen Kirchen in Israel, in Jordanien, in Syrien als Import aus der Kolonialzeit des Christentums noch in den zwanziger Jahren des 20. Jhs. Ein einziger Blick in das Gebirge von Galiläa oder von Judäa könnte und würde es anders zeigen: wie mühselig das Werk eines Hirten in Wahrheit war und ist. Johannes spricht sogar von drohender Todesgefahr, von einem Lebensabenteuer, von einem Engagement um Alles oder Nichts, das ein Hirt als «Berufsrisiko» eingehen muß, und man ahnt natürlich: es geht im Grunde nicht um «Hirten» und um «Schafe», es geht darum, wie wir die Beziehung zwischen Gott und Mensch zu verstehen haben. Gerade der autoritäre Typ von Religion ist durch die Theologie immer wieder mit Hinweisen auf Texte wie diesen gestützt worden. Sind denn Menschen überhaupt fähig, die Wahrheit des Göttlichen zu finden? Menschen – darunter stellen sich gewisse Kirchenmänner wohl auch heute noch rechte «Schafe» vor, Wesen, die Gottes vergessen haben, weil sie nur um sich selbst kreisen, indem sie selbst ihre «Sünden» noch als Tugenden gegenüber dem Himmel reklamieren. Mit solchen störrischen Existenzen muß Gott streng und bestimmend reden, um ihre frevelhafte Starrnis aufzubrechen. Gott, unter solchen Umständen, wenn er kommt, kommt stets von außen, kommt stets von fremd; er muß die Selbstgewißheit der «Sünder» zerstören, er muß die Menschen anreden wie ein Ankläger und das Gesetz gerade zu dem Zweck der Überführung der Laster und der Sünden der Menschen gebrauchen. Stets muß er deshalb bereitstehen zu strafen. Gott erscheint da als das ganz Andere des Menschen, und wer da sagen wollte, es müsse doch eine Verbindung, eine Brücke geben zwischen dem 444

Menschen, den Gott selber schuf, und dem Gott, der auf den Menschen ebenso wartet wie der Mensch auf seinen Gott, dem würde man gleich entgegenhalten, daß er letztendlich «Selbsterlösung» predige: er setze Gott außer Kurs, er lehre das menschliche Leben auf eine Art, die Gott überflüssig mache. In der Tat: Wenn es nicht nötig ist, den Menschen von seiner «Schuld» zu erlösen, dann existiert ein Gott vielleicht gar nicht, dann ist er womöglich nur ein Bild im Menschen; und führt eine solche Auffassung nicht wie von selbst in den Pantheismus oder Atheismus? Dann gibt es gar keinen Gott mehr, sondern nur noch den Menschen und seine Seele! Gott sei Dank, redet dieses 10. Kapitel des Johannes-Evangeliums anders, als die Theologen es aus dogmatischen Gründen gern einander polarisierend gegenüberstellen. Das Vierte Evangelium wählt einen Mittelweg, einen steinigen, einen steilen, doch einen buchstäblich rettenden Weg zur Vermeidung falscher Alternativen. Es sagt keinesfalls, Gott und Mensch seien ein und dasselbe, ganz im Gegenteil, es betont Satz für Satz, wie notwendig der Mensch Gott braucht, um zu sein; aber nun umgekehrt auch: das, was Gott in der Person Jesu dem Menschen zu sagen hat – das steht dem Johannes-Evangelium ganz fest –, ist eben nicht die Strafpredigt eines Fremden, eines Überwältigenden, eines Anklagenden, es ist vielmehr eine sehr leise, sanfte und gütige Rede. Gleich in der Einleitung der «Hirtenrede» formt Johannes deshalb seinen Gegensatz: Es gibt und es hat immer wieder in der Religionsgeschichte Leute gegeben, die von der Differenz zwischen Gott und Mensch ausgingen: Je niedriger sie den Menschen stellten, desto größer wurde ihre Macht, denn je weiter entfernt ihr Gott von den Menschen schwebte, desto erhobener und erhabener über allem Irdischen thronten sie selber als seine Verkünder. Alle, die so tun, sagt der Jesus des Johannes-Evangeliums hier, sind wie von fremd in den Schafstall gekommen, wie von draußen herein, und was sie im Sinne hatten und haben, läßt sich an der Wirkung ihres Auftritts ersehen. Es gibt ein klares Kriterium zur Prüfung, was Religion wert ist. Natürlich läßt sie sich zu allem Möglichen mißbrauchen. Dann kommen die Diebe, dann kommen die Räuber: auch ihnen geht es um die Schafe, doch nur zu dem Zweck, sie zu schlachten und auszubeuten, – sie zugrunde zu richten, sagt das griechische Wort sogar an dieser Stelle. Man kann Religion auf eine Weise «haben», daß am Ende Fragen des Glaubens nichts weiter sind als wohlfeile Werkzeuge, um Macht, Geld, Einfluß und Positionen zu erringen. Das alles hat sich allzu oft schon ereignet, und es wird weiter geschehen, im Namen Gottes und, wie man sieht, sogar im Namen Jesu, aber es ist soviel wie Raub und Diebstahl; es hat nichts zu tun mit 445

dem, was Jesus einmal wollte, soviel steht fest. Wenn man begreifen will, wer der Mann aus Nazaret war und ist, meint das Johannes-Evangelium, so muß man ihn sich vorstellen, wie er ganz innig mit Menschen redet, – in diesem Sinne als Hirt zu den Schafen. Natürlich läge es an dieser Stelle nahe, aus der synoptischen Tradition das Gleichnis vom guten Hirten einzufügen, mit dem wohl auch der historische Jesus begründet hat, warum er, nach Gottes Vorbild, wie er betonte, gerade den Verlorenen, den «Sündern», nachging (Lk 15,1-7); er erfüllte damit zugleich die messianische Vision des Ezechiel (34,1-31) von einem Hirten, wie Gott ihn bestellen wird. Doch das Johannes-Evangelium vermeidet es fast, dem Paulus darin ähnlich, die überlieferten Sätze Jesu zu zitieren und aufzugreifen; viel lieber legt Johannes seine eigenen Deutungen der Ereignisse um die Person des Mannes aus Nazaret und seine Botschaft ihm selbst in den Mund; er läßt «seinen» Jesus all das sagen, was sich Jahrzehnte später als «Theologie» kristallisieren wird. Um so wichtiger ist es, daß Johannes die Bedeutung Jesu gar nicht so sehr in die einzelnen Sätze hineinlegt, die am Gestade des Sees von Gennesaret einmal gesagt worden sein mögen; entscheidend ist für ihn vornehmlich die Art und Weise, wie Jesus redet. Wer ihn versteht, hört in seinem Inneren einen ihm wohlvertrauten Ton; etwas seit Urzeittagen Bekanntes, etwas durchaus nicht Fremdes, sondern immer schon Vernommenes meldet sich da zu Wort, und eben deswegen antwortet bereitwillig alles im eigenen Herzen darauf. Die Sprache des «Hirten» zu seinen «Schafen», so wie sie in dem johanneischen Jesus sich verkörpert, ist erkennbar nichts anderes als ein Dialog der Liebe. Und so sollte die gesamte Religion verstanden werden: die Beziehung zwischen Mensch und Gott sollte man betrachten als das Zwiegespräch einer Liebe, in dem das Göttliche gerade nicht wie etwas Feindseliges, Bedrohliches oder Unheimliches empfunden wird, sondern als etwas ganz und gar Zärtliches. So wie ein Mensch der Liebe bedarf, so bedarf er dieser Sprache Gottes, der die Liebe selbst ist. Es wäre deshalb nicht zuviel gesagt, wenn wir die Aussage des JohannesEvangeliums von Jesus als dem «Hirten» so formulieren wollten: Gott redet zu uns stets in unserer Muttersprache. Wir müßten das Wort «Muttersprache» dann freilich so übersetzen, wie Christine Busta es einmal in einem kleinen Vergleich ausgedrückt hat. Sie schreibt: Nicht was die Mutter sagt, beruhigt und tröstet die Kinder. Sie verstehen’s zunächst noch gar nicht. 446

Wie sie es sagt, der Tonfall, der Rhythmus, die Monotonie der Liebe in den wechselnden Lauten öffnet die Sinne dem Sinn der Worte, bringt uns ein in die Muttersprache. Ein Gleiches geschieht auch im Gedicht. In diesem Sinne war Jesus ein vollendeter «Dichter», ein Poet unseres Lebens, der nichts weiter wollte, als unsere Muttersprache in unserem Herzen zu erlauschen, zu erlernen und zur Sprache zu bringen. Wie überhaupt erlernt man die «Muttersprache» eines Menschen? Es ist eine eigene Kunst, sich so in den anderen hineinzuhören, daß man seine Worte versteht, daß man den Hintergrund der Gefühlsbedeutungen, der Schwingungen, der Erinnerungen, die ganze Abfolge der Assoziationen in dem vielleicht nur stockend Geäußerten, nur wie bruchstückhaft Mitgeteilten, vernimmt. Ein kleines Beispiel mag zeigen, was damit gemeint ist und was davon abhängt. Bei den Brüdern Grimm erzählt das bekannte Märchen Rapunzel 1 einmal von einem Mädchen, das als Lebenselixier seiner Mutter zur Welt kommt, aber aufwächst bei einer Frau, die als die stärkste und größte Zauberin der Welt eine unheimliche Macht über ihr Stiefkind besitzt. Als es zwölf Jahre alt wird, sperrt die Mutter-Zauberin es in einen Turm ein; Tag für Tag kommt sie, um an Rapunzels schönen Haaren, zwanzig Ellen lang und blond wie aus Gold, sich zum Fenster des Turms hochziehen zu lassen, der einen anderen Eingang gar nicht besitzt. In seiner Einsamkeit singt Rapunzel mitunter wie ein Vöglein, das man in einem viel zu engen Käfiggefängnis vergessen hat. Seine Stimme aber, erzählt uns das Grimmsche Märchen, hört ein Königssohn, und der wird so verzückt allein von dem lieblichen Gesang dieses Mädchens, daß er beschließt, um seine Liebe zu werben. Freilich findet er in dem Turm keine Tür zu der Geliebten und weiß nicht zu ihr zu gelangen, bis daß er eines Abends bemerkt, wie Rapunzels Mutter (die Zauberin) ihre Tochter auffordert, sie möge ihr Haar herunterlassen. So erfährt er, wie es möglich ist, sich der Geliebten zu nähern, und er vermag nicht anders zu tun, als am folgenden Abend dieselben Worte in demselben Tonfall nachzusprechen. Rapunzel, in dem Glauben, er sei ihre Mutter, zieht den Königssohn zu sich empor. Dieses kleine Märchenmotiv zeigt sehr schön, was es bedeutet, eine 447

Sprache zu reden, die dem anderen nicht fremd, sondern ganz und gar vertraut ist, eine Ausdrucksweise, die es erlaubt, ein Gefängnis aus Angst gewaltfrei zu öffnen. Man muß buchstäblich noch einmal aus dem Munde eines äußerlich vielleicht längst schon erwachsen Gewordenen hören, wie damals seine eigene Mutter mit ihm redete, wie die Menschen mit ihm sprachen, denen er damals, als er noch ein Kind war, zu vertrauen suchte gegen alle Not und Einsamkeit oft; nun aber gilt es, in den gleichen Tonfall einzuschwingen und die Worte so zu gebrauchen, daß sie das damals Fehlende ergänzen und das ehedem Hilfreiche aufgreifen und fortführen. Wenn es dahin kommt, daß einer so spricht mit einem anderen, wird dieser ihm ohne zu zögern folgen; er wird ihm gern Gehör schenken; unter dieser Voraussetzung bedeutet «Gehorsam» nicht länger mehr Unterwerfung, sondern eine wie selbstverständliche Zuneigung und Zuversicht, eine wachsende Verbundenheit in Zusammengehörigkeit. Eigentlich nur davon ist die Rede, wenn Jesus den Worten des JohannesEvangeliums nach erklärt: «Ich kenne die Meinen, und es kennen mich die Meinen, und ich rufe einen jeden von ihnen bei seinem Namen.» Im Alten Testament wird das nur von Gott selbst ausgesagt: er kenne einen jeden Menschen ganz, er wisse um sein Wesen, so daß alles, was er ihm mitzuteilen habe, die Fülle all der Möglichkeiten seines Lebens freisetze und hervorlocke. Hier aber gilt es, an der Seite Jesu zu lernen, in gerade dieser Weise miteinander zu sprechen: da rühren wir an das Wesen des anderen, wir setzen seine Träume frei, seine Sehnsüchte, sein Verlangen, seine Hoffnungen, seine oft enttäuschten Erwartungen, und lassen sie wieder zum Dasein zu; wir führen – im Bilde dieser Rede des Johannes-Evangeliums – den anderen buchstäblich hinaus, und man müßte ergänzen: ins Weite, ins Freie, wo er seine Nahrung selber suchen und finden kann. Der Hirt, heißt es, geht den Schafen voraus, und auch das mag man verstehen. Für uns Menschen gilt, daß niemals jemand einen anderen weiter zu führen vermag als bis zu dem Punkt, bis zu dem er selbst schon gegangen ist; an der Stelle, wo er selbst endet, wird er die Begleitung des anderen nicht länger fortsetzen können. Dieser Text aber denkt sich Jesus als jemanden, der die ganze Weite unseres Lebens, in ihrem Glück und in ihrer Not, in ihrer Größe und in ihren Niederungen, in ihren Triumphen und in ihrem Elend bereits durchschritten und durchlitten habe; er kenne sich aus mit uns, und das sei der Grund, warum auch wir uns bei ihm und in ihm wiedererkennen könnten. Es heißt an dieser Stelle sogar, jemand, der durch eine solche Tür, wie Jesus sie ist, eintrete, werde «gerettet». Zu vermuten steht, daß das Grie448

chisch des Johannes-Evangeliums an dieser Stelle einen ursprünglich semitischen Text falsch übersetzt hat, denn «gerettet werden» macht hier keinen Sinn. Man sollte sagen, daß jemand, der so lebt wie Jesus, für den die ganze Art des Auftretens, des Sprechens, des Zugehens auf Menschen, wie sie sich bei dem Mann aus Nazaret gezeigt hat, verbindlich geworden ist, sich selbst erweisen wird als ein Retter: – nicht ein Passiv, sondern ein reflexives Kausativ wird als Verbform hier einmal gestanden haben. Doch dann geht es weiter: er wird hineingehen, er wird hinausgehen, er wird Weide finden. Das im Grunde ist das Entscheidende: da wächst ein Gefühl, endlich leben zu dürfen, ein reiches Leben, ein überreiches, «sattes» Leben. Wer eigentlich hat uns ständig gelehrt, Religion sei im wesentlichen Askese, Verzicht und Absehen von sich selbst, – sie sei eine Einschränkung des Lebens in jedem Betracht? Was Jesus uns wirklich bringen wollte, meint das Johannes-Evangelium, sei eben nicht der Widerspruch zu dem menschlichen Verlangen nach Glück, sondern dessen Erfüllung in einem nie geahnten Reichtum. Es zu ergreifen mit allen Sinnen, mit allen Fasern, das heiße es, Jesus selber zu schmecken, wie Brot und wie Wasser und ihn auf der Haut zu spüren wie Sonne und Licht und eine Geborgenheit bei ihm zu erleben wie ein Schaf bei einem Hirten, der seine Herde nie verläßt. Der Unterschied im Umgang mit Menschen ist absolut. Es ist immer möglich, Menschen den eigenen Bestrebungen dienstbar zu machen. Dann sind sie ein Material und Werkzeug zur Umsetzung und Durchsetzung der eigenen Interessen; man selber aber ist dann, in der Sprache dieses Evangeliums, nichts weiter als ein Mietknecht, ein Miethirte. Der «Dienst» an der Herde erfüllt dann einen Zweckvertrag, dessen Ertrag in zahlbarer Münze zurückkommen soll, er ist ein Auftrag von außen und verbleibt als ein Verhältnis von außen. Dem Mietling liegt nicht wirklich an den Schafen. Ganz anders ein wirklicher «Hirt». Man kann einen solchen Unterschied rasch herausspüren. Dieser Tage sagte eine Frau: «Ich bin in der Therapie mir sehr schnell darüber klargeworden: er wollte nur mein Geld, nichts weiter; er hörte nicht richtig zu, er hatte einen Wecker auf dem Tisch stehen, er schaute auf die Uhr, nach der schon feststand, wann das Gespräch zu enden hatte: pünktlich nach 40 Minuten, und die Stunde würde 60 Euro kosten. Da wußte ich: Dies ist kein Mensch, dem an mir liegt und der mir ein Anliegen in meiner Not sein könnte.» Von dieser Art des Mietlingsverhältnisses gibt es viele Schattierungen, bis hinein in die sogenannte Seelsorge der «Geistlichen Herren» etwa in der römischen Kirche: Man sucht die Menge, man fühlt sich wohl vor 449

großem Haufen, man betreibt und fördert die Psychologie der Massen – wo aber bleibt die Befähigung, den Namen eines jeden Einzelnen zu kennen, ihn als diesen Einzelnen zu meinen und ihn gerade in seiner Individualität anzureden? «Was machen Sie mit Autorität?» fragten nach einem Vortrag kürzlich Leute auf den Fragezetteln. «Was ist Autorität für Sie?» – Dieser Text hier beantwortet die Frage eigentlich sehr klar. Wer «Autorität» will in dem Sinne, daß er nach einem Amt strebt, das ihn autorisiert, über andere zu regieren, mag diese Praktik mit hochtrabenden Worten umschreiben: es gibt keinen Mächtigen, der sich in seinem Amte nicht als «Minister» bezeichnen würde, als «Diener» eben, oder gar wie neuerdings der Papst in Rom als «den Diener aller Diener», doch je mehr da von «Dienst» die Rede geht, desto mehr werden dienstbar gemacht die auf solche Weise Untertäniggewordenen. Eine Autorität, die sich durch hierarchische Verfeierlichung begründet, durch ein Gefälle der Macht von oben nach unten, ist das Widerspiel zu der Führerschaft eines Hirten, der jeden Einzelnen bei seinem Namen ruft und dem man folgt, weil man sich in seiner Stimme «angesprochen» fühlt. Die Art und Weise jedenfalls, wie Jesus «Autorität» lebte, war keine andere als die der Liebe selbst. Was für ein Unterschied, auf Wiener Manier zu sagen: «Ich küsse Ihre Hand, Madame» – man beugt sich vor und ist charmant –, oder ob man mit den Lippen zärtlich die Hand eines Menschen berührt, den man liebt! Welch ein Kontrast zwischen einem höfischen Galan und einem Liebenden! In dem einen Falle muß man den anderen lange umschmeicheln und umgehen, bis man ihn hintergehen kann: bis man über ihm zu stehen kommt; im anderen Falle möchte man den anderen partnerschaftlich, gleichberechtigt und selbständig. Es sei, sagt das Johannes-Evangelium, die Besonderheit Jesu gewesen, als Hirt bis zum Äußersten zu gehen. Ich bin der Hirt, der gute, sagt er. Das ist das Echo religionsgeschichtlicher Sprache schon um 1800 vor Christus im antiken Ägypten2. Da wird der Wind- und Geistgott Amun so angeredet: als der gute Hirte seines Volkes im «schwarzen Lande», in kemet – in Ägypten. Amun ist deshalb ein guter Hirt, weil er die Witwen beschützt, die von den Männern Verlassenen, die von den Männern Zurückgelassenen oder Alleingelassenen; weil er die Waisen beschützt, Kinder, denen die Eltern allzu früh verstarben. Um die Hilflosesten, um die kaum ein Mensch sonst sich bekümmert, wird sich kümmern als guter Hirte der unsichtbare Geist- und Windgott Amun – so die Alten Ägypter. Wenn jemand sich auf den Thron der Pharaonen setzte als sein Sohn, gezeugt aus Wind (aus 450

Geist) und Licht (aus Einsicht) von Amun-Re selbst, so sollte auch er sein der Gefährte der Witwen, der Vater der Waisenkinder, ein Trost und Beistand aller menschlichen Not. – Diese Vorstellung von dem Pharao als dem Guten Hirten wurde weitergegeben bis auf den Thron der römischen Cäsaren in den Tagen, da Johannes sein Viertes Evangelium schreibt, in den Tagen des Domitian (81-96 n. Chr.), der sich selbst längst als Gottessohn verfeierlicht hat – auch er selbstredend ein guter Hirt! Schon in den Tagen des Tiberius (14-37 n. Chr.) hört man, wie so ein «guter Hirte» in der Praxis sich aufführt; er schreibt es den eigenen Gouverneuren in den Provinzen: Da führt die Bevölkerung Klage gegen den Raubzins und gegen die Steuerpraxis, die man im Namen Roms zur Ausplünderung der eroberten Länder eintreibt; Tiberius aber geht davon aus, daß die Provinzgouverneure wie Schmeißfliegen sind: wenn sie sich erst einmal vollgesaugt haben, dann lassen sie von selbst ab von ihren Opfern; – kein Grund also für den Cäsar, persönlich einzuschreiten; die freie Wirtschaft reguliert sich von allein! Darin ist Tiberius mithin ein guter Hirte, daß er die Schafe nur schert, nicht schlachtet, daß er, anders gesagt, nicht so dumm ist, sein eigenes Vieh umzubringen, von dem er doch lebt3. Bis zu dieser Travestie des «guten Hirten» hat man es zeitgenössisch also gebracht; um so wichtiger, daß Johannes seinen Jesus sagen läßt: Ich bin der Hirt, und hinzu fügt, in falscher Wortstellung, um es zu betonen: (und zwar) der gute – antithetisch nämlich zu allem Mißbräuchlichen, das man unter so famosen Begriffen, wie sie alle Herrscher lieben, propagandistisch wunderbar verbrämen kann. Der gute Hirt, sagt der Jesus des Johannes-Evangeliums, setzt sein ganzes Ich ein für die Schafe – er gibt sein eigenes Leben. Natürlich ist dieses Wort aus der Erfahrung von Golgota gesprochen, natürlich bezieht es sich auf die äußerste Zumutung der Kreuzigung. Aber sollten wir einmal denken, es habe wirklich in der Richtung des ganzen Lebens des historischen Jesus gelegen, sich für andere einzusetzen, dann könnten wir uns erinnert fühlen an ein Wort, das der Mann aus Nazaret vermutlich historisch wirklich dem Sinne nach gesagt hat – 8. Kapitel des Markus-Evangeliums, Vers 35: «Wer sein Leben hingibt, der wird’s gewinnen, wer es aber festhält, verlieren.» So muß der historische Jesus wirklich gedacht haben. Immer wieder traf er auf Leute, die ihr Leben retten wollten gegen jede mögliche drohende Gefahr und die am Ende nur noch aus lauter Angst um ihr Leben bestanden. Sie kamen nie zum wirklichen Leben, aus lauter Sorge, ihr Leben zu bewahren. Sie waren sozusagen Leute, die das Schwimmen als Trockenübung perfekt beherrschten, aber nie vermochten, sich ins Wasser zu getrauen: in der Theorie waren sie 451

großartig, aber ein einziger Tropfen Wasser ließ sie erschrecken, – ob es auch nicht zu kalt sei, ob es sie denn wirklich tragen würde, ob es nicht Strudel und unsichtbare Gefahren berge … Jesu Meinung war, daß man zum Leben nur kommen könne, indem man lebe; richtig leben, das hieß für ihn, auf andere hin leben, für andere leben; nur so, war er überzeugt, gebe es Sinn, nur so erfülle es sich, nur so kehre es reich zurück. «Vollmacht», sagt der johanneische Jesus, «habe ich, es (mein ganzes Ich) einzusetzen, Vollmacht habe ich, es wieder zu empfangen. Diesen Auftrag empfing ich von meinem Vater.» Gefordert ist gewiß nicht von vornherein, für den anderen zu sterben. Wie aber ist ein solcher Auftrag dann zu verstehen? Keine «Herde» hat etwas davon, wenn ihr «Hirte» sich ruiniert. Was sollen Schafe schon machen, wenn ein einzelner «Wolf» von dem Hirten bestanden wurde, hernach aber die ganze restliche Meute des Rudels nur um so schonungsloser die Herde überfällt? Richtiger deshalb sollten wir sagen: Es gilt, sich für den anderen zu engagieren, indem man ihn lehrt, sich selbst zu versorgen. Man muß dabei vor allem hören, daß in dem Bild von dem Wolf all das sich verkörpert, was wir «das Böse» nennen. Fernab der jüdischen Denkvorstellungen, am Rande der Steppe, können wir zur Ergänzung des mythischen Bildes den Kommentar der germanischen Edda heranziehen, wo der Wolf, der Fenriswolf, wie eine Urzeit- und Endzeitmacht mit seinem riesigen Rachen bedrohlich lauert; er wird am Himmel die Sonne jagen und töten4; er ist soviel wie die Verkörperung von allem Lichtzerstörenden, von allem Todbringenden, von allem Unheilvollen. Und nun müßte man sagen: Um einem Menschen wirklich zu helfen, geht es nicht anders, als daß man sich im Prinzip all seiner Dunkelheit aussetzt, all seiner Verzweiflung, all seiner Seelenumdüsterung. Wenn einem an einem Menschen in Not nicht wirklich liegt, wird man vor seinen Dunkelheiten davonlaufen. – Man wird sagen: «Das will ich nicht, das kann ich nicht, das ist mir zuviel.» Wenn einem aber der andere Mensch etwas bedeutet, wird man mitten in die Sonnenfinsternis hineingehen, unbedingt sogar, und zwar desto sicherer, je dunkler es ist, weil nur so dem anderen das Licht wiedergebracht werden kann. Man wird, mythologisch gesprochen, die Sonne für den anderen im Maul des Wolfs suchen gehen; man wird, psychologisch gesprochen, hineingehen müssen in die Angst des anderen, die zitternd ist wie das Herz eines Schafes angesichts einer Meute von Beutegreifern; man wird sich seinen Ängsten stellen, gegenüber einer ganzen belagernden Welt, gegenüber einer ganzen lebenverstellenden Umwelt, und es wird womöglich über lange Zeit hin für diesen anderen Menschen gegen seine Unruhe, 452

gegen seine Haltlosigkeit kaum einen anderen Bezugspunkt geben als den einen, der es mit ihm wagt. Von eben dieser Art war Jesus. Das ist der Grund, weswegen er hier im Johannes-Evangelium sagt: Ich bin die Tür – weil nur durch eine solche Haltung jemand zu sich selbst kommt und zu seinem Ursprung findet. Fragt man indessen: «Woher denn kannst du das, Jesus?», so gibt er selber an dieser Stelle gleich die Antwort. Sie klingt bei Johannes wie floskelhaft, ist aber alles andere als leicht dahingesagt; man muß sie leise, mit wenngleich einem fast pathetischen Nachdruck lesen. – Der Grund ist: Ich kenne die Meinen. Diese Vertrautheit, auf die wir schon hingewiesen haben, wird jetzt zu der notwendigen Bedingung von allem; aber nun kommt noch etwas hinzu, auf das wir in diesem Moment nicht vorbereitet sind: Ich, sagt der johanneische Jesus, kenne die Meinen, und es kennen mich die Meinen, so wie mich der Vater kennt und ich den Vater kenne. Das ist das Unglaubliche an der ganzen Person dieses Jesus, daß er immer wieder von einem Bezugspunkt herkommt, der aller Angst enthoben scheint, der ihn befähigt, ruhig zu sein sogar an Stellen, an denen sonst der Boden schwankt wie unter den Stößen eines Erdbebens, der ihn gelassen weitersprechen läßt, selbst wenn der Atem der Menschen peitschend wird wie ein Sturm auf hoher See, der ihn zärtlich bleiben läßt, selbst wenn ringsum sich die Hände ballen zu Fäusten. Immer ist es der Verweis auf diesen anderen, den er seinen Vater nennt. Alle Menschlichkeit, die Jesus uns zu ermöglichen kam, gründete offenbar darin, daß er nicht unmittelbar auf das sah, was die Menschen tun, sondern daß er in ihr Herz schaute mit den Augen dessen, der wollte, daß wir sind. Jenseits der Menschenwelt beruhigt sich alles, – das war die alles entscheidende Überzeugung Jesu; von dorther kam er, poetisch gesprochen in den Bildern der Evangelien, wie vom «Berge» herab in die Niederungen der Menschenwelt beziehungsweise, metaphysisch oder mythologisch gesprochen, wie von einem anderen Stern auf diese kleine Erde; zur Beruhigung all unserer Ängste wollte er uns den nahebringen, den er seinen Vater nannte und den er schließlich, auferstanden von den Toten, sogar als unseren Vater bezeichnete (Joh 20,17). Worte wie diese haben nichts mehr zu tun mit der Gründung einer bestimmten Religion, mit der Prägung einer bestimmten Konfession, mit der Etablierung einer bestimmten Institution. Gerade wer das JohannesEvangelium so interpretieren wollte, verstünde es gründlich falsch. All die Innerlichkeit der Sprache dieses Vierten Evangelisten richtet sich gegen die Verfestigung der «christlichen Lehre» zu seiner Zeit schon am Ende des 1. nachchristlichen Jhs. Genau die so praktisch scheinende Geistlosigkeit, 453

in der man anfängt, religiöse Erfahrungen zu ritualisieren, zu sakramentalisieren, zu institutionalisieren, ist diesem Vierten Evangelisten fremd, der, wie oft schon betont, von der Gnosis herkommt und der von Einsicht aus Geist sich lenken läßt, wenn es um Glauben geht. Man mag eine solche Einstellung griechisch nennen oder auch «humanistisch», doch dann muß man hinzufügen, daß es sich hier um eine «Humanität» handelt, die getragen wird von dem Atem Jesu selbst beziehungsweise von dem Wissen um diesen absoluten Rückhalt, den Jesus «Vater» nennt. Nichts versteht vom Menschen, wer nicht begreift, daß der Mensch selbst unendlich ist, daß es deshalb nicht angeht, zu sagen: «Dies sind meine Schafe», nur um sie wieder für sein Terrain, für sein Revier, für seine «Zucht», für sein Marketing zu reservieren. Wenn es um Menschen geht, muß man sehen, daß sie so weit sind wie ihre Seele, – wie die See, aus der man das Salz gewonnen hat, von dem die Menschen leben. Und es sei, sagt der Jesus des Johannes-Evangeliums, eine Herde und ein Hirt; es wird, mit anderen Worten, keine Trennung mehr sein zwischen «meinen» Schafen, die da sind aus dem Judentum, und jenen anderen, die da sind aus dem Heidentum; es wird fortan überhaupt nicht mehr die Frage sein: «Bist du ein Jude oder ein Heide, bist du ein Samariter oder ein Römer?»; die einzig wichtige Frage wird lauten: Was bist du für ein Mensch? Und dann muß man alles noch einmal lesen: Wie weit setzt du dich ein gegen den «Wolf»? Wieviel riskierst du zur Beruhigung von Angst? Wieviel an Tröstlichem liegt in deinen Worten, bis ein anderer Mensch sich leise bei seinem Namen gerufen fühlt? Religion, so verstanden, ist so offen und so weit, daß man ihr ähnlich folgen muß wie die Schwalben dem Sommer: Es gibt für sie keine Grenzen, keine politischen Landkarten, keine Festungen, die zu verteidigen sich lohnte, es gibt für sie nur einen offenen Himmel und die ziehenden Wolken und die leuchtende Sonne, und einzig ihr Lichteinfall und ihre Temperatur bestimmen neben den Bildern der Sterne und dem Erdmagnetfeld Richtung und Heimat der Zugvögel. Ganz so sind auch wir Menschen nach der Überzeugung Jesu: stets dort zu Hause, wo die «Sonne» ist. Da blühen die Menschen unter den Augen Jesu wie die Dolden des Flieders im Mai – voller Schönheit, sobald die Strahlen des beginnenden Sommers sie umspielen. So mochte es Jesus. Das war seine Vorstellung von einer nichtentfremdenden, einer nichtentfremdeten Religion. Was wir da skizzieren, stellt im Grunde die einzige Widerlegung all der Vorwürfe dar, die man religionspsychologisch seit dem 19., 20. Jh., vollkommen mit Recht, gegen die bestehende Form von Frömmigkeit im 454

Abendland erhoben hat. «Euer Gott», sagte man vor allem mit Sigmund Freud, «ist nichts weiter als die Verfestigung eurer Kinderängste, er ist die instrumentalisierte Unfreiheit in eueren infantilen Schuldgefühlen; ihr werdet nie erwachsen werden, solange ihr an einen solchen Popanz von Gott glaubt.» Der Vater Jesu hingegen möchte, daß wir ins Weite hinausgehen und Heimat behalten, bis daß wir zurückkehren und uns selber gehören, frei, geliebt, mutig und stark. Immer wieder muß man sich wundern, warum Johannes plötzlich, mitten in diese Gedanken hinein, einem Zerreißen von Geigensaiten vergleichbar, die «Juden» zu tödlichem Widerspruch auftreten läßt. Natürlich rechnet er in dieser Konfrontation religionsgeschichtlich mit dem Judentum seiner Tage ab, und leider sind Passagen wie diese zur Weichenstellung in den beginnenden christlichen Antijudaismus geworden. Aber fragen wir, was denn «Judentum» für Johannes bedeutet, so muß man sagen: Es gibt immer wieder in allen Religionen und zu allen Zeiten die «Gottesverwalter», die «Gottesbesitzer»; gar nicht von den «Juden» sollten wir daher sprechen, sondern von einem Typ der Religion, der immer im voraus bereits weiß, wer Gott ist, indem er den Menschen verachtet, ohne sich je die Mühe zu machen, ihm auch nur ein einziges Mal richtig zuzuhören, der die Gedanken Gottes immer schon kennt, indem er sich konsequent weigert, mit Menschen, die leiden, mitzuempfinden. Da gilt es immer wieder, wie stets am Ende einer johanneischen Rede, sich zu entscheiden. Wieder und wieder setzt Johannes selber sein Entweder-Oder: Entweder ist alles das, was dieser Jesus will, ein einziger Wahn, eine permanente Überforderung, ein Beginn von Anarchie und von Rebellion, ein Dokument der Verblendung auch – ein Mensch braucht nun mal eine harte Führung, er muß nun mal eine Ordnung gezeigt bekommen, ihm muß nun mal gesagt werden, wie die Gebote lauten, er benötigt nun mal gewisse Satzungen –, dann folgt nichts weiter, als daß der Mann aus Nazaret selbst möglichst bald umgebracht gehört; dann ist er ein Wahnsinniger, dann ist er, schlimmer, ein Teufelsbote, dann ist er selber erfüllt vom Satan, und alles, was er denkt, ist ein Aufruhr der Hölle, ist nichts weiter als ein widergöttlicher Angriff, als eine Lästerung, als eine Täuschung, als eine Lüge; – doch das waren auch bereits die letzten Sätze im vorherigen Abschnitt, am Ende von Johannes 9, bevor die Rede hier über den guten Hirten überhaupt begann: «Solange ihr fortfahrt zu sagen: wir sehen, wo ihr blind seid, gibt es für euch keine Rettung.» (Joh 9,41) Oder uns gehen die Augen gerade jetzt auf, und wir müßten sagen: «Genau das war es, was wir immer schon brauchten und immer schon wollten, aber nie hoffen 455

durften; es ist genau das, was wir dringend benötigten, um menschlich zu leben.» Dann müßte man fragen wie die Leute hier: «Aber nicht doch! Kann, wer der Blinden Augen öffnet, ein Aberbegeisteter sein, ein dämonisch Besessener?» Sollte am Ende wieder alles unklar bleiben, und es wäre tatsächlich, wie wir es im Markus-Evangelium (Mk 3,22) hören, möglich, daß Menschen geheilt und aufgerichtet werden, – und all diese Wunder lebendiger Menschlichkeit bewiesen lediglich, daß hier der Satan am Werke ist, das Böse schlechthin? Zugeben muß man: was hier vor sich geht, ist ein Aufstand gegen die verfestigte Religion im ganzen. Natürlich ist es ein einziger Widerstand gegen all die Menschenverwalter im Namen Gottes! Aber gerade das bedeutet es, richtig zu sehen. Nur eins von beidem kann gelten; dazwischen muß man wählen; dazwischen gibt es keinen zeitgestreckten Kompromiß, etwa derart: leider sei die Religion heute halt noch so, aber sie werde sich ja ändern, und morgen vielleicht schon, wenn wir nur geduldig zuwarteten, könne sie bereits eine Kehrtwendung vollziehen. Gewiß, jedes totalitäre System besitzt die Fähigkeit, irrationale Entscheidungen zu produzieren. Es war zum Beispiel möglich, daß in der Offiziersjunta um Gamal Abdel Nasser plötzlich ein Anwar el Sadat entstand; es war möglich, daß selbst im KGB ein Michail Gorbatschow geboren wurde; es ist an sich möglich, daß sogar aus der CIA vielleicht noch einmal ein nicht-zynischer, ein nicht-erdölbesessener Präsident hervorgeht – alles ist möglich. Doch soll daraus folgen, wir müßten nur warten auf eine künftige Generation? Ein solches Ausweichen in die kommende Zeit, das sich weigern würde, im Augenblick jetzt zu leben, indem es nur wie gebannt ausstarrte auf ein bloß ersehntes Leben, ist nicht akzeptabel für das Johannes-Evangelium, und es gilt auch nicht für den historischen Jesus aus Nazaret. Es ist eine Entscheidung wirklich auf Leben und Tod, ob wir uns weiter etwas in die Tasche lügen, indem wir uns darauf beschränken, daß jemand uns die Freiheit erlaubt – wir wagen lediglich zu denken, was schon in der Zeitung steht, wir reden mutig im Chor derer, die unsere Vorsprecher sind –, oder ob wir unser Herz, unseren Verstand, unser Leben wagen und die Angst überschreiten. Vielleicht gibt es gar keine «Wölfe»; vielleicht ist es, wie manch eine Mutter ihr Kind tröstet: «Wovor du Angst hast, ist nur der Schatten an der Wand, den du selber geworfen hast; da flackert eine Kerze, und sie könnte an sich ganz beruhigend wirken; was du fürchtest, ist nur dein eigenes Bild. Lerne zu träumen, mein Kind, lerne zu leben, mein Kind, lerne die Liebe zu wagen.» So jedenfalls klingt die Sprache des «Vaters», als dessen «Sohn» Jesus unsere Not besänftigen wollte. 456

Joh 10,22-42: Das Zeugnis der Werke und das Zeugnis des Johannes 22Es

fand damals das Tempelweihfest in Jerusalem statt; Winter war es, 23und umher ging Jesus im Heiligtum in der Halle Salomos (Apg 3,11). 24Da umringten ihn die Juden (die Gottesbesitzer) und sagten ihm: Wie lange noch hältst du unser Leben in Spannung? Wenn du der Messias bist, sprich zu uns in offener Rede. 25Geantwortet hat ihnen Jesus: Ich habe zu euch gesprochen, doch ihr vertraut nicht. Die Werke, die ich tue in der Wesensart meines Vaters, die zeugen für mich (5,36). 26Jedoch ihr vertraut nicht (6,64; 8,45-47), weil ihr nicht von meinen Schafen seid. 27Meine Schafe – meine Stimme hören sie, und ich, ich kenne sie, und sie folgen mir (Ps 95,7), 28und ich gebe ihnen unendliches Leben (5,24), so daß sie nicht zugrunde gehen in Weltzeit. Und nicht wird jemand sie entreißen meiner Hand (6,37). 29Mein Vater, was er mir gegeben hat, – größer als alles ist es, und niemand kann es entreißen der Hand des Vaters. 30Ich und der Vater sind eins. 31Wieder: sie schleppten Steine an, die Juden (die Gottesbesitzer), um zu steinigen – ihn (8,59)! 32Geantwortet hat ihnen Jesus: Viele gefällige Werke habe ich euch gezeigt vom Vater aus; wegen welches dieser Werke steinigt ihr mich? 33Geantwortet haben ihm die Juden (die Gottesbesitzer): Für ein gefälliges Werk steinigen wir dich nicht, sondern für Gotteslästerung, weil doch du, Mensch, der du bist, dich selbst machst zu Gott (5,18; Mt 9,3; 26,65). 34Geantwortet hat ihnen Jesus: Steht nicht geschrieben in euerem Gesetz: «Ich habe gesprochen: Götter seid ihr» (Ps 82,6; Ex 7,1; 22,28)? 35Wenn er von jenen als Göttern sprach, an die das Wort Gottes erging, und wenn nicht aufgelöst werden kann die Schrift: – 36den der Vater geheiligt und in die Welt gesandt hat, von dem sagt ihr: Du lästerst Gott, weil ich gesagt habe: Gottes Sohn bin ich (5,18)? 37Wenn ich die Werke meines Vaters nicht tue, vertraut mir nicht. 38Wenn ich sie aber tue, – selbst wenn ihr mir nicht vertraut, den Werken vertraut doch, damit ihr erkennt und anerkennt, daß in mir der Vater und ich im Vater. 39Da suchten sie wieder ihn zu ergreifen (7,30), doch er entkam aus ihrer Hand (8,59; Lk 4,30). 40Und er ging fort, wieder jenseits des Jordans an den Ort, wo Johannes zum ersten Mal zum Taufen gewesen war (1,28), und er blieb dort. 41Und viele kamen zu ihm und sagten: Johannes hat zwar ein Zeichen nicht gewirkt, alles aber, was Johannes von ihm gesagt hat, ist wahr gewesen (1,7f.34). 42Und viele wurden vertrauend auf ihn – dort (7,31)!

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Im Mittelpunkt des 10. Kapitels im Johannes-Evangelium spricht Jesus zu den «Juden» (den «Gottesbesitzern») über die Form von Religion, die dem Verhältnis zwischen Hirt und Herde gleicht; eine solche Beziehung ist gewiß mißbrauchbar im Gefälle von Macht und Unterordnung, aber gemeint ist von dem johanneischen Jesus eine Gemeinschaft wechselseitigen Vertrauens, ein Gerufenwerden beim eigenen Namen, ein wechselseitiges Hören und Zueinandergehören, eine Verbundenheit mit Gott, wie Jesus selbst sie als ein tiefes Gefühl der Geborgenheit wie zwischen einem Vater und seinem Sohn vermittelt. Auch die zweite Hälfte dieser «Offenbarungsrede» weist in die gleiche Richtung. Wir alle kennen das: Wir setzen einen Topf mit Wasser auf, um uns Kaffee zu kochen, und wir beobachten, wie bei immer höheren Temperaturen das Wasser anfängt zu brodeln; von einem bestimmten Punkt an hält es inne, wie wenn es vor Aufregung verstummte, um dann sehr rasch in einem Phasenwechsel kochend aufzuwallen. Könnten wir genau hinsehen, so würden wir erkennen, daß sich in dem letzten Moment bestimmte Muster im Wasser bilden, Bénardsche Zellen, die sich spontan beim Durchfluß der Wärmeenergie formen. – So etwas ähnliches, übertragen ins Geschichtliche, müssen wir uns in bezug auf die Botschaft Jesu bei der Entstehung der Evangelien vorstellen. Ursprünglich war sie so etwas wie ein murmelnder Bach, der sich zu einem immer breiteren Fluß erweiterte und schließlich in einen großen Strom einmündete. Die Botschaft Jesu wurde in einen ganz anderen Kulturkreis, in die Welt des Hellenismus, übertragen, und sie wurde dort unter denselben Begriffen und Worten in einer Art und Weise ausgelegt, die dem Ursprung fremd, mitunter sogar entgegengesetzt ist. Sie hat dazu beigetragen, dem Wasser, das einmal auf Erden floß, die Gestalt der Wolken zu verleihen und es weithin über das Land treiben zu lassen, quer durch die Jahrhunderte und die Jahrtausende. Niemand aber kann von ziehenden Wolken leben. Die Aufgabe eines jeden, der das Johannes-Evangelium liest, muß darin bestehen, die Wolken abregnen zu lassen, daß sie die Erde durchfeuchten. Unsere Frage muß es deshalb sein, was denn die Begriffe, die Worte, die Gedanken, die Jesus im Johannes-Evangelium in den Mund gelegt werden, ursprünglich einmal bedeutet haben, was sie in dieser neuen, so ganz unjüdischen, hellenistischen Welt damals besagten und was sie uns selber heute in einem noch einmal ganz anderen Kulturkreis zu sagen vermögen. Alles beginnt wie eine historische Erinnerung, hingeführt auf den Zwiespalt, der im 1. Jh. n. Chr. zwischen der frühen Gemeinde und dem Judentum im Zentrum aller Auseinandersetzung stand: Wer war Jesus aus Naza458

ret? War er, wie die frühe Christengemeinde behauptete, der Messias, oder war er es nicht? Ehe wir diese Frage ein Stück wenigstens von den Voraussetzungen damals her verständlich machen können, sollten wir vorausschicken, daß der historische Jesus allein schon die Vermutung, er sei der Messias, brüsk abgelehnt hat. Im 8. Kapitel des Markus-Evangeliums (Mk 8,29.30) wird uns berichtet, daß er selbst seine Jünger einmal gefragt habe, für wen die Menschen ihn hielten, und als Petrus ihm das Bekenntnis angetragen habe: Du bist der Messias, habe er ihn zurückgewiesen: – niemandem solle er so etwas sagen. Die Erzählung bei Markus verrät noch, daß der Titel, Jesus sei der «Christus», zu seinen Lebzeiten undenkbar war und erst nach seinem Todesich durchsetzte. Vielleicht hat es sich wirklich so verhalten, wie manche Exegeten meinen, daß man Jesus als «König» bekannt hat im Trotz zu dem Titel, der ihm auf Golgota am Kreuz verliehen wurde. Da setzt der römische Prokurator als Schuldspruch fest, der Gekreuzigte sei «der König der Juden»; – das ist eine römische Bezeichnung, die ein Jude so nie gebrauchen würde. König von Israel – das wäre jüdisch; «König der Juden» – das ist der verächtliche Ausdruck aus römischer Sicht für jemanden, der Macht und Königswürde erobern will, aber es nicht vermag, sie zu erringen. Bestraft wird er deshalb ebensowohl für Aufruhr wie für Ohnmacht. Das eine ist der Grund, das andere die Folge seines Hochmuts. Macht hat nur Rom. Daß Jesus unter diesem Begriff: «König der Juden» verurteilt wurde – eine der wenigen ganz sicheren historischen Tatsachen! –, muß all denen, die sich ihm zu Lebzeiten angeschlossen hatten, in der Seele gebrannt haben: War dieser makabre Titel, war die beabsichtigte politische Travestie nicht im Grunde doch richtig? Jesus der König – das wollte er nie sein; aber andererseits: wer sind denn die, die sich in der Geschichte für Könige ausgeben? – Sie anzuerkennen ist unmöglich, und es ist nach Golgota noch viel unmöglicher, als es vorher je hätte sein können. Wenn irgend etwas das menschliche Leben zu bestimmen vermöchte, bestimmen sollte, so daß es zum Trost den Lebenden gereichen würde, so daß es einen Beitrag zu ihrer Vermenschlichung leisten könnte, dann ist es und war es die Botschaft des Jesus aus Nazaret. Muß man dann aber nicht entgegen aller Verdrehung noch viel stärker betonen: er ist der König, der eigentliche König? Muß man ihn dann aber nicht mit den Augen Gottes sehen, mit demselben Vertrauen, mit dem er Gott als seinen Vater den Menschen bringen wollte? Schon recht bald, auf dem Boden bereits der palästinensischen Gemeinde, wächst der Glaube, daß Jesus, indem er starb, zu Gott «erhöht», das heißt zum König gemacht worden sei, so wie im Alten Ägypten je459

mand, der starb, zur Rechten der Sonne als Herrscher am Himmel beziehungsweise im Himmel Platz nahm. Man hoffte, man flehte, man glaubte glühend, daß Jesus seine Macht, seine Königswürde erzeigen werde im Untergang dieser «Welt». Man war sich sicher: Das Ende würde sehr bald kommen, und die Spanne Zeit bis dahin würde nur noch wie ein letztes Atemholen währen. Man fieberte diesem Zeitpunkt entgegen; dann aber dehnte die Zeit sich und dehnte sich. Es gibt schon im Markus-Evangelium eine Reihe von Stellen, die zeigen, daß man nicht dabei stehen blieb, Jesus gewissermaßen als den von Gott eingesetzten Messias, als den König am Jüngsten Tag zu erwarten. Es war für diejenigen, die wirklich an ihn glaubten, unvorstellbar, daß Jesus im Himmel nur sein sollte, um zu warten und zu warten, gewissermaßen wie Kaiser Barbarossa im Kyffhäuser, auf das Erschallen der letzten Posaune. Diejenigen, die an ihn glaubten, sahen ihn jetzt bereits an der Macht, und war er es nicht tatsächlich auch schon, auch hier auf Erden? Mit dieser Frage beginnt vor allem der dem Mann aus Nazaret vollkommen fremde Kulturkreis des Griechischen, des Hellenistischen, sich zu beschäftigen. Diejenigen, die dort für seine Botschaft gewonnen werden, sehen schon in dem irdischen Jesus den König, den Messias, den Herrn, und nicht einfach als den verborgenen, sondern als den, der sich vor allem in seinen Werken geoffenbart hat. Das ist das Stichwort für das JohannesEvangelium: Man kann über die Person des Jesus aus Nazaret zwischen Juden und – wir müssen jetzt sagen – griechischen Christen diskutieren, debattieren, sich entzweien, aber es gibt ein Argument im Hintergrund des Johannes-Evangeliums, über das man aus dieser Perspektive eigentlich nicht streiten kann: das sind die «Wundertaten», die Jesus wirkte. Schon bei Markus, schon bei Matthäus bereitet diese Sichtweise sich vor; und fragt man: was sind denn das für Taten, in denen Jesus sich als König hätte erweisen sollen, so sind es allesamt die Heilungen, die er vor allem an Kranken wirkte. Nicht müde wird deshalb das Johannes-Evangelium, zum Beispiel die Heilung des Blinden aus dem 9. Kapitel als einen solchen «Beweis» dafür anzuführen, daß Jesus wirklich von Gott kam. «Wenn ihr schon meinen Worten nicht glaubt, – wenn es keine Resonanz in eurem Herzen hinterläßt, was ich sage, wenn all die Inhalte meiner Reden euch nicht überzeugen», so scheint der johanneische Jesus zu sagen, «so achtet und schaut doch auf das, was ich tue.» Das, was Menschen rettet, aufrichtet und heilt, muß doch von Gott sein! (Vgl. Joh 5,36!) Setzen wir diese Einstellung einmal als gegeben voraus, so resümieren wir in etwa die Theologiegeschichte der ersten Jahrzehnte nach dem Tode 460

Jesu bis gegen Ende des 1. Jhs. Die Frage aber bleibt: Was sagt diese Denkweise uns Heutigen? Wir sehen die Wolken am Himmel, aber wie erreichen sie uns, daß sie zu Wasser zum Trinken werden, zu einem Element gegen den Durst, zu einer Macht, die eine staubtrockene Erde in einen blühenden Garten zu verwandeln vermag? Wir müssen alles, was das Johannes-Evangelium uns hier mitteilt, symbolisch als eine Auseinandersetzung lesen, die in uns selbst spielt. Alles beginnt mit einer Orts- und Zeitangabe, so wie Johannes es liebt; fast schon wie beiläufig, leichthin zu überlesen, fällt der Hinweis: Es fand damals das Tempelweihfest in Jerusalem statt; Winter war es, und umher ging Jesus im Heiligtum in der Halle Salomos. – Diese Angabe muß man als sehr bedeutsam verstehen. Die Frage leitet sich ein, die aus dem Kreise der «Juden» augenblicklich gestellt werden wird: «Bist du der Messias, und wenn ja, dann sage es klar und frei heraus.» Der Messias kann nach ihrer Vorstellung nur dort sein, wo das Königtum Israels selbst seinen Gipfelpunkt erreichte: in Salomo. Er baute den ersten Tempel (1 Kön 6,1-38), nach ihm wurde eine eigene Halle im Herodianischen Tempel benannt, – die Einweihung des Heiligtums Gottes selbst ist mithin selbstverständlicher Teil königlicher Repräsentanz. Bezogen auf uns und unsere Tage, ergibt sich aus diesem Ansatz eine sattsam bekannte Ideologie: Wenn jemand Gott beglaubigen will, dann kann er es angeblich nur im Umraum der etablierten Macht. Eine Kathedrale aus der Zeit der Salier, der Staufer, ein Denkmal der Kunst- und Kulturgeschichte, zusammengefügt aus Macht und Geld, gesetzt in Prunk und Schönheit – das ist, wenn dieser Gedanke gilt, in sich selbst ein Beweis für Gottes Dasein und Sosein. Wer all diese kulturellen Errungenschaften betrachtet, der kann nicht anders, als der Tradition des Abendlandes wie einer Wahrheitsbeglaubigung des Göttlichen zuzustimmen. Da werden die Menschen dahin gebracht, an eine Identität von Gottesmacht und Menschenmacht zu glauben, ganz so, als wenn die Größe Gottes sich bestätigen müsse in der Größe der Herrscher. Die göttliche Macht gilt da für um so stärker, als sie sich selbst in die mächtigen Hände der Machthaber auf Erden gibt; denn beide sind eins, – so dieser archaische Glaube! Jesus in der Halle Salomos, Jesus im Heiligtum Gottes – wenn er der Messias sein sollte, dann muß er als König sich in dieser Weise und in keiner anderen beglaubigen! Wie für Johannes typisch, fügt er indessen der Ortsangabe noch eine «Temperaturangabe» hinzu, indem er wie beiläufig erwähnt: Winter war es. Ohne Zweifel möchte er damit sagen: Dieses ganze Denken, obwohl es 461

in unglaublichem Prunk sich präsentiert und obwohl es über lange Zeiten der Menschheitsgeschichte hinweg tradiert wurde, bietet doch an keinem Ort der Erde wirkliches Leben, es ist der Gefrierzustand von allem, es ist der Kältetod der ganzen Welt. Schon deshalb darf es so nicht bleiben. Gerade der Jesus, der hier wie ein Eindringling im Tempel erscheint, während er in der Halle Salomos umhergeht, wird das ganze Dekor, das ganze Ambiente hinwegtun und von ihm nichts weiter übriglassen als seine Person, die sich durchscheinend macht auf Gott hin, als seine Worte, mit denen er Vertrauen schenkt in die Macht, die möchte, daß wir sind, als seine Taten, durch die er Wunder wirkt, indem er Kranke heilt. Da freilich fleht der Jesus des Johannes-Evangeliums seine Hörer (uns also!) an, zu suchen nach der Resonanz-«Schwingung», welche er in uns erzeugen kann, und es läuft, wie stets, auf ein Entweder-Oder hinaus: diejenigen, die seine – Jesu – «Schafe» sind, werden wie blind alles verstehen, alle anderen aber werden nichts begreifen, nichts sehen, nichts hören. Wir müssen, um zu diesem maßgebenden Identifikationspunkt zurückzukehren, noch einmal von dem sprechen, was Jesus wenige Sätze zuvor – gleichfalls überliefert im 10. Kapitel des Johannes-Evangeliums – verkündet hat. Er meinte dort: «Ich bin der Hirt, der gute. Der Hirt, der gute, setzt sein ganzes Ich ein für die Schafe; – ich bin nicht jemand, der sie als Mietling geliehen bekommt, um selbst Profit aus ihnen zu ziehen; mir liegt an den Schafen, und man kann es sehen daran, daß ich mich einsetze für sie bis zum äußersten. Der gute Hirt gibt für sie sein Leben, wenn der Wolf kommt; ein Mietling wird fliehen.» Es gibt in der Literaturgeschichte eine berühmt gewordene Erinnerung an eine solche Szene, in der ein Wolf kommt und ein verängstigtes Kind von einem Bauern getröstet wird. Der Mann, der sich nach Jahrzehnten dieser Begebenheit erinnert und darin den Schlüssel zum Verstehen der ganzen Welt entdeckt, ist der russische Dichter Fjodor Michailowitsch Dostojewski. Er war als «Westler», als Freigeist im zaristischen Rußland, angeklagt und verurteilt worden und hatte vier Jahre in einem Zuchthaus in Sibirien zuzubringen. Oft genug wird er später, etwa in den Aufzeichnungen aus einem Totenhaus, schreiben, daß eine Strafe, die nach dem schematischen Zeitmaß der gesetzlichen Festlegung verhängt wird, schon dadurch Unrecht schaffen muß, daß sie über ganz unterschiedliche Menschen gleichermaßen erlassen wird1. Vier Jahre Haft – das mag für einen Menschen, roh von Gemüt, nicht schwer erträglich sein, für einen anderen aber, der schon den normalen Alltag aufgrund seiner Sensibilität nur mit Mühe übersteht, bedeutet eine solche Zeit die reine Hölle. Allein schon die 462

«Gleichheit» vor dem Gesetz, allein schon die blind verbundenen Augen der Göttin der Gerechtigkeit, die niemals die Menschen anschaut, über denen sie zu Gericht sitzt, bewirkt Unrecht über Unrecht. Dostojewskis Not im Ostrog in Sibirien war es vor allem, daß er sich so weit entfernt fühlte von den Menschen, die ihn umgaben, von Leuten, die kaum lesen und schreiben konnten, die fluchten und ihm als roh erschienen, die ihre unglaublichen Geschichten von Mord, Eifersucht und Gewalt fast mit Stolz erzählten; er litt darunter noch mehr als unter der eigentlichen Verbannung. Dann aber war es am zweiten Ostertag, wie er es im Tagebuch eines Schriftstellers später beschreibt, daß ihm ein Ereignis aus der Kindheit vor das geistige Auge trat2. Als Junge war er einmal am Rande eines von dem Bauern Marei, einem Leibeigenen seines Vaters, bestellten Feldes in den angrenzenden Wald hinübergegangen – blühende Wiesen, duftende Bäume, singende Vögel –, als er plötzlich den Ruf zu vernehmen glaubte: «Ein Wolf kommt!», und er, völlig aufgelöst vor Angst, rannte und rannte um sein Leben, gerade auf den Bauern Marei zu. «Der Wolf kommt! Der Wolf kommt!» Der Bauer Marei aber sprach ihn nur an: «‹Geh doch! Wo denn? Was für’n Wolf soll denn – … Ist dir ja nur so vorgekommen! Wo soll denn hier ein Wolf herkommen …›, sprach er halblaut in den Bart, wie um mich zu beruhigen. – Ich aber zitterte noch immer am ganzen Leibe, klammerte mich noch fester an seinen Bauernkittel und war wohl sehr bleich. Er betrachtete mich mit unruhigem Lächeln; offenbar war er um mich besorgt. ‹Sieh mal an! Hast du dich aber erschreckt! Ai-ai!› sagte er und schüttelte den Kopf. ‹Genug schon, Jungchen, nun laß gut sein!› Er streckte die Hand aus und streichelte plötzlich meine Wange. ‹Nun, schon gut, Jungchen! Christus ist mit dir; mach’n Kreuz!› – Doch ich bekreuzte mich nicht. Meine Mundwinkel zuckten. Das schien ihn besonders zu wundern: langsam erhob er seinen dicken, mit Erde beschmutzten Mittelfinger und berührte vorsichtig meine zitternden Lippen. ‹Sieh mal an! So was! Ai-ai!›, sagte er lächelnd, ‹Herrgott! Das ist doch …!› – Endlich begriff ich, daß der Schrei: ‹Ein Wolf kommt!› in meiner Phantasie entstanden war … ‹Jetzt werde ich gehen›, sagte ich endlich, nachdem ich etwas Mut gefaßt hatte, doch blickte ich Marei noch fragend und schüchtern an. ‹Nu, jetzt geh nur; ich werde dir nachsehen. Ich werde schon aufpassen, daß der Wolf dich nicht kriegt!› fügte er mit demselben mütterlichen Lächeln hinzu. ‹Nun, Christus sei mit dir, jetzt kannst du ruhig gehen!› … – Ich ging, schaute mich aber fast alle zehn Schritte nach ihm um. Marei stand mit seinem Stutchen und sah mir nach, und jedesmal nickte er mir zu, wenn ich mich 463

nach ihm umsah … Als ich danach von Marei nach Hause gekommen war, hatte ich niemandem von meinem ‹Abenteuer› erzählt. Und was war es denn auch für ein Abenteuer? Und auch den Marei hatte ich bald ganz vergessen … Diese Begegnung (hatte sich) ohne meinen Willen in meiner Seele bewahrt und war dann in meinem Gedächtnis in einem Augenblick aufgetaucht, als es nottat; ich erinnerte mich an das zärtliche, mütterliche Lächeln des armen leibeigenen Bauern, an das Bekreuzen mit seiner Hand … Und wie er vor Verwunderung den Kopf wiegte: … ‹Du hast dich aber erschreckt, Jungchen!› Und besonders an seinen dicken erdbeschmutzten Finger erinnerte ich mich … Natürlich hätte auch jeder andere ein erschrockenes Kind beruhigt, aber hier bei dieser einsamen Begegnung geschah gleichsam noch etwas ganz Anderes; selbst wenn ich sein eigener Sohn gewesen wäre, hätte er mich nicht mit innigerer Liebe und wärmerem Blick ansehen können, wer aber hieß ihn das tun? Er war unser leibeigener Bauer und ich doch immerhin der Sohn seines Besitzers; niemand würde es erfahren, daß er so mütterlich zu mir gewesen war, niemand ihn dafür belohnen. Oder liebte er vielleicht so sehr kleine Kinder? Das gibt es. Aber die Begegnung geschah in der Einsamkeit, auf freiem Felde, und nur Gott allein hat vielleicht von oben zugesehen, mit wie tiefem und allwissendem Menschengefühl, mit wie spürsinniger, nahezu weiblicher Zärtlichkeit das Herz manch eines tierisch unwissenden leibeigenen russischen Bauern erfüllt sein kann, eines Bauern, der doch damals von seiner Befreiung noch nicht einmal träumen konnte … – Als ich danach von meiner Pritsche aufstand und um mich schaute, fühlte ich plötzlich, ich weiß es noch, daß ich diese Unglücklichen neben mir mit ganz anderem Blick betrachten konnte, und daß auf einmal wie durch ein Wunder jeder Haß und jede Wut aus meinem Herzen verschwunden waren. Ich ging und beobachtete aufmerksam die Gesichter, denen ich begegnete. Dieser Kerl mit dem rasierten Schädel und dem gebrandmarkten Gesicht, der betrunken mit heiserer Stimme sein Lied grölt, kann doch vielleicht auch so ein Marei sein; ich kann ihm ja nicht ins Herz sehen! Am gleichen Abend begegnete mir noch einmal der (unglückliche) Pole. Er konnte schon keine Erinnerung an irgend welche Mareis haben und auch keine andere Ansicht über all diese Menschen als: ‹Je hais ces brigands!› (Ich hasse die Kerle!) Nein, die Polen haben damals doch viel mehr auszustehen gehabt als wir!» Was Dostojewski hier als die Stunde seiner Wesensverwandlung schildert, des Beginns, ein Christ zu werden, seiner Auferstehung im «Totenhaus», hat damit zu tun, daß es – im Bilde des Johannes-Evangeliums gesprochen – einen «Hirten», einen Bauern, russisch gesprochen, gibt, der da 464

ist, wenn der «Wolf» kommt, und es spielt keine Rolle, ob in der Wirklichkeit draußen oder in der Wirklichkeit drinnen. Religiös ist die Gestalt des «Wolfes» allemal ein Inbegriff für den Abgrund aller Ängste, die wie ein offener Rachen uns verfolgen und zu verschlingen drohen. Dagegen hat Jesus seine Haltung eines Vertrauens gesetzt, die sich durch nichts weiter beglaubigt außer durch das, was er seinen «Vater» – mit Dostojewski müßte man sagen: Mütterlichkeit – nennt. Es ist nichts anderes, als einen Menschen, der in Angst vor uns steht, mit einer tiefen Ruhe zu streicheln, bis daß seine fieberheiße Stirn nicht länger die Wirklichkeit durch Alpträume ersetzt; es gilt, die eigene Hand, mag sie noch so schwer, verarbeitet und verschmutzt sein, auf ihn zu legen wie einen Schutz, wie einen Segen, und ihn zurückkehren zu lassen in sein Leben, begleitet mit Augen, die über ihn wachen. Wo irgend so etwas geschieht zwischen zwei Menschen, geschieht alles von dem, was Jesus uns Menschen sein und bedeuten, schenken und anvertrauen wollte. Das ist es, wovon er spricht, wenn er sich den Hirten nennt und die Menschen seine Schafe und weswegen er sich selber bezeichnet als den Sohn seines Vaters. Das, was er uns von Gott bringen wollte, ist nichts anderes als der Bezugspunkt für ein unendliches, unzerstörbares Vertrauen. Deshalb kann der johanneische Jesus sagen: Ich und der Vater sind eins, so wie man, in die Sonne schauend, nicht zu unterscheiden vermag zwischen der Wärme und dem Licht, das sie spendet, und dem Gestirn selbst, das sich in dem fließenden Strom aus Energie bis auf die Erde hin weitergibt, sich dabei verströmend an ein ganzes Universum. Ich und der Vater sind eins soll hier heißen: «Ich lebe aus dem Vertrauen, daß Gott unser Vater ist, und möchte nichts anderes, als daß es euch berührt bis hin zu dem fast schon gewissen, ja, sogar sicher gewordenen Gefühl, aus seinen Händen nie mehr fallen zu können.» Das Wort des Johannes-Evangeliums, das dieses Versprechen ausdrückt, lautet immer wieder (wie in Joh 5,24): Wer mein Wort hört und glaubt dem, der mich ausgesandt, hat unendliches Leben, «ewiges Leben», wie man auch sagt. An dieser Stelle ist das griechisch geschriebene Johannes-Evangelium unglaublich weit von der griechischen Denkweise entfernt, die im Schatten kirchlicher Dogmen auf uns gekommen ist. Wenn wir hören von «unendlichem Leben», so sind wir dahin erzogen worden, das Wort uns nach der Weise griechischer Metaphysik vorzustellen: «Unendliches Leben» – das ist die unsterbliche Seele! Der Körper, wie jeder Mensch weiß, stirbt, aber die Seele in ihm verläßt ihn und bleibt unauflöslich. Wie ein Vogel seinem 465

Käfig entflieht, so das Geistige dem Gefängnis des Körpers; im Tode hebt es sich auf und fliegt zurück in die göttliche Welt am Himmel. So dachten die Alten Ägypter, so übersetzte es Platon, so fand es Eingang in die frühe Literatur der Kirchenväter, und so hat es sich gehalten in der Vorstellungswelt der Gläubigen bis heute. Aber gerade diese Vorstellungswelt ist nicht das, woraus Jesus lebte, was jüdisch gefühlt und geglaubt wurde, und es ist auch nicht das, was Johannes hier sagen möchte. An dieser Stelle spricht er immer noch ganz und gar jesuanisch-jüdisch. – Man kann den Unterschied im Empfinden vielleicht am ehesten deutlich machen, wenn man den Mann, der, aus dem Alten Griechenland kommend, der Person des Jesus unzweifelhaft am nächsten stand, vergleicht mit der Person des Nazareners selbst und den sich abzeichnenden Kontrast in zwei kleinen Szenen veranschaulicht. Als Sokrates als Gotteslästerer, als Verderber der Jugend, als Aufrührer des Geistes von den Athenern zum Tode verurteilt worden war, saß er im Gefängnis am Tag vor seiner Hinrichtung im Kreis seiner Schüler, und Platon beschreibt im Dialog Phaidon, wie das Abschiedsgespräch zwischen ihm und den Schülern verlief3: Sokrates blieb vollkommen gelassen angesichts des sicheren Todes. Die Möglichkeit zur Flucht, welche die Schüler ihm eröffneten, schlug er lächelnd aus: Die Gesetze Athens wird er befolgen, wenngleich er Zweifel setzt an die Weisheit derer, die sie auslegen; doch was soll ein solcher Umstand einem Manne bedeuten, der sein Leben damit hingebracht hat, darüber nachzusinnen, woraus ein Mensch geistig lebt! Ein nachdenklicher Mensch kann wissen um den Unterschied von Gut und Böse, er kann wissen, daß es besser ist, Unrecht zu leiden als Unrecht zu tun; er kann vor allem wissen, daß in ihm nicht nur die Stimme Gottes ist, sondern auch eine unsterbliche Seele, die im Tod hinübertreten wird unter die Augen der wahren Richter des menschlichen Lebens. – Sokrates soll im Gefängnis von Athen seinen Schülern noch einmal die Gründe dargelegt haben, die ihn so hoffnungsvoll stimmten, an eine unsterbliche Seele zu glauben. «Aber ist denn», fragt Simmias ihn, «die Seele nicht gerade soviel wie der Ton, den eine Leier hervorbringt? Es ist aber möglich, den Ton zu unterscheiden von der Leier, und ebenso dann doch auch den Geist vom Körper; zerreißt man aber die Saiten der Leier, vergeht dann nicht auch mit ihnen der Ton – und ist es nicht gerade so mit der Zerstörung des Körpers: vergeht dann nicht auch die Seele?» – Sokrates wird darauf antworten, daß es eine Leier nur gebe, um Töne hervorzubringen, und daß die Idee einer Leier, daß die Komposition eines Musikstücks sich der realen Leier nur bediene als eines flüchtigen Instruments, um sich 466

selbst aufzuführen, um hörbar zu sein auf Erden; aber der Ton selber existiere auch, wenn es keine Leier als Klangkörper für ihn gebe. Ganz so verhalte es sich mit der Seele: Die Götter hörten sie immer, auch ohne Leier, und die ganze Kunst des menschlichen Lebens bestehe darin, auf Erden schon die Stimme der Götter zu vernehmen. Zuversichtlich wird Sokrates in dieser Überzeugung den Schierlingsbecher trinken. Er wird sich vorher sogar noch waschen, damit die Totenwäscher mit ihm nicht zuviel Arbeit haben. Keine Angst wird ihn heimsuchen, so groß ist sein Vertrauen, daß es im Menschen selber etwas gibt, das unzerstörbar und unsterblich ist. Ganz anders begreifen wir den Gedanken des Johannes-Evangeliums an dieser Stelle: Mein Vater, was er mir gegeben hat, – größer als alles ist es, und niemand kann es entreißen der Hand des Vaters. Hier streiten sich die Textkritiker. Die normale Übersetzung, wenn auch schwach gestützt durch die Textzeugen, lautet: Der Vater, der es mir gegeben hat, ist größer als alles. Nehmen wir den Text aber, wie er am besten bezeugt dasteht, dann hätte Jesus sinngemäß hier gesagt: «Es gibt kein größeres Geschenk als das, welches mir von Gott, der (m)ein Vater ist, gemacht wurde, und was er da geschenkt hat, wird niemand zerstören können: Es ist das Vertrauen, daß diejenigen, die sich meinem Weg, meinem Wort, meiner Nähe anvertrauen, nie mehr seinen noch meinen Händen entgleiten können, was immer auch geschehen wird.» Man versteht, daß hier nicht ein metaphysischer «Beweis» formuliert wird, wir seien als Menschen unsterblich; es geht ganz im Gegenteil um ein Sich-Bergen voller Angst in einer Hand, die uns hält. Die Rede ist, dem Bilde nach, von dem kleinen Kind Dostojewski, das in seiner Not zu dem Bauern Marei flieht; alle Zuversicht liegt da nicht in dem, was ein Mensch sich selber sagen kann, sie liegt einzig in diesem Fluchtpunkt eines Behütetseins, von dem die Hoffnung ausgeht: Er wird uns nie mehr entzogen werden. An dieser Stelle dürfte die johanneische Deutung der Person Jesu auch historisch zutreffen. Jesus lehrte einen Gott, der so sei, daß wir uns ihm anvertrauen könnten in allem. Und nach der Hinrichtung Jesu, nach seinem Sterben unter dem Titel «König der Juden», ergibt sich daraus für die frühe Gemeinde, daß jeder, der sich ihm anschließt, in einen Raum der Geborgenheit eintritt, in dem er völlig anders sein und leben kann, als er es je sonst zu sehen vermocht hätte. Wo vorher Haß und Gewalt regierten, können jetzt Güte und Freiheit wachsen. Wo vorher die Angst vor dem Tod alle menschlichen Beziehungen in Konkurrenz zuspitzte und verhärtete, 467

wächst nun eine Weite in Weltzeit – ins «Äonische». Diese Weite jetzt schon zu leben vermittelt ein Gefühl für ein Unendliches an Zeit und wirkt beruhigend in das diesseitige Leben zurück. Losgelöst davon vollzieht sich alles Leben in der Zeitachse unentrinnbar nach vorn, und es verformt sich zu einem ständigen Alptraum: wir haben keine Zeit, denn der Tod kommt hinter uns her, und das Ende steht uns immer vor Augen. Dagegen setzt sich jetzt dieses jesuanische Weltempfinden, das sich ins Unermeßliche verlängert. Alles beruhigt sich in diesem Schutz und in dieser Gewißheit. Die Unsterblichkeit der Seele ist dabei weder Argument noch Motiv für ein solches Leben in dem Grundgefühl letzter Geborgenheit, sondern umgekehrt: das Grundgefühl der Geborgenheit begründet die Hoffnung, die Daseinsform «ewigen Lebens». Wir können diese Überzeugung aus eigenem Erleben immer wieder bestätigen. Menschen haben sich mit achtzehn, mit zwanzig Jahren ineinander verliebt, und sie werden immer wieder diese Frage stellen: «Was wird aus uns werden? Was kann noch alles kommen? Was wird sein in Krankheit oder wenn die beruflichen Anforderungen uns auseinanderreißen? Die Wechselfälle im Leben sind so unkalkulierbar, und unsere Liebe ist wie eine Flamme, die man einem Sturm aussetzen muß, ohne zu wissen, wie man sie schützen soll.» – Als Antwort auf diese Not können wir uns beteuern, einander nie zu verlassen; doch gerade diese Versicherung erhebt die Religion zur Überzeugung mit ihrer Verheißung eines ewigen Lebens. Das soll heißen: Selbst wenn es den Tod gibt, ändert das doch nichts an unserer Liebe. Selbst die äußerste Infragestellung des Lebens, der Tod selbst, wird nicht ankommen gegen den Trost einer unverbrüchlichen Zusammengehörigkeit. Aus dem Gefühl der Geborgenheit in einem mütterlichen beziehungsweise väterlichen Schutzraum bildet sich ein Vertrauen, das den Tod nicht mehr kennt, weil es vom Tod nicht mehr berührt wird. Das ist die johanneische Art, die Botschaft des Jesus aus Nazaret für Griechen zu deuten; was Johannes vertritt, ist nicht die metaphysische Lehre von der Unsterblichkeit der Seele, was er vermitteln möchte, ist die Unendlichkeit eines Vertrauens, das es nicht länger zuläßt, unser Leben als sterblich hinzunehmen. Kaum aber sagt Jesus, wie dicht verbunden er sich mit Gott fühlt, der ihm doch alles ist: Licht und Wasser und Brot und Wein, da heben die Juden wieder (wie in Joh 8,59) Steine auf, um ihn zu töten. Was Jesus da sagt über seine Einheit mit Gott, ist für sie eine Gotteslästerung. Umsonst, daß Jesus hinweist auf die «gefälligen», das heißt auf die längst überfälligen Werke, die er getan hat. Für ein gefälliges Werk steinigen wir dich 468

nicht, erklären seine Gegner, sondern für Gotteslästerung, weil doch du, Mensch, der du bist, dich selbst machst zu Gott. Natürlich, historisch gesehen, besteht diese «Gotteslästerung» in der «Christologie» der frühen Kirche, darin, daß man Jesus, einen Menschen, zum Sohn Gottes erklärt hat; aber wir haben schon mehrfach gesagt: die Benennung «Sohn Gottes» ist nur die Weiterführung des Titels eines Königs in der Antike. Das Johannes-Evangelium versucht an dieser Stelle an eine Überzeugung anzuknüpfen, die auch schon im Alten Testament, im Judentum selber, sporadisch ausgesprochen wurde – Götter seid ihr, heißt es da in einer Psalmenstelle einmal (Ps 82,6): die Menschen, mit denen Gott selber redet, werden zu Königssöhnen, werden zu Prinzen, um wieviel mehr da der, den Gott selber sandte, um uns mit diesem Gefühl der Würde eines «königlichen» Gesprächspartners Gottes auszustatten! Gott redet mit uns – das ist wieder dieses Grundgefühl, aus aller Daseinseinsamkeit herausgeholt worden zu sein, das ist die Erfahrung, inmitten des Empfindens der Leere und der Sinnlosigkeit angesprochen zu werden, das ist die Entdeckung, als etwas an sich Überflüssiges und Unbedeutendes mitmal Anerkennung und Wertschätzung zu finden. Der König redet mit dir – das ist ein beliebtes Märchenmotiv. Der König sucht gerade dich – das ist ein phantastisches Haremslied wie in Ps 45,12; doch gerade dieser Sehnsuchtstraum soll sich erfüllen in der Botschaft des Jesus aus Nazaret. Ein jeder soll denken: Gott redet mit mir. Das ist erneut das Gleichnis von dem Hirten und seinen Schafen: Wie der Hirt ein jedes der Tiere kennt und es bei seinem Namen ruft (Joh 10,3), so verhält es sich mit Gott in bezug auf uns. Ein jeder von uns ist gemeint, ein jeder, mit anderen Worten, trägt in sich ein bestimmtes Portrait, ein bestimmtes Bild seiner Schönheit und Bedeutung; Gott ruft ihn gerade in dem, was als Kostbarstes in ihm angelegt ist, auf daß er es entfalte und hervorbringe. Nur die Liebe vermag so etwas in dem Raum unserer Erfahrung, aber immer weist alle Liebe unter uns Menschen hin auf jene Liebe, die uns im Vorlauf zu allem eint und überstrahlt. Wie anders verläuft unser Leben, wenn wir nur erst wissen: es gibt einen anderen, es gibt Gott als den schlechterdings anderen, und er möchte, daß wir sind, er freut sich mit unserer Freude, er ist glücklich über unser Glück, er leidet mit unserem Leid, und er begleitet uns mit seinen Augen wie der Bauer Marei auf dem Feld jenen kleinen verängstigten Jungen, der, mit seinen Worten im Ohr, fast schon getröstet nach Hause ging. Eine solche Deutung zeigt, daß auch das Wort von der «Gottessohnschaft» sich so auslegen läßt, daß es für Juden und Muslime gut verständ469

lich sein könnte. Gerade im islamischen Kulturraum ist der Name: Abdullah oder Abd-el – Knecht Gottes sehr beliebt, und man müßte nur hinzufügen, daß auch im Neuen Testament mit dem «Namen» Sohn Gottes an sich mehr nicht gemeint ist. Doch an dieser Stelle wird es selbst dem johanneischen Jesus nicht gelingen, den Vorwurf der Gotteslästerung abzuwehren. Quer durch das Johannes-Evangelium und quer durch die Zeiten erhebt sich immer wieder die Frage, an welch eine Art von Gott wir denn glauben. Entweder es ist möglich, Gott so nah zu spüren, daß wir seine Kinder, seine Söhne, seine Töchter, sind, Gottes Söhne, Gottes Töchter wir alle und Jesus Gottes Sohn gerade darin, daß er uns eben dieses Vertrauen bringen wollte – dann ist zwischen Gott und Mensch kein Widerspruch mehr, nur eine vollkommene Vertrautheit und Harmonie der Liebe –, oder aber es gilt gerade ein solches Vertrauen für lästerlich und vermessen, dann muß man denken, Gott verliere von seiner Herrschaft, ihm werde an Ehre abgetragen bei so viel Zutraulichkeit, bei solcher Zudringlichkeit, bei einer derartigen Maßlosigkeit der Gotteszumutung; Gott muß dann für einen erhabenen Herrscher gelten, und wer frech genug sein sollte, sich an den Wächtern vorbei, an der Palastwache vorüber, in die Nähe seines Thrones zu begeben, und wollte ihn belästigen mit seiner Anwesenheit und seinem Geplärr, der verdiente zweifellos jegliche Strafe. Nur wer da pünktlich bei der Fronarbeit seine Pflicht tut, lebt wirklich für Gott, der allein mit sich in einem pharaonischen Palast wohnt, unerreichbar für jeden gewöhnlichen Bittsteller. In einer solchen Religion bedarf es deshalb ständig der Vermittler, der Beamten, der Hofschreiber, der Fronaufseher, der Arbeitseinteiler, braucht es des ganzen hierarchischen Kirchenapparates. In einer solchen Religion ist das Heiligtum Gottes an einem bestimmten Ort in «Jerusalem» gelegen, und Jesus wird in der Halle Salomos immer wieder zu steinigen sein, eben weil er den Winter zu vertreiben gekommen ist. Theologisch wird oft gesagt, daß Jesus selbst in den Tod habe gehen wollen im Gehorsam zu Gott. Davon weiß das Johannes-Evangelium gar nichts. Im Gegenteil: Ein zweites Mal flieht Jesus; er entkommt der Steinigung, und er begibt sich zurück an den Anfang; noch einmal beginnt alles von vorn. Johannes der Täufer hat es richtig geahnt: Auch er war ein Jude, auch er stammte aus demselben Denken, aus dem Jesus kam, aber er wußte, daß Gott sich nur findet außerhalb des Tempels, abseits von Jerusalem, jenseits des Jordans, in einem Neubeginn reinen Vertrauens. Menschen, die sich Gott so überantworten, daß sie es wagen, von vorn anzufangen, jenseits aller Routine, jenseits aller aufgezwungenen Konventionen, Traditionen, Gebote und Normen des Allgemeinen, und die sich 470

Gott in die Hand geben ganz so, wie sie sind, auf Gedeih und Verderb, werden erleben, daß Glück möglich ist, wo es bisher verstellt schien, daß Freiheit wachsen kann, wo bis dahin nur der Zwang regierte, daß Leben möglich ist, wo der Tod selbst sich verwaltete. Johannes der Täufer hat es geahnt! Er selber vermochte es nicht zu wirken, sagt der Evangelist im Munde der Leute, die sich Jesus anschließen, aber gesagt und geahnt hat er es schon. In Jesus geht deshalb weiter und tritt in die Wahrheit, was der Täufer versuchte. Das Christentum hat für den entscheidenden Neuanfang, den Jesus ermöglichte, das Symbol der Taufe übernommen, doch es hat dieses an sich wunderbare Bild sakramentalisiert und ritualisiert als ein Erlösungszeichen für kleine Kinder. Was aber wäre, es ereignete sich das Gemeinte mitten in unserem Leben, und wir, dreißigjährig geworden, fünfzigjährig geworden, siebzigjährig geworden, entdeckten diesen Frühling des Lebens am Ende eines langen Winters noch einmal neu, und an die Stelle von sehr viel Angst träte ein Aufbruch in Zuversicht und eine wachsende Güte des Einverständnisses mit dem eigenen Leben und mit dem aller anderen? Es wäre eine Dostojewskische Osteroffenbarung: jeder dieser Menschen, jeder dieser verurteilten Verbrecher, trägt in sich einen Bauern Marei, ein Stück Güte, das nur noch nie dazu kam, einen anderen Menschen zu trösten, aber es steckt ja in ihm und wartet nur darauf, entdeckt zu werden. Verstehen statt verurteilen, begleiten statt abschieben, beisammen sein statt ausschließen, ein ewiges Leben in der Hand dessen, von dem wir nie mehr getrennt werden – das ist die ganze Botschaft Jesu, das ist die Zusammenfassung aller Hoffnung, das ist eine Auseinandersetzung freilich auf Leben und Tod. Aber wer da noch denkt, er habe eine Wahl, irrt; den Tod kann man letztlich nicht wählen, man kann nur darunter leiden, daß er immer wieder übermächtig in uns haust; aber um so stärker kann man, ja, muß man daran glauben, daß Jesus kommen wird, uns bei der Hand zu nehmen und hinüberzuführen in seinen Schafstall, uns alle, an einen Ort des Vertrauens, da wir zu Hause sind auf immer.

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Anmerkungen Joh 1,1-18: «Im Anfang war das Wort» – 1. Teil 1

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Albert Camus: Der Mythos von Sisyphos. Ein Versuch über das Absurde (Le Mythe de Sisyphe, Paris 1942), übers. v. H. G. Brenner – W. Rasch (1950), komm. v. L. Richter, Hamburg (rde 90) 1959 Mechthild von Magdeburg: Das fließende Licht der Gottheit (13. Jh.), eingef. v. Margot Schmidt, mit einer Studie von Hans Urs von Balthasar, Einsiedeln–Zürich–Köln 1955 Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung, 2. Bd., welcher die Ergänzungen zu den vier Büchern des ersten Bandes enthält (21844), hrsg. v. A. Hübscher: Sämtl. Werke Bd. 3, Wiesbaden 1949, Kapitel 28: Charakteristik des Willens zum Leben, 398–411, S. 403–404 F. M. Dostojewski: Die Brüder Karamasow (Bratja Karamazovy, 1880), übers. v. K. Noetzel, München (GGTb. 478–479; 480–481) 1958, 11. Buch, 4: Eine Hymne und das Geheimnis, 733–748, S. 739–741 Leo Tolstoj: Macht der Finsternis oder: Wenn du einem Vogel die Krallen fesselst, ist er ganz verloren, Drama in 5 Aufzügen (1886), übers. v. August Scholz, in: Dramen, Hamburg (rk 203–204) 1966, S. 5–66

Joh 1,1-18: «Im Anfang war das Wort» – 2. Teil 1

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Johann Wolfgang von Goethe: Faust. Der Tragödie erster und zweiter Teil. Urfaust, hg. u. komm. v. E. Trunz (Goethes Werke, Bd. 3, Hamburger Ausgabe), textkritisch durchgelesen und kommentiert, Hamburg 101976, 1. Teil, Studierzimmer, Vers 1224–1227 Gerhard Kittel: «Wort» und Reden im NT, in: Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, Bd. IV, hg. v. G. Kittel, Stuttgart 1942, 100–147 Zur Kategorie des Anfangs vgl. E. Drewermann: Strukturen des Bösen, Bd. 1: Die jahwistische Urgeschichte in exegetischer Sicht, Paderborn (1978), 101995, S. XVIII–XXXI Martin Kuckenburg: … und sprachen das erste Wort. Die Entstehung von Sprache und Schrift. Eine Kulturgeschichte der menschlichen Verständigung, Düsseldorf 1996 Sigmund Freud: Das Ich und das Es (1923), Ges. Werke, Bd. 13, London 1940, 235–289, S. 246–255 Zit. n. S. K. Langer: Philosophie auf neuem Wege. Das Symbol im Denken, im Ritus und in der Kunst (Philosophy in a New Key, Cambridge 1942), übers. v. A. Löwith, Frankfurt 1965 E. Drewermann: Der sechste Tag. Die Herkunft des Menschen und die Frage nach Gott. Glauben in Freiheit, Bd. 3: Religion und Naturwissenschaft 1. Teil, Zürich–Düsseldorf 1998, 111–148: Vom homo erectus zum homo neanderthalensis, S. 144–145

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In Wirklichkeit ist der Spracherwerb unmittelbar an die Gehirnreifung gebunden, vgl. Manfred Spitzer: Geist im Netz. Modelle für Lernen, Denken und Handeln, Heidelberg–Berlin 2000, S. 197–203 E. Drewermann: Im Anfang … Die moderne Kosmologie und die Frage nach Gott. Glauben in Freiheit, Bd. 3: Religion und Naturwissenschaft, 3. Teil: Kosmologie und Theologie, Düsseldorf–Zürich 2002, 55–84: Die Entstehung des Sonnensystems oder: Von Planeten, Monden und Kometen, S. 69–77 E. Drewermann: … und es geschah so. Die moderne Biologie und die Frage nach Gott. Glauben in Freiheit, Bd. 3: Religion und Naturwissenschaft, 2. Teil: Biologie und Theologie, Zürich–Düsseldorf 1999, 259–262: Die Welt des Dionysos F. W. J. Schelling: System des transzendentalen Idealismus (1800), hg. v. Ruth-Eva Schulz, Einl. v. Walter Schulz, Hamburg (Ph. B. 254) 1957, 6. Hauptabschnitt, § 1–3: 281–298: «Die postulierte Anschauung (sc. die Kunstanschauung, d.V.) soll zusammenfassen, was in der Erscheinung der Freiheit, und was in der Anschauung des Naturprodukts getrennt existiert, nämlich Identität des Bewußten und Bewußtlosen im Ich und Bewußtsein dieser Identität.» (S. 281) Leo Tolstoj: Wovon die Menschen leben (1881), übers. v. A. Eliasberg, in: Sämtliche Erzählungen, hg. v. G. Drohla, 3 Bde., Frankfurt/M. 1961, Bd. II 386–412 Alexander Solschenizyn: Krebsstation (Rakovyj korpus, London 1968), übers. v. C. Auras, A. Jais u. I. Tinzmann, Neuwied–Berlin 1969; Reinbek (rororo 1395; 1437) 1971, Buch 1, 8. Kapitel, S. 90–100 Wolfgang Wickler – Ute Seibt: Prinzip Eigennutz. Ursachen und Konsequenzen sozialen Verhaltens, Hamburg 1977 Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung, 1. Bd. (1819), hg. v. A. Hübscher, Sämtliche Werke, Bd. 2, Wiesbaden 1949 Charles Darwin: Die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl (On the Origin of Species by Means and Natural Selection or The Preservation of Favoured Races in Struggle for Life, London 1859), übers. v. C. W. Neumann, Nachw. v. G. Heberer, Stuttgart (reclam 3071–3080) 1974 Hermann Diels: Die Fragmente der Vorsokratiker, nach der von Walther Kranz hg. 8. Aufl., eingel. v. G. Plamböck, Hamburg (rk 10) 1957, 21–31: Herakleitos aus Ephesos, Fr. 53: «Krieg ist aller Dinge Vater, aller Dinge König. Die einen erweist er als Götter, die anderen als Menschen, die einen macht er zu Sklaven, die anderen zu Freien.» Ludwig von Bertalanffy: Die Evolution der Organismen, in: D. Schlemmer: Schöpfungsglauben und Evolutionstheorie, Stuttgart 1956, 53–56 Karl Kerényi: Dionysos. Urbild des unzerstörbaren Lebens, München–Wien 1976, Einleitung: Endliches und unendliches Leben in der griechischen Sprache, S. 13–18 Rudolf Bultmann: Das Urchristentum im Rahmen der antiken Religionen, Hamburg (rde 157–158) 1962, 152–162: Die Gnosis Marie Noel: Erfahrungen mit Gott (Notes intimes, 1920–1958), übers. v. Agnes Heitzer, Mainz 1961, Vorw. v. K. Pfleger, 168; 172 Adolf von Harnack: Marcion. Das Evangelium vom fremden Gott. Eine Monographie zur Geschichte der Grundlegung der katholischen Kirche (Berlin 11920); Darmstadt 1985, 97–106: Der Weltschöpfer, die Welt und der Mensch; 121–143: Der Erlösergott als der gute Gott, seine Erscheinung in Jesus Christus und das Werk

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der Erlösung. Die Berufung des Apostels Paulus; E. Drewermann: Glauben in Freiheit oder Tiefenpsychologie und Dogmatik, 1. Bd.: Dogma, Angst und Symbolismus, Solothurn–Düsseldorf 1993, 227–244 23 S. o. Anm. 21, S. 168 24 Irene Nicholson: Mexikanische Mythologie (Mexican and Central American Mythology, London 1967), übers. v. Ursula Buhle, Wiesbaden (Vollmer Verlag) o. J., 32–38: Die Entstehung der Musik 25 E. Drewermann: Milomaki oder vom Geist der Musik. Eine Mythe der YahunaIndianer, Olten– Freiburg 1991, 22

Joh 1,1-18: «Im Anfang war das Wort» – 3. Teil 1 2

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Franz Kafka: Der Prozeß (Berlin 1925), hg. v. Max Brod, Frankfurt (Fischer EC 3) 1958, 9. Kapitel: Im Dom, 144–161 M. Lidzbarski: Ginza, der Schatz oder das große Buch der Mandäer, Göttingen 1925; Helmuth von Glasenapp: Die nichtchristlichen Religionen, Frankfurt/M. (Fischer Lexikon 1) 1957, 235–236 Erich Fromm: Der Staat als Erzieher. Zur Psychologie der Strafjustiz (1930), in: Gesamtausgabe, Bd. 1: Analytische Sozialpsychologie, Stuttgart 1980, 7–10; ders.: Zur Psychologie des Verbrechers und der strafenden Gesellschaft (1931), in: A.a.O., 11–30; ders.: Die sozialpsychologische Bedeutung der Mutterrechtstheorie (1934), in: A.a.O., 85–109

Joh 1,19-34: Das Bekenntnis des Täufers 1 2

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Martin Buber: Ich und Du (Leipzig 1923), in: Werke, 1. Bd.: Schriften zur Philosophie, München–Heidelberg 1962, 77–170 Martin Buber: Königtum Gottes (Heidelberg, 3verm. 1956), in: Werke, Bd. 2: Schriften zur Bibel, München–Heidelberg 1964, 5. Kap.: JHWH der Melekh, 608–626, S. 621–624 Blaise Pascal: Über die Religion und einige andere Gegenstände (Pensées, postum 1669), übers. v. E. Wasmuth, Stuttgart 3(erw. u. neu bearb.) 1954, Nr. 555, S. 247: «Du würdest mich nicht suchen, wenn du mich nicht besäßest.»

Joh 1,35-51: Von der Nachfolge oder: Zwei Arten von Berufung 1 2

Peter Stripp: Rote Erde. Familiensaga aus dem Ruhrgebiet, Bottrop 2001 Sören Kierkegaard: Einübung im Christentum (Indövelse i Christendom. Af AntiClimacus, Kopenhagen 1850), in: Werkausgabe, II, Düsseldorf–Köln 1971, übers. v. Emanuel Hirsch, S. 5–307, Nr. 1, Das Halt: IV: Das Christentum als das Unbedingte, die Gleichzeitigkeit mit Christus, S. 69–74, S. 71: «Denn im Verhältnis zum Unbedingten ist nur eine Zeit: die Gegenwart; wer nicht gleichzeitig ist mit dem Unbedingten, für den ist es nicht da.» Die «dreihundert, siebenhundert, fünfzehn-, siebzehn-, achtzehnhundert Jahre tun nichts ab und nichts zu.» «Das Vergangene ist

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nicht Wirklichkeit: für mich; nur das Gleichzeitige ist Wirklichkeit für mich. Womit du gleichzeitig lebst, ist Wirklichkeit: für dich.» Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie (L’être et le néant. Essai d’ ontologie phénoménologique, Paris 1943), übers. v. J. Streller, K. A. Ott u. A. Wagner, Reinbek 1962, 3. Teil: Das Für-andere, 1. Kap.: Der Blick, S. 338–397

Joh 2,1-12: Die Hochzeit zu Kana – 1. Teil: Die Verwandlung des Lebens 1

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Friedrich Nietzsche: Zur Genealogie der Moral (1887), in: Sämtliche Werke: Jenseits von Gut und Böse, Stuttgart (Kröner Tb. 76) 1991, mit einem Nachwort von Walter Gebhard, 237–412, 1. Abhandlung, 10, S. 263: «Der Sklavenaufstand in der Moral beginnt damit, daß das Ressentiment selbst schöpferisch wird und Werke gebiert.» – Die Deutung von der Freude, die Jesus mit dem Weinwunder in das Leben armer Leute gebracht habe, vertrat F. M. Dostojewski: Die Brüder Karamasow (Bratja Karamazovy, 1880), übers. v. K. Noetzel, München (GGTb. 478–479; 480–481) 1958, 3. Teil, 7. Buch, 4: Die Hochzeit zu Kana, 462–467 Karl Kerényi: Dionysos. Urbild des unzerstörbaren Lebens, München–Wien 1976, 78–85: Zagreus; 85–111: Ariadne: «Wie Dionysos die archetypische Wirklichkeit der zoé (sc. des Lebens, d.V.) ist, ebenso ist Ariadne die archetypische Wirklichkeit der Beseelung, der Gewährung dessen, was ein Lebewesen zu einem Einzelwesen macht … Das Götterpaar Dionysos und Ariadne, in der Vereinigung von zwei archetypischen Bildern, spielt uns das ewige Eingehen und Durchgehen der zoé in die Entstehung und durch die Entstehung der einzelnen Lebewesen vor.» (110–111) Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse (1885), in: Sämtliche Werke: Jenseits von Gut und Böse, Stuttgart (Kröner Tb. 76) 1991, 3–236, Nr. 295, S. 232: «Unter Umständen liebe ich den Menschen … der Mensch ist mir ein angenehmes, tapferes, erfinderisches Tier … Ich bin ihm gut: ich denke oft darüber nach, wie ich ihn noch vorwärts bringe und ihn stärker, böser und tiefer mache, als er ist … auch schöner.» Heinrich Zimmer: Indische Mythen und Symbole (Myths and Symbols in Indian Art and Civilization, 1942), übers. v. Ernst Wilhelm Eschmann, Düsseldorf–Köln 1972, 137–209: Shivas kosmisches Entzücken Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra. Ein Buch für alle und keinen (1885), in: Sämtliche Werke, Stuttgart (Kröner Tb. 75) 1988, mit einem Nachwort von Walter Gebhard, 4. Teil, Das trunkene Lied 12, S. 359 Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik (1871), mit einem Nachw. v. Hermann Glockner, Stuttgart (reclam 7131/32) 1952, 1. Kap., S. 24: «Der edelste Ton, der kostbarste Marmor wird hier geknetet und behauen, der Mensch, und zu den Meißelschlägen des dionysischen Weltenkünstlers tönt der eleusinische Mysterienruf: ‹Ihr stürzt nieder Millionen? Ahnest du den Schöpfer, Welt?›» Stefan Zweig: Rausch der Verwandlung. Roman aus dem Nachlaß, hg. u. mit Nachbemerkungen versehen von Knut Beck, Frankfurt/M. 1982

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Joh 2,1-12: Die Hochzeit zu Kana – 2. Teil: Das Wunder der Verwandlung 1 2

Marie Noel: Erfahrungen mit Gott (Notes intimes, 1920–1958), übers. v. Agnes Heitzer, Mainz 1961, Vorw. v. K. Pfleger, 161 A.a.O., 78 (in freier Wiedergabe)

Joh 2,13-25: Die Tempelreinigung oder: Von Götzendienst und Gottesdienst 1

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E. Drewermann: Jesus von Nazareth. Befreiung zum Frieden. Glauben in Freiheit, Bd. 2, Düsseldorf–Zürich 62001, 458–467: «Ihr aber habt es zu einer Räuberhöhle gemacht» (Mk 11,17) – Die Tempelreinigung oder: Das Ende der Geduld Girolamo von Savonarola: Predigten und Schriften (Prediche, 1495), übers. v. A. Leinz u. Dessauer, Salzburg 1957 Martin Luther: Die Ablaßthesen und die Resolutionen (1517–1518), in: Die Werke Luthers in Auswahl, hg. v. Kurt Aland, Bd. 2: Der Reformator, Stuttgart 1962, 32–82, Nr. 86, S. 80: «Der Papst ist heute vermögender als der reichste Krassus; warum baut er da nicht wenigstens diese eine Peterskirche lieber mit seinem eigenen Geld als mit dem seiner armen Gläubigen?» Meister Eckhart: Predigten und Schriften, ausgew. u. eingel. von Friedrich Heer, Frankfurt/M. (Fischer Tb. 124) 1956, 173–178: Die Tempelreinigung: «Seht, dies nun sind alles Kaufleute, die … Gott zu Ehren ihre verdienstreichen Werke tun … – und sie doch nur darum tun, daß ihnen unser Herr etwas dafür gebe oder daß ihnen Gott dafür etwas zuliebe tue: dieses sind alles Kaufleute.» (S. 174)

Joh 3,1-13: Das Nachtgespräch mit Nikodemus oder: Der Wind weht, wo er will 1

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Peter Crawford: Nomaden des Windes. Paradies Polynesien (Nomads of the Wind. A Natural History of Polynesia, BBC Books 1993), übers. von Hasso Rost, Köln 1995, Kap. 5: Nomaden des Windes, S. 109–131 Platon: Der Staat (Politeia), in der Übers. v. Friedrich Schleiermacher mit der Stephanus-Numerierung hg. von W. F. Otto, E. Grassi, G. Plamböck, in: Sämtliche Werke, Bd. 3, Reinbek (rk 27, 27a) 1958, 67–310, VII. Buch, Kap. 1–5 (514a–521b), S. 224–229 Hector Malot: Heimatlos (Sans Famille, dessins par É. Bayard, Paris 1878), Wien–Heidelberg 1975; eine sechsteilige französische Fernsehverfilmung des Buches mit Petula Clark als der wahren Mutter von Rémi strahlte das ZDF Ende der achtziger Jahre aus. Joseph Roth: Die Flucht ohne Ende. Ein Bericht (1927), München (dtv 1408) 1978, Kap. XIX, S. 74–81 (sinngemäß wiedergegeben) Katholischer Erwachsenen-Katechismus. 2. Bd.: Leben aus dem Glauben, hg. von der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 1995, 135: «Mancher meint, er sei mündig, wenn er das tut, was den persönlichen Wünschen und Bedürfnissen entspricht. Ein anderer glaubt, Mündigkeit bestehe darin, daß er sich von jeder ‹Bevormundung› durch Autoritäten, Gesetze und Normen löse und sich frei selbstverwirkliche.» Demgegenüber bemüht sich der Katechismus um ein «rechtes» Verständnis

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der Begriffe «Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung» «in Jesus Christus und in seiner Kirche». (S. 19) F. M. Dostojewski: Die Brüder Karamasow (Bratja Karamazovy, 1880), übers. v. K. Noetzel, München (GGTb. 478–479; 480–481) 1958, 2. Teil, 5. Buch, Kap. 5: Der Großinquisitor, S. 307–328

Joh 3,14-21: «der habe unendliches Leben» 1

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Jean-Marie Chauvet – éliette Brunel Deschamps – Christian Hillaire: Grotte Chauvet. Altsteinzeitliche Höhlenkunst im Tal der Ardèche (La Grotte Chauvet à Vallon-Pont-d’Arc, Paris 1995), übers. v. Kathrin Wüst, Nachw. v. Jean Clottes, hg. mit einem Vorw. von Gerhard Bosinski, Sigmaringen 1995 E. Drewermann: Strukturen des Bösen, Bd. 2: Die jahwistische Urgeschichte in psychoanalytischer Sicht, Paderborn (1977) 61988, 69–152 Mircea Eliade: Schmiede und Alchemisten (Forgerons et Alchimistes, 21976), übers. von Emma von Pelet, nach der neuesten franz. Ausgabe bearb. u. ergänzt von Rolf Homann, Stuttgart 21980 Nigel Davies: Die Azteken. Meister der Staatskunst – Schöpfer hoher Kultur (The Aztecs. A History, London 1973), übers. v. Stasi Kull, Reinbek (rororo 6950) 1976, 214–215: «Die armen Gefangenen, ordnungsgemäß angemalt und mit Federn geschmückt, wurden in endlosen Schlangen auf den drei Hauptdämmen (sc. von Tenochtitlan, d.V.) aufgestellt, die vom Norden, Süden und Westen in die Stadt führten, während eine vierte Reihe östlich bis ans Ufer der Lagune reichte. Es sollen 80 400 gewesen sein, wie von verschiedenen Quellen wiederholt berichtet wird. Aber eine derartige Unmenge von Menschen in einer etwa 300 000 Einwohner zählenden Stadt zu töten, erscheint uns heute als eine glatte Unmöglichkeit … Im vorliegenden Fall scheint selbst eine Zahl von 8400 noch weit übertrieben.» Immerhin: «Die Opferung dauerte vier ganze Tage. Als Ahuitzotl und seine fürstlichen Kollegen vom Aufschneiden der Brustkörbe der Opfer müde wurden, übernahmen die Priester an deren Stelle die Opfermesser. Ströme von Blut ergossen sich überall … Am fünften Tag (sc. erst, d.V.) hatte die Schlächterei ein Ende.» Peter Milger: Die Kreuzzüge. Krieg im Namen Gottes, München 1988, 117–120: Albert von Aachen: «Nach dem fürchterlichen und blutigen Hinmorden der Sarazenen, von denen dort (im Tempel) zehntausend erschlagen wurden, kehrten die Christen siegreich vom Palast der Stadt zurück und machten nun viele Scharen von Heiden, die in ihrer Todesangst versprengt durch die Gassen irrten, mit dem Schwert nieder. Weiber, die in die befestigten Häuser und Paläste geflohen waren, durchbohrten sie mit dem Schwert. Kinder, noch saugend, rissen sie an den Füßen von der Brust der Mutter oder aus den Wiegen und warfen sie an die Wand und auf die Türschwellen und brachen ihnen das Genick. Andere machten sie mit den Waffen nieder, wieder andere töteten sie mit Steinen. Kein Alter und kein Geschlecht der Heiden wurde verschont. Wer zuerst in ein Haus oder einen Palast eindrang, behielt diesen in seinem Besitz, mit allem Gerät, mit Getreide, Gerste, Wein und Öl, Geld und Kleidern und allen Besitztümern. So wurden die Pilger Herren und Besitzer der ganzen Stadt.» (S. 119) Christian Fürchtegott Gellert: Sämtliche Fabeln und Erzählungen. Geistliche

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Oden und Lieder, Nachw. v. Herbert Klinkhardt, Stuttgart (Mohn-Verlag) o. J., S. 265: Die Liebe des Nächsten: So jemand spricht: Ich liebe Gott! Und haßt doch seine Brüder, Der treibt mit Gottes Wahrheit Spott, Und reißt sie ganz darnieder. Gott ist die Lieb, und will, daß ich Den Nächsten liebe, gleich als mich. Tacitus: Annalen XV 44 spricht davon, daß Kaiser Nero die Schuld am Brande Roms den Christen gab, die er «mit den ausgesuchtesten Martern» strafte. «Es waren jene Leute, die das Volk wegen ihrer (angeblichen) Schandtaten haßte und mit dem Namen ‹Christen› belegte. Dieser Name stammt von Christus, der unter Tiberius vom Procurator Pontius Pilatus hingerichtet worden war. Dieser verderbliche Aberglaube war für den Augenblick unterdrückt worden, trat aber später wieder hervor und verbreitete sich nicht nur in Judäa, wo er aufgekommen war, sondern auch in Rom, wo alle Greuel und Abscheulichkeiten der ganzen Welt zusammenströmen und geübt werden. Man faßte also zuerst diejenigen, die sich öffentlich als Christen bekannten, dann auf deren Anzeige hin eine gewaltige Menge Menschen. Sie wurden wegen der Brandstiftung als des Hasses gegen das ganze Menschengeschlecht überführt.» – Darüber hinaus berichtet Plinius der Jüngere: Aus dem Alten Rom. Ausgewählte Briefe, übers. u. mit Nachw. versehen von Mauritz Schuster, Stuttgart (reclam 7787) 1957, 70–73: Brief an Kaiser Trajan, Nr. 96 von seinem Vorgehen bei den gerichtlichen Verhandlungen gegen die Christen, deren «Vergehen» nach ihrer Aussage einzig darin liege, «an einem bestimmten Tage vor Sonnenaufgang» zusammenzukommen und «im Wechselvortrag ein Loblied auf Christus als unseren Gott» zu singen und sich «durch einen feierlichen Eid … zur Unterlassung von Diebstahl, Raub, Ehebruch, Treuelosigkeit und Unterschlagung anvertrauten Gutes» zu verpflichten. Flavius Josephus: Jüdische Altertümer, übers., eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Heinrich Clementz, Wiesbaden (Fourier Verlag) o.J., XVIII 3,3, S. 515–516 spricht von Jesus als einem «Vollbringer ganz unglaublicher Thaten und … Lehrer aller Menschen», doch ist die Stelle mit Sicherheit von einem Späteren in christlicher Absicht interpoliert. A.a.O. XX 9,1, S. 667 spricht Josephus von Jakobus, dem «Bruder des Jesus, der Christus genannt wird». Andere antike Hinweise auf die historische Existenz Jesu existieren außerhalb des Neuen Testamentes nicht. Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra. Ein Buch für alle und keinen (1885), in: Sämtliche Werke, Stuttgart (Kröner Tb. 75) 1988, 4. Teil, Das trunkene Lied, S. 351–359, Nr. 1, S. 352: «‹War das – das Leben?› will ich zum Tode sprechen. ‹Wohlan! Noch einmal!›» Khalil Gibran: Jesus Menschensohn. Seine Worte und Taten berichtet von Menschen, die Ihn kannten (Jesus – The Son of Man. His Words and His Deeds as told and recorded by those who knew Him), übers. v. Ursula Assaf-Nowak, Olten 1988, 161–163

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Joh 3,22-36: Aus dem Himmel oder aus der Erde? 1 2 3

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Stephen J. Gould: Zufall Mensch. Das Wunder des Lebens als Spiel der Natur (Wonderful Life, New York 1989), übers. v. F. Griese, München–Wien 1991 Hermann Kasack: Die Stadt hinter dem Strom (geschrieben zwischen 1942–1944: I–XII, 1946: XIII–XX), Frankfurt/M. 1949, Kap. XII, S. 194–216 Kurt Heinrich Hansen: Go down Moses. 100 Spirituals und Gospel Songs. Originaltext und deutsche Fassung, übertragen und eingeleitet, Hamburg (Furche Stundenbuch Bd. 26) 1963, 138–141: Swing low, sweet chariot, Comin’ for to carry me home – Schweb herab, süßer Wagen, Komm und bring mich nach Haus. Georges Bernanos: Tagebuch eines Landpfarrers (Journal d’un Curé de campagne, 1936), übers. v. Jakob Hegner, Zürich 1975, 178: «Trotzdem kann ich Ihnen versichern, daß es nicht ein Reich der Lebenden und daneben ein Reich der Toten gibt. Es gibt nur das Reich Gottes, und lebend wie tot sind wir alle in ihm.» (Vgl. Rom 14,8.). S. 304: «Was macht das schon aus? Alles ist Gnade.» Rainer Maria Rilke: Das Stundenbuch, 1. Buch: Vom mönchischen Leben (1899), in: Sämtliche Werke, hg. vom Rilke-Archiv, in Verbindung mit Ruth Sieber-Rilke, besorgt durch Ernst Zinn, 1. Bd., Frankfurt/M. 1955, 249–301, S. 268

Joh 4,1-42: Die Frau am Jakobsbrunnen oder: Stufen der Wahrheit Zur Auslegung der Erzählung vgl. E. Drewermann: Tiefenpsychologie und Exegese, 2 Bde., Olten 1985, II 686–697. 1 Vgl. Helmuth von Glasenapp: Die nichtchristlichen Religionen, Frankfurt/M. (Fischer Lexikon 1) 1957, 235–236 2 F. M. Dostojewski: Der Jüngling (Podrostok, 1875), übers. v. E. K. Rahsin (München 1957), Frankfurt/M. (Fischer EC 6) 1960, Nachw. v. A. Naumann, 2. Teil, 1. Kapitel, IV, S. 213–218, S. 215: «hat der Mensch sich satt gegessen, so denkt er nicht mehr daran; im Gegenteil, er wird sofort sagen: ‹So, nun hab ich mich sattgegessen, und was soll ich jetzt tun?› Die Frage bleibt ewig offen.» 3 Hermann Oldenberg: Buddha. Sein Leben. Seine Lehre. Seine Gemeinde (1881), hg. v. Helmuth von Glasenapp, München (GGTb 708–709) 1961, 220; 432 4 F. M. Dostojewski: Der Jüngling, s. o. Anm. 2, 3. Teil, 7. Kapitel, III, S. 462–466: «ich konnte nicht umhin, ihn (sc. Christus, d.V.) mir schließlich unter den (sc. im Atheismus, d.V.) verwaisten Menschen vorzustellen, wie er zu ihnen kommt, ihnen die Hände entgegenstreckt und sagt: ‹Wie konntet ihr Seiner (sc. Gottes, d.V.) vergessen?› Und da fällt es gleichwie eine Binde von den Augen aller, und es ertönt die große begeisterte Hymne der neuen und der letzten Auferstehung …»

Joh 5,1-18: Die Heilung des Gelähmten oder: Der Sabbat Gottes 1

Sigmund Freud: Über Psychoanalyse. Fünf Vorlesungen (1909), in: Gesammelte Werke, VIII London 1943, 5. Vorlesung, 52–60, zur «Flucht in die Krankheit»; ders.: Hemmung, Symptom und Angst (1926), Gesammelte Werke XIV, London 1948, 111–205, S. 127; 193, zur Lehre vom sekundären Krankheitsgewinn.

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Dante Alighieri: Die göttliche Komödie (La Comedia, entstanden 1307–1321; Erstdruck: Mantua 1472), übers. v. Konrad Falke, Wiesbaden (Löwit-Verl.) o. J., Die Hölle, 3. Gesang, Vers 7–9, S. 12: «Vor mir ward nichts in dieser Welt erschaffen, / Wenn Ewiges nicht; und selber daur’ ich ewig. Laßt, die ihr eingeht, alle Hoffnung fahren!» Brüder Grimm: Kinder- und Hausmärchen (1819), Zürich 1975, Nr. 187: Der Hase und der Igel, S. 761–767

Joh 5,19-30: Auferstehung zum Leben 1 2

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George Orwell: 1984 (Nineteen eighty-four, London 1949), übers. v. K. Wagenseil, Stuttgart 1950 Jan Assmann: Tod und Jenseits im Alten Ägypten, München 2001, 408–418: Das Mundöffnungsritual, S. 413–414; Albert Champdor: Das ägyptische Totenbuch in Bild und Deutung (Le Livre des Morts, 1977), übers. v. Holger Fließbach, bearb. u. hg. von Manfred Lurker, Bern–München–Wien 1977, 34–35 Rainer Maria Rilke: Das Stundenbuch, 1. Buch: Vom mönchischen Leben (1899), in: Sämtliche Werke, hg. vom Rilke-Archiv, in Verbindung mit Ruth Sieber-Rilke, besorgt durch Ernst Zinn, 1. Bd., Frankfurt/M. 1955, 249–301, S. 260–261

Joh 5,31-47: Vertrautet ihr Mose, vertrautet ihr mir 1

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Henrik Ibsen: Gespenster. Ein Familiendrama in drei Akten (Gengangere, Kopenhagen 1881), in: Dramen, 2. Bd., München 1973, Nachw. Otto Oberholzer, nach der Ausg. der «Sämtlichen Werke», in deutscher Sprache, 1898–1904, hg. v. Georg Brandes, Julius Elias u. Paul Schlenther, S. 5–67 Rainer Maria Rilke: Die frühen Gedichte (21909), in: Sämtliche Werke, hg. vom Rilke-Archiv, in Verbindung mit Ruth Sieber-Rilke, besorgt durch Ernst Zinn, 1. Bd., Frankfurt/M. 1955, 143–200, S. 200 Jean Paul: Leben des Quintus Fixlein aus fünfzehn Zettelkästen gezogen; nebst einem Musteil und einigen Jus de tablette (1796), hg. v. Eduard Berend (Weimar 1930), Nachw. v. Ralph-Rainer Wuthenow, Stuttgart (reclam 164) 1972, Musteil für Mädchen, Der Tod eines Engels, 45–50, S. 45

Joh 6,1-21: Brotvermehrung und Seewandel oder: Großzügiges Geben und furchtloses Gehen 1

Thomas Mann: Joseph und seine Brüder, Roman in 4 Teilen: 1) Die Geschichten Jakobs, Berlin 1933; 2) Der junge Joseph, Berlin 1934; 3) Joseph in Ägypten, Wien 1936; 4) Joseph der Ernährer, Stockholm 1943; Gesamtausgabe (Stockholm–Amsterdam 1948), 3 Bde., Frankfurt–Hamburg (Fischer Tb. 1183–1185) 1971, 1. Bd., 2. Hauptstück: Jaakob und Esau, Mondgrammatik, S. 89–90 bemerkt bei den Schilderungen Eliezers, «daß des Alten Ich sich nicht als ganz fest umzirkt erwies, sondern gleichsam nach hinten offenstand, ins Frühere, außer seiner eigenen Individualität Gelegene überfloß und sich Erlebnisstoff einverleibte, dessen Erinnerungs- und

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Wiedererzeugungsform eigentlich und bei Sonnenlicht betrachtet die dritte Person statt der ersten hätte sein müssen. Was aber heißt denn hier ‹eigentlich›, und ist etwa des Menschen Ich überhaupt ein handfest in sich geschlossen und streng in seine zeitlich-fleischlichen Grenzen abgedichtetes Ding? Gehören nicht viele der Elemente, aus denen es sich aufbaut, der Welt vor und außer ihm an, und ist die Aufstellung, daß jemand kein anderer sei und sonst niemand, nicht nur eine Ordnungs- und Bequemlichkeitsannahme, welche geflissentlich alle Übergänge außer acht läßt, die das Einzelbewußtsein mit dem allgemeinen verbindet? Der Gedanke der Individualität steht zuletzt in derselben Begriffsreihe wie derjenige der Einheit und Ganzheit, der Gesamtheit, des Alls, und die Unterscheidung zwischen Geist überhaupt und individuellem Geist besaß bei weitem nicht immer solche Gewalt über die Gemüter wie in dem Heute, das wir verlassen haben, um von einem anderen zu erzählen, dessen Ausdrucksweise ein getreues Bild seiner Einsicht gab, wenn es für die Idee der ‹Persönlichkeit› und ‹Individualität› nur dermaßen sachliche Bezeichnungen kannte wie ‹Religion› und ‹Bekenntnis›.» E. Drewermann: Das Matthäus-Evangelium. Bilder der Erfüllung, 3 Bde., Solothurn–Düsseldorf 1992–1995, 2. Bd., 324–338; ders.: Das Markus-Evangelium, 2 Bde., Solothurn–Düsseldorf 1987–1988, 1. Bd., 430–440; 502–506 Laotse: Tao te king. Das Buch des Alten vom Sinn und Leben, aus dem Chines. übertragen von Richard Wilhelm (1910), Düsseldorf–Köln 1957, Nr. 48, S. 91: «Wer das Lernen übt, vermehrt täglich. Wer den Sinn übt, vermindert täglich. Er vermindert und vermindert, bis er schließlich ankommt beim Nichtsmachen. Beim Nichtsmachen bleibt nichts ungemacht. Das Reich erlangen kann man nur, wenn man immer frei bleibt von Geschäftigkeit. Die Vielbeschäftigten sind nicht geschickt, das Reich zu erlangen.» A.a.O., Nr. 11, S. 51: «Dreißig Speichen umgeben eine Nabe: In ihrem Nichts besteht des Wagens Werk. Man höhlet Ton und bildet ihn zu Töpfen: In ihrem Nichts besteht der Töpfe Werk. Man gräbt Türen und Fenster, damit die Kammer werde: In ihrem Nichts besteht der Kammer Werk. Darum: Was ist, dient zum Besitz. Was nicht ist, dient zum Werk.» Julia Esquivel: Ich habe keine Angst, aus: Paradies und Babylon, Wuppertal (Jugenddienstverlag) o. J.

Joh 6,22-51: Ich bin das Brot des Lebens 1

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Vgl. Erich Fromm: Die sozialpsychologische Bedeutung der Mutterrechtstheorie (1934), in: Gesamtausgabe, Bd. 1: Analytische Sozialpsychologie, Stuttgart 1980, 85–109; ders.: Die Bedeutung der Mutterrechtstheorie für die Gegenwart (The Significance of the Theory of Mother Right for Today, 1970), übers. v. Hilde Weller, a.a.O., 111–114: «Wenn aber patriarchales und matriarchales Prinzip eine Synthese bilden, dann erhält das eine vom anderen seine Tönung: mütterliche Liebe durch Gerechtigkeit und Rationalität, väterliche Autorität durch Gnade und Gleichheit.» (114) Reinhold Schneider: Winter in Wien. Aus meinen Notizbüchern 1957/58. Mit einer Grabrede von Werner Bergengruen, Freiburg–Basel–Wien 1958, 197–198: «es wurde mir wieder klar, daß die Stärke des Glaubens und des Lebenswillens einander

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entsprechen.» «Nur einem heftigen Willen zum Diesseits entkeimt (nach der Lebenskrise) der Glaube an das Jenseits; wer nicht will, der glaubt eben nicht. Je stärker der Stamm, um so üppiger die Mispel.» «Hier liegt der Grund des Verfalls der Religion: jenes Verfalls, dem nicht beizukommen ist. Unter leidlichen Umständen leben die Menschen ganz gerne; aber in diesem ‹gerne› ist keine Kraft. Der Film läuft ab, der Fernsehfilm erlischt. Noch einmal? Oder weiter? Warum? Zeugung ist Lebensrecht, das allen Generationen zufiel. Warum soll es dieser verweigert werden? Weiter machen wir uns keine Gedanken; es ist auch schon überbezahlt: das nette bißchen Glück. Das ist im Eintrittspreis eingeschlossen. Im übrigen: der Pilz der Glutwolke (sc. wie bei einer Atombombenexplosion, d.V.) entbreitet sich in der Luft. Das Schwert (sc. der apokalyptischen Vision aus Offb 19,15, d.V.) sticht nieder. Wohl dem, mit dem es vorher zu Ende geht! Wollte man also missionieren, so müßte man den Willen zum Diesseits stärken; die Angst taugt zu nichts. Aber wo sind die Argumente?» Cyprian: Briefe, aus dem Lat. übers. v. Julius Baer, Sämtliche Schriften, Bd. 2, München (BKV 60) 1928, 74. Brief: An Pompejus (Bischof von Sabrata in Tripolis), S. 357–368, Kap. 7, S. 363: «Damit einer Gott zum Vater haben kann, muß er zuerst die Kirche zur Mutter haben.» Vgl. F. M. Dostojewski: Tagebuch eines Schriftstellers, übers. v. E. K. Rahsin, München 1963, Jahrgang 1876, Februar, 1. Kap. III: Von der Liebe zum Volk. Der notwendige Vertrag der Gesellschaft mit dem Volk, S. 136–140. Bes. Jahrgang 1873, III. Das Milieu, 25–44; V. Ein Büßer, 45–60, S. 50: «Niemals, nicht einmal in den Stunden der größten Triumphe, die seine Geschichte kennt, hat das russische Volk ein stolzes oder triumphierendes Aussehen, sondern nur das eines bis zum Schmerz Ergriffenseins; es atmet wohl auf, aber den Ruhm schreibt es der Gnade Gottes zu.» Jahrgang 1880, 3. Kapitel, I: Etwas von größter Bedeutung, S. 507–531, bes. S. 510–511; 514 Gotthold Ephraim Lessing: Nathan der Weise (1779), in: Werke in 2 Bden., hg. v. Paul Stapf, Wiesbaden (Vollmer-Verlag) o. J., 1. Bd., S. 829–972, 3. Aufzug, 5. Auftritt, S. 887–889: Ein Mann, wie du, bleibt da / Nicht stehen, wo der Zufall der Geburt / Ihn hingeworfen: oder wenn er bleibt, / Bleibt er aus Einsicht, Gründen, Wahl des Bessern. / Wohlan!»

Joh 6,52-71: Worte unendlichen Lebens hast du 1

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Sören Kierkegaard: Der Augenblick, übers. v. Hayo Gerdes, in: Werkausgabe, Bd. 2, Köln 1971, 309–581, Nr. 4 (7. Juli 1855), S. 392–395: Die Schwierigkeit meiner Aufgabe Vgl. Adolf E. Jensen: Mythos und Kult bei Naturvölkern. Religionswissenschaftliche Betrachtungen, Wiesbaden 1951; ders.: Die getötete Gottheit. Weltbild einer frühen Kultur, Stuttgart–Köln–Main (Urban Tb. 90) 1966 Antoine de Saint-Exupéry: Brief an einen General (1943), in: Gesammelte Schriften in 3 Bänden, übers. v. Oswald von Nostiz (Düsseldorf 1959), München (dtv 5959) 1978, Bd. 3, S. 221–230: «Ich hasse meine Epoche aus ganzer Seele. Der Mensch stirbt in ihr vor Durst. – Ach, Herr General, es gibt nur ein Problem, ein einziges in der Welt. Wie kann man den Menschen eine geistige Bedeutung, eine gei-

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stige Unruhe wiedergeben; etwas auf sie herniedertauen lassen, was einem Gregorianischen Gesang gleicht! Hätte ich den Glauben (sc. der Christen, d.V.), stünde es fest, daß ich, sobald diese Zeit des ‹notwendigen und undankbaren Jobs› (sc. als Aufklärungsflieger, d.V.) vorüber ist, nur noch Solesmes (sc. die Benediktinerabtei, d.V.) ertragen könnte. Sehn Sie, man kann nicht mehr leben von Eisschränken, von Politik, von Bilanzen und Kreuzworträtseln. Man kann es nicht mehr. Man kann nicht mehr leben ohne Poesie, ohne Farbe, ohne Liebe … Es bleibt nur die Stimme des Propagandaroboters … Zwei Milliarden Menschen hören nur noch auf den Roboter, verstehen nur noch den Roboter, werden eines Tages selber zu Robotern.» (S. 225) Vgl. Thomas von Celano: Leben und Wunder des heiligen Franziskus von Assisi, übers., eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Engelbert Grau, Werl 4(neu bearb.) 1988, 1. Lebensbeschreibung, 1. Buch, 7. Kap., S. 90; Franz von Assisi: Die Werke. Die Blümlein, übers. v. Wolfram von den Steinen und Max Kirschstein, Reinbek (rk 34) 1958, Die Blümlein, S. 57–148, Nr. XXVI, S. 100–106: Die drei Raubmörder Franz von Assisi: A.a.O., Die Blümlein, Nr. XXI, S. 93–95

Joh 7,1-31: Die rechte Zeit, der rechte Ort – in Verborgenheit und Öffentlichkeit 1

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Antoine de Saint-Exupéry: Der kleine Prinz (Le petit prince, 1943), übers. v. G. u. J. Leitgeb, in: Gesammelte Schriften in 3 Bänden, München (dtv 5959) 1978, 1. Bd., 489–579, Kap XXI, S. 550–556: «Es wäre besser gewesen, du wärst zur gleichen Stunde wiedergekommen», sagte der Fuchs. «Wenn du zum Beispiel um vier Uhr nachmittags kommst, kann ich um drei Uhr anfangen, glücklich zu sein.» (S. 553) Platon: Des Sokrates Verteidigung (Apologia), in der Übers. v. Friedrich Schleiermacher mit der Stephanus-Numerierung hg. v. W. F. Otto, E. Grassi, G. Plamböck, in: Sämtliche Werke, Bd. 1, Reinbek (rk 1,1a) 1957, 7–31, Kap. 12, 24d–25c, S. 15–16 Arthur Schopenhauer: Über die Universitäts-Philosophie, in: Parerga und Paralipomena: kleine philosophische Schriften, 1. Bd. (1850), nach der ersten von Julius Frauenstädt besorgten Gesamtausgabe neu bearb. u. hg. v. Arthur Hübscher, Wiesbaden 1946, 147–210, S. 208: «Diesem Allen zufolge halte ich … für wünschenswerth, daß aller Unterricht in derselben (sc. der Philosophie, d.V.) auf Universitäten streng beschränkt werde auf den Vortrag der Logik … und auf eine ganz succincte vorzutragende und durchaus in Einem Semester von Thales bis Kant zu absolvierende Geschichte der Philosophie, damit sie, in Folge ihrer Kürze und Übersichtlichkeit, den eigenen Ansichten des Herrn Professors möglichst wenig Spielraum gestatte und bloß als Leitfaden zum künftigen eigenen Studium auftrete.» Sören Kierkegaard: Der Augenblick, übers. v. Hayo Gerdes, in: Werkausgabe, Bd. 2, Köln 1971, 309–581, Nr. 7 (1855), 445–482, S. 454–458: Am ersten das Reich Gottes. Eine Art Novelle. Albert Schweitzer: Geschichte der Leben Jesu Forschung (1913; 1906 unter dem Titel: von Reimarus zu Wrede), München–Hamburg (Siebenstern Tb. 77–80) 1966, 2 Bde., eingel. v. J. M. Robinson, Kap. 18: Die Leben-Jesu-Forschung an der Jahrhundertwende, II 341–381, S. 376–381

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Hermann Hesse: Narziß und Goldmund. Erzählung (1957), Frankfurt (sv 65) 1971, 3. Kapitel, 32–43, S. 37: «Die Liebe zu Gott … ist nicht immer eins mit der Liebe zum Guten. Ach, wenn es so einfach wäre! Was gut ist, wissen wir, es steht in den Geboten. Aber Gott ist nicht nur in den Geboten, du, sie sind nur der kleinste Teil von ihm. Du kannst bei den Geboten stehen und kannst weit von Gott weg sein.» Jean-Paul Sartre: Der Ekel (La nausée, Paris 1938), übers. v. H. Wallfisch (Stuttgart 1949), Reinbek (rororo 581) 1963, S. 142: «Jedes Existierende wird ohne Grund geboren, lebt aus Schwäche weiter und stirbt durch äußere Einwirkung.»

Joh 7,32-53a: Der unerreichbare Standpunkt 1

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Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra. Ein Buch für alle und keinen (1885), in: Sämtliche Werke, Stuttgart (Kröner Tb. 75) 1988, mit einem Nachwort von Walter Gebhard, Die Reden Zarathustras, S. 76–79: Vom freien Tode F. M. Dostojewski: Die Dämonen (Besy, 1872), übers. v. Gregor Jarcho, München (GGTb. 575–577) 1959, 1. Teil, 3. Kapitel, 8, S. 118–124 Hermann Oldenberg: Buddha. Sein Leben. Seine Lehre. Seine Gemeinde (1881), hg. v. Helmuth von Glasenapp, München (GGTb. 708–709) 1961, S. 220; 432 G. W. F. Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (Heidelberg 31830), hg. v. Friedhelm Nicolin u. Otto Pöggeler, Hamburg (Philos. Bibl. 33) 61959, 3. Abteilung, C. Die Idee, § 213–244, S. 182–197; § 239, S. 195: «Das unmittelbare Allgemeine ist als der Begriff an sich die Dialektik, an ihm selbst seine Unmittelbarkeit und Allgemeinheit zu einem Moment herabzusetzen. Es ist damit das Negative des Anfangs oder das Erste in seiner Bestimmtheit gesetzt; es ist für eines, die Beziehung Unterschiedener, – Moment der Reflexion.»

Joh 7,53b; 8,1-11: Wer unter euch ohne Sünde ist 1

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Vgl. E. Drewermann: Jesus von Nazareth. Bd. 2: Glauben in Freiheit, Düsseldorf– Zürich 1998; 62001, S. 11–12; 19–20. Zu der ganzen Erzählung vgl. H. L. Strack – P. Billerbeck: Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch, 2. Bd., München 1924, 520: «Da der Ehebruch mit einer verheirateten Frau nach der jüdischen Tradition durch Erdrosselung zu bestrafen war, scheint das (steinigen) Joh 8,5 zu fordern, daß es sich Joh 8,3 ff. um eine Verlobte gehandelt habe, auf deren Ehebruch auch Dtn 22, 23f die Todesstrafe der Steinigung gesetzt ist.» Heinrich von Kleist: Prinz Friedrich von Homburg (1821), in: dtv Gesamtausgabe, hg. v. Helmut Sembdner (1961), München 1964, Bd. 3: Dramen. Dritter Teil, S. 214–289 Victor Hugo: Die Elenden (Les Misérables, Paris 1862), übers. v. P. Wiegler, Nachw. H. Mayer, Berlin 1952 F. M. Dostojewski: Die Brüder Karamasow (Bratja Karamazovy, 1880), übers. v. K. Noetzel, München (GGTb. 478–479; 480–481) 1958, 2. Teil, 6. Buch: Ein russischer Mönch, 3. Aus den Gesprächen und Belehrungen des Greises Sosima, h: Kann man Richter sein über seinesgleichen? Über den Glauben bis ans Ende, I 399–402 (sinngemäße, nicht wörtliche Wiedergabe im Text).

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Franz Kafka: Das Schloß (Berlin 1935), Nachw. von Max Brod, Frankfurt/M. (Fischer Tb. 900) 1968 Franz Kafka: Der Prozeß (Berlin 1925), hg. v. Max Brod, Frankfurt (Fischer E C) 1958 Franz Kafka: In der Strafkolonie (1919), in: Sämtliche Erzählungen (Berlin 1935), hg. v. Paul Raabe, Frankfurt (Fischer Tb. 1078) 1970, 100–123 Theodor Fontane: L’ Adultera (1882), in: Werke, hg. v. Hannsludwig Geiger, 4 Bde., Wiesbaden (Vollmer Verl.) o. J., Bd. II: Romane – Erzählungen, S. 7–124 Khalil Gibran: Jesus Menschensohn. Seine Worte und Taten, berichtet von Menschen, die Ihn kannten (Jesus – The Son of Man. His Words and His Deeds as told and recorded by those who knew Him), übers. v. Ursula Assaf-Nowak, Olten 1988, 134–135

Joh 8,12-20: Ich bin das Licht der Welt 1

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Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra. Ein Buch für alle und keinen (1855), in: Sämtliche Werke, Stuttgart (Kröner Verlag Tb. 75) 1988, mit einem Nachwort von Walter Gebhard, 1. Teil, Die Reden Zarathustras, S. 48–50: Vom Krieg und Kriegsvolke; 3. Teil, S. 217–238: Von alten und neuen Tafeln, Nr. 22, S. 233: «Bessere Raubtiere sollen sie also werden, feinere, klügere, menschen-ähnlichere: der Mensch nämlich ist das beste Raubtier.» Jean-Paul Sartre: Ist der Existentialismus ein Humanismus? (L’existentialisme est un humanisme, Paris 1946), in: Drei Essays. Mit einem Nachw. v. Walter Schmiele, (Übers. ungenannt), Frankfurt 1960, 7–51, S. 9–10; sinngemäße Wiedergabe Edouard Naville: Das ägyptische Totenbuch der XVIII.–XX. Dynastie aus verschiedenen Urkunden zusammengestellt und herausgegeben, 3 Bde. (Berlin 1886), Graz 1971; E. Drewermann: Ich steige hinab in die Barke der Sonne. Meditationen zu Tod und Auferstehung in bezug auf Joh 20/21, Olten 1989; Düsseldorf–Zürich 72001, 117–119

Joh 8,21-47: … und die Unverborgenheit Gottes wird euch freimachen 1

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Katholischer Erwachsenenkatechismus. Das Glaubensbekenntnis der Kirche, hg. von der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 1985, 363–374: Das Sakrament der Buße, S. 371: «Die priesterliche Lossprechung beim Sakrament der Buße ist … ein richterlicher Akt, der allein dem zukommt, der im Namen Jesu Christi für die ganze kirchliche Gemeinschaft handeln kann.»: dem Bischof und dem Priester. Nelly Sachs: Ausgewählte Gedichte. Nachwort von Hans Magnus Enzensberger, Frankfurt (sv 18) 1963, S. 21: Salzige Zungen: «Salzige Zungen aus Meer / lecken an den Perlen unserer Krankheit –» …; S. 23: Schon mit der Mähne des Haares: «… Der Ozeane Salzruf / an der Uferlinie des Leibes» … Sören Kierkegaard: Der Augenblick, übers. v. Hayo Gerdes, in: Werkausgabe, Bd. 2, Köln 1971, 309–581, Nr. 7 (1855), S. 458–463: Daß die «Christenheit» von Geschlecht zu Geschlecht eine Gesellschaft von Nichtchristen sei; und die Formel, nach der das zugeht

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A.a.O., Nr. 2 (1855), S. 344–346: Lobrede auf das menschliche Geschlecht oder Beweis, daß das neue Testament nicht mehr Wahrheit ist A.a.O., S. 345: «Die List Jakobs ist ja bekannt, wie er, um gefleckte Lämmer zu bekommen, gefleckte Stäbe in die Tränkrinne legte, so daß die Mutterschafe nichts anderes als Geflecktes sahen und darauf gefleckte Lämmer warfen (sc. Gen 30,31–43, d.V.), es wäre nicht unwahrscheinlich, – wiewohl ich mich nicht erdreiste, eine bestimmte Meinung zu haben, da ich nicht vom Fach bin, sondern es nur anheimstelle, z. B. einer aus Viehärzten und Pfarrern zusammengesetzten Arbeitsgemeinschaft – es wäre nicht unwahrscheinlich, daß es eines Tages damit endete, daß die Haustiere in der ‹Christenheit› eine christliche Nachkommenschaft zur Welt bringen würden.» Ingmar Bergman: Szenen einer Ehe (Scener ur ett äktenskap, 1972), übers. von Hans-Joachim Maas, München (Heyne Tb. 5275) 1976, 1. Szene: Unschuld und Panik, 9–43 Bhagwan Shree Rajneesh: Mein Weg: Der Weg der weißen Wolke (My Way: The Way of the White Cloud, 1975), übers. v. Ma Hari Chetana, Berlin 1978, S. 429: «Die Wahrheit ist, daß es für Gott weder Gut noch Böse gibt. Aus seiner Schöpferkraft kommt beides, durch seine Zerstörungskraft wird beides vernichtet – bedingungslos.» S. 430: «Gut und Böse sind menschliche Vorstellungen, keine göttlichen Konzepte. Und jede Gesellschaft hat ihre eigenen Auffassungen von Gut und Böse, die mit jedem Zeitalter wechseln … Gut und Böse sind relativ … Gott ist absolut – er kennt keine Unterschiede. – Wenn man in tiefer Meditation ist, wenn alle Gedanken verschwinden, kennt man auch keine Unterschiede, denn Gut und Böse sind nur Gedanken. Wenn man innerlich vollkommen stillschweigt, was ist dann gut und was ist schlecht? Die Stille ist im gleichen Augenblick verschwunden, wo die Idee, daß dieses gut und etwas anderes schlecht ist, aufkommt. In tiefer Meditation gibt es nichts – gar nichts, weder Gutes noch Böses.» Catéchisme de l’Église Catholique («Weltkatechismus»), Paris 1992, Nr. 391–395, S. 88–89 Sören Kierkegaard: Der Begriff Angst. Eine simple psychologisch-hinweisende Erörterung in Richtung des dogmatischen Problems der Erbsünde, von Vigilius Haufniensis (Kopenhagen 1844), übers. u. mit Kommentar versehen von Liselotte Richter, Reinbek (rk 71) 1960, Kapitel II § 2: Subjektive Angst, S. 57–58

Joh 8,48-59: Wenn jemand mein Wort hält, wird er den Tod nicht schauen 1 2 3

Franz Kafka: In der Strafkolonie (1919), in: Sämtliche Erzählungen (Berlin 1935), hg. v. Paul Raabe, Frankfurt (Fischer Tb. 1078) 1970, 100–123 Catéchisme de l’Église Catholique («Weltkatechismus»), Paris 1992, Nr. 402–417, bes. Nr. 410–412 Martin Heidegger: Sein und Zeit (1926), Tübingen 1963, 4. Kap., § 67, S. 334–335: Der Grundbestand der existenzialen Verfassung des Daseins und die Vorzeichnung ihrer zeitlichen Interpretation

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Joh 9,1-17: Die Heilung des Blindgeborenen 1

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Platon: Der Staat (Politeia), in der Übers. v. Friedrich Schleiermacher mit der Stephanus-Numerierung hg. v. W. F. Otto, E. Grassi, G. Plamböck, in: Sämtliche Werke, Bd. 3, Reinbek (rk 27, 27a) 1958, 67–310, VII. Buch, Kap. 1–5 (514a–521b), S. 224–229 So Harry S. Truman am 6. Aug. 1945 an Bord des Kreuzers Augusta: «Jungs, wir haben ihnen einen Ziegel mit 20 000 Tonnen TNT auf den Schädel geschmissen!» «Die Seeleute brachen in ein Freudengeheul aus. Die Gewissensqualen, die angeblich den Triumph begleiteten, sind historische Fälschungen.» Raymond Cartier: Der Zweite Weltkrieg (La seconde guerre mondiale, Paris 1965), XXXII. Kapitel, übers. v. Wilhelm Thaler, München 1967, 1016–1060, S. 1053 Kurt Tucholsky: Les Abattoirs (1925), in: Zwischen Gestern und Morgen. Eine Auswahl aus seinen Schriften und Gedichten, hg. v. Mary Gerold-Tucholsky, Reinbek (rororo 50) 1952 Rainer Maria Rilke: Das Stundenbuch, 3. Buch: Das Buch von der Armut und vom Tode (1903), in: Sämtliche Werke, hg. vom Rilke-Archiv, in Verbindung mit Ruth Sieber-Rilke, besorgt durch Ernst Zinn, 1. Bd., Frankfurt/M. 1955, 341–366, S. 345–346 Erich Fromm: Psychoanalyse und Religion (Psychoanalysis and Religion, New Haven 1950), übers. v. Elisabeth Rotten (Zürich 1966), in: Gesamtausgabe, hg. v. Rainer Funke, Bd. VI, Stuttgart 1980, 227–292, S. 248–250; 274–276; sinngemäße Zusammenfassung der dortigen Gedanken

Joh 9,18-41: … laßt ihn für sich selber reden 1

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Justinus: Dialog mit dem Juden Tryphon (um 140), aus dem Griechischen übers. und eingel. v. P. Haeuser, Kempten–München (BKV 33) 1917, XCI 2; 3; ders.: Apologien (um 140), aus dem Griech. übers. u. eingel. v. Gerhard Rauschen, in: Frühchristliche Apologeten und Märtyrerakten, Bd. 1, Kempten–München (BKV 12) 1913, 55–155, 1. Apologie, 54, S. 67–69: Die «Mythen» sind «zur Betörung und Verführung des Menschengeschlechtes auf Antrieb der bösen Geister ersonnen worden». «Denn als diese von der durch die Propheten verkündeten Ankunft Christi … hörten, brachten sie die Sage auf von vielen dem Zeus geborenen Söhnen in der Meinung, sie könnten es fertig bringen, daß die Menschen die Geschichte von Christus für eine Wundermär … hielten … die Dämonen … machten … den Dionysos zum Zeussohn und zum Erfinder des Weinstockes … Und wieder, als sie die Weissagung erfuhren, er werde jede Krankheit heilen und Tote erwecken, da tischten sie den Asklepios auf.» O. Weinreich: Antike Heilungswunder. Untersuchungen zum Wunderglauben der Griechen und Römer, Gießen 1909 Tom Crepon: Leben und Leiden des Ernst Barlach, Rostock 1988, 12. Kapitel: Kurz: es wird gewütet. Das schlimme Jahr 1937, S. 269–284; zu der Plastik vom Liegenden Bauern a.a.O., 241–242 Vgl. Ernst Barlach: Der tote Tag (1912), in: Das Dichterische Werk. In drei Bänden. Die Dramen, hg. v. Friedrich Dross, München 1956, 9–95, S. 95: «Alle haben

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ihr bestes Blut von einem unsichtbaren Vater … Sonderbar ist nur, daß der Mensch nicht lernen will, daß sein Vater Gott ist.» Friedrich Nietzsche: Menschliches Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister (1886), mit einem Nachwort von Walter Gebhard, Stuttgart (Kröner 72) 1993, Vorrede, S. 3–13, Nr. 3, S. 5–7: «Man darf vermuten, daß ein Geist, in dem der Typus ‹freier Geist› einmal bis zur Vollkommenheit reif und süß werden soll, sein entscheidendes Ereignis in einer großen Loslösung gehabt hat.» Jean Cardonnel: J’accuse l’Église, Paris 1994 émile Zola: J’accuse …! Lettre ouverte au Président de la République, in: L’Aurore, 13. 11. 1898; dt.: Offener Brief an den Präsidenten der französischen Republik, Frankfurt 1898; F. Sieburg: Zolas großer Augenblick («J’accuse»), in: Lauter letzte Tage, Stuttgart 1961, 157–167. Johannes Paul II.: Die Schwelle der Hoffnung überschreiten, Rom 1994

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Susanne Everett: Geschichte der Sklaverei (History of Slavery, London 1978), übers. v. Jürgen und Rainer Heinzerling, Hamminkeln, Augsburg 1998, Kapitel II: Schwarzes Elfenbein. Der westafrikanische Sklavenhandel, 16.–19. Jahrhundert, 28–61; Kapitel III: Die Sklaverei des Zuckerkönigreichs. Sklaverei auf den Westindischen Inseln, 62–93, S. 70–72: «Die Art der französischen Sklavenhaltung unterschied (sich) deutlich von der britischen. Frankreich führt 1685 den Côde Noir … ein, ein Sklavengesetz, das hauptsächlich zur Wahrung des Katholizismus in den Westindischen Kolonien geschaffen wurde.» «Zwar wurden die Besitzer ermahnt, ihre Sklaven menschlich zu behandeln, doch sie hatten das Recht, sie anzuketten und auszupeitschen, wenn sie dies für notwendig hielten.» (70; 71) Auch das «Recht» der Besitzer, ihre Sklaven strafweise zu verstümmeln und hinzurichten, blieb im Côde noir Ludwigs XIV. erhalten. 10 Friedrich Nietzsche: Der Antichrist (1888), in: Götzendämmerung, mit einem Nachwort von Walter Gebhard, Stuttgart (Kröner 77) 1990, 185–283, Nr. 33, S. 230–231 11 Martin Luther: Ein Sendbrief vom Dolmetschen (1530), in: Die Werke Luthers in Auswahl, hg. von Kurt Aland, Bd. 5: Schriftauslegung, Göttingen 1991, 79–92, S. 86–87

Joh 10,1-21: Der gute Hirt 1

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Brüder Grimm: Kinder- und Hausmärchen (1819), Zürich 1975, Nr. 12, S. 104– 107; E. Drewermann: Rapunzel, in: Die kluge Else. Rapunzel, Olten–Freiburg 1986, 59–101 Siegfried Morenz: Gott und Mensch im alten Ägypten, Zürich–München 1984, verweist auf die Ähnlichkeit zu Ps 23, wenn es in den ägyptischen Lobpreisungen auf den Sonnengott Amun-Re heißt: «Amun, Hirte, der sich früh um seine Rinder kümmert … Amun, du treibst mich, den Hungrigen, zur Speise, denn Amun ist ja ein Hirte, ein Hirte, der nicht träge ist.» «… so hat man denn auch den König als Hirten angesehen. Bezeichnenderweise hat man dabei ursprünglich weniger auf die … Macht des Hirten als auf seine Verantwortung gegenüber der Herde Wert gelegt.» Gaius Suetonius Tranquillus: Leben der Cäsaren (De vita Caesarum), übers. u. hg. v. André Lambert (Zürich 1955), München (dtv 6005) 1972: Tiberius,

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S. 121–163, XXXII, 2, S. 140: «Den Statthaltern, die zu einer Steuererhöhung in den Provinzen rieten, schrieb er zurück, ein guter Hirte dürfe die Herde wohl scheren, aber nicht abhäuten.» Die Edda, 2. Bd.: Götterdichtung und Spruchdichtung, übertr. von Felix Genzmer, eingel. u. mit Anm. vers. v. A. Heusler, Düsseldorf–Köln (Thule Bd. 2) 1963, 5.: Der Seherin Gesicht, S. 34–44, Str. 31; 36; Str. 45: «Gellend heult Garm vor Gnipahellir: / es reißt die Fessel, / es rennt der Wolf.» (S. 40; 41; 42)

Joh 10,22-42: Das Zeugnis der Werke und das Zeugnis des Johannes 1

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F. M. Dostojewski: Aufzeichnungen aus einem Totenhaus (Zapiski iz mertvogo doma, 1861), übers. v. G. Jarcho, Reinbek (rk 122–124) 1963, Kap. 1: Das Totenhaus, 15–29, S. 23: «Natürlich führen die Zuchthäuser und das System den Verbrecher keineswegs zur Besserung; sie strafen ihn nur und sichern die Gesellschaft gegen weitere Angriffe des Bösewichts auf ihre Ruhe.» F. M. Dostojewski: Tagebuch eines Schriftstellers, übers. v. E. K. Rahsin, München 1963, Jahrgang 1876, Februar, 1. Kap. III: Der Bauer Marei, 141–148 Platon: Phaidon, in der Übersetzung v. Friedrich Schleiermacher mit der Stephanus-Numerierung hg. v. W. F. Otto, E. Grassi, G. Plamböck, in: Sämtliche Werke, Bd. 1, Reinbek (rk 27, 27a) 1958, 7–66, Kap. 18, 72e–73e, S. 24–25

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Bildbeschreibungen und Bildnachweise Abb. 1, zu S. 77: Geertgen tot Sint Jans (1460/65–vor 1495): Johannes der Täufer in der Einöde; Eichenholz, 42 x 28 cm. In: Gemäldegalerie Berlin, Geschichte der Sammlung und ausgewählte Meisterwerke, Berlin (Staatliche Museen Preußischer Kulturbesitz) 1985, S. 154 – 155. – Der «kleine Gerrit, der bei den Johanniter (-Rittern) wohnt», wie der Name besagt, hat von Harlem aus «die Entwicklung der Malerei in den nördlichen Niederlanden maßgeblich geprägt». Das Bild, gemalt zu privater Andacht, zeigt den Patronatsheiligen des Ordens in quasi «johanneischer» Sicht: Dargestellt ist nicht der erzürnte Bußprediger des kommenden messianischen Gerichtes, als welcher er in Mt 3,1-12 und Lk 3,1-18 erscheint – ein asketischer Wüstenprophet, der vor der unaufhaltsam hereinbrechenden Katastrophe mit drohenden Worten die letzte Stunde möglicher Umkehr zu beschwören versucht; dargestellt ist im Gegenteil ein nachdenklich sitzender Mann, der sein von goldenen Strahlen umspieltes Haupt müde in seine rechte Hand gelegt hat und versonnen, mit wehmütigem Gesichtsausdruck, in eine unbestimmte Zukunft schaut. Der Mantel aus Kamelhaaren, von dem Mk 1,6 spricht, ist auf Geertgens Bild zu einem dunkelbraunen, habitähnlichen Gewand geworden, der «Ledergürtel um die Lenden» hat sich erübrigt, statt dessen trägt der Heilige zusätzlich einen blaugrünen Mantel, der wie eine übergroße Decke seine Gestalt bis zum Boden hin einhüllt. Platz genommen hat der Täufer auf einer grasbewachsenen Felskante inmitten einer menschenleeren Parklandschaft; die «Wüste» der ersten drei Evangelien ist einer stimmungsvollen Paradieseseinsamkeit gewichen, einem Refugium, dessen dieser «Wegbereiter» des Christus selbst, um sich klar zu werden, zu bedürfen scheint. Der Jordanfluß, dieses an sich unentbehrliche Requisit der «Umkehrtaufe» des Johannes, ist zu einem lieblichen Bächlein geronnen, das sich mäandrierend, einen sumpfigen Teich bildend, durch die Wiesen schlängelt und etwas von dem Lichtglanz des blaßblauen Himmels in sein sanftes Grün aufnimmt. Niemand vermöchte an diesem Ort «getauft» zu werden, wie denn das Johannes-Evangelium (1,25.31) auch nur noch beiläufig die historisch bezeugte Tätigkeit des «Vorläufers» Jesu aufgreift. Wesentlich auf Geertgens Bild ist demgegenüber, ganz wie im Vierten Evangelium, der Hinweis auf das «Lamm, das die Sünde der Welt hinwegträgt» (Joh 1,29.36). Dieses Lamm liegt, dem Täufer zugewandt, neben dem heiligen Mann; auch sein Haupt ist von goldenen Strahlen umgeben, und so wie der Täufer seine bloßen Füße übereinandergelegt hat, so das «Lamm» seine Vorderpfoten. Alles Sinnen des Heiligen scheint in diesem seinem Alter Ego Gestalt angenommen zu haben, und es ist offenbar die reifende Erkenntnis von Opfertod und Leid, die den Täufer zu seiner schwermütigen Gestimmtheit veranlaßt. Der Kalender des Kirchenjahres hat die Worte des Täufers aus Joh 3,30: «Jener (Christus) muß wachsen, ich aber abnehmen», auf den Tag der Sommersonnenwende bezogen, und dementsprechend malt auch Geertgen eine wärmeatmende sommerliche Idylle: Kaninchen grasen im Grün der Wiesen, ein Hase springt munter daher, eine Elster sucht am Boden nach Nahrung, Hirsche äsen im Schatten der Bäume, Fasane fliegen aus den Büschen auf, ein Reiher späht am Teichufer nach Beute, Enten (?) ziehen am Himmel dahin; – alles breitet sich aus wie ein Garten des Friedens, fernab vom Einbruch der Menschenwelt, die, eingebettet in eine Landschaft bläulich bis zum Horizont hin schimmernder Berge, in den Türmen und Kirchenmauern einer Stadt mehr angedeutet als sichtbar wird.

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Was der Täufer in Geertgens Darstellung sucht, ist offenbar eine Welt, wie Gott sie am Schöpfungsmorgen gemeint hat: eine Sphäre der Friedfertigkeit, der Stille und der harmonischen Ordnung; gerade diese Sehnsucht aber treibt den Mann Gottes in eine einsame Melancholie fernab von den Menschen. Warum nur, scheint er zu überlegen, ist diese eigentlich so wunderbare Wirklichkeit auf seiten der Menschen gezeichnet von so viel Widersetzlichkeit und Schmerz? Warum ist eine Rückkehr zu Versöhnung und Glück gebunden an das rätselvolle Opfer dieses einen, des «Knechts Gottes», des «Lammes», das durch sein Sterben den Weg zum Leben eröffnen soll? Zu Füßen des Heiligen blühen Diestel und Akelei und verweisen symbolisch auf diesen schier unbegreifbaren Zusammenhang. Ein in sich geläuterter, ein nicht mehr zürnender, sondern ein in die Nähe des «Lammes» gerückter Johannes sitzt da vor uns, dessen richtende Strenge sich in meditierende Milde zu wandeln scheint. Die Frage aber stellt sich um so mehr: Wie soll seine Botschaft in der Gestalt des «Lammes» jemals hineinfinden in jene so nah und dann doch so kontrastreich erscheinende «Stadt» der Menschen? Der Täufer selbst aber hat in der Vision des «Lammes» auf diesem Bild seinen Frieden gefunden: mit sich selbst, mit der Welt und mit Gott. Abb. 2, zu S. 86: Edvard Munch: Die Stimme, um 1893, Munch Museum Oslo, Öl auf Leinwand, 90 x 118,5 cm, © The Munch Museum/The Munch Ellingsen Group/VG Bild-Kunst, Bonn 2003; in: Edvard Munch 1863–1944, Museum Folkwang Essen, 18. Sept. – 8. Nov. 1987; Kunsthaus Zürich, 19. Nov. 1987–14. Febr. 1988, organisiert und redigiert von Guido Magnagnango, übers. aus dem Norwegischen von Barbara Schütz, aus dem Englischen von Marianne Karabelnik-Matta, Kat. 36. Das Bild war das erste der «Studie für eine Folge: Liebe» und malt das Verlangen einer Frau nach Erfüllung. Da erklingt, vielleicht in der Johannisnacht, wenn der Sommer und das Licht in die langen Nächte des Nordens zurückkehrt, ein (An)Ruf, den nur vernimmt, wem er bestimmt ist; diese Frau aber, die ihn wie träumend, mit geschlossenen Augen, erfährt, fügt sich, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, wie wehrlos der Stimme ihres schicksalhaften Verlangens. Weich umfließen ihre rotbraunen Haare bis zu den Schultern herab ihr rundes anmutiges Gesicht, während ihre schlanke, in ein blauweißes Gewand gehüllte Gestalt, von unten herauf betrachtet, Hals und Brust voller Sehnsucht darzubieten scheint. Es ist wesentlich diese Perspektive und diese Pose, die der unhörbaren «Stimme» ihren magisch-hypnotischen Ausdruck verleiht. «Der Schauplatz ist die Küste von Aasgaardstrand am Christianiafjord. Die bewaldeten Küsten … sind traditionelle Begegnungsorte für die Liebenden …, und Boote mit Feiernden bevölkern wie im Hintergrund links das Wasser. Die erotische Stimmung wird auch durch das Zusammenspiel der vertikalen Kieferntanne und der Säule der Mondspiegelung (als Phallussymbol) mit der frontalen Haltung der Figur hervorgerufen.» Ab 1885 war Munch seine erste Liebesbeziehung zu Milly Thaulow eingegangen, «der drei Jahre älteren, freizügigen Frau seines Vetters Dr. Carl Thaulow. Diese ‹verbotene Liebe› beherrschte ihn einige Jahre lang und war scheinbar sehr stürmisch und peinigend.» (Matthias Arnold: Edvard Munch, Reinbek [rm 351] 1986, 33.) Als Munch, enttäuscht und zutiefst verletzt, sich zwischen 1890 und 1892 in romanhaften Aufzeichnungen über das Erlebte und Erlittene Rechenschaft zu geben suchte, schrieb er über «Frau Heiberg», wie er die einst so Geliebte verschlüsselt nannte: «Wie tief ist das Merkmal, das sie in mein Gehirn eingraviert hat, so daß kein anderes Bild ihres je wegtreiben kann … War es weil sie mir den

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ersten Kuß abnahm, daß sie mir den süßen Duft des Lebens wegnahm?» Munch, der durch den «Betrug» von Frau Thaulow, wie er es empfand, «das Haupt der Medusa» zu erschauen meinte, betrachtete seither das Leben «als großes Rätsel, und alles das, was einst rosig aussah, wurde nun leer und grau». (A.a.O., 33) Über alles Glück und über alles Unglück entscheidet dieser «Ruf», diese Stimme, je nachdem wie man sie erwidert. Abb. 3, zu S. 342: Francisco Goya: Caprichos (1799), Vorwort von Urs Widmer, Übersetzung der Legenden von Tina Haffmans, Zürich (Diogenes, kunst-detebe 3) 1972, Nr. 32: Por que fue sensible – Weil sie gefühlvoll war. – Die «Caprichos» (Einfälle) enthalten 80 Blätter in Aquatinta-Technik, kombiniert mit den Verfahren der traditionellen Radierung; das vorliegende Blatt ist ein besonders gutes Beispiel reiner Aquatinta-Technik: Harz wird auf eine Kupferplatte gesiebt und angeschmolzen, so daß beim Ätzen eine feine Körnung entsteht; die Stellen, die nicht geätzt werden sollen, werden abgedeckt; verschiedene Tönungen werden durch Unterbrechen des Ätzvorganges und Abspülen mit Wasser erreicht. Goya hatte es in der Ausführung dieser Technik zur Meisterschaft gebracht. Anfang der 1790er Jahre aber hatte der spanische Maler sich in eine düstere Seelenstimmung hineingelebt, und es sind seine «Einfälle», die von der Bitterkeit, dem Zorn, dem Sarkasmus, der Ironie, ja, dem Zynismus zeugen, den er gegenüber den gesellschaftlichen und politischen Zuständen seiner Zeit empfand: eine verlogene Kirche, eine blutrünstige Inquisition, die gelehrsame Eselei des akademischen Standes, die hohle Eitelkeit des höfischen Gepränges, der schnöde Verrat an der Liebe zugunsten eines reinen Profitdenkens, die blind lüsterne Leidenschaft im Gewande des eleganten Charmeurs – Themen dieser Art bilden den Kontext, in dem dieses Bild: die Bestrafung der Empfindsamkeit mit (lebenslanger) Kerkerhaft von seiten der «guten Sitten», dargestellt wird. Mag sein, daß die Frau wegen ihrer «Gefühligkeit» zu einer Verrückten erklärt wurde und sich seither in «Sicherungsgewahrsam» befindet, es mag auch sein, daß sie durch ihr Verhalten erst «auffällig», dann «straffällig» wurde – wie die Frau in Joh 8,1-11; in jedem Falle muß man offenbar in ihrem Falle durch äußere Kontrolle ersetzen, was «man» an innerer Kontrolle der «Sensibilität» einer solchen Frau nicht zutraut, und die fehlende «Einsicht» muß übernommen werden durch zwangsweise Aufsicht … So bleiben behütet Anstand und Verstand, und der Zustand der Gesellschaft erhält sich in der Zuständigkeit ihrer Behörden. Abb. 4, zu S. 429: Ernst Barlach: Magdeburger Ehrenmal, Gips, 1928/29, Werkmodell, Ernst Barlach Stiftung Güstrow, © Ernst Barlach Lizenzverwaltung, Ratzeburg; in: Ernst Barlach: Plastische Meisterwerke, mit einer Einführung von Anita Beloubek-Hammer, Ratzeburg 1996, 118 – 119: «Wollte man das Ganze symbolisch unterbauen, so müßte man sagen: Hier ist auf Not, Tod und Verzweiflung als Gradmesser der wahren Bedeutung unverhohlener Opferbereitschaft hingewiesen … Ich lehne es ab, darüber zu streiten, ob solche Darstellungen Bestandteile eines Ehrenmals sein dürfen. Ich benötige sie zur Ganzwerdung eines aller Beschönigung zugänglichen Geschehens.» Statt der politisch erwünschten «Beschönigung» stellte Barlach die Lebenden und die Toten in einen durch das Kreuz vermittelten Zusammenhang von Niedergedrücktheit und Standhaftigkeit, von Verzweiflung und Zähigkeit, von Trauer und Treue – einer alles überragenden Menschlichkeit, die nicht aufhört zu fragen: Warum? Warum immer wieder? Warum immer noch?

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Register der Bibelstellen

Altes Testament Genesis 1,1 1,31 2,3 2,10-14 3,8-24 3,10 3,12 3,16-18 3,19 3,21 3,24 8,20-22 11,31 11,32 12,1-3 12,10-20 16,1-16 17,1 17,15 20,1-18 26,1-11 28,10-22 30,25-43 30,31-43 48,22

367 319 319 75 243 44 341 341 179 44 158 71 261 261 261 261 261 385 261 261 261 98,183 376 487 193

Exodus 4,3 4,4 12,1-28 13,1-16 14,1-31 14,16-22 14,21 16,4 16,15 16,31

159 159 267 267 95 268 159 285 268, 285 268

494

19,18 19,20 19,21-24 20,14 34,29-35

44 268 44 337 44

Levitikus 19,18 120 20,10 338, 340, 345 Numeri 11,4 11,5 14,1-3 20,3-6

157 157 158 158

Deuteronomium 6,5 18,15 22,21 22,22-24 338, 22,23 22,24 22,25 22,27 34,10-12

120 72 340 345 340 340 340 340 72

1 Könige 6,1-38 18,1-40 Psalmen 23 45,12 69 69,10 82,6 84 90,10 91,11 91,12

461 72

169, 489 469 139 128 469 309 241, 386 98 98

104, 26 120-135 121 Jesaja 1,18 40,3 42,1 42,2-4 49,15 53,5 53,7 54,11 54,12 54,13 55,1-3 56,7 58,11 Jeremia 7,11 13,24 31,33 31,34 Ezechiel 1,4-28 1,5 10, 1-22 34,1-31 47,1-12

36 310 321

88 74 257 88 88 434 77, 88 289 289 289 328 125 328

125 346 290 290

183 204 183 399, 446 75

Daniel 7,13

440

Micha 5,2

331

Maleachi 3,23

72

Neues Testament Matthäus-Evangelium 2,5 331 2,6 331 3,1-12 52, 491 3,7 69 3,9 376 4,4 30, 201, 275 4,6 98 4,8–9 275 4,11 98 4,13 207 4,24 219, 269, 270 5,14 417 5,17-20 347 5,20 58, 192 5,37 45 5,48 233 6,5 129 6,13 273 6,25-34 24 7,1 65 8,5-13 207 9,11 343 10,25 208 11,7-19 255 11,20-24 353 11,25 290 11,26 290 11,28 288 14,22-27 266 17,24-27 128 21,14 136 21,14-15 131 22,1-14 242 23,1-36 436 23,5 376 25,31-46 440 26,14 294 27,46 117 27,50 117 Markus-Evangelium 1,9-11 257

1,10 1,15 2,1-12 2,10 2,17 2,19 2,22 2,24 3,2 3,6 3,20-21 3,21 3,22 3,31-35 4,26-29 5,22-24 5,23 5,35-43 6,3 6,4 6,30-44 6,34 6,45-52 7,24-30 8,1-9 8,22-26 8,28 8,29 8,30 8,31 8,32 8,33 8,35 10,15 11,15-17 12,28 12,35-37 13,26 14,13 14,14 14,58

52 53, 177, 242 233 299 299 178 178 299 299 120 206 311, 344 120, 147, 344, 400, 456 206 190 210 209 210 104 205 267 399 266 209 267 407, 418 330 459 459 332 94 94 451 273 120 376 331 440 274 274 130, 405

Lukas-Evangelium 1,28 440 2,4 331

2,49 3,1-18 3,11 3,12-14 3,14 4,4 6,36 7,1-10 7,24-35 10,25-37 10,27 10,29 13,18-21 15,1-7 15,7 15,8-10 15,10 16,16 17,10 17,20 17,21 23,34 23,46 24,13-35

93 52, 491 54 69 54 201 233 207 255 120, 192, 397 120 397 190 190, 446 185 190 185 65 224 242 242 159 159 136

Johannes-Evangelium 1,12-13 152 1,13 39, 201 1,25 491 1,29-34 208 1,31 491 1,32 52 1,35-42 238 1,36 491 1,39 282 1,46 206 2,1-12 207 2,4 313 2,9 201 2,13-25 205 2,19 406 2,21 406 3,3 9, 418 3,5 200, 418 3,6 200

495

3,11-13 3,30 4,1-42 4,2 4,23 4,24 4,34 4,43-54 5,1-9 5,1-18 5,6-8 5,24 5,27 5,30 5,31-35 5,31 5,32 5,36 5,37 5,46 6,26 6,27 6,35 7,3-5 7,22-23

496

333 491 300, 327 173 23, 241 8 275 145, 269 145, 269, 314 344 318 9, 465 254 390 364 73, 390 73 73, 460 73 8 103 103 361 7 8

7,49 8,3 8,5 8,11 8,32 8,37-40 8,42-44 8,51 8,52 8,56 8,58 8,59 9,1-7 9,28-29 9,41 10,3 11,1-44 11,50 13,1 13,2 15,1 17,18 18,15-18 19,25-27 20,17

399 485 485 233 113 8 8 9, 401 401 8 8 468 145 8 417, 455 469 145 125 106 294 201 238 94 104 453

20,19 21,1-14

306, 434 266

Römerbrief 2,1 4,25 7,10 Korintherbriefe 2 Kor 3,7 Galaterbrief 4,6.7

65 434 347

44

208

Thessalonicherbriefe 1 Thess 4,16 264 Johannesbriefe 1 Joh 4,20

166

Offenbarung des Johannes 4,1 19,15

81 483

Abb. 1: Geertgen tot Sint Jans (1460/65 – vor 1495): Johannes der Täufer in der Einöde (1485/90), Öl auf Eichenholz, 42 x 28 cm, Gemäldegalerie Berlin

Abb. 2: Edvard Munch (1863–1944): Die Stimme (um 1893), Öl auf Leinwand, 90 x 118,5 cm, Munch Museum, Oslo

Abb. 3: Francisco Goya (1746–1828): Caprichos (Por que fue sensible / Weil sie gefühlvoll war) (1799), Aquatinta-Radierung, 21,9 x 15,3 cm

Abb. 4: Ernst Barlach (1870–1938): Magdeburger Ehrenmal (1828/29), Gips, Werkmodell, Ernst Barlach-Stiftung, Güstrow

Über den Autor Dr. Eugen Drewermann arbeitet seit dem Entzug seiner Lehrerlaubnis und Suspension vom Priesteramt als Therapeut und Schriftsteller. Er gehört zu den erfolgreichsten theologischen Autoren und ist ein gefragter Referent und hat alle vier Evangelien des Neuen Testaments übersetzt und kommentiert.

Über das Buch Das Johannes-Evangelium konfrontiert den Leser mit der Frage nach seiner Identität. Zu sich selbst finden, zu seiner Wahrheit stehen kann nach der Auffassung des Johannes nur, wer auf ein Gegenüber trifft, das ihn leben läßt und ihn bedingungslos aus reiner Güte akzeptiert. »Niemals dürfen wir Menschen, wollen wir diesen Namen verdienen, mit den Lebewesen an unserer Seite in der Art verfahren, wie die Natur es jederzeit tut. Wir bedürfen eines menschlichen Gegenübers, um unsere Menschlichkeit zu finden, und eben ein solches absolutes Gegenüber unserer Menschlichkeit will der Jesus des Johannes-Evangeliums uns vermitteln durch die Nähe seiner Person, die geformt ist von dem Vertrauen zu seinem ›Vater‹.« Wer begreift, daß sein Leben noch einmal ganz neu beginnt unter der Perspektive, die Jesus vermittelt, lernt solch eine befreiende Menschlichkeit kennen. Dieser Leitgedanke ist es, den Eugen Drewermann in seiner Interpretation des Johannes-Evangeliums immer wieder ausfindig macht und für unser gegenwärtiges Leben zu deuten versucht. Dabei macht er die schwierige Begrifflichkeit der johanneischen Christologie verständlich und übersetzt die im kirchlichen Dogma verfestigten Worte in ebenso befreiende wie verbindliche Erfahrungen zurück. Auch als Printausgabe erhältlich.

Impressum Weitere interessante Lesetipps finden Sie unter: www.patmos.de Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung, können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden. © 2003 Patmos Verlag der Schwabenverlag AG, Ostfildern Umschlagabbildung: Rembrandt van Rijn, Der auferstandene Christus (1661), Leinwand, oval, 78,5 x 63 cm, Alte Pinakothek, München Hergestellt in Deutschland ISBN 978-3-491-50102-7 (Print) ISBN 978-3-8436-0512-0 (eBook)

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